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Die Alpen
in
Natur- und Lebensbildern.
[figure]
[]
Und habe ich ein Lied gemacht
Das voller klingt und freier, —
Es klingt von Eurer Gluth entfacht
Ihr Alpen, Euch zur Feier.
Und iſt es arm und reizentblößt,
Iſts, wie Ihr ſelbſt, noch nicht erlöſt't: —
Ich ſang, wie mir's der Gott beſchied,
Der überm Schnee ſein heiſ'res Lied
Dem Adler gab und Geier.

(L. Seeger.)
[[I]]
[figure]
[[II]][[III]]
Die Alpen
in
Natur- und Lebensbildern.


Mit 16 Illuſtrationen und einem Titelbilde in Tondruck
nach Originalzeichnungen
von
Emil Rittmeyer.


Leipzig,:
Hermann Coſtenoble.
St. Gallen, Zürich,
Scheitlin's Buchhandlung. 1861.Meyer \& Zeller.
[[IV]][[V]]

Herrn
Iwan von Tſchudi

gewidmet
vom
Verfaſſer.

[[VI]][[VII]]

Inhalts-Verzeichniß.


  • Seite
  • Das Alpengebäude.1
  • Granit.19
  • Erratiſche Blöcke.27
  • Karrenfelder.33
  • Nagelfluh.39
  • Der Goldauer Bergſturz. (Mit Illuſtration.)45
  • Der Bannwald. (Mit Illuſtration.)65
  • Die Wettertanne. (Mit Illuſtration.)81
  • Legföhren. (Mit Illuſtration.)89
  • Die Alpenroſe.97
  • Südliche Alpenthäler.105
  • Kaſtanienwald. (Mit Illuſtration.)111
  • Eine Nebel-Novelle.119
  • Nebelbilder.131
  • Wetterſchießen.135
  • Hoch-Gewitter.139
  • Der Waſſerfall.147
  • Der Schneeſturm im Gebirge.165
  • Rother Schnee.177
  • Die Rüfe.183
  • Die Lauine. (Mit Illuſtration.)195
  • Der Gletſcher. (Mit Illuſtration.)213
  • Alpenglühen.239
  • Alpenſpitzen. (Mit Illuſtration.)247
  • Berg-Straßen und Alpen-Päſſe. (Mit Illuſtration.)287
  • Die Hospitien.315
  • [VIII]Seite
  • Sennenleben in den Alpen. (Mit Illuſtration.)331
  • Das Alpenhorn353
  • Der Geißbub. (Mit Illuſtration.)361
  • Der Wildheuer. (Mit Illuſtration.)373
  • Alpſtubeten oder Aelplerfeſt. (Mit Illuſtration.)385
  • Holzſchläger und Flößer. (Mit Illuſtration.)397
  • Auf der Jagd. (Mit Illuſtration.)409
  • Dorfleben im Gebirge. (Mit Illuſtration.)425

Verzeichniß der Illuſtrationen.
  • Titelblatt.
    1. Alpenſpitze.247
  • 2. Alpenſtraße.287
  • 3. Alpſtubeten oder Aelplerfest.385
  • 4. Auf der Gemſenjagd.409
  • 5. Bannwald.65
  • 6. Begräbniß.425
  • 7. Bergſturz.45
  • 8. Edelkaſtanie.111
  • 9. Geißbub.361
  • 10. Gletſcher.213
  • 11. Holzflößer.397
  • 12. Lauinen-Ausgrabung.195
  • 13. Legföhren.89
  • 14. Wettertanne.81
  • 15. Wildheuer.373
  • 16. Wildkirchli.331
[[1]]

Das Alpengebäude.

Die Natur
Vermag nicht unter ähnlicher Geſtalt
Den Fortgenuß der Dinge zu gewähren.
Sie wechſelt ihre Formen, und ſie läßt
Des Einen Bild in andre übergehen,
Doch mit Verſchiedenheit von Geiſt und Kraft.
So wächſt der unermeßne Reichthum auf,
Und ewig zeigt ſich eine andere,
Und doch dieſelbe Welt.
Knebel.

Die Alpen ſind einer der großartigſten Beweiſe von der
Majeſtät der Schöpfungsgewalt.


Staunt der denkende Menſch ſchon alle die Wunder und
erhabenen Zeugniſſe der erſchaffenden, erhaltenden und auflöſenden
Kraft in der Natur an, welche täglich, ſtündlich vor ſeinem ſehen¬
den Auge, nach einem großen gemeinſamen Organiſationsgeſetze
Neues geſtaltet, Exiſtirendes bewegt und belebt, Verbrauchtes,
Vollendetes wieder dem Urquell der Materie oder einer neuen
Beſtimmung im großen Kreislaufe der Schöpfung zuführt und
ihm einen Maßſtab für die nimmer raſtende, Alles ergreifende,
Alles umfaſſende Thätigkeit des wollenden, ordnenden, Alles durch¬
Berlepſch, die Alpen. 1[2]Das Alpengebäude. dringenden und vollbringenden großen Geiſtes im Univerſum giebt,
— dann wird er tief ergriffen, erſchüttert vor jenem impoſanten
Rieſenbau der Alpen ſtehen, der von Gewalten emporgerichtet wurde,
für deren materielles Entſtehen und Wirken die Naturwiſſenſchaften
zwar allgemeine, aus den Erſcheinungen gewonnene Normen auf¬
ſtellen und ihr Verhältniß zu anderen Naturgeſetzen nachweiſen,
deren ganze Aufgabe, Ausdehnung und Gränzen im Weltall das
menſchliche Ergründen und Erkennen aber nur zu ahnen vermag.


Nur wenige Menſchen kennen die wirkliche und volle Ma¬
jeſtät des Alpengebäudes. Sie entſchleiert ſich da am Aller¬
wenigſten, wo die breiten Heerſtraßen über Joche und Bergſättel
laufen, oder wo das kleinliche Treiben des alltäglichen Verkehrs¬
lebens an die Fußſchemel dieſes Schöpfungswunders ſich heran¬
gewagt hat. In die Geheimniſſe der verborgenen Gebirgswelt
mußt Du hineindringen, in die Einſamkeit der ſcheinbar ver¬
ſchloſſenen Schluchten und Thaltiefen, wo der Kulturtrieb des
Menſchen ohnmächtig ermattet, weil er die Schwäche ſeines Stre¬
bens gegenüber der Erhabenheit der Alpennatur erkennt, — über
Urwelt-Getrümmer mußt Du klimmen, durch Gletſcherlabyrinthe und
Eiswüſten in das Tempelheiligthum eingehen, welches ſich dort vor
Deinem erbangenden Blicke frei und kühn in den Aether empor¬
wölbt. Da wird ſie Dir entgegentreten die unbeſchreiblich hohe
Pracht der Alpenwelt in ihrer ganzen Herrlichkeit und Größe, da
wirds mit Geiſterſtimmen Dich mächtig umrauſchen, und über¬
wältiget wirſt Du niederſinken vor dieſen verkörperten Gottesge¬
danken. Und haſt Du Dich dann aufgerafft von dem erſten
gewaltigen Eindrucke, — haſt Du im Anſchauen der gigantiſchen
Maſſen das Herz Dir ausgeweitet und empfänglich gemacht für
noch größere und herrlichere Offenbarungen, dann richte kühn eine
Frage an jene Mauſoleen urvordenklicher Zeiten, dann forſche,
welche Hand ſie emporgehoben hat aus der Tiefe ewiger Nacht
in das Reich des Lichtes, — dann ſchlage die Geſchichte ihrer
[3]Das Alpengebäude. Schöpfungstage in den Felſenblättern dieſer verſteinerten Welt¬
chronik nach und erforſche ihren Exiſtenzzweck; — und die großen
todten Maſſen werden ſich beleben, es wird ſich Dir ein Blick
erſchließen in den unendlichen Kreislauf der Ewigkeit.


Gedankenvoll, verſtandvoll iſt die Schöpfung,
Ein großes Herz, das Wärm' in alle Adern,
In alle Nerven Gluth der Fühlung gießt
Und ſich in Allem fühlet.
Herder.

In weit geſtrecktem Halbbogen durchziehen die Alpen das
ſüdliche Europa, ein Glied jenes koloſſalen Erdrippen-Baues,
der den, ins mittelländiſche Meer hinausragenden Landzungen
der Iberiſchen, Italieniſchen und Osmaniſch-Helleniſchen Halbinſeln
als Pyrenäen, Apennin, Tſchar-Dagh und Hämus ihren inneren
Halt giebt. Sie ſind Reſultate und Gebilde viel hunderttauſend¬
jähriger Kryſtalliſationen und Niederſchläge aus einſtigen Ur¬
meeren. In verſchiedenen Epochen erfolgten dann Hebungen und
Senkungen, abermalige Ueberfluthungen und neue Ablagerungen,
und endlich durchbrachen feuerflüſſige Produkte aus den Schmelz¬
öfen des Erdinneren dieſe vielfach übereinander lagernden Schichten,


Wer Zeuge jener Umwälzungen und Ausbrüche hätte ſein kön¬
nen, als in den Central-Alpen der eigentlichſte, innere Kern des
rieſigen Berggebäudes, die Granite, Gneiſe und kryſtalliniſchen
Schiefer aus den Tiefen der Erdrinde emporgedrängt, von den
ſtrahlend aufſchießenden Maſſen der hornblendartigen Geſtein¬
durchbohrt und in Fächerform aufgerichtet wurden? Wie ohne
mächtig möchten die Momente des wildeſten Natur-Aufruhrs die
wir kennen, — wie unbedeutend Erdbeben und Meeresſturm,
Vulkan-Ausbruch und Felſenſturz der Jetztzeit gegen jene Kata¬
ſtrophen erſcheinen, welche dem Alpengebäude ſeine gegenwärtige
Geſtalt gaben? Wie hat unſer Verſtand ſo ganz und gar keinen
1*[4]Das Alpengebäude.Anhaltepunkt, um einen nur einigermaßen entſprechenden Begriff
für jene welterſchütternden Epochen zu bilden? Vertauſendfachten
wir den furchtbarſten Aufruhr des wildeſten Gewitters, welches die
geſteigerte Phantaſie auszumalen im Stande iſt, — dächten wir
uns alle Feuerſchlünde der zur Kriegsführung der Völker auf Er¬
den exiſtirenden Geſchütze auf einer Stelle verſammelt, auf ein
Kommandowort losgebrannt — wie nichtig würden ſie immerhin
noch im Verhältniß zu jenen Momenten ſein, in welchen die noch
Milliarden und abermals Milliarden von Kubikklaſtern feſter Ge¬
ſteine der Central-Alpen aus ihren Fugen geriſſen zerbarſten, und
zerſprengt, himmelhoch aufgerichtet oder übereinander geworfen
wurden?


— — zur Zeit, als noch ein Flammenbrand

Gen Himmel lohte aus der Berge Kuppen,

Als ſich in Schmerz die Erde kreiſend wand.

Formlos geballt lag ſie in wilden Gruppen;

In Fluthendrang und durch der Flamme Kraft

Sollt' ſie verklärt, ein Phönix, ſich entpuppen.

Und Alles, was ſie ſchuf, war rieſenhaft.

Es hat die größte Wahrſcheinlichkeit für ſich, daß die meiſten
der erdgeſtaltenden Vorgänge langſam, ſehr langſam ſich ent¬
wickelt haben mögen. Denn zuverläſſig iſt der Härtezuſtand der
Geſteine während der großen Revolutionsperioden ein viel minder
ſpröder, weniger erfeſteter geweſen, als heute, ſo daß die beiden,
jedenfalls am Bedeutſamſten bei der Ergeſtaltung betheiligten Fak¬
toren: die Centrifugal- (oder mechaniſche, durch den Erdumſchwung
bedingte Anziehungs-Kraft und die Expanſion (Ausdehnung) durch
Gaſe, Dämpfe, Waſſerdruck aus dem Erdinnern, — leichter und
ſtetiger auf die Geſtaltung einwirken konnten. Aber eben ſo ſicher
iſt es auch, daß andere phyſikaliſche Geſetze, wie von Anbeginn
der Materie beſtanden, — wie z. B. das Geſetz der Schwere, —
aktive Augenblicke in der äußeren Bildungsgeſchichte des Alpen¬
baues herbeigeführt haben müſſen, die, energiſch in ihren Wirkungen,
[5]Das Alpengebäude.zu dem Furchtbarſten gehören, was der menſchliche Gedanke nur zu
erfaſſen vermag. Tauſend Merkmale bezeugen dies bei näherer
Betrachtung des Gebirgsreliefs, namentlich die noch heute an
pitoresken Formen reichen, ſcharfkantigen Linien und Brüche der
Dolomit-Gebirge, die ſich weder abrunden, noch verwitternd zer¬
bröckeln, — die abenteuerlichen Zickzack-Ornamente und wunderbar
phantaſtiſchen Formenſpiele in den Kalkalpen, ſoweit dieſe nicht
durch Firn-Einlagerungen oder Ueberdeckung mittelſt jüngerer Fels¬
gebilde dem Auge entzogen werden, — dies bezeugen die großen
Thalriſſe und Schluchten, wie die in der Via-Mala, im Tamina¬
thale, in der Trientſchlucht, die ſchlundähnlichen Mündungen der
meiſten ſüdlichen Walliſer und Engadiner Seitenthäler, deren beide
Thal- oder Schluchtwände heute noch die ineinander paſſenden
Bruchflächen (mitunter bis in die kleinſten Details erhalten) zeigen,
— das beſtätigen die kahlen, im Material-Profil ſich präſentirenden
Felſenköpfe, die, ſenkrecht abſinkend, alle übereinander liegenden
Schichten dem Blicke preisgeben, während der Pendent, der abge¬
brochene, einſt gegenüberſtehende, nunmehr fehlende, maſſige Gegen-
Part in die Tiefen verſunken iſt, wie z. B. am Wallenſee die
Wände der Churfirſtenkette, die Felſenfronten des Frohnalpſtockes
und Axen am Vierwaldſtätter-See u. a. m.


Betrachten wir dann weiter jene majeſtätiſchen Strebemaſſen,
die gleich gigantiſchen Obelisken frei und kühn in die Wolken
emporſteigen, Zinken wie das unerklimmbare, ſchneenackte, 13850 Fuß
hohe Matterhorn, die blendende Firnpyramide der faſt eben ſo
hohen Dent blanche, das neunzinkige Gipfeldiadem des Monte
Roſa (von 14200 Fuß Höhe), welche unmöglich in ihrer Pfeiler-
Geſtalt, wie wir ſie jetzt ſehen, durch die Erdkruſte aus der Tiefe
hervorgeſtoßen ſein können, ſondern nichts als vereinzelt ſtehen¬
gebliebene Ruinen-Reſte des ehemaligen alten Berggebäudes ſind, —
was für gräßliche Zertrümmerungs-Akte müſſen es geweſen ſein, die
jene dazwiſchen nun fehlenden Glieder loſtrennten und wahrſcheinlich
[6]Das Alpengebäude. in die Tiefen, aus denen ſie emporgeſtiegen waren, zurückſinken
ließen? denn, daß allmählige Verwitterung dieſe Felſenthürme
ſo abgenagt und modellirt habe, dagegen ſprechen eine Menge von
Gründen.


In keinem anderen Gebirge Europas liegen Entſtehung, Zer¬
ſtörung und Neugeſtaltung ſo unmittelbar und in ſo markigen
Zügen nebeneinander, wie in den Alpen; an Großartigkeit der
Formen, an Mannigfaltigkeit der Zerklüftung und Verwerfung der
Schichten werden ſie von keinem anderen unſeres Continentes über¬
troffen.


Es ragt die heilige Urſchöpfungszeit,
Von Felſenzacken eine Rieſenwelt,
Ein wildes Urgebirge weit und breit,
In ſtarrer Pracht zum blauen Himmelszelt.
(K. Beck.)

Aber kein anderes Berggebäude unſeres Erdtheiles vermag
auch einen ſolchen Mineralreichthum, eine ſo inſtruktive Skala
des Erdbildungsprozeſſes aufzuweiſen, wie die Alpen. Freilich
werfen Umbiegungen oder gänzlich abnormer Wechſel der Schichten,
eingelagerte Sedimentſtreifen in den kryſtalliniſchen Geſteinen und
widerſtreitende Stratificationen dem Geologen oft faſt unlösbare
Räthſel in den Weg und öffnen ihm Thor und Thür zu den
abenteuerlichſten Hypotheſen.


Um ſich ein annähernd richtiges Bild von der inneren Kon¬
ſtruktion, von dem Material-Bau, von der geognoſtiſchen Auf¬
einanderfolge der Geſteinsarten in den Alpen zu machen, denke
man ſich, daß ein einſtiges Urmeer durch unbeſtimmbar lange
Schöpfungs- und Erdgeſtaltungs-Perioden hindurch Schlammſchichten
ablagerte, wie wir einen ähnlichen Prozeß im Kleinen heute noch
an den Ufern der Flüſſe und nach Ueberſchwemmungen wahrnehmen
können. Jede dieſer Perioden verſchlang ganz oder theilweiſe die
damals auf den emporgetauchten Inſeln oder Kontinenten, oder in
[7]Das Alpengebäude. den Gewäſſern zur lebensvollen Entwickelung gelangten Thiere und
Pflanzen und begrub dieſelben in ihren Ablagerungsſchichten. Ganze
Generationen von Organismen, die in unſeren Zeiten nicht mehr
exiſtiren, gingen mit ihnen unter. Dieſe eingeſchloſſenen Zeugen
der verſchiedenen Epochen organiſchen Lebens (jetzt als Verſteine¬
rungen oder Petrefakten und Pflanzenabdrücke in den Gebirgs¬
ſchichten gefunden) wurden die Erkennungszeichen und Merkmale,
nach denen die Wiſſenſchaft der Geologie die Blätter ihrer
Schöpfungsgeſchichte ordnet. Die Reihefolge derſelben iſt, wo ſie
nicht gewaltſam geſtört wurde, übers ganze Erdenrund die gleiche.
Es müſſen alſo die älteren und älteſten Ablagerungen oder „Sedi¬
ment-Gebilde“ zu unterſt und die je ſpäter erfolgten jederzeit dar¬
über liegen. Alſo ſtellt es ſich auch im Alpenlande und in ſeiner
Umgebung dar.


Eine Wanderung bergwärts von Süddeutſchland aus führt
uns durch die geologiſchen Gebiete aller Hauptepochen und iſt am
Beſten geeignet, die Entwickelungselemente und deren Gliederung
vorzuführen. Die große bayeriſche Ackerbau-Ebene zwiſchen Donau
und Inn, die Flächen von Nürnberg, Ulm, Augsburg, München
bis in die Nähe von Paſſau, gehören den jüngſten Ablagerungen
oder Alluvial-Gebilden an; überall, wo man durch die fort¬
dauernden Humus-Bildungen einen Spatenſtich ins Erdreich thut,
kommt man auf Kiesgruben, Schuttablagerungen oder torfähnliche
Unterlagen. Unter dieſen zeigen ſich Diluvial-Gebilde, theils
geſchichtete, theils ungeſchichtete Lager von Blöcken, namentlich auch
ſogenannte erratiſche Schichten. Steinbrüche ſind ſo ſelten, daß
man in den Dorffluren mancher Gegenden hölzerne Grenzſteine
ſetzt. — Ein Schritt weiter ſüdwärts bringt uns in bergiges
Terrain, ins Bayeriſche Hochland, ins Allgäu, an den Bodenſee
und in das größte und breiteſte Thal Europas, in das Schwei¬
zeriſche Mittelland (zwiſchen Jura und Alpen), in welchem Zürich,
Bern, Freiburg und Lauſanne liegen. Wieſe und Wald wechſelt
[8]Das Alpengebäude. mit agrikolen Diſtrikten, die Gegend wird farbiger, formiger, Bäche
und Flüſſe nehmen einen beſchleunigteren Lauf an und ſammeln ſich in
tief ausgeſpülten Seebecken an der Vorberge Fuß. Noch bekränzen
die rundlich weichſchwellenden Formen der Laubhölzer Anhöhe und
Niederung; weithin ſind die Halden mit zerſtreuten Wohnungen
überſäet; Dörfer und Städte bergen raſch pulſirendes, haſtig
drängendes, nach Erwerb ringendes Leben. Es iſt das Gebiet
der Molaſſe-Gebilde, die nach den eingeſchloſſenen Muſcheln
ſich theils als Niederſchläge aus ſalzigen Meeresgewäſſern, theils
als ſolche aus ſüßen Waſſern ausweiſen und meiſt als blaugraue
Sandſteine, Mergel- und Lettenſchichten, Süßwaſſerkalk, Muſchel¬
ſandſtein und große Konglomerat-Bänke — Nagelfluh genannt —
darſtellen. Die Berge dieſer Zone zeigen nur rundliche, hügelhafte
Formen; in der Schweiz wachſen dieſe bei etwas entſchiedeneren
Linien bis zu einer Hebung von 6000 Fuß an (Speer, Rigi,
Napf).


Abermals ein Schritt weiter dem Gebirge zu und in daſſelbe
ſchon eintretend, gelangen wir nach Salzburg, Sonthofen, in das
öſterreichiſche Vorarlberg, in die Kantone Appenzell, St. Gallen,
Glarus, Schwyz, nach Sarnen im Kanton Unterwalden, an den
ſchönen Thuner-See. Der Ackerbau verläßt uns immer mehr, die
Landſchaft wird entſchieden alpenhaft, der Laubwald zieht ſich zurück
und Nadelholzforſte treten an deſſen Stelle; Viehzucht beginnt die
vorherrſchende Beſchäftigung des Volkes zu werden. Die leuchtend
grellen Farben rother Ziegeldächer und weißbetünchter Häuſer ver¬
ſchwinden allgemach; ſilbergrau auf grün, gebleichte Schindeldächer
auf den Holzhäuſern in Mitte ſchwellender Matten treten als
charakteriſtiſche Momente hervor. Die Molaſſe-Geſteine verſchwin¬
den; ein anderes Gebilde ſchiebt ſich unter denſelben hervor, das
alſo älter iſt und ſich durch das ganze mittägige Europa, tief
nach Afrika und Aſien hinein verbreitet zeigt. Es iſt das der
Eocen-Bildungen, welche, in Flyſch- und Nummuliten¬
[9]Das Alpengebäude.Geſteine*) unterſchieden, bald als Schiefer und Sandſtein, bald
als kalkartige Geſteine in reſpektabeln Gebirgsketten und ſchroff
abgeriſſenen Felſen-Façaden auftreten. Begreiflich beſteht nicht die
ganze Aufgipfelung eines ſolchen Gebirgs-Individuums lediglich
aus dieſem Geſtein, ſondern daſſelbe iſt entweder nur das vorherr¬
ſchende, wie in der ſtolzen Bergpyramide des Nieſen (7280 Fuß)
am Thunerſee, wo die Flyſchlager eine Durchſchnitts-Dicke von
4500 Fuß erreichen, — oder, es iſt das zu oberſt aufliegende,
in ſchwindelnde Höhe mit emporgehobene Geſtein wie an der
Schrattenfluh im Emmenthal oder an den zackiggebrochenen, ſchein¬
bar in ſich ſelbſt zuſammengeſunkenen Ralligſtöcken und auf dem
Niederhorn im Juſtithale (Thuner-See), wo Nummulitenkalk die
oberſten Kämme bildet. Auch der Gipfel des ſommerlichen Tou¬
riſtenzieles, das berühmte Faulhorn, iſt rauher ſandiger Schiefer
der Flyſchzeit und das „verfaulende“ Geſtein verlieh dem Berge
ſeinen Namen. Noch weiter hinauf bis zu 10 und 11 Tauſend
Fuß, wurde Flyſch- und Nummuliten-Sand nur auf die
äußerſten Kuppen der Glariden und des Tödi gehoben; dort be¬
deckt es wie aufgeſtülpte Hauskäppchen die Silberſcheitel dieſer Berg¬
greiſe, deren gewaltige Körpermaſſe aus, kryſtalliſchen Felsarten
(Gneis) beſteht.


Aber es bedarf durchaus nicht der Wanderung auf ſolche
Höhen, um das Geſtein kennen zu lernen; auch das Thal birgt
es. Jene ſchwarzen immer feuchten Felſenwände der Tamina¬
[10]Das Alpengebäude. Schlucht, in welcher der heiße Sprudel der Pfäferser Heilquelle
liegt, das zerbröckelnde Geſtein um Bad Fidris im Prätigau, die
nächſte Umgebung des Stachelberger Bades im Glarner Thale ſind
Flyſch-Geſteine. Hier ſtehen wir an der Gränze einer der großen
Schöpfungsepochen unſeres Erdkörpers; denn mit den Eocen-
Gebilden ſchließt ſich die große Hauptgruppe der jüngſten Ab¬
lagerungen, welche der Geologe die „Tertiär-Formationen
nennt. Alles, was unter ihnen liegt, alle Berge, die alpenwärts
vor unſerm Blicke ſich erheben, ſind älter, gehören früheren Zeiten
an. Die Wiſſenſchaft rubricirt ſie als Gebilde der „Sekundär-For¬
mation.“ Das ganze Terrain, in welchem dieſe Geſteine ſich zei¬
gen, muß damals, als die Molaſſe-Gebilde abgelagert wur¬
den, ſchon als Feſtland exiſtirt und über das ſ. g. „Urmeer“
herausgeragt haben. Es war viel größer, dieſes Kontinent, als
es ſich heute zeigt; die darunter liegende große Gruppe der Kreide-
Gebilde
hat bei der Hebung der Alpen die Flyſch-Decke an vielen
Stellen durchbrochen und zur Seite geworfen. Am Auffallendſten
ſieht man es in den Vorarlberger Alpen, ganz beſonders in der
Säntis- und Churfirſten-Kette, dann in den Schwyzer Alpen, wo
namentlich die Mythenſtöcke bei Schwyz wie durchs Fleiſch hervor¬
geſtoßene Zähne daſtehen, in den Nidwaldner Alpen, am zerzackten
Pilatus, an der Schaafmatt, am Scheibengütſch, am Brienzer
Rothhorn und an anderen Bergen des Berner Oberlandes. — Unter
der Bezeichnung „Kreide-Formation“ denke man ſich indeſſen keines¬
weges Felſen von weißer Schreibe-Kreide; die Geologen haben
auch hier wieder alle Geſteinsarten, welche die gleichen Verſteine¬
rungen und organiſchen Ueberreſte wie die weiße Schreibe-Kreide
einſchließen, alſo der gleichen großen Niederſchlagsepoche ange¬
hören, als eine Formation zuſammengefaßt und nach der Kreide
benannt. Sie iſt eins der am Weiteſten auf der Erdoberfläche ver¬
breiteten Gebilde und nimmt z. B. in Nordamerika eine Fläche
von 120 Meilen Breite und 300 Meilen Länge ein.


[11]Das Alpengebäude.

Die Fluhen und Kämme dieſes Geſteines ſind ſchroffer em¬
porgerichtet, kühner, markirter in den Linien als die des Flyſch,
— maleriſch-zackige Felſen-Façaden oft in überraſchend ſchöner
Detailzeichnung. Alle jene großartigen Uferdekorationen am
wilden Wallenſee, am Vierwaldſtätter- und Brienzer-See mit ihren
Pfeilerarkaden und Winkelvorſprüngen, ihren Niſchen und Eckſäulen,
deren Gruppirung und Gegenwirkung eine landſchaftlich ſo bezau¬
berndſchöne iſt, gehören der Kreide-Formation an. Da zeigen ſich
ſchon ausgeprägte Alpenformen in grotesken Maſſen, gleichſam vor¬
geſchobene Poſten der impoſanten Gipfel-Armee, welche im Rücken
derſelben ihr Lager aufgeſchlagen hat. Selten erreichen die Kreide¬
felſen die Höhe der Schneegränze, alſo 7000 bis 8000 Fuß. Aber
auch in dieſer Formation unterſcheidet die Wiſſenſchaft in den Alpen
wieder vier Geſteinsarten. Die unterſte derſelben iſt der Spa¬
tangenkalk
oder Neocomien, ſo genannt von Neocomum oder
Neuchâtel, in welcher Gegend er hauptſächlich entwickelt iſt; —
auf ihm lagert der Rudiſten- oder Caprotinenkalk, von dem
in der Schilderung der „Karrenfelder“ Weiteres zu finden iſt; —
über dieſem wieder der Gault, ein an Verſteinerungen ſehr reicher
Sandſtein, — und obenauf endlich als jüngſtes Gebilde der
Seewerkalk.


In einer großen Strecke der Berner Alpen, namentlich zwi¬
ſchen Rhône und Aar, iſt die Kreideformation gänzlich verſchwun¬
den und ein noch älteres Geſtein, der an Petrefakten ſehr reiche
Jurakalk, erſetzt deren Stelle. Hier treten wir ins Hochgebirge
ein; wir ſtehen auf der unterſten Stufe der treppenförmig an¬
ſteigenden großen Alpenthäler. Durch jede Lücke der erhabenen
Strebemaſſen leuchten Firnfelder und überſchneite Hochkulme her¬
nieder, — von ihnen brauſen jäh über die Felſenwände die zu
Schaumflocken zerſtäubenden Waſſerfälle herab, die bald in ge¬
ſchloſſenen, vollen, breiten Garben zu Thal ſtürzen wie die Fälle
des Reichenbaches und Giesbaches, oder in funkelnden Waſſerſtaub
[12]Das [Alpengebäude]. aufgelöſt, wehenden Schleiern gleich herniederwallen wie der Oltſchi¬
bach, Staubbach und alle die anderen des Lauterbrunner-Thales.
Das Volksleben entfaltet ſich nicht mehr in reichen Dörfergruppen
weit zerſtreut über Halde und Höhe, — hinunter ins Thalbett, an
die Ufer der Ströme, da wo Weg und Steg Kommunikation bie¬
ten und die Wohnung geſchützt iſt gegen klimatiſche Unbilden, hat
es ſich geflüchtet, und nur im Sommer wandern die Bewohner
mit ihrem Vieh nomadiſch auf die Hochweiden der Alpen. Die
Gebirge-aufrichtenden, Alpen-geſtaltenden Kräfte haben hier gewal¬
tig und energiſch gewirkt; man ſieht es, daß man den centralen
Erhebungskratern ſich nähert. Wie ein Ringgebirge mit ſchroffem,
innerem Abſturz den centralen vulkaniſchen Herd umgiebt, ſo kehrt
die erſte, zuweilen auch eine zweite, dritte Kalkkette dem Granit¬
gebirge ſteile, oft hoch in die Schneeregion aufſteigende Felſen¬
wände zu. Stets fallen die Schichten der Kalkalpen nach Außen
zu, ein Beweis, wie dieſe Decke gewaltſam bei der Bildung der
Alpen von den aus der Erdtiefe aufgeſtiegenen Granitmaſſen zer¬
ſprengt und in ſchiefe Richtung gebracht wurde.


Als dieſe Gebirge noch nicht in ihren heutigen wilden, kühnen
Formen daſtanden, als die Kalkfelſen nur flache, zerſtreut aus dem
vorweltlichen Meere hervorragende Eilande bildeten, da muß eine
Rieſenvegetation auf denſelben gewuchert haben, und gräuliche
Ungeheuer belebten die Tiefen.
Im Grund begraben wird hier, — dort gefundenVergangner Pflanzen ſteingewordne Spur;Gebein von Thierart, die vorlängſt entſchwunden,Die abgelegten Kleider der Natur.Und wollt ihr dann in ſtaunenden GedankenDie Gliedermaſſen euch zuſammenfügen,Sinds Rieſen, überragend alle Schranken,Ihr ſchaut Urwelt in großen Schreckenszügen.  ((Lenau.)
)
Es iſt die einſtige Heimath der Ichthyoſaurier und Pleſioſauren,
jener 50 Fuß langen, zwitterhaften, Ungethüme, halb Krokodil,
halb Fiſch; es iſt die Fundſtätte der rieſigen Petrefakten, die wir
[13]Das Alpengebäude.als Ammonshörner und Nautilus kennen. — Viele Gipfel der
Kalklagen gehen weit über die Schneelinie hinaus; das Oldenhorn
erreicht 9617 Fuß, das Weißhorn 9272 Fuß, der Urirothstock
9027, die Altels 11,187, die Windgelle 9818 und das Scher¬
horn 10,147 Fuß.


In den öſtlichen Alpen, wo in der äußeren Konfiguration
des Gebirges mehr die Plateaubildung vorherrſcht, vertreten die
noch älteren Trias-Dolomite und Keuper, ſo wie die Lias-Geſteine
die Stelle der Jura-Kalke.


Wir ſind an der Grenzlinie der neptuniſchen Niederſchläge
angelangt; wir treten in das Gebiet der, wahrſcheinlich zu den
älteſten Rindengeſteinen der Erde gehörenden Schichten, in die
Schiefer-Alpen, welche die, aus dem Erd-Innern aufgeſtiegenen,
granitiſchen Kernmaſſen umkleiden oder theilweiſe ganz in dieſelben
übergehen. Da überraſcht den vom Norden kommenden Alpen¬
wanderer eine auffallende Erſcheinung. Bisher nahm er wahr,
daß alle Felſenſchichten, deren Lagerungsprofile er in den Thal¬
wänden oft ſehr deutlich erkennen konnte, meiſt ſchräg gegen das
Flachland hin, abfallen, — unverkennbar ſo: als ob ſie durch die
Alpen emporgehoben und in dieſe ſchiefe Lage gebracht worden
ſeien. Jetzt mit einemmal zeigt ſich die entgegengeſetzte Erſchei¬
nung. Unter den ungeheueren Kalk-Koloſſen, deren ſchräg gen
Norden oder Nordweſt einſinkende Schichten ſich bis in die Wolken
erheben, wachſen plötzlich Strebepfeiler empor, welche im rechten
Winkel jene zu ſtützen ſcheinen. Das ſehen wir, wenn wir vom
Genferſee durchs Rhône-Thal ins Wallis einwandern, an dem
zackigen Kalk-Dome der Dent du Midi bei Evionaz, — oder
wenn wir vom freundlichen Brienz durchs Haslithal nach dem
Grimſel-Hospiz aufſteigen, dort, hinter dem Quer-Riegel des
„Kirchet“, in der maleriſchen Thal-Mulde „Im Grund“, wo das
Urbach- und Mühle-Thal münden, — oder noch auffallender auf
der Gotthards-Straße, hinter Altorf bei der „Klus“, und weiter
[14]Das Alpengebäude. nach Amſteg zu, wo deutlich die nach Norden abfallenden Kalk¬
ſchichten auf dem ſteil gen Süden einſinkenden Gneismaſſen la¬
gern. Hier alſo begegnen wir den erſten ſichtbaren Spuren jener
furchtbaren Hebel, welche das ganze große, herrliche Alpengebäude
mittel- oder unmittelbar aufrichteten. Die Schieferdecke iſt auf un¬
geheuere Strecken hin zerſprengt, zerriſſen, verworfen, mit empor¬
gehoben, umgebogen oder durch die Feuereinwirkungen in ihren
Grundſtoffen verwandelt. Nur in Savoyen in einem Theile des
Arve-Thales, in Piemont in den Thalgebieten der obern Iſère und
der Dora-Baltea, im ſüdlichen Wallis und in vielen Theilen der
Graubündner Alpen, beſonders auch im Unter-Engadin, haben die
als graue, grüne und Belemniten-Schiefer bekannten Ge¬
ſteinskörper noch Zuſammenhang behalten und bilden rieſige Ge¬
birgsketten. Wo aber die kryſtalliniſchen Centralmaſſen als:
Alpengranit, Protogin, Gneis und Glimmerſchiefer durchgebrochen
ſind und alles vorhanden Geweſene zur Seite geworfen haben, da
ſtreben ſie in ſenkrechter Stellung wie Glieder koloſſaler Fächer empor.

Es ſind die weithin ſichtbaren Oberhäupter des ſtillen, erha¬
benen Alpenreiches, die in ernſter Majeſtät ganz Central-Europa
beherrſchend überſchauen, — von deren Giganten-Schultern der
firnſtrahlende Regenten-Mantel mit den Gletſcher-Schleppen herab¬
wallt; — es ſind die rieſigen Gipfel des wie aus der Ewigkeit
ſtammenden Montblanc (14,800 Fuß), des mit neunzinkiger Krone
geſchmückten Monte Roſa (14,284 F.), der noch unerſtiegenen
großartigſten Gebirgspyramide des Matterhornes (13,900 F.), der
wilden Miſchabelhörner (14,032 F.), des in unvergleichlicher Pracht
aufragenden Weißhornes (13,900 F.), der kühn dräuenden Felſen-
Lanzen eines Finſteraarhornes (13,160 F.), und der jähen Schreck¬
hörner (12,568 F.), des einſamen Adula- oder Vogelberges (10,454 F.),
des Gletſcher-umpanzerten Piz Bernina (12,475 F.), der Silvretta
(10,516 F.), der Ortles-Spitz (12,030 F.) und des Groß-Glockners
in Tyrol (12,185 F.).


[15]Das Alpengebäude.
O, du biſt ſchön, erhabner Rieſendom,
Wenn dich der Himmel freudig überblaut,
Der Sonnenaufgang einen Strahlenſtrom
Auf deine ſtarren Augenlider thaut.
 
K. Beck.

„Alle von der Phantaſie erſchaffene Größe muß im Vergleich
mit den Alpen klein erſcheinen“ ſagt Bonſtetten. Und in der
That, es kann auf dem europäiſchen Kontinente wohl kaum einen
gewaltigeren, erſchütternderen Anblick geben als den, von geeigne¬
tem Standpunkte in der Berner Alpenkette aus (z. B. von der
Höhe der Gemmi, oder vom Torrenthorn ob Leuk, oder beim Wild¬
horn am Rawyl-Paß), auf die ſüdlich gegenüberliegenden Walliſer-
Alpen. Es iſt ein Panorama von unbeſchreiblicher Erhabenheit, von
faſt grauenhafter Pracht. Die großen geſpaltenen Seitenthäler des
Wallis erſcheinen ſo ſchreckhaft ernſt und dräuend, ſie tauchen in
ihrer, durch die ſchwarzgrünen Nadelwälder geſtimmten finſteren
Färbung ſo urthümlich und ſagenhaft-düſter im Mittelgrunde auf
und kontraſtiren ſo ſchaurig gegen die ſie überragenden, blendend
weißen Firn-Façaden, daß mancher entſchloſſene Berggänger nach
dieſem Eindruck ſich beſinnen würde dieſelben zu betreten. Und
doch iſt gerade in ihren Tiefen das großartigſte Naturſchauſpiel
verborgen. Der Hintergrund des Zermatter- oder Nicolaithales
und des Einfiſchthales werden von keinem anderen Alpthale an
Majeſtät übertroffen, ſelbſt nicht von dem berühmten Chamouny.


Die gianitiſchen Centralmaſſen ſind aber durch ſpätere Er¬
ſchütterungen und Kataſtrophen wieder ſo entſetzlich zerſpalten und
umgeſtaltet, in neue Gruppen getrennt und in ihrer ganzen Kon¬
figuration verändert worden, daß nur der ordnende Scharfblick des
Geologen deren einſtigen wahrſcheinlichen Zuſammenhang wieder¬
herzuſtellen vermag. Unberechenbare chemiſche Umwandelungen ein¬
zelner Partieen, namentlich in den Schiefergebirgen, haben ſtatt¬
gefunden. Hitze-Einwirkung, Dämpfe, Gas- und Säure-Durch¬
dringung, Zertrümmerung und durch Miſchung entſtandene Neu¬
bildung haben meilengroße Alpen-Parzellen in neue Geſteine
[16]Das Alpengebäude. verwandelt, wohin namentlich die Verrucano-Gebilde gehören.
Mächtige Gypsadern durchziehen, als ſpätere chemiſche Verbin¬
dungen, die kryſtalliniſchen Maſſen, — und hornblendartige Ge¬
ſteine ſteigen als Erruptiv-Garben, wie Schlote aus der Unter¬
welt, im innerſten Kern der centralen Stöcke auf, in den höchſten
Spitzen derſelben zu Tage tretend. Dieſes chemiſch-zerſetzende, all¬
mählig auflöſende, neue Prozeſſe vorbereitende Laboratorium im
Erd-Innern, als deren Sicherheits-Ventile Alexander v. Humboldt
die Vulkane bezeichnet, arbeitet auch unter dem Alpen-Maſſiv noch
immer fort. Beweiſe dafür liefern die zahlreichen kohlenſauern
Gasquellen, die vielen Sauerbrunnen, die, giftige und ſtickſtoff¬
haltige Dünſte ausathmenden, gefährlichen Mofetten im Engadin
und manche andere Erſcheinungen.


Nicht durch den ganzen von Südweſt gen Nordoſt laufenden
Alpenwall zeigt ſich an der nördlichen Abdachung die gleiche, vom
jüngeren zum älteren Gebilde regelmäßig fortſchreitende Geſteins¬
folge, wie wir ſie auf den letzten Seiten ſkizzirten; gar häufig er¬
ſcheint dieſelbe unterbrochen oder gar auf den Kopf geſtellt. Dies
iſt namentlich der Fall in dem großen, wie es ſcheint nach Innen
eingeſtürzten, jetzt von den Schienen der Eiſenbahn durchſchnitte¬
nen Alpenkeſſel zwiſchen dem Glärniſch, den Churfirſten und dem
Kalanda; dort zeigen ſich die älteren Schichten den jüngeren auf¬
gelagert, ſo daß hier eine der größten Umwälzungen ſtattgefunden
haben mag. Ringsum an den genannten Bergen beſtätigen die
abgebrochenen Schichtenköpfe die Annahme eines umfangreichen
Einſturzes der Gebirge; die Verrucano-Maſſen treten hier als
ſchöne rothe Melſer Konglomerate und Sernf-Schiefer dicht an die
Eiſenbahn heran.


Ganz anders geſtaltet ſich das Alpenbild von einem ſüdlichen
Standpunkte aus. Der Abſturz der Maſſen iſt viel ſchroffer, un¬
vermittelter, als vom Norden geſehen. Die Bergfronten zeigen
ſich einerſeits durch ihre gen Mittag gekehrte Lage und durch die
[17]Das Alpengebäude. kräftigere Inſolation viel weiter hinauf ſchneefrei, blos das kahle,
nackte Felſen-Skelett darbietend, — anderſeits fehlen vielfach die
bunt belebten Mittelgründe, die abgeſtuften, farbenheiteren Vor¬
berge. Oben iſts eintöniger in Linie und Kolorit. Der geologiſche
Schichtenwechſel und die durch dieſen indirekt herbeigeführte Man¬
nigfaltigkeit und landſchaftliche Beweglichkeit mangelt. Den Nord¬
abhang umfängt längs der ganzen Kalkalpen, vom Jura bis nach
Ungarn hinein, ein Gürtel lachender, blauer Binnenſeen; am Süd¬
hang drängen ſich deren nur wenige im Gebiet der See-Alpen zu¬
ſammen. Die Grajiſchen, Cottiſchen und Meer-Alpen im Weſten
und die Tyroler, Carniſchen und Noriſchen Alpen im Oſten, ent¬
behren, mit Ausnahme einiger ſehr kleiner Waſſerbecken, gänzlich
dieſes belebenden Schmuckes. Der Grund dieſer auffallenden Ver¬
ſchiedenheit liegt auch hier wieder in der Geſteinsart des Bodens.
An die kryſtalliniſchen und Schiefer-Gebilde der Weſtlichen Alpen
gränzt unmittelbar die jüngſte Alluvial-Anſchwemmung Sardiniens
und der Lombardei. Erſt in Venetien treten wieder Kalk-Berge
als Mittelglieder zwiſchen den beiden genannten Formationen auf.

Die Erhebung, des Alpengebäudes und des mittelbar durch
dieſes zugleich mitgehobenen Jura war ferner zugleich eine Noth¬
wendigkeit für die Kulturentwickelung Central-Europas. Ohne
dieſe Gebirgsmaſſen würden die meteorologiſchen und alle davon
abhängigen Zuſtände unſeres Erdtheiles weſentlich andere ſein.
Ohne Alpen wären zunächſt Deutſchland und die Niederlande den
austrocknenden, zerſtörenden Einflüſſen heißer, aus den afrikani¬
ſchen Wüſten herüberwehender Winde blosgelegt. Der Föhn, eine
Fortſetzung des ſüdlichen Sirocco, der in den Hochalpenthälern
mit furchtbarer Raſerei tobt, würde unaufgehalten, ungebrochen
und ungeſchwächt in ſeiner hohen Temperatur über Deutſchland
einherbrauſen und die Agrikultur ganz anderen als den jetzt herr¬
ſchenden Bedingungen unterſtellen. Umgekehrt dagegen würde die,
nur unter den Einflüſſen milder Lüfte gedeihende ſüdliche Vegetation
Berlepſch, die Alpen. 2[18]Das Alpengebäude. der reichgeſegneten Po-Ebene durch eindringende, jetzt von den
Alpen aufgehaltene, winterliche Nordſtürme zur Unmöglichkeit wer¬
den. Es würde ſomit der klimatiſche Wechſel bezüglich der herr¬
ſchenden Temperaturverhältniſſe ſchon ein bedeutend anderer ſein.


Hiermit geſtaltete ſich aber auch die Thätigkeit der Wolken¬
bildungen und dadurch zugleich die Summe der atmoſphäriſchen
Niederſchläge anders. Das Alpengebiet, in welchem relativ die
jährlich größte Regen- und Schneemenge in Europa niederfällt,
iſt der unverſiegbare Waſſerlieferant für die Rhein-, Donau-,
Rhône- und Po-Länder; ohne die reichhaltigen Schneemagazine
im Hochgebirge würden dieſe Ströme mit ihren tauſendfach ver¬
zweigten Quellenſyſtemen zu unbedeutenden Waſſeradern herab¬
ſinken. Alle jene natürlichen Verkehrsſtraßen, welche die Flüſſe
Jahrtauſende lang bildeten, ehe der Schienenweg ſie überflügelte,
würden nicht zu ihrer hiſtoriſchen Bedeutung für Handel und Ge¬
werbe gelangt ſein.


Das Alpengebäude ſchließt einen unerſchöpflichen Reichthum
von Naturwundern ein. Kein anderes Gebirge Europas umfaßt
ſo wie die Alpen die Flora dreier Zonen: die nordiſch-arktiſche und
gemäßigte reichen der tropiſchen die Hand und wir finden Reprä¬
ſentanten der Vegetation von mehr als dreißig geographiſchen
Breitegraden auf kleinem Raume. In keinem anderen Gebirge
unſeres Erdtheils tritt das Walten der atmoſphäriſchen Thätigkeit
in ſo furchtbarer Größe und unter ſo gewaltigen Kraftäußerungen
auf; und in keinem zeigt ſich die Summe der Gegenſätze im Leben
ſeiner Bewohner ſo auffallend als im Alpenlande. Einzelne Bil¬
der von allen dieſen Berührungspunkten zu geben, ſei Aufgabe
nachſtehender Blätter.

[[19]]

Granit.

Was uranfänglich iſt, das iſt auch unanfänglich
Und Unanfängliches nothwendig unvergänglich.
Was irgend wo und wann hat ſelber angefangen.
Kann nicht der Anfang ſein und muß ein End' erlangen.
Der Anfang nur allein kann nie zu Ende gehn,
Weil er aus Nichts entſtand, Nichts ohn' ihn kann entſtehn.

(Rückert.
)

Granit iſt eine ſymboliſche Größe, — in Gemeinſchaft mit
dem Marmor der hiſtoriſche Stein. Wie im Thierreich der Löwe,
ein Repräſentant edler Eigenſchaften, phyſiſcher Kraft, als König
in herrſchender Macht daſteht, — in der Pflanzenwelt die Eiche
ein Bild der Feſtigkeit und Ausdauer, des ſtolzen Trotzes gegen
Sturm und Wetter abgiebt, — ſo gilt der Granit als das Un¬
überwindliche, Unveränderliche im Reiche der todten, anorganiſchen
Geſteine, — nach beſchränktem materiellen Begriff: als ein Körper
der beinahe ewigen Exiſtenz. Jahrtauſende ſcheinen ſpurlos an ihm
vorüberzurauſchen und die zerſtörenden Gewalten der Zeit ohnmäch¬
tig an ſeinen Maſſen abzugleiten. Wo Werke für die fernſten
Menſchengeſchlechter, ſichtbare Denkſäulen für die Annalen der Ge¬
ſchichte errichtet werden ſollten, — wo ägyptiſche Dynaſten ihre
koloſſalen Königsgräber in jenen Pyramiden aufthürmten, die, an
2*[20]Granit. dem Felſenufer der Wüſte hinlaufend, noch heute als die rieſigſten
Arbeiten menſchlicher Kraft angeſtaunt werden, — da griff der
kühne Bauherr zum granitiſchen Geſtein und glaubte der zeitlichen
Hinfälligkeit alles von Menſchenhand Geſchaffenen ein Schnippchen
geſchlagen zu haben. Ja, die früheren Forſcher in den Natur¬
wiſſenſchaften konſtruirten vom Granit aus das Fundament unſeres
Erdballes, ſahen in ihm den Urgroßpapa, den Ahnherrn des ge¬
ſammten Mineralreiches und nannten ihn naiverweiſe „Urgeſtein“.
Und doch iſt auch er nur ein Interpunktionszeichen in den Welt¬
ſchöpfungsperioden, ein unbedeutender Sekundenſtrich auf dem
Zifferblatt der Ewigkeit, etwas „Gewordenes“, das einſt wieder
eben ſo in das All aufgelöſt wird, wie es aus demſelben hervorging.


Granit iſt im Touriſtenverkehr, im Munde begeiſterter Alpen¬
ſchwärmer ein großes, viel umfaſſendes Wort, ein unbewußt ge¬
brauchtes Nomen collectivum, unter dem der Laie Alles zuſam¬
menfaßt, was ihm ſo ſcheint, als müſſe es das berühmte Geſtein
der Ehrenſäulen und Triumphbogen ſein. Es giebt viel intelli¬
gente Leute, die, wenn ſie in den Alpen ſchwarz und weiß ge¬
ſprenkelte Felſen ſehen, dieſe rundweg für Granit halten; und
doch kommt in den Alpen verhältnißmäßig wenig eigentlicher
maſſiger Granit vor, — wohl aber ſehr viel granitiſches Geſtein.
Werden wir alſo zunächſt klar darüber, was eigentlich Granit (von
granum, das Korn) ſei, und lernen wir deshalb die Natur und
die Beſtandtheile deſſelben ein wenig genauer kennen.


Granit und Gneis iſt im Grunde genommen ein und daſſelbe
Kompoſitum, ein aus den 3 Mineralſpecies: Feldſpath, Quarz und
Glimmer zuſammengeſetztes Geſtein. Iſt daſſelbe körnig, maſſig¬
gemengt, ſo wird es „Granit“ genannt; iſts dagegen ſchieferig,
geſtreift, läßt ſich eine gewiſſe Schichtung darin erkennen, ſo heißt
es „Gneis“.


Der Granit iſt kein Konglomerat, kein durch mechaniſche
Bindemittel zuſammengeleimtes Produkt urſprünglich verſchieden¬
[21]Granit.artiger Mineralſubſtanzen; er iſt ein ſelbſteigenes Gebilde, welches
die einſt, im flüſſigen Zuſtande gemiſchten, verſchiedenartigen mine¬
raliſchen Species durch Kryſtalliſation nebeneinander ausſchied.
Ein zwar nicht ganz treffendes, aber doch annähernd erläuterndes
Beiſpiel von dem wahrſcheinlichen Kryſtalliſationsprozeß des Gra¬
nites läßt ſich aus der Chemie geben. Jedermann kann dies kleine
Experiment probiren. Kochſalz und Salpeter gemeinſchaftlich in
Waſſer, bis zur Sättigung, aufgelöſt, ſo daß beide Salze völlig
vermiſcht erſcheinen, kryſtalliſiren, wenn die Flüſſigkeit allmälig
verdunſtet, ſich ausſcheidend wieder ſelbſtſtändig: das Kochſalz in
rechtwinkeligen Würfeln, der Salpeter in langen ſechsſeitigen Säul¬
chen, ſo daß jedes der beiden Salze wieder die demſelben aus¬
ſchließlichen Eigenſchaften zeigt.


Feldſpath, meiſt milchweiß oder gräulich, auch röthlich, ſtellt
die Hauptmaſſe, beinahe die Hälfte des eigentlichen maſſiven Gra¬
nites dar, zwiſchen welchem weiße, ſeltener gelblich oder grünlich
gefärbte kryſtalliniſche, glasartig durchſichtige Quarzkörnchen die
Grundmaſſe bilden und dünne, glänzende Glimmerplättchen einge¬
lagert ſind. Dieſe normale Zuſammenſetzung weicht aber an den
verſchiedenen Fundorten ſehr von einander ab. Wer eine Badekur
zu St. Moriz im Ober-Engadin macht, kann bei jedem Spazier¬
gange gleich einige Varietäten am Wege ſammeln; denn der Ber¬
nina-Granit iſt grün, ſerpentinhaltig, während der vom gegenüber¬
liegenden Piz Languard rothen Feldſpath mit milchweißem Quarz
enthält. Noch auffallender iſt der Farbenunterſchied des Granits
am Lago maggiore; der von Baveno, gegenüber den Borromäiſchen
Inſeln, iſt ſchön pfirſichblüthenroth, während der berühmte ſ. g.
Miarolo bianco aus den Brüchen des ganz nahe dabei liegenden
Monte Orfano weiß iſt und wie ein gänzlich anderes Geſtein aus¬
ſieht. Der Letztgenannte gab das Baumaterial zu vielen der ſchön¬
ſten Kirchen Nord-Italiens ab; namentlich ſind auch die herrlichen
Säulen am Eingange des Mailänder Domes aus dieſem Geſtein
[22]Granit.gearbeitet. Fehlt der charakteriſtiſche glitzernde Glimmer in der
Maſſe und iſt derſelbe durch ſchwarze oder ſchwärzlich-grüne Horn¬
blende vertreten, dann heißt das Geſtein nicht mehr Granit, ſon¬
dern „Syenit“. Es iſt über alle Theile der Erde weit verbreitet,
erhielt ſeinen Namen von der Stadt Syene in Ober-Aegypten (wo
es in Menge vorkommt) und wird ſeiner Feſtigkeit halber als vor¬
treffliches, politurfähiges Baumaterial ſehr geſchätzt. Die Pyra¬
miden und Obelisken beſteben meiſt aus Syenit. In unſeren Al¬
pen kommt er vorherrſchend auf der Südſeite vor, z. B. im Val
Pellina (in welches der Col de Collon aus dem Walliſer Val
d'Hérins führt), bei Migiandone an der Symplon-Straße, in der
Umgebung von St. Moriz und Campfér im Ober-Engadin ꝛc.


Aber der normale Granit kommt auch mit Zuſätzen vor, die
ſeinen Charakter ganz ändern; dahin gehört der vom Montblanc.
Bei ihm iſt der Quarz glaſig-grau, der Feldſpath weiß, der Glim¬
mer dunkelgrün ohne Glanz in Prismen kryſtalliſirt und beige¬
miſchte perlmutter-ähnlich glänzende, lebhaft grüne Talk-Blättchen
geben ihm eine charakteriſtiſche Färbung. De Sauſſure, einer der
geiſtvollen Begründer der Alpen-Geologie, glaubte — als er den
Montblanc zuerſt umwanderte und beſtieg, vor dem älteſten Ge¬
birge der Erde zu ſtehen und nannte deshalb das Geſtein „Pro¬
togin
“, d. h. Erſtgeborener. Seit jener Zeit iſt, obgleich un¬
eigentlich, der Name für den Talkgranit beibehalten worden.


Das Meiſte, was in den Central-Alpen für Granit gehalten
wird, iſt granitiſcher Gneis, im Volksmunde „Gaisberger
genannt, weil die höchſten Berge, auf welche die Gaiſen (Ziegen)
ſteigen, aus dieſem Geſtein beſtehen. Er iſts, an dem die At¬
moſphärilien jene phantaſtiſch aufragenden Felſenthürme ausſägen
und bildneriſch Ornamente improviſiren, welche, im Chamouny-
Thal in ſcharfe Spitzen auslaufend, ſehr bezeichnend „Aiguilles“
genannt werden; — aus ſeinem ſ. g. „Urmaterial“ formen ſich die
wunderſamen Steinſtacheln, welche die Aufgipfelung großer Berg¬
[23]Granit. individuen garniren, oder wie ausgeſtellte Wachtpoſten hie und da
aus den umfangreichen Firnwüſten hervorragen. Wir würden ſol¬
cher ſchlanker Felſennadeln noch weit mehr erblicken, wenn nicht
eine große Zahl derſelben im perennirenden Schnee verſteckt wäre.
Hier verräth ſich uns die verwundbare Achillesferſe der für unzer¬
ſtörbar gehaltenen „Urgeſteine“. Der Gneis iſt, wie ſchon be¬
merkt, ſchiefriger, tafelförmiger Struktur. Bei der Alpenerhebung
wurden auch die Gneisſtraten gehoben und als nächſte Umhüllung
der centralen Granitmaſſen oft ſenkrecht auf die Bruchkante geſtellt.
Die Maſſe muß nun an verſchiedenen Stellen von verſchiedener
Härte geweſen ſein, — genug, während einzelne Theile wie un¬
angetaſtet den verwitternden Einwirkungen widerſtanden, wurden
andere von den Atmoſphärilien dermaßen zerſetzt, ausgenagt und
zerſtört, daß ſie gänzlich verſchwanden und nur jene iſolirten Zacken
zurückblieben. Beiſpiele im Großen liefern die Aiguille verte, die
ſchlanke Aig. de Dru, die Aig. du Moine, die ungemein zerſplit¬
terten Aiguilles de Charmoz, die Aig. Rouges — alle zu beiden
Seiten des Chamounythales, die Schreckhörner und Grindelwalder
Vieſcherhörner in den Berner Alpen, — die ganze ſüdliche Thal¬
wand des Graubündneriſchen Bergell u. A. m.


Aber noch eine andere Art der Verwitterung granitiſchen Ge¬
ſteines zieht in den Alpen unſere Aufmerkſamkeit auf ſich und zwar
in höchſt ſonderbarer Weiſe und an Orten, wo man ſich die Er¬
ſcheinung nicht gleich erklären kann. Dieſe zeigt ſich in den ſ. g.
Teufelsmühlen“ oder „Felſenmeeren“ auf den äußerſten
Gipfeln vieler iſolirter Berge. Ein Beiſpiel möge erläuternd für
viele gelten. Zu den beſuchteſten Ausſichtspunkten des Berner
Oberlandes gehört das Sidelhorn nächſt dem Grimſelpaß. Vom
Hospiz aus beſteigt man es bequem in 2 bis 2½ Stunden. Je
mehr man ſich dem Kulme nähert, deſto mehr häufen ſich große,
unordentlich übereinander geworfene Felſentrümmer, bis endlich die
äußerſte Höhe ganz mit ſolch einem Chaos von loſe geſchichteten
[24]Granit. granitiſchen Gneisblöcken überſäet iſt. Bisweilen ſcheinen ſie eine
gewiſſermaßen gegliederte Lagerung einzunehmen, etwa ſo wie in¬
einander geſtellte Teller; dann wieder an anderen Stellen zeigt ſich
ein ziemlich geordneter treppenähnlicher Aufbau; meiſt aber liegen
ſie ohne erkennbare Anordnung durcheinander. Dieſe auf Gipfeln
jedenfalls auffallende Erſcheinung iſt gleicherweiſe ein Reſultat der
Granit-Verwitterung, aber ſolcher Maſſen, in denen mehr oder
minder die Schalen-Struktur einſt vorwaltete. Die Gebrüder
Schlagintweit bilden im Atlas zu ihren „Neuen Unterſuchungen
über die phyſikaliſche Geographie und Geologie der Alpen“ ſolche
ausgewaſchene Gneisſchalen ab. — Wenn der phantaſiereiche Jean
Paul ſich des ſchönen Bildes bedient: „Die Gräber ſeien die
Bergſpitzen einer fernen neuen Welt,“ ſo ſind hier in Wirk¬
lichkeit die Bergſpitzen die Gräber einer fernen vergangenen.
(G. Studer.)


Die großartigſten und impoſanteſten Koloſſe granitiſcher Ge¬
ſteine finden wir nur in den Centralmaſſen der Alpen. Dort über¬
gipfeln ſie oft in ſo furchtbarer Erhabenheit, als ſenkrecht aufſtei¬
gende Felſenpaläſte, die tiefen Thalkeſſel, daß man vor ihrer
Größe zurückſchreckt. Wer noch nie die düſterprächtige Pyramide
des Finſteraarhornes vom „Abſchwung am Aargletſcher“ aus er¬
blickte, wie ſie in kaltem Ernſt nackt aus den Firnlagern in die
Wolken ſteigt, — wer den Montblanc noch nicht auf der Süd-Oſt¬
ſeite umwanderte und die volle, prächtige Kernform ſeines Maſſivs
vom Gramont aus, — oder vom Zinalgletſcher (in der Tiefe
des Einfiſchthales) die rieſigen Felſenſtirnen des Grand Cornier,
der Dent blanche und des Weißhornes rund um ſich her mit einem
Blick überſah, der wird ſchwerlich einen richtigen idealen Maßſtab
für die wahrhaft koloſſalen Verhältniſſe ſich konſtruiren können.
Und dennoch werden alle dieſe granitiſchen Giganten dem Ein¬
drucke nach, welchen ſie auf das ſtarr-ſtaunende Auge machen, weit
übertroffen von jenem jähpralligen Abſturz, welchen der Monte
[25]Granit. Roſa im Thalſchluß von Macugnaga zeigt. Es iſt die erſte ver¬
tikale Größe des Europäiſchen Kontinentes. Die Madatoren der
Kalkzone wie die Diablerets, das Dolden- und Gspaltenhorn,
Blümlisalp u. A. zeigen gewaltige Felſenfronten; aber ſie ſchwin¬
den jenen Granitkörpern gegenüber zu Maſſen zweiten Ranges
zuſammen.


Wir nannten den Granit den hiſtoriſchen Stein der Erde;
für die Alpen iſt er es in mehr als einer Beziehung. Seine
ernſten Felſenwände wurden oft Denkſäulen großer Thaten, welche
den erhabenſten Momenten des klaſſiſchen Altherthums gleichzuſtel¬
len ſind. Jener unerſchrockene Ruſſe Suworoff, ein moderner Epa¬
minondas, welcher ſich eher zwiſchen den Klüften begraben laſſen
wollte, als von der Stelle weichen, ließ, als ſeine Gardekolonnen
am 25. Sept. 1799 die Franzoſen unter Gaudin im engen Val
Tremola zurückgeſchlagen hatten, mit lakoniſcher Kürze in die
Granitwand die Worte „Suwarow Victor“ zu ewigem Gedächtniß
eingraben; am nächſten Tage waren die Gneisſchroffen dort, wo
die Teufelsbrücke in kühnem Bogen die Sturzwellen der Reuß
überbaut, Zeugen eben ſo kühner Heldenthaten. Ueber die grani¬
tiſchen Einöden des großen Sanct Bernhard führte Bonaparte, im
Mai 1800, ſeine Armee zum Siege von Marengo, und als die,
auf ſein Geheiß, durchbrochene Simplon-Straße, der erſte große
Alpenweg, fertig war, ließ er, ſtolz auf ſein Werk, in eine Licht¬
öffnung der Gallerie von Gondo einmeißeln: „Aere Italo
MDCCCV. Nap. Imp.“
— Auf Granitboden wurde Andreas
Hofer, der Sandwirth von Paſſeyr, geboren, und zwiſchen Granit¬
felſen ſchlug er ſeine glorreichen Schlachten zur Befreiung Tyrols.
Aber auch weiter zurückgehend in ältere Zeiten begegnen wir Gro߬
thaten, eben ſo körnig und feſt wie das Geſtein, auf dem ſie ge¬
ſchahen. Benedikt Fontana hauchte auf den Gneiskryſtallen der
Malſerhaide ſeine Heldenſeele mit den freudigen Worten aus:
„Nur wacker dran, o Bundesgenoſſen! laßt Euch durch mein
[26]Granit. Fallen nicht irren! Iſts doch nur um Einen Mann zu thun.
Heute mögt Ihr freies Vaterland und freie Bünde retten. Werdet
Ihr ſieglos, bleibt den Kindern ewiges Joch!“ Das ſind Worte
wie Granit und Urgeſtein; es iſt, als ob von dem Charakter der
Felsart etwas ins Blut des Volkes übergegangen wäre. — Und
dann die gewaltige Decemberſchlacht von 1478 im Livinenthale bei
Giornico, wo ein Hirtenhäuflein die zehnfach überlegenen Mailän¬
der unter dem Grafen Borelli aufrieb, daß ihr Blut den Schnee
bis Bellinzona roth färbte; dann die Heldengräber der 3000 Eid¬
genoſſen bei Arbedo, die in dem Verzweiflungskampfe von 1422
der Uebermacht von 24,000 Lombarden erlagen; — der Walliſer
doppelte Bluttaufe bei Ulrichen und auf der Grimſel um 1419,
und viele andere Zeugniſſe männlichen Muthes und kühner That,
— ſind es nicht Erinnerungen, die ſich ihr Denkmal mit Flam¬
menlettern für Menſchengedenken auf die Felſentafeln dieſer grani¬
tiſchen Koloſſe niederſchrieben?


Iſt die Zeit auch hingeflogen,
Die Erinn'rung weichet nie;
Als ein lichter Regenbogen
Steht auf trüben Wolken ſie.
Uhland.

Aber noch mehr erzählt uns der ſtumme Stein, von noch wei¬
ter zurückliegenden Zeiten, von einer Epoche, in welcher die Alpen
ſchon, wie wir ſie heute ſehen, aufgerichtet daſtanden, in welcher
aber das menſchliche Geſchlecht noch nicht exiſtirte. Dieſe Ge¬
dächtnißſteine ſind die „Erratiſchen Blöcke.“

[[27]]

Erratiſche Blöcke.

Da iſt ein Blühen rings, ein Duften, Klingen,
Das um die Wette ſprießt und rauſcht und keimt,
Als gält' es jetzt, geſchäftig einzubringen,
Was ſtarr im Schlaf Jahrtauſende verſäumt.
Das iſt ein Glänzen rings, ein Funkeln, Schimmern
Der Städt' im Thal, der Häuſer auf den Höh'n!
Kein Ahnen, daß ihr Fundament auf Trümmern,
Kein leiſer Traum des Grabs, auf dem ſie ſtehn! —

(Anaſtaſius Grün.
)

Ja! ſie ſtehen auf Trümmern, viele Städte des Alpenlandes,
auf Blockwällen und Felſenfragmenten, die aus den Centralketten
des Gebirges ſtammen. Freilich liegt dieſe Trümmer-Baſis nicht
allenthalben offen zu Tage; der Arbeiter, der das Fundament zu
einem Neubau ausſticht, oder der Bergmann, der nach einer friſchen
Brunnenquelle gräbt, findet ſie erſt in einiger Tiefe der oberſten
Bodenſchicht. Aber nicht blos verſteckt im Erdreich, ſondern frei
und offen, auf dem Felde und im Walde des Hügellandes, ja ſo¬
gar droben auf den Vorbergen der Alpen und am Jura, bis zu
einer Höhe von 5000 Fuß, findet man Felſenblöcke, die der Na¬
tur ihres Geſteines nach, 20 bis ſogar 45 Schweizerſtunden (über
28 deutſche Meilen) weiter drinnen in den Central-Alpen heimath¬
[28]Erratiſche Blöcke. berechtigt ſind. Man nannte ſie deshalb „Fündlinge oder Irr¬
blöcke
“. Sie zeigen theils abgerundete Flächen, wie Rollſteine
und Flußkies, theils friſche ſcharfkantige Bruchlinien, als ob ſie
eben erſt vom Mutterfelſen abgeſprengt wären, — in allen Größen,
vom Umfange einer Kegelkugel bis zu ſolchen kubiſchen Körpern,
daß aus dem Material eines einzigen, bei Zürich im Felde ge¬
legenen ſ. g. „rothen Ackerſteines“ anno 1674 in Höngg ein
reſpectables, zweiſtöckiges, maſſives Haus gebaut werden konnte,
welches folgende Inſchrift trägt:


Ein großer rother Ackerſtein

In manches Stück zerbrochen klein

Durch Menſchenhänd und Pulversg'walt

Macht jezund dieſes Hauſes G'ſtalt.

Vor Unglück und Zerbrechlichkeit

Bewahr es Gottes Gütigkeit.

Früher hat es einmal dem Grafen Benzel-Sternau gehört.
Der Block aber, aus deſſen Geſtein das Haus erbaut wurde,
ſtammt aus der Tiefe der Glarner Gebirge, etwa vom Freiberge
oder aus dem Sernf-Thale.


Das „Woher?“ hat der Wiſſenſchaft wenig Mühe gemacht;
aus der Struktur, Farbe und mineraliſchen Miſchung der Granit-,
Gneis-, Glimmer-, Verrucano- und Schiefer-Fündlinge, ſo wie aus
der Lage des Fundortes zu den Thalſyſtemen der Alpen, konnte
man bald entziffern, zu welcher Centralmaſſe ſie gehörten. Aber
das „Wie?“ des Transportes machte den Naturforſchern der letz¬
ten fünfzig Jahre viel zu ſchaffen. Die Einen vermutheten, es
habe einſt, bei den letzten Gebirgshebungen, ein extraordinär¬
großartiges, vulkaniſches Natur-Bomben-Werfen ſtattgefunden, bei
welchem die Alpen dieſe Fragmente ausgeſpien und meilenweit
über Berg und Thal geſchleudert hätten. Dieſe kühne Phantaſie
wurde aber bald zerſtört durch die thatſächliche Nachweiſung einer¬
ſeits der Regelmäßigkeit, mit welcher viele dieſer Blöcke wie in
einer Linie an den Bergeshalden abgelagert wurden, anderſeits
[29]Erratiſche Blöcke.des Innehaltens beſtimmter Verbreitungsbezirke zu den Stammge¬
bieten. Andere ließen den Transport durch enorme Ueberſchwem¬
mungen beſorgen, die jene, oft hunterttauſende von Centnern wie¬
genden Laſten aus den Alpen herniedergewälzt haben ſollten;
allein auch dieſe Hypotheſe wurde raſch durch phyſikaliſche Beweiſe
in ihrer Unhaltbarkeit zurückgewieſen. Erſt als die Theorie über
Natur und Bewegung der Gletſcher (welchen ein ſpäterer Abſchnitt
dieſes Buches gewidmet iſt), angeregt durch den Walliſer Ingenieur
Venetz, fortgeführt und ausgebildet durch Agaſſiz und Forbes, eine
Menge der ſeltſamſten Erſcheinungen in den Alpen beleuchtete und
erklärte, gelangte man auch zu dem Schluß: daß die erratiſchen
Blöcke durch einſtige ungeheuer große Eisgletſcher
,
welche bis in das Schweizeriſche Mittelland hinaus¬
gereicht haben müſſen
, an ihre dermalige Lagerſtätte
befördert worden ſeien
. Wie in dem ſpäteren Abſchnitte nach¬
gewieſen werden ſoll, bewegen ſich die Gletſcher von der Höhe der
Gebirge langſam dem Thale zu und transportiren auf ihrem
Rücken die von den zur Seite ſtehenden Felſen abgebröckelten Ge¬
ſteine bis zu der Stelle, an welcher die Gletſcher, in Folge war¬
mer Temperatur, abſchmelzen und ihre Felſenlaſten abladen. Dieſe
Geſteinswälle, welche ſich an dem Ende oder der Stirn eines
Gletſchers anhäufen, werden Frontmoränen genannt.


Das Vorhandenſein ſolcher hufeiſenartig aufgebauter hoher
Fündlingswälle oder einſtiger Frontmoränen im Schweizeriſchen
Mittellande, z. B. bei Bern, Surfee, Bremgarten, Zürich, Rapper¬
ſchwyl u. ſ. w., gab den erſten Beweismoment für den Gletſcher¬
transport der Irrblöcke ab. In Zürich ſind der Promenaden¬
hügel, die Anhöhen, auf denen der Großmünſter, die Kirche von
Neumünſter, der Lindenhof u. ſ. w. ſtehen, Reſte einer ſolchen
ehemaligen großen Frontmoräne. — Ein zweites Beweismittel wurde
darin gefunden, daß die Fündlingsblöcke, ſelbſt wenn ſie aus dem
härteſten Geſtein beſtehen, ebenſolche eingeritzte Furchen und Linien
[30]Erratiſche Blöcke.zeigen wie das Felſenbett, über welches die Gletſcher der Jetztzeit
ſich hinweg bewegen. Vermöge des Druckes der ungeheueren Eis¬
laſt ritzt dieſe nämlich bei ihrem Fortrutſchen über den Geſteins¬
boden mit kleinen, ſehr harten, ſcharfen Quarzkryſtallen Linien ein,
die wie mit dem Glaſer-Diamant geſchnitten ausſehen. Geröll-
Blöcke, die von den wilden Alpenſtrömen heruntergeſchwemmt wur¬
den, tragen dieſe Kennzeichen nicht. Die erratiſchen Blöcke tragen
ſomit, in Folge dieſer von der Natur ihnen ſelbſt aufgedrückten
Schriftzüge, gleichſam den Reiſepaß ihrer zurückgelegten Wander¬
tour bei ſich, mit der Viſa jeder Thalſchaft verſehen, durch
welche ſie ihre Wege nahmen. — Das dritte und bedeutendſte
Argument für die Annahme, daß die Fündlinge durch Gletſcher
transportirt wurden, fand man in den ſ. g. Rundhöckern
(Roches mutonnées). In den meiſten Alpenthälern, deren
himmelanſtrebende Wände aus ſchwer verwitterndem Geſtein, aus
granitiſchen Maſſen, beſtehen, erblickt man nämlich bis in gewiſſe
Höhen (oft bis zu tauſend Fuß über der jetzigen Thalſohle) Ab¬
rundungen, regelmäßige Streifungen und geglättete Partieen, deren
Schliff oft ſo fein ausgeführt iſt, daß er im Sonnenſchein ſpiegel¬
blank glänzt. Beim Niederſteigen vom Todtenſee auf der Pa߬
höhe der Grimſel nach dem Hospiz, dann weiter drunten bei der
ſ. g. Hählen-Platte, — auf dem Trümmerfeld nächſt dem Gott¬
hards-Hospiz, und an hundert anderen Stellen der Schweiz kann
man ſolche „Rundhöcker“ beſehen, befühlen und, — wo ſie nicht
mit der ſchwefelgelben Flechte Lecidea geographica überzogen
ſind, deren Politur bewundern. Dieſes gleiche Phänomen zeigt
ſich uns aber auch unmittelbar neben dem Gletſcher, neben einem
Gorner-, Vieſcher-, Aletſch-, Findelen- und Zinal-Gletſcher; wir
können es verfolgen von dem Geſtein an, welches unter dem Eis
hervorragt, bis weit hinauf an die Thalwand, — wir können es
verfolgen in horizontaler Linie, ſtundenweit thalauswärts, ohne
Unterbrechung, gleichviel ob die Geſteinslagerungen und Geſteins¬
[31]Erratiſche Blöcke.arten vielmals wechſeln. Nach ſolchen Dokumenten wird die Ver¬
muthung zur unbezweifelbaren Thatſache, daß dieſe Thaltiefen,
welche jetzt zum Theil mit uralten Waldungen überwachſen ſind,
einſt von rieſenhaften Gletſchern ausgefüllt wurden. Es zeigt ſich
aber in der Regelmäßigkeit der Ablagerung erratiſcher Geſteine end¬
lich noch ein Beweismittel, welches die anderen weſentlich unter¬
ſtützt und ergänzt. Hierunter iſt nicht nur jene, ſchon erwähnte,
egale Ablagerung „der Linie und gleichen Höhe nach“ erfolgte zu
verſtehen, wie ſie ſich an den Anhängen niederer gehügelter Berge
der Voralpen, des Mittellandes und des Jura-Gebirges zeigt,
ſondern die regelmäßige Gruppirung der Irrblöcke nach Farbe,
Stoff und Qualität ihres Geſteines. Man wird z. B. an den
beiden Seiten eines breiten Thales, deſſen Tiefe wieder droben
im Gebirge ſich in mehre Seiten und Nebenthäler veräſtelt, nie
bunt durcheinander, herüben und drüben die gleichen grünen,
rothen, weißen, braunen, grob- und feinkörnigen, faſerigen oder
blätterigen Granit-, Diorit-, Gneis-, Schiefer- oder Kalk-Brocken
finden, ſondern ſie werden verſchieden ſein. Verdeutlichen wir uns
dieſen Umſtand ein wenig näher. Denken wir uns den Gletſcher
als einen Hauptſtrom, der aus dem Zuſammenfluß mehrer Gebirgs¬
flüſſe entſteht, ſo wie jeder dieſer Gebirgsflüſſe wieder aus der
Einmündung von Nebenflüſſen ſein Waſſerquantum erhält, —
denken wir uns ferner, daß nun jeder dieſer Nebenflüſſe von ſeinen
ihn eingränzenden Felſen-Ufern Geſteinsfragmente aus dem Gebirge
mit herunterbringt, ſo würden dieſe, weil das Waſſer in ſeinem Laufe
ſich vermiſcht, wahrſcheinlich die mitgebrachten Steine auch unterein¬
ander mengen. Die Gletſcher aber, als feſte Eiskörper (wenn wir das
Bild eines Strom-Syſtemes feſthalten) vermiſchen ſich nicht, wenn
ſie im breiten Gletſcher-Hauptthale zuſammenkommen, wie das be¬
wegliche, flüſſige Waſſer, ſondern ſetzen ihren Weg nebeneinander,
wenn auch ſcheinbar als vereinigte große Eismaſſe fort, und die auf
denſelben liegenden, langen Trümmergeſteins-Linien (die Moränen)
[32]Erratiſche Blöcke.zeigen weithin an, aus wie viel Seiten- und Nebengletſchern der
Hauptgletſcher zuſammengeſetzt iſt. Darum bleiben auch die, aus den
verſchiedenen Thälern ſtammenden Geſteine geſchieden. Und darum
wurden von den einſtigen Rieſengletſchern die, durch dieſe beförderten,
erratiſchen Blöcke je nur auf derjenigen Thalſeite abgelagert, welche
mit den tiefer im Gebirge liegenden Seitenthälern korreſpondirt. Der
bekannte ſchweizeriſche Geologe Eſcher von der Linth hat eine, auf lang¬
jährige Unterſuchungen gegründete, Karte der Verbreitungsbezirke
aller nördlich von den Alpen in der Schweiz gefundenen Irrblöcke her¬
ausgegeben. Wir finden ſolche erratiſche Geſteine aber auch an der
Südſeite der Alpen. Die Lombardiſchen Binnengewäſſer des Lago mag¬
giore, des Comer- und Garda-See's ſind an ihren Ausflußenden von
ganz ähnlichen Blockwällen geſchloſſen wie der Züricher-Sempacher-
und Baldegger-See in der Schweiz. Außerdem zeigt ſich das er¬
ratiſche Phänomen auch in dem Gebiete anderer Gebirge; die Py¬
renäen, das ſchottiſche Hochland, die ſchwediſchen Kjölen, die Vo¬
geſen, die Cordilleren Amerikas haben eben ſo gut ihre Wander¬
blöcke wie die Alpen.


Dieſe auf beiden Hemiſphären auftretende Erſcheinung zuſam¬
mengefaßt, führt demnach zu der Annahme, daß einſt eine Periode
allgemeiner Erkältung und Vereiſung exiſtirt haben muß, die wohl
das jüngſte Ereigniß im Bildungsprozeſſe unſeres Erdkörpers war.
Denn wo man auch ſolche Irrblöcke findet, immer zeigen ſie ſich
als das letzte Ablagerungsmaterial, das erſt dann an ſeinen ge¬
genwärtigen Standort gelangte, als das Alpengebäude mit ſeinen
Thälern und Schluchten, Flußbetten und Seebecken ſchon, wie wir
es heute ſehen, beſtand.

[[33]]

Karrenfelder.

Wer ergründet der Schöpfung heilige Kraft,
Die in ihren ewigen, weiten Kreiſen
Durch Zerſtörung wieder Neues ſchafft.

(Maltitz.
)

Auf jene verlaſſenen, vegetations-entblößten Gegenden der
tropiſchen Zone, auf die unüberſehbaren Sandfelder Afrikas und
Aſiens, übertrug der Sprachgebrauch ausſchließlich die Schilderung
Moſis vom Ausſehen der Erde am erſten Schöpfungstage und
nannte dieſe unheimlichen gluthdurchwehten Flächen vorzugsweiſe
„Wüſten“. Auch die Alpen haben ihre Wüſten, ihre Reviere des
ſcheinbar vollendeten Naturtodes, wo die Tributkraft der ewigen
Gebärerin erſtirbt; aber ſie ſtellen ſich in ganz anderer Form, un¬
ter anderen Umſtänden, mit weſentlich anderem Material dar, als
die Saharen. Gewöhnlich ſucht man ſie droben über der Schnee¬
linie, in den unverſiegbaren Firnmulden und auf den Gletſcher¬
hängen, wo die durchdringende Kälte jede organiſche Entwickelung
im Keime zu zerſtören droht. Wie aber eine ſpätere Schilderung
unſeres Buches zeigen wird, ſieht es da droben in den Eismaga¬
zinen keinesweges ſo verſtorben aus; im Gegentheil, die Lebens¬
pulſe der Erde durchzittern auch dieſe Einöden in regelmäßigen
Berlepſch, die Alpen. 3[34]Karrenfelder.Schlägen, und ein ſtill geſchäftiges Treiben arbeitet, kaum erkenn¬
bar aber ſtetig, im Dienſte des großen wunderbaren Naturhaus¬
haltes, um die dieſem Theile gewordene Aufgabe zu erfüllen und
zur Erhaltung des Ganzen beizutragen. Hier alſo werden wir das
Analogon nicht zu ſuchen haben. Und in der That, es giebt noch
ödere, noch weit abgeſtorbenere Gegenden im Gebirge als die
Schneewüſten, — große, weit ausgedehnte Strecken in unbetrete¬
nen Wildniſſen, die, von jeder Vegetation entblößt, in ewig ſtarrer
Reſignation daliegen; dies ſind die Schratten- oder Karrenfelder,
von den Romanen „Lapiaz“ genannt.


Droben im Gebirge, ſeitwärts der begangenen Päſſe und be¬
lebten Alpweiden, im Gebiet der Kalkzone bei einer Höhe von
4000 bis 6000 Fuß, liegen kahle, nackte Steinflächen, oft ſtunden¬
lang, faſt horizontal ausgebreitet, die ſo zerfurcht und von tief
ausgewaſchenen Hohlkehlen durchkreuzt ſind, daß ſie ausſehen, als
ob ein wogendes Meer mit ſeinen Wellenhügeln plötzlich hier ver¬
ſteinert wäre und ein unentwirrbares Netz aufgegipfelter Wogen
zurückgelaſſen hätte. Mitunter ſind ſie ſo ſchreckhaft zerklüftet
und von klaftertiefen Rinnſalen ausgefreſſen, daß es unter allen
Umſtänden unmöglich iſt, über dieſelben hinweg, ſei es im Sprung,
durch Klettern oder im Balancirſchritt, einen Weg ausfindig zu ma¬
chen. Denn die zwiſchen dieſen Vertiefungen ſtehen gebliebenen
Geſteinsreſte laufen wie ſchmale Dämme, ſcharf, wie die Schneide
eines Meſſers, nebeneinander her, brechen plötzlich ab und werden
von breiten Querkanälen durchſchnitten; bald wieder ſehen ſie aus
wie Kämme, deren einzelne Zinken in den verſchiedenſten Höhen
abgebrochen ſind, eine wie von rieſigen Inſtrumenten nach allen
Richtungen zerhackte, hohlgeſchabte, durchſägte, ausgemeißelte Fläche,
ein ſteinernes Splitter- und Zacken-Meer voll der bizarrſten For¬
men, die nicht ſelten an die Gletſchernadeln erinnern. Dazwiſchen
tiefen ſich Löcher ab, trichterförmig, ähnlich den Kratern der Vul¬
kane, oder ſie verſinken wie ſchief ins Innere ſich verlierende Ka¬
[35]Karrenfelder. näle; — dann wieder öffnet ſich ein mehre Klaftern breiter, aus¬
gehöhlter Keſſel, deſſen Boden wie der eines Siebes durchlöchert
iſt. An anderen Stellen ſcheint in dieſem Chaos wieder ein ge¬
wiſſes Formengeſetz bei der Eroſion gewaltet zu haben, denn die
Trümmermaſſen gewinnen beinahe das Anſehen des Zellenbaues in
den Honigtafeln der Bienenſtöcke, weshalb der Hirt ſie auch be¬
zeichnend „Steinwaben“ nennt. Summa, es iſt ein Urbild der
ſchrecklichſten Zerſtörung im Kleinen.


Dies Alles iſt ein Reſultat der Verwitterung, des unmerklichen
aber erfolgreichen Ausſchleifens durch Gletſcher-, Schnee- und Re¬
genwaſſer, der ausdörrenden, ſprödemachenden Sonnenhitze und der
zerſpaltenden, auseinander treibenden, abſprengenden Kälte, der
vollſten ununterbrochenen Einwirkung der Atmoſphärilien auf den
Geſteinskörper. Und weil gerade an dieſem Kalk ſich mehr als an
jedem anderen die Verwitterung zeigt, und weil ſelbſt die in dem¬
ſelben enthaltenen Muſcheln nur fragmentariſch, zertrümmert vor¬
kommen, ſo haben die Geologen denſelben vorzugsweiſe „Rudiſten¬
kalk
“, oder nach den organiſchen Einſchlüſſen (Caprotina am¬
monia
und gryphoides d'Orb.) auch „Caprotinenkalk“ genannt.
Außerdem führt er auch noch die volksthümliche Bezeichnung
Schrattenkalk“, weil Schratten beim Aelpler ſo viel wie „Berg¬
riſſe und Spalten“ bezeichnen, — vielleicht durch Verſetzung des
„r“ aus dem ſchrift-deutſchen Worte „Scharte“ (engl. Shard,
Scherbe) entſtanden. Weil endlich, an den kahlen, nackten Felſen¬
flächen, beſonders im Kanton Unterwalden, die Rudiſten auffal¬
lend hervortreten und ſonderbare, ungewöhnliche Figuren auf dem
Fond des Geſteines formiren, ſo nannte man daſſelbe auch „Hie¬
roglyphenkalk
“.


Offenbar iſt die Auflöslichkeit dieſes Kalkes eine ſehr ver¬
ſchiedene, wodurch die Zerfurchung entſtanden iſt. Da nun auf
dieſen morſchen Felſenknochen, die im Sommer unerträgliche Hitze
rückſtrahlen, auch nicht ein Stäubchen fruchtbarer Erde haftet, —
3*[36]Karrenfelder.da ferner das im Frühjahr, während der großen Schneeſchmelze,
in der ſubalpinen Region entſtehende oder nach Regengüſſen ſich
ſammelnde Waſſer durch die ausgewühlten Rinnen und Löcher ſo¬
fort ſpurlos in die Eingeweide der Berge hinabeilt, um am Fuße
derſelben als Quelle hervorzuſprudeln, ſo iſt es erklärlich, daß die¬
ſen Flächen jede Bedingung fehlt, um Pflanzen, und wären es die
genügſamſten, zu ernähren. So weit das Auge über die troſtloſe,
bleiche, einſame Felſenfläche ſchweift, ſieht es traurig, erſtorben
aus. Wo aber keine Blume blüht und ihre Honigkelche öffnet, da
ſummt auch kein Inſekt, da gaukelt kein Falter, ſchwirrt kein Kä¬
fer, — wo kein Kräutchen, kein Grashalm ſich in die Felſenſpalte
einzuklammern vermag, ſelbſt nicht einmal Mooſe ihr mageres Le¬
ben friſten können, da raſtet auch nicht das kleinſte Höhlenthier¬
chen, — und wo Weg und Steg ſo zerſtört ſind wie in dieſen
Karrenfeldern, da verirrt ſich kein Gratthier hin. Sogar die Vö¬
gel ſcheinen dieſe Stätte der Verwilderung zu fliehen, denn nie
ſieht man Schneekrähen oder Bergdohlen, Steinhühner oder Flüh¬
lerchen, Falken oder Adler auf dieſelben ſich niederlaſſen. So¬
mit dürfen die Schrattenfelder ſehr füglich die Wüſten der Alpen
genannt werden. — Wo dagegen die Karrenfelder an die Weiden
angränzen, wo alſo angeſchwemmte Erde in den Vertiefungen ſich
abgelagert hat, da entwickelt ſich auch die üppigſte Vegetation, die
man in den Alpen finden kann. Solche Stellen dienen oft den
Wurzelgräbern als beſte Fundgrube ihres gefährlichen Erwerbes.

Wie überall, wo Düſteres, Unerklärliches, Außerordentliches
ſich zeigt, der Volksglaube die Einwirkung übernatürlicher Kräfte
vorausſetzt, ſo nimmt auch hier die Erklärung ihre Zuflucht zu bö¬
ſen Geiſtern und infernaliſchen Mächten. Zwerge und Erdgnomen,
vom Volke „Schrättli“ genannt, ſinds, die die Steine ſo ausboh¬
ren und durchbrechen; ihnen iſt der feſte Erdkörper ein „Nichts“,
durch welches ſie wie die Schärmäuſe ſich durchwühlen. Eine an¬
dere Ueberlieferung erzählt: die Schrattenfluh im Entlebuch (Luzern)
[37]Karrenfelder. ſei ehedem eine der ſchönſten Alpenweiden im Lande geweſen und
habe zwei Brüdern gehört, welche dieſelbe gemeinſchaftlich verwal¬
teten. Als darauf Einer von Beiden blind geworden ſei, da habe
man Theilung des Gutes beſchloſſen und die Ausführung dem Ge¬
ſunden übertragen. Dieſer aber habe den blinden Bruder über¬
vortheilt, die Marchſteine falſch geſetzt und ſich den größten und
ſchönſten Theil der Alp angeeignet. Wie ſolche Kunde dem Blin¬
den überbracht worden ſei, habe dieſer ſeinen Bruder darüber zur
Rede geſtellt. Der Ungerechte aber habe ſich verheißen und ver¬
ſchworen: „Der Teufel ſolle ihn holen und die Weide zerreißen,
wenn er nicht ganz ehrlich getheilt habe.“ Da ſei denn ein furcht¬
bares Wetter entſtanden, der Berg habe gebebt, Satanas ſei er¬
ſchienen und der Schwur in Erfüllung gegangen. Der Teufel
habe allen Raſen und nutzbares Erdreich vom Berge abgeſtreift
und zwar ſo begierig und eifrig, daß man noch heutigen Tages
die Spuren ſeiner Krallen im Geſtein als jene Rinnen erblicke.
Während die Weide des Blinden unverſehrt blieb, verfiel der An¬
dere der Hölle.


Es liegt, laſſen wir das Motiv der Erzählung außer Spiel,
tiefer und wahrer Sinn dieſer Sage zu Grunde. Die unverſtän¬
dige Menſchenhand, welche die Berge ihrer Wälder ſo beraubte,
daß der Boden kahl, den Zerſtörungen durchs Wetter preisgegeben
wurde, war die Teufelsfauſt, welche den Berg verwüſtete;


Geſtorben iſt der Fichtenwald,
Verwittert ſind die Zinken;
Nur grau Geſtein, ſo alt und kalt
Liegt da, mir graus zu winken.
 
Witte.

Man ſuchte die Karrenfelder als Reſultate der einſtigen großen
Gletſcher-Eroſion darzuſtellen, zumal ſie oft mit anderen unver¬
kennbaren Gletſcherſpuren in Verbindung auftreten. Genauere
Unterſuchungen haben jedoch die Unhaltbarkeit dieſer Hypotheſe
zur Genüge nachgewieſen. Der Gletſcherſchliff, deſſen im Abſchnitt:
„Granit“ ſchon Erwähnung geſchah, hat gerade die Eigenthümlich¬
[38]Karrenfelder. keit einer gleichmäßigen Abnutzung und Abrundung der Geſteine,
während ein ächtes Schrattenfeld die Unregelmäßigkeit und Un¬
gleichheit ſelbſt iſt. Die bedeutendſten, größten und ausgepräg¬
teſten Karrenfelder liegen in den Kantonen Appenzell, St. Gallen,
Glarus und Schwyz; das renommirteſte und beſuchenswertheſte iſt
das auf der Silberen. Von dem idylliſchen Klönthaler See (jetzt
ſeit Eröffnung der Eiſenbahn nach Glarus, der Wallfahrtsort aller
Touriſten) erreicht man daſſelbe, den Weg über den Pragel faſt
bis auf die Paß-Höhe verfolgend und dann links abbiegend, in
2½ bis 3 Stunden. Die Kalkfläche des Karrenfeldes auf der
Silberen iſt ſo weiß, daß man dieſelbe, von Weitem geſehen, für
ein Schneefeld hält. Andere Schratten ſind am Nordhang der
Churſirſte am Scherenberg unweit des Leiſtkammes, die ausnahms¬
weiſe an manchen Stellen faſt ganz mit Alpenroſen überwuchert
ſind, — dann am Meßmer auf der Weſtſeite der Säntiskette der
Silberplatte entlang, — ferner am Kerenzerberg (leicht mittelſt der
Eiſenbahn am Wallenſee zu erreichen), — an den Bergen des
Wäggithales, am Fluhbrig, Frohnalpſtock, am Bauen (Vierwald¬
ſtätter See), am Sätteliſtock, auf dem Brünigpaß, am Kaiſerſtock,
an den Päſſen des Rawyl und Sanetſch, Tour d'Ay, Tour de
Mayen und vielen anderen Orten.

[[39]]

Nagelfluh.

Geheimnißvoll am lichten Tag
Läßt ſich Natur des Schleiers nicht berauben,
Und was ſie deinem Geiſt nicht offenbaren mag.
Das zwingſt du ihr nicht ab mit Hebeln und mit Schrauben.
Goethe.

Wenn Du, lieber Leſer, auf deiner ſommerlichen Schweizerreiſe,
oder Du, lieber Schweizer, aus dem deutſchen Reich über den Boden¬
ſee kommend bergwärts wanderſt, durchs fröhliche Appenzeller Länd¬
chen, oder durch das induſtrielle freundliche Toggenburg, oder noch
mehr weſtwärts durchs behäbige Emmenthal und Entlibuch, —
oder wenn Du in dem reizend, in parkartiger Umgebung gelegenen
Hôtel Bellevue bei Thun eine Körper, Herz und Geiſt ſtärkende
Villegiatur machſt, und der freundliche Beſitzer, Herr Knechten¬
hofer, Dich an der engliſchen Kapelle vorüber zum Pavillon Saint
Jacques hinaufführt, von wo aus man einen prächtigen Nieder¬
blick auf ein reiches Bild hat, auf das ſtolze, in alterthümlichem
Geſchmacke mit einem Koſtenaufwande von 1½ Millionen Franken
durch Herrn von Rougemont erbaute Schloß, auf die Karthauſe
und den Thuner-See, auf den Nieſen, die Stockhornkette und im
[40]Nagelfluh.vollen Rundblick auf die rieſigen Firndome der Jungfrau, des
Mönch, Eiger und vieler anderer, — oder wenn Du auf den Rigi
ſteigſt, — oder ſogar nur auf den Freudenberg ob St. Gallen, —
dann fällt Dein Blick oft auf Felſenwände, die dem üblichen Be¬
griff nach nicht eigentlich Felſen ſind, weil ſie wie Frontwände
großer Kiesgruben ausſehen. Betrachte dieſes konglomerirte Ge¬
ſtein doch ein wenig näher, verweile einige Augenblicke bei ihm;
Dein Zeitverluſt wird, biſt Du anders dilettirender Freund der
Naturwiſſenſchaften, reichlich belohnt werden.


Dieſes ſonderbare Gebilde iſt „Nagelfluh“, ein tertiäres
Anſchwemmungs-Produkt, ein aus Geſchiebe und Rollſteinen kom¬
ponirter Natur-Füllbau, in die Periode der Molaſſezeit gehörend;
alſo eines der jüngſten Schuttgeſteine, die wir kennen. Die Nagel¬
fluh kommt in mächtigen Maſſen und ſtundenweit verbreiteten
Flächen blos an der nördlichen Abdachung der Alpen vor und
geſtaltet hier die erſten Anhöhen und Berge. Am und im Jura
iſt ihr Auftreten nur ſporadiſch, wie z. B. um Pruntrut, Delsperg,
an dem berühmten Felſenthor der Pierre pertuis, in der kühlen
Einſiedler-Schlucht St. Verena bei Solothurn, um Aarburg und
Aarau und im Teufelskeller bei Baden. Außerdem zeigt ſich die
Nagelfluh nur noch in Vorder-Indien.


Dieſes den ſogenannten Puddingſteinen verwandte Konglomerat
beſteht aus mächtigen, oft ſogar bis zu mehren tauſend Fuß
Dicke anwachſenden Schichten abgelagerter Rollſteine, die mittelſt
eines kalkhaltigen, unter Säuren aufbrauſenden Cementes miteinander
verbunden ſind, — mitunter ſo außerordentlich feſt, daß beide
Theile eine gleichmäßig harte Maſſe bilden und beim Sprengen in
glatter Fläche ſpalten, ſo daß der Bruch ebenmäßig durch Cement
und Rollſteine geht. Dieſe Feſtigkeit iſt ſo bedeutend, daß man
die Nagelfluh einiger Gegenden, wie z. B. die unter dem Namen
des Degersheimer und Solothurner Marmors bekannten Arten, zu
Werken der Bildhauerei, zu großen Brunnenbecken und monu¬
[41]Nagelfluh. mentalen Arbeiten, ja ſogar zu Mühlſteinen benutzt hat. Die
Größe der in den Cement eingebackenen Rollſteine variirt außer¬
ordentlich; man findet deren, die wie winzige Hirſekörnchen neben¬
einander liegen und ſomit der Schicht das Anſehen eines grob¬
körnigen Sandſteinlagers geben, — und wiederum ſolche von dem
Umfange großer klafterhaltiger Blöcke.


Dies Alles würde aber die Nagelfluh noch zu keinem beſonders
intereſſanten Naturprodukt machen, wenn nicht ein Paar Umſtände
dabei noch vorwalteten, die bisher noch keine genügende Aufklärung
fanden. Die Nagelfluh beſteht nämlich, wie eine jede Kiesgrube,
aus den verſchiedenartigſten, kugelig, oblong oder flach-rundlich
abgeſchliffenen Geſteins-Fragmenten. Je nach ihrer Farbe und
qualitativen Zuſammenſetzung hat man ſie in die beiden Haupt¬
gruppen der bunten- und der Kalk-Nagelfluh abgetheilt. Zur
bunten Nagelfluh gehören jene Konglomerate, welche, wie der Name
ſchon ſagt, in reicher Farben-Moſaik prangen. Da finden wir
feurigrothe Porphyrkugeln neben hellleuchtenden ſaftig-apfelgrünen
Granit-Rollſteinen, warm violettgefärbte Spilit-Cylinder neben
ſchwarzgrün getiegerten Serpentin-Ovalen, goldokerfarbige, abgerun¬
dete Kalkſtein-Gerölle neben fleiſchfarbig geaderten Feldſpath-Sphä¬
roiden, — ein ſchönes, reiches Bild bunter Gruppirung der ver¬
ſchiedenfarbigſten Geſteine. Minder brillant ſieht die Kalk-Nagelfluh
aus. Bei ihr ſind gebrochene graue, blaue und ſchwärzliche Töne
vorherrſchend; doch giebt es auch ſolche, die davon abweicht, wie
z. B. die Nagelfluh am Fuße des Speers bei Weſen am Wallen¬
ſee, welche faſt das Anſehen von Rothwurſt oder Gothaer Preßkopf
hat. Denn in dem dunkelrothen eiſenhaltigen Cement ſind weiße
Feldſpath-Geſchiebe eingebacken, die wie fette Speckwürfel ausſehen,
und wieder andere kalkhaltige Geſteine, die man ohne ſonderliche
Anſtrengung der Phantaſie für Schweineſchwarte und Keſſelfleiſch
halten kann. Unmittelbar hinter dem Bahnhof in Weſen kann der
Kurioſitätenfreund ſich Bruchſtücke dieſes Naturſpieles aufleſen.


[42]Nagelfluh.

Der eine bis jetzt noch unerklärt gebliebene Umſtand beruht
nun dann, daß man Geſchiebe von Felsarten (und zwar in Menge)
darin findet, welche entweder in den Alpen gar nicht — oder doch
nur in den ſüdlichen Thälern derſelben vorkommen (d. h. deren
heutige Flußgebiete gegen Süden auslaufen, wie das der Rhône,
des Ticino und Inn), — oder daß Geſchiebe von Geſteinsarten
wieder gänzlich in der Nagelfluh fehlen, die man in großer Menge
darin erwarten ſollte, weil ſie in den Alpen außerordentlich reichlich
vorhanden ſind. Es bleibt ſomit nichts Anderes übrig, als anzu¬
nehmen: daß die Rollſteine der Nagelfluh von Gebirgen herrühren,
die bei einer der großen Erdumwälzungen gänzlich zertrümmert,
dann durch die Friktion in den Fluthungen des Urmeeres abge¬
ſchliffen und gerundet, hierauf in gewaltigen Schichten abgelagert,
von Cementſchlamm umhüllt und endlich bei der Hebung der Alpen
mit aus den Meerestiefen emporgehoben wurden.


Eine zweite noch intereſſantere, aber auch noch minder erklär¬
liche Erſcheinung iſt die der Impreſſionen. Sucht man nur
einige Augenblicke an blosgelegten Nagelfluh-Felſen, namentlich an
ſolchen, deren Bindemittel nicht zu hart iſt, ſo daß man die Roll¬
ſteine leicht aus ihnen herauslöſen kann, ſo wird man von letzteren
Exemplare finden, welche tiefe, muldenförmige Eindrücke von ihren
unmittelbaren Nachbarn erhalten haben, etwa ſo, als wenn man
in friſches, geknetetes Brod irgend einen beliebigen harten Gegen¬
ſtand eindrücken würde. Nun ſind aber beide Steine in der Regel
von gleich harter Maſſe, und der Stein Nummero Zwei, welcher
die Impreſſion in dem von Nummero Eins hervorbrachte, erhält
an einer anderen Stelle von einem dritten Nachbar ſelbſt wieder
ganz ähnliche Quetſchungen oder Vertiefungen. Da man nun doch
annehmen muß, daß die Rollſteine, ehe ſie rundlich abgeſchliffen
wurden, bereits hart und ſpröde waren, ſo iſt es ſchwer erklärlich,
wie ſie von gleich harten Nebenkörpern ſolche Eindrücke empfangen
konnten.


[43]Nagelfluh.

Wollte man annehmen, jene Rollſteine ſeien zur Zeit ihrer
Ablagerung noch in ziemlich weichem Zuſtande, ſomit leichter em¬
pfänglich für Impreſſionen geweſen, ſo muß man einen gleichen
Härtegrad auch bei denjenigen Steinen vorausſetzen, welche die
Eindrücke hervorbrachten. Zwei gleich weiche Körper aber werden
bei Preſſungen ſich wohl abplatten, nicht aber der eine in den
anderen eindringen. Hierzu kommt noch eine andere Erſcheinung,
welche unzweifelhaft darauf hinweiſt, daß alle Nagelfluhſteine vor
ihrer Umhüllung mit Cement ſchon ſehr erhärtet waren; dies iſt
die ſpiegelglatte, geſtreift-glänzende Politur vieler derſelben an
verſchiedenen Stellen. Man findet Exemplare, die, wie vom
Steinſchleifer behandelt, in der Sonne weithin blitzend ſtrahlen,
gleich blanken Glasſcherben, — andere, die ſcharf geritzte, fun¬
kelnde, in Menge nebeneinander liegende Linien zeigen und den
körnigen Kalkſtein an der Oberfläche faſt wie faſerigen Asbeſt
erſcheinen laſſen, — und noch andere, an denen das Wunder¬
laboratorium der Natur ſo energiſche Inciſionen hervorgebracht
hat, als ob die Steine mit einem diamantenen Hohl-Hobel aus¬
gekehlt worden wären. Die meiſten dieſer Politurſtreifen tragen
metalliſchen Glanz. Unzweifelhaft rührt die ganze Erſcheinung
von der Hebung der Maſſen oder einem von den Alpen ausge¬
übten Seitendruck her, wobei die Steine mit unberechenbarer
Vehemenz über einander hinglitten und ſich gegenſeitig, durch die
Friktion erhitzt, abſchliffen. Solch ein polirter Stein giebt Ge¬
legenheit zu einer reizenden mikroſkopiſchen Spielerei. Bringt man
denſelben unters Inſtrument und läßt entweder helles Lampenlicht,
oder, noch beſſer, die Sonne in geeignetem Strahlenbrechungswinkel
darauf reflectiren, ſo entſtehen unbeſchreiblich prächtige Farben¬
effekte. Ein Kaleidoſkop, in welches die brillanteſt gefärbten Glas¬
ſtückchen eingelegt wurden, vermag nicht ſolch eine flimmernde,
ſchwirrende, im eigentlichſten Sinne kämpfende Farbenpracht zu
entwickeln, wie die winzig kleinen geſchliffenen Kryſtallchen des
[44]Nagelfluh.ſchlichten grauen Kalkſteinchens. Bald gruppirt ſichs in den rein¬
ſten feurigſten Prismenfarben zu einem Roſetten-Cyklus oder zu
bunten Flammen ausſtrahlenden Sternchen, dann gleicht es einer
vom Feuerwerker abgebrannten tauſendgarbigen Girandole oder
diamantenen Ranken-Verſchlingungen, deren Enden ins Innere
des Körpers hineinzuſchliefen ſcheinen, — dann wieder gläſern
durchſchimmernden, regellos ſich kreuzenden Aſtbau-Figuren oder
architektoniſchen Gliederungen mit Bandkarniſen und Pilaſtern,
mit Kreuzrippchen und Konſolen wie von Geiſterhänden zu Oberons
Feenpalaſt zuſammengefügt, — kurzum eine Welt im Kleinen, voll
abenteuerlicher Phantasmagorieen, entfaltet ſich hier dem ſtaunen¬
den Blicke. Und doch iſts nur ein unſcheinbares Bröcklein aus
dem großen Trümmerhaufen einer untergegangenen Welt und er¬
innert an Byron's Manfred:

— — Berge ſind geſtürzt,

Wolken zerklüftend, mit gewaltigem Stoß

Die Bruderalpen ſchütternd! — angefüllt

Das grüne Thal mit der Zerſtörung Trümmern,

Gedämmt die Flüſſe durch den jähen Sturz; —

In Nebeln hob ſich das gepreßte Waſſer

Und neue Gänge grub ſich der Quell! —
[[45]]
Figure 1. Bergsturz.

Druck von F. A. Brockhaus in Leipzig.

[][]

Der Goldauer Bergſturz.

Das Lebenszeichen des Lebens iſt Zerſtörung.
Gutzkow.

Unſer Erdkörper iſt in einem ununterbrochenen Zertrümmerungs-
und Wiedererzeugungs-Prozeß begriffen. Der Kreislauf alles Stof¬
fes, den wir am Deutlichſten im Keimen, Wachſen, Abſterben
und Verweſen der Pflanze erkennen, weil er innerhalb eines kur¬
zen, unſerem Wahrnehmungsvermögen naheliegenden Zeitraumes
vor ſich geht, findet eben ſo, aber in großen, Jahrhunderttauſende
umfaſſenden Epochen, am Fundamental-Gebäude unſerer Erde ſtatt;
nur ſtellt er hier weniger einen eigentlichen Stoffwechſel, als viel¬
mehr einen Formenwechſel dar.


Betrachten wir den Boden, auf dem wir gehen, das Garten-,
Acker- und Nutzland, welches unſere Früchte, Brenn- und Bauhölzer
erzeugt, den Straßenſtaub, den der Sturmwind hoch in die Lüfte
wirbelt und durcheinander mengt, — wollten wir das Alles genau
unter dem Mikroſkop betrachten und ſeine einzelnen Subſtanzen
ausſcheiden, ſo würden uns neben unzählbaren Theilchen halb und
ganz verweſter Pflanzen- und Thierorganismen, kaum erkennbarer
[46]Der Goldauer Bergſturz.Infuſorien und vorzeitlicher Schnecken-Panzer, eben ſo viele und
noch mehr unendlich kleine Fragmente ehemaliger Gebirge: eine
bunte Miſchung glaſiger Quarzſplitter und farbiger Schieferblätt¬
chen, hellglänzender Glimmerkryſtalle und kantiger Porphyrkörn¬
chen, durchſichtiger Feldſpathgeſteine und dichter Kalkpartikelchen
erſcheinen, die hier zu Staub zermalmt einem neuen Umgeſtaltungs¬
prozeſſe entgegenſehen.


Dieſe umgeſtaltende Thätigkeit und die durch dieſelbe herbei¬
geführte allmählige Formveränderung unſerer Erdrinde kann unſer
Auge nur da erkennbar wahrnehmen, wo die im Dienſte der Natur¬
kräfte ſtehenden Bewegungsmittel am Großartigſten ſich entfalten:
zunächſt am Strande und im Gebirge.


Am Ufer des Meeres, der Binnenſeen, ja ſogar der Flüſſe,
ſehen wir neue Ablagerungen von angeſchwemmten Erd- und Ge¬
ſteinsſubſtanzen, ſogenannte Strandbildungen entſtehen, — aus
dem Grunde der oceaniſchen Gewäſſer neue Inſeln auftauchen, alſo
das Gebiet des Feſtlandes ſich vergrößern, während an anderen
Orten das ununterbrochene Arbeiten der Wellen, die Brandung,
allmählig feſte Felſenwände auswäſcht oder ganze Stücken Ufer¬
landes losreißt, um ſie in die Tiefe zu verſenken.


Dieſes Ausebenungsbeſtreben zeigt ſich im Gebirge bei Weitem
in draſtiſcheren Erſcheinungen. Jedes raſche Schmelzen des Hoch¬
gebirgsſchnees im Frühjahr, jedes heftige, mit großen Regengüſſen
verbundene Gewitter, jeder Gletſcher auf ſeinem Rücken, ſendet
aus den Höhen alljährlich eine Unzahl von Geſteinstrümmern in
die Schluchten und Tobel, auf die Alpweiden und in die Thal¬
gelände und die an deren Fuße liegenden See- und Meeresbecken
hernieder, die, wenn wir die Wahrſcheinlichkeitsrechnung zu Hülfe
nehmen wollten, innerhalb irgend einer großen Zeitfriſt unter Mit¬
hülfe der Atmoſphärilien ebenfalls zu einer völligen Ausebenung
von Berg und Thal führen müßten, wenn nicht inzwiſchen neue,
[47]Der Goldauer Bergſturz. ungeahnte Kataſtrophen eintreten, die einen Strich durch unſere
Rechnung machen.


Der Alpenbewohner nennt Ereigniſſe derart und die davon
verwüſteten Gegenden „Rüfe“, „Steinrieſeten“, „Gante
oder „G'ſchütten“, und in jedem größeren, von etwas ſteilen
Bergwänden eingeſchloſſenen Thale der Schweiz, Tyrols und der
übrigen Alpenländer kann man ſolche, verſteinerten Strömen
gleichende, aller Vegetation entbehrende Trümmerwüſten erblicken.
Bei heftig niederbrauſendem Hochgewitter verſanden und überdecken
ſie mit ihrem Schutt binnen wenig Stunden zuvor fruchtbares,
werthvolles Ackerland oder kräuterreiche Matten und zerſtören deren
Ertragsfähigkeit auf viele Jahrzehnte hinaus.


Dieſe ſind nicht zu verwechſeln mit den eigentlichen Felſen¬
ſtürzen
und Bergrutſchen, welche von Zeit zu Zeit die Alpen
heimſuchen und zu den furchtbarſten Naturereigniſſen gehören. Faſt
alle werden mittel- oder unmittelbar durch die Einwirkung des
Waſſers herbeigeführt. Entweder bohrt, frißt und ſprengt das, nur
tropfenweiſe, in ganz unbedeutende Felſenſpalten der härteſten Ge¬
ſteine eindringende, im Winter gefrierende und durch die aus¬
dehnende Kraft des Froſtes den Spalt gleichſam wie mit einem
Keil unmerklich erweiternde Waſſer ſo konſequent und ausdauernd,
daß die vom Muttergeſtein abgeſprengten Felſenmaſſen, allmählig
ihrer natürlichen Baſis beraubt, im Frühjahr oder Sommer beim
Schmelzen des eingedrungenen Eiſes, endlich ihr Gleichgewicht ver¬
lieren und zu Thal ſtürzen, — oder die Reihenfolge und geringe
Feſtigkeit des auf einander lagernden Geſteines und deſſen Ab¬
dachung (oder deſſen „Fallen“, wie man in der Geologie ſich aus¬
drückt), ſind Urſache der Bergſtürze. Letzteres kann nur in den¬
jenigen Alpen vorkommen, die nicht aus kryſtalliniſchen
Geſteinen
(Granit, Gneis, Glimmerſchiefer, Porphyr, Syenit,
überhaupt Feldſpath-haltigen Geſteinen), wie die Central-Alpen,
ſondern aus Sedimentbildungen (wie ſolche in der Schilderung
[48]Der Goldauer Bergſturz.des Alpengebäudes erörtert wurden) beſtehen. Hier wirkt dann das
Waſſer direkt und zwar das in großer Menge ins Erdreich und
in die Steinſchichten eindringende und dieſelben auflöſende Regen-
und Schneewaſſer.


Ganz beſonders iſt dies bei denjenigen Gebirgen der Fall,
deren unterſte Geſteinslage aus einer kompakten, wenig poröſen
Maſſe beſteht, die das in die Tiefe eindringende Waſſer nur in
ſehr geringem Grade aufſaugt, wie z. B. harte Leberfelsſchichten,
Thonſchiefer, derbe Kalke u. a. — Liegt nun auf dieſer ein fau¬
lendes, leicht verwitterbares, zur Auflöſung geneigtes Gebirgs¬
material, wie z. B. rother Mergel, — und über dieſem wieder
eine mächtige Schicht anderen Geſteines von geringer Dichtheit, wie
Sandſtein, Nagelfluh, oder überhaupt eine das Waſſer filtrirende,
gern durchlaſſende Felsart, ſo iſt es eine ganz natürliche Folge,
daß das Waſſer entweder ſo lange durchſickert, bis es auf die
unterſte, dichteſte Geſteinslage kommt und in unterirdiſchen Kanälen
und Ritzen, der Abdachung des Felſen folgend, hinabrinnt, um
aus tauſend Erdarterien und Tropflöchern geſpeiſt als Quelle
wieder irgendwo zu Tage zu treten, — oder, wenn es ſich nicht
genügend Abzug verſchaffen kann, zerſetzt und löſt es allmählig
die leicht verwitterbare Mittelſchicht auf und verwandelt dieſe in
einen zähen Schlammbrei.


Jetzt hängt es vom Gange der Witterung und der örtlichen
Lage ab, was aus dieſer halbflüſſigen Erdſchicht werden ſoll. Tritt
nach anhaltendem Regen ſehr trockene Witterung ein, ſo verdunſten
nach und nach die aufgeſchluckten Waſſer wieder, der Brei erhärtet,
dörrt aus und die drohende Gefahr wird abgewendet. Treibt aber
der Föhn oder der Weſtwind fortwährend neue Regenmaſſen ins
Land, ſtemmt der aufgeweichten Schicht ſich kein, von der Natur
ſelbſt errichteter, dauerhafter Querdamm entgegen, bricht die ab¬
wärts drängende Maſſe durch, ſo entſteht eine Schlammlauine,
die, wohin ſie ihren trägen aber unaufhaltſamen Lauf richtet, wie
[49]Der Goldauer Bergſturz. die Lava des Vulkanes alles ihr im Wege Stehende einſchließt,
ausfüllt, ummauert und oft mehre Klaftern hoch überdeckt. Was
ſie erreicht, wird unrettbar zerſtört. Von einem ſolchen Schlamm¬
ſtrome wurde im Juli 1795 ein großer Theil des reizend am
Vierwaldſtätter-See gelegenen Dorfes Wäggis vernichtet und in
die Fluthen verſenkt. Er kündete ſich in der Nacht des 15. Juli
durch ein ſeltſames eintöniges Brauſen an, das nach der Meinung
des Volkes aus den Kellern zu kommen ſchien. Als es Tag wurde,
ſahen die Einwohner mit Entſetzen die dicke, dunkelrothe Schlamm¬
lauine mehre Klaftern hoch und wohl eine Viertelſtunde breit,
einem Ungeheuer gleich, gegen das Dorf ſich heranwälzen. Ihre
Bewegung war indeſſen ſo langſam, daß alle fahrende Habe von
den Einwohnern geflüchtet werden konnte. Volle vierzehn Tage
dauerte es, bis die wandernde Schlamm-Maſſe das Seegeſtade
erreichte; aber eine Menge Häuſer und vortrefflicher Grundſtücke
wurden ein Raub des Ereigniſſes.


Solche Schlammlauinen aber, die keinen Ausbruch finden,
werden mittelbare Urſache der Felsſtürze. Die auf der Schlammlage
ſtark geneigt ruhenden Geſteinsſchichten reißen vermöge eigener
Schwere und Wucht ſich los und glitſchen auf dem ſchmierigen
Erdreich der Tiefe zu.


Das empörte Weltmeer, der feuerſpeiende Berg, die Schrecken
des amerikaniſchen Urwaldes, der Samum in der Wüſte, ſind
Erſcheinungen, die das Blut in den Adern ſtarren machen können,
— aber kein Sturm auf offenem Ocean, wenn den Seefahrer
der Untergang aus tauſend Wellengräbern angähnt, kein Ausbruch
eines ſeine Feuergarben himmelan ſtrahlenden Vulkans, kein Wald¬
brand des amerikaniſchen Urwaldes können Entſetzen erregender
wirken, als jener ſchreckliche Moment, in welchem der Gebirgs¬
bewohner ſeinem Weibe, ſeinen Kindern und Nachbarn zuruft:
„Fliehet! der Berg kommt!“ Nur noch ein Phänomen kommt
dem Bergſturz an ſeelenzerſetzender Unheimlichkeit gleich: das Erd¬
Berlepſch, die Alpen. 4[50]Der Goldauer Bergſturz. beben. — Wo ein Bergſturz losbricht, da iſt Alles, was im Be¬
reiche ſeiner zermalmenden Gewalt liegt, faſt im gleichen Augen¬
blicke eine Beute des Todes, wo die Gefahr ſich ankündet. —
Man denke ſich jene ſtabilen Gebirgsmaſſen, welche ſeit Menſchen¬
gedenken in todter, indifferenter Ruhe wie ein Naturbau für
urewige Zeiten zu Häupten der Menſchen thronten, plötzlich, wie
von unſichtbarer Hand ihrer ſtützenden Unterlage beraubt, in Be¬
wegung — ſchwankend — ſich lostrennend und mit Blitzesſchnellig¬
keit auf das friedlich daliegende Thal niederſtürmend.


Solch ein furchtbares Ereigniß zerſtörte im Kanton Schwyz
die Dörfer Goldau, Rötten, Buſingen und Lowerz binnen wenig
Minuten durch den Einſturz des nördlich über dieſen Ortſchaften
liegenden Roßberges.


Die Jahre 1804 und 1805 waren ſehr regneriſch geweſen und
ihr Nachfolger 1806 fuhr unverdroſſen fort, wäſſerige Niederſchläge
im Ueberfluß und in ungewöhnlicher Fülle auf das Alpenland nieder¬
zuſenden. Ganz beſonders zeichnete ſich in dieſer Beziehung der
Hochſommer durch anhaltende Landregen aus, welche am Ende des
Auguſtmonates und namentlich am erſten September in eigentliche
Wolkenbrüche auszuarten drohten.


Es iſt ſchon ein unliebſames Bild, welches nach vielwöchent¬
lichen Regengüſſen die Landſchaft einer ebenen Gegend in ihrem
durchweichten, überſättigten Habitus darbietet. Aber es iſt nicht
zu vergleichen mit dem Ausſehen einer Gebirgslandſchaft am Ende
einer ſolchen Witterungsperiode; aus jeder Schlucht, aus jedem
Waldwinkel blickt Zerſtörung hervor, überall rüttelts und nagts
am Beſtehenden. In eigenwillig ausgegrabenen Rinnen und
Runſen ſchäumen und poltern die hoch angeſchwellten, von allen
Halden und Berghängen zuſammenfließenden Wildwaſſer ſchmutzig
und erdfahl hernieder. Alle Hohlwege ſind tief ausgeſpült und
die vom umgebenden Erdkitt entblößten, bunt geſprenkelten, hiero¬
glyphiſch-marmorirten Rollſteine, welche ſonſt unbeachtet einfarbig im
[51]Der Goldauer Bergſturz.Boden ſtecken, leuchten ſo durchſichtig blank, wie von des Schleifers
Hand polirt, daß ſie im Glanze ihres erhöhten Kolorits, eine
natürliche Diluvial-Moſaik darſtellen. — Zottig hängt das blos¬
gelegte Wurzelgeflecht der Rothtanne und Lärche, des Bergahorn
(Acer pseudoplatanus) und der Alpenerle (Alnus viridis), des
ſtruppigen Wachholderbuſches (Juniperus sabina) und anderen Ge¬
ſträuches, das an den abſchüſſigen Wegrändern ſteht, über dieſelben
herunter, und wo das ſuchende Wühlen des Waſſers die Nahrungs¬
ſchichten des lockeren Waldbodens ausgewaſchen und zu Thal ge¬
ſchwemmt hat, da ſinken die ihrer eigenen Schwere nicht mehr
mächtigen ſtolzen Stämme, dieſe Ariſtokraten der Pflanzenwelt,
kraftlos um, vom Wetter gefällte Schlagbäume, die Paſſage des
freien Waldverkehrs hemmend. Das riſſig-ſchuppige Rindenkleid
der Bäume, ſchwammig-vollgetränkt von der überreichen Regen¬
ſpende, hat ſeine warmen, wohlthuenden, braunrothen Okertöne
verloren und Stamm und Aſtwerk ſtarren finſter in die ſchwarze
Säulenhalle der Forſte hinein. Jenes mährchenhaft geheimnißvolle
Waldesdunkel fehlt, das alle Gegenſtände der Perſpektive ver¬
duftend ins Unbeſtimmte auflöſt. Alles hat die dunſtende Regen¬
durchſichtigkeit grell ins linienhaft ſcharf Begränzte überſetzt und
präciſirt.


Noch zerzauſter, ermatteter, zerknickter, genuſſesmüder erſcheint
die Bourgeoiſie der Bergvegetation, die individuenreiche Klaſſe der
Hochkräuter, alle jene geſellſchaftlichen Tafelrunden der Waldfarren,
die brennendroth blühenden Epilobium-Kerzen, die neugierig über
ihren Stand hinausſchauenden Hieracien und Alles, was, „wie aus
Duft und Glanz gewebt“, ein ſommerlanges Blumenleben hier
oben verjauchzt; es iſt als ob muthwillige Buben eine Pflanzen¬
ſchlacht geliefert hätten. Nur die ſpargelſchüſſigen Saftſtengel der
Orchideen mäſten ſich bei dem Ueberfluß und jene Knappenſchaft
der Kräuterwelt, die auf Hieb und Stich mit Pfeil und Lanze
gewappnete Reiſigen-Schaar der zäh-ſtengelichen Diſtelgewächſe hat
4*[52]Der Goldauer Bergſturz.trotzig der niederſchlagenden Waſſergüſſe die ſcharfen Kanten und
Spitzen entgegengeſtreckt und heldenmüthig widerſtanden. Es ſind
die gleichen alten Kämpen, die in den Stürmen des Winters,
wenn das quatte, weiche Zellengefüge faſt aller anderen niederen
Phanerogamen gährend ſich zerſetzt, — obgleich marklos, dennoch
aufrecht, wie auf dem Poſten erfrorene Schildwachen daſtehen, und
mit ihren gebleichten nackten Blüthenſchädeln in den allgemeinen
Naturſchlaf hineingrinſen, bis Boreas oder die Wucht des auf ihr
Geripp ſich lagernden Schnees auch ſie umknickt und der übrigen
verweſenden Maſſe beifügt. Ihre Deviſe ſollte ſein: „Treu bis in
den Tod!“ —


Und nun vollends das Proletariat der Vegetation, das ge¬
meine, niedrig am Boden kriechende Volk der Gräſer, dieſes Grund¬
aggregat alles deſſen, was unmittelbar „Nahrung“ liefert, die
breiten ſchilfblätterigen Schwingelarten, die luftigen, kupferroth¬
ſpiegelnden Windhalme, die federbuſchigen Calamagroſten und die
fettlaubigen Hirſegräſer mit ihren geſpreizten krakehligen Aehren¬
dolden, die zarten ſchüchternen Schmielen und die derben behäbigen
Poaceen, wie ſo gänzlich erſchlafft liegen ſie da. Die elaſtiſche,
langausgiebige Widerſtandsfähigkeit, die Muskelkraft der ſchlanken
Rispen iſt gebrochen, — wie von den darüber hinfluthenden Regen¬
bächen glatt gekämmt, ſchmiegen ſie ſich den Bodenformen ſklaviſch
an. Item! Ein allgemeines Betrunkenſein herrſcht in der Pflanzen¬
welt und der Regen hats ihr gezeigt, wie es ausſieht, wenn er
Meiſter iſt. Denn die Regenmenge in den Alpen iſt eine ganz
andere als in den flachen Gegenden. Während die ſüddeutſche
Hochebene jährlich im Durchſchnitt nur 24 bis 25 Zoll Regen hat
und die norddeutſche Tiefebene gar nur 22 Zoll, ſteigt dieſelbe in
den inneren Alpenthälern auf 54 Zoll und auf dem großen St.
Bernhard nach ſiebenjährigem Durchſchnitt gar auf 73 Zoll.


Aber dies Alles charakteriſirt die Eigenthümlichkeiten lang¬
andauernden naſſen Wetters im Gebirge noch nicht allein; verwandte
[53]Der Goldauer Bergſturz. Momente zeigen ſich auch drunten in der Ebene nach einem ſoliden
Landregen.


Was der ganzen Erſcheinung ein viel unheimlicheres Gepräge
giebt, iſt die tiefe Schwermuth, in welche die ganze Landſchaft
verſunken iſt. Die hohen Berge ſind nicht ſichtbar; Wolken haben
ſich wie graue Trauermäntel um ihre Schultern gehangen. Wäh¬
rend ſchon bei hellem, lachendem Himmel nur ein geringeres
Quantum Horizont in das Bergthal hereinleuchten kann als in
das unbegrenzte Flachland, — ſo wird dem bischen Tageshelle bei
trübem Wetter vollends der freie Eintritt durch die Bergkoloſſe
verkümmert. Die Regenwolken mögen ſich vielleicht nicht tiefer
gegen den Erdboden niederſenken als wo anders auch; aber da¬
durch, daß man mittelſt der naheſtehenden Felſenmaſſen einen
Maßſtab für den Hochgang der Wolken erhält, wähnt man, die
ganze Atmoſphäre laſte wie ein böſer Traum auf der Gegend.
Nicht ſelten iſts der Fall, daß Fremde bei ſolchem Wetter von
einer Angſt und Bangigkeit befallen werden, als ob ihnen das
entſetzlichſte Unglück bevorſtände.


In dieſer landſchaftlichen Verfaſſung befand ſich denn auch
das Goldauer Thal, als unerwarteter Weiſe am Vormittage des
2. September das Regenwetter plötzlich innehielt, während der
Horizont einfarbig melancholiſch umwölkt blieb. Am frühen Mor¬
gen dieſes Tages bemerkten Landleute, die auf der Höhe des
Gnypenberges (der öſtliche Theil des Roßberges) und am ſ. g.
Spitzenbühl“ Ställe beſaßen, ganz friſche, weit auseinander
klaffende Riſſe im Erdreich und an den Felſenwänden. Der Raſen
war an manchen Stellen übereinander geſchoben und in den be¬
nachbarten Waldungen hörte man von Zeit zu Zeit ein dumpfes,
dem Rottenfeuer ähnliches Knallen, gleichſam als ob Wurzelwerk
gewaltſam zerſprengt würde. Daneben ſtürzte von einer Felſenfluh
am „Gemeinde-Märcht“ fortwährend Nagelfluh-Geſtein hernieder;
da aber ſolche Ablöſungen ſtets im Frühjahr nach der Schnee¬
[54]Der Goldauer Bergſturz. ſchmelze und jederzeit nach heftigen Regengüſſen zu erfolgen pfleg¬
ten und die Bewohner des Röthner Berges ſchon längſt an ſolches
Krachen und Fallen gewöhnt waren, ſo legten ſie auch diesmal
den Kundgebungen wenig Werth bei und vermutheten höchſtens,
daß in einer tieferliegenden, ohnedies ziemlich wüſten Gegend ſich
eine „Bräche“ oder Erdſchlipf ablöſen möchte. Dieſes Nieder¬
ſtürzen von Felſentrümmern unter fortwährend aufſteigenden Staub¬
nebeln vermehrte ſich indeſſen von Stunde zu Stunde, die Luft
zitterte in fortwährender Oscillation und die Anwohner des Ro߬
berges in weitem Umkreiſe empfanden jederzeit die Erſchütterungen
des Bodens. Leute, die mit Kartoffelhacken, Holzfällen oder Vieh¬
gaumen auf dem Felde oder den umliegenden Berghöhen beſchäf¬
tigt waren, richteten, ſtets von Neuem aufgeſchreckt, immer wieder
den Blick nach dem Roßberge.


Am Spätnachmittage, es hatte auf dem Kirchthurme zu Arth
4¾ Uhr geſchlagen, öffnete ſich plötzlich auf halber Höhe des ſanft
geneigten Berges an der Rüthi-Weide eine große Erdſpalte, welche
zuſehends weiter, tiefer, breiter und länger wurde. Der umliegende
Raſenboden wendete ſich ſelbſt, ſo daß er, wie umgeackert, die
braunſchwarze Bodenkrume zu Tage kehrte. Zugleich begann der,
in gleicher Höhe liegende Zanswald unheimlich lebendig zu werden,
Zuerſt ſchwankten die hohen, ſchlanken, ausgewachſenen Tannen,
wie von unſichtbarer Hand bewegt, leicht hin und her, etwa ſo,
als wenn im Sommer der Wind über das halbreife Korn hin¬
ſtreicht, daß es zu wogen ſcheint. Dieſe wellenförmige Bewegung
wuchs, aber in widerſtreitenden Rhythmen, ſo daß in dem unregel¬
mäßigen und heftigen Schwanken die Stämme und ihre Baum¬
kronen durch- und gegeneinander ſchlugen. Mit krächzendem Ge¬
ſchrei flogen Raben, Krähen, Häher und andere dort niſtende
Waldvögel auf und eilten in flüchtenden Schwärmen gen Südweſt
den Forſten an den Abhängen des Rigi zu. Jetzt trug ſich das
ſchiebende Stoßen und Schwanken, das wellenhafte Steigen und
[55]Der Goldauer Bergſturz. Fallen auch auf den Raſenboden über; es ſah aus, als ob rieſige
Schärmäuſe denſelben unterwühlten. Zugleich begann ein leiſe
anhebendes Gleiten und Hinabrutſchen der ganzen oberen Gegend,
das immer erkennbarer und eilender wurde. Die Tannenwälder
ſträubten ſich der raſchen Bewegung zu folgen und erſchienen, —
nach Ausſage der Leute, welche das ganze furchtbare Phänomen
vom Anfang bis zu Ende in bangſter Aufmerkſamkeit mit anſahen,
— etwa ſo, als wenn man Haare wider ihre natürliche Wuchs-
und Wurzellage kämmt.


In immer geſteigerteren Progreſſionen nahm die angſterfüllende
Erſcheinung zu; in immer weiteren Kreiſen, in immer ausgedehn¬
terem Umfange wurden angränzende Matten und Wiesgelände,
Obſtbaumgärten und Hofſtatten ſammt Stallungen, Menſchen und
Vieh mit in die ungeheuerliche Bewegung hineingezogen. Das
Volk, welches den Grund und Boden, auf dem es geboren und
groß geworden war, unter ſeinen Füßen weichen fühlte, ſchreckte
entſetzt auf und flüchtete, ſeine Heimath zu verlaſſen. Da —
Donner und Knall! als ob die Urfundamente der Erdrinde zer¬
borſten wären, ein raſſelnd-ſchmetterndes Krachen, ein knatterndes
Gepraſſel, als ob ein tauſendzackiges Blitzbündel aus den ver¬
derbendrohenden Wolken auf einen Schlag zernichtend in die
Grundpfeiler der Berge hineingefahren wäre und das Innerſte der
Gebirge zerſprengt und zertrümmert hätte. Die Steinbergerfluh,
eine Felſenmaſſe von mehren Millionen Kubikklaftern, ſammt allem
darauf ſtehenden Hochwald und die darunter terraſſirt ſich nieder¬
ſenkende, mehr als hundert Fuß hohe Nagelfluh-Wand des „Ge¬
meinde-Märcht“ waren eingeſtürzt. Dies war das Signal zu
einem allgemeinen Zerſtörungsakt; denn nun begann ein Schau¬
ſpiel, welchem an furchtbarer Großartigkeit kaum eine andere Er¬
ſcheinung zu vergleichen iſt. In wildeſter Auflöſung jagten Felſen¬
blöcke und Steinſplitter, Erdſchlamm und Raſenfetzen, Geſträuch¬
knäuel und Baumſchäfte, Alles in bald hoch aufwirbelnde, bald
[56]Der Goldauer Bergſturz. fallende Staubwolken gehüllt, über die Berghalde dem Goldauer
Thale zu. Ein Trümmerfragment ſchien das andere an Geſchwin¬
digkeit überholen zu wollen; es war ein Wettrennen der rohen
Materie. Die chaotiſch ſich häufenden Sturzmaſſen, die hetzende
Schnelligkeit, die allgemeine Verwirrung wuchſen von Augenblick
zu Augenblick. Hausgroße Gebirgsbrocken mit aufrecht darauf
ſtehenden Tannen ſauſten, wie von dämoniſchen Fäuſten geſchleu¬
dert, frei ſchwebend, gleich fliegenden Vögeln, hoch durch die Lüfte;
andere Felſenſcherben ricorchettirten wie Geſchoſſe einer Rieſen¬
kanonade, von Zeit zu Zeit aufſetzend, immer wieder in hohen
Bogen emporgeſchnellt; noch andere prallten auf der Sturzbahn
mit ihren Sturmesgenoſſen zuſammen und zerſpritzten wie die
Funken weißglühender Eiſenſtangen unter der Wucht des Eiſen¬
hammers. Es war eine Scene aus dem Titanenkampfe der grie¬
chiſchen Mythe.


Hinunter praſſelt und donnert und dröhnt,
Was eben noch den Berg gekrönt,
Der Berg, zerſchmettert zu Schutt und Kies,
Der See, gefüllt mit Geröll und Gries —
Das rollt und wälzt ſich endlos fort
Und ſchwillt und wächſt von Ort zu Ort;
Zerknickt die Tannen mit grauſer Kraft
Und ſchießt als Wurfſpeer weiter den Schaft.
Der Boden zittert und wankt und wiegt,
Bis rings die Stätte begraben liegt.
Weithin begraben Hügel und Grund
Des Berges Flanken ſchrundig und wund,
Mit Splittern und Grand das Thal gefüllt
Und leichenfahl Alles ringsum verhüllt.
(M. Waldau.)

Binnen wenig Minuten waren über hundert Wohnhäuſer und
eben ſo viele Ställe und Scheunen zerſtört; denn die ganze Halde
des Roßberges, bis faſt hinauf zum Gnypenſpitz, deſſen äußerſten
Gipfel ein großes hölzernes Kreuz ſchmückt, war damals mit be¬
wohnten Häuſern überſäet, und drunten im Thal zwiſchen dem
Zuger- und Lowerzer-See lagen die begüterten Ortſchaften Goldau,
[57]Der Goldauer BergſturzBuſingen und Lowerz. Vierhundert und ſieben und fünfzig Men¬
ſchen fanden ein großes gemeinſames Grab unter dem Trümmer¬
felde.


Und bei dieſem ſchrecklichen Ereigniß, welch wunderbare Ret¬
tungsgeſchichten. Faſt zu alleroberſt unterm Spitzenbühl wohnte
damals Bläſi Mettler mit ſeinem blutjungen 19jährigen Weibe
Agathe. Als drüben am Gemeinde-Märcht der hölliſche Spektakel
losging, wähnte der an Hexen und Geſpenſter glaubende Berg¬
bauer, böſe Geiſter trieben dort ihr Spiel. Das heulende Ge¬
ſchrei der Waldeulen hielt er für Jubelgeſang teufeliſcher Dämo¬
nen, das Pfeifen und Brauſen in dem Felsgeklüfte für Jammer¬
rufe verfluchter Seelen, welche ihn warnen wollten, und die
donnernden Einſtürze des Berges für Werke des Satans oder für
Vorboten des jüngſten Gerichtes. Von Jugend auf im Aberglau¬
ben erzogen, vollgepfropft und vollgeſtopft mit Sagen von Schatz¬
gräbern, Kobolden und Unholden, einſam, abgeſchloſſen von aller
menſchlichen Geſellſchaft lebend, ſchuf ihm ſeine rege Phantaſie die
abenteuerlichſten Bilder. Um nun ſich, ſein Weib und Kind zu
ſichern gegen die Angriffe des böſen Feindes, eilte er ſpringenden
Fußes hinab ins Pfarrhaus nach Arth und bat den dortigen geiſt¬
lichen Herrn unter Thränen und Schluchzen, mit ihm hinaufzu¬
kommen und zu benediciren, d. h. die böſen Geiſter zu bannen.
Noch während er jammerte und erzählte, brach die Kataſtrophe
völlig los. Mettler, ganz von Sinnen, zog ſeine Schuhe aus und
rannte wie wahnwitzig ſeinem mehr als eine Stunde entfernten
Hauſe zu. Der Zweifel, ob ſein geliebtes Weib und ſein vier Wochen
altes Kind ein Opfer des Bergſturzes geworden ſeien, brachte ihn
beinahe um den Verſtand. Wie wars unterdeſſen droben gegangen?
Das arme junge Weib in entſetzlichſter Bangigkeit bei dem fort¬
während zunehmenden gräßlichen Getöſe, bei der faſt ununterbro¬
chenen Erſchütterung der Hütte, verlebte während ihres Mannes
Abweſenheit Stunden der unſäglichſten Angſt. Da kam die Zeit
[58]Der Goldauer Bergſturz. heran, in welcher ſie, nach Landesſitte, für ihr Kind den Abend-
Brei zu kochen gewohnt war. Schon hatte ſie Milch und Mehl
eingerührt und das Feuer auf dem Heerde angezündet, um mit
dem Kochen zu beginnen, als der donnerähnliche Knall und ein
Wanken des Hauſes in ſeinen Grundmauern ſie tödtlich erſchreckte.
Unſchlüſſig, ob ſie bleiben oder fliehen ſolle, ſprang ſie in die
Stube, entſchloſſen mit dem Kinde ins Freie zu flüchten, wenn es
wach ſei, — anderenfalls aber deſſen Schlaf nicht zu ſtören und
im Hauſe zu bleiben. Und ſiehe, das Kind lag wachend, ohne
Geſchrei in der Wiege. Eilends reißt ſie daſſelbe unter Herzen
und Küſſen empor, nimmt aus dem Gänterli (Wandſchrank) ihres
Mannes geringe Baarſchaft und eilt über die Schwelle, während
der Boden unter ihren Füßen lebendig geworden zu ſein ſcheint.
Kaum hat ſie den Gaden (Stall) ihres Heimweſens erreicht und
raſtet, athemlos ſich umkehrend, einen Augenblick, als ſie ſteht, wie
ihr ſo eben verlaſſenes Wohnhaus zertrümmert, in jagender Flucht
der Tiefe zugeſchleudert wird, und ein tobendes Meer der Ver¬
wüſtung an ihren umnachtenden Blicken vorüberjagt. So findet
ſie der ſchweißtriefend herbeieilende Bläſi. Bei dem gänzlichen
Verluſte all ſeiner Habe dankte der arme Mann dennoch mit
Thränen der Rührung dem Himmel für die Rettung der Seinen.

Etwa 500 Schritt tiefer wohnte ſein Bruder Baſtian, der
zur Zeit des Bergſturzes mit dem Vieh ſich auf der Allmendweide
am Rigi befand. Die Frau deſſelben aber mit zwei kleinen Kin¬
dern war im Hauſe, als es vom Sturz ergriffen und verſchüttet
wurde. Wie das gräßliche Ereigniß ausgetobt hatte und das
Volk ſich ſchüchtern dem Schauplatz des Schreckens wieder näherte,
eilten auch die Eltern und Geſchwiſter der Frau Mettler hinauf,
um zu ſehen, was aus ihr und ihren Kindern geworden ſei. Vom
Hauſe war keine Spur zu erblicken; Alles lag im großen Trüm¬
mergrabe. Nur in einiger Entfernung von jener Gegend, wo das
Haus geſtanden hatte, lag in Mitte der Schlamm-Maſſe ein mit ge¬
[59]Der Goldauer Bergſturz. dörrtem Buchenlaub geſtopfter Bettſack und auf demſelben ſchlafend,
im Hemdchen das kleinſte Kind. Mit Lebensgefahr ſtieg der Onkel
deſſelben in die breiweiche, mit Steinblöcken untermengte Schutt¬
lauine und rettete den kleinen Schläfer. Nur wenig Schlamm
war ihm ins Geſicht geſpritzt, ſonſt war er völlig unverſehrt.
Welch wunderbare Fügung das Kind in Mitte des tauſendfach
einherbrauſenden Todes erhalten hatte, wie die Trümmer des ein¬
ſtürzenden Hauſes und das ſchwere Dachgebälk gefallen ſein mö¬
gen, ohne das Kind zu berühren, wie dieſes, gleichſam von unſicht¬
baren Händen getragen mit dem gleichen Polſter, auf welchem es
vor der Kataſtrophe ſchlief, auf den Trümmerhaufen mag niederge¬
legt worden ſein, iſt faſt unerklärlich. Jetzt iſts ein 58 jähriger
Mann, Sebaſtian Meinrad Mettler, der in Goldau drunten wohnt.

Die wunderbarſte der vielen Rettungsgeſchichten ereignete ſich
aber in der Gemeinde Buſingen, unweit des Lowerzer-Sees. Dort
bewohnte Joſeph Lienhard Wiget, ein baumfeſter, kerngeſunder
Mann von 32 Jahren ſammt Frau und fünf Kindern ſein ſchönes,
bäuerlich-wohlhäbiges Heimweſen „zum unteren Lindenmoos.“ Er
war ein glücklicher, zufriedener Mann. Als der Bergſturz los¬
brach, war Wiget mit den Seinigen im Grasgarten beſchäftigt
Obſt aufzuleſen, welches Regen und Wind herabgeſchlagen hatten.
Eilends erfaßte der beſonnene Mann, als er den Berg kommen
ſah, ſeine beiden älteſten Knaben und lief mit ihnen einer dem
Roßberge gegenüberſtehenden Anhöhe zu, indem er ſeiner Frau
dringend zurief, ihm mit den kleineren Kindern ſchleunigſt zu fol¬
gen. Die Mutter, welche ein im Hauſe ſchlafendes eilfmonatliches
Kind nicht dem gräßlichen Schickſale preisgeben wollte, flog noch¬
mals in die Wohnung. Ihr folgte durch eine andere Thür die
Magd Franziska mit dem fünfjährigen Marianneli. Im Moment
des Eintretens in die Stube umfinſtert ſich Alles, völlige Nacht
verhüllt das unter Donnerkrachen zerberſtende Haus und die Ar¬
men ſind verſchüttet. Franziska fühlt ſich hin- und hergeſchleudert,
[60]Der Goldauer Bergſturz. niedergeworfen und hat endlich das Gefühl, als ob ſie in einen
endloſen Abgrund ſtürze; die Beſinnung verläßt ſie. Als ſie wie¬
der zu ſich kommt, vermag ſie nicht ſich zu rühren noch zu regen
und fühlt, daß ſie wie eingemauert, rings von kaltem, naſſem
Schlamm umgeben, auf dem Kopfe ſteht. Nur das Geſicht iſt ihr
frei, ſo daß ſie athmen kann. Da wähnt ſie, der Untergang der
Welt ſei eingetreten, alles Lebende vernichtet und ſie allein in
Mitte des Erdballes, in ihrem Grabe das einzige noch lebende
Weſen. So, in tödtlicher Angſt betend, hört ſie eine weinerliche
Stimme, immer lauter werdendes Wimmern; ſie ruft, fragt und
erkennt an der Antwort, daß es die kleine Marianne iſt, von wel¬
cher das Stöhnen herrührt. Trotz der gräßlichen Lage, fühlt ſie
ſich hoch entzückt, noch ein lebendes Weſen, und dazu ein ge¬
liebtes, in ihrer Nähe zu wiſſen. Geſpräch und Austauſch der
Mittheilungen beginnen. Marianneli erzählt, daß es zwiſchen Ge¬
ſträuch und Balken auf dem Rücken liege, ſich nicht rühren könne,
aber durch einen ſchmalen Streifen der Finſterniß ins Grüne
blicken könne. Die fromme Franziska hält es für eine Ausſicht
ins Paradies. Unter anhaltendem Gebet, Seufzen, Klagen und
Weinen vergeht geraume Zeit. Da hören Beide die Töne einer
Glocke. Es iſt das friedliche Abendgeläute vom Steinerberge, die
um 7 Uhr ertönende f. g. „Betglocke.“ Jetzt überzeugt ſich Fran¬
ziska, daß der Welt Untergang noch nicht hereingebrochen ſei, und
leiſes Hoffen auf Rettung dämmert in ihrer Seele auf. Beide
rufen um Hilfe, ſie ſchreien, — aber vergeblich! Todtenſtille wie
im Grabe herrſcht rings in kalter Finſterniß. Jetzt taucht zum
erſten Mal der folternde Gedanke: „Lebendig begraben!“ in Fran¬
ziskas Seele auf. Aber ſie muß ihn niederkämpfen, verbergen vor
dem armen Kinde, um deſſen Angſt nicht noch zu vermehren. Sie
hören das ſpätere „zu Nachtläuten“ in Steinen und beten aufs
Neue, ohne Unterbrechung, ſtundenlang; — aber keine Errettung
will ſich zeigen. Nun empfindet das Kind auch ſtechende Schmer¬
[61]Der Goldauer Bergſturz.zen am Unterkörper und die Marter nagenden Hungers. Fran¬
ziska will vor Leid vergehen, ihrem Liebling nur leere Troſtesworte
ſtatt reeller Speiſe und Labung reichen zu können. Sie muntert
daſſelbe unter allerlei Vorſpiegelungen (an deren Erfüllung ſie
ſelbſt nicht glaubt) auf, ſich zufrieden zu geben und ſucht das
arme leidende Weſen zu beſänftigen. Die Klagen des Kindes
werden immer ſchwächer, immer gebrochener, unartikulirter, — end¬
lich ſchweigen ſie ganz. — „Gott ſei Dank, es hat es überſtan¬
den!“ — ſeufzt das treue Mädchen und bereitet ſich ſelbſt zum
Abſchiede vom Leben vor; denn die Leidensſtunden fangen jetzt
an faſt unerträglich zu werden, und Todeskälte durchſchauert, fieber¬
haft ſchüttelnd, Mark und Bein. Nach entſetzlich mühevollen, lan¬
gen, langen Verſuchen gelingt es ihr endlich, die Füße aus dem
umgebenden feſten Schlamm etwas zu befreien, ſo daß ſie dieſel¬
ben bewegen und dadurch wieder einige Cirkulation des Blutes
hervorrufen kann. Der ganze übrige Körper bleibt nach wie vor
ſtarr eingemauert. Wie entſetzlich martervoll eine ſolche Lage ſein
mag, vermögen Worte nicht auszumalen.


Endlich iſt eine ganze lange Nacht in dieſem halbtodtähnli¬
chen Zuſtande durchwacht. Die Morgenglocke am Steinerberge
und dann auch die zu Steinen ertönt; ſie läutet abermals Hoff¬
nung in das beinahe gebrochene Herz. Wiederum entſtrömen tief¬
innige Gebete ihren krampfhaft gepreßten Lippen, und wie ein
Strahl der aufgehenden Sonne dringt gewaltſam die zuverſichtliche
Ueberzeugung in ſie ein, daß ſie heute errettet werde. Da! — o
Wunder! ertönt auch wieder die Stimme des geſtorben geglaubten
Kindes! Ein krampfhafter Schlaf hatte ihm die Nacht abgekürzt.
Es klagt aufs Neue über Hunger, heftige Schmerzen und ruft der
Franziska, ihr zu helfen.


Mit Tagesanbruch war der troſtloſe Gatte und Vater mit
ſeinen beiden Knaben wieder an die Schauerſtätte geeilt, wo er
ſchon am vorhergehenden Abend gearbeitet, um womöglich die
[62]Der Goldauer Bergſturz. Leichen ſeiner geliebten Angehörigen aufzufinden. Die verfloſſene
Nacht war die qualvollſte ſeines Lebens geweſen. Ein Bettler,
obdachlos, verwaiſt hatte er, der kurz zuvor begüterte Mann, die
Barmherzigkeit anderer Menſchen für ſich und ſeine beiden Knaben
anſprechen müſſen. Alſo mit Tagesanbruch begann er, unterſtützt
von Freunden, aufs Neue ſeine Nachſuchungen. Nach ſtunden¬
langem Arbeiten erblickt er endlich einen Fuß, dann Kleider. Es
iſt ſein Weib! Mit haſtiger Sorge arbeitet er, ſchafft, ſeine Rieſen¬
kräfte aufs Aeußerſte anſtrengend, mit Leichtigkeit gewaltige Maſſen
zur Seite und hat endlich den ganzen Körper vom Schutt befreit.
Da liegt die entſeelte Gattin, zerquetſcht, ein Opfer ihrer Mutter¬
liebe und Muttertreue, die beiden kleinſten Kinder ans Herz ge¬
preßt. Wilder Schmerz durchraſt die Seele des armen Mannes,
laut heulend ſtürzt er nieder neben den geliebten Leichnamen und
erfüllt die Luft mit ſeinen herzzerreißenden Klagen. Aber, o wun¬
derbare Fügung! Dieſe Jammerlaute dringen bis in die Gräber
der beiden lebend Verſchütteten. Beide rufen und ſchreien um
Hülfe und die draußen Stehenden vernehmen es. Zuerſt wird
nach langem Suchen Marianneli gefunden, befreit und hervorge¬
zogen. Des Kindes Schenkelbein war zerbrochen. Dann ſpäter
fand man auch die Magd. Beide wurden dem Leben zurückge¬
geben. Vierzehn volle Stunden hatten ſie mit Körperleiden, Tod
und Verzweiflung lebendig begraben gekämpft.


Die Meiſten der Verſchütteten werden eines jähen, momen¬
tanen Todes geſtorben, ihr Körper zerſchmettert worden ſein. Aber
wie Viele mögen auch, ähnlich der erretteten Franziska, in der
Tiefe der Schutt- und Schlamm-Maſſen mit gebrochenen Gliedern
oder völlig unverletzt, körperlich geſund noch Tage lang geſchmach¬
tet und der Erlöſung entgegengehofft haben, um endlich in Ver¬
zweiflung dem qualvollen Hungertode zu erliegen? —


Die Summe der damals aus den genannten Ortſchaften
mittelbar durch Hilfe oder unmittelbar durch beſonnene ſchleunige
[63]Der Goldauer Bergſturz. Flucht oder durch Abweſenheit vom Hauſe Geretteten beträgt etwa
die Hälfte (220) der durch den Sturz ums Leben Gekommenen. —
Erſchütternd und wahrhaft tragiſch iſt das Schickſal einer Reiſe¬
geſellſchaft, welche den Rigi (in Vorausſetzung baldiger Beſſerung
des Wetters) erſteigen wollte. Sie beſtand aus Mitgliedern alter,
edler Familien: dem Herrn v. Diesbach und ſeiner Gemahlin,
einer geb. v. Wattenwyl, dem Frl. v. Diesbach, dem Obriſt Victor
v. Steiger, den Herren Gebrüder May, Jenner von Breſtenberg,
einigen Knaben und deren Informator, einem Herrn Jahn aus
Gotha. Am Spätnachmittage hatte die Geſellſchaft Arth verlaſſen
und wollte zu Fuß nach Schwyz wandern; die Beſteigung des
Rigi hatte man aufgegeben. Herr von Diesbach, die Gebr. May
und der Lehrer waren einige hundert Schritt hinter der übrigen
Reiſegeſellſchaft zurückgeblieben und ſahen dieſelbe ſcherzend und
plaudernd ins Dorf Goldau einwandern. Eben wollten auch die
Zurückgebliebenen die verhängnißvolle Stätte betreten, als der
Donnerton des Einſturzes ſie erſchreckte. Sie blicken hinauf, ſehen
die Maſſe in wilder Bewegung dem Thale zujagen und flüchten
eiligſt auf der Straße zurück, in der ſichern Vorausſetzung, daß
ihre vorangegangenen Freunde ein Gleiches thun werden. Unweit
des Punktes, wo ſie erſchöpft raſten, ſchlagen Steinhagel und
Felsgetrümmer nieder. Als der entfeſſelte Aufruhr ſich gelegt, eilen
ſie wieder dem nunmehr verſchütteten Dorfe zu. Soweit das
ſpähende Auge blickt, — nur Zerſtörung, nur Schuttwälle, nur
wüſtes Chaos, — kein Zeichen, nicht die mindeſte Andeutung von
dem nur zu gewiſſen Schickſal der verunglückten Freunde und An¬
gehörigen. Der Schmerz der Zurückgebliebenen und ihr Jammer
um den Verluſt ſoll herzzerreißend geweſen ſein.


Noch jetzt bildet das Trümmerfeld von Goldau ein Wanderziel
aller Reiſenden, die den Rigi und den Vierwaldſtätter-See beſuchen.


Mehre Jahrzehnte hindurch ſah die ganze Gegend, in welcher
einſt Goldau lag, erſtorben, unheimlich-ruinenhaft, wie eine vom
[64]Der Goldauer Bergſturz. Fluch betroffene Stätte aus; bei Schritt und Tritt erinnerten
Felſenſcherben den Wanderer an den ſchaudererregenden 2. Sep¬
tember 1806. Jetzt hat die Zeit gemildert und die ſchmückende
Hand der Vegetation jene traurigen, erinnernden Eindrücke etwas
verwiſcht. Jene Trümmergeſteine ſind mit Moos und ſaftigen
Saxifragen überkleidet, luſtig wuchern violblaue Kampanulen und
duftender weißer Steinklee aus den Rispengräſern und Diſtel¬
pflanzen zwiſchen dem Schutt hervor, — anſtrebendes Buſchwerk
und zerſtreutes Tännicht überſchatten die Felſenblöcke, und wenn
kommende Generationen in das neue Jahrtauſend übertreten, wer¬
den nur undeutliche Umriſſe noch auf die große Grabesſtätte hin¬
deuten.


Längſt über alten Schutt iſt unermeſſen
Geworfen friſcher Triften grünes Kleid;
Gleich wie ein ſtilles, freundliches Vergeſſen
Sich ſenkt auf dunkler Tag' uraltes Leid.
(A. Grün.)
[[65]]
Figure 2. Bannwald.

Druck von F. A. Brockhaus in Leipzig.

[][]

Der Bannwald.

Die Wurzeln ſind verſunken in Nacht,
Mit Runzeln iſt der Stamm bedeckt,
Doch ſein Geäſt in Jugendpracht
Sich grün und friſch in die Wolken ſtreckt.
Was unten am Stamm verrunzelt ward
In Knorren und Riſſen rauh und hart,
Das blüht hoch oben ſüß und hold
Und trinket freudig der Sonne Gold.
Max Waldau.

Es giebt in der Welt der Organismen keine Erſcheinung, die
in ſo vollendetem Einklange mit der ſtillen Erhabenheit der Cen¬
tral-Alpen ſteht, wie der Gebirgs-Urwald. Der Grundbegriff vege¬
tativer Beſchaulichkeit und ſinnenden, träumeriſchen Pflanzenlebens
erhält durch ihn ſeinen höchſten ſichtbaren Ausdruck; in ihm tritt
uns noch das volle, freie Walten der Natur in großen, markigen
Zügen entgegen. Der wohlbewirthſchaftete, regelrecht gezogene
und gepflegte Kulturforſt des Tieflandes iſt eine abgeſchwächte Er¬
ſcheinung gegenüber der patriarchaliſchen Würde und dem hohen
greiſenhaften Ernſt eines alten Bannwaldes in den Alpen. Beide
verhalten ſich zu einander wie die praktiſche, nüchtern-berechnende
Neuzeit zu dem romantiſchen, urkräftigen, wilden Mittelalter.
Denn in der That ragt der Alpen-Urwald als ein Stück vorzeit¬
lichen Lebens in unſere Tage herüber und mancher der mehrhundert¬
Berlepſch, die Alpen. 5[66]Der Bannwald.jährigen Bäume war einſt Zeuge der Großthaten, welche heute die
Sage verherrlichet.


Die Bezeichnung „Urwald“ hat durch fremde Reiſebeſchrei¬
bungen eine ſo ausgeprägte Begriffsgränze bekommen, daß unſere
Phantaſie unwillkürlich einen Gedankenſprung über den Ocean
macht. Es läßt ſich aber ein Vergleich mit dem amerikaniſchen
Urwalde nur inſofern aufſtellen, als man damit den jungfräuli¬
chen Urnaturzuſtand des von der menſchlichen Kulturhand noch un¬
berührten Alpenwaldes bezeichnen will; dieſer iſt das einzige, bei¬
den eigenthümliche charakteriſtiſche Merkmal. In allen anderen
Beziehungen beruhen ſie auf den entſchiedenſten Gegenſätzen.


Der tropiſche Urwald zeigt einen unermeßlichen Reichthum
von Pflanzenformen in den feurigſten und prangendſten Farben,
eine ſo unerſchöpfliche Individuenzahl, daß der Bodenraum von
geringem Umfang dem Naturforſcher Ausbeute, Beſchäftigung und
Studienſtoff für lange Zeiten bietet. — Der Alpenurwald da¬
gegen iſt einförmig, anſpruchslos; verhältnißmäßig nur wenige
Charakterpflanzen bilden die Elemente ſeiner Zuſammenſetzung.
Aber auch dieſe bieten in ihren normalen Körperformen wiederum
nichts Auffallendes, Fremdartiges dar. Noch weniger prangt der
Alpenwald in anziehendem Farbenſchmucke; dunkeles, ernſtes Ko¬
lorit iſt allenthalben über ihn ausgegoſſen und nur gebrochene,
trübe Tinten ſchleichen ſcheu ineinander über. — Vergleicht man
dann vollends das biologiſche Moment beider, ſo giebt uns der
amerikaniſche Urwald ein vollendetes Bild des üppigſten, unver¬
wüſtlichſten, ſiegreichen Lebens, eine Verherrlichung der vegetabi¬
liſchen Wiedergeburt; er iſt ein ununterbrochener Jubel der Auf¬
erſtehung, das immerwährende Oſterfeſt im Pflanzenreiche; überall
verbirgt ſich der Akt der Auflöſung unter der reichen, überwuchern¬
den Blätterfülle des jungen ſchimmernden Nachwuchſes, und die
Seligkeit ewiger Jugend ſcheint hier zu herrſchen. Der Alpen¬
urwald iſt ein ſtiller Todtenacker, eine jener trüben, finſteren Ver¬
[67]Der Bannwald. weſungsſtätten der Natur, wo Leben und Zerſtörung in materieller
Wechſelwirkung unmittelbar in einander übergreifen. In düſterer
Schwermuth umſtehen die zähen, dunkelgrünen Arven und ſchlanken
Lärchenbäume die modernden Leichen ihrer Vorfahren, — paraſitiſch,
ſaugt und trinkt der wuchernde Schwamm Lebenskraft und Leibes¬
nahrung aus dem Zellengerippe ſeines abgeſtorbenen Stammes.
Und endlich gar das Thierleben, das kreiſchende, flatternde,
ſchreiende, brüllende Thierleben des amerikaniſchen Waldes gegen
die monotone, öde, ſchaurige Stille des alpinen Gebirgsforſtes!
Welch grelle Gegenſätze! Dort tumultuariſcher Lärm zankender Pa¬
pageien, akkompagnirt vom ſchauerlichen, ſchrillen Geſchrei raufen¬
der, bösartiger Affen, widerliche Figurationen in der ergreifenden
Harmonie der Cicaden, die das großartigſte Conzert in den bra¬
ſilianiſchen Urwäldern aufführen; dazwiſchen das wimmelnde Leben
unzähliger Libellen und metallblanker Fliegen, die wie blitzende
Juwelen die Luft durchſummen, das unheimliche Huſchen fliehender
großer Echſen, das Raſcheln ringelnder Vipern und Schlangen
und die ſchauerweckenden heulenden Klagetöne einer Menge unge¬
ſehener Thiere aus dem Innern des ungeheuerlichen Pflanzenlaby¬
rinths, — während der Alpen-Hochwald höchſtens vom hohlen,
hämmernden Takte der Spechte widertönt, oder aus hoher Luft
der pfeifende, gezogene Ruf der Adler und Geier die lautloſe
Stille unterbricht. Nur bisweilen rafft die todte Natur ſich auf
und ſtimmt Donnerakkorde an, wenn die Elemente im Streit
liegen, die Waldbäche ſchäumend austreten und über Felſentrüm¬
mer ihre Sturzwellen peitſchen, oder die Lauinen in die Tiefe her¬
niederwettern und der Sturm brauſend durch die Wipfel fegt.


So arm und finſter, ſo verſchloſſen und rauh der Alpenurwald
ſeinem Milchbruder jenſeit des Weltmeeres nachzuſtehen ſcheint, —
ſo wunderbar geheimnißvolle Eigenthümlichkeiten und ſeltſame,
wilde Reize birgt ſeine ſchauerliche Tiefe.


Nicht jeder Bannwald iſt ein Urwald. Der letzteren giebt es
5*[68]Der Bannwald.eigentlich wenige mehr. Nur in den ſchwach bevölkerten und ſtark
bewaldeten großen Hochalpenkantonen Graubünden und Wallis
trifft man ſie noch an, und auch hier nur in den Territorien der¬
jenigen Gemeinden, welche Holzüberfluß haben, oder deren Wälder
zum Theil ſo tief, verſteckt und unzugänglich im Gebirge liegen,
daß die Transportkoſten des Herausſchaffens beim Abholzen den
üblichen Marktwerth des Holzes aufzehren würden. Dies iſt na¬
mentlich der Fall in den umfangreichen uralten Waldungen Unter¬
engadins: im Val Sampuoir (der Gemeinde Schleins), im Scher¬
genthal unterm Piz Mondin, im Liſchana-Tobel am Piz St. Jon,
in mehren Seitenpartieen des Scarlthales, im Val Zeznina, in
der Waldung Surſa ſalm des Uinna-Thales, und ganz beſonders in
dem großen Dubenwalde des Turtman-Thales im Wallis.


Bannwälder dagegen hat jedes Hochgebirgsdorf, das von jäh
anſteigenden Thalwänden eingeſchloſſen und deshalb von Lauinen,
Steinſchlägen oder Erdrutſchen bedroht iſt. Der Bannwald iſt
eine durch die Umſtände gebotene Vorſichtsmaßregel, nicht eine
durch Holzüberfluß herbeigeführte Vernachläſſigung des Forſtbetrie¬
bes. Es giebt Gemeinden, die, in Folge ſchlechter Forſtwirthſchaft,
entſchiedenen Mangel an Brennmaterial haben, daſſelbe kaufen,
ſtundenweit aus anderen Gemeindewaldungen herbeifahren müſſen,
und dennoch nahe über ihren Häupten große Bannwaldungen
ſtehen haben, die ſie nicht abholzen dürfen. Ein Beiſpiel dieſer
Art giebt das Dorf Andermatt im Urſerenthale mit dem darüber¬
liegenden St. Anna-Walde.


Der Bannwald hat die Aufgabe, durch die Summe ſeiner
hochaufſtehenden ſtarken Baumſtämme, das Losbrechen und Herab¬
rutſchen der während des Winters ſich anhäufenden Schneemaſſen,
alſo die Bildung von Grundlauinen zu verhindern, nicht, wie
man gewöhnlich glaubt, Lauinen, die bereits in Gang gekommen
ſind, wie ein Damm aufzuhalten. Gegen letztere würde ein ſol¬
cher Wald nur wenig Jahre Widerſtand leiſten; in jedem Frühjahr
[69]Der Bannwald.würden die oberen Waldesränder durch den jähen Anprall der
Lauinen (die, wie erzählt, ihre regelmäßigen Abzugskanäle oder
„Lauinen-Züge“ haben) ſtark beſchädigt und die jeweilig vorderſten
Baumreihen wie Strohhalme umgeknickt werden; nach wenigen
Jahrzehnten möchte ein wüſter Holz- und Steintrümmerhaufen ſtatt
des ſchützenden Bannwaldes zu erblicken ſein. Dieſe Vorkehrungs¬
nothwendigkeit ſahen die Alpenbewohner ſchon vor Jahrhunderten
ein und ſchonten deshalb die geeigneten Waldungen, legten ſie „in
Bann“, d. h. erklärten ſie durch Gemeindebeſchluß als unantaſt¬
bar. Und wie in früheren Zeiten gar oft die Strafe für die
Ueberſchreitung eines Geſetzes in ungeheuerliche, myſtiſche, mit dem
Volksaberglauben in engſter Beziehung ſtehende Wunderakte ge¬
kleidet wurde, welche unſichtbare Mächte über den Verbrecher
verhängen, ſo galten auch die Bäume des Bannwaldes als ge¬
heiligte Gegenſtände. Schiller hat dieſen Volksglauben in ſeinen
Wilhelm Tell (3. Akt, 3. Scene) eingewebt. Der Knabe Wal¬
ther
fragt:


„Vater, iſts wahr, daß auf dem Berge dort
„Die Bäume bluten, wenn man einen Streich
„Drauf führte mit der Axt —


Tell:

Wer ſagt das, Knabe?


Walther:

Der Meiſter Hirt erzählts — die Bäume ſeien
Gebannt, ſagt er, und wer ſie ſchädige,
Dem wachſe ſeine Hand heraus zum Grabe.


Tell:

Die Bäume ſind gebannt, das iſt die Wahrheit.
— Siehſt Du die Firnen dort, die weißen Hörner,
Die hoch bis in den Himmel ſich verlieren?


Walther:

Das ſind die Gletſcher, die des Nachts ſo donnern
Und uns die Schlaglawinen niederſenden.


Tell:

So iſts, und die Lawinen hätten längſt
Den Flecken Altdorf unter ihrer Laſt
Verſchüttet, wenn der Wald dort oben nicht
Als eine Landwehr ſich dagegen ſtellte.

Der Glaube, daß es blutende Bäume gebe, war im Mittel¬
alter weit verbreitet. Die Blutlinde auf Burg Freienſtein bei
Wiesbaden ſoll ihren Namen daher haben; die heilige Eiche zu
[70]Der Bannwald. Romove blutete, als die preußiſchen Ordensritter ſie fällten; ebenſo
der berüchtigte Holzbirnbaum im Walde bei Lupfig (Kant. Aargau),
und nordiſche Mährchen berichten viele ähnliche Geſchichten (vgl.
Rochholz, Schweizerſagen).


Die Forſtkultur, welche bis in die allerjüngſte Zeit gerade in
den Hochalpenkantonen ſo zu ſagen gar nicht exiſtirte, konnte ſich
ſomit auch nicht auf eine rationelle Behandlung der Bannwälder
erſtrecken. Dieſe waren und ſind zum Theil noch Prototype des
ſinnloſeſten, ſchädlichſten Konſervatismus. In der Meinung, daß
durchaus kein Stamm gefällt werden dürfe, wurden die mehrhun¬
dertjährigen Bäume abſtändig, ſtürzten um und beſchädigten durch
ihren Fall nicht nur die nebenſtehenden, jüngeren, kräftigen Bäume,
ſondern zerſtörten auch dadurch, daß der Stock ſammt Wurzeln und
Ballen aus der Erde riß, die meiſt dünn auf den Felſen liegende
Bodenſchicht der Dammerde. Oder wo der Windbruch ein Stück
Wald warf, da nahmen die Gemeindeangehörigen gerade eben das
Holz heraus, was ihnen momentan dienlich war, und ließen das
übrige liegen, wodurch begreiflich die Regeneration, der junge,
kläftige Nachwuchs ſehr gehindert wurde. Darum ſehen viele Bann¬
wälder, namentlich in den Urkantonen und im Teſſin, Wallis und
Graubünden entſetzlich wild und zerſtört aus. Eine Wanderung
durch einen ſolchen wird uns näher vertraut mit ſeinen charakte¬
riſtiſchen Eigenthümlichkeiten machen.


Alle Bannwälder beſtehen faſt nur aus Nadelholz, beſonders aus
Arven oder Zirbelkiefern (Pinus cembra) und Lärchen (Pi¬
nus larix
), die vorherrſchend in den öſtlichen Alpen, namentlich
in der rhätiſchen Plateaubildung als geſchloſſene Maſſen bis zu
6000 pariſ. Fuß übers Meer anſteigen, — und aus Rothtan¬
nen
oder Fichten (Pinus abies L.) und Kiefern (Pinus syl¬
vestris
), auch „Dähle“ genannt, die mehr in den weſtlichen Alpen
die Waldbeſtände bilden und deren ſammethafte Vegetations¬
gränze meiſt ſchon bei 5500 Fuß aufhört. — Das Holz der
[71]Der Bannwald.Alpenbäume iſt, weil es unter dem hindernden klimatiſchen Ein¬
fluſſe langdauernder Winter viel langſamer wächſt, auch viel der¬
ber, zäher, feſter, härter, engere Jahresringe abſetzend, als das des
tiefliegenden, in fetter Dammerde wurzelnden, raſch wachſenden
Waldes der Hügelregion oder des Flachlandes. Darum hat der
Baum des Alpenwaldes nicht nur bei einem Alter, wo er drunten
als ſchlagfähig und ausgewachſen angeſehen wird, ein noch viel
unausgebildeteres Ausſehen, ſondern ſein Wuchs wird auch ge¬
drungener, trotziger, widerſtandsfähiger, ohne deshalb, wenn er
nach Jahrhunderten ſeine möglichſte Größe erlangt hat, niedriger
zu ſein als die Tanne, Lärche und Kiefer des Tieflandes. Laub¬
holz kommt in den Waldungen der Hochwälder äußerſt wenig vor;
die einzigen Laubbäume, welche hin und wieder einige Verbrei¬
tung haben, ſind der Berg-Ahorn(Acer pseudoplatanus L.)
und die weißſtämmige Birke(Betula alba), die bis 5000 Fuß
anſteigen. Weiter hinauf, über die hier angegebenen Gränzen hin¬
aus, hört die Waldform auf, die Bäume bilden keine geſchloſſenen
Beſtände mehr, ſtehen zerſtreut umher und gehen endlich in Zwerg¬
formen oder ſ. g. Knieholz über.


Am Bedeutendſten iſt das Leben der kleinſten und niedlichſten
Pflanzenorganismen, der Laub- und Lebermooſe und der
Flechten in dieſen Wäldern entwickelt. Ganz beſonders reiche
Fundgruben erſchließen ſich dem Bryologen auf den granitiſchen
Centralknoten und Waſſerſcheiden der Alpenkette. Von der wu¬
chernden Fülle der oft mehr als Fuß hoch ſchwellenden Polſter,
welche die Mooſe am Boden große Strecken weit bilden, macht
man ſich kaum einen wahren Begriff. Alles überkleiden, um¬
ranken, beſpinnen ſie mit ihren reizenden, unendlich mannigfaltigen
Formen; ſie ſind gewiſſermaßen das mildernde, verwiſchende, aus¬
ſöhnende Element der Pflanzenwelt in dieſen finſteren Baumlaby¬
rinthen, unter deren weichen Umarmungen die Trümmer allmählig
dem Blicke entzogen werden und verſinken. Was der heißdampfende,
[72]Der Bannwald. Schlangen und gefährliches Gewürm bergende Blätterboden für die
tropiſchen Urwälder iſt, das ſind die dichten Mooskiſſen für die
Alpenwälder. Niſtet in ihnen nun gleich nicht jene den Natur¬
forſcher bedrohende Natternbrut, ſo ſind ſie doch für den, welcher
einen alten Bannwald durchklettern will, nicht minder gefährlich,
weil in dieſen unheimlich elaſtiſchen Maſſen kein ſicherer Tritt zu
finden iſt und der Fuß, zwiſchen verborgene Steine tretend, leicht
umknicken und durch eine Bänderluxation beſchädigt werden kann.


Das ausgedehnteſte Kontinent ſtellen die Aſtmooſe oder
Hypnaceen, von denen Hypnum triquetrum und splendens
als die, auch in den Wäldern Deutſchlands verbreitetſten, am Be¬
kannteſten ſind. Außer dieſen beiden Arten füllen die Alpenwälder
noch Hypnum molluscum die lebhaft grün leuchtenden H. den¬
ticulatum und sylvaticum, das gelbbräunliche H. tamariscinum,
das ſaftige, feuchte, lange Ranken treibende H. purum und das
wunderſchöne H. striatum mit ſeinen zarten grünen Fühlfäden
und den auf haardünnen Stengeln neugierig die Sammetfläche
überſchauenden kümmelkornähnlichen Saamenkapſeln. Faſt ebenſo
maſſig treten die Gabelmooſe auf, ganz beſonders der reiſer¬
ſtengelige Gabelzahn (Dicranum scoparium), leuchtend ſaftgrüne,
atlasglänzende, mollige Polſter webend und das, weit umfang¬
reicher ſich veräſtelnde wellenförmige Gabelmoos (D. undulatum).
Dazwiſchen ſchmarotzen eine Menge Flechten, unter denen Cetraria
islandica
, das isländiſche Moos und C. cucullata, die
Tartſchenflechte ihren korallenartigen Aſtbau am Bemerkbarſten
hervorſchieben.


Aus dieſer dichten Moosdecke ragen die knorrigen, riſſig¬
grauen Arven, die harzſpendenden, luftiggenadelten, ſchlanken Lär¬
chen und ockerbraunen Tannen wie aus einem großen, warmhalten¬
den Winterpelze hervor. Nur an etwas lichteren Stellen und
Waldblößen haben graugrüne Heidelbeerſträuche (Vaccinium
Myrtillus
), das Herrgottsſüppli oder Sauerklee (Oxalis aceto¬
[73]Der Bannwald.sella), der gemeine Kellerhals (Daphne Mezereum), die kugel¬
köpfige Klettendiſtel (Carduus personata), die wollköpfige
Kratzdiſtel (Cirsium eriophorum), der kriechende, ſchlangen¬
ähnliche Bärlapp (Lycopodium annotinum), die keck aufſtreben¬
den Zirkelgruppen von Farrenkräutern, namentlich Aspidium
lonchitis
, lobatum, Cystopteris montana und Polypodium al¬
pestre
, der weiße Germer (Veratrum album), und wo es noch
luftiger und freier wird: das niedrige Geſtrüpp des Zwergwach¬
holders
(Juniperus nana), das Berg-Johanniskraut (Hype¬
ricum montanum
), das Weidenröschen (Epilobium alpestre
und Gesneri) mit ſeinen karminglühenden Kronen, die heideartige
reizende Azalea procumbens mit ihren lederartigen Blättern und
viele andere Alpenpflanzen ſich emporgekämpft und dominiren über
die Mooſe.


Wir verlaſſen aber den Bannwald noch lange nicht; wir
dringen erſt recht in ſeine ſtillen, geheimnißvollen Verſtecke ein.
Der Weg bergauf, durch das die Füße immer mehr umſtrickende
Moos, in welches man bis in die Kniee einſinkt, wird immer be¬
ſchwerlicher. Bald verſperrt ein entwurzelter, bleich vermodernder
Stamm das Fortkommen. Er muß überſtiegen werden. Es folgen
noch ein zweiter, dritter und weiter hinauf ein ganzes Verhau,
eine förmliche Naturbarrikade. Gleich zerbrochenen Schwefelhöl¬
zern liegen die entſchalten, grau-vermodernden Todtenknochen des
Waldes umher; —


In dunkler Nacht, wenn Stern' und Mond nicht glänzen,
Umquillt phosphoriſch Licht den morſchen Baum.
Traun ihn umwallt von ſeinen todten Lenzen
Ein leuchtender und ſchöner Grabestraum.
 
(A. Grün.)

Es iſt das Schlachtfeld einer Lauine, die der Frühling als
donnernden Liebesgruß ſeinen Kindern herabſandte. Daneben liegt
die Bahn, die ſie durchfahren; die alten, bleichen, vermorſchten
Stämme, die ihre Umarmung tödtete, bezeichnen den Weg, an dem
die Schleppe ihres Schneekleides hinſtreifte. — Welch ein Bild
[74]Der Bannwald. der Zerſtörung! Welch groteske, abenteuerliche Gruppirungen von
zerſplitterten Bäumen, übereinander gewälzten Geſteinstrümmern,
hochaufgeworfenen Schuttwällen, durchwühlten Erdhaufen und Ge¬
ſtrüppfaſchinen! Und wie geſchäftig umklettern Flechten, Pilze
und Mooſe die Gefallenen und ſaugen ihnen gierig die letzten
Lebenstropfen aus. Orthotrichum speciosum, dieſes lebhaft¬
gelbgrüne Moos, das auch die alten Obſtbäume des Flachlandes
nicht unverſchont läßt, überzieht in Gemeinſchaft einer Unmaſſe
von grauen und fahlen Flechten das abgeſtorbene Tannengezweige
gänzlich. Die Stämme umkriecht in gewundenen Ranken die
Georgia mnemosynum; in den Spalten und Rißwunden haben
freudiggrüne Aſtmooſe, namentlich Hypnum puichellum und
serpens ſich angeſiedelt, äußerſt zarte, lebhaft-purpurrothe Frucht¬
ſtielchen treibend; an manchen Stellen breiten ſich Knotenmooſe
wie Bryum longicollum und capillare als dicht gedrängte Schöpfe
gelbgrün-glänzend, große Flächen in Beſchlag nehmend, aus. Dies
ſind nur einige der form- und farbeſchönen Paraſiten, die durch
die Zierlichkeit ihres Baues und ihren leuchtenden Glanz das
Auge entzücken. Dazwiſchen aber drängen ſich Legionen unſchöner
Flechten hervor, wie die graugrüne Biatora icmadophila mit den
fleiſchfarbenen Apothecien, die ungemein große hellbraune Sticta
pulmonacia,
die ſchmutzig-zinnoberrothe Lepra cinnabarina und
die ſchwefelgelbe, ſtaubige L. sulphurea u. a.


In dieſen mikrokosmiſchen Anſiedelungen der Pflanzenwelt
lebt und webt nun eine Inſekten-Bevölkerung von Raubſpinnen
und Ameiſen, Tauſendfüßlern und Milben, Käfern, Fliegen und
Würmern in beſtändigem Kriege, gräbt ſich Höhlen in der korkig¬
ſchwammigen Textur des verfaulenden Holzes, ſpinnt ſich Neſter
zwiſchen den Mooszweigen, verſchanzt ſich unter dem Thallus der
Flechten, liegt im Hinterhalt auf dem Sprunge, oder beſorgt mit
ängſtlicher Geſchäftigkeit die häuslichen Bedürfniſſe der kleinen
Oekonomie. Welch eine unendlich reiche Welt im Kleinen erſchließt
[75]Der Bannwald. ſich hier in Mitte der großen, ſcheinbar erſtorbenen Waldesein¬
ſamkeit? Welch ein unabſehbares Feld für die Forſchungen des
Naturfreundes umfaßt ein einziger vermodernder Baumſtrunk mit
ſeinen ſichtbaren und verborgenen Bewohnern? Ein ganzes Men¬
ſchenalter würde nicht ausreichen, um den Lebensprozeß und die
Lebensaufgabe eines jeden dieſer unſcheinbaren, minutiöſen Thier¬
chen, ſein Entſtehen und Vergehen, den Organismus ſeines Kör¬
pers und die Funktionen der einzelnen Glieder, ſein Schlafen und
Wachen, ſein Genießen und Ertragen, ſeine Neigungen, Bedürf¬
niſſe und Kämpfe, ſeine Lebensdauer und ſeine Abhängigkeit vom
großen allgemeinen Schöpfungsgeſetze, und wiederum die Be¬
ziehung und das gegenſeitige Verhältniß aller untereinander er¬
gründen zu können. Die Gränzen unſerer Forſchung ſind be¬
ſchränkt. „Der Menſch iſt nicht geboren, die Probleme der Welt
zu löſen, wohl aber zu ſuchen, wo das Problem angeht, und ſich
ſodann in der Gränze des Begreiflichen zu halten.“ (Goethe.) —


Durch dieſen improviſirten Natur-Plänterſchlag weiter vorzu¬
dringen iſt faſt unmöglich; zu Hunderten liegen die entwurzelten,
zerſpällten, gebrochenen Stämme umher, durch- und übereinander
geworfen und wehren mit den hinausſtarrenden nackten Aſtarmen
und den gen die Wolken gekehrten Wurzelknorren jeder Annähe¬
rung. Dazwiſchen aber ſproßt junges, ſtrammes Tännicht auf; ja
ſogar aus den Rumpfen der abgeknickten Waldrieſen ſtrömt neues
Leben und beſtrebt ſich zu grünen, zu regeneriren. — Einige hun¬
dert Schritte ſeitwärts tieft ſich ein Tobel ab, — der Gletſcher¬
bach rauſcht dumpf herauf, — dort wird etwas beſſer fortzukom¬
men ſein.


„Tobel“ heißen in den Schweizer Alpen jene unangebauten,
menſchenleeren, kleinen Seitenthäler, oder zwiſchen hohe, bewaldete,
felſenriſſige Berge eingeſchnittene Schluchten, deren Tiefe ein Flu߬
bett ausfüllt, ſo daß die Thalſohle für den Verkehr unpraktikabel
iſt. Die Wände fallen gewöhnlich ſehr ſteil ab und das Ganze
[76]Der Bannwald.endet in einer wilden unbetretenen Waldung oder in einer jäh
gegen den Gebirgskamm anſteigenden, öden, aller Vegetation ent¬
blößten, trümmerbedeckten Rüfe oder Runſe. Es iſt ein uralt deut¬
ſches Wort, das ſchon in Notkers Pſalmen vorkommt. Im Kant.
Bern nennt mans „Krachen“, in den franzöſiſchen Bergen „Gorge“.
In dieſe wüſten, unheimlichen Tobel verlegt der Volksglaube den
Aufenthalt böſer Geiſter und geſpenſtiſcher Unholde. Die Be¬
wohner der Umgegend von Bellinzona laſſen im Sementina-Tobel
die Seelen der Geizhälſe, ungerechten Vormünder und Wucherer
ſchmachten; der Lenker ſchreibt die Schlamm-Ergüſſe und Verhee¬
rungen, welche aus der Jllhorn-Schlucht hervorbrechen, dorthin
verbannten Verfluchten zu; vom Skalära-Tobel weiß der Stadt-
Churer viel ungeheuerliche Sagen von polternden Dämonen,
„Heerdmandli und Mooswybli“ zu erzählen, — und das ſ. g.
Enziloch unterm ausſichtreichen Napf im Entlibuch gilt ausſchlie߬
lich als die Heimath abgeſchiedener reicher Blutſauger und Arme¬
Leute-Bedrücker; gemeiniglich werden ſie nur die Thalherren ge¬
nannt, und wenn Nachts der Sturm die Schlucht durchheult, daß
die Tannen krachen und Felſenblöcke praſſelnd in die Tiefe ſtürzen,
ſo ſagt das Volk: „es zieht ein neuer Thalherr ein!“ — An ſol¬
chen Tobeln ſind alle großen Alpenthäler ſehr reich, ganz beſon¬
ders aber die Graubündner Thalſchaften Prätigau, Davos,
Schanfigg, Unterengadin und Border-Rheinthal — das Wallis
und Teſſin. Gewöhnlich läuft der dieſelben durchziehende Fußweg
(wenn ein ſolcher vorhanden iſt), in großen Krümmungen, der
Grund-Dispoſition des Tobels folgend, auf halber Höhe hin, buch¬
tet häufig weit zur Seite ein, ſekundäre, tobelähnliche Mündungen
umgehend, und ſenkt ſich nur dann in ſteilem, holperigem, von
kahlgelegten Wurzeln durchflochtenem Pfade zur Schluchtentiefe
nieder, wenn er das Tobel durchſchneiden muß.


Auch hier hat die Einſamkeit, aber wieder in ganz anderer
Weiſe, ihre Stätte aufgeſchlagen. Es iſt hochromantiſche Wildniß,
[77]Der Bannwald.ſchauerig und doch anheimelnd, — auch ein Schauplatz der unab¬
läſſig am Gebirgskörper nagenden Zerſtörung, aber ganz anderer
Art als alle übrigen. Bunte Gruppirungen in ungemeiner For¬
menmannigfaltigkeit von herabgewälzten Granitblöcken, glattge¬
ſchliffenen Kalkſteintafeln und kleineren Geſchiebe-Ablagerungen
bauen ſich im Bachbett auf, — ornamentale Phantaſieſpiele der
Natur, über welche das kryſtallene oder leuchtend hellgrüne Wald¬
waſſer in Kaskadellen herabplätſchert.


Die Pygmäen der Pflanzenwelt, die Mooſe, Flechten und
Saxifragen haben auch hier, auf den Felſen, ſich wieder ange¬
ſiedelt. Mit haardünnen Wurzelfingerchen klammern ſie ſich in
den Geſteinsporen feſt, bohren immer tiefer hinein, durchflechten
dieſelben aufs Emſigſte und umſchlingen jede kleine Erhabenheit
ſo innig, daß es oft Mühe koſtet, ſolch einen kleinen Eigenſinn
von ſeiner Scholle abzulöſen. Die Flechten ſaugen ſich noch viel
feſter ein, — ſie erſcheinen gleichſam wie aus dem Felſen heraus¬
gewachſene mineraliſche Blüthen. Alle aber ſind wieder andere
Arten als jene auf den vermodernden Bäumen vorkommenden.
Zunächſt iſt es das weitverbreitete Mohrenmoos (Andreaea
rupestris
) und das alpine Steinmoos (A. alpina), das mit
ſeinem bronzeſchwarzen und ſchmutziggrünen Raſen die Felſen be¬
kleidet; — dann das gezackte Sternmoos (Mnium serra¬
tum
) mit den purpurroth gefärbten Blatträndern und Rippen und
das krummgeſpitzte Perlmoos (Weisia curvirostris) u. a. m.
Die zähe Lebenskraft dieſer Felſenpflanzen iſt außerordentlich groß;
in heißen Sommern, wo die prallende Sonnenhitze die Stein¬
blöcke in dieſen tiefen eingeſchloſſenen Tobeln aufs Heftigſte er¬
hitzt, bekommen dieſe Steinmooſe mitunter wochenlang keinen
Tropfen Waſſer als Nahrung: lediglich an der nächtlichen Kühle
müſſen ſie neue Lebenskraft ſchöpfen. Dort, wo das Bachwaſſer
die Wände beſpritzt und immer feucht hält, kommen das bleiche
Knotenmoos
(Bryum pallens), ferner Angstroemia virens,
[78]Der Bannwald.Blindia crispula, Bartramia ithyphylla und Oederi, ſchattige
Felſen haushoch überziehend, in Maſſe vor. Und wo endlich die
Wände vom herabrinnenden Waſſer eigentlich triefen, da mäſtet
das kupferbraune Aſtmoos (Hypnum rufescens) ſeine
dicken, derben Blätterſchweife.


Der überſchattete Pfad ſteigt längs des Tobels bergan. Wir
verſuchen eine zweite Waldexcurſion und dringen wieder in die
Säulenhallen ein. Diesmal iſts kein mooſiger Grund, auf dem
wir emporklettern; hundertjährige Schichten von Tannen-Nadeln
liegen übereinander, zu einem elaſtiſchen Boden ineinandergefilzt.
Das eng veräſtelte Dach iſt ſo dicht geflochten, daß nur ſpärliche
Lichtblitze von Oben in die tiefe Waldnacht eindringen können;
„Im Labyrinthe fließt in kargen Tropfen„Durchs Laubgewölb' das Licht, Staubregen kaum!“Lenau. darum gedeiht auch das Moos nicht. Aber eine neue, höchſt aben¬
teuerliche Erſcheinung überraſcht uns; — in langen zottigen
Schöpfen hängt die graugrünliche Bartflechte (Usnea barbata)
von den halbverdorrten Aeſten herab. Nicht ein Fädchen dieſer
müſſigen Zottelpflanzen bewegt ſich in der windſtillen Mittags¬
wärme; aber durchzieht nur ein leiſer Lufthauch den Wald, dann
ſchwankt und ſchweift es unheimlich durch die tiefe Dämmerung,
alle beſtimmten Umriſſe verſchwinden, der ganze Einblick geräth in
flirrende, huſchende Bewegung und die „Alten vom Berge“ ſchei¬
nen Leben zu gewinnen. In den Engadiner Arvenwäldern kommt
eine Varietät vor, Usnea longissima, die mehre Ellen lange
dünne Striemen ſpinnt. An den Lärchen dagegen wuchert vorzüg¬
lich die ochergelbe Bandflechte (Evernia divaricata) und gemiſcht
unter dieſen der mähnenartige Moosbart (Bryopogon jubatus),
auch ſchwarze Bartflechte (Alectoria jubata) genannt, weil ihre
äußerſt feinen, mehr als ſpannenlangen Haare tiefbraune Färbung
haben.


[79]Der Bannwald.

Der Empormarſch wird beſchwerlich, weil immer ſteiler und
glatter auf dem Genadel. Herabgerollte Felſenbrocken, Druiden-
Altären gleich, zeigen ſich hie und da. Ihre Summe wächſt, der
Wald lichtet ſich, je höher, deſto mehr, und bald ſtehen wir vor
einem maleriſchen, mit ſchwerfaltigen Moosteppichen überhangenen
Trümmer-Chaos, halb Forſt, halb Bergſturz. Wir ſtoßen auf die
zweite Aufgabe des Bannwaldes: Schutzmittel gegen die ſ. g.
Steinſchläge zu ſein. Auf und an den kahlen, verwitternden
Gebirgsgrathen geſchichteter Formationen, ſammeln ſich die losge¬
ſprengten, abgeſchüttelten Fluhſcherben an, das gleiche Trümmer-
Material, welches auf den Gletſchern die Moränen komponirt, und
bedecken weit hinauf die Halden. Ein Theil derſelben rutſcht oder
rollt beim Niederſturz weit hinab der Tiefe zu und dies ſind die
Steinſchläge. Mancher ſehr frequente Weg im Gebirge würde nur
mit Lebensgefahr paſſirbar, mancher Ort unbewohnbar ſein, wenn
er gegen dieſen niederſchmetternden Steinregen nicht durch einen
Bannwald geſichert wäre. So häuft ſich das Geſteins-Material
in der Höhe am Waldesrande an und bildet dort einen durch die
Zeit von ſelbſt ſich aufbauenden ſchützenden Damm. Ein in male¬
riſcher und botaniſcher Beziehung prachtvoll mit Felſentrümmern
eines Bergſturzes dicht durchwürfelter ernſter Wald dieſer Art iſt
der Waſener Wald an der Gotthardsſtraße.


Eine dritte Aufgabe der Bannwälder iſt endlich auch noch:
gegen Erdrutſche zu ſchützen. Das tief eindringende Wurzel¬
werk, welches durch die meiſt dünnen Schichten der aufgelagerten
Dammerde in die Felſenritzen ſich einkeilt, verhindert, daß bei
heftigen und andauernden Regengüſſen die aufgeweichte Erde ab¬
rutſcht. Kahlſchläge an ſolchen Stellen und Ausſtocken des
Wurzelwerkes haben ſchon zu den traurigſten Ereigniſſen geführt.
Das Dorf Tſchappina am Heinzenberge im Domleſchger Thal
(Graubünden) iſt gegenwärtig im Rutſchen begriffen. Alljährlich
verändert ſich die Lage und Größe der Grundſtücke, ſo daß die
[80]Der Bannwald. Beſitzungen der Gemeinde-Bürger trotz Vermeſſung und Gränzſtein
nie mehr feſtzuſtellen ſind. Ob je eine draſtiſche Kataſtrophe ein¬
treten werde, iſt nicht zu berechnen; vorläufig bewohnt das Volk
die alte Scholle und rutſcht allmählig dem Thale mit zu. — Aehn¬
lich ging es dem theilweiſe untergegangenen Dorfe Buſerein ober¬
halb Schiers im Prätigau. Auch dort fing das Land an, in Folge
der Ausrottung eines großen Waldes, zu wandern, der Raſen ſchob
ſich faltig übereinander, Bäume verſanken ſpurlos, und am 18. März
1805 endete die Erſcheinung mit dem Ein- und Abſturz des hal¬
ben Dorfes. Alle Alpenthäler haben ſchon mehr oder minder unter
den Erdrutſchen zu leiden gehabt, am Meiſten die Schweizeriſchen,
weil die Volksſouveränetät dieſes Freiſtaates in der ſtaatlichen
Oberaufſicht im Forſtweſen eine Beeinträchtigung der perſönlichen
Freiheit erblickte und darum in ſehr vielen Kantonen erſt, als es faſt
zu ſpät war, die Wohlthat eines Forſtgeſetzes angenommen wurde.

So ſiehts im Alpen-Bannwalde aus. Steigen wir über ihn
hinaus.


[[81]]
Figure 1. Wettertanne.

Druck von F. A. Brockhaus in Leipzig.

[][]

Die Wettertanne.

— — ein ſchattiger Baum,
Der fächernd kühle Zweige bewegt,
Wenn dicht um die Sonne den Raum
Mit glühenden Strahlenbüſcheln durchfegt,
Und deſſen gaſtlich breites Dach
Bedrängte ladet in ſicheres Fach.
(Waldau.)

Licht! Luft! wir treten ins Freie. Der obere Waldgürtel
liegt hinter uns. Er ſchließt zwiſchen 5000 und 5500 Fuß über
dem Meere ab. Weiter bergwärts ſteigen nur kurzkräuterige, dichtbe¬
wachſene, friſchgrüne Alptriften an, hie und da unterbrochen von
ſporadiſch ausgeſtreuten kleinen Holzbeſtänden und einzelnen Tan¬
nen, Arven und Lärchen.
„— — Vorpoſten grüner Jäger„Ihren Heeren vor ſich wagend.“  ((A. Grün.)
)
Wie eine Tirailleurkette dringen ſie gegen die Schneeregion vor,
gleichſam die Rechte der Pflanzenwelt gegen den alten Urfeind
alles Lebenden zu ſchirmen. Zu dieſen kühnen Plänklern des Wal¬
des gehört ganz beſonders die Wettertanne.


Man ſpricht von Charakterbäumen, welche der Landſchaft
einen ihr eigenthümlichen Ausdruck, ein phyſiognomiſches Gepräge
geben; — die Wettertanne iſt ein ſolcher; aber auch ein Baum¬
Berlepſch, die Alpen. 6[82]Die Wettertauue. charakter, gewiſſermaßen eine perſönliche Größe, ein aus der
Menge bedeutſam hervortretendes Individuum. Ebenſo wie der
einzelne Bürger in ſeinem ſchlichten Wirkungskreiſe nur einen klei¬
nen Theil des großen Ganzen, des Staates ausmacht und in der
Bevölkerung verſchwindet, ebenſo geht der einzelne Baum im
Walde auf; er zählt nur in der Summe der Stämme mit und
verſchwimmt bei geringer Entfernung in dem großen grünen
Blättergewölbe, in der ſich durchflechtenden und umzweigenden
Veräſtelung.


Anders die einzeln ſtehende, den Wald überragende Wetter¬
tanne; ſie gleicht jenen Auserwählten, die durch Geiſt und Kraft,
durch kühnes Werk und freie That aus der Summe ihrer Zeitge¬
noſſen bedeutſam heraustreten, und was der Dichter von den
wahrhaft großen Fürſten ſingt:
Völker verrauſchen, —Namen verklingen, —Finſtere VergeſſenheitBreitet die dunkel nachtenden SchwingenUeber ganze Geſchlechter aus. —Aber der Fürſten einſame HäupterGlänzen erhellet,Und Aurora berührt ſieMit den ewigen Strahlen,Als die ragenden Gipfel der Welt —  ((Schiller.)
)
das darf man theilweiſe auch auf die Wettertanne anwenden.


Es giebt wenig andere Bäume, die ſo friſchen, freien Muth
an der Stirn tragen, in ſo ſtolzer, ſtrammer Eigenwilligkeit, in ſo
freudigem Selbſtvertrauen daſtehen, wie dieſe ſturmzerzauſten, ver¬
witterten Hochlandstannen. Erinnert die Eiche an jene eiſen¬
feſten Nordlandsrecken, von denen die Nibelungen und die Sänger
des Mittelalters uns Wunderdinge erzählen, ſo mahnt die derbe
trotzige Haltung der „Schirmtanne“ an die Kämpen von Morgar¬
ten und Sempach. Es iſt eben ein Gebirgsbaum von der äußerſten
Wurzelfaſer bis zur letzten Kronſproſſe.


[83]Die Wettertanne.

Schon mancher tüchtige Forſtbotaniker und Pflanzenphyſiolog,
der daheim in ſeinen wellenförmig gehügelten, prächtigen Staats¬
wäldern wacker bewandert war, ſtand, wenn er ein Neuling in die
Alpen kam, im erſten Augenblicke verlegen und wußte nicht, wohin
er dieſen Sonderling rubriciren ſollte. Denn der eigentliche Tan¬
nentypus iſt an ihm oft ganz verwiſcht, wenn ſichs ſo kronleuchter¬
ähnlich mit aufwärts gebogenen Zweigen emporgipfelt, als wärs
der Baſtard von einer Fichte und einer amerikaniſchen Agave. Und
doch zirkulirt kein Tropfen ſolch heißländiſchen Gluthſaftes in ſei¬
nen Adern, ſondern reines, unverfälſchtes, harziges Tannenblut,
urgeſund, „genährt vom ewigen Schnee“; — dieſe „Schermtaxe“
(wie ſie in den öſterreichiſchen Alpen genannt wird) iſt nicht mehr
und nicht weniger als eine ſchlichte, ächte Rothtanne, wie deren
jährlich Millionen von den Holzknechten drunten für Bau- und
Brennmaterial gefällt und zu Markte gefahren werden. Aber
eine andere Schule des Lebens hat die Wettertanne durchmachen
müſſen als die verzogenen Weichlinge, die ſchlanken jungfräulich¬
aufgeſchoſſenen Nadelſchafte der Tieflands-Wälder, — ſie hat ſich
ihr Emporkommen erkämpfen müſſen, Zoll für Zoll, — und daher
ihr oft abnormer Wuchs, davon die Narben in Holz und Borke.


Die Wettertanne, die iſolirt auf den Alpweiden bis 6000 F.
und in Graubünden ſogar bis gegen 7000 par. F. emporſteigt,
iſt kein ausgeſpartes Ueberbleibſel einſtiger Baumarmeen dieſer
äußerſten Baum-Vegetations-Zone; — ſie iſt ein im Selbſtſtändig¬
keitstriebe erwachſener Einſiedler. Vor Jahrhunderten hat es da
droben ſchon große Wälder gegeben. Mächtige Wurzelſtorren und
verſunkene Stämme deuten auf verſchwundene Forſte hin. Faſt
allenthalben im Hochgebirge begegnet man ſolchen Baumgeſpenſtern
einer vergangenen Waldgeneration, ſolchen Ruinen des Pflanzen¬
reiches, die von ihrer Zeit berichten, in welcher es noch herrliche
Hochforſte gab, bevor der ſouveräne Unverſtand und die merkantile
Spekulation ihre barbariſchen Streifzüge in die ſtille Alpenwelt
6*[84]Die Wettertanne. unternahmen. Dieſe ſturmgebrochenen ſilbergrauen Denkſäulen ſind
ausſchließliches Eigenthum der Hochgebirgs-Welt, und zwar der
freien Gebirgswelt, in welche die (bei der Thalwaldung nöthige)
Cenſurſcheere des Forſtmannes, das Paragraphenthum und die
Verordnungen des modernen Staates noch nicht hindrangen. Die
rationelle Waldwirthſchaft dürfte ſolch ehrwürdige Reliquien im
wohlgeordneten Forſthaushalte nicht dulden, ſie wären reglements¬
widrig. Drunten im Prinzipienlande muß die Natur produziren
nach Artikel und Vorſchrift, nach Berechnung und Maß, nach Ziel
und Zeit, wie es der materielle Nutzen der Menſchen verlangt.
Hier oben im Gebirge waltet noch der ungehemmte volle freie
Ausſtrom der unerſchöpflichen Schöpfungskraft, und dieſem ver¬
danken auch die Grenzpoſten der Wettertanne ihre Exiſtenz.


Eine Wettertanne (im Romaniſchen „Pin oder Sapins“, im
Waatlande „Gogant“ genannt) iſt alſo ein vereinzelt auf der
Alpweide ſtehender Baum, der, wie ſchon aus ſeinem Namen her¬
vorgeht, ein ingründlich verwettertes Ausſehen hat. Meiſt iſts eine
Tanne, deren ſchwere, weit ausreichende Aſtarme ſchon wenige Fuß
über dem Boden beginnen und normal in verjüngtem Maße bis
zur Krone ſich wiederholend, ein dicht verfilztes Schutzdach geſtal¬
ten; — oft aber auch iſts eine Baumfigur, die alle Geſetze des
Tannenwuchſes zu verſpotten ſcheint. Unſere Abbildung zeigt das
gänzlich Abnorme des Aſtbaues einer ſolchen. Während die frei¬
ſtehende Tieflandstanne an ihrem ſchlanken Säulenſchaft ringsum
in pyramidaler Symmetrie die horizontal abſtehenden Aeſte archi¬
tektoniſch gegliedert aufſtuft, und ein jeder derſelben in ſeiner
elaſtiſchen Haltung, in der ſo formſchön, leicht nach oben gekrümm¬
ten flachen Bogenlinie wieder ein Muſter eleganten Wuchſes zu
nennen iſt, zeigt dieſe Wettertanne in Aufgipfelung und Aſtſtellung
ein völlig fremdes, neues Bild. Das ſcheint nicht ein Baum,
nein! das ſcheinen ſechs bis acht Bäume an einem Mutterſtamm,
eine ganze Tannenfamilie zu ſein. Hier iſt der kokett-geradlinige
[85]Die Wetterlaune. Schaft in eine derbe, knorrige Walze, von gedrungenem, breit¬
ſpurigem Wuchſe umgewandelt. Man erkennt zwar das ehrliche
Beſtreben des ſenkrechten Emporwuchſes noch; aber da hat die Un¬
gunſt äußerer Verhältniſſe, da haben Stürme, Lauinen und Ge¬
witter ohne Zahl ſo an ihr herumgezwackt und verſtümmelt und
amputirt, daß ſie über und über voll Riſſe und ſchwer vernarbter
Wunden, voll Knoten und Mißgeſtaltungen geworden iſt. Man
könnte die Wettertanne einen Märtyrer der Baumwelt nennen,
wenn mehr paſſives Element in ihr läge. Aber dieſer Baum iſt ein
ſo widerſpenſtiger Geſell, wie man keinen zweiten findet, — der
allen und jeden Hemmniſſen und Chikanen zum Trotz doch ſeinen
Kopf durchſetzt und, — wenngleich hundertmal am innerſten Le¬
bensnerv empfindlich, faſt tödtlich getroffen, dennoch mit unver¬
wüſtlicher Lebenskraft aufs Neue ſich emporarbeitet. Ein köſtlicher
Burſch, ſo durch und durch voll Energie, ſo männlich unbeugſam,
— wie geſagt ein Baumcharakter, an dem jeder rechte Mann ſeine
Freude haben muß.


Und nun der Aſtbau! ja, das iſt ganz das gleiche aktive
Weſen, das nämliche „Durchſetzen a tout prix“ wie beim Stamm.
Da will jeder kleine Zweig ſein Selbſtſtändigkeits-Recht behaupten
und auf eigene Fauſt ein Stück Baum werden. Es iſt eine Rand¬
zeichnung zu dem Sprüchwort: „Wie die Alten ſungen, ſo zwit¬
ſchern die Jungen.“ — Ganz entgegen dem horizontalen Aſtwuchs¬
beſtreben der Tieflandstanne, hebt hier der Aſt, nach kurzer, wage¬
rechter Lage ſich plötzlich wie ein Schwanenhals und ſteigt nun
ſenkrecht, gleich einer in der Luft wurzelnden kleinen Tanne em¬
por. Aber dieſe Aeſte ſind nicht rund um den Baum gleichmäßig
vertheilt, ſondern auf der einen Seite, wo der Blitz raſirt und
heruntergeſchmettert oder der Sturm exartikulirt hat, fehlts, —
während auf der anderen Seite nur um ſo dichtere, intenſivere
Zweig- und Nadelfülle erwächſt. Hin und wieder ragen dann auch
verdorrte, völlig abgeſtorbene Aſtzacken dazwiſchen hervor und hel¬
[86]Die Wettertanne. fen, mit den daran hangenden Bartflechten, den Eindruck des Ge¬
ſammtbildes nur noch um ſo wilder ſtimmen. Die Urſache dieſer
merkwürdigen Aſtbildung iſt in vielen Umſtänden zu ſuchen. Ent¬
weder tritt die ſogenannte „Trockniß“, eine Baumkrankheit, ein,
welche die eigentliche Aſtſpitze ausdörrt, ſo daß dann die Haupt¬
triebkraft in die Seitenäſte tritt und einer derſelben ſich ſo ent¬
wickelt, daß er die anderen überholt und, lokal durch ſeine Nach¬
barn behindert, kerzengerade emporſtrebt; — oder das weidende
Vieh, namentlich Ziegen, in ihrer leidenſchaftlichen Naſchbegierde,
nagen, ſoweit ſie an der jungen Tanne hinaufreichen können, die
äußerſten Schößlinge ab, und der Aſt, in ſeiner natürlichen Ent¬
wickelungsaufgabe gehemmt, ſucht einen anderen Ausweg nach
Oben; — oder Schnee und Sturm drücken die Endzacke des
Zweiges ab, oder der Blitz ſchlägt ſie weg, — genug, Beraubung,
Verſtümmelung ſind die Veranlaſſung, nicht nur des abnormen Aſt¬
baues, ſondern auch der buſchigen, dichtſtruppigen Nadelbelaubung.
Weiter unten im geſchützten Walde trifft man keine ſo verwitter¬
ten ausgearteten Tannen.


Ein koloſſales Exemplar, dreigipfelig wie eine zum Schwur
aufgehobene Hand, ſteht in den Valzeiner Alpen (am Eingang ins
Prätigau, Graubünden), deſſen Stamm in Stockhöhe (4½ Fuß über
der Erde) ſieben Fuß im Durchmeſſer hat.


Das Alter der meiſten iſt ſchwer zu beſtimmen, indem die
eigentlichen Veteranen oft kernfaul werden und ſomit die Zahl der
Jahresringe nicht zu beſtimmen iſt. Ueberdies werden höchſt ſelten
Wettertannen abſichtlich gefällt, da ſie für die Alpenwirthſchaft ſehr
nützlich und ein treffliches Mittel gegen Lauinenbildung ſind. Be¬
denkt man, wie auffallend langſam die Bäume in der Gebirgshöhe,
ſelbſt bei geſchützter Lage wachſen, ſo kann man ſicher annehmen,
daß es viele 300jährige Wettertannen giebt.


Man hat ſchon oft die Frage aufgeworfen, ob Pflänzlinge
ſorgſam gepflegter Forſt-Baumſchulen, namentlich ſolcher, die aus
[87]Die Wettertanne. dem Samen geſchloſſener, alſo geſchützter, Waldmaſſen des Flach¬
landes gezogen wurden, ſich zu ſo hartlebigen Trutztannen hier
oben in der Nähe des permanenten Winters ausbilden, überhaupt
in dieſen ſturmumbrauſten Höhen ſich akklimatiſiren könnten. Die
Alpen-Forſtmänner bezweifeln es; ſie halten den im Flachlande ge¬
wonnenen Waldſamen für zu verweichlicht. Es geht der Pflanze
wie dem Menſchen; im Fleiſch und Blut muß ſie beim Volke
ſtecken, die Spartaner-Natur, durch Generationen hindurch muß ſie
ſich ſelbſthelfend geſtählt haben, wenn ſie nicht zur leidigen
Parodie herabſinken ſoll. — Bezüglich des Samens benutzt
man dagegen ſehr gern den von den Hochlandstannen für Forſt¬
ſaaten im Tieflande, ſowie ja auch die Getreidearten, welche in
hoher Lage wuchſen, ſehr gern zum Saatkorn für tiefere Gegenden
benutzt werden.


So borſtig und brummig ſolch eine Wettertanne nun auch
drein ſchaut, als ob ſie mit allen anderen Bäumen in Haß und
Hader lebte und deshalb in dieſe Einſamkeit ſich zurückgezogen
habe, — ſo ſehr ſie das leibhafte Ebenbild eines alten, zerhaue¬
nen, narbenbedeckten Kriegers iſt, der hundertmal mit dem Tode
auf der Menſur, doch immer wieder ſich frei kämpfte, — ein ſo
zuthunlicher, gaſtfreundſchaftlicher Baum iſt ſie. Gerade wie man
unter den alten Haudegen und Eiſenfreſſern die gemüthreichſten und
herzlichſten Kumpane findet, ſo auch bei dieſen unter tauſend Ge¬
fahren und Nöthen grau gewordenen Bauminvaliden. Sie iſt ein
Obdach und Aſyl gewährendes, von der Natur errichtetes Hospi¬
tium, unter deſſen Schutz ſich das weidende Vieh flüchtet, wenn
plötzlich ſchwarze Unwetter daherbrauſen, Regenwolken ſtrömend ſich
entleeren oder Hagelladungen in dichten Maſſen herniederſchmettern.
Freilich fielen dann ſchon oft die ſchönſten Häupter einer Alpen¬
heerde unter ſolch einem Baume dem Gewitter zum Opfer, wenn
der Blitz einſchlug. Aber auch im ſengenden Hochſommer, wenn
die Sonne beinahe im Zenith ſteht und auf der ganzen großen
[88]Die Wettertanne. Alpweide kein ſchirmendes Plätzchen zu finden iſt, ſucht das Vieh
inſtinktmäßig die Wettertannen auf und lagert behaglich im kühlen¬
den erfriſchenden Schatten derſelben. Dieſem Doppeldienſt, bei
gutem und ſchlimmem Wetter, verdankt ſie wahrſcheinlich ihren Na¬
men ebenſo ſehr als ihrem Ausſehen.


Steht nun ein ſolcher Bergveteran droben auf der Paßhöhe
oder auf dem Scheitel einer Alpſtaffel, oder dort, wo ſich die Pfade
kreuzen, als weithin ſichtbares Wegzeichen, dann trifft ſichs ſchon,
daß ſie zur zweiten Arche Noah wird; ſchnaufende Wanderer mit
großen Alpenſtöcken, ſchwitzende Laſtträger, naturſchwelgende Tou¬
riſtinnen mit großen Strohhüten und aufgelöſtem Lockenhaar, be¬
packte Saumroſſe und deren Führer raſten, allen Unterſchied der
Stände vergeſſend, mitten unter der hier Sieſta haltenden Kuh¬
heerde, — ein uridylliſches Genrebild. Ja, wenns rundum ſo
brennend ſonnengelb auf der ausgebreiteten, herrlichen Landſchaft
lagert und die Gebirgsproſpekte mit bläulich ſchimmerndem Duft¬
ſchleier überzogen ſind, wenn Mücken, Käfer, Bienen und anderes
fliegende kleine Geſindel in beläſtigender Zudringlichkeit wonne¬
trunken umherſurrt und die vor Hitze zitternde Luft kein leiſer
Windhauch bewegt, dann liegt ſichs paradieſiſch wohlig im Schat¬
ten der gaſtlichen Wettertanne; —


— — des dichten Mooſes
Sanft nachgiebige Schwellung iſt ſo ruhlich.
Möge hier mich holder Schlummer beſchleichen,
Mir die Schlüſſel zu meinen Schätzen ſtehlen
Und die Waffen entwenden, meines Zornes,
Daß die Seele, rings nach Außen vergeſſend
Sich in ihre Tiefen hinein erinnere.
 
(Lenau.)

B'hüt euch Gott ihr lieben ſchönen Wettertannen.


[[89]]
Figure 2. Legföhren.

Druck von F. A. Brockhaus in Leipzig.

[][]

Legföhren.

Wie ſtehn auf hoher Alpenfluh
So klein die Bäume da!
Sie werden niedrer immerzu,
Je mehr dem Himmel nah.
Sie legen ab der Krone Stolz,
Des Wipfels rauſchend Laub,
Den ſchlanken Stamm, das volle Holz,
Und beugen ſich zum Staub.
(Stoeber.)

Jede Pflanze hat ihre Vegetationsregion, ihre horizontalen
und vertikalen Exiſtenzbezirke, innerhalb welcher ſie mit Erfolg
leben, gedeihen und ſich fortpflanzen kann; über dieſe Gränzen
hinaus fehlen ihr die bedingenden Elemente zum Beſtehen, ſie ver¬
kümmert, ſiecht, wird zur Krüppelform oder ſtirbt gänzlich ab.
Dieſe Erſcheinung zeigt ſich tauſendfältig: ſie iſt die Grundlage
der Pflanzen-Geographie. Die Palmen, Cacteen, Sycomoren,
Drachen- und Gummibäume, die Baumwoll- und Kaffeeſtaude und
andere Pflanzen tropiſcher Klimate friſten als Kabinetsſtücke ihr
Leben bei uns nur durch ſorgſame Pflege in der künſtlich erzeugten
Wärme der Gewächshäuſer, während dagegen unſere, an friſchere,
kältere, nördlichere Temperatur gebundenen Laubwälder, unſere herr¬
lichen Eichen und Buchen, unſere früchtegeſegneten Aepfel- und
[90]Legſöhren. Birnenbäume das heiße, trockene Klima der ſandigen Tropen nicht
zu ertragen vermögen. Dieſe Bedingungen der flächenhaften Ver¬
breitung berührt uns bei dem Pflanzenbilde, welches wir auf den
nächſten Seiten betrachten wollen, nicht; wir haben es mit der
Verbreitungsfähigkeit der Pflanze, nach der Höhe der Bodenlage,
zu thun.


Es iſt bekannt, daß die Weinrebe in Mittel-Europa über
2300 Fuß ihre Trauben, ſelbſt in ſonniger Lage, nicht mehr reifen
kann, — daß der Nußbaum bis zu circa 3000 Fuß, das Kernobſt
nur bis etwa 3500 Fuß zu ſteigen vermag, und daß die Garten-
und Getreidefrüchte des Flachlandes in den rauhen Alpen über
drei bis viertauſend Fuß nicht mehr gedeihlich fortkommen; kleine,
durch lokale Umſtände begünſtigte Experimente können hier nicht
in Betracht gezogen werden. Dieſes Einhalten gewiſſer Höhen¬
gränzen zeigt ſich auch beim Waldbaum, ſowohl bei den Laub- als
den Nadelhölzern. Letztere ſteigen (wie ſchon S. geſagt) als wal¬
dige Geſammtmaſſe in den Alpen bis zu circa 5500 F. über dem
Meere an. Aber die vertikale Erhebung nimmt gegen den Nordpol
hin bedeuteud ab. So ſteigt die gemeine Kiefer (Pinus syl¬
vestris
) unterm 46. und 47. Grad nördl. Breite (in den Alpen)
fröhlich, in normaler Baumform, bis zu 6000 F. über dem Meere
an, während ſie im ſkandinaviſchen Dovre-Gebirge unterm 62. Grad
n. Br. mir bis 2800 F. und in Jemtsland (Norwegen), an den
Kjölen unterm 63. Grad, ſich nur bis 1500 F. zu erbeben vermag.
Ueber dieſe Höhengränze hinaus verliert ſie ihre baumförmige Hal¬
tung, ſinkt zur Zwergform, zur verkrüppelten, beinahe ſtrauchartigen
Geſtalt herab und heißt dann im Rieſengebirge „Krumm- oder
Knieholz“, in den Tyroler Alpen „Sprutföhre oder Reiſch¬
ten“, im Welſchtyrol „Müghi“ vom botaniſchen Namen: Pinus
mughus
(oder umgekehrt), in den Salzburger Bergen „Lätſchen“,
in Oeſterreich „Lägken, Löcken (d. h. Gelegtes), im romaniſchen
Graubünden „Zuondra oder Zundern“ und in der deutſchen
[91]Legföhren.Schweiz am bezeichnendſten „Legföhre.“ Schon aus der Reich¬
haltigkeit dieſer Nomenklatur läßt ſich erkennen, daß die „Zwerg¬
kiefer“ durch die ganzen Alpen verbreitet iſt. Mit der Alpenerle
oder Droosle (Betula alnus viridis), ebenfalls einer Krüppel¬
form der eigentlichen Erle, beſchließt ſie den Holzwuchs im Gebirge.
Ob ſie eine eigene Species oder eine blos durch Umſtände cor¬
rumpirte Abart der eigentlichen Kiefer iſt, darüber walten verſchie¬
dene Meinungen.


Der Totaleindruck der Legföhre, der ganze Habitus iſt ein
überraſchender, höchſt origineller; er giebt ſo recht ein, dem Cha¬
rakter des Hochgebirges entſprechendes, vegetabiliſches Attribut ab.
Betrachtet man nur Holz und Aſtwerk, wie das ſich krümmt und
rankt, und abenteuerliche, phantaſtiſche Geſtalten formt. Bietet der
Aſtbau mancher anderer Bäume ſchon hin und wieder wunderliche
Figuren dar, ſo tritt doch bei ihnen immer mehr oder minder das
Innehalten einer kennzeichnenden Architektur, das Walten beſtimm¬
ter, die Individuen und ihre Sippſchaft kennzeichnenden Geſetze,
wenn auch oft in freier Anwendung, in der Stamm-, Aſt- und
Zweigbildung hervor. Dies Alles verſchwindet bei der Legföhre.
Allenthalben trägt ſie das Gepräge des Unſymmetriſchen, Be¬
ſchränkten, Gehemmten, Unterdrückten. Nur ſklaviſch windet ſie
ſich, wurmartig, unheimlich ſchlangenhaft, am Boden hin: ſeufzend,
aber dennoch mit unendlicher Zähigkeit, ſcheint ſie ihr Leben zu
durchſchleichen. Sie iſt unter den Coniferen der vollendete Ge¬
genſatz zu der, allen gewaltſamen Druck überwindenden, ſiegreich
triumphirenden Wettertanne. Der Widerſtand der Zwergkiefer iſt
nur ein heimlicher, paſſiver, der blos an den gegen oben ſich
krümmenden Wipfelenden zum Durchbruch, zur Geltendmachung ſei¬
ner Rechte kommt. Trotz dieſer leidenden Haltung haben die, meiſt
glatten, braunen Stämme etwas Maſtiges, Fettes, während die
Rinde der gewöhnlichen Föhre rauh, mager, zerriſſen iſt und trocken
ausſieht. Sehr lange bleiben die Blattnarben ſichtbar.


[92]Legföhren.

Je nachdem der Stamm mehr in geſtreckter Linie mit hoch
und kräftig ſich emporrichtender Krone, — oder gewunden, knorrig¬
verdreht, mit nur kurzen, dicht ſtruppigen Gipfelausläufern am Bo¬
den hinkriecht, unterſcheidet man die Legföhre in die ſchlankere
Pinus pumilio als die, mehr in tieferer Lage vorkommende, und
in die ſehr verkrüppelte Pinus mughus, welche bis faſt gegen die
Schneegränze hinanſteigt und den Kalkboden dem der granitiſchen
Geſteine vorzieht. Da die urſprüngliche Aſtſtellung der Kiefer
büſchelförmig iſt, ſo durchflechten, umranken und verweben ſich auch
die Aeſte und Zweige der Legföhre in ihrem engen, beſchränkten
Raume auf eine ſo unlösbare Weiſe, wie es in der Schling¬
pflanzenwelt nicht bunter durcheinander vorkommen kann. Solch
einen Weichſelzopf von Legföhrenäſten zu entwirren, dürfte den her¬
kuliſchen Aufgaben beizuzählen ſein. Dieſer niedergedrückte, horizon¬
tale Wuchs wird zunächſt dadurch veranlaßt, daß hier oben ſieben
bis acht Monate lang ein ſtrenger Winter herrſcht, der mit enormen
Schneelaſten tyranniſch ſeinen Fuß auf den Nacken dieſer Pflanze
ſetzt und ſie nur in der kurzen Sommerpauſe aufathmen läßt. Die
außerordentliche Geſchmeidigkeit und Elaſtizität der ſchlanken, höch¬
ſtens 2 bis 3 Zoll im Durchmeſſer erreichenden Stämme, bequemt
dieſe dem bedeutenden Drucke leicht an. Dazu kommt die Ab¬
ſchüſſigkeit des Terrains, auf welchem die Legföhren am liebſten
wachſen. Je ſteiler daſſelbe iſt, deſto gepreßter liegt die Krumm¬
holzkiefer. Da, wo der Boden minder geneigt iſt, richten ſich die
Stämme leichter auf und erreichen bisweilen eine vertikale Höhe
von 15 Fuß.


Am ſeltſamſten geſtalten ſich die Stämme, wo ſie über her¬
vorragende, nach Innen ſich abwölbende Felſenſtirnen hinauswach¬
ſen. Da machen ſie dann von der erlangten Souveränetät in
wahrhaft ſeltſamen Formen Gebrauch, bohren in Spiralwindungen
allerhand Arabesken in die Lüfte freiragend hinaus und hängen
weitarmig, als ſchwebende Bäume, über gräulichen Abgründen.
[93]Legföhren. Tollkühne Geißbuben, die ihre zottige Herde oberhalb ſolcher ſchrof¬
fen, viele hundert Fuß ſich abtiefenden Fluhwände weiden, wagen
ſich dann wohl zum Zeitvertreib, alle Gefahr verachtend, auf dieſe
ſchreckerregenden Naturſchaukeln hinaus und üben da, völlig
ſchwindelfrei, herztief aufjauchzend, allerlei akrobatiſche Künſte. Ein
ſolcher verwegener Hirtenbub im Muottathale, von dem Pfarrer
ſeiner Gemeinde darüber ernſtlich zurechtgewieſen und mit den
Worten gewarnt: „Diesmal hat dich dein heiliger Schutzengel im
Arm gehalten, ſonſt wärſt du herabgeſtürzt und todtgefallen!“ er¬
widerte keck: „Herr Pfarr, ſo wyt wi—n—i uſſä goh, goht der
Schutzengel nöd!“ —


Die Nadeln der Legföhre ſitzen, wie bei der Kiefer, je zu
zwei oder drei in einer Scheide und gruppiren ſich büſchelförmig,
wodurch der Zweig das Anſehen eines dichten, borſtigen Pinſels
erhält. In ihrer Reproduktionskraft iſt die Legföhre ſehr ſchwach.
Da ſie nicht ausſchlagsfähig iſt, ſo bewerkſtelligt ſie ihre Fortpflan¬
zung lediglich durch Samen.


Auch ſelbſt in den Früchten der Legföhre bethätigt ſich das
Ungewöhnliche, dem Charakter der rauhen Gebirgsnatur Entſpre¬
chende. Während nämlich die gewöhnliche Kiefer ihre längli¬
chen, koniſch geſtalteten Zapfen jährlich abſtößt, behält die Legföhre
dieſelben, nachdem ſie im September fruchtreif geworden ſind, den
Winter über, ſammt den darin eingeſchloſſenen Samenkörpern am
Zweig und läßt letzteren erſt im Spätfrühling, wenn der Boden
ſchneefrei geworden iſt, ausfliegen. Der geſprungene, nun flach
ſphäriſch auseinander ſpreizende, kupferbraune Kieferzapfen bleibt
dann aber noch einige Jahre am Büſchel ſitzen, bis er ſilbergrau
verwittert, eine ehrwürdige Antiquität, endlich abfällt. So kommts,
daß man an einem und demſelben Buſche zu Anfang Juli männ¬
liche und weibliche orangengelbe, karminroth-punktirte Blüthenkätz¬
chen und die abgeſtorbenen, verwitterten Samenbehälter des dritt¬
[94]Legföhren. letzten Jahres unweit von einander erblicken kann, eine Erſchei¬
nung, die in der Pflanzenwelt wenig vorkommt.


Die Legföhre iſt ferner eine der beſcheidenſten Pflanzen, die
es giebt. Da, wo keine andere Holzkultur, höchſtens nur Mooſe
oder Saxifragen exiſtiren könnten, bekleidet ſie mit ihren dichten,
tiefgrünen Büſchelkolonien große, kahle, trockene Kalkwände, beſon¬
ders an den ſüdſeitigen Abhängen in der Höhe von 5000 bis
6000 Fuß, dicht verfilzte Decken bildend, oft ſo kompakt und feſt
ineinander gedrängt, daß man im buchſtäblichſten Sinne auf den
Zweigen und Wipfeln gehen könnte. Dies iſt aber immer wegen
der außerordentlichen Elaſtizität der Maſſe ein mißliches Unter¬
nehmen und läßt ſich wohl bergabwärts, unmöglich aber bergan
ausführen, obgleich die biegſamen Zweige ſo zu ſagen dem Klette¬
rer die Hand reichen. Darum vermeidet der Aelpler ſie auch und
macht lieber einen Umweg über Gletſcher und auf loſem Geröll,
als durch dieſe fußumſtrickenden Fanggarne. Auf Glimmerſchiefer
trifft man das Krummholz auch in feuchten, ſumpfigen Mulden an,
und einzelne Exemplare hat man ſogar in der Tiefe von nur
2500 Fuß über dem Meere gefunden. Waſſerfluthen, Lauinen,
oder der Wind mögen Samen dahinab getragen haben. Ja, ſo¬
gar in den umfangreichen Moorbrüchen zwiſchen Augsburg und
München, im ſ. g. Haspelmoor, hat man ſie bei 1600 Fuß über
dem Meere getroffen und deshalb „Sumpfföhre“ (Pinus uliginosa)
genannt. Selten wachſen im dichten Geſtrüpp der Gebirgs-Leg¬
föhre andere Pflanzen. Selbſt auf der glatten Rinde des Stam¬
mes zeigt ſich nicht einmal irgend eine Schmarotzerpflanze; höch¬
ſtens trifft man die goldgelbe Cetraria juniperina, eine Flechte
des Hochgebirges und Verwandte des Isländiſchen Mooſes, hie
und da an.


Flieht nun der Menſch dieſes ſtille undurchdringliche Dickicht,
ſo dient es um ſo mehr dem Alpenwild als willkommener Schlupf¬
winkel, um ſich den Verfolgungen des Jägers zu entziehen. Vor
[95]Legföhren.allen anderen halten ſich Bären gern darin auf, wenn man ihnen
nachſetzt, und haben ſie dieſes Aſyl erreicht, ſo ſind ſie ziemlich
ſicher vor jedem Angriff. Darum wird das Legföhren-Geſtrüpp
im Davos (Graubünden) auch „Bärenkrys“ genannt. — Tem¬
porär halten ſich Bergfüchſe (deren eigentlicher Bau am liebſten
unter Felſen) darin auf, um Beute zu erhaſchen; der Marder geht
dort auf die Jagd und der weiße Haſe (Lepus variabilis) flüch¬
tet ſich hinein. Im Spätherbſt iſts der Lieblingsaufenhalt des Spiel¬
hahns (Tetrao tetrix L.) und am Rande der nahen Schnee¬
gränze niſtet das Weißhuhn oder Alpenſchneehuhn (Tetrao lagopus)
unter dem Schutz der kleinen mageren Krummholz-Geſträuche. Die
ſtändige Bewohnerin derſelben aber iſt die Ringamſel, welche jähr¬
lich zweimal in dieſem Verſteck brütet, — der vorübergehenden
Bewohner, wie Kernbeißer, Kreuzſchnäbel u. ſ. w., nicht zu ge¬
denken.


So ſehr nun dieſer Föhrenhag den Jäger freut, weil er in
der Regel Wild darin findet, — einen ſo peinlichen, düſteren, ja
faſt ſchauerigen Eindruck macht er auf den Alpen-Naturfreund.
Unbeſchreibliche Einförmigkeit trotz der bizarren Aſtvariationen,
trübe, träumeriſche Melancholie lagert über ſolchen finſteren Ge¬
hängen, das Gefühl des Unheimlichen, des Verlaſſenſeins beſchleicht
den Wanderer, wo der Pfad lange durch Legföhrenhorſte führt.
Es iſt, als ob die Natur hier eingeſchlafen wäre, und unwillkür¬
lich wird man an Grimms Mährchen vom Dornenröschen erinnert.
Das Knieholz iſt im Gebirge etwa das, was in der Fläche die
Heide iſt. Paſcher und Schleichhändler an der Gränze wählen es
gern zu Raſt- und Ablöſungsplätzen, und mancher Kampf zwiſchen
dieſen und den Gränzjägern iſt ſchon in ſolchem Geſtrüpp vorge¬
fallen. Am Maſſenhafteſten iſt die Legföhre wohl am „Wolfgang“
bei Davos (Graubünden) und am Ofnerberg (Unter-Engadin) bis
hinab zur Alp Stabl-dſchod entwickelt; auch an den Abhängen
des Scarl-Thales kommt ſie in mächtigen Strecken vor. Kleinere
[96]Legföhren.Beſtände trifft man allenthalben in den Kalkalpen bei einer Höhe
von 5000 Fuß und darüber.


Die Legföhre iſt endlich durchaus kein ſchlechtes Strauchwerk
oder forſtwirthſchaftliches Unkraut; ſie iſt eine höchſt nützliche, kon¬
ſervirende Schutzpflanze, ein kerniger Damm gegen die deſtruiren¬
den Tendenzen der Alpverwilderung. Was der Menſch durch
Bannwälder und ähnliche Defenſivmittel zu erſtreben bemüht iſt,
beſorgt ſie naturgemäß von ſich aus. Ohne Legföhren exiſtirte
manche kräftige, ſaftreiche, kräuterüppige Alpmatte nicht mehr; los¬
gebröckeltes Steingeröll und Bergſchutt hätten ſchon manche Alp
zerſtört. Ihr zähes Flechtwerk nimmt im Herbſte die erſten aus
der Atmoſphäre niederfallenden Schneeladungen in ſeine Geſträuchs¬
maſchen auf und bindet dadurch allen ſpäter fallenden Schnee an
die geneigte Fläche; ſo verhindert ſie poſitiv das Anbrechen von
Grundlauinen und aller durch dieſe herbeigeführten Verheerungen.
Ebenſo vereitelt ſie energiſch die Bildung von Rüffen und Stein¬
ſchlägen, und fängt als natürliches Faſchinenverhau alle niederrol¬
lenden Felsablöſungen auf. Sie läßt ferner den wildeſten Schlag¬
regen, die furchtbarſten Gewittergüſſe nur wie ein regulirendes
Filtrum durch und trägt dadurch außerordentlich zur Vermehrung
guter anhaltender Quellen und zur Erhaltung tieferliegender Raſen¬
halden bei; — und endlich begünſtigt ſie unter ſicherem Schutz
die Humusbildung durch das abgefallene Genadel in hohem Grade.


Bis in die jüngſte Zeit achtete man die Legföhre lediglich um
dieſes indirekten Nutzens willen; — höchſtens daß der Aelpler ſich
für ſeine Sennhütte etwas Brennmaterial aus derſelben verſchaffte.
Neuerdings haben aber Holzmangel und rationelle Waldwirthſchaft
den Werth dieſes Waldwuchſes geſteigert, und jetzt durchforſtet man
dieſelben ebenſo wie eigentliche Wälder. Die Brennkraft des Hol¬
zes kommt dem der Buche faſt gleich, und die daraus gewonnenen
Kohlen werden ſehr geſchätzt.

[[97]]

Die Alpenroſe.

Du biſt, o Alpenroſe,
Der Blumen Kron' und Preis,
Die einz'ge Dornenloſe
In Deiner Schweſtern Kreis;
Du wohnſt als Königinne
So recht auf höchſtem Thron,
Und blühſt in reiner Minne
Dem freien Alpenſohn.
M. Klotz.

Hinter Oberhauſen am Thunerſee erhebt ſich eine jähe, ſpitze
Felſenfluh, ſo unzugänglich, daß ſelbſt Gemſen ſie zu erklimmen
ſcheuen. Kein Wildheuer ſteigt hinauf, um das dort wachſende
Futtergras mit Lebensgefahr zu mähen, kein Wurzelgräber ſucht an
dieſen Wänden ſeinen kümmerlichen Erwerb. Und doch wachſen
da droben die ſchönſten und ſeltenſten Alpenpflanzen, wie man ſie
weit umher nicht in ſo prangenden, tiefleuchtenden Blüthen findet,
beſonders die purpurbraunen, faſt ſchwarzrothen „Fluhblüemli“
oder „Badönickli“ (Primula veris elatior), — eine Zierde der
„Schwebelhüetli“, wie ſie die Oberländerinnen an ſommerlichen
Feſttagen tragen.


In altersgrauer Zeit lebte zu Oberhauſen ein ſehr reicher
Bauer mit ſeinem einzigen Töchterlein. Es war das ſchönſte
Berlepſch, die Alpen. 7[98]Alpenroſe. „Meitſchi“ am ganzen See. So viel Freier ſie hatte, ſo wenig
ſchien ihr einer derſelben vornehm genug, um ihm die Hand für
Lebenszeit zu reichen. Unter dieſen war auch Einer mit treuem, red¬
lichem Herzen in unendlicher Liebe ihr zugethan; aber Eiſi (Eliſa¬
beth) verwarf ihn wie die anderen und ließ ihn nur am Narren¬
ſeile trotten. Einſtmals, am Aelpler Sonntage Abends, als der
Burſch das Mädchen mit Wein regalirte, ſchien ſie ſeinen Be¬
theuerungen Gehör ſchenken zu wollen und ſagte: ſie ſei entſchloſſen,
ſein Weib zu werden, wenn er ihr von jener berüchtigten Felſenſpitze
Fluhblüemli holen wolle. Statt zurückzuſchrecken, ging Johannes
freudig auf den Vorſchlag ein, denn er war ein verwegener Klette¬
rer. Schon mit dem nächſten Morgengrauen eilte er durch die
Allment am Geribach zur wilden Fluh hinauf. Wie ein Eichkätz¬
chen „chräsmete“ er an den glatten Wänden umher; — die
ſchmalſte Ritze, der unbedeutendſte Vorſprung mußte ihm dienen,
krampfhaft mit Zehen und Fingern ſich einzuklammern. Schon
war das ſchwere Werk faſt gelungen, ſchon ſieht er die Spitze nah
ob ſeinem Haupte, und Triumph! ſchon hat er die erſte, — die
zweite, — die dritte Preisblume gepflückt, da bröckelt ein Stein
los, er verliert das Gleichgewicht und, — in der nächſten Minute
liegt der arme Tropf grauſam zerfallen, zu Tode geſtürzt am Fuße
der Fluhwand. Wenige Stunden ſpäter geht Eiſi fröhlich ſingend
am Felſen vorüber. — Ein Blick! — ein Schrei! — und ohnmächtig
zuſammengeſunken liegt ſie neben Dem, den ihr Hochmuth in
jähen Tod getrieben. Die errungenen Blumen hielt der treue
Burſch noch in ſeiner Hand. Gram und Irrſinn brachen Elſi's
Herz.


U—n—a der Flueh, wo Hans iſch g'lege,

Wachſt us ſym Bluet e Blueme—n—uf;

D’Alproſe, wie ’re d’Lüt jetz ſäge.

Ihr Meitleni get Achtig druf!

Die Bluemi dra ſy roth wie Bluet

U ſtah im dunkle Laub gar guet.
[99]Alpenroſe.

Alſo die Volksſage von der Entſtehung der Alpenroſe. —

„Keine Blume des Hochgebirges iſt von Dichtern ſo gefeiert
worden, keine ſo poetiſch in das Leben der Bergbewohner einge¬
drungen wie die Alpenroſe; aber auch keine erweckt in der Vorſtel¬
lung des Gebirgsunkundigen ſo unklare und unrichtige Bilder, wie
eben dieſe. An den Namen „Roſe“ ſich haltend, hätte er ein
Recht, dieſen auf eine alpine Verwandte der vielgefeierten Blumen¬
königin zu übertragen, und das Hochgebirge würde ihn nicht ein¬
mal Lügen ſtrafen. Im Gegentheil haben die Alpen der Roſe
einen neuen, poetiſchen Glanz verliehen; denn gerade ſie ſind es,
wo die „Roſe (faſt) ohne Dornen“ glüht, und ſomit das Sprüch¬
wort ſeine Wahrheit verliert. Das iſt die wirkliche „Roſe der
Alpen“, die reizende Rosa alpina, die nicht ſelten in den lichten
Hochwaldungen der montanen und ſubalpinen Region vorkommt
und bis zur Gränze der Weinrebe hinabſteigt. Sie bildet Sträuche
und blüht im Juni und Juli. — Dennoch wird nicht ſie gemeint,
wenn im Gebirge von „Alpenroſen“ die Rede iſt, ebenſowenig
wie man an wirkliche Veilchen denken darf, wenn das Alpenveilchen
(Cyclamen Europaeum) genannt wird. Der poetiſche Sinn des
Volkes hat Alpen- oder Bergroſe diejenige Pflanze genannt, die
in der Botanik „Rhododendron“, alſo zu deutſch „Roſenbaum“
heißt. Indeſſen giebt auch dieſe Bezeichnung keine richtige Vor¬
ſtellung von der Wirklichkeit. Im Gegentheil verbindet ſich damit
eine neue Verwechslung; denn urſprünglich kam dieſer poetiſche
Name dem Oleander zu, und Linné war es, der ihn von dieſem
Prachtſtrauche des Südens willkürlich auf unſeren Alpenſtrauch
übertrug. (K. Müller.) — Im Volksmunde hört man die Bezeichnung
„Alpenroſe“ eigentlich wenig; faſt jede Thalſchaft hat ihren eigenen
Namen dafür. So nennt man ſie im Berner Oberlande „Bären¬
bluſt“, im Entlibuch und Unterwaldnerlande „Hühnerblume“ (weil
die Berghühner ſich darin aufhalten), in Uri „Juupe“, im Glarner
Thal „Rafauslen“, im Aargau „Herznägeli“, im Tyroler Ziller¬
7*[100]Alpenroſe. thal „Zundern“, im Teſſin „Dros“ u. ſ. w. Das Geſchlecht der
Rhododendren gehört zu der natürlichen Verwandtſchaft der Haide¬
kräuter oder Ericineen oder auch zu den noch näher ſtehenden
Heidelbeergeſträuchen oder Vaccineen. Es giebt keine andere Strauch¬
pflanze, mit welcher die Europäiſche Alpenroſe ſich beſſer vergleichen
ließe, als mit dem Gebüſch der Rauſchbeere (Vaccinium uligino¬
sum
) und der Preiſſelsbeere (V. Vitis Idaea), die in den Alpen
ebenfalls bis zu 7000 Fuß Höhe vorkommen. Mit weithin ſich
verzweigendem, niederem Geſtrüpp, erinnern die Alpenroſen auch
einigermaßen an den Buchsbaum, namentlich durch ihr Laub; ſonſt
aber haben ſie mit demſelben durchaus nichts gemein. Sie bilden
eine eigene kleine Familie, welche man Rhodoraceen genannt hat,
und umfaſſen die drei Gattungen: 1) der in den nördlichen Nie¬
derungen und Torfweiden wachſenden Porſte (Ledum), 2) der
Azaleen, die in den Alpen blos als zierliches, immergrünes, liegen¬
des (A. procumbens), roſaroth blühendes Zwerggeſträuch häufig
zwiſchen 5000 und 7500 F. vorkommen, und 3) Rhododendra.
Alle drei haben den Umſtand gemeinſchaftlich, daß ihre Blatt- und
Blüthenknoſpen von großen Hüllſchuppen bedeckt ſind, weshalb ſie
zapfenförmig aus den Zweigen hervorbrechen. Dieſen Entwicke¬
lungsmoment können wir freilich in der Regel nicht beobachten,
weil er faſt immer unterm Schnee ſich vorbereitet. So wie der
Frühling in den Höhen von 4000 bis 6500 F. allmählig Schritt
um Schritt emporrückt, und die deckende Schneehülle mit weichem
Odem hinweghaucht, iſt auch der lichtbraune, hornartige Knospen¬
panzer ſchon geplatzt, und Blätter und Blüthenknöpfchen ſtecken
neugierig ihr junges friſches Grün hervor, um ſich die Pracht
ihrer Mutter, der erhabenen großen Alpenwelt, zu betrachten. Der
Wanderfreund ſieht dieſe Phaſen alle nicht; er tritt erſt im Juli
und Auguſt in den reichgeſchmückten Alpengarten, wenn ſchon der
ganze Rhododendren-Flor in vollen feuerigen Flammen ſteht, und
die rubinglühenden Glockenſträußchen ihre Sternkelche erſchloſſen
[101]Alpenroſe. haben. „Mit welcher Wonne begrüßt dann der müde, keuchende Wan¬
derer den erſten Alpenroſenſtrauch und eilt trotz aller Erſchöpfung
im Fluge zu dem Felſen empor, von dem die Röschen ihm die
lächelnden Grüße der Alpennatur zuwinken; wie oft begleiten ſie
ihn mit ihrer ewigen Anmuth mitleidig durch lange Felſenlaby¬
rinthe und verkünden ihm Leben und volles Genüge in einer öden
Welt von grauſenhaften Steintrümmern. Ueberall gleich reizend
dekorirt die Alpenroſe tauſendfältig das tauſendfältig wechſelnde
Land ihrer Heimath und glüht bald als einzelne Roſenflamme
über dem ziſchenden Sturz des Eisbaches, bald überzieht ſie die
ganze Fläche des Berges, der ſich mit ſeinem Purpurteppich im
Spiegel des Alpſees malt, oder ſtreut ihre Blüthen geſellig in den
vielfarbigen Flor der Alpen.“ (Tſchudi.)


In den Alpen giebt es nur zwei Formen einer Species. Die
verbreitetſte und bis zu den Höhen von 6500 Fuß über dem Meere an¬
ſteigende iſt die roſtfarbene (Rhod. ferrugineum, — romaniſch Flur
bella
), deshalb ſo genannt, weil die länglich lanzettförmigen, dun¬
kelgrünglänzenden, lederartig derben Laubblätter auf der unteren
Seite dicht mit einzeln kaum erkennbaren, roſtbraunen Drüſen¬
pünktchen überſäet ſind, die derſelben ein tief okerfarbenes, mit¬
unter ſogar kaffeebraunes Anſehen verleihen. Dies ſind die vor¬
jährigen, alſo überwinterten Blätter, welche an der Kehrſeite ſo ge¬
bräunt erſcheinen; die jungen heurigen, weichen Blättchen lachen
leuchtend an den Zweigſpitzen im jubelndſten Maigrün und kon¬
traſtiren durch dieſe Farbenfriſche bis zur Sommerneige ungemein
hebend gegen den geſetzten Ernſt der älteren. Erſt im Herbſt
ſchwindet das brauſend-jugendliche Anſehen, und die Rückſeite über¬
zieht ein lichter goldiger Anflug. — Die andere Form, der ge¬
franzte Alpenbalſam (Rhododendron hirsutum), hat gewim¬
perte, d. h. am Rande mit oft langen, weißen Härchen beſetzte,
mehr eirund geformte Laubblätter, die meiſt oben und unten gleich
grün ſind, doch auch bisweilen an der Kehrſeite mit hellbraunen
[102]Alpenroſe. Drüſenpünktchen luftig und dünn überſtreut ſich zeigen. Sie kommt
mehr in den tieferen, beſchatteten, felſigen Bergen, beſonders der
öſtlichen Alpen vor, ſteigt nie über 6000 Fuß empor und wird hin
und wieder ſchon bei 2000 Fuß überm Meere gefunden. Aus
dieſem Blätterfond quillt nun im Juni und Juli die brennend¬
rothe Blüthen-Dolde, je aus 6 bis 10 prangenden fünfzackigen
Blüthenkelchen zuſammengeſetzt. Das zierlich geformte Glöckchen
ſchimmert im Innern durchſichtig ſammetweich faſt wie ein molliges
Camellien-Blatt; aber an der äußeren Fläche iſt es mit hellen, be¬
ſtimmt hervortretenden ſchwefelgelben Pünktchen geſprenkelt, die
demſelben ein widerſtandsfähiges, abgehärtetes, robuſtes Anſehen
geben. Nach dem Feuer ihrer Blüthen variiren die Alpenroſen
ungemein, vom zarteſten, duftigſten Roſa bis hinauf ins glühendſte
Karminroth. Im Allgemeinen will man wahrnehmen, daß die Tiefe
und Gluth der Färbung mit dem höheren Standort der Pflanze
auch zunimmt. Die gewimmpte Alpenroſe iſt gewöhnlich die blaſſere,
hellere, zuweilen mit leichtem Hinüberſpielen in eine kaum ange¬
deutete violette Tendenz. Zu den abſoluten Seltenheiten gehört
das weißblühende Rhododendron im Maderanerthal (bei Amſtäg
an der Gotthardsſtraße), in einigen Walliſer Seitenthälern, auf
der Hundwyler Höhe (Kanton Appenzell), im Tyroler Paznaun und
im Pinzgau ſollen ſie zu Zeiten vorkommen.


Wo große Halden mit blühenden Alpenroſen überzogen ſind,
wie z. B. auf Itrammen-Alp (wenn man von Grindelwald gegen die
Wengern-Alp anſteigt), oder an der öſtlichen Abdachung des Alp¬
ſiegels (unweit vom Weißbad, Kanton Appenzell), oder an den
lichten Waldungen von Zermatt gen den Riffel hinauf, oder im
Ober-Engadiner Fex-Thal, — da ſtrahlt, weithin ſichtbar, eine
Farbenpracht im brennendſten Rubinfeuer, die in der Ausdeh¬
nung ihres Eindruckes etwa nur dem Blüthenmeere eines Obſt¬
waldes im Mai zu vergleichen iſt. Wie bei dieſem iſts ein früh¬
lings-brünſtiges Knospen und Drängen und Koſen dicht neben
[103]Alpenroſe. einander, ein großes kollegialiſches Blühen, das jauchzende Genießen
einer gemeinſamen Jugend, man möchte faſt ſagen ein millionen¬
fältiges roſarothes Farben-Konzert. Und dabei hat die Alpenroſe
noch eine weſentliche Aehnlichkeit mit der Baumblüthe; wie das
Karmin-Glöckcken ſeine volle Lebensfreude genoſſen hat und die
Stunde des Scheidens naht, da welkt es nicht, langſam am Sten¬
gel abſterbend, verkommend und Bedauern erregend, oder ſeine
ſchöne Gluthfarbe verlierend und kläglich zuſammenſchrumpfend wie
viele der ſchönſten Blumen, — nein, mit fröhlichem freien Ent¬
ſchluſſe, wirft es noch einen ſehnſüchtig vollen Blick auf alle ſeine
lieben Genoſſen, auf die weißen glänzenden Firnhäupter, auf die
ganze ſchöne Alpenwelt, drückt dem Nebenglöckchen noch einen
brennendheißen Abſchiedskuß auf die Lippen und ſpringt dann mit
einem Satze leicht in den vorüberrauſchenden Waldbach oder den
zu Schaum aufgelöſten Gebirgsſtrom, und kein ſterbliches Auge be¬
kommt es wieder zu ſehen.


Unſer Alpenröschen iſt ein eigenſinniges Pflänzchen; es läßt ſich
nicht willig in die Tieflandsgärten und herrſchaftlichen Parke ver¬
ſehen, um nach des blumiſtiſchen Künſtlers Gutfinden unter allerlei
ſervilem Pflanzentande ſklaviſch die Rabatten zu ſchmücken, — es
iſt kein „feiles Röschen“, das zu Jedermanns Belieben und Gebot
ſteht; ein freies Kind freier Berge, blüht es nur dort, wo ſeine
Heimath iſt, wo es dem Himmel näher als die Menſchen, auch in
vollen Zügen die reineren Aetherlüfte trinkt.


Sie grämts und härmts im Herzen,

Verpflanzt ſie eine Hand;

Sie ſtirbt an Heimwehſchmerzen

In jedem fremden Land.

Und zugleich iſts dabei das reizendſte Symbol jungfräulicher
Reinheit und Unſchuld; im großen Pflanzenreiche giebts kaum noch
eine Blüthe, die, gebrochen, ſo raſch die Schönheit und das Feuer
ihrer Farbe verliert und zu Tode getroffen dahinſiecht, wie die Al¬
penroſe. Wetter und Sturm, Hitze und Froſt, Regen und Schnee, —
[104]Alpenroſe. alle Unbilden der Natur erträgt ſie heiter und muthvoll, und ſtrahlt
nur um ſo lebensfröhlicher, wenn ein freundlicher Sonnenblick aufs
Neue ſie beglückt. Nur vor der Menſchenhand ſchreckt ſie zurück,
erzittert bebend und entfärbt ſich, — denn ſie bringt ihr den Tod.
Auffallend raſch verändert ſie das lautere, tranſparente Purpurgold
in bläuliche Mißfarbe, und nur derjenige hat Alpenroſen in ihrer
ganzen Prachtfülle geſehen, wer ſie am Felſenhange blühend erblickte.


In die Berge hinein, in das liebe Land,
In der Berge dunkelſchattige Wand!
In die Berge hinein, in die ſchwarze Schlucht,
Wo der Waldbach toſ't in wilder Flucht!
Hinauf zu der Matten warmduftigem Grün,
Wo ſie blühn
Die rothen Alpenroſen.
(C. Morell.)
[[105]]

Südliche Alpenthäler.

Noch geſtern unter Schnee und kahlen Tannen!
Heut bei Oliven und Orangenbäumen!
Ich ſah mein Glück und mein' es nur zu träumen,
Und das Geträumte liebend zu umſpannen.
J. G. Müller.

Italien iſt das Land der Sehnſucht, der Jugendträume und
lieblichſten Ideale. Jeder Gymnaſiaſt, wenn er mit voller Luſt ſei¬
nen Virgil, Horaz, Ovid oder Tibull durchſchwelgt, macht einen
Gedankenſprung nach Süden ins klaſſiſche Römerland und freut
ſich der Stunde, wo er ſeinen Lieblingsdichtern auf Schritt und
Tritt nachwandeln kann. Wird dann in ſpäteren Jahren endlich
der langgenährte Wunſch befriedigt, eilt der beflügelte Schritt zum
Römerzug über die Alpen hinab in die lombardiſche Ebene, hat
der Verlangende den Sabiniſchen Himmel über ſich erblauen ſehen,
in den Grotten und an den Kaskadellen Tivolis das ewig nach¬
klingende „Ille terrarum mihi praeter omnes angulus ridet“
ſinnend wiederholt, dann begegnet es wohl, daß er etwas kühler
geſtimmt zurückkehrt.


Woher dieſe bei italieniſchen Reiſen oft wiederkehrende Er¬
ſcheinung? — dieſe vermeintliche Enttäuſchung? —


Ein Umſtand iſts, der manche Erwartung überſpannt und zu¬
gleich die ſpäteren Effekte merklich abſchwächt; — das iſt die Intro¬
duktion zur italieniſchen Reiſe, es iſt der erſte Tag jenſeit der
[106]Südliche Alpenthäler. Alpen. Die Steigerung der landſchaftlichen Schönheit iſt eine ſo
ſtürmiſch-wachſende, Augen und Sinne ſo völlig übernehmende,
wenn man vom Gotthard oder Bernhardin herabkommt, daß nach
dem Wonnerauſch dieſer Ouvertüre man begreiflich immer ein noch
lebhafteres Crescendo, ein Wachſen der Fülle landſchaftlicher Pracht
und Herrlichkeit erwartet. Aber dies, — iſt man über das para¬
dieſiſche Gebiet der piemonteſiſchen und lombardiſchen Seen hin¬
aus, — tritt nicht nur nicht in dem erwarteten Maße ein, ſondern
im Gegentheil, vorläufig ſogar ein Abfallen, eine Verminderung
jener wilden Sinneſtürmer.


Unſtreitig gehört das Herabſteigen von bedeutenden Alpen¬
höhen in die oft verſchwenderiſch-reich von der Natur ausgeſtatteten
ſüdlichen Thäler zu den größten Reiſegenüſſen, die ſich überhaupt
darbieten können. Man würde, um die ausgeſuchteſten Eindrücke
vorzubereiten, die Scenerie der meiſten großen Alpenſtraßen nicht
raffinirter zuſammenſtellen können, als es im Alpenbau bereits der
Fall iſt. Schon dieſſeit der Berge beginnt das Herabſtimmen,
das Zurückdrängen der bangenden Seele in ihre innerſten Tiefen.
Hier gähnt vorm Gotthard die wilde, lebloſe, trümmer-überſäete
Schöllenen-Schlucht und endet erſt droben, wo bei der Teufels¬
brücke die Gneisſchroffen eng zuſammentreten. Nur für wenig
Augenblicke geſtattet das idylliſche Urſeren-Thal ein Freiaufathmen, eine
kurze Friedensraſt. —Ganz die gleichen Schreckenspforten verſchließen
als Via mala und Roffla-Schlucht die beiden öſtlichen großen ita¬
lieniſchen Kommerzialſtraßen über den Bernhardin und Splügen,
— oder als Deſilé de Marengo den Paß über den Großen St.
Bernhard. Nun hebt bei allen dieſen Päſſen das eigentliche Stei¬
gen erſt an, zu den baumloſen, halberſtorbenen Höhen, immer im
Zickzack, immer einförmiger und kahler.


Es führt uns bald längs brauſenden Geſtaden
Durch Wüſten bald, durch jäher Klüfte Mitte,
Es bebt das Herz, es zittern unſ're Tritte,
Und wir entſagen gern, um das nur baten.
[107]Südliche Alpenthäler.

Fortwährend mahnen Gallerien und Zufluchtshäuſer auf Schritt
und Tritt daran, daß in der ſchlimmen Jahreszeit der Tod auf
den Wanderer lauert, um mit einem Löwenſprung als Lauine oder
im wüthenden Wirbel als Schneeſturm ſeine Beute zu packen. —


Iſt nun die Freude an der farbigen, blühenden, lebensvollen
Natur faſt auf den Gefrierpunkt herabgeſchraubt, hat uns die hei¬
tere Welt der Organismen faſt ganz verlaſſen, ſind wir auf der
öden Paßhöbe von 6500 Fuß angelangt, dann erſchließt ſich, erſt
eng und begränzt, dann immer mehr ſich erweiternd ein neuer
Niederblick auf neues Leben. Die erſte Stunde bietet noch wenig;
doch grüßen ſchon hie und da die reizenden Aretien-Polſter mit ih¬
ren blendendweißen Vergißmeinnicht-Aeuglein, die fröhlichen, rothen,
nelkenartigen Silenen, und die beſcheidenen Androſaceen, immer
geſellſchaftsweiſe verſammelt. Noch etwas weiter hinab kommen
dann ſchon Anemonen und Veroniken, holzſtengelige Strauchpflänz¬
chen, und drüben an den Felſenwänden kriechen als Vorboten der
Baumregion die Lazzaroni der Alpen, die Legföhren herab. Mit
welchem Jubel wird die erſte Lärchen- oder Rothtanne begrüßt!
wie lieben alten Bekannten ſchwingen wir ihnen den Hut entgegen.


Nun wächſt es mit jeder neuen Krümmung des Weges. Die
einzelnſtehenden Bäume ſchaaren ſich ſchon gruppenweis zuſammen
und gehen in kleine Waldflecken über, die an den Seitenhängen
emporklimmen. Rundliche Laubholzkuppeln miſchen ſich darunter,
weißſchalige Birken leuchten von Weitem vereinzelt daraus hervor.
Die ganze Pflanzendecke ſchwillt wieder an und gewinnt an Kraft,
Höhe und Leben. Noch um eine Straßenecke herum, — und
plötzlich öffnet ſich ein tiefausgedehnter Niederblick in das zu Füßen
liegende Hauptthal. Die Bergkouliſſen ſchieben von beiden Seiten
korreſpondirend ſich vor, immer matter nach dem Hintergrund zu
erblauend. Dörfer, Weiler, ſchlanke Kirchthürme winken herauf,
und wie ein großer Faden verbindet ſie die lange ſchmale Linie
der Kunſtſtraße. Da hinab alſo gehts in das erſehnte Land der
[108]Südliche Alpenthäler. Jugendträume. — Bald iſt der erſte Ort erreicht. Die dicken
Steinmauern und die kleinen Fenſteröffnungen erzählen, daß hier
der Winter noch lange und ſtrenge ſein Recht geltend mache, wäh¬
rend es doch ſo fröhlich ſommerlich, ſo freundlich warm und lebens¬
durſtig gegen die öden Paßhöhen ausſieht. Die Leute unterm
Splügen, auf der Südſeite, haben darum eine ſolche Thalſtrecke
„Campo dolcino“, das liebliche Feld, genannt, während es Dem¬
jenigen, der aus Italien heraufſteigt, ſchon recht unfreundlich und
indolcino vorkommt. Was aber iſts gegen die nächſte Thalſtrecke?
wie ſchwillt und quillt da die Vegetation, wie treibts da in jeder
Pflanze, — wie wird Alles ſo maſſig, behäbig und voll! — Das
iſt eben ein in unverhältnißmäßigen Progreſſionen wachſendes Na¬
turleben, das uns hellauf aus jedem Strauch, jedem Baum, jeder
Gruppe anlacht. Droben waren unſere Augen arme, dürftige
Hungerleider, Schmalköſtlinge geworden; nun ſie nur etwas be¬
ſcheidene Nahrung bekommen, ſchwelgen ſie ſchon luſtig und voll
Freude. Gehts doch dem armen Mann im Leben eben ſo, der
nur an Entbehrung und Sorgen gewöhnt, ſich plötzlich zu einem
Kröſus gehoben wähnt, wenn er einmal ein Goldſtück als Eigen¬
thum in ſeiner Hand hält. — Aber nur Geduld, wir ſollen noch
an den Tiſch des reichen Mannes, an die luxuriös beſetzte Tafel
des Verſchwenders geführt werden.


Denn weiter ſtets mit jedem Schritte
Taucht eine neue Welt hervor:
Ein andres Volk und andre Sitte,
Ein Gartenland mit reichem Flor.
Als wärs ein Vorbot des Sirocco,
Weht heiß der Mittagswind herauf,
Und überm Thale von Miſocco
Geht ſchon Italiens Himmel auf.
 
(Ad. Stoeber.)

Wie erſt die Thalſperren la Cluſe am Großen Bernhard und
von Dazio Grande am Gotthard, oder der Ruinen-Riegel von
Miſox unterm Bernhardin und die Thalſtufe von Stozzo am Splü¬
gen überwunden ſind, — (allenthalben natürliche Gränzen der vom
[109]Südliche Alpenthäler. Süden her bergwärts empordringenden warmländiſchen Vegetation)
da erſchließen ſich neue, ungeahnte, landſchaftliche Bilder. Es ſind
ſchon noch die von hohen, felſigen Bergen begränzten Thäler, —
aber die wildkühne Schönheit, die trotzig herausfordernde Haltung
iſt gebändigt. Jener einheitliche, großartige Schnitt, der breite
volle Wurf, die feſte beſtimmte Zeichnung, welche die nördlichen
Alpenthäler ſo unverkennbar charakteriſirt, iſt verſchwunden; gleich¬
ſam tändelnd hat die Natur aus ihrem unerſchöpflich reichen
Schatze die Gegend verſchwenderiſch mit allerlei Schmuck über¬
hangen und geziert. Es liegt entſchieden etwas Weibliches, Edel¬
gefallſüchtiges in ihnen gegenüber der ruhigen, männlichen Größe
und dem ſtoiſchen Ernſt derer am Nordhang. Ueppige, ſinnliche
Lebensfreude athmet die ganze Gegend, und tauſend kleine kokette
Gruppen feſſeln hier den Blick.


Neue Pflanzenformen nehmen die Aufmerkſamkeit in Anſpruch,
— oder wo es alt-bekannte, längſt befreundete ſind, geben ſie ſich in
eleganterem Schwung. Zunächſt ſind es die ſtrotzend-ſaftigen,
mannshohen Maisſtengel mit den breit überhängenden, leuchtend¬
grünen, ſchilfartigen Blättern, Urbilder ſchwelgender Lebensfülle,
die weithin die Felder der Thalſohle bedecken. Das Türkenkorn
(Zea, Melgone im Teſſiner Italieniſch) muß faſt die Hälfte der
Getreidefrüchte hier erſetzen. Weizen und Roggen (Biava), wäh¬
rend er in Deutſchland erſt in das erſterbende, abbleichende Grau¬
grün übergeht, ſteht hier ſchon ſchnittreif, leuchtend gelb. Das
Nadelholz iſt aus dem Thal verdrängt; hinauf an die Bergwände
hat es flüchten müſſen, — drunten pflegt ſich nur rundgewipfeltes
Laubholz. Der Nußbaum, die Weißeller (Betula incana) und die
finſtere Ulme zeigen ſich in Menge. Letztere aber kann mit ihrer
Schwermuth die heitere Sorgloſigkeit der Landſchaft nicht verſtim¬
men. Ein übermüthiger Wildfang umſpinnt ſie mit ſeinem Blätter¬
netz und rankt voll Humor an dem düſteren Murrkopf hinauf.
Es iſt die fröhliche Weinrebe, die in ſorgloſem Leichtſinn empor¬
[110]Südliche Alpenthäler. turnt, und luftige, flatternde Guirlanden von Baum zu Baum
ſchwingt. Hui! iſt das ein geniales Sichgehenlaſſen, ein graziöſer
Muthwille gegenüber der bevormundeten, vom Winzer ängſtlich un¬
ter Zaum und Zügel gehaltenen Pfahlrebe unſerer Kultur-Weinberge!
— Hier zeigt ſie ihr wahres Naturell, da lebt und ſtrebt in ihr
der Feuergeiſt, den ſie durch die Traube als ſprudelnden Lebens¬
quell zollt; und wo man den loſen Stürmer einfing, wo der
praktiſche Eigennutz ſeinem brauſenden Wildwuchs Gränzen zu
ſetzen ſuchte, da ließ man ihm dennoch immer Freiheit genug, in
niederen Laubengängen rankend mit den Geſpielen ſeiner Jugend
ſich zu umarmen.


Weiter begegnen wir dem Maulbeerbaum, deſſen Blätter-Ernte
für die Seidenraupenzucht beſtimmt iſt, — der unſchönen Feige
mit der dünnen Belaubung, — und noch einem Baume, der uns
durch ſeinen impoſanten Wuchs, durch glänzende Blätterfülle, über¬
haupt durch markvolles Ausſehen vor allen anderen auffällt. Es
iſt die Edel-Kaſtanie, der ſüdlichen Thäler größte Zierde. Jeder
einzelnſtehende Baum derſelben, mit einem übermooſten Felſenblock
oder einem Hüttchen darunten, dann dicht dahinten

Mit verwegenem Sprung bergunterſtürzend

Und über die Felſen den Weg ſich kürzend,

Schneeweißen Schaum verſpritzend,

Im Sonnenlicht blitzend,

der ungefüge, feſſellos einherjagende, durchſichtiggrüne Bergſtrom
und die immer weichere violett angehauchte Färbung der Berge
in des Thales Perſpektive, — jede ſolche Gruppe iſt ein Bild,
eine Calame'ſche Studie.


[[111]]
Figure 3. Edelkastanie.

Druck von F. A. Brockhaus in Leipzig.

[][]

Kaſtanienwald.

Du warſt mir ein gar trauter, lieber
Geſelle, komm, du ſchöner Tag,
Zieh noch einmal an mir vorüber,
Daß ich mich deiner freuen mag.
Lenau.

Ein ſüdliches Vegetationsbild voll Leben, Anmuth und drängen¬
der Fülle, in feſten markigen Formen, baut ſich der Kaſtanienwald
an den Böſchungen der kleinen Seitenthäler auf, welche in die
ſüdlichen Abhänge der Alpen einſchneiden. Lebhaft erinnert er,
als hoher, hehrer Laubwald, an die prachtvollen Buchenhaine
Deutſchlands und Dänemarks; aber unter dem mächtig wirkenden
Einfluſſe des wärmeren Klimas und der zauberhaften Verklärung
ſüdlicher Beleuchtung übertrifft er jene an Ueppigkeit und Farben¬
glanz. Er iſt ein Epos, eine Odyſſee der Baumwelt, kühn und er¬
greifend wie ein Harmonieengang Paleſtrinas, himmelaufjauchzend
wie das Halleluja in Händels Meſſias.


Drüben, jenſeit der Berge, im ſchwarzen, tiefſinnigen Bann¬
walde, der vergangenen Zeiten nachträumt, beſchleichen unheimliche
Gefühle den Eintretenden; Schwermuth überſchleiert ſeine Einſam¬
keit, und der Alpengeiſt weht in kalter Größe an ihm vorüber.
[112]Kaſtanienwald.Hier, im Kaſtanienwalde, iſt Alles genießende Gegenwart, friſches
drängendes Streben, — hier frohlockt die Seele und ſchweift in
trunkener Begeiſterung den holdeſten Phantaſieen nach. Er liegt
freilich auch in einer viel tieferen Vegetationszone als jener. Denn
während der alpine Nadelhochwald ſich hauptſächlich in der Region
von 3000 bis 5500 Fuß ausbreitet, erreicht der alpine Kaſtanien¬
wald ſchon mit 2700 Fuß ſeine mittlere Gränze und kommt aus¬
nahmsweiſe bei Soglio im Bergell noch in der Höhe von 3500 Fuß
vor. — Die ſchönſten Wälder dieſer Art an den Alpen beſitzen
Piemont und Welſch-Tyrol. Außerdem iſt die Kaſtanie durchs
ganze ſüdliche Europa verbreitet, deckt im nördlichen Griechenland
große Flächen der Ebene und ſteigt im mittleren Hellas hoch ins
Gebirge hinauf. In Spanien und Portugal überzieht ſie in großen
Beſtänden die höheren Berge oder bildet einen abſchließenden Gür¬
tel unterhalb kalter Spitzen und zeigt ſich als maſſenhafter Wald¬
baum in den Cevennen und im Limouſin. Deutſchland kennt ſie
faſt nur vereinzelt als Zierde der Parkanlagen.


Die Edelkaſtanie oder der Maronenbaum (Fagus castanea
L.
oder Castanea vesca) iſt ein ächter Gebirgsbaum des Südens
und nicht zu verwechſeln mit der wilden oder Roßkaſtanie (Aescu¬
lus Hippocastanum L.
), welche ihrer fächerförmigen Aufſtellung
der Blätter und daherigen dichten Belaubung halber oft zu An¬
lagen von Alleen benutzt wird. Wuchs und Holz, Blüthen, Laub
und Früchte ſind gänzlich verſchieden von jener. — Aber je nach
ihrem Standorte ändert auch die Edelkaſtanie den phyſiognomiſchen
Ausdruck ihrer Stammform und Beaſtung, ſo daß man ſie als
einzelnſtehenden Baum oft beinahe nicht wiedererkennt, wenn man
ſie zuvor nur in Waldmaſſe ſah.


Hier (im Walde) wächſt der walzenförmige Schaft in männ¬
licher Kühnheit und Friſche den Wolken entgegen; Muskelfülle und
ausgiebige Kraft ſchauen aus jeder Faſer. In vermittelnder Ver¬
wandtſchaft ſteht er zwiſchen der ſtraffen, kernigen Stammform der
[113]Kaſtanienwald. glattrindigen Buche und dem nervigen Habitus der rauh-riſſigen
Sommereiche. Um und um iſt Race und ſelbſtſtändiger Halt in
der Erſcheinung. So lange er jung iſt, wird der Stamm von
einem ſaftigen, drall-anſchließenden Rindenkleide umſchloſſen, deſſen
olivengrünes Zellengewebe durchſchimmert; durchaus iſt daſſelbe mit
weißen, linſengroßen Punkten (Lenticellen) überſäet, die ihm ein
jugendfrohes, heiteres Anſehen verleihen. Hat er dann die zwölf
erſten Jahre ſeiner Kindheit zurückgelegt und eine Höhe von etwa
20 Fuß erreicht, dann bekommt er einen buntgeſprenkelten Ueber¬
wurf; grünlich-grau iſt der Grundton des Rindengewandes, auf dem
ſich helle Flecken ſilberfarben abheben, — täuſchend ähnlich wie
bei der deutſchen Weißbuche. Bei beiden rührt dieſe Farbenver¬
änderung von Flechtenbildungen (Verrucaria epidermidis und
analepta) her, welche in reicher Verbreitung den Stamm über¬
ziehen. Nach abermals einem Jahresdutzend tritt der Baum ins
Mannesalter; die Rinde vertrocknet und mit dem Abſterben der
unterliegenden Safthaut-Schichten ändert ſich die Farbe nochmals.
Jetzt dehnt ſich die Holzfülle in die Höhe und Breite, der Stamm¬
umfang nimmt bedeutend zu, die Borke reißt und Furchen durch¬
ziehen den nun dunkelgebräunten Stammpanzer.


Die Aſt- und Zweig-Entfaltung beginnt bei der im Walde
ſtehenden Kaſtanie erſt ziemlich hoch oben und greift in ſtarken,
ſperrigen Linien weit umher energiſch aus, ſo daß die Nachbar¬
bäume in einander überragend, bei reicher Belaubung, ein dichtes
Blätterdach wölben. Dämmerig wie in unſeren kompakten Nadel¬
forſten, gewährt der Kaſtanienwald in den drückend heißen Som¬
mermonaten eine heimlich kühle Zufluchtsſtätte. Man bedarf ſolcher
in den kleinen ſüdlichen Alpthälern. Die Sohle derſelben iſt oft
überraſchend ſchmal; nur der holperige, allen gegebenen Kurven
ſich ſklaviſch anſchmiegende Weg und der kryſtallklare, wellen¬
hüpfende Bergbach haben Raum nebeneinander, dann gehts auf
beiden Seiten ziemlich ſteil in die Höhe. In dieſe ſchluchtartigen
Berlepſch, die Alpen. 8[114]Kaſtanienwald. Einſchnitte lagert ſich die volle Wucht der Sonnenſtrahlen und er¬
hitzt die Felſenwände oft in hohem Grade. Kein Dorf, kein Wei¬
ler, kein Hof liegt unten im Thale, alle droben an den prächtig
grünen Berghängen. Dort componirt ſich, namentlich an der Ab¬
dachung der Monte-Roſa-Gruppe, jede einzelne Ortſchaft aus einer
Menge kleiner zerſtreuter Gemeinden (cantoni), die aus großen
reſpektabelen Steinhäuſern im italieniſchen Styl, je mit einer Ka¬
pelle, beſtehen. Aber man kann viele derſelben kaum ſehen, weil
ſie in den Wipfelwald der Kaſtanien verhüllt ſind. Ein reizend¬
idylliſches Bild dieſer Art ſtellt z. B. das Dorf Roſſa im Seſia-
Thale dar, wo der vielleicht prächtigſte Kaſtanienwald der ganzen
ſüdlichen Alpen-Abdachung ſteht. Dieſe Hochlage der Dörfer giebt
den Monte-Roſa-Thälern in Piemont ein durchaus von dem Cha¬
rakter der nördlichen Alpthäler abweichendes Anſehen. Bei dem
Schmuck, den ihnen die diamantklaren, mit leicht grünlichem An¬
hauch gleichſam ſchillernden Bergbäche und die durch dieſelben ge¬
bildeten kryſtallhellen Waſſerbecken verleihen, würden dieſe Thäler
die ſchönſten der ganzen Alpenwelt ſein, wenn ihre Berge nach der
Höhe zu farbiger und formenreicher wären. Aber nicht ſelten gehen
ſie in eine faſt troſtloſe Monotonie über, die ganz beſonders in
den Grajiſchen Alpen vorherrſcht.


Nicht allenthalben ſtehen die Bäume ſo dicht. Früher z. B.
bedeckte den Monte Cenere, über welchen die ſehr frequente Land¬
ſtraße von Bellinzona nach Lugano führt, ein dichter Kaſtanien¬
wald; da ſich aber viel Raubgeſindel und Wegelagerer in demſel¬
ben aufhielt, ſo lichtete man ihn bedeutend. Hierdurch gewannen
die Bäume an Licht und Raum und dehnen jetzt ihre Aſtkuppeln
ungemein wohlig aus.


Ganz anders präſentirt ſich der frei und einzelnſtehende Baum.
Im erſten Blicke gleicht er in dem übermüthigen, trotzigen Umſich¬
zacken der Prinzipal-Aeſte, in der breitſpurigen, knotig-poſitiven Kon¬
ſtitution des kurzen, vierſchrötigen Stammklotzes, in der warzig¬
[115]Kaſtanienwald.vernarbten Rinde, kurz im ganzen Holzaufbau, der deutſchen Winter¬
eiche wie ein Spiegelbild. Eben ſo wie bei dieſer giebt es Stämme
von gewaltigem Umfang. Solche von 20 bis 30 Fuß Circumferenz
ſind nicht ſelten; im Val Miſocco ſteht einer, der 3 Fuß ob dem
Boden 32 Fuß mißt. Der berühmteſte Baum iſt bekanntlich jener
am Aetna, „Caſtagno di cento cavalli“ genannt, deſſen Umfang
180 Fuß beträgt. Da aber ſeine Höhe in durchaus keinem Ver¬
hältniß zu ſeiner Breiten-Wölbung ſteht, ſo erſcheint er in einiger
Entfernung eher wie ein rieſenhafter Buſch. In der That zeigt
er auch nicht einen maſſiven Stamm, ſondern eine Gruppe von
fünf Aſt-Koloſſen, die aus einem jetzt unter der Erde verborgenen
Stamm-Fundamente ausgehen.


Die Edel-Kaſtanie iſt in ihrer Ausſchlagsfähigkeit und Re¬
produktionskraft außerordentlich; ſie gehört zu den zäh-lebigſten
Bäumen. Stämme, hohl wie die geſpenſtiger, alter Weiden, in
denen einige Männer bequem wie in, einem Pavillon Platz haben
würden (improviſirte Schilderhäuſer der Landſchaft), — ja ſogar
ſolche, in denen der caprajo (Ziegenhirt) ſein Feuer anzuzünden
pflegt, um ein armſelig Gericht Polenta darüber zu bereiten, —
Stämme, deren innere Wandflächen ſchwarz verkohlt ſind, — grü¬
nen friſch und fröhlich in den Laubkronen. Ein oft nur wenige
Fuß breiter Rinde-ſtreifen mit ſeinen Splintzellen, der ſich an dem
faſt völlig entrindeten Stamm emporzieht, bringt dem Gipfel hin¬
reichende Nahrung zu.


In ebenmäßiger Uebereinſtimmung mit der noblen männlichen
Haltung des Stammes, ſeiner formſtolzen Kuppelbildung und dem
ausgedehnten Aſtumfange ſteht auch die charakteriſtiſche Zeichnung
des Laubes. Die länglich-lanzettförmigen Blätter ſtrotzen von
Eigenwillen und ſelbſtherrlichem Ausdruck. Lebhaft würden ſie an
das antike Attribut des Sänger-Preiſes, an das edelgeformte Lor¬
beerblatt erinnern, wenn ſie zu den harmloſen friedlichen Laubge¬
ſtalten gehörten; aber als Kinder ihres ſtolzen Hochaufſtrebenden
8*[116]Kaſtanienwald.Vaters ſtrömt auch deſſen ritterliches Blut in ihren Adern. Rundum
am Rande ſtrecken ſie, als Enden der Blattrippen, ſcharfe, leicht¬
gekrümmte Stachelſpitzen hinaus, die jedes Blatt keck waffnen und
ihm ein durch und durch energiſches Anſehen verleihen. Feſt und
dauerkräftig, zäh und ſolid iſt das ganze derbe Zellengewebe, glatt
und glänzend die friſche tiefgrüne Oberfläche jedes Blattes. Darf
ſich der Baum in ſeinem ganzen zuverſichtlichen Weſen, in ſeiner
heroiſchen Architektur, dreiſt mit dem Urbilde der Kraft und Stärke,
mit der deutſchen Eiche, auf gleiche Linie ſtellen, ſo darf es nicht
weniger das Blatt in ſeiner freien Naturwüchſigkeit.


Eben ſo appart und eigenförmig wie Stamm und Belaubung
ſind endlich auch die Früchte und ihre Hülle. Unter unſeren euro¬
päiſchen Pflanzen giebt es keine, welche ihre Samen in ſolche
dicht, mit langen, ungemein ſpitzen Nadeln bewaffnete Hülſen ein¬
ſchließt. Die Frucht der wilden oder Roß-Kaſtanie hat auch eine
ähnliche, mit ſcharfen Dornen beſetzte äußere Schale, aber die Dor¬
nen ſind kurz, ſtehen weit auseinander und erinnern höchſtens an
die Geſtalt der mittelalterlichen Morgenſtern-Waffe. Die Hülle der
Marone oder eßbaren Kaſtanie, (die im October reift), iſt ein zu
Schutz und Trutz gewaffnetes Noli me tangere, eine unantaſtbare
Stachelkugel, das vollendet ähnliche Miniatur-Ebenbild eines zuſam¬
mengerollten Igels oder afrikaniſchen Stachelſchweines. Würde
dieſelbe beim Ausreifen nicht von ſelbſt in drei Theile zerplatzen,
ähnlich wie die Becher der Buchnüßchen, ſo möchte es ſchwer hal¬
ten, die Kaſtanie aus ihrer dornumpanzerten Feſte zu gewinnen.
Bekanntlich bildet ſie bei den niederen Volksklaſſen des ſüdlichen
Europa während der Wintermonate ein Hauptnahrungsmittel, das
die Stelle des Brodes vertreten muß; ſeit der immer mehr in Auf¬
nahme kommenden Kultur der Kartoffel ſcheint indeſſen der Werth
der Kaſtanie abzunehmen. In Italien iſt „Chatigna“, ein mit
Salzwaſſer aus dem Mehl der Marone bereiteter Brei, noch in vie¬
len Gegenden tägliches Tiſchgericht; — im Teſſin ißt man die Frucht
[117]Kaſtanienwald. ſowohl geſotten, „Farud“ als auch auf dem Roſt gebraten, „Brasch.“
Vorſichtig gedörrt kann man ſie beinahe ein ganzes Jahr lang
aufheben. Ein großer tragkräftiger Baum mag in günſtigen Jah¬
ren fünf Centner Früchte liefern. Die Ernte der Inſel Korſika
allein wird jährlich auf hunderttauſend Kronen geſchätzt. — Im
Bergell, wo bei Soglio und weiter draußen auf der Schuttfläche
des durch den Bergſturz von 1618 begrabenen Dorfes Plurs ganze
Waldungen ſtehen, hat man ein Sprüchwort: „Quantas moscas,
tantas castanies“,
welches ſagen ſoll, ſo viel Fliegen ein feucht¬
heißer Sommer bringt, eben ſo viel Kaſtanien liefert die gleiche
Jahresernte.


Der ſoeben erwähnte Standort bei Soglio iſt um deswillen
beſonders intereſſant, weil hier die, an das kalte, ſchneeluftige
Klima der eigentlichen Alpenregion gebundene Arve (Pinus cembra)
ihre Zapfen mit den ſüßen eßbaren Zirbelnüßchen unmittelbar
neben der Kaſtanie reift, und beide Bäume geſellſchaftliche Wald¬
komplexe, der „Branten“ genannt, bilden.


Aber auch nach ihrem Tode, nachdem ſie aufgehört hat, als
ſchönſter Laub-Baum des Südens die Landſchaft feſtlich und lebens¬
voll zu ſchmücken und durch ihre Früchte zu ernähren, zeigt ſich die
Kaſtanie im Werthe ihres Holzes noch als edle, hervorragende
Pflanze. Denn dieſes ſteht an Feſtigkeit, Ausdauer und Solidität
dem der Eiche unmittelbar zur Seite, und würde, da ſeine Jahres¬
ringe durch weitwandige Gränzröhren wie bei der Eiche auffallend
von einander geſchieden ſind, ſelbſt in ſeinen phyſikaliſchen Eigen¬
ſchaften dem Eichenholze völlig gleichſtehen, wenn ihm nicht die
charakteriſtiſchen, großen Markſtrahlen gänzlich fehlten. — Die
Meer-gebietende Dogenſtadt Venedig, das reiche lachende Genua,
die gewaltigen Werfte Englands bauten ihre rieſigen Dreimaſter,
ihre gewaltigen Kauffahrtei- und Kriegsſchiffe aus Kaſtanienholz,
weil es von Würmern und den zerſtörenden Bohrmuſcheln (Phola¬
den) nicht angegriffen wird. Die mächtigen Balkengelüſte der
[118]Kaſtanienwald.prächtigen Weſtminſter-Halle in London, welche der verſchwende¬
riſche Richard II. von England gegen das Ende des 14. Jahr¬
hunderts erbauen ließ, — die Dachgebälke vieler der herrlichſten
gothiſchen Kathedralen Frankreichs und Spaniens beſtehen aus dem
Holze unſeres vortrefflichen Baumes, und ſind noch heute ſo trag¬
kräftig und unverſehrt als vor 500 Jahren. — Schon vom leben¬
den Baume wird behauptet, daß er weder dem Inſektenfraß noch
ſonſt irgend einer Krankheit ausgeſetzt ſei, als dem Hohlwerden
im Alter. Aber ein gefürchtetes Thier birgt ſich vorzugsweiſe gern
unter ſeinen Wurzeln, nämlich der gemeine Skorpion (Scorpio
europaeus
). Die Italiener, welche mit dem ſ. g. Skorpionöl (das
gegen den Stich giftiger Fliegen, Wespen und Bienen gut ſein
ſoll) noch bisweilen im Lande umherziehen, fangen die zur Berei¬
tung dieſes Oeles nöthigen Skorpionen durch Ausgraben der
Erde unter Kaſtanienwurzeln. Aus den jungen Zweigen werden
ſehr dauerhafte, ſpannſcharfe Faßreife gefertiget, wie denn auch
Fäſſer, deren Dauben aus Käſtenholz geſpalten wurden, beinahe
unverwüſtlich ſein und den Wein trefflich konſerviren ſollen. Als
Brennholz dagegen hat die Edel-Kaſtanie durchaus keinen Werth;
die Scheite glimmen nur, ohne beſondere Hitzkraft.


So wächſt und ſchmückt, ſo nutzt und vergeht des ſüdlichen
Alplandes ſchönſter Laub-Baum.


In dieſes Waldes leiſem Rauſchen

Iſt mir, als hört' ich Kunde wehn,

Daß alles Sterben und Vergehn

Nur heimlich-ſtill vergnügtes Tauſchen.
[[119]]

Eine Nebel-Novelle.

Aus dem reizendſten Winkel des Genfer-Sees bei Montreux
und Chillon führen zwei Wege übers Gebirge in den Kanton Bern
und ins Saane-Thal. Der eine derſelben, la Tinière, iſt ſteinig,
unwegſam und minder begangen, während der Pfad über den
„Jaman“ bequem, ziemlich belebt und leicht zu finden iſt. Man
glaube indeſſen nicht, daß dieſe beiden Gebirgswege eigentliche
„Päſſe“ ſeien, wie ſie in den Hochalpen-Kantonen Glarus, Uri,
Graubünden und Wallis vorkommen, oder wie ſie im Chamouny
über die bekannten „Cols“ führen; ihre Scheitelhöhe erreicht nir¬
gends 4700 Fuß über dem Meeresſpiegel, und der Weg über den
Jaman bietet mindeſtens alle halbe Stunden eine menſchliche
Wohnung.


Bei heiterem Wetter gewährt dieſer Bergübergang unvergleich¬
lich ſchöne Rückblicke auf den See und ſeine reiche, maleriſche
Uferſcenerie; überraſchen den Wanderer jedoch Nebel und Nacht
auf dieſen Höhen, dann ſind Weg und Steg ungeheuerlich wie
überall im Gebirge, und wehe dem, der keinen Führer hat oder
vom rechten Wege abirrt.


[120]Eine Nebel-Novelle.

Bei drückender Mittagswärme hatte ich am 15. September
1852 Vevey verlaſſen und ſchlenderte unentſchloſſen längs dem
See die Straße hinab. Schon oft hatte mich die einſamſtehende
Felszacke der Dent de Jaman von Weitem freundlich winkend zu
einem Beſuche eingeladen, aber ſo oft ich auf dem Dampfſchiff an
ihr vorüberfuhr, lag ſie außerhalb meiner Reiſeroute. Heute kam
mir die „Dent“ in meinem „Wohin-Zweifel“ ganz gelegen, und
vor Clarens links vom Wege abbiegend, vor mir die hohe Naye,
ſtieg ich zwiſchen Weinbergen gegen Chailly und Chernex empor.
Immer freier und prachtvoller entfaltet ſich die große, umfaſſende
Rundſchau, je höher man ſteigt. Es iſt ein Bild, das in ſeinem
Reichthum an hoher Majeſtät und idylliſcher Einfachheit, an Far¬
benpracht und Formenfülle bei völliger Harmonie der Gegenſätze
ſeines Gleichen im ganzen, weiten Alpenlande ſucht.


Der Himmel hatte allgemach eine mißliche Färbung angenom¬
men, bleigrau und eintönig dehnte er ſich über die prachtvolle
Landſchaft aus und die Sonne ſchien mattgelb und ſchläfrig hin¬
ein. Ein deutſcher Profeſſor, der mit ſeinen Zöglingen über den
Col de Jaman herabkam, empfahl mir das Bergwirthshaus „En
avant“ bei Mr. Dufour, und ſein wie ein Laſtpferd mit Taſchen,
Nachtſäcken, Torniſtern und Botaniſirbüchſen bepackter Führer
meinte: „da hätte ich die beſte Gelegenheit, den Regen abzu¬
warten.“ —


Verdrießlich überraſcht ſah ich dem halb lachend, halb keuchend
forttrabenden Laſtträger nach, und ein fragender Blick hinauf zur
Sonne, die gläſern, faſt ſtrahlenlos hinter der, von wäſſerigen
Dünſten erfüllten Atmoſphäre ſtand, ſo wie unheimliches, ſchmutzig¬
graues Gewölk an der Dent du Midi ſchienen mir leider die un¬
erwartete Wahrheit des Wetterpropheten zu beſtätigen. Umkehren
war von jeher meine Paſſion nicht, ſelbſt in Fällen, wo mein
Ortsſinn mir ſagte, daß ich auf falſchem Wege ſei. Darum galt
es jetzt einen Schritt zuzulegen. Raſcher, als ich gehofft, kam ich
[121]Eine Nebel-Novelle.zu der freundlichen Hüttenkolonie. Die Bauern von Montreux,
denen die umliegenden fetten Bergwieſen gehören, waren hier oben,
um ihr Oehmd (Grummet, zweites Heu) einzuheimſen. Da geht
es denn bei Mr. Dufour lebendiger her als ſonſt, beſonders am
Abend.


Kaum hatte ich bei einer Flaſche trefflichen Waadtländer Wei¬
nes eine halbe Stunde geraſtet, als einer der Bergbauern mit der
tröſtlichen Nachricht eintrat: „y pliau“ (es regnet). Alſo der
Profeſſoren-Führer hatte doch recht gehabt. Dieſer Pliau verdich¬
tete ſich aber zuſehends, und mit dem raſchen Eintritt der Däm¬
merung ſchienen alle Schleuſen der himmliſchen Bäche gezogen zu
ſein. — Abendbrod, — Gute Nacht, — zu Bett! — war das
einzige Rettungsmittel gegen den im Anmarſch begriffenen Unmuth.
Morgen kanns ja beſſer ſein.


Gegen Morgen, als ich erwachte: O weh! Fortſetzung vom
vorigen Abend. Das Rieſeln der Waſſerfäden über die geſättig¬
ten, glänzenden Dachziegeln in die erklingende Blechrinne, und
das plätſchernde Abtröpfeln der Traufe aufs Pflaſter hat gleich
jedem anderen monotonen Geräuſch eine magnetiſch einſchläfernde
Kraft. — Auch ich erlag ihren Einwirkungen. Nach 9 Uhr er¬
wachte ich zum zweiten Mal. Ein Blick durchs Fenſter, — Ne¬
bel und dichter Regen! Von der Gegend waren nur die näher
gelegenen Partieen ſichtbar! Drunten, nach dem See zu, der ſonſt
ſo reizende Einblick, war dicht verſchleiert durch graue, tiefhängende
Wolken. Die Tagesparole: Hierbleiben und in Geduld Abwarten!
diktirte ſich von ſelbſt.


Ich hatte tauſend Prozent vor jedem ähnlichen Unfall, wenn
er mir zum Beiſpiel in einer, von aller Welt abgeſchnittenen, ein¬
ſamen Alpenhütte begegnet wäre, voraus; denn Mr. Dufours
Wohnung war ein ganz ordentliches Häuschen, das genugſam ge¬
gen die Unbilden der Witterung ſchützte, und das Bett in meinem
[122]Eine Nebel-Novelle. weißgetünchten Kämmerlein, obwohl hart, war immerhin beſſer als
ein feuchtes Alp-Heulager.


Ueberall, wo man ſich gegenſeitig durch das Mittel der Sprache
verſtändigen kann, findet der nach Unterhaltung ſich ſehnende Rei¬
ſende ſelbſt beim einſeitigſten und trockenſten Geſellſchafter irgend
ein Hinterpförtchen, um ihn aus der Verſchanzung des nüchternen
Ja und Nein hinaus auf das Feld der Gedanken-Aeußerung zu
drängen, und dort läßt ſich von einem Jeden, und wäre es der
ungebildetſte Bauer, immer noch Etwas lernen. Aber auch dieſes
beſcheidene Mittel hört auf, wenn man ſich nicht gegenſeitig ver¬
ſtändigen kann. So ging's auch mir. In meinen Schuljahren
waren mir die Stunden des franzöſiſchen Sprachunterrichtes immer
die langweiligſten, und ich wäre hier gänzlich troſtlos daran ge¬
weſen, wenn mich in ſpäteren Jahren nicht die Nothwendigkeit ge¬
zwungen hätte, das in der Jugend Verſäumte nachzuholen. Jetzt
ſprach ich nun zwar grammatikaliſch Franzöſiſch, und die Wirthin,
ſo wie einige der anweſenden Bauern, verſtanden mich wohl, —
aber ich verſtand ihr verſchwimmend romaniſch-franzöſiſches Patois
nur unzuſammenhängend, meiſt halb errathend. Dieſes Hinderniß
mußte überwunden werden; mit einer wahren Sündfluth von
„comment s'appelle cela?“ und „qu'est cela“? begann ich mir
ein Vokabularium anzulegen. Das führte denn zu einem höchſt
komiſchen Vorfall. Zur Erluſtigung ſämmtlicher Gäſte, die eben¬
falls wie ich an der Langeweile litten, begann ich nämlich Schule
zu halten, aber in umgekehrtem Verhältniß, das heißt ſo, daß ich,
der ich einziger Schüler, war und acht oder zehn trinkende und
rauchende Lehrer um mich ſitzen hatte, dieſen meine Fragen vor¬
legte und Alle, wie aus einem Munde, mich beantwortend unterrich¬
teten. Da gabs denn tüchtig zu lachen. Ein paar Maß des
ſchon erwähnten Yvorner Weines, der hier ſpottbillig iſt, unter¬
ſtützten meine wißbegierigen Beſtrebungen, und in meinem Tage¬
buche füllte ſich Seite um Seite. Dieſer Spaß vertrieb uns
[123]Eine Nebel-Novelle. einige Stunden Zeit, dann verlor er nach und nach ſeine Spann¬
kraft, und draußen lief, nach wie vor, das naſſe Einerlei vom Himmel
hernieder. Wie begonnen, ſo endete der Tag, und auch, die zweite
Nacht. Der dritte Morgen brachte abermals Nebel und Regen in
Strömen. Jetzt fing die Geſchichte an ernſtlich langweilig zu
werden.


Abermals war Mittag vorüber. Während ich, mit den Fin¬
gern am Fenſter trommelnd, gedankenlos in die große General¬
wäſche der Natur hinausſchaue, kommen zwei junge kräftige Män¬
ner, der eine bedeutend größer und breitſchulteriger als der
andere, gegen das Wirthshaus heraufgewandert, — ſo gründlich
und vollſtändig durchnäßt, daß ſie nicht naſſer werden konnten.
Die Hüttenkoloniſten, meine Freunde und Lehrer von geſtern, kannte
ich ſämmtlich; — dies waren neue Geſichter, — Grund genug,
mein Intereſſe an ihrer Perſon, ihrem Erſcheinen zu erhöhen.
Woher? Wohin? Hierbleiben oder Weiterwandern? Fremd oder
Einheimiſch? fragte ich mich ſelbſt mit Neugierde, denn ein Kom¬
men unter ſolchen Umſtänden war ein Ereigniß, mußte irgend
einen triftigen Grund bei dieſem triefenden Regen haben. Der
Eine, Größere, ging geraden Schrittes auf den vor dem Hauſe
ſtehenden Brunnentrog und ſeine immerwährend laufende Röhre
zu, begann Stock und Schirm abzulegen, überhaupt zu irgend
einem Geſchäft ſich anzuſchicken. Was? auch noch waſchen? bei
dieſer exemplariſchen Durchnäſſung, wo der ganze Körper ſchon
einem unfreiwilligen Vollbade ſeit geraumer Zeit ausgeſetzt ſein
mußte? Das ſchien mir Luxus zu ſein. Jetzt zog er ſeine dicken,
ſchweren, rindsledernen Schuhe aus, hielt dieſelben unter den lau¬
fenden Waſſerſtrahl und ſchwenkte ſie zwei, drei Mal aus, wie man
ein unreinliches Glas ſäubert; er hatte Sand und kleine Kieſel
drin gehabt. Dieſe Abhilfe war mir ein wenig allzu radikal, ſo
konnte nur ein Naturmenſch handeln, der mit Wind und Wetter
auf Du und Du ſteht.


[124]Eine Nebel-Novelle.

Wie Beide eingetreten waren, hörte ich zu meinem nicht ge¬
ringen Erſtaunen, daß ſie über den Paß Plan de Jaman wollten.
„Bei dieſem Wetter?“ fragte ich überraſcht. — „Warum nicht?“
war die Antwort. — „Oho!?“ ſtrammte ſich das Ehrgefühl in mir
an, „was Ihr könnt, iſt auch mir möglich. Alſo im Ernſt über
Plan de Jaman?“ — „Ja, Herr! nach Montbovon!“ war die
deutſche Antwort des Großen, eines Berner Oberländer Burſchen
aus dem Simmenthal, dem die Wirthin geſagt, daß ich ein Rei¬
ſender aus der deutſchen Schweiz ſei. „Wollt Ihr mein Führer
ſein?“ — „Gern, Herr!“ entgegnete er freundlich, während ſeine
großen treuen Augen mein Vertrauen in ihn beſtärkten; „geben
Sie mir nur Ihren Reiſeſack, ich will ihn ſchon tragen, hab'
ſchon oft mit fremden Herren über die Berge gehen müſſen!“ —
Topp! Abgemacht. Zeche bezahlt, Alles in die noch friedlich¬
trockene Seehundfell-Taſche wohl verwahrt gepackt, auch mein Porte¬
feuille mit Paß und Papiergeld; den Alpſtock zur Hand, und nun
„B'hüt di Gott, Herr Wirth, Frau Wirthin, liebe Nachbarn!“ —
Fort, hinaus! in Nebel und ſtrömenden Regen.


In den erſten zehn Minuten war ich hinſichtlich des Durch¬
näßtſeins meinen beiden Begleitern völlig ebenbürtig. Durch Wald
gings bergauf. Durch die Runſen, in den Hohlwegen und wo
ſonſt nur irgend eine Einſenkung an der Abdachung des Berges
war, kam das Wildwaſſer herabgeſchoſſen mit jagender Haſt, in
überſtürzender Eile. Alle paar hundert Schritte mußten wir durch
dieſe improviſirten Bäche ſchreiten, einige Male auf Schußlänge in
denſelben marſchiren. Es währte nicht lange, ſo hätte auch ich
Mr. Dufours Brunnen brauchen können, um meine Schuhe von
läſtigem Sande zu ſäubern, den das ſtrömende Waſſer mir hinein¬
geſpült hatte. Alles das, was mich im trockenen, ſchützenden
Wirthsſtübchen als ſo außerordentlich überraſcht hatte, machte ich
jetzt ſelbſt ganz reſignirt, — oder nicht einmal reſignirt, ſondern
in freudiger Stimmung mit.


[125]Eine Nebel-Novelle.

Nach ungefähr dreiviertelſtündigem Steigen waren wir auf
der Höhe des Col; uns zur Rechten der verwitterte Felszahn des
Jaman, ſchwarzgrau und geiſterhaft aus dem ſchweren Nebelmantel
hervorſchauend. Hier, wo ſonſt bei hellem Wetter jene bezaubernd
ſchöne Ausſicht ſich entfaltet, die als die prächtigſte am ganzen
Leman gilt, ſtanden wir in kalter Zugluft, im überſtrömenden Re¬
gen, eingehüllt in ein trübes, unheimliches Dunſtmeer, das nur da
und dort ſich maſſiger, ſchwerer zuſammenballte, während an ande¬
ren Stellen die Nebel vom Winde zerriſſen, in geſtreckten, phan¬
taſtiſchen Formen und Gebilden, wie Nachzügler des wilden Heeres,
vorüberjagten. — Der kurze Alpenraſen war durch den Regen un¬
gemein glatt und ſchlüpfrig geworden, ſo daß auf ihm, wo der
Weg ſich ſenkte, nicht wohl mit feſtem und ſicherm Tritt zu gehen
war. Von eigentlichen Wegen kann indeß, wie überall auf einer
Alpweide, nicht füglich die Rede ſein; da laufen Hunderte ſchein¬
barer Pfade, d. h. langer Linien, welche die Raſen- und Pflanzen¬
decke des Bodens durchſchneiden, und wo entweder das nackte Ge¬
ſtein zu Tage tritt, oder geröllähnliches Steingebröckel den Weg
zu bilden ſcheint, — hunderte ſolcher Pfade laufen nebeneinander
her, durchkreuzen ſich, brechen ab und geſtalten, zumal im Nebel,
ein Labyrinth, das Jeden, der mit der Gegend nicht ganz wohl be¬
kannt und ſicher vertraut iſt, leicht ihre führen kann.


Mein Simmenthaler Führer ließ eine lange Reihe heller, ju¬
belnder Jauchzer ertönen, trotz Näſſe der Kleider und Ungunſt des
Wetters. Das iſt ächt ſennenmäßig. Seine Jodler wurden be¬
antwortet von mehren Seiten her, — aber von wem? konnten wir
nicht ſehen; aus dem Nebel kamen die Antworten.


Raſchen Schrittes gings bergab; mitunter im beflügelten Ba¬
lancirſchritt, mitunter halbgleitend, ſo daß der Alpſtock faſt dieſel¬
ben Dienſte leiſten mußte, wie wenn man über ein flachabſchüſſiges
Firnfeld hinabgleitet. Es währte nicht lange, ſo kamen wir bei
einer großen reinlichen Alphütte an. Wir waren auf Freiburger
[126]Eine Nebel-Novelle.Gebiet. Hier ſchied unſer Drittmann von uns, und dies gab Ver¬
anlaſſung in die Sennerei einzukehren, um ein Wenig zu raſten.
Dieſe hier verſäumte halbe Stunde am erwärmenden, helllodernden
Feuer wurde Urſache eines Abenteuers, das ſelbſt in der Rück¬
erinnerung mir jedesmal neue Schrecken bereitet.


Als wir nämlich die Hütte ſelbander verließen, hatte der Ne¬
bel ſich ſo gewaltig verdichtet, daß wir buchſtäblich uns kaum er¬
kennen konnten, wenn wir nicht unmittelbar Schulter an Schulter
ſtanden; auf doppelte Schrittlänge waren ſelbſt nicht einmal die
Umriſſe einer menſchlichen Geſtalt zu erkennen. Dieſer Umſtand
bedingte es, die geſpannteſte Aufmerkſamkeit dem zu verfolgenden
Pfade zu widmen und die Sorge um den rechten Weg, ſo wie der
ungewöhnliche Kraftaufwand, um nicht auszugleiten, verſetzte uns
trotz der ſchneidend kalten, regenerfüllten Luft in ſolche Transſpira¬
tion, daß wir Beide nicht weniger ſchwitzten, als wie man in der
Mittagsſonnengluth eines heißen ſchwülen Julitages beim Bergan¬
ſteigen zu ſchwitzen pflegt. Mehrmals zeigte es ſich, daß wir nicht
ganz genau die rechte Richtung inne gehabt hatten, als es galt,
Häge und trennende Einfriedigungen zu überſteigen, wie ſie allent¬
halben in den untern Staffeln, Maienſäßen oder Heubergen der
Alpen vorkommen. Ein paar Dutzend Schritte rechts oder links, —
und wir hatten immer den rechten Pfad wiedergefunden, der durch
ein Gatterthor lief oder, wie dies noch öfter vorkommt, durch
große treppenförmig gelegte Steine bezeichnet iſt, welche es ermög¬
lichen, das Knüppelflechtwerk rittlings zu überſteigen. So gings
eine geraume Zeit fort. Wir hatten das Wirthshaus En allières
nicht betreten, in Rückſicht der früheinbrechenden Nacht, denn ſchon
begann es entſchieden zu dunkeln. Jetzt galt es, wieder über einen
ziemlich hohen Hag zu ſteigen, und unſerer bisher als zweckmäßig ſich
erwieſenen Praxis gemäß, gingen wir längs deſſelben, um den
Durchſchnittspunkt zu entdecken; rechts ging es ſanft geneigt bergab,
links ſtieg es. Wir ſuchten, aber vergebens. Es handelte ſich
[127]Eine Rebell-Novelle. hier weniger darum, bequem über den Zaun zu kommen, als durch
Auffindung des gewöhnlichen Ueberganges uns des rechten Weges
zu verſichern, welcher, nach der wiederholten Ausſage meines Füh¬
rers, dann gar nicht mehr zu verfehlen ſei, wenn wir ungefähr
noch zehn Minuten hinter uns hätten. Durch das wiederholte Hin-
und Hergehen an dem Hag hatten wir auch den Punkt verloren,
wo wir zuerſt angelangt waren, und die Nacht rückte immer ent¬
ſchiedener heran, je mehr Zeit wir mit Suchen verſäumten. Noch¬
mals eine tüchtige Strecke links bergan! aber keine Spur deſſen,
was wir ſuchten; wiederum rechts bergab durch den dunkelgrauen
Nebel, und zwar im beeilten Avancirſchritt, aber eben ſo vergeb¬
lich; noch weiter hinab, — es fing an ſteil und ſehr abſchüſſig zu
werden, — immer nichts. Mein Führer, dem das Ding ſelbſt
nicht gleichgültig war, entſandte einige Hilfsſignale in Form lang¬
angehaltener helljohlender Jauchzer; — aber keine Antwort. Er
wiederholte ſeine Anſtrengungen aus einer anderen Tonart, mit
einem Aufwand aller ſeiner jodelnden Liebenswürdigkeit, ſo alpin,
als ob er in der übermüthigſten allerheiterſten Seelenſtimmung ſei,
aber eben ſo vergeblich als vorher. Trotzdem, daß mir unſere
Lage ſelbſt einige Beſorgniß zu erwecken anfing, konnte ich dennoch
das Lachen nicht unterdrücken über dieſe von der Verlegenheit und
Angſt erpreßte, gezwungene Heiterkeit. Was nun thun?


„Bergab müſſen wir noch, nicht wahr?“ — „Ja wohl, Herr!
nach meiner Berechnung iſts keine Viertelſtunde mehr bis zum
Hongrinbach, über den eine Brücke führt, und da iſts ein breiter
durch den Wald führender Weg!“ — „Gut! alſo nicht lange be¬
ſonnen! wir durchbrechen den Hag, halten uns, indem wir bergab
ſteigen, weder allzu links, noch allzu rechts, und wenn wir am Hon¬
grinbache ankommen, folgen wir dem Laufe deſſelben ſo lange, bis
er uns zum Brückli führt! Meinet Ihr nicht auch?“ — Nach
einiger Zögerung willigte mein Führer in dieſen Vorſchlag, als
das unter den obwaltenden Umſtänden einzige Mittel, um zum
[128]Eine Nebel-Novelle.Ziele zu gelangen. Geſagt, gethan. Immer abſchüſſiger wurde
unſer Terrain, immer ſchwarzgrauer wurden Nebel und Nacht, im¬
mer unbehaglicher unſere Stimmung in der warmdunſtenden, am
Körper enganſchließenden naſſen Kleidung, — und Regen floß, —
ach! fortwährend in überreichlichem Maße.


Wir mochten wohl wieder eine Viertelſtunde oder auch nicht
ſo lange gerutſcht, geklettert, überhaupt weiter gekommen ſein, als
wir durch ein brauſendes Geräuſch wahrzunehmen glaubten, am
Hongrinbache angelangt zu ſein. Aber da gings ſteil wie über
ein Kirchendach hinunter. Mehre Verſuche zeigten, daß wir uns
beſſer rechts halten mußten. Alſo wieder in dieſer Richtung vor¬
wärts. Der Nebel hatte ſich ein wenig gehoben, ſo daß wir, ſo
weit es die Nacht zuließ, die Gegenſtände in unſerer näheren Um¬
gebung unterſcheiden konnten. Noch ein paar Dutzend Schritte,
und hell leuchtete der weiße Schaum des jagenden Gewäſſers durch
die Dunkelheit zu uns herauf. Jetzt galt es, längs des Gebirgs¬
baches ſo lange fortzuklettern, bis wir zur Hongrinbrücke gelangen
würden. Unter außergewöhnlichen Anſtrengungen, durch wildes
Geſtrüpp und dorniges Geſträuch, das die Haut blutig ritzte und
die Kleider zerfetzte, arbeiteten wir uns mühſam durch. Oft war
das Terrain ſo jäh, daß wir bei jedem Schritt fürchten mußten,
in den Strom zu ſtürzen oder den Hals zu brechen. Darum ſon¬
dirte mein Führer ſtets vorher mit dem Stock, wie weit wir trauen
durften, denn ſehen konnten wir kaum, wohin wir traten. Nach
einer unter ſolchen Hinderniſſen zurückgelegten tüchtigen Strecke
war uns plötzlich das Weiterkommen aufs Neue abgeſchnitten;
denn links herab, in einer Runſe, ſchäumte ein Wildwaſſer, meiner
Berechnung nach 6 bis 8 Schritt breit, welches ſich in den Hongrin¬
bach ergoß. Wollten wir nicht wieder den eben unter unſäglichen
Mühen überwundenen Abhang hinaufklimmen, um droben nicht
um ein Haarbreit weiter oder beſſer daran zu ſein als hier, ſo
blieb uns nichts Anderes übrig, als das ſchießende Waſſer zu
[129]Eine Nebel-Novelle. durchwaten. Deß wurden wir einig. Ich faßte meinen Führer
feſt in den Arm, Beide ſtemmten wir unſere Stöcke gegen die
reißenden Schaumwellen, und ſo traten wir unſere Wanderung an.
Das Waſſer ging uns bis an die Kniee, und unter den Füßen
rollten uns die großen Kieſel hinweg, daß es galt, den Fuß zu
jedem neuen Schritt recht feſt zu ſetzen. Rechts mußte ein Waſſer¬
fall oder Aehnliches ſein, denn da tobte es mit ohrenbetäubendem
Geräuſch hinab, — ſehen konnten wir die Urſache nicht.


Weiß der Himmel, welch unſeliger Einfall, oder welcher Um¬
ſtand plötzlich meinen Führer veranlaſſen mochte, ſich aus meinem
Arm loszumachen (er ging mir zur Rechten) — genug, eine Be¬
wegung, ein Fehltritt, — ein Schrei, — und verſchwunden war
er. Wie ich vollends hinübergekommen bin, kann ich nicht mehr
ſagen. War es der Schrecken, das Entſetzen, was mir ungewöhn¬
liche Kraft und Sicherheit des Schrittes gab, — war es Glück,
oder war die Stelle, welche ich noch zu durchwaten gehabt, minder
gefährlich, — ich weiß es nicht. Nur das weiß ich, daß ich drü¬
ben am anderen Ufer an nacktem Wurzelwerk, an Baum-Aeſten,
durch verworrenes Geſträuch mich aus dem Waſſer mit drängender
Haſt herausarbeitete und in peinlicher Seelenangſt längs demſelben,
ſchreiend, mit dem langen Alpenſtocke in das Waſſer hineintaſtend,
fortkletterte. Wie ich vermuthet, ſo beſtätigte es ſich; ein 6 bis 8
Fuß hoher Waſſerfall war es, über welchen mein Führer hinab¬
ſtürzte. Meine Lage war in der That quälend. Ziemlich ermattet,
durch und durch naß, ſehr hungernd, eine ganze, lange, raben¬
ſchwarze Nacht im ſtrömenden Regen, in völlig unbekannter Gegend
vor mir und — ein Menſchenleben — entweder verloren oder in
größter Gefahr umzukommen! Ueberdies hatte der verunglückte
Führer meine Taſche auf dem Rücken, in welcher, nebſt Wäſche und
anderem Nothbedarf, meine Papiere und Gelder ſich befanden. Ich
rief, ich ſchrie aufs Neue in das donnernde Gepolter hinein, ich
ſtieß mit dem Alpenſtock in die wildſchäumende Fluth, kurz ich ver¬
Berlepſch, die Alpen. 9[130]Eine Nebel-Novelle. ſuchte Alles, was mir die augenblickliche Verzweiflung eingab, —
aber vergeblich! —


Schon wollte ich, abgeſpannt und heiſer, meine Rettungsver¬
ſuche aufgeben, als ich plötzlich meinen Stock am Ende erfaßt
fühle. Wie ein elektriſcher Schlag durchzuckte es mich; ich rufe
aufs Neue, ziehe — und ſiehe da! vor mir taucht aus der Tiefe
eine menſchliche Geſtalt auf, — mein Führer, der beſinnungslos,
dem Tode des Ertrinkens nahe, wie es ſcheint, durch irgend einen
im Bett dieſer Runſe liegenden Felſenblock aufgehalten, minuten¬
lang (ob ganz unter dem Waſſer oder mit dem Kopfe über dem¬
ſelben, wußte er ſelbſt nicht) dagelegen und durch mein Schreien
und Stoßen zur Beſinnung geweckt worden war. Zwei leibliche
Brüder, die nach Jahre langer Trennung ſich wiederfinden, kön¬
nen einander nicht herzlicher umarmen, als mein Führer mich und
ich ihn. Er blutete ſtark am Hinterkopfe und vermochte nicht feſt
aufzutreten, weil er ſich einen Fuß bös verſtaucht hatte. Nachdem
wir ſitzend geraſtet und berathſchlagt hatten, was nun zu thun ſei,
(ſpäter als Abends 7 Uhr konnte es unmöglich ſein) ſtolperten
und hinkten wir mit halb zerriſſenen Kleidern, ſehr ermattet und
wolfsartig hungernd weiter, mit dem feſten Vorſatz, die erſte Hütte,
die wir finden würden, zu unſerem Nachtlager zu erobern — mit
oder ohne Zuſtimmung des Beſitzers — gleichviel.


Und ſiehe, das Geſchick war uns günſtig. Es währte nicht
lange, ſo tauchte in der Dunkelheit der Nacht der Giebel irgend
eines Gebäudes vor uns auf, und um die Ecke deſſelben biegend,
leuchteten uns plötzlich zwei helle Fenſter entgegen. Hurrah! Land!
Licht! Menſchen!


Zu ſolchen Abenteuern kann dem Wanderer im Gebirge der
Nebel verhelfen.

[[131]]

Nebelbilder.

— — —
Und unter den Füßen ein nebliges Meer,
Erkennt er die Städte der Menſchen nicht mehr:
Durch den Riß nur der Wolken
Erblickt er die Welt,
Tief unter den Waſſern
Das grünende Feld.
 
Schiller.

Ein ſo heimtückiſcher und boshafter Schleicher der Nebel auch
im Gebirge iſt, der ſchon manchen handfeſten Aelpler auf den
Todespfad führte und fröhlichen, nach Ausſicht ſchmachtenden Berg¬
wanderern die mühſam erklommenen Höhenpunkte mit hämiſcher
Schadenfreude plötzlich ſo verſchleierte, daß ſie unverrichteter Dinge
wieder abziehen mußten, — ſo neckiſche und joviale Komödien
führt er auf, wenn er juſt guter Laune iſt, oder wenn er aus ſei¬
nen luftigen Höhen herabſteigt, um die Thalleute auch einmal in¬
gründlich zu ärgern. In letzterem Falle lagert er ſich dann breit
und ungeſchlacht über Felder und Wälder, auf Märkte und Gaſſen,
und nur der, welcher im Berglande wohnt, vermag ſeinen athem¬
erſchwerenden, miasmatiſch-verdorbenen Dünſten zu entfliehen.
Denn droben auf freiem Bergesgipfel ſteht der Naturfreund dann
im hellen goldigen Sonnenſchein und ſieht auf ein wogendes Milch¬
meer hinab, aus dem nur verwandte Höhepunkte gleich Eilanden
9*[132]Nebelbilder. emporſteigen; oder wenn die geballten Maſſen ſich ſehr tief ſenken,
begegnets auch, daß das goldene Kreuz eines im Thale liegenden
hohen Kirchthurmes glänzend hervorragt, einſam, ſymboliſch, über¬
windend. — Drunten aber in der unſichtbaren verhüllten Tiefe
kreiſcht und hallt und dröhnt viel lauter und ſchallender das Ge¬
triebe der Menſchen als ſonſt; denn der Nebel iſt ein trefflicher
Reſonanzleiter nach Oben, während er in umgekehrtem Verhältniß
dämpft. — Indeſſen dieſe Erſcheinung kann man auch in jedem
Berglande finden, ſie iſt nicht ein bezeichnendes Attribut der Alpen.


Ueberraſchender, ungewöhnlicher, ein ächtes Phänomen des
entſchiedener gehobenen Gebirgslandes iſt jene magiſche Lufterſchei¬
nung, welche im mitteldeutſchen Harz unter dem Namen des
„Brockengeſpenſtes“ bekannt iſt und auf vielen Höhepunkten der
Alpen ſich nicht ſelten zeigt. Sie beſteht in der Schattenſpiegelung
von Gegenſtänden und Perſonen auf der Fläche einer aus der
Tiefe aufſteigenden, freiſchwebenden Nebelwolke, bei ſonſt völlig
heiterem Horizont. Am häufigſten begegnet man dieſer phyſikali¬
ſchen Phantasmagorie auf ſolchen Höhen, die entweder von Bin¬
nen-Seen oder ſumpfigen Thalſohlen umgeben ſind, welche bei ent¬
ſprechenden atmoſphäriſchen Zuſtänden leicht Dünſte entbinden, die
in Nebelform aufſteigen. Als ſolche Punkte ſind bekannt der
Rigi, der neueſter Zeit durch ſeine bequemen Straßenzugänge und
die Erbauung eines gemüthlichen und eleganten Berggaſthofes viel
erſtiegene Pilatus, das Brienzer Rothhorn u. A.


Unter außergewöhnlichen Umſtänden beobachtete der Kantons¬
forſt-Inſpektor Herr Coaz aus Chur (Bernina-Beſteiger) eine ſolche
Erſcheinung auf dem Gipfel des Piz Curvêr (zwiſchen dem Scham¬
ſer und Oberhalbſteiner Thal in Graubünden). Es hatte Ende
Juni 1843 plötzlich deftig geſchneit; der Winter verſuchte einen
Ausfall gegen den lachenden Sommer und ſchlug für wenig Tage
ſeine weißen Zelte weit und breit über die Gebirgshöhen der Rhä¬
tiſchen Alpen auf.


[133]Nebelbilder.

Unter ſehr erſchwerenden Umſtänden, aber bei völliger Wind¬
ſtille und glockenreiner Atmoſphäre hatten Herr Coaz, der ihn be¬
gleitende Ingenieur und der Führer den 9158 par. F. über dem
Meere erhabenen Gipfel erſtiegen und die beabſichtigten Beobach¬
tungen für trigonometriſche Meſſungen bald beendet. Da zog ein
vom Fuße des Piz Curvêr gegen das Oberhalbſtein abfallendes
wildes Gebirgsthälchen beſonders die Aufmerkſamkeit der Berggäſte
auf ſich. Da drunten rauſchte und donnerte es faſt ununterbrochen;
eine Lauine weckte die andere und ſtürzte von den ſchroffen, felſigen
Seitenwänden in die Tiefe des Thales, wo oft mehre vereint in
einem breiten, gewaltigen Silberſtrome ſich langſam zur Ruhe
wälzten. „So Schlag auf Schlag, ſo voll Leben, ſo glänzend,“
ſagt Herr Coaz, „war mir noch auf keiner meiner Gebirgsfahrten
dieſes großartige Schauſpiel zu ſehen vergönnt. Noch folgte mein
Auge einer der letzten Lauinen, die allmählig in immer größeren
Zwiſchenzeiten ſtürzten, als ich über derſelben einen ſchwachen Ne¬
bel ſich bilden ſah. Auch den Felſen, an denen ſich die feuchtge¬
wordene Atmoſphäre abkühlte, entquollen Nebelhaufen, zogen ſchlei¬
chend einander entgegen und zerfloſſen in kurzer Zeit in einen wal¬
lenden grauen Nebelſee, der die Tiefe des Thales verhüllte. Aus
unſichtbaren Quellen genährt, wogte dieſer See immer höher her¬
auf, ſchwoll bis zu meinen Füßen heran und trat endlich als
dunkler Nebelſchleier empor. Und in dieſem ineinandertreibenden
Gewölk bildeten ſich, anfänglich ſchwach und zerfließend, aber immer
wieder und immer kräftiger erſcheinend, die Farben des Regenbogens.
Sie vereinten ſich endlich zu einem brillanten, kreisrunden Bande;
ein zweites umſäumte in etwas ſchwächerem Glanze erſteres und
fand ſich bald ſelbſt concentriſch von einem noch lichteren dritten
umfangen. Der innerſte Ring erſchien in einem Durchmeſſer von
circa 3 Fuß bei einer Entfernung von ungefähr 30 bis 40 Fuß.
Entzückt von dieſer Erſcheinung ſprang ich auf, ward aber eben ſo
plötzlich zur Säule; denn ſiehe! mitten im Regenbogen ſprang mit
[134]Nebelbilder. gleicher Haſt eine dunkle Geſtalt auf und blieb jetzt eben ſo erſtarrt
ſtehen. Ich ſchwang meinen Hut, machte tiefe Bücklinge, und das
Geſpenſt zeigte ſich eben ſo erfreut und höflich. Die Erſcheinung
hielt mehre Minuten an und verſchwand alsdann mit dem Regen¬
bogen im grauen Nebel, der von einem leichten Windhauch weiter
getragen bald zerſtob. Es war vier Uhr Nachmittags.“ —


Zu leichterer Erklärung möge beigefügt werden, daß das Thäl¬
chen, aus welchem der Nebel aufſtieg, gegen Oſt ſich öffnete. Als
daher die Sonne nach dem weſtlichen Horizont ſank, trat daſſelbe
ſtreckenweis allmählig in Schatten, wodurch die Temperatur ziem¬
lich raſch fiel und die durch die häufigen Lauinenſtürze und die
hohe Temperatur während des Mittages entwickelten Waſſerdämpfe
zu Nebel condenſirte, die mit den, noch von der Sonne beſchienenen,
wärmeren und leichteren, höheren Luftſchichten in Berührung tretend
ſich wieder auflöſten.


Von einem gleichen, in den hauptſächlichſten Thatſachen gänz¬
lich übereinſtimmenden Nebelbilde berichtet, im Fremdenbuche des
Appenzeller Weißbades, Herr G. Kuhn aus Dresden, welches er
am 24. September 1855 auf Ebenalp nach ſtarkem Regenwetter
beobachtete. Scharfkantig ſchwebte in dem Nebelbilde der Schatten
ſeines Kopfes mit dem Hute, wenig über Lebensgröße, von weißem
Licht umfloſſen; darum ein dunkler Ring, dann ein Kranz der
hellſten Regenbogenfarben, etwa 4 Ellen im Durchmeſſer. Auch
der übrige Körper ſammt dem Alpenſtocke war, aufrecht ſtehend in
der Farbenſcheibe, deutlich abgeſpiegelt, jedoch nach unten etwas
langgezogen. Neben dieſer Silhouette ſtand der dunkele Schatten
ſeines Führers; ging letzterer etliche Schritte ſeitwärts, ſo ſah ein
Jeder ſein Schattenbild allein ohne das des Nebenmannes. Wa¬
ckelten ſie mit den Köpfen, ſo wackelte der ganze Regenbogenkreis
mit. Hier dauerte das ganze Schauſpiel wohl eine Viertelſtunde.

[[135]]

Wetterſchießen.

Es dröhnet zwiſchen den Bergen an ſchwülem Sommertag
Ein wildes Schießen und Lärmen wie ferner Donnerſchlag.
Der Schall dringt weit in die Lande auf Rieſenſchwingen hinein,
Schreckt auf die Vögel vom Baume, das Wild im ſicheren Hain.
Sie ſagen, das ſeien die alten, die düſteren Jägersleut,
Verbannt in die grauſige Wildniß ſeit alter, verſchollener Zeit.
F. Otte.

In der Tiefe des Lauterbrunner-Thales, da wo es gen Süd¬
weſt umbiegend den Namen Ammerten-Thal annimmt, liegt hoch
droben, am Fuße der Jungfrau, zwiſchen dieſer und der Ebnefluh,
ein gräßlich wild vergletſchertes ſtundenlanges Thal, das Rotthal.
Von unten geſehen entzieht es ſich den Blicken gänzlich, und man
hält es für kaum glaublich, daß da, wo man an dem Rieſenkörper
der Jungfrau kaum ein Felſenband unterſcheiden kann, ſich ein
umfangreiches Thal bergen ſollte. Es iſt in der That wohl einer
der furchtbarſten und grauſigſten Schreckenswinkel nicht nur der
Alpen, ſondern des ganzen Europäiſchen Kontinentes. Von her¬
abdrängenden Gletſchern die Granit- und Alpenkalk-Wände,
welche den Schauerkeſſel einſchließen, ſo ſchrundig zerriſſen und zu
einem Trümmer-erfüllten Tobel ausgefreſſen, daß die verwitterten
noch hangenden Maſſen den Wanderer, der ſich hier heraufwagt,
mit Furcht und Schreck erfüllen.


[136]Wetterſchießen.

So unerreichbar dieſe Schauer-Terraſſe (von unten geſehen)
ſcheint, ſo ziemlich leicht iſt ſie vom geübten Berggänger über die
ſtufenförmig ſich aufbauenden Wechſelſchichten der Geſteine zu er¬
reichen. Beim Eingang in das Thal, etwa 8700 Fuß über dem
Meere (oder 4500 F. über der Sohle des Ammerten-Thales) iſt der
Firn, welcher die ganze Schlucht füllt, keine tauſend Schritte breit.
Kahle, ſchroff aufſteigende Granitbänke engen ihn wie Schleuſen
ein, über die er aus ſeinem ſtillen Bett ſich hinausdrängt und
ſeine Maſſen dann wohl zweitauſend Fuß tief über ſchwindelnde
Abſtürze, bald in hängenden Bogen, bald in zerriſſenen, aufgetrie¬
benen Gletſcherbrüchen auf die Stufſteinalp hinabdrängt. Man hat
die Gletſcherſturzmaſſen ſchon oft mit momentan erſtarrten Waſſer¬
fällen verglichen; hier reicht dieſe ohnehin etwas hinkende Paral¬
lele nicht aus. Das Chaos der zerborſtenen, übereinandergeſtürzten
und ineinandergekeilten Eisriffe, das Wirrſal der dazwiſchen klaf¬
fenden, nach allen Richtungen hinabgähnenden Schlünde und hin¬
einhangenden Fluhbrocken iſt ſo außerordentlich, daß man Stellen
ſo grauſiger Wildniß nicht viel in den Alpen findet. Will man
indeß das Gleichniß beibehalten, ſo erſcheint das Rotthal als ein
von himmelhohen Felſenwänden eingeſchloſſenes Meer, das im wil¬
deſten Emporſchäumen plötzlich erſtarrt, ſeine Maſſen nun über die
Ufer hinausſchiebt und bald in wirr-zerſcherbten Splittern hoch
aufthürmt, bald dieſelben ihr Gleichgewicht verlieren und grauſe
Laſten losreißen läßt, die im Schmetterſturze zerſtäubend wie
Ströme zu Thal fließen. — Da kein Kräutchen, ſelbſt nicht das
dürrſte Grashälmchen hier wächſt, ſo verirren ſich auch faſt nie
Gemſen hierher, und weil ſolche Thiere hier nicht zu ſuchen ſind,
ſo kommts, daß auch keine Gemſenjäger ſich hierher verſteigen.
Nur vom Schafbuben der oberen Stufſteinalp wird jener Schauer¬
ort von Zeit zu Zeit vielleicht einmal aus Langeweile erklommen.


Nach der im Berner Oberlande allgemein kurſirenden Sage
ſollen im Mittelalter und noch nach den Zeiten der Reformation
[137]Wetterſchießen.Poltergeiſter und böſe Dämonen, welche die Wohnungen der Menſchen
vermeintlich beunruhigten, von Hexenmeiſtern, fahrenden Schülern
und Teufelsbeſchwörern in verſchloſſene Gefäße gebannt und in
dieſes abgelegene Thal getragen worden ſein. So kam das Rot¬
thal, das außerdem keines ehrlichen Chriſten Fuß betrat, in Ver¬
ruf und galt als der Aufenthalt böſer Geiſter. Ganz beſonders
ſollen auch die alten Thalherren von Lauterbrunn hierher verwünſcht
worden ſein und daſelbſt noch ihr Weſen treiben.


Dieſe Sage nun ſteht in Beziehung zu einer ſeltſamen Natur¬
erſcheinung. Es iſt nämlich im ſchweizeriſchen Mittellande der
Kantone Freiburg, Bern, Solothurn und Aargau eine im Hoch¬
ſommer, um die Erntezeit, nicht ſeltene Erſcheinung, daß man bei
völlig wolkenloſem Firmament, am Tage oder auch Abends und
Nachts in der Luft ein dumpfes, der Kanonade ähnliches Geräuſch,
ein ſeltſames Toſen und Knallen hört. Nach des Volkes Meinung
ſoll es von einem geiſterartigen Spuk, von einer „wilden Jagd“
herrühren, mit welcher die verfluchten Herren vom Rotthale hoch
durch die Lüfte ziehen; nach dem Volksglauben der weſtlichen So¬
lothurner Bauern ſollen es jedoch die Geiſter der in der Schlacht
bei Murten erſchlagenen Burgunder ſein, welche mit Heerestroß
und Alarm ihren luftigen Umzug halten. In Berneriſch-Röthen¬
bach (Amtes Signau im Emmenthal) ſagt man: „Die Rotthaler
exerciren, es giebt anderes Wetter.“ — Der einſichtige, vorurtheils¬
freie Bewohner ſchreibt die ſonderbare Erſcheinung jedoch natür¬
lichen Veranlaſſungen zu, und glaubt dieſe in wirklich vorgefallenen
entfernten militairiſchen Uebungen, oder in bedeutenden Gletſcher-
Lauinenſtürzen, oder Gewittern ſuchen zu ſollen, deren Reſonanz
durch geeignete Luftſtrömung bis zu dem Ohre des Hörers getragen
werde. Nun aber haben vielfache und ausgedehnte Nachforſchungen
herausgeſtellt, daß nirgendwo im weiten Umkreiſe um die ange¬
gebene Zeit militairiſches Pelotonfeuer oder Kanonaden, noch Ge¬
witterentladungen ſtattgefunden haben. Das Gepolter von Gletſcher¬
[138]Wetterſchießen. ſtürzen aber, ſo furchtbar dieſelben auch im Gebirge widerhallen,
iſt in einer Entfernung von 18 Stunden nicht zu hören. Doch
angenommen, man könnte bei günſtiger Windrichtung und ſehr
reiner Luft der Gletſcher Donner ſo weit hören, ſo ſtürzen doch
nicht ſo enorm viele Lauinen nacheinander, daß man das davon
herrührende Getöſe mit wenig Unterbrechungen ſtundenlang hören
könnte. Ueberdies nimmt die Erſcheinung, jemehr man ſich den
Alpen nähert, ab, und findet häufig bei Nordweſtwind ſtatt. Der
Meteorolog Hugi in Solothurn, welcher dem Phänomen viel Auf¬
merkſamkeit widmete und es oft beobachtete, ſagt, daß der Schall
keinesweges von den Alpen herzukommen ſcheine, ſondern vielmehr
von Weſten, alſo aus dem Jura, wo es aber bekanntlich keine
Gletſcher und ſommerlichen Lauinen giebt.


Thatſache iſt, daß nach dieſem, vom Volke „Wetterſchießen
genannten atmoſphäriſchen Phänomen, in der Regel ſanfter, an¬
haltender, nie ſtarker, von elektriſchen Erſcheinungen begleiteter Re¬
gen einzutreten pflegt und der Barometer in unruhigem Fallen
begriffen iſt.


Die eigentliche Urſache der Erſcheinung iſt noch nicht ergrün¬
det. Sonderbarerweiſe hat ſich mit derſelben außer Prof. Hugi
wie es ſcheint kein Phyſiker weiter befaßt. Dieſer nimmt an, daß
das dumpfe Wetterſchießen zunächſt „eine Wirkung des Ueber¬
ganges atmoſphäriſcher, luftiger Formen in dichtere, dunſtige,
wäſſerige Formen, oder die Wirkung von Luftzerſetzung ſei; daher,
wie bei allen heftigen Zerſetzungen, Getöſe. Es wäre demnach
das Wetterſchießen gerade die entgegengeſetzte Procedur wie das
ſogenannte „Wetterleuchten“, bei welchem geſättigte Dünſte der
Atmoſphäre durch Entladung der Elektricität wieder in reinere,
dünnere Luftformen übergehen. Auffallend iſt es, daß die Er¬
ſcheinung eben nur in dem genannten Landſtriche vernommen wird,
— ſonſt nirgends im Alpen-Vorlande.

[[139]]

Hoch-Gewitter.

Donnernd hallt des Todes Waidruf
Ringsum in Gebirg und Thalen,
Plötzlich zündet er die Nacht an
Mit den hingeſchoßnen Strahlen.
Immer lauter ſchreit der Donner
Durch die grauſen Finſterniſſe;
Aus gebrochnen Wolken ſtürzen
Rauſchend ſich die Regengüſſe.
Lenau.

Jedes Gewitter, wo man demſelben auch begegnen mag, —
ſei es auf der gedehnten Ebene des Getreidelandes und der un¬
wirthlichen Haide oder auf offenem Meere oder im zerklüfteten Ge¬
birge, — überall iſt es ein furchtbar-erhabenes Schauſpiel, allent¬
halben der gleiche Entſetzen erweckende Aufruhr der Elemente, die
gleiche erſchütternde Rieſenſprache des Donners, der die Seele er¬
zittern macht. Die Natur-Scenerie aber und der landſchaftliche
Aufbau der Gegend, über welcher ein Gewitter ſich entladet, ge¬
ſtalten daſſelbe in ſeiner charakteriſtiſchen Erſcheinung, in ſeinem
unmittelbaren Total-Eindrucke dennoch weſentlich anders. Dies iſt
namentlich beim Gewitter im Gebirge der Fall.


Während bekanntermaßen Berg und Wald die Bildung der
Wolken ſehr begünſtigen, erſcheinen letztere dennoch in den Alpen
[140]Hoch-Gewitter. ſelten als jene, meilengroße Flächen zugleich überdeckende, elektriſch-
geladene Dunſt-Meere, wie ſie allſommerlich das flache Land be¬
drohen; die hochaufragenden Gebirgszüge werden zu trennenden
Keilen, welche die Gewitter in viele Special-Wolkenladungen zer¬
ſchneiden und dadurch veranlaſſen, daß ſie gemeiniglich nur von
kurzer Dauer ſind und auch quantitativ nicht ſo heftig ſich ent¬
laden als im Flachlande oder auf offenem Meere. Die durch raſchen
Temperaturwechſel eben ſo raſch abgekühlten Luftſchichten und die
Ausgleichungsbeſtrebungen derſelben mittelſt der als natürliche Luft-
Ventile der Thäler anzuſehenden Windſtrömungen, tragen die Ge¬
witter-geſättigten Wolken gewöhnlich ziemlich ſchnell durch eine
Gebirgsgegend hindurch, ſo daß die Summe der nur ſehr kurze
Zeit dauernden elektriſchen Entladungen im Gebirge mindeſtens
dreimal ſo groß iſt als die der mit Andauer und Gemächlichkeit
ſich austobenden Wetter. Dies iſt das normale Verhältniß, wel¬
ches indeſſen keineswegs ausſchließt, daß es einzelne Koryphäen von
Gewittern geben kann, welche über große Theile des Alpenlandes
zu gleicher Zeit ihre verderbenbergende Wolkendecke ausbreiten.
Der eklatanteſte Fall aus neueſter Zeit iſt das berühmte Gewitter
vom 24. Juni 1859, welches bekanntlich die Schlacht von Solfe¬
rino (Lombardei) unterbrach und um die gleiche Stunde in allen
Gauen der Schweizer und Savoyer Alpen mit unerhörter Wildheit
toſte. Nicht minder denkwürdig iſt jenes ältere vom 27. Auguſt
1834, welches von Südweſt aufziehend, faſt den ganzen Kanton
Graubünden und viele benachbarte Länder, alſo mindeſtens eine
Fläche von einigen hundert Quadratmeilen verheerend heimſuchte.

Dagegen ſind die Gebirgsgewitter als individuelle meteoriſche
Erſcheinungen weit großartiger, impoſanter, man möchte faſt ſagen
theatraliſch-pomphafter und in ihren Schlag- und Knall-Effekten
draſtiſcher als im Tieflande. Schon die Introduktion, mit welcher
ein ſolches aufzieht, iſt weit dramatiſcher, die Erwartungen ſteigern¬
der als in der Ebene. Dort (in der Ebene) bereitet ſich das Ge¬
[141]Hoch-Gewitter.witter oft ſtundenlang mit klaſſiſchem Ernſt und entſetzlicher Ruhe
vor und läßt, bei dem umfaſſenden Horizont, dem aufmerkſamen
Naturfreunde hinlänglich Zeit, das allmählige Formiren und Kon¬
glomeriren der, zuletzt zu einer maſſigen ſchwarzen Wand ſich
vereinigenden, verſchiedenen Wolken-Kontingente zu beobachten; es
iſt dort ein ſtill-majeſtätiſches Auftreten voll furchtbarer Hoheit.
Hier, im Gebirge, wo die Ausſicht vom Thale oder von einer unbe¬
deutend hohen Voralp aus meiſt ſehr beſchränkt iſt, zieht der geheim¬
nißvolle Gaſt gewöhnlich ſchon ziemlich fix und fertig aus der Tiefe
dunkel herauf und rückt mit Sturmſchritten vor. Jetzt beginnt auch
die Gegend ſich prachtvoll-unheimlich zu dekoriren. Die Nadelwälder
verſinken in ſchwarze Nacht, kein Gipfel tritt mehr ſelbſtſtändig
hervor; die Felſengruppen verlieren ihre trennenden Profil-Contu¬
ren und verſchmelzen zu geſpenſtergrauen unförmlichen Maſſen, über
welche der Waſſerfall in ſeltſamer Geſchäftigkeit, wie die verwirrt
ſuchenden Gedankenſprünge eines Irrſinnigen herabeilt; der See
liegt ſtumm, todt, ohne Glanz, einer erſtarrten indifferenten Fläche
gleich. Was dort an Beleuchtung ſchwindet, das häuft ſich
grell, faſt augentödtend, an anderen Stellen; die Matten und
Wieſen des Vordergrundes ſchwellen brennend-grün, als wollten ſie
gewaltſam ihre innerſte Lebenskraft mit Einemmale ausſtrömen;
die Wege und Straßenlinien der Thalſohle treten in nie geſehener
Schärfe blaßgelb hervor, und über Allem leuchten ſchreiend-weiß
die Firnen herab, erſchreckende Gegenſätze in dem tiefgeheinmißvoll¬
düſteren Bilde. Alle Farbenharmonie iſt aus der Landſchaft ver¬
ſchwunden; ſie ſieht aus wie ein von krankhaft erhitzter Phantaſie
geſchaffenes, alle natürliche Auffaſſung höhnendes Gemälde. —
Mit dieſer entſetzlichen Scenerie kontraſtirt in angſterfüllendem
Maße die fieberhafte Aufregung, welche Menſchen und Thiere über¬
fällt. Die liegenden Heu-Schwaden der Wieſe werden eilends ge¬
mandelt; ſchreiend, tobend treibt der Senn ſein Vieh zuſammen;
Jodelruf und Jauchzer ſind verſtummt, — nur drängende Geſchäf¬
[142]Hoch-Gewitter.tigkeit iſt der ſich kundgebende Lebensausdruck. In der Höhe dro¬
ben umſchwärmen Bergdohlen kreiſchend ihre Felſenneſter, Spyr
und Mauerſchwalbe ſind verſchwunden, der Geſang der Waldvögel
verſtummt, nur der Fink ſchreit unaufhörlich nach Regen.


Jetzt ſtößt der Vorbote des hereinbrechenden Gewitters, der
Wind, ſeine erſten Athemzüge aus, wirbelt den Staub ſchrägkreiſelnd
auf und ſchüttelt die Wälder mit ſtarker Fauſt. Der See erwacht;
ein fröſtelnder Schauer läuft über ſein Antlitz. Die Hochſpitzen
und vergletſcherten Rieſenhäupter des Gebirges umhüllen dichte Ne¬
belkappen, — immer tiefer ſinken die Wolkenballen und ziehen, wie
die wilde Jagd, mit zunehmender Haſt durchs Thal. Mehr und
mehr umnachtets die Gegend, — die grelle Färbung mattet ab, —
Alles wird ſchwarz. Da durchzuckt der erſte blaue Blitz die Nacht. —
Immer ungeſtümer wird die atmoſphäriſche Thätigkeit:


Brauſend fliegt des Todes Jagdhund
„Sturm“, bergan in wilder Eile,
Seinen Herrn zu ſuchen, irrt er
Durch die Felſen mit Geheule.
Lenau.

Die Wälder ächzen unterm drängenden Sturmdruck, abgeriſſe¬
nes Laub durchflattert die Lüfte, und allgemeines, ſchweres Rauſchen
ertönt ringsum. Jetzt rollt auch der Donner tiefbrummend drein.
Aber dieſes Vorſpiel währt nicht lange. Energiſch, wie die Alpen¬
welt in allen ihren Erſcheinungen und Lebensbethätigungen iſt,
ſtürmt auch hier die Entwickelung in überſtürzenden Progreſſionen
vor. Nach wenig Minuten iſt das Unwetter in ſeiner ganzen
furchtbar-wilden Größe losgebrochen.


Es kracht die Welt in Wettern,

Als wollt' am Felsgeſtein

Der Himmel ſich zerſchmettern.

Zickzackblitze, weit mehr, als man im Flachlande ſieht, anſchei¬
nend raſcher, weniger als eine Tauſendſtel Sekunde beanſpruchend,
fahren um der Berge Lenden, oft zuſammengefaßt, aus einem Kno¬
ten vielfach nach allen Enden herausziſchend, wie die aus Jovis
[143]Hoch-Gewitter.Hand geſchleuderten Blitzbündel. Jedes Donners Rollen, das ſein
Reſonanz-Maaß ſchon genügend in den Wolkenkammern findet,
brüllt außerdem, im hundertſtimmigen Echo aus allen Felſenklüften
und Thaltiefen zurückgeworfen, wieder hervor und bildet gleichſam
in ſeiner nicht enden wollenden Permanenz eine Grund-Fermate,
auf welcher ſich die neuen, accentuirten Solo-Schläge wie die vor¬
wärtsſchreitende Melodie der impoſanten Gewitter-Symphonie ab¬
löſen. Es iſt ein Akt der Natur-Souveränetät, deſſen Eindruck
völlig zerſchmetternd auf den Zeugen derſelben wirkt. Schlägts
dann vollends gar in eine Wettertanne oder eine einzeln ſtehende
Alphütte ein, dann kracht die Salve, als ob ringsum das Felſen¬
gebäude ſchier in Milliarden Fetzen zerſpritzen ſollte.


Das iſt in ſchwachen Umriſſen das Bild eines hochgehen¬
den Wetters. Sie ſteigen in den Alpen bis über 14000 Fuß;
denn de Sauſſure ſah ſie an der Dôme de Gouté unterm Mont¬
blanc-Gipfel, und die Bewohner von Zermatt beobachteten ſolche,
die noch über der Spitze des Matterhornes ſich entluden. — Im
Weſten von Mexiko ſah Alex. v. Humboldt Gewitterſpuren an der
höchſten Spitze des Toluca-Hauptgipfels bei 14720 Fuß Höhe; in
den peruaniſchen Cordilleren überfiel die Reiſenden Bouguer und
la Condamine auf dem Pichincha ein Gewitter in der Höhe von
15500 Fuß, und viele glaubwürdige Berichte erzählen von ſolchen,
die in den Pyrenäen bei 10000 Fuß und darüber tobten.


Die meiſten Gewitter ſtreichen aber im Gebirge tiefer; zwei-
bis dreitauſend Fuß über der Thalſohle mag die aëriſche Region
derſelben ſein. Daß ſie indeſſen noch viel tiefer ſinken können,
beſtätigen tauſendfache Ausſagen der Alpenbewohner. Ja, es iſt
ſogar ein Fall konſtatirt, daß bei dem Gewitter, welches am 26.
Aug. 1827 zwei Geiſtliche während der Vesper im Kloſter Admont
in Oeſterreich erſchlug, das Kreuz des 114 Fuß hohen Kloſter¬
thurmes noch über die Wolken herausragte und das Gewitter ſelbſt
etwa nur 90 Fuß vom Erdboden entfernt war. Dieſer Tiefgang
[144]Hoch-Gewitter.eines Gewitters giebt dann in anderer Weiſe Gelegenheit zu einem
majeſtätiſchen Schauſpiel, bei deſſen Anblick man ſich über die
Scheidegränze irdiſcher Hinfälligkeit und menſchlicher Ohnmacht
hinausträumt; es iſt die Entladung eines Gewitters im Thale,
wenn man, erhaben über demſelben, ſich in der Alpenregion be¬
findet. Wie auf des Olympos heiligen Höhen ſteht der Wanderer
gleich einem Jupiter tonans; unter ihm lagert, ein ſchwarzgraues
Ungeheuer, das Verderben drohende Wolkenmeer; einer Rieſen¬
ſchlange gleich, umkriecht die elektriſch geladene Maſſe das Gebirge.
Keine Hütte, kein Haus erblickt man in den Tiefen; denn verſun¬
ken in ſchauerliche Nacht iſt Alles, was an die Wohnſtätten der
Lebenden erinnert. Weiter hinaus kann man dann wieder große
Gebirgszüge frei in ihrem ganzen Relief überſehen; das Gewitter
bildet gleichſam eine Brücke hinüber zu den anderen Bergen. Da
zuckts zu unſeren Füßen; matt roſafarben fahren die entfeſſelten
Feuernattern der Blitze in eigenwillig gegen ſich ſelbſt revoltiren¬
den Bahnen durch den Schreckensſchleier, der über der Landſchaft
ſchwebt. Jetzt kracht es von unten herauf, gewaltig aber dumpf,
und mit hundertfältigem Echo hallen es die Thäler grollend nach,
bis die Schreckenstöne matt erſterben. Immer wiederholt ſich das
ſchrecklich ſchöne Schauſpiel, immer und immer leckt es aufs Neue
mit feurigen Zungen aus den Tiefen herauf, und abermals ertönt
des Donners tauſendſtimmiger Zorn. Der Wanderer aber ſteht in
lichter Höhe, erhaben wie ein Gott, über der Zerſtörungswuth der
Elemente. Ihn umgiebt Frieden und liebliche Ruhe, über ſeinem
Haupte wölbt ſich in durchſichtiger Klarheit des Himmels unerreich¬
barer Bau, und ein Triumph des Lichtes über die Finſterniß ſtrahlt
in ewiger Reinheit, Wärme und Leben ſpendend, die Sonne herab.
Noch viel erhabener iſt dieſes Schauſpiel des Nachts. Die Fremden,
welche vom 27. zum 28. Juni 1860 auf dem Pilatus übernachte¬
ten, finden keine Worte, um die unausſprechliche Pracht des furcht¬
baren Gewitters zu ſchildern, welches ſich Morgens zwiſchen 2 bis
[145]Hoch-Gewitter. 3 Uhr zu ihren Füßen mit einem wahren Feuergarbenmeer entlud,
während ob ihren Häupten das Sternenzelt rein und hehr am nächt¬
lichen Himmel in ſtiller Größe prangte. — Daß die Blitze nicht
ſelten von Unten nach Oben aufzacken und einſchlagen, beſtätigen
alle Bergbewohner. Dieſen Elektro-Meteoren ſchreibt man auch
die eigenthümliche Verglaſung mancher Felſen zu, welche man am
Dôme de Gouté, an der Spitze des Kaerpfſtockes (Glarus), am
Ortler (Tyrol), Venediger Spitz (Salzburg), Ankogl (Kärnthen)
u. ſ. w. trifft. Man hat ſolche Blitz-Glaſuren auch an der Pic
du Midi und am Mont Perdu (Pyrenäen) gefunden. Daß aber
emporſchlagende Blitze auch Menſchen tödten können, beweiſt ein
Fall aus Steyermark. Auf dem Gipfel eines ſehr hohen Berges
ſteht die Kirche St. Urſula. Am 1. Mai 1700 lag dieſes Gottes¬
haus im vollſten Sonnenglanze, während an halber Berghöhe ein
dickes Gewitter tobte. Von den in der Kirche verſammelten Betern
wurden ſieben an der Seite des Berichterſtatters, Dr. Werloſchnigg,
erſchlagen.


Gerade da, wo die Gefahr vermeintlich am Größten ſein ſollte,
in der Gewitterwolke ſelbſt, ſcheint ſie am Mindeſten, oder doch
nicht mehr als anderswo zu ſein. Phyſiker, Ingenieure und Rei¬
ſende, welche von Gewitterwolken unverſehens eingehüllt wurden,
bevor ſie Zeit hatten, dem ſcheinbar-entſetzlichen, blitzbewaffneten
Myſterium zu entfliehen, ſind ſtets ohne Beſchädigung daraus her¬
vorgegangen. So die franzöſiſchen Kapitäne Peytier und Hoſſard,
welche dreizehnmal in den Jahren 1816 und 1825 bis 1827 auf
den Gebirgen Troumouſe, Pic d'Anie, Pic Leſtibète und Pic de
Baletouſe, in Höhen von 5 —10000 Fuß ſtundenlang in
furchtbaren Gewittern, unmittelbar am Heerde derſelben verweilten,
wurden nie im Mindeſten verletzt, während man drunten im Thale
ſie für verloren hielt. Sie berichten nur, daß ihre Haare und die
Quaſten ihrer Kopfbedeckung ſich emporrichteten. Abbé Richard,
welcher zum Zweck des Studiums ſich abſichtlich in die Mitte
Berlepſch, die Alpen. 10[146]Hoch-Gewitter. wetternder, Blitze entſendender Wolken begab, hörte die furchtbaren
Schläge des Donners nicht mehr, ſondern nur ein Geräuſch, als
ob man beſtändig mit Nüſſen raſſele. Dem entgegen berichtet der
Geolog Prof. Theobald in Chur, welcher ſich während des ſchon
erwähnten Solferino-Gewitters (24. Juni 1859) zwiſchen der
Tſchiertſcher- und Urden-Alp in den elektriſchen Wolken befand,
daß die Schläge kurz, wie Kanonenſchüſſe, aber von hellerem, mehr
krachendem Tone geweſen ſeien und man das Rollen des Donners
erſt weiterhin gehört habe. Die Folgen der Gewitter in den
Alpen wollen wir in der Beſchreibung der „Rüfenen“ zuſammen¬
faſſen.

[[147]]

Der Waſſerfall.

Wie, wenn gelind anfächelt der Weſt, vom Gipfel des Maſtbaums,
Vielgeſchlängelt, im wechſelnden Schwung der Wimpel herabſchweift,
Bald in die Länge geſtreckt, bald eingeſchlürft im Geringel
Fallend und wieder gehoben, ein Spiel des ſcherzenden Zephyrs;
Immer, wenn kaum er die Welle berührt mit der züngelnden Spitze,
Zuckt er zurück, flammt ſchillernd empor und flattert am Himmel: —
Alſo ſchwebt in der wehenden Luft der ätheriſche Gießbach
Mannigfaltig bewegt, vom Rand der ragenden Felswand
Hochab wallend, gefangen im Fall, nun hierhin, nun dorthin
Flatternd, ohne den Grund mit dem fluthigen Schweif zu berühren.
Oben erſcheint er als Strom, ein der Luft entſtürzender Meerſchwall,
Hoch in der Mitt' ein Gewölk, und unten ein weißlicher Nebel.
Denn in der Tiefe hinab des hundertklaftrigen Jähfalls
Löſt ſich die Woge verdünnt zur Wolk' und verdunſtet als Rauchdampf.
Nur hoch oben donnert er ſtets und droht, in dem Herſturz
Alles mit reißender Fluth zu verſchwemmen; allein es verwandelt
Sanft ſich in Milde die Wuth, und er netzt, ſtaubregnend, das Hüglein,
Daß auch die zarteſten Kräuter des Frühlings unter ihm aufblühn.
Baggeſen.

Der Staubbach-Fall im Lauterbrunnen-Thale des Berner
Oberlandes, ſchon hundertmal beſchrieben und gezeichnet, in Ge¬
dichten beſungen und geprieſen, in jedem gedrängten Handbuche
der Geographie genannt, ſo daß jedes Schulkind ſeinen Namen
kennt, iſt der vornehmſte Repräſentant jener weitverbreiteten Gat¬
tung von Waſſerfällen, die in Folge ihrer außerordentlichen Sturz¬
10*[148]Der Waſſerfall.höhe ſich faſt ganz zu verflüchtigen ſcheinen, bis ſie die Sohle
ihres neuen Strombettes erreichen. Durch dieſen Umſtand wird
er aber zugleich zum Proteus wie wenig andere und bietet in den
verſchiedenen Tages- und Jahreszeiten ſo wunderbare Metamor¬
phoſen dar, daß er fortwährend ein anderer zu ſein ſcheint und
darum die verſchiedenartigſten und entgegengeſetzteſten Kritiken über
ſich ergehen laſſen mußte.


Auch er unterliegt, wie jeder andere Waſſerfall, den bedingen¬
den Einwirkungen derjenigen Naturereigniſſe, welche ſeine Waſſer¬
menge bereichern, vergrößern und ſomit ſeinem Sturz mehr Körper
verleihen, oder im Gegentheil dieſelbe vermindern, ſchwächen und
das Schauſpiel des Falles bei der außerordentlichen Höhe von
mehr als achthundert Fuß faſt in Nichts auflöſen. Nach lange
andauerndem Regenwetter, nach heftigen Gewittern und im Früh¬
ſommer, wenn der Schnee von den Alpen geht, iſt der Staubbach
und alle ſeine in den Alpen vielfach zerſtreuten Form-Genoſſen eine
impoſante, mitunter ſogar ſchrecklich-ſchöne Erſcheinung, die auf je¬
den Beſucher tiefen Eindruck machen wird. Iſts jedoch im Hoch¬
ſommer nach wochenlanger Trockenheit, ſo begegnet es ſchon, daß
man ſtatt des berühmten Staubbach-Falles nur die hohe naſſe Ge¬
birgswand zu ſehen bekommt, über welche ſonſt die ſchöne Waſſer¬
garbe herabzuſchießen pflegt, — vom eigentlichen Waſſerfall aber
keine Spur entdeckt. — Nächſt dieſen Umſtänden, welche alſo über¬
haupt die Exiſtenz des Waſſerfalles bedingen, ſind es noch andere,
welchen Rechnung getragen werden muß. Selbſt beim Vorhanden¬
ſein genügender Waſſerfülle iſt es nicht gleichgültig, um welche
Tageszeit man den Staubbach beſucht. Liegt er im Schatten, iſts
Nachmittags, dann wird er bei Weitem nicht ſo voll und reich
erſcheinen, als am Vormittage, wenn die Sonnenſtrahlen jeden
Waſſertropfen durchglänzen und die Milliarden der zu Waſſerſtaub
aufgelöſten, blinkenden Körperchen in einer Brillanz und funkelnden
Pracht erſcheinen laſſen, die außerordentlich in ihrer Art ſind.
[149]Der Waſſerfall. Wieder einen anderen und doch verwandten Zauber übt das bleiche,
weiche Vollmondlicht auf den, gleich einem Schleier, von der
Fluhwand herniederſchwebenden Fall aus.


Endlich kommt auch noch viel darauf an, mit welchen Erwar¬
tungen, mit welcher Receptivität der Reiſende zum Staubbach
kommt. Wer kurz zuvor die donnernden Katarakte des Rheinfalles
bei Schaffhauſen, des Aarfalles an der Handeck, des Buffalora im
Val Miſocco und anderer, in großen geſchloſſenen Maſſen und im
engbegränzten, landſchaftlichen Raume daherbrauſenden Gebirgs¬
ſtröme ſah und von ihrer Wirkung noch erſchüttert, nun ins Lauter¬
brunnen-Thal tritt und dort Aehnliches erwartet, der wird freilich
ſehr enttäuſcht werden. Der Staubbach iſt mit wenig Ausnahme-
Momenten eine Erſcheinung zarter, elegiſcher Natur, die weit mehr
empfunden als angeſtaunt und bewundert ſein will.


In einer Höhe von faſt 900 Fuß ſpringen zwei Strom-Arme
über die ſenkrecht abfallende Felſenwand hinaus, und vereinigen
ſich raſch zu einer beweglichen Waſſerſäule, von der nur ein kleiner
Theil an einer Klippe zerſchellt, alles Uebrige aber in freier Luft
ſich in Millionen Perlen auflöſt und zuletzt in ſchimmernden Regen¬
ſtaub verdünnt, der theils auf beträchtliche Weite die Matten um¬
her mit immerwährendem Thau benetzt, theils ſich in einem tiefen
Waſſerbecken wieder ſammelt, in welchem leuchtende Regenbogen
durcheinander weben. Der Staubbach iſt nicht groß durch einen
unaufhaltſam wilden Strom, der an maleriſch zerklüfteten Felſen¬
maſſen ſchäumend und mannigfaltig ſich bricht oder durch den
Donner ſeines Falles die Lüfte erſchüttert und die Ausrufe des
Erſtaunens verſchlingt; — aber er iſt erhaben durch ſeinen himmel¬
hohen Fall, durch die Waſſermaſſen, welche ſich weiß und weich
wie Milch in unaufhörlicher Folge aus der Höhe hinabdrängen,
— durch ſein allmähliges Hinſchwinden in Nebel und durch das Feuer
ſeiner Regenbogen, — beſonders aber auch durch ſein, mit der
Sanftheit des Ganzen ſo wundervoll harmonirendes, leiſes und
[150]Der Waſſerfall. zartes Geräuſch, das nicht von einer einzelnen Stelle herkommt,
ſondern den Zuſchauer allenthalben wie Geiſterſtimmen zu umgeben
ſcheint. Hieraus ergiebt ſich, was Künſtler gegen dieſe Naturſchön¬
heit einwenden; der gerade Fall bietet ihnen zu wenig Anhalte¬
punkte für maleriſche Unterbrechungen, — die Weichheit in der
ſucceſſiven Bewegung der Maſſen verwandelt ſich auf der Leinwand
in ſteifen Stillſtand, und weder das Glanzlicht des Waſſers noch
die Zauberſchimmer der Regenbogen laſſen ſich im Gemälde ſo
wiedergeben, daß ſie äſthetiſch ſchön und durchſichtig erſcheinen.


Die erſte Bedingung zum Vollgenuß ſeiner Schönheit iſt
Sonnenglanz; dieſer währt an den längſten Sommertagen von un¬
gefähr 7 Uhr Morgens bis Mittags, weil er von demjenigen
Berge ſelbſt dem Bach entzogen wird, über deſſen unterſte Stufen
er ſich hinabwirft. Nicht nur die Regenbogen im Keſſel, wo die
zerſtobenen Waſſer ſich ſammeln, — auch die fliegenden Waſſer¬
flocken in der Luft bedürfen des Sonnenſcheines. Jedes Stäub¬
chen wird bemerkbar durch ſeine Vermittelung, und der Inhalt der
Nebelſäule ſcheint doppelt ſo groß, wenn die Gunſt der Tages¬
königin ihr unverkümmert ſtrahlt. Zugleich ergötzt in hohem Grade
der Schatten des Baches an der Felswand; er ſcheint ein zweites,
ſtygiſch-geſchwärztes, mit wetteifernder Schnelle herabſchwebendes
Gewäſſer zu ſein.


Man ſchreitet gewöhnlich zuerſt nach der Stelle, wo der Bach
zu Boden regnet, als wollte man ihn erſt fühlen, bevor man ihn
ruhig betrachtet. Es iſt ein Keſſel, wo die Schauluſtigen zu ſtehen
pflegen. Man erklettert den Hügel von Felstrümmern, den ſich
der Bach links von ſeinem Niederſtürze gebildet hat, und ſchaut
hinab in ein weites Becken, das unabläſſig von tauſendfachem
Schaumgekräuſel wimmelt. Auch jenſeits liegen Schutthaufen, die
von Oben heruntergeworfen wurden, — und zwiſchen dieſen beiden
Bollwerken rieſelt in freiem Durchgang der geſammelte Bach da¬
von. Unverkennbar rührt die Tiefe ſeines Beckens und dieſe Oeff¬
[151]Der Waſſerfall.nung nach der Lütſchine von der Gewalt der Waſſermaſſe her, die
nach Gewittern und bei großer Schneeſchmelze hier im Mittelpunkte
des Falles Raum geſchafft, ohne doch die Hügel rechts und links
zu vermindern; denn dieſe haben ſich aus allerlei Steinen empor¬
geſchichtet, um mit trotziger Kraft den Anfang des Bachbettes ein¬
zudämmen.


Auf der rechten Seite kann man leicht in den Keſſelcirkus
hinabgelangen. Alsbald wird man von einem doppelten Regen¬
bogen umringt, der, einem Nimbus gleich, ſo genau mit uns ver¬
ſchmilzt, daß er Schritt um Schritt, ſo lange wir im Sonnenglanz
und im Thaunebel bleiben, bald vorrückt, bald zurückweicht, wo
wir gehen und ſtehen. Die Waſſertropfen hängen ſich an die
Kleider und glühen einzeln wieder in unvergleichlicher Pracht.
Aber die Näſſe geſtattet nicht, ſich dieſes Feengewandes lange zu
freuen; ein fröſtelndes Gefühl treibt um ſo eher aus der Tiefe
wieder ans Ufer, da die Gefahr am Tage liegt, von irgend einem
zufällig herabgeflözten Steine plötzlich und ſelbſt tödtlich verletzt
zu werden.


In einiger Entfernung lagert es ſich dann auf Wieſenhalden
wonnig und ſicher; ſorglos genießt der Wanderer, was ihm bisher
entgangen war. Mit unermüdetem Staunen erhebt ſich das Auge
nach der hohen, im Blau des Himmels ſcharf gezeichneten, dunkel¬
grauen Kante, wo die Najade zweitheilig ihr fliegendes Gewand
in die Lüfte hängt. — Eine Hälfte des Baches, nur unmerkbar
von der anderen getrennt, fällt beinahe ſenkrecht herab und würde
effektlos an der Felswand niedergleiten, wenn dieſe nicht von Oben
bis unter die Mitte der Höhe ſich unmerklich zurückzöge und nun
der Waſſerſäule freieres Fortſchweben geſtattete. Die untere Hälfte
der Bergwand tritt aber wieder entſchieden hervor, und nun zerſplittert
die Maſſe in jenen Giſcht und Staub, der ſo duftig und ätheriſch
niederſchwebt und an den Bachſturz in den ſalzburgiſchen Alpen
erinnert, welchen das Landvolk bezeichnend mit dem Namen des
[152]Der Waſſerfall.Schleierfalles taufte. Die innere Partie des Staubbaches fällt
abwärts der Mitte ihres Weges, als wollte ſie verſuchen ſich an¬
zuhalten, auf eine ſchräg vorſtehende Bank der Fluh, und rieſelt
von da in tauſend blendenden Schaumſtrahlen vollends an dem
dunkeln Geſtein nach dem Keſſel hinab, während die äußere durch
Schnelligkeit und Schwere die Luft unter ſich preſſend in Millionen
Schaumbläschen immer mehr zerſchellt und weit herum einen immer¬
währenden Thau zur Erde ſpritzt.


Es iſt unterhaltend, das Waſſer von ſeinem Ausſtrömen an
der hohen Felsrinne bis zu ſeinem Zerſtieben mit dem Blicke zu
verfolgen. Erſt bricht es ſo wüthend hervor, daß man vor dem
furchtbaren Sturze erſchrickt, — aber kaum hundert Fuß gefallen,
breitet ſichs reichlich aus; die zuſammengedrängte Säule zerfließt
in einzelne ſchneeweiße Wölkchen, die man Waſſer-Raketen nennen
möchte, weil ſie, forteilend gleich jenen flammenden Feuerköpfen,
einen Schweif zurücklaſſen, der eine halbe Sekunde lang ihre Bahn
bezeichnet, bis ſie, völlig in Waſſerfunken auseinanderſprühend, ſich
zur Unſichtbarkeit verlieren.


Lieblich iſt im Staubbach das mannigfaltige Spiel des Win¬
des. Das Waſſer erregt durch ſich ſelbſt und ſeinen Fall beſtän¬
digen Luftzug; doch dieſe Bewegung trägt allein die feinen Thau¬
tropfen ins Weite und kann nicht den Bach im Ganzen ergreifen.
Sobald aber ein Windſtoß den Gießen überfällt, ſo zeigen ſich
überraſchende, ſeltſame Erſcheinungen. Oft geſchiehts, wenn der
Föhnwind mit heftiger Gewalt gegen die Mündung des Baches
ſtößt, daß dadurch das Waſſer ganz zurückgetrieben wird und zu¬
weilen zwei Minuten lang faſt kein Tropfen über den Berg her¬
abfällt. Zu anderen Zeiten führt der Luftzug ganze Schaaren
durchſichtiger Wölkchen aus dem ſchwebenden Dunſtnebel davon
und bietet höchſt ergötzliche Schauſpiele dar. Am Luſtigſten aber
iſts, wenn ein kräftiger Sturm den geſammten Bach droben in der
Höhe erfaßt und entweder thaleinwärts oder thalauswärts ſo gänz¬
[153]Der Waſſerfall.lich aus ſeinem luftigen Gleis nach einer Seite verweht, daß un¬
ten der Runs ohne Waſſerſchwall bleibt, — der kleine Vorrath im
Keſſel verſiegend nach der Lütſchine (in welche der Bach ſich er¬
gießt) entſchwindet, und die erſchrockenen zahlreichen Fiſchchen in
ihren Spielen übereilt, nur kümmerlich in einzelnen Bachgrübchen
das Naß ihrer Exiſtenzbedingung übrig finden. Dann eilen in
ſolchen Augenblicken jubelnde Kinderſchaaren nach dem Strombette
und fangen in froher Emſigkeit die wehrloſen Forellen aus den
Vertiefungen, wo ſie plätſchern, in herbeigetragene Kübel und
Näpfe. Aber mitten in der luſtigen Freibeuterei läßt der Wind¬
ſtoß droben nach, der Bach gewinnt unverweilt ſein altes Bett,
und die geängſteten Fiſche ſchlüpfen pfeilſchnell unter den Händen
der Kinder davon, während die muthwilligen Fiſcher, naß bis über
die Knöchel, in Haſt an die beiderſeitigen Ufer entſpringen, eine
abermalige Repetition der Ebbe abwartend.


Dies ſind die Metamorphoſen des Staubbaches im Sommer
und bei guter Witterung. Ganz andere, nicht minder ſehenswür¬
dige bietet der Winter, der Frühling und die Zeit zerſtörender
Anſchwellung nach einem Platzregen dar.


Im Winter, wenn Schnee ins Thal fällt, hängen ſich die
Flocken an dem unteren Felſenſatz der Staubbachwand an, gefrieren
bei zunehmender Kälte und durch das darüberfließende Waſſer ge¬
ſättiget zu Eis, das nun launenhaft modellirt, allerlei größere
oder kleinere Zapfen bildet. Prächtiger Glanz, der im Sonnen¬
ſchein völlig blendet, erfüllt das ſtaunende Auge, und der Berg
ſcheint transparent hellbläulich glaſirt zu ſein. Tritt dann gelin¬
deres Wetter ein, oder löſt warmer Föhnwind die winterlichen
Eisbande, dann ſtürzen große Stücken dieſer unförmlichen Zapfen
unter krachendem Getöſe in die Tiefe. Unten aber im Keſſel häuft
ſich die Eistrümmer-Maſſe, thürmt ſich zu einem Splitterhügel em¬
por und geſtaltet durch die darüber ſpritzenden, während der kalten
Nächte ſchnell anfrierenden Waſſertropfen einen Miniatur-Gletſcher
[154]Der Waſſerfall. mit allen ſeinen Konfigurationen. Ja, die Waſſertropfen vereiſen
oft ſchon im Sturze, wenn es recht bitter kalt iſt, fallen raſch zu
Boden und experimentiren augenſcheinlich die Bildung des Hagels
vor unſeren Augen. Zunächſt an der Fluh, droben beim Ausfall
des getheilten Baches, erwachſen allmählig zwei ungeheuere Eis¬
ſäulen wie nach den Geſetzen der im Feenreiche geltenden Baukunſt,
die in die freien Lüfte hinaus ihre Säulen und Schlöſſer kon¬
ſtruirt. Reißen dann beide, durch die Schwere des eigenen Ge¬
wichtes gedrängt, oder durch laue Südwinde in ihrer ſtützenden
Baſis untergraben, urplötzlich ab, ſo krachen ſie mit ſolcher Vehe¬
menz auf den Gletſcher im Keſſel, daß Alles rundum erzittert und
ein Erdbeben hereinzubrechen ſcheint. Von größter Wirkung iſts,
wenn beide Säulen zugleich einſtürzen, und ergötzlich iſt die immer¬
währende Regenerirung dieſer Atlas-Pilaſter, ſobald neue Fröſte
eintreten. Wie aber im Frühling, beſonders im Mai, die warmen
Lüfte mächtiger werden, ſchmilzt auch der Eishügel im Keſſel mit
ſichtbarer Eile zuſammen und löſt ſich — wie bei den Gletſchern —
zuerſt an der Felſenwand ab, ſo daß ſich zwiſchen den Eismaſſen
und dem Geſtein eine furchtbare Kluft öffnet, deren Tiefe ſchon
oft gegen 70 Fuß maß. Noch bis in die Hälfte des Monats
Juni hinein erhalten ſich Reſte dieſer winterlichen Erſtarrung. Oft
entſteht ein wunderſchönes azurfarbenes Portal, durch welches das
geſchmolzene Waſſer abfließt, ganz wie bei den Gletſchern, oder
das herabſtürzende Waſſer bohrt ſich zugleich vermöge ſeines größe¬
ren Wärmegehaltes einen vertikalen Schlot, der in den Eisſchacht
ausmündet. Auch hier erzeugt die hineinſcheinende Sonne wieder
Farbengaukeleien, die unvergleichlich in ihrer Art ſind.


Dieſem heiteren und ungefährlichen Anblicke ſteht die Wuth
des Baches am Tage hereinbrechender und über die Höhen des
Pletſchberges ſich ausgießender Gewitter furchtbar gegenüber.


Brüllend, mächtig angeſchwollen und vom Schlamm der auf¬
gelöſten Erde ſchwarz gefärbt, ſchießt dann der Strom in zwei
[155]Der Waſſerfall.dichten Armen, wie aus ungeheueren Brunnenröhren, von der Zinne
der hohen, jetzt das grollende Gewölk unmittelbar berührenden
Felſenwand in die Lüfte heraus. Eine Laſt von Steinen, —
viele davon über einen Centner ſchwer, führt der entfeſſelt einher¬
brauſende Strom mit ſich und ſchleudert ſie wie gigantiſchen ſchwar¬
zen Hagel hinab ins Thal. Von den Vorſprüngen der Felſenwand
abprallend, wiederholen ſie ihre Bogenſprünge, bis ſie zuletzt in
ſchmetterndem Sturze den Schuttkeſſel erreichen. Die wechſelſeitige
Friktion, der elektriſche Anprall der Steine erhitzt dieſe ſo, daß
ſchwefeliger Brandgeruch ringsum ſich verbreitet. Dann kommen
auch Baumſtämme, entwurzelte Tannenbäume in dem heulenden
Waſſerſchwalle herab, und je nach Größe oder Gewicht fliegen
einige, von Windſtößen entführt, gleich verirrten Schindeln eines
abgedeckten Hauſes um ſich ſelber wirbelnd, langſam durch die
Lüfte hernieder, während andere wie Rieſenpfeile von der Höhe
daherſchmettern und unten tief in das Erdreich ſich einbohren. Die
ſonſt ſilberhelle, ſanft ſchwebende Waſſergarbe gleicht einer uner¬
meßlichen, verkehrten dunkelbraunen Rauchſäule, deren Wallen und
Wogen deſto ausgedehnter wird, je näher ſie dem Boden ſinkt.
Oft von einer Windsbraut fortgerafft, fällt ſie thalauf oder thalab
von der lothrechten Bahn ihres Schwerpunktes weit verſchlagen in
die Tiefe, oder ſie ſtäubt über die ganze Breite des Thales nach
der gegenüberſtehenden Mauer der hohen Schiltwaldfluh hinaus.
Ja, es begegnet dann ſogar, daß der dicke Schlammſchwall gleich
wirbelndem Rauch in die Höhe gejagt, rückwärts überſchlagend, an
den Ort ſeines Urſprunges zurückgetrieben, von Neuem den ſau¬
ſenden Sturz beginnt, und in ſekundenlanger ſchauerlicher Blöße
die Felſenwand und den fortwährenden Steinhagel als ſelbſtſtän¬
diges Schreckensbild ſehen läßt. Schwarze, laſtſchwer hereinhän¬
gende Wolkendecken, die den ſchmalen Streifen des, über die hohen
Felſenwände des engen Thales hereinſchauenden Himmels ver¬
bergen, — das gelbe Feuer der im Grunde der Landſchaft oder
[156]Der Wasserfall.an den Höhen der Felſenwände hinziſchenden Blitze und das fürch¬
terlich praſſelnde, Alles erſchütternde Rollen des Donners dienen
dann dem wüthenden Gewäſſer als ſchreckliche, aber auch furchtbar
erhabene Begleitung. Eine Scene aus dem Final-Drama des
Weltgerichtes ſcheint verwirklichet zu werden, wenn ein ähnliches
Wetter wie das eben beſchriebene über das Thal hereinbricht, und
es bedarf jener Beſonnenheit und ſtoiſchen Ruhe, die der Gebirgs¬
bewohner aus ſeinem täglichen Kampfe mit den Elementen gewinnt,
um hier nicht die Geiſtesgegenwart zu verlieren und auf jeden An¬
griff gefaßt zu ſein, der dem Thale durch Ueberſchwemmung droht.


Schließen wir dieſe ausführliche Schilderung eines alpinen
Waſſerfalles, der unerſchöpflichen Stoff darbietet, mit dem beruhi¬
genden, mild anſprechenden Bilde ſeiner Erſcheinung im blaſſen
Lichte des Mondenſcheines.


Verliert ſich die Sonne hinter die Berge, ſo werden durch die
verſchieden gezackten Erhöhungen der Felſenwand lange Striche
von dunkelen Schatten hervorgebracht, welche die Waſſerſäule in
einzelne Parzellen zu zerſchneiden ſcheinen und den in der Be¬
ſchattung liegenden Theil des Falles faſt gänzlich unſichtbar machen.
Wenn endlich das helle Sonnenlicht in der Luft durchaus ver¬
ſchwunden iſt, ſo breitet ſich allmählig todte Bläſſe über die ganze
Fluh aus, der Reichthum des Waſſers ſcheint völlig zu verſiegen
und nur noch ein kleines unbedeutendes Bächlein über die Felſen
hinabzuſchleichen. Mit Einbruch der Nacht verliert ſich das Ein¬
zelne des majeſtätiſchen Sturzes und ſeiner Bewegungen je mehr
und mehr. Nur eine weiße Rieſengeſtalt, ein geiſterbleiches Nebel¬
bild, das in langfaltigem, ſtarr herabhängendem Mantel unver¬
wandt an der Felſenmauer lehnt, überragt hoch die ſchweigend im
Dunkel gelagerten braunen Friedenshütten der Menſchen. Aber
nicht lange währt dieſe unheimliche Uebergangsperiode; bald kehrt
wieder Leben in die Geſtalt. Ueber den ewigen Firnzinken der
Jungfrau ſteigt der „blaſſe Freund der Noth und der Nacht, der
[157]Der Waſſerfall. magiſche Proſpektenmaler der künftigen Welt, für die wir brennen
und weinen“ — der ſtille Vollmond herauf und gießt ſein myſte¬
riöſes Licht über die Alpen aus. Nun ſchimmert nicht nur die
Schaumſäule ſelbſt im reinen Silberglanze, ſondern auch die Waſſer¬
ſtrahlen am unterſten Abſatze der Staubbachfluh wandeln ſich zu
einem weißfunkelnden Brillantregen um, der in halb erblaßtem
Farbenſpiel den gaukelnden Zauber des Tages durch Regenbogen¬
ähnliche Verſchlingungen nachzuahmen ſich bemüht; geiſterhaft um¬
weben die Diamant-Funken den Träumer, welcher in ſo einſamer
Nachtſtunde ſich hierher begiebt.


Hin durch die Fluren flüſterts heimlich ſacht,
Daß liebeglühend alle Blumen beben.
Aufſtöhnt der Wind! Im dunklen Schoß der Nacht
Entfaltet ſich ein tauſendfältig Leben!
Rittershaus.

Ganz ein anderes Bild geſtaltet der volle, waſſermächtige
Bergſtrom, wenn er in ſeinem Bett durch Felſentreppen oder hohe,
faſt vertikale Schichten-Abſtürze unterbrochen, plötzlich zum ver¬
zweifelten Sprung in die Tiefe genöthigt wird. Dies iſt der eigent¬
liche Waſſerfall im engeren und präciſeren Sinne. Was dort bei
den ſanft herabſinkenden, halb vom Winde getragenen, leicht ver¬
wehten Staubfällen zur Idylle ſich verkörpert und als ein zartes
Adagio ſeine ewigen, geiſterhaft-flüſternden Weiſen rauſcht, das
wird beim großen körperreichen Stromſturze zur energiſchen Kraft¬
äußerung, zur gewaltigen tragiſchen Kataſtrophe, zum donnernden
Furioſo. Jene ſind zarte weibliche Erſcheinungen, die aus ohn¬
mächtigem Hingeben an das Unvermeidliche entſtehen, — dieſe ſind
thatkräftige Akte entſchloſſenen männlichen Dranges, zu vergleichen
dem entbrannten Muthe eines zur äußerſten verzweifelten Gegen¬
wehr getriebenen, ſeine Selbſtſtändigkeit und Zuſammengehörigkeit
vertheidigenden Volkes.


In dieſer kernigen, kräftigen Haltung ſind ſie begreiflich auch
nach ihrem landſchaftlichen Effekte viel maleriſcher, lebendig-beweg¬
[158]Der Waſſerfall. ter und an Formen mannigfaltiger, je nachdem die Felſenarchitektur,
über welche die Waſſermaſſen herabſtürzen, ſich geſtaltet. Es hängt
viel von der Verwitterungsfähigkeit des Geſteines und deſſen Bruch¬
figuren ab. Da, wo granitiſche oder überhaupt kryſtalliniſche Fels¬
arten die Baſis der Sturzwände bilden, wo alſo die Konſiſtenz
und Dauerkräftigkeit bedeutend iſt, zeigt ſich der Waſſerfall auch
als großartiges, einheitlich maſſenhaftes Schauſpiel. Dennoch
variiren auch dieſe außerordentlich. Der Buffalora im Val Miſocco
(Graubünden), welcher über eine faſt lothrechte Wand herabkommt,
ſchießt droben in vollſter Vehemenz als geſchloſſene, kompakte Säule,
wie ein kryſtallener Kanonenſchuß weit über den Felſenrand hinaus
und fährt als runder konſiſtenter Körper zur Tiefe nieder, ohne direkt
die Gneisfront, über die er herabſtürzt, zu berühren. Er unterliegt
alſo, bezüglich ſeiner Sturzverhältniſſe, den gleichen Bedingungen
wie der Staubbach im Lauterbrunnen-Thale, nur daß er, vermöge
ſeines größeren Waſſervolumens und ſeines minder hohen Falles
halber, ſich nicht verflüchtigend auflöſt wie jener, ſondern eben ſo
en gros unten ankommt, wie er droben ſein Bett verließ. Er iſt
eben der kühne männliche Pendant zum ſchmachtend-weiblichen
Staubbach. —


Dieſer gleichen Kategorie gehören die ricochetirenden Fälle an.
Der Piumegna bei Faido kommt über die Alpenterraſſen von Pian
del Lago, welche die weſtliche Thalwand des Teſſiner Val Leven¬
tina bilden, in Cascadellen als munterer, kräftig genährter Berg¬
bach herab, und ſieht ſich plötzlich in dem Fall, kein Flußbett mehr
zu haben, ſondern einen Satz auf gut Glück ins Unbeſtimmte über
eine vertikale Glimmerwand wagen zu müſſen. Er thuts, ſtaucht
unten aber, ſtatt in einen ſeine Schaumwellen ſammelnden Keſſel
zu fallen, auf eine Felſenplatte, ſo daß er in bildlichem Aufſchrei,
wie eine Fächer-Fontäne wieder emporſpritzt und einen Bogenſatz
hinaus ins Freie macht, der einer ſchönen Maraboutfeder gleicht.
Aehnlich verhält ſichs mit der Cascade des Pélérins, die 150 Fuß
[159]Der Waſſerfall. hoch, als Abfluß des gleichnamigen Gletſchers im Chamouny-Thale
herabſtürzt und mit Federkraft wieder emporſchnellend ſich einen
Ausweg ſucht.


Weſentlich anders verhält ſich's mit jenen, die eigentlich ihr
Flußbett nicht verlaſſen, ſondern innerhalb deſſelben über mehr oder
minder hohe Stufen hinunterſpringen müſſen. Der impoſanteſte
Repräſentant dieſer Gattung iſt der berühmte Toſa-Fall im Piemon¬
teſiſchen Val Formazza. Als der Waſſer-reichſte (der nur dem Rhein¬
fall bei Schaffhauſen nachſteht) verurſacht er in ſeinem Granit-
Gehäuſe auch den ärgſten Spektakel. Mehr denn 80 Fuß breit und
in einer Geſammthöhe von etwa 400 Fuß ſtürzt die Toccia, nach
unten ſich erweiternd, über drei Abſätze und löſt ihre Waſſermaſſen
in ſiedend brandende Schaumwolken auf, denen dicke Waſſerſtaub-
Nebel fortwährend entſteigen. Ihm zur Seite, wenn auch nicht
ſo waſſermächtig, aber noch wilder in der Umgebung ſteht der Aare-
Fall an der Handeck im Hasli-Thale (Berner Oberland). Er ſtürzt
in eine mehr als 200 Fuß tiefe Granitkluft hinab, Anfangs bis
zur Hälfte des Kataraktes in gebundener, ſtrahlend-glatter Maſſe;
dann aber zerſchellt dieſelbe an aufragenden Felszacken, die unzer¬
ſtörbar ſcheinen, ſo furchtbar, daß Alles in weiße ſchneeartig
ausſehende, zerſtiebende Halbkugeln ſich auflöſt und in dieſem
Zuſtande von Treppe zu Treppe hinabkocht. — Noch großartiger,
was die Umgebung und Felſen-Dekoration anbelangt, iſt der Bérard-
oder Poyaz-Fall bei Valorcine an der Tête noire (Uebergang von
Martigny im Wallis zum Chamouny-Thal). Der Zugang zu dieſem
bereitet ſchon auf Außerordentliches vor. Am Eingange einer Felſen¬
ſchlucht ſpannt ſich eine etwa 30 Fuß lange Holzbrücke über Tiefen,
aus denen von Ferne unbeſtimmtes Brauſen hervortönt. An him¬
melhohe Felſenwände angelehnt, liegen koloſſale Granitblöcke wild
durch einander geworfen und bilden, dicht an einander gedrängt,
natürliche Tunnel. Auf gut angebrachten ſteinernen Treppen gehts
dann bald auf- bald abwärts, in zwei aufeinander folgende Sou¬
[160]Der Waſſerfall. terrains, dann auf etwas flachen, mit Fichten bewachſenen Boden,
wo noch Alpenroſen das Auge erfreuen, darauf in einen dritten,
längeren, ganz dunkelen Granit-Gang von vielleicht 50 Schritt
Tiefe, und endlich über eine ſolide Holzbrücke ans Tageslicht. Und
ſiehe, der Wanderer ſteht plötzlich unter dem herrlichen, grandioſen
Waſſerfalle, der ſich größtentheils über eine gewaltige flache Granit¬
platte, die wohl 50 Fuß über den Zuſchauer hervorragt, in eine
ſchauerliche Tiefe von etwa 250 Fuß mit furchtbarem Getöſe hin¬
unterſtürzt. Ein kleiner Waſſerarm windet zur Rechten der Granit¬
platte ſich durch und vereiniget, etwas tiefer, ſich mit der großen
Waſſermaſſe, ſo daß der Anblick einige Aehnlichkeit mit dem eben¬
erwähnten Handeckfall hat, wo ſich der Aerlenbach in den Arm der
brauſenden Aar wirft. Das ganz Eigenthümliche dieſes Waſſer¬
falles iſt die abſolute Abgeſchiedenheit und die grandioſe Einrahmung
in dunkle, ſtygiſche Felſenmaſſen, deren Enden ſo ſcharf vom Zahne
der Zeit ausgekehlt, zugeſpitzt und modellirt ſind, als ob die tüch¬
tigſten Steinmetzen hier ihre Meiſterarbeit zuſammengeſtellt hätten,
um irgend ein großartiges gothiſches Bauwerk auszuſchmücken. Man
möchte dieſen Fall ſeiner Einrahmung wegen einen gothiſchen
Waſſerfall nennen, indem die Hunderte von anſtrebenden Säulchen
und Pilaſtern ganz den Charakter und die Zeichnung herrlicher,
mittelalterlicher Dome haben. Weder die Glommen- und Bram¬
men-Fälle im hohen Norwegen, noch die effektreichen Trollhäta-Fälle
in Schweden, noch jene an der ſteierſchen Gränze, in Tyrol und
der Schweiz haben irgend ein Seitenſtück zu dieſem in ſeiner Art
einzigen Schauſpiel.


Es ließe ſich nun von hier an abwärts eine vollſtändige
Formen-Skala von Alpen-Waſſerfällen aus dem Gebiete der grani¬
tiſchen Geſteine aufſtellen; wir erwähnen indeſſen deren nur noch
zwei als geeignete Repräſentanten der verſchiedenen Abſtufungen.
Der eine iſt der Fall des Hinterrheines in der Roffla (zwiſchen
Viamala und Splügen in Graubünden) deſſen Sturzfundament
[161]Der Waſſerfall.ſteil-treppenförmig abſinkt und daher vielleicht das entſprechendſte
Beiſpiel einer „Jäh-Kaskade“ im Flußbett iſt; der andere iſt der
Fall der Reuß unter der Teufelsbrücke auf der Gotthardsſtraße,
der mehr die flach geneigte Kaskadenform repräſentirt. Als
Muſter eines konſtanten, treppenförmig ebenmäßigen Kaskadellen-
Falles kann der Freſſinone beim Ausgang der Gondo-Galerie auf
dem Simplon gelten.


Zwiſchen allen dieſen mitten inne liegen die „garnirten
Waſſerfälle
.“ Der vornehmſte derſelben in den Alpen iſt der
Piſſevache im unteren Rhône-Thale. Die zackig-zerſprengte, ter¬
raſſenförmig ausgeſtufte Struktur des Felſenkörpers, über den die
glänzende Sallenche in wollig runder Maſſe ſich herniederbeugt,
und die accompagnirenden Nebenkaskaden, welche in unzähligen
Strahlen plätſchernd, hüpfend oder in zerſtauchender Haſt hernieder¬
brauſend die Hauptmaſſe umgeben, ſchaffen ein ſo vielſeitig bewegtes
Bild, daß — hätte der Piſſevache die reiche, buntgeſchmückte Um¬
gebung eines Gießbaches am Brienzer See, er der bunteſte Waſſer¬
fall der Alpen wäre. Zur gleichen Gruppe, der Anordnung nach gehö¬
rig, und doch wieder außerordentlich verſchieden von dem eben beſchrie¬
benen ſind die Fälle des Schmadribaches in der äußerſten Tiefe
des Ammerten-Thales. In der Mitte, voll und hoch aufſchäumend,
brauſt der Kern des Gletſcherbaches, ein eigentlicher Waſſerfall über
eine ſchwarze zerſpaltene Felſenmaſſe herab, kahl und ſchauerlich¬
wüſt, unmittelbar darüber die gewaltigen Eispyramiden des Breit¬
hornes, Groß- und Tſchingelhornes. Dieſem Hauptſtrahl rechts
und links zur Seite hüpfen und plätſchern eine Menge ſchmaler
Waſſerfaden von den Granit-Treppen hernieder, bald in langer,
ſchmächtiger Form, bald gebrochen und im Winkel verſtaucht, daß
man von dem drängenden Getümmel, in welchem der ſtäubende
brauſende Wirrwarr die milchweißen, dunſtigen Waſſerflocken aus¬
einanderſpritzt, um ſie im nächſten Augenblicke wieder zu vereinen,
ganz irre wird. Nach unten zu, wie bei der Achſe eines ausge¬
Berlepſch, die Alpen. 11[162]Der Waſſerfall. ſpreizten Fächers, ſammeln ſich die zerſtreueten Waſſerſtrahlen in
einem ausgewaſchenen Trümmerbecken, und kaum vereint, jagen ſie
mit überſtürzender Eile ſchräg hinab, zwiſchen Felſenthoren hindurch,
um abermals in neuen kleineren Fällen dem Uebermuthe ihrer Ju¬
gendkraft die Zügel ſchießen zu laſſen. (Abbildung aller bisher
genannten Waſſerfälle, mit Ausnahme des erſt vor wenig Jahren
zugänglich gemachten Bérard-Falles, findet man in meinem, bei
J. J. Weber in Leipzig 1854, ohne meinen Namen erſchienenen:
„Illuſtrirten Alpenführer.“ — Berlepſch.)


Das Kaskaden-Syſtem wiederholt ſich in großem Zuſchnitt bei
den Waſſerfällen der Jurakalk-Alpen. Dort veranlaſſen Schichten¬
wechſel, verſchiedenartig geneigte Hebung der Sedimente und Aus¬
ſtufung der Schichtenköpfe eine natürliche Treppenanlage in den
Flußbetten der Voralpen, welche ſich am bedeutſamſten in den vier¬
zehn Kaskaden-Etagen des weltberühmt gewordenen Gießbaches am
Brienzer See (gegenüber von Brienz) ausprägen. Er iſt dadurch,
daß er ungemein bequem liegt, ein nobler, comfortabler Gaſthof
dicht neben einen ſeiner Sturzfälle gebaut wurde, und während des
Sommers wöchentlich mehrmals hinter ſeinen Schaumwellen bei
Nacht bengaliſche Flammen angezündet werden, welche die Waſſer¬
maſſen in transparent glühende Feuerſtröme umwandeln, das Wan¬
derziel aller Touriſten geworden. In noch größeren Cäſuren treten
die Reichenbach-Fälle, zwiſchen Meyringen und Roſenlaui auf; ſie
vereinigen eine Muſterkarte aller bisher beſchriebenen Formen, frei¬
lich ohne allenthalben deren erſchütternde Großartigkeit zu beſitzen.


Es erübriget endlich noch, einer Gattung von Waſſerfällen zu
gedenken, die in großem Maßſtabe, minder im Gebirge als viel¬
mehr am Fuße deſſelben vorkommen; dieſe ſind die Laufen oder
Stromſchnellen. Schon die Bezeichnung ſagt deutlich, daß ſie
weniger eigentliche Fälle, als beſchleunigte, ſchräg-abjagende Flu߬
maſſen ſind, gewiſſermaßen von der Natur gebaute, gigantiſche
Wehre. Der renommirteſte Laufen iſt der weltbekannte Rheinfall
[163]Der Waſſerfall. bei Schaffhauſen, der ſchon zu oft beſchrieben und abgebildet wurde,
und ſomit eine nochmalige Schilderung überflüſſig macht. In klei¬
nerem Maßſtabe finden ſich ähnliche bei anderen Alpenflüſſen, ſo
z. B. der Fall des Inn bei ſeinem Ausfluſſe aus dem St. Morizer
See im Ober-Engadin. — Eigentliche Stromſchnellen im engeren
Sinne, alſo Stellen, an denen der Strom in Folge ſtarker Neigung
ſeines Flußbettes einen beſchleunigteren Lauf annimmt und ſchräg
über flache Platten hinabſchießt, hat faſt jeder Gebirgsſtrom, ſobald
er in die Zonen der ſedimentären Bildungen hinaustritt. Solche
Stromſchnellen ſind Urſache, daß mancher bedeutende Fluß nicht
ſchiffbar benutzt werden kann.


Bei Laufenburg an der ſchweizeriſch-badenſchen Gränze, durch¬
ſetzt feſter Alpen-Gneis in Form eines Felſendammes das Klippen-
Bett des Rheines und nöthiget dieſen, zwiſchen gewaltigen Blöcken
hindurch, über ſtark geneigte Schichtenlagen des kryſtalliniſchen
Geſteines mit reißender Vehemenz hinabzujagen. Da der Maſſen¬
ſturz ungeachtet ſeines brüllenden Lärmens und ſtellenweiſe ſchäu¬
menden Weſens doch ganz und gar den Charakter des eigentlichen
Waſſerfalles verliert, weil die Oberfläche des Stromes, ſtark
wellenförmig fluthend, doch ziemlich glatt bleibt, ſo haben Wage¬
hälſe, offenbares Va-banque-Spiel mit ihrem Leben treibend, es
ſchon oft verſucht mit kleinen geeigneten Nachen über dieſe wilden
Stromſchnellen hinabzufahren. Einigen gelang das mehr als
tollkühne Unternehmen, — andere kamen dabei um. Zu letzteren
gehörte der junge Lord Montague, der wunderbarerweiſe am
gleichen Tage auf dieſe Weiſe ſein Leben einbüßte, an welchem ſein
Stammſchloß in England abbrannte. Der Schiffer, welcher ihn
fuhr, vermochte ſich zu retten. Erfahrene Schiffer pflegen ohne
Schaden ihre Fahrzeuge hinabzulaſſen. — Noch präciſer formt ſich
die „Stromſchnelle“ beim ſ. g. kleinen Laufen unweit Koblenz am
Rhein, einige Stunden oberhalb Laufenburg.


11*[164]Der Waſſerfall.

Der Bergſtrom und ſeine Waſſerfälle ſind eine der ſtolzeſten
Zierden des Alpenlandes, und mit begeiſterten Worten beſingt
F. L. von Stollberg das erhabene Schauſpiel


Unſterblicher Jüngling,

Du ſtrömeſt hervor aus der Felſenkluft.

Kein Sterblicher ſah die Wiege des Starken!

Es hörte kein Ohr das Lallen des Edlen im ſprudelnden Quell!

Wie biſt du ſo ſchön in ſilbernen Locken!

Wie biſt du ſo furchtbar im Donner der hallenden Felſen umher!

O eile nicht ſo zum grünlichen See!

Jüngling! noch biſt du ſtark wie ein Gott!

Frei wie ein Gott!
[[165]]

Der Schneeſturm im Gebirge.

— — Tollheit iſt
Der Muth des Menſchen,
Wenn ein Gott ihm zürnt.
Stollberg.

Zu den ungeſtümſten und ſchreckenerregendſten Naturerſchei¬
nungen des Hochgebirges gehören die Schneeſtürme. Von ihrer
Heftigkeit, Gewalt und von der quantitativen Dichtheit der Schnee¬
menge, welche durch die Lüfte getragen die Möglichkeit zuläßt, daß
binnen wenig Minuten kurz vorher noch ſichtbare Wege gänzlich
vergraben und fußhoch überdeckt werden, kann nur derjenige ſich
einen lebhaften Begriff machen, der die wilden Kraftäußerungen
der Elemente im Gebirge ſchon in anderer Weiſe kennen lernte.
Der Schneeſturm in den Alpen iſt gleichſam der entgegengeſetzte
Pol einer anderen, eben ſo furchtbaren, atmoſphäriſchen Erſcheinung,
nämlich des Samum der Wüſte. Wie dort der raſend einherbrau¬
ſende Flügelſchlag des Wüſtenwindes unberechenbare Milliarden
glühendheißer Sandkörnchen emporhebt und in jagender Flucht
durch die Lüfte trägt, tiefe Mulden hier aufwühlt, um neue, vor¬
her nicht dageweſene, haushohe Hügel dort abzuladen, — ſo er¬
[166]Der Schneeſturm. füllt der Schneeſturm die Luft auf große Entfernungen hin mit
dichten, ringsumher Alles verfinſternden Wolken kleiner feiner
Schneekryſtalle, die Alles durchdringen, an Alles ſich einbohren
und mit der Atmoſphäre eine völlig verſchmolzene Maſſe zu ſein
ſcheinen. Die Verwandtſchaft der mechaniſchen Thätigkeit dieſer
beiden ſchrecklichen Lufterſcheinungen iſt frappant und bietet ſelbſt
bis in die kleinſten Einzelheiten Parallelen dar, freilich eben im¬
mer unter den Bedingungen der äußerſten Temperatur-Gegenſätze.

Der Schnee des Hochgebirges iſt, ſowohl nach Geſtalt und
Umfang, als nach Dichtheit und ſpecifiſcher Schwere ſeiner einzel¬
nen Körpertheilchen, in der Regel weſentlich verſchieden vom Schnee
der Tiefebene und des Hügellandes. Wenn er auch unter gleichen
Bedingungen entſtehen mag, ſo iſt doch höchſt wahrſcheinlich ſein
Bildungsproceß ein viel einfacherer; ja, es fragt ſich, ob er nicht
unmittelbar aus jenen Elementarkörperchen beſteht, aus deren, nach
organiſcher Anordnung erfolgender Konglomeration ſich die Schnee¬
flocke, wie man ſie drunten im Lande allgemein kennt, erſt konſtruirt.
Denn in die Geheimniſſe der Schneekryſtalliſation ſind die Natur¬
wiſſenſchaften bis jetzt wenig erſt eingedrungen; nur Vermuthungen
und Wahrſcheinlichkeitsgründe konnten ſie darüber aufſtellen: in
welcher Region und unter welchen meteorologiſchen Einflüſſen die
erſte Schneebildung beginnt, — und es iſt noch eine ſchwebende
Frage, ob der, ſtets nach dem Geſetz der drei- oder ſechskantigen
oder ſechsſtrahligen Form ſich darſtellende, ſymmetriſch-ſchöne Schnee¬
ſtern durch das Anſchließen kleiner, unendlich feiner, aber ſchon
vorhandener Eisnädelchen entſtehe, — oder ob er durch Anhängen
(Adhäſion) der dunſtförmig im Aether ſchwebenden Waſſerbläschen
und deren Gefrieren ſeine allmählige Bildung vom Centrum aus
herbeiführe. — Die beiden Schneearten, nämlich der Hochſchnee
und der Flockenſchnee, verhalten ſich etwa zu einander wie der
chemiſche Gehalt und das ſpecifiſche Gewicht der ſchweren, mit vie¬
len Stoffatomen geſättigten Luft tiefliegender Regionen, gegenüber
[167]Der Schneeſturm.jener feinen, dünnen, leichten, reinen Bergluft, die, je höher man
in den Dunſtkreis empordringt, um ſo mehr ſich verflüchtiget.


Die große, breite, fette Flocke des Tieflandes iſt eine Ver¬
einigung vieler, mehr oder minder vollſtändig ausgebildeter, flächen¬
haft-kryſtalliſirter Eisſterne, die deshalb, weil die Schwere der
darin enthaltenen gefrorenen Waſſertheilchen nach ihrem räumlichen
Umfange in keinem Verhältniß zu der zu durchſchneidenden Luft
ſteht, langſam wie ein von den Windwellen getragenes Fallſchirm¬
chen aus der Höhe niederſchwebt, und nur dann eine beſchleunig¬
tere Geſchwindigkeit annimmt, wenn ſie in Temperaturſchichten her¬
abſinkt, welche vermöge größerer Wärmemenge die im Froſt ge¬
bundenen Waſſeratome theilweiſe löſen und die ganze Wolke
durchfeuchten.


Ganz anders verhält ſichs mit dem Hochſchnee. Der erſte
Blick ſchon zeigt ein ganz anderes Gebilde. Er iſt viel feiner,
mehliger oder eigentlich ſand-ähnlich, trockener und darum ſelbſtſtän¬
dig beweglicher. Theils zeigt er unterm Mikroskop blos prismen¬
förmige Nädelchen, oder unendlich kleine, aber kompakte keilförmige,
ſechskantige Pyramiden, theils aber ſtellt er ſich auch in einer
mehr der ſphäriſchen Geſtalt annähernden Weiſe dar, und zwar ſo,
daß er einen kugelförmigen centralen Körper zeigt, an dem, ähn¬
lich der mittelalterlichen Waffe des Morgenſternes, kleine Spitzen
nach allen Radien hin ausſtrahlen. Daß ſolch ein, ſeinem Um¬
fange nach kleinerer, wahrſcheinlich auch dichterer und darum ſchwe¬
rerer Körper in ganz anderem Geſchwindigkeitsmaße die Luft durch¬
ſchneiden kann und darum bewegungsfähiger iſt, wenn der Wind
ihn treibt, als die netzförmig breite, viel mehr Raum einnehmende
Schneeflocke, iſt begreiflich.


Vermöge ſeiner Feinheit profilirt der Hochlandsſchnee aber
auch die Gegenſtände, auf die er fällt, viel feiner, zeichnet deren
Konturen viel detaillirter, und ſchließt den kleinſten Formgebilden
ſich ungemein ſchmiegſam, — gleichſam nur beſtaubend an, wo die
[168]Der Schneeſturm.volle, flaumige Schneeflocke des Tieflandes in großen behäbigen
Linien, oft ziemlich ſchwerfällig, die beſchneiten Gegenſtände nur
deckt. Dieſe ſubtilen Kandirungen kann man indeſſen nur im
Herbſte, namentlich an Kräutern, verdorrten Samen-Dolden
und an den kleinen zierlichen Kryptogamen der Alpenpflanzen
wahrnehmen, wenn die Atmoſphäre ihre Anfangsverſuche im Be¬
ſtauben mit gleichſam gefrorenem Nebel macht. Dieſes leichte Be¬
ſchneien iſt nicht zu verwechſeln mit der, auch im Hügel- und
Flachlande vorkommenden verwandten Erſcheinung des ſ. g. „Duft“
oder „Pick“, welcher Pflanzen, Steine und andere Dinge kryſtalli¬
ſirend überkleidet, wenn dichter Nebel bei tiefer, unterm Gefrier¬
punkte ſtehender Temperatur über einer Landſchaft lagert.


Es ſoll nun keinesweges behauptet werden, daß unter allen
Umſtänden die Bildung von Flockenſchnee in den Hochalpen un¬
möglich ſei. Vielmehr verſichert der bekannte ſchweizeriſche Berg¬
ſteiger, Herr Weilenmann, daß er während ſeiner Beſteigung des
Grand Combin am 10. Auguſt 1858 bei einer Höhe von circa
12,000 F. über dem Meere und bei einer Temperatur von 6 Grad
Wärme in ein dichtes Schneegeſtöber des dickſten, ſchwerſten Flocken¬
ſchnees gekommen ſei.


Bei der ungemeinen Feinheit der einzelnen Körperchen des
Hochſchnees iſt es aber auch vornehmlich deren große Trockenheit,
welche ſie auszeichnet. Dieſe iſt Folge der in den oberen Regionen
während des ganzen Jahres faſt ununterbrochen herrſchenden niede¬
ren Temperatur. Im normalen Zuſtande iſt der Hochſchnee ſo
ſpröde, ſo abgeſchloſſen eigenkörperig, daß er ohne kräftige Wärme¬
einwirkung ſich eben ſo wenig zuſammenballen läßt, wie eine Hand¬
voll trockenen feinen Sandes.


Mit dieſem Material treibt nun der Wind auf den Höhen
und in den Einſattelungen des Gebirges, welche 5000 Fuß über¬
ſteigen, ſein mehr als übermüthiges Spiel, packt plötzlich einige
Hunderttauſend Kubikklaftern dieſes feinen Eisſtaubes, wirbelt ihn
[169]Der Schneeſturm.ſpielend hoch, hoch in die Lüfte empor, und überläßt es der dort
herrſchenden Windrichtung, ihn wieder in Form des dichteſten
Schneefalles, oder zerſtreut als glitzernden Eisnadel-Regen abzuſchüt¬
teln, wo es ihm beliebt. „Le Montblanc fume sa pipe“ ſagen
die Thalleute von Chamouny, wenn's von der Schneekuppel dieſes
höchſten europäiſchen Berges bei hellem, tiefblauem Himmel wie
Dämpfe aufſteigt und leiſe verweht wird. — Oder der Wind, in
ſeinem radikalen Fegen über die alten Firnwüſten, hebt irgend
eine, ihm nicht am rechten Platze liegende Ladung ſolch trockenen
Hochſchnees auf und ſchleudert ihn unverſehens in tiefere Berg¬
becken oder Uebergangspunkte, während wenig Minuten Schnee¬
batterieen und Querdämme aufbauend oder mühſam ausgeſchaufelte
Hohlwege nivellirend, wozu eine Arbeiter-Compagnie tagelange Zeit
bedurft haben würde. Darum läßt ſich auch zwiſchen dieſen bös¬
artigen Neckereien des Windes und dem Fall der eigentlichen
„Staublauinen“ oft keine beſtimmte Gränze ziehen, weil die Wir¬
kungen des Einen faſt jenen der Anderen gleichkommen.


Aber alle dieſe tollen Luftmanöver ſind nichts weniger als
eigentliche Schneeſtürme; der Charakter dieſer fürchterlich tobenden
Erſcheinung iſt weit wilder, zorniger, feindſeliger. Wehe dem ar¬
men Wanderer oder Roßtreiber, der in eine heftige „Tormenta“
— wie der Teſſiner den Schneeſturm bezeichnend nennt — geräth,
— und doppelt Wehe über ihn, wenn er nicht ein von den Un¬
bilden des Wetters längſt abgehärteter Mann, — wenn er ein
Fremdling aus milderen Klimaten iſt, der dem jähen Anprall und
der nachhaltig-einbohrenden Wuth der Elemente nicht Entſchloſſen¬
heit, ſtählernen Muth, ſtramme Kraft, zähe Ausdauer entgegen zu
ſetzen vermag. Er iſt, wenn nicht Wunder ihn retten, ein Kind
des Todes. Schon Tauſende fielen dem Ungethüm als Opfer,
wenn ſie mit den Vorboten eines Schneeſturmes unbekannt waren
oder wohlgemeinten Warnungen nicht folgend, ihren Weg fortſetzten.
Denn erfahrungsgemäß toben die „Guxeten“ am Bösartigſten in
[170]Der Schneeſturm. jenen Alpeneinſchnitten, durch welche Bergſtraßen und Päſſe hin¬
durchführen, und zwar ſonderbarer Weiſe beim Nordwinde an der
ſüdlichen Abdachung und beim Südwinde an der nördlichen am
Heftigſten. Berüchtiget ſind in dieſer Beziehung ganz beſonders
der Große St. Bernhard im Wallis, der Gotthard im Kanton
Uri, der Bernhardin und der Panixer Paß in Graubünden. Auf
letzterem ward ein großer Theil des ruſſiſchen Heeres unter Su¬
worow, bei der Retirade im October 1799, eine Beute der Schnee¬
ſtürme. Nach mündlichen Verſicherungen der Bernhardiner Mönche
iſt in den letzten zehn Jahren nicht ein einziger Menſch am
Großen St. Bernhard durch einen Schneeſturm mehr ums Leben
gekommen.


Der Aelpler kennt die Zeichen genau, welche den böſen Gaſt
anmelden. Die ſonſt matte, indifferent gräulich-weiße Färbung des
Horizontes, von der die Schneehülle der Berge kaum merklich im
Farbentone ſich ablöſt, wird beſtimmter, dicker, geſättigter, man
ſieht ihr gleichſam den größeren Stoffgehalt an; entfernte Gebirgs¬
züge, deren nackte Felſenknochen deutlich erkennbar heraustraten,
werden erſt leicht, dann aber immer trüber und dichter verſchleiert,
bis ſie zuletzt ganz verſchwinden. Die Luft iſt ruhig, ſehr kalt,
ohne jene kräftige ſäuerliche Winterfriſche zu athmen, welche an
heiteren Januarmorgen im Flachlande die vom langen Stubenſitzen
verdumpften Sinne völlig neu belebt; — trockene, froſtige, harte
Luft füllt die Atmoſphäre. Dazu lagert ringsumher unbeſchreiblich¬
lautloſe Stille über der erſtorbenen Einöde. Das ſprungfertige
Volk der Gemſen, welches im Sommer dieſe Höhen belebt, wohnt
jetzt in tieferliegenden Forſten, — das pfeifende Murmelthier liegt
im Winterſchlafe erſtarrt in ſeiner Höhle, und ſelbſt die, im Winter
kreiſchend die zerſpaltenen, ſchwer erſteigbaren Granitzinnen um¬
kreiſende Bergdohle hat ſich in ihr Kluftenneſt geflüchtet; kein dür¬
res Laub raſchelt an den Aeſten, denn in dieſen Höhen hat der
Baumwuchs aufgehört, und die melancholiſche Legföhre und das
[171]Der Schneeſturm.Alpenroſen-Gebüſch ſchlummern tief unterm Schnee, — kein Wind¬
hauch rieſelt Schneekörner über die jähen Fluhſätze, — allenthalben
herrſcht jene bange Stille, welche an ſchwülen Sommertagen dem
Ausbruche eines heftigen Gewitters voranzugehen pflegt. Die ein¬
zigen Laute, welche der Wanderer vernimmt, ſind ſein eigenes tiefes
Athmen, das Schnauben der Roſſe (wenn er mit dem Schlitten das
Gebirge paſſirt) und das knitternde Aechzen des getretenen Schnees.

Nähert ſich nun die Kataſtrophe, dann hüllen maſſige graue
Wolken auch die näherliegenden Bergſpitzen ein und laſten ſo dick
und ſchwer auf ihnen, als wollten ſie für eine Ewigkeit hier Poſto
faſſen. Noch immer iſts Zeit, die ſchützende Cantoniera, (Refuge,
Zufluchtshaus) oder das gaſtliche Hospitium zu erreichen, wenn es
nicht allzufern iſt, — aber auch immer dämmeriger wirds, — der
Abend ſcheint den Mittag überſprungen zu haben. Plötzlich er¬
ſchreckt den beſorglich-eilenden, ſchon halb ermüdeten Reiſenden ein
heftiger, ſcharfer Windſtoß, der ihm eine Handvoll emporgerafften
Schnee entgegenwirft; dann iſts wieder ruhig, — ſtill rundum,
wie vorher. Dieſe intermittirenden Vorläufer wiederholen ihre
Mahnung noch einigemal, gewöhnlich nach immer kürzer aufeinander
folgenden Pauſen. Es ſind die äußerſten und letzten Erinnerungs¬
zeichen zur Flucht. Denn nun beginnt ein ſeltſames unheimliches
Tönen in den Felſenkammern und Steinſchluchten, erſt leiſe und
ſeufzend, dem wimmernde Antwort von der entgegengeſetzten Seite
folgt, dann vernehmlicher, näher, ſtärker, aber raſch weit und wei¬
ter verklingend in anderen Gebirgsrevieren; es iſt, als ob ferne ver¬
wehte Stimmen um Hilfe riefen. Dieſe durch die Luft ſtreichenden
Klagen tönen jetzt aus einer dritten und vierten Ecke hervor, aber
ſo getragen, ſo einförmig und hohl, ſo ganz anders als im Lande
drunten, wenn um die Zeit des Aequinoktiums der Wind durch
Kamin und Thürſpalten ſeine jammernden Melodieen heult. — Das
Roß vorm Schlitten haut feſter mit den Hufen in den unſicheren,
lockeren Pfad, und ſchnaubt öfter und unwillig, — ſein Inſtinkt
[172]Der Schneeſturm. verräth ihm die nahende Gefahr; unaufgefordert ſtrengt es ſeine
Kräfte in erhöhtem Maße an, raſcher fort zu kommen — und keu¬
chend folgt ihm ſein Treiber. Dem winſelnden Uniſono geſellt ſich
jetzt ein tiefer Grundton zu; die dazwiſchen liegenden Stimmen
mehren ſich, die Disharmonieen werden voller, und mit ihnen
ſchwillt das Getöſe immer wilder, immer mächtiger, immer lauter
an und durchheult die Lüfte. Noch wenig Augenblicke und nun
entladen auch die Schneewolken ihren Inhalt und ſenden einen
Hagel feiner, nadelſpitzer Eispfeile mit ſolch unbändiger Gewalt
hernieder, daß alle entblößten Theile des Körpers auf das Schmerz¬
hafteſte von ihnen getroffen werden. Der faſt erſchöpfte Wanderer
kehrt der Seite, von welcher die Maſſen am Tollſten herabwüthen,
den Rücken zu; — aber was hilfts? Die jagenden Fluthen der
Eisnadeln ſchlagen gleich den brandenden Meereswellen um ihn
zuſammen, und ſo wie dieſe, zu Schaum zerſpritzt, dem Orkane ſich
wieder entgegenwerfen, ſo ändern auch die, ſeine Schultern beſtrei¬
chenden Schneeſtaubwolken ihre Fluchtbahn und greifen in kreiſeln¬
dem Wirbel den Betäubten von vorn an. Er kann Nichts ſehen
und deckt wechſelsweiſe mit Arm und Hand und Tuch die Augen,
die Wangen, das ganze Angeſicht, welches von der ſchneidenden
Kälte und den brennenden Stichen aufzuſchwellen beginnt, — er
kann nicht athmen, denn die zu Eis verkörperte Luft fährt wie
ätzendes Gift durch die Reſpirationsorgane in die Lunge und bohrt
ſich bei jedem Athemzuge wie mit tauſend Spitzen feſt. Er iſt
hereingebrochen, der furchtbare Schneeſturm des Gebirges mit all
ſeinem Entſetzen, ſeiner gräßlichen Wildheit, und umwüthet Alles,
was in ſeinem Bereiche liegt. Das iſt ein Hetzen und Peitſchen
durch die Lüfte, das tobt und ſtöhnt und pfeift und brauſt um die
ſtarren Felſenhörner, als ob die Atmoſphäre wahnwitzig geworden
wäre und die Introduktion zum letzten Gericht beginnen ſollte.
Und in Mitte dieſes Aufruhrs ſteht der Menſch, der Herr des Erd¬
balles, der mit Eiſen und Dampf die Materie ſich dienſtbar gemacht
[173]Der Schneeſturm. und die Elemente ſeinem Willen unterjocht zu haben wähnt, — er
ſteht da, ein armes, ohnmächtiges, verlaſſenes Geſchöpf in grauſen¬
hafter Schneewüſte, eine ſichere Beute des Todes, wenn die Sinne
ihm ſchwinden, wenn die letzte Kraft ihn verläßt.


Denn, tritt auch eine kurze Pauſe in dem entſetzlichen Auf¬
ruhr ein, kann der Ueberfallene für wenige Sekunden die Augen
öffnen, ſo ſieht er keine Spur des zu verfolgenden Weges mehr.
So tief wie er, oft bis an die Kniee, im friſchgefallenen und ab
den Bergen zuſammengewehten Schnee ſteht, eben ſo tief und ſtellen¬
weiſe noch tiefer liegt derſelbe überall. Darum hat die Vorſicht
der Thalbewohner dieſſeits und jenſeits vielbegangener Päſſe ſchon
ſeit alter Zeit die Einrichtung getroffen, 20 bis 30 Fuß hohe
Schneeſtangen vor Wintersanfang, längs des ganzen Paßweges
ins feſte Geſtein zu ſetzen, die bei verwehetem Pfade als Alligne¬
ment dienen. In ergiebigen Wintern iſts indeſſen ſchon vorge¬
kommen, daß an manchen Stellen auch dieſe Stangen unter dem
von allen Seiten zuſammengewehten Schnee verſchwanden. Denn
in der oberen Alpenregion, d. h. in der abſoluten Höhe zwiſchen
5500 und 7000 Fuß über dem Meereſſpiegel, und in der ſubniva¬
len oder unteren Schneeregion zwiſchen 7000 und 8500 Fuß, fällt
der Schnee in ganz anderer Menge als in der Ebene, wo nicht
nur das Quantum des auf Einmal gefallenen Schnees weit unbe¬
deutender als im Gebirge iſt, ſondern wo auch ſteter Temperatur¬
wechſel mehrmals in einem Winter die ganze Schneedecke wieder
hinwegrollt.


Müdewerden, Schläfrigkeit, Hinſinken vor Ermattung, allmäh¬
liges Schwinden der Beſinnung und endliches Erſtarren vor Kälte
ſind die Progreſſiv-Stadien des herbeiſchleichenden Todes. Jedes
Jahr fordert ſeine Opfer. Die Erinnerung an traurige Ereigniſſe
dieſer Art lebt traditionell im Munde des Volkes, das am Fuße
ſolcher Bergübergänge wohnt, lebhaft und in Menge fort. Von
den vielen Beiſpielen mögen nur zwei hier einen Platz finden.


[174]Der Schneeſturm.

Im Jahre 1817 hatten fünf Hannoveraner einen Pferdetrans¬
port in die Lombardei gebracht und befanden ſich auf dem Heim¬
wege. Alle waren kräftige, geſunde Männer, die daheim ſchon
manche Unbilden des Wetters erfahren und mit leichter Mühe über¬
wunden hatten. Im Dorfe Bernardino, 1¼ Stunde ſüdlich unter
dem gleichnamigen Bergübergange im Kanton Graubünden (auf
der Linie von Chur nach Bellinzona), wo ſie einkehrten, warnte
man ſie dringend, ihren Weg fortzuſetzen, weil ein Schneeſturm im
Anzuge und deshalb die Paſſage lebensgefährlich ſei. Allein an¬
gefeuert durch ſtarken Veltliner Wein und im Bewußtſein des Voll¬
beſitzes ihrer ungeſchwächten phyſiſchen Kräfte, gaben ſie allen Vor¬
ſtellungen kein Gehör und rüſteten zur verhängnißvollen Reiſe.
Damals beſtand die gegenwärtige Kunſtſtraße noch nicht, und das
jetzt, oberhalb der Victor Emanuels-Brücke, am kleinen Moëſola-
See ſtehende ſturmestrotzige, feſte ſteinerne Berghaus auf der Ueber¬
gangshöhe exiſtirte eben ſo wenig. Es war ſomit vom Dorfe Ber¬
nardino bis nach Hinterrhein im Rheinwaldthal ein ununterbroche¬
ner Marſch von 3½ Stunden Entfernung, zu welchem aber bei
dem, durch die gefallene Schneemenge, erſchwerten Fortkommen,
mindeſtens 5 Stunden Zeit nöthig wurden. Die Unbeſonnenheit der
Fremden konnte ein anweſender Landmann aus dem Dorfe Hinter¬
rhein nicht mit anſehen, und Er, der ſich ſelbſt nicht getraut hatte,
den Heimweg anzutreten, ſchloß ſich nun, als alle Gegenreden
fruchtlos blieben, den Tollkühnen an, um ihnen mindeſtens als
Führer zu dienen. Das Unwetter brach in ſeiner ganzen Furcht¬
barkeit los, als die Wanderer ungefähr die Höhe des Paſſes er¬
reicht hatten. Anfangs unter leichtſinnigen Scherzen, dann mit
ernſtlichem Aufwand aller Kräfte, endlich mit Verzweiflung, kämpf¬
ten ſie wie Männer gegen den übermächtigen Feind an, — allein
vergebens. So ſehr der wackere Rheinwäldler Allem aufbot, um die
Unglücklichen zu retten, ſo ſank dennoch Einer nach dem Anderen,
zum Sterben ermattet und bei vollem Bewußtſein reſignirend, dem
[175]Der Schneeſturm. Tode in die Arme. Lange beſtrebte ſich der opferfähige Gebirgs¬
bauer mindeſtens den Letzten zu retten; aber auch hier erkannte er
nur zu bald, daß er ſelbſt unterliegen müſſe, wenn er ſeinen Vor¬
ſatz nicht aufgebe und den geringen Reſt der ihm übrig gebliebenen
Kräfte auf ſeine eigene Rettung verwende. Er erreichte zwar lebend
ſeinen Geburtsort, — aber mit gänzlich erfrorenen Händen und
Füßen; Finger und Fußzehen mußten amputirt werden. Er ward
zum Dank für ſeine Menſchenfreundlichkeit ein Krüppel.


Ein anderer tragiſcher Fall ereignete ſich auf der Gotthards¬
ſtraße in der Nacht vom 9. zum 10. April 1848. Die italieniſche
Poſt, welche am Nachmittage den Berg in der Richtung von Ander¬
matt nach Airolo überſchreiten ſollte, hatte, durch enorme Schnee¬
maſſen aufgehalten, ſich bedeutend verſpätet. Mit Pferden und
Schlitten die Straße zu paſſiren war unmöglich, und Condukteur
Simen entſchloß ſich deshalb die Poſtfelleiſen mit den Briefſchaften
und Paqueten durch Träger über den Gotthard zu befördern.
Unter dieſen Trägern befand ſich auch Joh. Joſ. Regli, Steinhauer
von Profeſſion. Als die Karavane Urſeren verließ, ſtürmte es zwar
wild und warf Schneemaſſen in dichter Menge nieder; indeſſen die
muthigen Berggänger glaubten dennoch dem Wetter trotzen zu dür¬
fen und drangen tapfer vorwärts. Als ſie jedoch etwas über das
zweite Drittel des Weges zurückgelegt hatten, brach ein Schnee¬
ſturm über die Lucendro-Alp mit ſolch vehementer Gewalt herein
und verwehte die Straße dermaßen, daß Alle die Richtung ver¬
loren. Rundum war es vollendet finſtere Nacht. Der Sturm
peitſchte wie mit Skorpionen-Geißeln die ſeiner Vernichtungs-Wuth
preisgegebenen pflichtgetreuen Männer. Noch immer hielten ſie
Stand und ſuchten trotz alles Ungemaches ihr Ziel zu erreichen.
Endlich als ſie ziemlich auf der Höhe des Paſſes in der Gegend
von San Carlo beim ſ. g. „Waſſerloch“ (Valeggia) angelangt
waren, vermochte Regli nicht weiter zu kommen. Die Kameraden,
obgleich ſelbſt ſchwer bepackt, verſuchten es dennoch, ihren Schick¬
[176]Der Schneeſturm ſalsgenoſſen durch den mehr als 3 Fuß hohen weichen Schnee mit
fortzuſchleppen; aber auch ſie verließ allmählig die Kraft und ſie
erkannten das Gräßliche ihrer Lage, den ſicher drohenden Tod, wenn
ſie nicht den ermatteten Freund aufgeben und zurücklaſſen würden.
Man packte ihn deshalb dicht in Mäntel und wollene Decken,
brachte ihn unter eine ſchützende Felſenwand und ließ ſämmtliche
Felleiſen und Transportgegenſtände bei ihm zurück, um möglichſt
raſch das Hospiz zu erreichen und Hilfe von dort zu requiriren.
Es war nur noch zehn Minuten entfernt und doch brauchten die
Männer faſt eine und eine halbe Stunde, bis ſie das rettende Aſyl
erreichten. Sofort brach der Direktor dieſes Samariterhauſes, Herr
Lombardi, mit Hilfsmannſchaft, Geräthen und Laternen auf, den
Unglücklichen zu retten. Er kam zu ſpät. Regli, ganz überſchneit,
daß man ihn kaum finden konnte, war erfroren.

[]

Rother Schnee.

Reiche Fülle der Natur!
Labyrinth zu neuem Leben!
Kürzend tauſend Wege tauſendfach,
Ueberall belebend, allbelebt.
Herder.

Auf Hochgebirgswanderungen begegnet man nicht ſelten ziem¬
lich ausgedehnten Schneeflecken, die ſchon von ferne durch ihre
unverkennbar rothe oder gelbröthliche Färbung den Blick auf ſich
ziehen und in der Nähe ausſehen, als ob rother Wein in unge¬
meſſener Menge über den Firn ausgeſchüttet worden ſei. Der
Volksglaube, deſſen geflügelte Phantaſie in jede außergewöhnliche,
dem Alltagsverſtande nicht ſofort entzifferbare Erſcheinung das
Myſteriöſe, Geiſterhafte hineinträgt, ſah auch in dieſem fremdarti¬
gen Naturprodukte die körperhafte Kundgebung ſchauerlich-geheimni߬
voller Mächte; es waren Fußſtapfen der rächenden Nemeſis, ſicht¬
bare Zeichen der Vergeltung, der göttlichen Strafe, für einſt be¬
gangene ungerechte Thaten, und der Aelpler regiſtrirte den rothen
Schnee in das Archiv ſeiner Sagenwelt. Ungetreue Säumer, die
mit ihren Saumroſſen feuerige italieniſche Weine, namentlich den
dunkelrothen Pulsſtürmer aus dem Veltlin, über die Alpen trans¬
portiren, hätten hier (ſo glaubte man) von Trunkſucht übermannt,
Berlepſch, die Alpen. 12[178]Rother Schnee. die Legel (Fäßchen) geöffnet und von dem ihnen auf Treu und
Glauben anvertrauten Gute ſündlich gezecht; dafür ſeien nun ihre
durſtigen Diebesſeelen verdammt, an den Firn gebunden, und
müßten, der Nachwelt zur Warnung, ſo lange hier in Eis und
Kälte ſchmachten, bis irgend eine mitleidige lebende Seele ſie er¬
löſe. Die Erlöſungsform iſt aber eine höchſt gemüthliche, an die
antike Ovation erinnernde. Jeder Tropfen des neubelebenden,
muskelſpannenden, mutherhöhenden Veltliners iſt in der Einöde der
Hochgebirgswelt, wenn die Kräfte ſchwinden wollen, ein Arkanum
von unbezahlbarem Werth; der beſonnene Berggänger geizt mit der
kleinen Neige ſeiner Feldflaſche wie ein Harpagon und ſpart die¬
ſelbe für den letzten und äußerſten Nothfall vorſichtig auf. An
dieſes Kleinod appellirt nun der Volksglaube; wer aus freiem An¬
trieb ſeinen letzten koſtbaren Schluck mit den armen Seelen theilt
und einige Tropfen auf den rothen Schnee ausgießt, der ſühnt
die ſtrafende Gerechtigkeit und erlöſt die Verdammten aus dem
„ kalten Fegefeuer.“


Dieſes, unter Umſtänden, ſchweren Opfers iſt der Alpenwan¬
derer unſerer Tage, — Dank den Forſchungen der Naturwiſſen¬
ſchaften! — überhoben; die gebannten Geiſter ſind durch den „Höllen¬
zwang“ des Mikroſkops ſammt und ſonders erlöſt, und der Feuer¬
tropfen muß nicht mehr zur „rettenden That“ die Mesalliance mit
dem ertödtend kalten Schnee eingehen.


Ein ganz anderes, ungeahntes Leben, als das ſtumme Seufzen
und die Marterqual geſpenſtiger Trunkenbolde, ſtrömt durch dieſe
Schichten der ſcheinbar anorganiſchen Erſtarrung; eine Welt des
undenkbar Kleinen wächſt und ſchafft und regenerirt hier. — Der
geiſtvolle Horaz Benedict de Sauſſure war der Erſte, der, auf ſei¬
nen Chamouny-Reiſen 1760, den rothen Schnee unterſuchte und
in dem geſchmolzenen Waſſer rothe Kügelchen fand, die das fär¬
bende Prinzip abgaben. Da ſie leblos dalagen, ſo hielt er, und
nach ihm viele andere Naturforſcher, dieſe Subſtanzen für Pflanzen¬
[179]Rother Schnee.bläschen, Blüthenſtaub, Gallert-Algen, ſchleimige Haut- oder Ader¬
mooſe, und man nannte ſie Protococcus nivalis oder Schnee-Schleipe.
Der Kanonikus Lamon vom großen St. Bernhardskloſter forſchte
der Erſcheinung weiter nach und äußerte in der Verſammlung ſchwei¬
zeriſcher Naturforſcher zu Lauſanne 1828 zuerſt die Vermuthung,
daß die rothen Kügelchen Thiere, Infuſorien ſein möchten. Der
gute ſpekulative Bernhardinermönch mußte gehäſſige Anfeindungen
und ſpottende Erwiederungen genug ertragen; denn ſeine Hypotheſen
fanden wenig Glauben, und Hugi, in ſeiner Alpenreiſe, wies „mit
dem höchſten Unwillen“ dieſe neueſten Entdeckungen zurück, indem
er nochmals den ganzen vegetabiliſchen Aufbau dieſer im Eis wur¬
zelnden vermeintlichen Pflänzchen ſammt Aeſten, Zweigen und ar¬
terienartig verlaufenden Zäſerchen genau beſchrieb. Aber der Mönch
hatte dennoch recht. Es lebt eine vielgeſtaltige, wunderbar orga¬
niſirte Fauna von Infuſorien in den Kryſtallpaläſten des Firn¬
ſchnees von 7000 bis 9000 Fuß überm Meere, die dort ſich her¬
umtummelt und ganz beſonders geſchäftige Thätigkeit entwickelt,
wenn durch Einwirkung der Sonnenwärme ein Theil der zu Eis
gebundenen Waſſertheilchen ſchmilzt und den Firn heftig durch¬
feuchtet. Nie erſcheinen ſie im Gletſcher und nie im friſch gefalle¬
nen ſandig-trockenen Schnee, ſondern ſtets im Firn und am liebſten
an jenen ſonnigen Abhängen, wo friſcher Schnee ſich raſch in Firn
(körniger, griſſelicher Eisſchnee) verwandelt. Eine Generation mag
vielleicht einige Monate in voller Aktivität leben, während welcher
ſie in brennendem Hochroth, einem Mittelton zwiſchen Karmin und
Zinnober, den Firn bis gegen zwei Zoll tief durchdringt, aber durch
die vorherrſchend weiße Farbe des Firnſchnees in ihrem Farben-Effekt
geſchwächt, nur roſaroth erſcheint. Nach Vollendung ihrer Lebens¬
friſt und unbekannten Lebensaufgabe geht ſie in bräunlichen und
zuletzt ſchwarzen Moder über, der nach und nach verſinkt oder den
Firn ſtrichweiſe durchfurcht.


Der Engländer Shuttleworth, mit hinlänglichen für wiſſen¬
12*[180]Rother Schnee. ſchaftliche Unterſuchungen konſtruirten Apparaten ausgerüſtet, unter¬
nahm nun eine Entdeckungsreiſe ins Reich dieſer kleinſten Eis¬
thierchen und förderte auffallende Reſultate zu Tage. Die ſchwei¬
zeriſchen Naturforſcher Deſor und Karl Vogt ſetzten die Forſchungen,
mit vergleichenden Unterſuchungen über verwandte Infuſorien am
Neuenburger See, fort und ſo iſt heute durch die Erkenntniſſe der
exakten Wiſſenſchaften jener Zauber der Alpengeiſter und verbann¬
ten Säumer-Seelen endgültig für alle Zeiten gelöſt.


Die Hauptmaſſe des rothen Schnees wird von einem Infuſo¬
rien-Geſchlechte (Disceraea nivalis) gebildet, welches ſich durch
einen rundlichen oder eiförmigen Kieſelpanzer auszeichnet, der nur
wenig vom Thiere abſteht, aber hell und durchſichtig iſt; mitunter
ſchließt er jedoch auch ſo enge an, daß ſeine Gegenwart durchaus
nicht zu erkennen iſt, beſonders wenn das Thier ſich bewegt. An
dem ſpitzeren Ende des minutiöſen Thierchens unterſcheidet man
bei hinreichender Vergrößerung zwei orangegelbe Lippen, von denen
zwei lange fadenähnliche Rüſſel ausgehen, die wohl die doppelte
Körperlänge haben mögen. Während das Thierchen ſich bewegt,
ſind ſie in fortwährender Vibration und ſcheinen alſo ſeine rudern¬
den Arme zu ſein, da es keine Wimperorgane um den Mund hat,
wie die meiſten anderen Infuſorien. Hält es in ſeiner Ruder-
Promenade inne, ſo zieht es die beiden Rüſſel mit einer ruckenden
Bewegung ein, und bei völlig ruhenden Thieren ſind ſie gar nicht
wahrzunehmen. Die erwachſenen Thiere ſind meiſt gänzlich un¬
durchſichtig.


Eben ſo merkwürdig wie die körperliche Organiſation und
Lebensweiſe dieſes, nur in einer Kältetemperatur von mindeſtens
Null-Grad exiſtenzfähigen, unendlich kleinen Geſchöpfchens iſt, eben
ſo wunderbar iſt die Art ſeiner Vermehrung. Dieſelbe erfolgt
nach noch unbekannten Geſetzen und Bedingungen bald durch Thei¬
lung, ſo daß das Thier ſich in 2, 3, 4, 6 oder 8 Stückchen ſpal¬
tet, von denen jedes nun ein eigenes ſelbſtſtändiges Individuum
[181]Rother Schnee. wird, wächſt, und endlich, wenn es ihm und ſeinen Geſchwiſtern
zu eng im umgebenden Elternhauſe wird, den gemeinſamen Kieſel¬
panzer ſprengen, um nun auf eigene Fauſt zu leben und zu rudern
in dem kleinen Weltall, das unſerem Auge faſt wie ein Nichts er¬
ſcheint, — oder ſie pflanzen ſich durch Abſenker fort, die als waſſer¬
helle Bläschen wie minutiöſe Schweißtropfen am Originalpanzer
heraustreten, wachſen, ſich ablöſen, ſtrohgelb, dann roth werden,
bis ſie dem Mutterthiere gleich ſind.


Die Beobachter nehmen endlich noch eine dritte Fortpflanzungs-
Art, nämlich durch Eier, an, erklären jedoch ihre dahin bezüg¬
lichen Wahrnehmungen für ſehr ungenügend, um mit einiger
Zuverläſſigkeit eine Behauptung aufſtellen zu können. Thatſache
iſt es, daß man in allem rothen Schnee kleine Kügelchen von ro¬
ther Farbe findet, die oft unter den ſtärkſten Vergrößerungen nur
wie Punkte erſcheinen, und neben denen ſich alle Stufen der wach¬
ſenden Größe bis zu derjenigen der vollkommenen Disceräen
erkennen laſſen, — eben ſo wie die Uebergänge von der runden
Kugelform zu der Eiform.


Außer dieſen Infuſorien zeigt ſich in allen Arten des rothen
Schnees noch ein zweites Produkt, das aus einer dunkelrothen,
ins Blaue oder Braune ſpielenden Kugel beſteht, um welche eine
Menge heller, durchſichtiger, koniſcher oder pyramidal zugeſpitzter
Körper angeſetzt ſich zeigen, die der Erſcheinung das Anſehen
eines roſettirt geſchliffenen Steines, oder eines mit kleinen Dia¬
manten beſetzten Rubins geben. Das Verhältniß der inneren,
rothen Kugel zu den aufgeſetzten, wie Kryſtalle glänzenden Stück¬
chen iſt ſehr verſchieden, und da dieſe räthſelhaften Organismen
ſich nicht bewegen, ſo wiſſen die Beobachter nicht, ob ſie dieſelben
ins Pflanzenreich zu den Protococcus-Arten, oder zu den Infuſions-
Thierchen zählen ſollen.


Ein drittes, noch weniger beobachtetes Individuum, welches
nach allen Unterſuchungen nie im rothen Schnee fehlt, aber gleich¬
[182]Rother Schnee. falls leblos zu ſein ſcheint, iſt ein bräunlich, gelblich oder grün¬
liches Weſen, das niemals roth, wie längliche Bläschen ſich zeigt.
Auch von dieſem können die Naturforſcher noch, nicht mit Beſtimmt¬
heit ſagen, ob es eine Alge (alſo Pflanze), oder ob es ein
Thierchen ſei.


So ſchafft und wirkt der unendlich große Gottesgeiſt der
Natur in einem Elemente, deſſen Sein und Weſen uns gemeinig¬
lich gleichbedeutend mit dem Tode iſt, und eröffnet uns die Per¬
ſpective in eine neue, ungeahnte Welt voll lebender Weſen, von
deren Exiſtenz und Entſtehung wir uns kaum einen Begriff machen
können.

[[183]]

Die Rüfe.

Stolzen Haupts im Sonnenſtrahle
Stehn die Rieſen unbeſiegt,
Während etwas Staub im Thale
Ihnen von den Sohlen fliegt.
Anaſt. Grün.

Alle großen Alpenthäler, die in den Formationen der Schiefer-,
Kalk- und Flyſch-Gebilde liegen und von ſtarren Seitenwänden
eingeſchloſſen werden, zeigen ſtreckenweiſe zwei landſchaftliche Erſchei¬
nungen, die ſelbſt dem oberflächlichſten Beobachter auffallen müſſen.
Ganz beſonders laſſen ſich dieſelben im romantiſchen Rheinthale wahr¬
nehmen. Auf der, wegen ihrer prächtigen Alpendekorationen mit
Recht hochgeprieſenen Eiſenbahnlinie (vielleicht der ſchönſten des Kon¬
tinentes), welche von den Ufern des Bodenſees nach Graubündens
Hauptſtadt Chur führt, erblickt man von den Stationen Haag,
Werdenberg und Sevelen aus, am jenſeitigen Rheinufer im Für¬
ſtenthume Lichtenſtein unter den fünftauſend Fuß hohen Felſenfron¬
ten der „Drei Schweſtern“, gleichmäßig in einer Böſchung von
etwa zwanzig Grad, vom Rhein gegen die Berge anſteigende, theils
mit Wald und Wieſe, theils mit Weingärten überwachſene Halden,
die ſtellenweiſe von breiten, grauen, vegetationsloſen Steinſchutt-
Linien, ähnlich dem trockenliegenden Bett bedeutender Flüſſe, unter¬
[184]Die Rüfe. brochen werden. Auffallender und ausgedehnter zeigen ſich dieſe
ſchiefen Ebenen tiefer im Thale, hinter Ragaz, zwiſchen den Sta¬
tionen Meyenfeld und Landquart, am Fuße des maleriſchen, keck¬
ausgezackten, 8000 Fuß hohen Falknis, — und am bedeutendſten,
wenn man die Landquart paſſirt hat, bis Chur, immer auf der
gleichen öſtlichen Seite, unter den originellen pyramidal-zuge¬
ſpitzten Hörnern der Hochwang- und Montaline-Kette. Alle ſind
Reſultate der allmähligen Gebirgsverwitterung, der immerwähren¬
den Herabſchwemmung losbröckelnden Geſteines, alſo der fortdauern¬
den Alluvion, wie ſie ſchon Seite 47 erwähnt wurde; freilich wohl
das Reſultat von Jahrtauſenden. Denn viele Ortſchaften Grau¬
bündens, die ſchon im frühen Mittelalter genannt werden, liegen
auf ſolchen Anſchwemmungs- und Schutt-Hügeln. Dieſe breitge¬
dehnte, ſtetig-anſteigende, ſchiefe Ebene, durch nahe liegende hohe
Felſen-Proſpekte geſchloſſen, wird, wie geſagt, von breiten Schutt¬
rinnen durchſchnitten, die wie durch einen Trichter geſchüttet, oben
am Bergabhange ſchmal, nach unten, gegen den Rhein zu, im Thale
breit ſich ausdehnen. Das ſind die ſchrecklichen, von den Anwoh¬
nern gefürchteten Rüfen, die Abzugskanäle der im Gebirge ſich
entladenden Donner- und Hagel-Wetter, der plötzlich in Strömen
herniederbrauſenden Platzregen und der Schneeſchmelze, — die
während des größten Theiles vom Jahre trocken und trotzig-indif¬
ferent daliegen, aber, — wenn ſie zu thun bekommen und raſch in
Aktivität gerathen, dann um ſo Schrecken-erregender arbeiten. Ein
Spaziergang in eine dieſer unheimlichen Werkſtätten wird uns
näher mit deren Detail-Anordnung, deren durchaus eigenthümlichen
Eindrücken bekannt machen. Wählen wir dazu die Rüfe, welche
aus dem verrufenen, wenig beſuchten, von keinem Geſpenſter-Gläu¬
bigen betretenen Skalära-Tobel zwiſchen Chur und Trimmis herab¬
kommt, par excellence „die große Rüfe“ genannt, und ſteigen
wir aus dem breiten verſandeten Rheinthale bergwärts auf.

Drunten decken magere, mit kurz-rispigen Gräſern dicht be¬
[185]Die Rüfe. wachſene Almend-Weiden, im heißen Sommer dürr, kränkelnd und
verbrannt, die emporſteigende Ebene. Sie haben etwas Sammet¬
artiges, Anheimelndes im Frühjahr und nach lebenverjüngenden
Regenperioden; denn gerade die niedrigen Seggen-Arten, dieſe
freundlichen, beſcheidenen Gräſer-Zwerge, welche den pflanzlichen
Grundton dieſer Wildwieſen angeben, beſonders Carex alba mit den
feinen ſchlanken Stengelchen und den darum gruppirten hellgrünen
Frucht-Knötchen, dann Carex pulicaris, deren niedliche, kaum finger¬
lange Samen-Lanzen mit den ſchwärzlich verkohlten Körnerhülſen ſo
neugierig in die Welt hinausſchauen, und die dichtraſigen Koelerien
mit den pfriem-ähnlichen, dünnen, kurzen Grashälmchen, geben dem
wellenförmigen Boden ein ſo einladend-weiches Anſehen, wie die
kurzen gedrängten Kräuter der höheren Regionen den Alpweiden.
Wirklich erinnert manch anderes Pflänzchen an die ſchwellenden
Polſter unſerer natürlichen Alpen-Divans, wo es ſich ſo diogeneiſch-
genügſam und ſeelenheiter ruhen und ins erblauende, tief drunten
liegende Menſchenland hinabſinnen läßt. Dennoch iſt ſo eine
Bündner Almend-Wieſe vor und zwiſchen den Rüfen etwas ganz
Anderes als eine gewöhnliche Almend- oder Alp-Weide. Kurzes,
ſtrammes Tannengeſträuch, dicht gedrungen ineinander genadelt,
mitunter etwas legföhrenartig, ſchon recht alpin-gnomenhaft, und
zerſtreute Fichten mit darunter gebetteten Steinblöcken, treten ſpora¬
diſch darin auf. Nach und nach geht die Weide in aſchgraue, von
Geſchieben und Schwemmland bedeckte, ſandige Wüſten über. Hier
iſt mit Einemmal der botaniſche Charakter ein total veränderter.
Mannshohes Buſchwerk friſtet, bei abwechſelndem Ueberfluß an
Feuchtigkeit und intermittirender brennender Trockenheit, ſeine Exi¬
ſtenz; es ſind lauter zählebige Sträucher: der gemeine Sanddorn
(Hippophaë rhamnoides), der Eſſigdorn oder Weinſchöttling (Ber¬
beris vulgaris) mit den violett bethauten, rothleuchtenden Beeren-
Trauben und den ſcharf genadelten lederartigen Blättern, — die dem
Sevenbaum ähnelnde, roſigblühende, deutſche Tamariske (Tamarix
[186]Die Rüfe.germanica), viele Weidenarten, namentlich auch die Rosmarin-
Weide und eine kleinblätterige Gattung der Salix purpurea von
ungemeiner Schönheit und Eleganz der feinen nobelen Blätterform.
Am Boden ſteht hin und wieder der ſtark nach bitteren Mandeln
riechende, weiße Steinklee (Trifolium officinale) und überraſchen¬
der Weiſe Fremdlinge, die wir hier im Thale zu ſehen nicht ge¬
wohnt ſind, weil ihre Heimath einige Tauſend Fuß höher liegt; es
ſind vom Wetter herabgeſchwemmte Alpenpflanzen, Auswanderer,
die ſich hier unten angeſiedelt haben und wirklich ſich zu akklimati¬
ſiren ſcheinen. Dort wirkt freundlich die kleine, blaßblaue Alpenglocke
(Campanula pusilla), und neben ihr die traganth-artige Berglinſe
(Phaca astragalina) ziemlich behaart mit den weißen, blauzuge¬
ſpitzten Blümchen; dann der Berg-Spitzkeil (Oxitropis montana), —
und im Sande kriecht, etwas unbehaglich und desorientirt, die
ſonſt in der Höhe ſo freundlich grüßende, wolfsmilchblätterige
Saxifraga aizoides mit den ſafrangelben, fünfblätterigen Blümchen
und korpulenten Fruchtknoten. Es drängt uns, dies unliebſame
Strand-Boskett zu verlaſſen, welches durch breitgewipfelte, einiger¬
maßen an die Pinie des Südens erinnernde Fichten noch melan¬
choliſcher geſtimmt wird.


Die hellgrau, mitunter ſilberſchimmernd glänzenden Schiefer¬
ſcherben mit den reichlich dazwiſchen geſtreuten weißen Feldſpath-
Brocken nehmen zu, die Partie wird verwüſteter, zerriſſener, der Boden
brennt von der rückſtrahlenden Sonnengluth, er iſt ganz vegeta¬
tionsentblößt; wir ſtehen am Rand der Rüfe, wo ſie in ungehemm¬
ter Bequemlichkeit Jahrhunderte lang ſich ausdehnte und alles Nutz¬
land ringsum mit ihrem ſpröden, zu ſandartigem Staub verwittern¬
den Gebirgsunrathe verwüſtete. Die Eiſenbahn mußte gegen ſolche
alt eingewurzelte Ungezogenheiten vorkommenden Falles ſich verwah¬
ren; ſie bannte den unbändigen Raufbold, legte ihm eine techniſche
Zwangsjacke in Form eines, aus ſeinem eigenen Geſteinsmaterial
gepflaſterten, tief ausgehöhlten Kanales an, und dieſen Weg muß
[187]Die Rüfejetzt bei jeder Rüfe das ſchmutzige ſchwarzgraue, hetzende Wildwaſſer
hinab in den Rhein nehmen, wenn anders der wilde Alpengeiſt
nicht über kurz oder lang auf den neckenden Einfall kommt, den
Leuten zu zeigen, daß all ihre Weisheit und Vorſicht ohnmächtig
und nutzlos iſt, ſo bald er von der Gewalt des Stärkeren Gebrauch
machen will. Denn wenn das Wetter losgeht, weiß man nie mit
Sicherheit, wo eine Rüfe anbricht. Darum, wenn im Frühjahr der
Föhn andauernd heftig in der Höhe weht und der Hochſchnee eilends
ſchmilzt, oder wenn ein Gewitter losbricht, müſſen die Anwohner
dieſer zur Landesplage gewordenen Kanäle Tag und Nacht auf der
Wache ſtehen und ſchon am Fuße der Gebirge, dort wo die Schlamm-
geſättigten Ströme aus den Schluchten hervorbrechen, Acht haben,
daß ſich das normale Bett nicht verſtopfe; wird dies verfehlt, ſo
bohrt das mit raſendem Ungeſtüm einherbrauſende Wildwaſſer ſich
neue Bahnen, bricht in die Güter ein und zerſtört Alles, was ihm
im Wege liegt. Daher kommts, daß Weinberge, die ſonſt ſehr
bedroht waren, jetzt, wo die Rüfe ein anderes Bett ſich gewühlt
hat, nun völlig geſchützt im Frieden ihre köſtlichen Trauben reifen
können. Manchmal fällt im Dorfe Trimmis kein Tropfen Regen
und im eine Viertelſtunde entfernten Maſchänzer und Skalära-
Tobel hängt ein Gewitter, das in ſündfluthlichen Strömen ſich ent¬
ladet und wie aus Malakoff-Baſtionen ſeine Blitz-Salven ununter¬
brochen herausfeuert. Bald geht beim Hochwetter die eine, bald
die andere Rüfe, während eine von beiden trocken liegt; und doch
ſind beide kaum viertauſend Fuß (in horizontaler Projektion) von
einander durch einen Gebirgskeil getrennt. Man weiß darum nie,
von welcher Seite das Unglück hereinbricht.


Verlaſſen wir für eine kurze Strecke den Rüfen-Kanal, um
auf anmuthigerem Wege hinauf in die oberen, wilderen Partieen
zu ſteigen. Der Pfad führt durch fette, im gaukelndſten Blumen¬
flor prangende Kultur-Wieſen, auf denen, neben den allgemein be¬
kannten Wieſenkräutern, beſonders viele hell-lilla-blühende Sca¬
[188]Die Rüfe. bioſen (Scabiosa columbaria), der gelbe Sichel-Klee (Medicago
falcata
) und die prangend blauen Kerzen der Wieſen-Salbey (Salvia
pratensis
) im Juni und Juli als charakteriſtiſch-kolorirende Pflanzen
auftreten. O, ſo ein Schlenderweg in einem dieſer paradieſiſchen
Alpenwinkel bei goldig-ſonniger Beleuchtung, wo ein wogender
Blumen-Ocean die Stätten wilder Zerſtörung zu überwuchern ſich
beſtrebt, wo weitarmig-ausgreifende Nußbäume ihren hohen Blätter¬
frieden wölben und der ſüßduftende Hollunder, dieſes ewig an
Kleiſts Käthchen erinnernde Attribut mittelalterlicher Burgen-Roman¬
tik, ſeine ſchweren Blüthendolden in zuvor kaum geſehener Menge
ausſtreut, — wo der Fernblick in ein Berg- und Thal-Panorama ver¬
ſinkt, bei deſſen Anſicht die Seele hellaufjauchzend, ſich in die Natur
ergießen möchte, — ſo ein Schlenderweg, nicht allenthalben zu
finden, iſt für Jeden, der offenen Sinn und herzliche Freude an
Gottes großer, herrlicher Alpenwelt hat, ein unſchätzbares Kleinod.


Weiter! — Wie ſichs die Bündner Bauern zu Nutz machen
und das Nützliche mit dem Nützlichen verbinden, das ſieht man
hier; — wo Andere an der Gränze ihrer Grundſtücke Holzhage
aufführen, die ſie alljährlich korrigiren und ausbeſſern müſſen, da
lieſt der Bewohner des Hochgerichts der fünf Dörfer (ſo heißt die
Gegend zwiſchen Chur und der Landquart) die herabgeſchwemmten,
ſein Nutzland verderbenden Steine auf und baut bruſthohe Mauern
daraus. Das trifft man übrigens in anderen Thälern auch. Auf
dieſen Mauern und aus den Spalten derſelben quellen in dichter
Fülle der ſaftige weißblühende Mauerpfeffer (Sedum album), ſeiner
dicken körnerartigen Blätter halber auch „Steinweizen“ genannt, —
und daneben ſein Zunft-Kumpan, der blendend-goldgelb-blühende
ſcharfe Mauerpfeffer (Sedum acre), ein fröhlich wucherndes fettes
Felſenpflänzchen mit tropiſchem Habitus. Darunter in ernſterer
Färbung die faſt peterſilienartig ausſehende gemeine Mauerraute
(Asplenium ruta muraria) und eines der netteſten Farrenkräuter,
die es giebt, das reizende, kleine, ſchmale Palmenzweiglein dar¬
[189]Die Rüfe. ſtellende Asplenium trichomanes, die beide ihre Samen auf den
Rückſeiten der Blätter tragen.


Der Weinbau iſt auf dieſen Felſenſchutt-Terraſſen, namentlich
drunten bei Jenins und Malans, vortrefflich im Schwunge. Hier
wird ein feuriger, dunkelrother, ſehr ſchwerer Wein gebaut, der nach
agrikultur-chemiſchen Unterſuchungen ſeinen bedeutenden Gerbſtoff¬
gehalt hauptſächlich von dem Feldſpath bekommen ſoll, der dem
Boden in Menge beigemiſcht iſt. Ueberall glimmerts und glitzerts,
blendendweiß, lecker und appetitlich, wie Marzipan von dieſen Feld¬
ſpathſtückchen. Unſer Weg geht noch weiter hinauf, in den Wald.
Ein Anflug junger Tannen, dazwiſchen dornumſtarrte Steinhalden,
nimmt uns auf. Der Weg iſt ſand-wüſt, aber eine Wildniß
wuchernder Waldkräuter umgiebt uns.


Hinein! in den ſonndurchflimmerten Tann!
Das iſt eine Luſt im grünen Hag,
Es blüht, was immer nur blühen mag.
Blauglöcklein ſchwingen die vollen Becher
Und gravitätiſch entfaltet den Fächer
Die Duenna der Blumen, das Farrenkraut.
Erdbeeren breiten die ſüßen Rubine
Zur Schau aufs Moos, und mit Kennermiene
Die ernſte Aglei den Kram beſchaut
Und nickt verneinend, will nicht ganz glauben
Dem funkelnden Schein, doch die Blüthentrauben
Der Berberis lachen ſie heimlich aus.
Corrodi.

Durch ſolches Tändelſpiel unterhalten, ſind wir unvermerkt
im dichten, immer dunkler werdenden Walde hinauf geſtiegen. Da
lichtet ſich's; noch wenig Schritte und wir ſtehen an der Uferwand
der wilden Rüfe. Das iſt kein Waldbachbett, nicht das Rinnſal
eines verſiegten Bergſtromes; das iſt ein leibhaftiger Steintrümmer-
Gletſcher, der mitten durch den ſtolzen Forſt in beträchtlicher Breite
ſich Bahn gebrochen hat. Wie eine ungeheuere Schlange windet
das graue, grauſenhafte Chaos ſich hinab, — wir können das
Ende deſſelben nicht erblicken. Nichts als ſcharfkantige Schiefer¬
[190]Die Rüfe. linge und Felſenſcherben im tollen Durcheinander, — Brocken in
allen Kalibern, fauſtgroß bis zu ſolchen, die an Umfang einem hoch¬
geladenen Erntewagen gleichkommen. Dazwiſchen ſtarren abgeknickte,
faſerig-zerſplitternde Baumrumpfe, mächtige Wurzelſtocken, die ihre
knorrigen Arme in die Lüfte ſtrecken, und andere Waldrudera her¬
vor, die in das Getrümmer geklemmt, hier auf Erlöſung harren,
bis die nächſte herabraſende Sturmfluth neues Material aus den
Bergen bringt und das im Bette liegende weiter vor ſich herſchiebend,
wieder in Bewegung ſetzt. Zu beiden Seiten hat die beſorgte
Menſchenhand rieſige Seitendämme von regelloſen Bruchquadern
aufgeführt, die mit den Moränen der Gletſcher einige Verwandt¬
ſchaft haben. — Es giebt viel Stätten gräulicher Zerſtörung im
Gebirge; die Rüfen gehören zu den erſchreckendſten.


Je weiter hinauf, deſto ebener wird das Bett; nur kleineres
Geſtein, oft nur grauer zerriebener feingeſchlemmter Sand, füllen
daſſelbe; eine ſeichte Rinne lauwarmen, grau-trüben Bergwaſſers
murmelt leiſe hinab. Dies Rieſeln und das einförmige Streichen
der Luft durch die Wipfel des Tannenwaldes zu beiden Seiten
ſind die einzigen Naturlaute in dieſer öden, ureinſamen Gegend.
Geradeaus, in der aufſteigenden Perſpektive der Rüfe, liegt das
eigentliche Skalära-Tobel. Es iſt keines jener ſchauerigſchönen, forft¬
umnachteten, tiefgeheimnißvollen Waldtobel mit dem phosphores¬
cirenden Moosgrün im feuchten Grunde und dem naiven, male¬
riſch-gelegenen Knüppelſteg über den plätſchernden, friſchen Berg¬
bach, — es iſt eine offene, baumloſe Schlucht, in welche die Sonne
unbehindert hineinſcheint, von kahlen zerfreſſenen, abgeſchieferten,
bröckeligen Felſenwänden, einige tauſend Fuß hoch, eingeſchloſſen,
an denen man die bänderartig gebogene, wellenförmig geknickte
Schichten-Struktur der granulirten, grau-ſandigen Schiefer ſtudiren
kann. In eigentlicher Pyramidenform (nicht paraboliſch), wachſen
die ſpitz im Triangel auslaufenden Felſenkouliſſen hintereinander
auf, die tieferen immer die vorderen überragend, und an den Kan¬
[191]Die Rüfe.ten verſuchen magere Tannen linienweiſe den Gänſemarſch zur
Spitze hinauf; hinten ſchließt die Schlucht im Kernſtocke des Mon¬
taline mit einer Maſſe zerfurchter, in ſteilſter Abdachung einge¬
freſſener Schutt-Rinnen. Alſo an und für ſich ſiehts bei Tage gar
nicht ſo grauſig hier aus. Was iſts auch, das uns ſo mit unheim¬
lichen Gefühlen im Anblick dieſer romantiſchen Wildniß erfüllt?
Es iſt das Bewußtſein, an einer Zerſtörungsſtätte zu weilen, wo
unſichtbare, gleichſam dämoniſch-waltende Kräfte ihren Sitz haben
und vom Fundamentalbau des Gebirges fort und fort Theile ab¬
ſprengen, um damit den Fleiß und das Kulturbeſtreben der Sterb¬
lichen zu höhnen; — es iſt die unheimliche Thätigkeit, die geiſter¬
haft hier waltet und zu allerlei Phantasmen verleitet; — es iſt
die Mahnung an den Geſpenſterglauben des Volkes, welcher die
unreinen Seelen berüchtigter Verſtorbener (wie in Plato's Phädon)
um ihre Gräber irren läßt und den Aufenthalt derſelben hierher
verlegt. Hier iſt nach der Sage der Eingang ins Schattenreich,
hier wandelt, an einem Lieblingsplätzchen, der hölliſche Proteus in
allerlei Geſtalten und erſchreckt die Neugierigen. Fürwahr, für
Macbethiſche Hexen-Sabathe oder Fauſtiſche Mephiſto-Beſchwörun¬
gen giebts wohl wenige geeignetere Lokale als das verrufene
Skalära-Tobel. He! es wäre doch luſtig, wenn drüben aus dem
dichten Erlengebüſch plötzlich eine Erſcheinung wie die des Kako¬
dämon im Byron'ſchen Manfred, ſo eine Samiels-Geſtalt im grü¬
nen Jägerwams mit ſpaniſchem Filzhut, hakenförmiger Adlernaſe
und glühend-ſchwarzen Augen hervorträte! Ob wir wohl erſchrecken
würden? — „hihihihihi“ lachts gellend, ſataniſch, dicht hinter uns
aus lauſchigem Waldesdunkel hervor. Herr des Himmels! was iſt
das? es kann doch Niemand unſere Gedanken belauſcht haben und
neckend, auf unſere provocirenden Wünſche einen Trumpf ausſpie¬
len wollen? Wie? Oder hätte die Rockenphiloſophie recht, die von
allerlei Spuk und dem „Hereinragen einer myſtiſchen Geiſterwelt
in die unſere“ docirt? — „hihihihihi!“ gellts zum zweiten Mal
[192]Die Rüfe. hell, hoch herab. Ein Steinwurf nach dem Fichtengipfel jagt
einen Buntſpecht auf, der lachend davon fliegt. Hoho! wenn das
Teufelaustreiben ſo raſch geht, dann iſt's eine billige Kunſt.


Für den, der im Gebirgswandern nicht ſchon etwas Takt
erlangt hat, iſt's unrathſam, gegen die Tiefe des Skalära-Tobels
aufwärts klimmend, ohne Führer vorzudringen. Im Sommer 1859
botaniſirte ein norddeutſcher Apotheker in dieſer Wildniß, verſtieg
ſich, ſo daß er weder vorwärts noch zurück konnte, und mußte eine
ganze lange Nacht auf ſchmalem Raſenband an jäher Felſenfluh
zubringen, bis man ihn am andern Morgen fand und ſehr ermattet
nach Chur brachte.


Und nun der Losbruch einer Rüfe ſelbſt, d. h. die plötzlich
eintretende Entladung eines Gewitters, eines Wolkenbruches und,
in Folge deſſen, die aus dem Hintergrunde eines ſolchen Tobels
hereinbrechenden, von allen Jähhängen, aus allen Berg- und
Schlucht-Runſen zuſammengeronnenen, unten im Bett der Rüfe
ſich vereinigenden Wildwaſſer! Es iſt eine Thätigkeit entfeſſelter
Gewalten in der Natur, die an furchtbarer Großartigkeit und
Zerſtörungskraft der ſchrecklichen Lauine gleichſteht. Das iſt nicht
jenes ſchäumende, in tauſend Kaskaden herabfluthende, immer wilde
Schauſpiel eines angeſchwollenen Bergſtromes, — das iſt eine
dicke ſchwarze Schlammſuppe, die mit ſchwerfälliger Geſchwindig¬
keit, mit roher, plumper Haſt ſich bewegt. Ihr fehlt das dem
Waſſer, ſelbſt in der wildeſten Aufregung, immer eigenthümlich
Graziöſe der Bewegung, die Leichtigkeit der galoppirenden über¬
müthig-jagenden, brandenden, ſich überſchlagenden oder zerberſtenden
und ſchaumaufſpritzenden Wellen; hier iſt Alles beſtialiſch, brutal,
dämoniſch. — Der angeſchwollene Bergſtrom iſt einem ſcheuge¬
wordenen, muthig-edlen Roſſe zu vergleichen, das ventre-a-terre
durchgeht, aber dennoch bei ſeiner entfeſſelten, jagenden Wild¬
heit immer die Straßenlinie nicht aus den Augen verliert, auf der
es fortſtürmt; — die brüllende Rüfe dagegen iſt ein raſend gewor¬
[193]Die Rüfe. dener Stier, der in blinder Wuth keinen Weg ſieht, mit zu Bo¬
den geſenktem Haupt in die Erde hineinwühlt, eine Welt auf
ſeine Hörner nehmen würde und dem Abgrund zutobt, in dem er
ſein Grab findet.


Die Rüfe beginnt nicht mit Vorboten kleiner Waſſerſendungen,
mit irgend einigen introducirenden Symptomen; man hört ſie
höchſtens von Weitem tobend anrücken, oft (wenn das Wetter,
welches ſie erzeugte, lange andauert) verſchwommen mit dem heil¬
loſen Aufruhr in den Lüften, ſo daß man nicht unterſcheiden kann,
was zurückgeworfener Widerhall des Donners aus den Klüften iſt
und was vom Stürzen der, von der Rüfe in Gang gebrachten
Steine herrührt. Plötzlich bricht ſie hervor, ein ſtürmendes Unge¬
heuer, ein brüllendes, ſteinerfülltes Meer, ein Produkt der raſend¬
ſten Gewalt. Wie ſchon erwähnt, fließt oder ſtrömt ſie nicht eigent¬
lich, ſondern der wäſſerig-dünne Schlammfluß wälzt oder ſtößt Ge¬
trümmerhaufen, Etagen-hoch vor ſich her, in beſtändigem Sturzfall
und doch ſofort ergänztem Wiederaufbau, eine wandernde, leben¬
dig gewordene Felſen-Ruinen-Wand. Bei einigen Rüfen gehts
indeſſen gar nicht ſo ſchnell; oft lacht ſchon wieder heiterer Himmel
überm Thal und die Sonne leuchtet warm drein, bis der gräßliche
Unhold aus ſeinem Hinterhalte hervorbricht. Dies iſt namentlich
bei der Skalära-Rüfe der Fall, die dafür aber quantitativ das
Meiſte liefert. Es iſt ein unbeſchreiblich hohles, Alles übertönen¬
des Gepolter, — in der Summe des tobenden Lärmes etwa der
heftigſten Kanonade beim Sturm-Geheul zu vergleichen, wo der
ganze Skandal, ſich zu einem großen, runden, brauſenden, krachen¬
den Tonballen ineinander verwebt, der ſtundenweit hörbar iſt.


Nun gilt es nur, das Ungethüm im Gange zu erhalten.
Baut ſie einmal einen Querdamm aus ihren zentnerſchweren
Steinkoloſſen auf, häuft ſich hinter demſelben einmal die andrän¬
gende Maſſe, können die am Ufer mit großen Haken und Stangen
beſchäftigten, ſchreienden Anwohner nicht irgendwo eine Breſche
Berlepſch, die Alpen. 13[194]Die Rüfe. öffnen, — dann blicht ſie ſonſtwo anders am Ufer durch, wühlt
ſich ein neues Bett, reißt Bäume, ganze Waldlinien um, und der
Zerſtörung tiefer liegender, werthvoller Gelände ſind alle Thore
geöffnet.


In neueſter Zeit iſt viel Zweckmäßiges geſchehen, um dieſe
Unholde in ihrer Kraft zu ſchwächen. Man hat drinnen, wo der
Herd der Zerſtörung iſt, wo das Zuſammenrotten der Schutt¬
maſſen beginnt, die Rüfen mit Thalſperren verbaut. So im
Summa-Prada-Bach, im Domleſchg, im Medelſer-Thal, im Rhein¬
wald und Puſchlav. Die großartigſte, nächſt der ſehenswerthen
bei Mollis (im Kanton Glarus, wohl eine der erſten), iſt jene im
Graubündner Münſterthale.


[[195]]
Figure 4. Lauinen-Ausgrabung.

Druck von F. A. Brockhaus in Leipzig.

[][]

Die Lauine.

Grün wird die Alpe werden,
Stürzt die Lawin' einmal;
Zu Berge ziehn die Heerden,
Fuhr erſt der Schnee zu Thal.
Euch ſtellt, Ihr Alpenſöhne,
Mit jedem neuen Jahr
Des Eiſes Bruch vom Föhne
Den Kampf der Freiheit dar.
Uhland.

Jede maſſenhafte, ſtürzende Bewegung bereits zu Boden ge¬
fallenen, angehäuften Schnees wird in den Alpen, je nach den
ortsüblichen Abweichungen „Laue, Lauwe, Lauine,“ im Tyrol
„Lähne“, in den rhätoromaniſchen Bergen „Lavigna“ genannt. Die
in der hochdeutſchen Schriftſprache eingebürgerte Schreibweiſe
„Lawine“ kommt im Munde des Gebirgsvolkes kaum vor. Wurzel¬
wortjäger haben auch der Entſtehung und Grundbedeutung dieſes
Wortes ſchon weidlich nachgeſetzt und wunderbares Wild aus dem
düſtern Walde ihrer Vermuthungen aufgetrieben; die Einen holen
das Latein herbei und weiſen unfehlbar nach, daß es nur vom
Verbum labor, lapsus sum, labi herkommen könne, während
Andere ſich in Metaphern verſteigen und meinen, die „Löwin“ habe
bei dem Worte zu Gevatter geſtanden, weil der Schneeſturz mit
13*[196]Die Lauine. der gleichen Wuth und Kraft jenes wilden Thieres über die Felſen¬
wände ins Thal hinabſetze. Hält man den einfachen Volksausdruck
feſt, ſo hat man wohl auch das Wurzelwort „lau“ raſch gefunden;
mit der Bezeichnung „Laue“ oder „Lauine“ wollte der ſprach¬
ökonomiſche Bergbewohner kurz die ganze Erſcheinung zuſammen¬
faſſen und benennen, die ſich ihm bei der Wiederkehr der „lauen“
Lüfte in jedem Frühjahre zeigt.


Die Lauine iſt die Milchſchweſter der Rüfe, gleichſam das
winterliche Ebenbild dieſes im Sommer ſo ungeberdig tobend aus
den Höhen hereinbrechenden Unholdes. Wie bei jener iſt es ein
Abſchüttelungs-Proceß des Uebermaßes deſſen, was die Höhen nicht
zu bergen vermögen, — wie jene, tritt auch die Lauine ſchrecken¬
erregend in dräuender Wildheit, donnernd und weithin durch die
Thäler widerhallend einher, — wie jene, hat ſie ihre trümmer¬
bedeckten Sturzbahnen, über welche ſie furchtbar herniederrauſcht, —
wie jene, richtet ſie im bewohnten Kulturlande alljährlich viel Unheil
an und iſt der gefürchtetſte Gaſt jedes Alpthales.


Aber ſie iſt ungleich mannigfaltiger als die Rüfe, weil ſie
viel öfter und faſt allenthalben im Hochgebirge wiederkehrt. Kaum
mag es einen bedeutenden Gebirgszug geben, der nicht ſeine all¬
jährlich regelmäßigen Lauinenſtürze hat. Hier hängts dann begreif¬
lich von der Figuration der Berge und Felſenwände, von ihrer
mehr oder minder dem Schneefall, der Schneeanhäufung aus¬
geſetzten Lage ab, wie groß, ſtark und heftig die Lauine wird —
und je nach ihrem früheren oder ſpäteren Auftreten, der Dichtheit
ihres Materials, der Urſache ihrer Entſtehung und dem Effekt
ihrer Wirkung unterſcheidet der Aelpler verſchiedene Arten.


Es iſt eine, im Nicht-Alpenlande beinahe ſtereotyp gewordene
Meinung, daß irgend eine unbedeutende, äußere Veranlaſſung, z. B.
das Schneekörnchen, welches der Fittigſchlag eines Vogels in
rollende Bewegung ſetzt, die Lufterſchütterung, welche durch Geräuſch,
durch das Knallen einer Peitſche, das Klingeln einer Saumroß-
[197]Die Lauine. Glocke, ja ſelbſt durch Huſten und Sprechen entſtehe, — hinreichend
oder vielmehr nöthig ſei, um den Sturz einer Lauine herbeizuführen.
So wenig es ſich in Abrede ſtellen läßt, daß ſolche Veranlaſſungen
unter Umſtänden allerdings Urſache von Schneeſtürzen werden kön¬
nen, ebenſowenig ſind ſie jedoch Bedingung derſelben: im Gegen¬
theil die maſſenhafteſten, furchtbarſten, gefährlichſten und regelmä¬
ßigſten Lauinen werden durch ganz andere Faktoren hervorgerufen.

Man kann ſie zunächſt füglich in Winter- und Sommer-
Lauinen eintheilen. Den erſteren gehören die ſchrecklichen, gefürch¬
teten, unregelmäßig hereinbrechenden Staub-Lauinen an. Sie
ſind gewiſſermaßen die ſtärkſte Form der Schneeſtürme. Entweder
packt ein um die Gipfel brauſender Hochſturm unberechenbare Laſten
jenes feinen, ſandähnlichen, kurz vorher gefallenen Schnees, hebt
denſelben auf und läßt ihn als undurchdringliche Staubwolke da
fallen, wo plötzlich die tragende Kraft des Windes gebrochen wird,
— oder es iſt neuer Schnee, der auf ſehr glatter Unterlage alten,
obenher vereiſten Firnes liegt, durch einen Windſtoß ins Gleiten
geräth, durch wachſende Maſſe auch an Gewicht, Druck und Schnel¬
ligkeit der Bewegung wächſt, und ſo über irgend eine Wand herab¬
fährt. Die hierdurch herbeigeführte Wirkung iſt eine doppelte.
Einerſeits hüllt der niederſtürzende Schnee-Ocean in ſekundenkurzer
Zeit Gegenden, Häuſer, Perſonen, Vieh ſo vollſtändig ein, daß in
vielen Fällen dieſelben tief, tief vergraben liegen und nur eiligſte
Hilfe Rettung ermöglicht, — andererſeits aber iſt die, durch den
raſchen Sturz veranlaßte Compreſſion der Luft ſo gewaltig, daß,
wie bei Exploſionen von Pulverthürmen, lediglich durch den Luft¬
druck, große Felſenblöcke, Häuſer, Viehſtälle, kurzum Gegenſtände
jeder Art, welche die Lauine mit ihrem Schneekitt nicht einmal
erreichte, zur Seite geſchoben, emporgeſchnellt, über Abgründe durch
die Luft getragen, kurz und gut in kapriciöſeſter Weiſe dislocirt
werden. Weil der Wind zunächſt Urſache des Entſtehens derſelben
iſt, ſo werden ſie auch Wind-Lauinen genannt; indeſſen können
[198]Die Lauine.gerade bei dieſen fliegenden Schnee-Schmetterwolken auch andere
Hebel Bewegung-hervorrufend wirken. Bei dieſem auf geneigter
glatter Fläche ruhenden Staubſchnee genügt irgend ein gegebener
Anſtoß, um viele Juchart große Schneefelder ins Rutſchen zu
bringen, und hier iſt die Entſtehung der vulgären, in den Sprach¬
gebrauch übergegangenen paraboliſchen Redensart von dem: „Lawi¬
nen-ähnlichen Anwachſen“ zu ſuchen.


Die denkwürdigſten Unglücksfälle in den Alpen ſind durch den
Ausbruch ſolcher Staub-Lauinen entſtanden. Im Jahre 1719 am
14. Januar zerſtörte eine ſolche das Dorf Leukerbad im Wallis
bis auf wenig Hütten, und ſchüttete eine ſolche unerhörte Schnee¬
laſt auf die Häuſer, daß nur ein geringer Theil der in ihren
Wohnungen lebendig Begrabenen ſich wieder ans Tageslicht arbei¬
ten konnte. Ein Knabe, Stephan Roth, war volle acht Tage
lang ohne Speiſe und Trank in einem Winkel des Kellers einge¬
bannt und vermochte mit ſeinen geringen Kräften nicht den eiſigen
Kerker zu zerſtören. Laut ſang er zum Lobe Gottes Pſalmen und
Kirchenlieder, und wurde dadurch bei den energiſchen Nachgrabungen
gehört, befreit und aus ſeiner Nacht hervorgezogen. Ungeachtet
aller Pflege ſtarb er in der nächſten Woche; 55 Menſchen-Opfer
hatte das Ungeheuer verſchlungen. — Im darauf folgenden Jahre
begaben ſich, bei außergewöhnlich ſtarkem Schneefall, auch enorm
viele Lauinen-Unfälle; im Dorfe Obergeſtelen (Wallis) wurden im
Februar 120 Häuſer und Ställe mit 84 Menſchen und über 400
Stück Vieh von einer Lauine erſchlagen, und eine andere ver¬
ſchüttete zu Fettan im Unterengadin im gleichen Jahre 61 Men¬
ſchen. In der Gegend von Brieg im Wallis kamen 40 Menſchen
ums Leben, ungerechnet der vielen einzelnen Fälle am großen
St. Bernhard, im Vieſcher-Thale u. a. O. Anno 1749 wurde
beinahe das ganze Dorf Ruäras im Tavetſch (Graubünden) von
einer ſolchen Lauine, die an dem 2 Stunden entfernten Criſpalt
herniederbrauſte, mit fortgeriſſen und über 100 Menſchen in der¬
[199]Die Lauine.ſelben begraben. Da die Lauine in der Nacht niederging, während
einer Zeit, wo alle Bewohner des Unglücksdorfes feſt ſchliefen,
ſo erfuhren viele, deren Häuſer entweder nicht zertrümmert, oder
nur mit Stumpf und Stiel ſanft zur Seite geſchoben wurden,
Anfangs gar nichts von dem entſetzlichen Vorfall und wunderten
ſich beim Erwachen nur darüber, daß die Nacht ſo lange dauere,
bis ſie endlich ſich überzeugten, daß ſie in einer Schnee-Baſtille
eingemauert ſeien. Durch eigene und fremde Hilfe wurden etwa
60 Menſchen gerettet. — Das bedeutendſte Staub-Lauinen-Unglück
aus neuerer Zeit iſt jenes, welches 1827 das Walliſer Dorf Biel
ereilte und 40 Menſchen als Opfer verſchlang. Indeſſen ſind
außerordentlich viele Beiſpiele von wunderbaren, ja ſogar komiſchen
Rettungen bekannt. So z. B. wurde im December 1836 im
Averſer-Thale (in Graubünden) ein Haus, in welchem 12 ſpielende
Kinder verſammelt waren, von einer Lauine ergriffen, horizontal
fortgeſchoben und total mit feinem Schnee zugedeckt, ſo daß ſelbſt
der Firſt nicht hervorſchaute. Die Eltern der Kleinen, gelähmt
vom Schrecken, eilten mit Schaufeln und Spaten jener Gegend
zu, in welcher ſie das Haus verſchüttet glaubten; aber noch ehe
ſie beginnen konnten ernſtlich zu arbeiten, kamen die Kinder, eins
nach dem andern, wohlbehalten aus dem Schnee hervorgekrochen.
Noch drolliger iſt jener Vorfall, welchen Bilibaldus Pirckheimerus
in ſeinem Bellum Helveticum Maximiliani I. aus der Zeit des
Schwabenkrieges von 1498 erzählt; damals waren im Engadin
400 kaiſerliche Landsknechte von einer Staub-Lauine verſchlungen
und über eine Anhöhe hinabgeworfen worden; — aber o Wunder!
bald lebte die ganze Schneemaſſe wie ein Ameiſen-Haufen, und
unter dem ſchallendſten Gelächter ihrer unberührt gebliebenen Kriegs¬
kameraden, krochen Alle ohne Ausnahme wieder hervor, Einige wohl
beſchädigt, aber Keiner tödtlich verletzt.


Von der Schnellkraft des erzeugten Luftdruckes kann man,
ohne Beiſpiele, ſich kaum eine richtige Vorſtellung machen. Im
[200]Die Lauine.Graubündner St. Antönien-Thal, (durch welches ein Paßweg aus
dem Prätigau über die Rhätikon-Kette ins Gargellen- und Monta¬
funer-Thal führt) ſah ein Knecht weit droben an der Bergwand,
vielleicht 1½ Stunde von ſeinem Standpunkte, eine Lauine an¬
brechen und eilte, einen Stall zu erreichen, der ziemlich geſichert
ſtand. Obgleich dieſer etwa nur 14 Schritte entfernt war, ſo ver¬
mochte er denſelben doch nicht zu erreichen, ſondern wurde vom
vorausjagenden Windſtoß ergriffen, über das Dalfazzer Tobel
hinübergeſchleudert und dort von der mit Blitzesſchnelle nachfol¬
genden Lauine begraben. — Anno 1754 wetterte von Piz Muraun
eine Staub-Laui über St. Placis-Thal herab, füllte das ganze
Thal von der Landſtraße bis Caprau, ſchleuderte einen aus Granit
gehauenen Tränktrog von Falcaridas bis Brulf eine Viertelſtunde
weit hinüber, und lediglich der Seitenwind dieſer Laui warf noch
die Kuppel des öſtlichen Kloſterthurmes von Diſſentis herunter,
obgleich derſelbe eine halbe Stunde vom eigentlichen Strich ent¬
fernt war. Daß die Lauine Wälder-Parcellen von einigen Tauſend
Stämmen radikal durch den Luftdruck entwurzelt, oder im Schafte
wie Schwefelhölzchen abknickt und weitumher ausſtreut, gehört gar
nicht zu den Seltenheiten; jedes Hochalpthal liefert jährlich Bei¬
ſpiele mehr als wünſchenswerth.


In der Regel iſt es der Fall, daß eine angebrochene Lauine
durch die energiſche Luftſtrömung und das donnernde, Luftſchwin¬
gungen erzeugende Geräuſch den Fall von anderen ſekundären
Lauinen veranlaßt, und hieraus läßt ſich jene Mittheilung wohl
erklären, welche aus dem Lauterbrunnen-Thale berichtet, daß im
vorigen Jahrhundert die Stuffen-Laui 24 Stunden lang geſtürzt
ſei. Ein Fall aus allerjüngſter Zeit beſtätiget Aehnliches. Im
Frühjahr 1854 fand ein ſo anhaltender Lauinen-Sturz an der
Schattenſeite des Realper Thales ſtatt, daß in der Ausdehnung
von mehr als Stunden-Länge eine Schneemaſſe nach der anderen
durch Luftdruck und Erſchütterung in Bewegung geſetzt wurde.
[201]Die Lauine.Wege und Straße waren mit feſtem, kompaktem Schnee 25 bis
30 Fuß hoch bedeckt, ſo daß man, um die Kommunikation zu
öffnen, Tunnel durch die improviſirten Schneefelſen treiben mußte.
Lauinen waren an Stellen herniedergekommen, wo ſeit Menſchen¬
gedenken keine ſolchen gefallen waren.


Greif' an mit Gott! Dem Nächſten muß man helfen.

Es kann uns Allen Gleiches ja begegnen.

Dieſer Spruch in Schillers Wilhelm Tell iſt eine der Lebens¬
praxis des Gebirgsvolkes abgelauſchte große Wahrheit. Sie be¬
währt ſich in ſo hohem Grade kaum irgendwo mehr als in den
Alpen. Während Läſſigkeit oder vielmehr ein gewiſſes gemächliches
„Anſichkommen-Laſſen“ einen der unvertilgbaren Grundzüge im
Charakter aller Hirtenvölker bildet, und ihr von Hauſe aus kontem¬
platives Weſen, ihre im langſamſten Takte vorſchreitende Bedäch¬
tigkeit jeden raſchen Entſchluß, jede wenig überlegte Handlung
zurückhält, ſo iſt die Hilfsfreudigkeit, der aufopfernde Muth und
die ans Herkuliſche gränzende Ausdauer bei Unglücksfällen, die
durch Naturereigniſſe herbeigeführt wurden, wahrhaft großartig und
läßt das Rein-Menſchliche im herrlichſten Lichte erſcheinen. „Der
brave Mann denkt an ſich ſelbſt zuletzt.“ — Es ſind Stunden
fieberhaft-emſigen Schaffens in bangſter Erwartung, um das Leben
lieber Angehörigen, Freunde, Gemeinde-Genoſſen oder völlig fremder
unbekannter Menſchen zu retten. Wo ſind die rechten Stellen, an
denen Vergrabene, dem Erſtickungs- oder Erſtarrungs-Tode nahe,
mit dem gnadenloſen Feinde alles Lebenden kämpfen? Häuft
nicht vielleicht jeder Spatenſtich, jede Schaufel voll zur Seite ge¬
worfenen Schnees den Grabhügel nur um ſo höher über dem
Geſuchten? Denn wunderbarerweiſe hören die droben Arbeitenden
in der Regel kaum etwas von dem Hilferuf und dem Angſtgeſchrei
der Verſchütteten, während umgekehrt Errettete vielfach und über¬
einſtimmend erzählten, jedes Wort der über ihnen Suchenden ver¬
ſtanden, ja die Stimmen von Bekannten genau unterſchieden zu
[202]Die Lauine. haben. Nun verſetze man ſich in die peinigende, ſchon durch die
umgebende Kälte gräßliche Lage armer Lauinen-Opfer, und addire
das gräßliche Bewußtwerden hinzu, daß Hilfe von Freundeshand
wenige Schritte weiter auf falſcher Fährte ſich bis zur Erſchöpfung
abmüht. — Da, wo dann Menſchen-Weisheit am Ende iſt, beginnt
der feine Inſtinkt des Thieres, und wie der Prairie-Hund ſtunden¬
weit die Fährte ſeines Herrn oder des verirrten Kindes verfolgt
und endlich die Geſuchten findet, ſo iſt's auch hier der treue Haus-
Genoſſe des Aelplers, deſſen feiner Geruch die Lagerſtelle Vergra¬
bener entdeckt und zur rechten Spur leitet. Der Werth der Hospiz-
Hunde vom großen St. Bernhard, Simplon und Gotthard iſt zu
ſprüchwörtlich geworden, und in Tſchudi's herrlichem „Thierleben
der Alpenwelt“ ſo umfaſſend und treu geſchildert, als daß hier
ausführlicher von ihnen die Rede ſein könnte.


Außerordentlich verſchieden in Urſache der Entſtehung, in
Charakter und Wirkung, von jenen, aus lockerzuſammenhängendem
Schnee beſtehenden, meiſt im Winter fallenden Staub-Lauinen, ſind
die Schloß-, Schlag- oder Grund-Lauinen. Dieſe ſind
ein Phänomen des Frühjahrs, wenn die Natur ihr Auferſtehungs¬
feſt feiert, und das Hochgebirge die winterlichen Träume aus den
Erinnerungsfalten ſchüttelt. Hier iſts ſchon ganz anderes Material,
— nicht jener ſandähnlich trockene, feine Schnee, der, ein Spiel
der Lüfte, von den Winden umhergeſchleudert wird, bahn- und
ziellos, — hier iſts alter „ferniger“ Schnee, welcher den Winter
über an und auf den Abhängen lag, ſich verdichtete, „Firn“ wurde,
alſo eine viel kompaktere, körperfeſtere Geſtalt annahm.


Nicht der Wind, der den Schnee wolkendick emporwirbelt,
nicht die kleinen Urſachen, welche unbedeutende Parcellen in Gang
ſetzen, nicht bloße Luft-Erſchütterung allein, vermögen die Grund-
Lauine zum Fall zu bringen; ihren furchtbaren Sturz bereiten die
lauen“ Lüfte, die einziehende Wärme vor. Dieſe durchdringen
die kleinen hohlen Räumchen in den unabſehbar-großen Schnee¬
[203]Die Lauine.hängen, löſen leckend Kryſtällchen, die dem Raſen, dem Felſen,
zunächſt aufliegen, in flüſſiges Waſſer auf, das den Boden ſchlüpfrig
macht und den unmittelbaren Zuſammenhang beider vernichtet.
Alſo langſam vorbereitet, der natürlichen Stütze oder Unterlage
theilweiſe beraubt, vermag die Kohäſion der einzelnen Schnee¬
partikelchen das ganze, große, untenher gehöhlte Schneefeld nicht
mehr zu halten; das Geſetz der nach Unten ſtrebenden Schwere
macht ſeine Rechte geltend, die Maſſe löſt ſich ab und rutſcht, je
nach der mehr oder minder ſtarken Neigung des Berges, von
Sekunde zu Sekunde an Beſchleunigung gewinnend, der Tiefe zu.
Alles, was ihr im Wege liegt oder ſteht, wird in die Verderben
drohende Sturzmaſſe hineingewickelt und zu Thal geführt. Die
Berner Oberländer nennen ſie „Schmelz-Lauinen.“ Gegen den
Anbruch dieſer Grund-Lauinen zu wirken, ſind zunächſt die Bann¬
wälder (vgl. S. 68) beſtimmt. Aber noch kleinere Pflanzenkörper
vermögen viel, um den Schnee beſſer an den Boden zu feſſeln,
gleichſam mit ihm zu verflechten und das Abſtürzen zu verhindern,
namentlich die auf den Planggen und ſteil abſchüſſigen Hochhalden
wachſenden Wildgräſer und Kräuter, — das Material, aus dem
der arme Wildheuer ſeine Kuh oder ſeine Ziegen mit Winterfutter
verſorgt. Dort, wo es im Sommer abgemäht wird, zeigen ſich im
folgenden Frühjahr faſt überall Rutſch- und Schlag-Lauinen, wäh¬
rend die ſtehengebliebenen, im Herbſt abgeſtorbenen Grashalme ein
natürliches, zähes Bindemittel zwiſchen dem Boden und dem
Schnee bilden.


Die meiſten Grund-Lauinen haben ihre regelmäßigen Paſſagen,
ihre ausgefegten, von Weitem kenntlichen Schurfrinnen, „Lauinen¬
züge
“ genannt, durch welche ſie allfrühjährlich herniederraſen.
Sie ſtehen in einiger Verwandtſchaft mit den Betten der Rüfen,
nur ſind ſie minder trümmererfüllt, ſondern zeigen mehr glatt aus¬
gehobelte breite Felſenrinnen (bis 100 Fuß Durchmeſſer), in denen
allerdings immer etwas Gebirgsſchutt zurückbleibt. Die Bewohner
[204]Die Lauiue.des Tavetſch ſchneiden im Spätſommer droben in den Regionen,
wo der ſtammförmige Baumwuchs bereits aufgehört hat, das Buſch¬
werk der Alpen-Erle an minder geneigten Halden ab, binden
Faſchinen daraus und legen dieſe in die Lauinenzüge, um die
Fallkraft der zum Sturz geneigten Schneemaſſen in ihrem zer¬
ſtörenden Effekt zu ſchwächen. Die auf ſolche Weiſe von der
Lauine mit zu Thal hinabgeriſſenen Bündel braucht der Aelpler
nicht herabzutragen oder zu ſchlitten; er nimmt ſie, wenn der
Sturzſchnee im Hochſommer vollends drunten zergangen iſt, als
Brennreiſig aus dem wüſten Schutthaufen,

Wo gehüllt in graue Laken

Schlafend die Lauinen liegen, —

heraus, und weiß dergeſtalt ſogar die ihm feindliche Kraft-Aeußerung
ſich dienſtbar zu machen. Eine Sturzbahn der Lauine durch Menſchen¬
hand vorzeichnen zu wollen, würde ein ohnmächtiges Beſtreben ſein.

Da man alſo die Verwüſtungs-Züge kennt, (welche meiſt recht¬
winkelig zur Thalſohle einmünden), — da der Aelpler an der
Form und Richtung der Wolken, an der Durchſichtigkeit der Atmo¬
ſphäre, aus dem Abbröckeln der kleinen Schneegarnituren von
den oberen vertikal-ausgekehlten Felsgeſimſen die Lufttemperatur in der
Höhe und deren ungefähren Wärmegehalt vom Thale aus beurtheilen
kann, ſo fällt es ihm, geſtützt auf Erfahrungs-Normen, auch nicht
ſchwer, die Zeit zu berechnen, binnen welcher die Grund-Lauinen
anbrechen müſſen; hiernach kann er ſeine Vorſichtsmaßregeln ein¬
richten. Denn gar viele Lauinenzüge durchkreuzen ſtark began¬
gene Thalwege und machen die Paſſage in den Frühjahrsmonaten
höchſt gefährlich; ſo z. B. in den bewohnten Walliſer und Urner
Seitenthälern, alle jene Stellen auf den Kunſtſtraßen der Alpen,
wo Galerien angebracht ſind, — auch einzelne Stellen in frequenten
Thälern, durch welche Poſtſtraßen führen, wie z. B. im Grau¬
bündner Oberhalbſtein, im Engadin, in vielen Thälern Savoyens
u. ſ. w. Außerordentlich übelberüchtiget in dieſer Beziehung iſt
[205]Die Lauine.eine Thalſtrecke in Davos (Graubünden) zwiſchen Glaris und
Wieſen, vorzugsweiſe und die Eigenſchaft zum Eigennamen erhe¬
bend „in der Züga“ genannt. — Wo Häuſer und Ställe in ſol¬
chen ungeheuerlichen Gegenden erbaut werden mußten, ſtellte die
Vorſicht der Thalbewohner dieſelben immer auf Vorſprünge der
Berg-Gehänge, über welche Schneeſtürze vorausſichtlich nicht herein¬
brechen können. Alle permanenten Lauinenzüge haben ſelbſtſtändige
Namen erhalten; ſo z. B. im Haslithal die Golper-, Schütz-, Mäder-
und Loch-Laui, — am Mettenberg ob Grindelwald die Breit- und
Schmal-, die Steg-, Doldis-, Brunnhorn- und Hochthurm-Lauine.
Mitunter aber ſcheint ein Berg wie auseinanderfallend ſich in lau¬
ter kleine Lauinen auflöſen zu wollen, und dann reichen keine
Namen mehr hin, die Zahl der Schneeſtürze vollſtändig anzuzeigen.

Eben ſo irrthümlich wie vielſeitig das Entſtehen der Lauinen
aufgefaßt wird, eben ſo unrichtig iſt oft das Bild, welches die
Phantaſie ſich von der äußeren Erſcheinung des Phänomens wäh¬
rend des Sturzes entwirft. Es iſt kein kugelnder Ballen, wie
man wohl glaubt, der oben in der Bildungsheimath klein wie ein
Kohlkopf, nun durchs Herabrollen und durch das maſſenhafte An¬
hängen der Schneetheilchen immer größer wird, und endlich einem
Globus von koloſſalem Durchmeſſer gleicht, der unten erſt, wie
eine Bombe zerplatzend, ſeine Schneeladungen ausſtreut; ein ſolch
progreſſives, ſphäriſches Formen, — wie man es vor Eintritt des
Thauwetters im Tieflandswinter wohl ſpielweiſe von Knaben
ausführen ſieht, wenn ſie einen Schneemann bauen wollen, —
würde mindeſtens eine gleichmäßig geneigte, von keinen Felſentreppen
und Fluhwänden unterbrochene, alſo der Hügelformation ähnliche
Abdachung eines Berges vorausſetzen. Der Sturz einer Lauine,
jeder Gattung, gleicht faſt immer dem Bilde eines in völligſten
Schaum aufgelöſten Waſſerfalles. Gewöhnlich hört man den Sturz
früher, als man ihn ſieht. Durch den donnernden Schall plötz¬
lich aufgeſchreckt, richtet der Blick des mit der außerordentlichen
[206]Die Lauine. Erſcheinung nicht vertrauten Fremdlings ſich gewöhnlich in die
Höhe und ſucht am Firmamente die Gewitterwolken, welche die
gewaltig tönenden Schwingungen hervorrufen; aber droben im
tiefen blauen Aether lagert lichte Ruhe, — kein Wölkchen ſchwimmt
im Luft-Oceane. Schon rollt das Getöſe nachhallend durch die
Thäler und erneuert jetzt abermals, ſtärker anſchwellend, die erſchüt¬
ternden Tonwellen, als das Auge niederſinkend drüben am Silber-
Mantel des Berges rauchendes, von den Lüften verwehtes, ſtäuben¬
des Gewölk und unmittelbar darunter eine gleitende, niederwallende
Bewegung an den kaum zuvor noch in ſtarrer Todesruhe dalie¬
genden Firnhängen wahrnimmt. Scheinbar langſam, im ſtolzen
getragenen Zeitmaß, ſchwebt die Schnee-Kaskade wie breite Atlas¬
bänder über die Felſenwände herab, ſtaucht tiefer an hervortretenden
Fluhſätzen auf, zerſtiebt in wollig-runde Schaumbogen und zer¬
flatternde Wolken-Wimpel, wie die Intervallen eines Strom-
Kataraktes, oder verliert ſich ſekundenlang in verborgene Schluchten
und ſinkt, das Schauſpiel von Stufe zu Stufe wiederholend, hin¬
unter, bis ſie auf flach auslaufenden Alpmatten oder im tiefen
Trümmer-Becken zur Ruhe kommt. Mit dem Verſchwinden des
vermeintlichen Stromes, verhallen auch die, den Fall begleitenden,
grollenden Donner, und der Wanderer überzeugt ſich ſtaunend, daß
beide Thätigkeiten in unmittelbarer Wechſelbeziehung zu einander
ſtanden. Dort aber, wo der ſcheinbare Staubbach herniederwallte,
zeigt eine ſchmutzige, fahlfarbene Linie in Mitte des blendenden
Firnes, daß hier mehr als blos Schnee, daß Erde und Geſtein¬
ſchutt mit herabgekommen ſein muß, von denen Spuren zurückblieben. —

Dies iſt das Bild einer ſommerlichen Grund-Lauine von ent¬
ferntem, geſichertem Standpunkte ruhig und gemächlich betrachtet.
Könnte man mit bedeutend vergrößerndem, ſcharf-ſpecialiſirendem
Tubus die ſtürzende Lauine dem Auge näher rücken, wie ganz an¬
ders würde dieſe ſich geſtalten, wie würde ſie, gleich den ungeahnten
Zellgeweben der Organismen unterm Mikroſkop, ſich plötzlich zu
[207]Die Lauine. unermeßlichen Schneewolken ausweiten, in deren Umhüllung cy¬
klopiſche Felſenquadern, wuchtige Eismarren und zerriſſene Raſen¬
fetzen ihren Schmetterflug pfeifend und heulend zurücklegen. Was
dem freien Auge wie harmlos herabſchwebende Schaummaſſe er¬
ſchien, wird in der Nähe zur tobend-jagenden Furie; denn es fehlt
uns, wie überall in den Alpen, ſo auch hier für die Entfernung,
jeglicher Maßſtab, nach welchem die Höhen zu beurtheilen ſind, an
deren unterbrochen-vertikaler Fläche die Lauine herabſtürzt. Würde
man die ungefähre Höhe jener Stelle, wo die Lauine ſich begrub,
in Zahlen von der Höhe des Punktes, an dem ſie ſich ablöſte,
ſubtrahiren und die gewonnene Differenz mit der Summe der
Sekunden (ſo lange das Naturſpiel währte) dividiren, ſo würde
man einen Geſchwindigkeits-Quotienten für die enorme Fall-Eile er¬
halten, der zugleich den donnernden Gang aufklärte.


Eine Frühjahrs-Grund-Lauine in möglichſter Nähe geſehen iſt
Entſetzen-erregend, faſt unbeſchreiblich. Alle Worte und Bezeich¬
nungen ſind unzureichend, um dieſes Chaos, dieſe völlige Auf¬
löſung, dieſe gemeinſchaftliche, augenblicklich zugleich ſich entwickelnde
Orkan-, Erdbeben-, Bergſturz- und Gewitter-Erſcheinung zu ſchildern.
Aufruhr, Flucht, Zerſtörung, Vernichtung, begleitet von raſendem
in einander verwobenem Knirſchen des ſich ſelbſt zerpreſſenden
Schnees, dem ſtöhnenden Krachen zerſplitternder Bäume, dem
ziſchenden Fliegen geſchleuderter Felsgeſteine und deren krachendem
Anprall an die Gebirgswände, ſchrillem Gepraſſel, — genug unde¬
finirbarem, ohrenbetäubendem Getümmel, deſſen Echo aus allen
Thal-Ecken hundertfältig zurückgeſchleudert aufs Neue ſich in dieſes
Wüthen vermengt, das iſt der Total-Eindruck einer Grund-Lauine in
der Nähe. — Ihr Material iſt fetter, dichter, ſchwerer als das
luftiger Staub-Lauinen; darum keilt es ſich auch mit eiſerner Zähig¬
keit, dort wo es hineinfällt, feſt. Perſonen und Thiere von einer
Schlag-Lauine verſchüttet, ſind meiſt unrettbar verloren; ſie bricht
ihnen das Genick und Rückgrath, oder legt ſich hermetiſch dicht um den
[208]Die Lauine.Körper an, ſo daß der Erſtickungstod unvermeidlich erfolgt. Der
Schnee dieſer Lauinen wird ſo feſt in einander geſchlagen, daß
Menſchen oder Thiere, nur bis an den Hals darin ſteckend, ſich
unmöglich ohne Hilfe Anderer herausarbeiten können. Daher
kommts auch, daß man in Thälern, durch welche ein ſcharfſtrömender
Gebirgsbach fließt, noch im Hochſommer darüber gewölbte Schnee¬
brücken findet, welche von einem Lauinenſturze herrühren. Dieſe
ſind oft ſo kompakt und dauerfeſt, daß man mit Roß und Wagen
darüber fahren könnte. Sie entſtehen dadurch, daß der Bergbach
von einem Lauinenſturz in ſeinem Bett behindert, ſich vermöge
ſeines größeren Wärmegehaltes durchfrißt und den Bogen allmählig
erweitert. Gelingt dies dem Fluſſe nicht, iſt der Schneedamm zu
dicht, zu mächtig, zu hoch, ſtaut er das Waſſer zurück, ſo kann
großes Unglück die tieferliegenden Orte des Thales bedrohen.
Denn es ereignet ſich nicht ſelten, daß eine Lauinen-Ladung nicht
nur die enge Thalſohle bis zu irgend einer Höhe ausfüllt, ſon¬
dern ſelbſt an der gegenüberliegenden Böſchung noch wieder
aufwärts geſchoben wird. Wenn dann die in den Thalengen com¬
primirte Sonnenwärme den Schneedamm mürbe macht und zerfrißt,
ſo bricht das zum See angewachſene Bachwaſſer mit ſeiner
dynamiſchen furchtbaren Gewalt durch, reißt ringsum Uferge¬
lände ab, entwurzelt Bäume und Sträucher, zertrümmert Stege,
Brücken, Mühlen, Häuſer und Ställe, ſchwemmt Nutzhölzer, Säge¬
blöcke, große Steine, Menſchen und Vieh mit fort, und verwüſtet
tiefergelegene Gegenden weit hinaus.


Zwiſchen den beiden beſchriebenen Lauinenformen, liegt
mitten inne eine dritte, die theils ſelbſtſtändig als Lauiſturz auf¬
tritt, noch mehr aber Veranlaſſung einer jener beiden Sturzformen
werden kann; dieſe wird herbeigeführt durch die ſ. g. Wind¬
ſchirme
, Schneeſchilde oder Schneebritte. Das Bildungs¬
princip dieſer im Gebirge gefährlichen Accumulationen und die
Geſtalt derſelben im Kleinen kennt jeder Bewohner des Flach¬
[209]Die Lauine.landes aus Erfahrung. Es ſind jene Schneekappen und ſpannen¬
hoch, ſenkrecht-aufgebauten Schneeleiſten, welche entſtehen, wenn bei
verhältnißmäßig milder Temperatur und ſtarkem Schneefall der
Wind von einer Seite große fette Flocken an Gebäude, Brunnen,
Stackete und andere Gegenſtände wirft. Hat das Schneien dann
nachgelaſſen, ſo verdichtet ſich die lockere Maſſe immer mehr, beugt
ſich nach vorn über, und zuletzt nehmen dieſe durch Einwirkung der
Sonnenſtrahlen und des Wiedergefrierens oft ſeltſam modellirten
Schneeverzierungen eine völlig hängende Geſtalt an. Nun, —
was hier im Kleinen ſich zeigt, formt der dichte Schneefall in den
felſigen Alpen, deren Wände beinahe ſenkrecht von allerlei Spalten,
Bändern, Ueberwölbungen und Façade-Geſimſen unterbrochen wer¬
den, im Großen, und zwar ſo koloſſal, daß überhangende, vom
Felsgemäuer völlig abgelöſte Schneedächer, auf nur ſchmaler Baſis
ruhend, entſtehen, die zentnerſchwer, jeden Augenblick niederzu¬
ſchmettern drohen. Dieſe Damoklesſchwerte hangen feſt, bis ſie
unter der Laſt ihrer eigenen Schwere zuſammenbrechen, oder durch
laue Luft, Thauwetter, Föhn, oder veränderte Richtung des Windes
losreißen. Dieſe ſinds, nach denen der Säumer, der Rutner, über¬
haupt jeder im Winter das Gebirge durchwandernde Aelpler ängſt¬
lich meſſende Blicke emporſendet, — dieſe ſinds, die durch den
geringfügigſten Umſtand, durch einen Schall, eine Lufterſchütterung
ihres kaum vorhandenen Gleichgewichtes, ihres Zuſammenhanges
mit der ſchmalen Felſenbaſis beraubt werden können, — ſie ſinds,
wegen derer der Poſtillon mit der Peitſche nicht klatſcht, der Säu¬
mer früherer Zeiten, als es noch keine Schutzgallerien gab, die
Schellen am Halſe der Thiere umwickelte, wenn er die engen
Defile's der Schöllenen am Gotthard, der Cardinell am Splügen
und ähnliche Schluchten paſſirte, — und dieſe ſinds, auf welche
Schiller in ſeinem Bergliede hindeutet:


Und willſt du die ſchlafende Löwin nicht wecken,

So wandle ſtill durch die Straße der Schrecken.
Berlepſch, die Alpen. 14[210]Die Lauine.

Schon viele Unfälle ſind durch den Losbruch von Windſchilden
vorgekommen. Im März 1824 wurde auf dem Bernardino der
Poſtſchlitten mit 13 Perſonen (Reiſende, Wegbahner, Conducteur
und Poſtillon) von ſolch einem Sturze ergriffen und in einen voll¬
geſchneiten Abgrund geſchleudert, aus dem eilf Menſchen wieder
gerettet wurden; ein Wegbahner jedoch und der Landammann von
Rovredo im Val Miſocco waren durch den bloßen Druck an das
Straßengeländer getödtet worden. Auf dem Skaletta-Paß zwiſchen
dem Engadin und Davos (Graubünden) wurde in den zwan¬
ziger Jahren eine ganze Karavane von 52 Schlitten durch ein los¬
geriſſenes Windſchild ſammt Menſchen und Vieh verſchüttet; einige
derſelben hatte der vorausjagende Windſtoß weit durch die Lüfte
geſchleudert. Indeſſen kam Niemand dabei um, weil es lockerer,
ſandiger Schnee war. — In der Cardinell, ehedem einem wegen
ſeiner Windſchilde heillos verrufenen Paſſe, ſchleuderte der Luftdruck
eines ſtürzenden Windſchildes im Winter 1800 beim Durchzug der
franzöſiſchen Armee unter General Macdonald einen Tambour
in den Abgrund, wo er unverſehrt angekommen ſein mochte, denn
man hörte ihn in der Tiefe mehrere Stunden lang trommeln. Da
es aber unmöglich war, dem Unglücklichen Hülfe zu ſenden, ſo wurde
er ein Opfer der Kälte und des Hungers. — Martin Meuli von
Rufenen betrat 1807 ſpät Abends mit ſeinem Kameraden Chriſtian
Menn und einigen Saumroſſen die Cardinell. Plötzlich rauſchte
eine Lauine herab und ſtürzte letzteren ſammt ſeinem Pferde in den
Abgrund. Meuli blieb unverſehrt auf beiden Seiten von hohen
Wällen Lauinenſchnees eingeſchloſſen und brachte die kalte Winter¬
nacht unter einem vorragenden Felſen zu, indem er ſich in eine
Welle Tuch, die er auf ſeinem Saumroß hatte, einwickelte und
dadurch ſein Leben friſtete.


Solche ſtürzende Windſchirme verdecken, gleich den Grund¬
lauinen, oft die Bergſtraßen mit haushohen Schneeſchanzen, ſo daß
die Rutner mit dem bloßen Ausſchaufeln nicht würden Bahn ſchaffen
[211]Die Lauine.können, ſondern Gallerieen durch dieſelben brechen müſſen. Dies
war ganz beſonders auf den Graubündner Hochpäſſen in dem ſchnee¬
reichen Winter 1859 auf 1860 der Fall. —


Die Anwohner ſolcher Paſſagen erzählen wunderbare Geſchichten
von dem inſtinktiven Vorgefühl mancher Thiere, die den Sturz
von Lauinen gleichſam ahnen oder man möchte faſt ſagen prophe¬
zeihen. So iſt es notoriſch, daß an jenen Abhängen, die in irgend
einer Weiſe von regelmäßigen Lauinenzügen berührt werden, ſelten
oder faſt nie Spuren von Gemſen im Schnee zu finden ſind. —
Die Bewohner der Bergwirthshäuſer und Hospitien verſichern, daß
kurz vor dem Eintritt von Staublauinen und vor dem Sturz von
Windſchilden die Bergdohlen aus der Höhe herabkommen, ſich
gleichſam zu den menſchlichen Wohnungen flüchtend und dieſe krei¬
ſchend umflattern. — Abgerichtete, zum Aufſuchen Verunglückter be¬
ſtimmte Berghunde ſollen ebenfalls kurz vor dem Anbrechen von
Lauinen und Guxeten eine ſichtbare Unruhe verrathen, und auf dem
Simplon hats deren gegeben, die laut heulten und hinaus ver¬
langten, um ihrer Beſtimmung gemäß zu ſuchen. — Die auffal¬
lendſte Witterung jedoch zeigen die Pferde. Wir haben ſchon bei
Darſtellung des Schneeſturmes geſehen, daß das Pferd vor dem
Losbruch des Unwetters unaufgefordert ſeine äußerſten Kräfte an¬
ſtrengt, um raſcher vorwärts zu kommen und wenn möglich das
ſchützende Haus noch zu erreichen. Ueber den Scaletta-Paß ſoll
früher ein Roß lange Jahre den Säumerdienſt mitgemacht haben,
welches regelmäßig durch Sträuben und Stetigwerden den bevor¬
ſtehenden Sturz von Lauinen anzeigte, während es ſonſt das ge¬
duldigſte und leitſamſte Thier von der Welt war. Die Säumer,
welche es deshalb hoch achteten, verließen ſich bei zweifelhaftem
Wetter faſt ganz auf dieſes Pferd. Einſt hatte es auch im Winter
Paſſagiere mittelſt Schlitten zu befördern und an einer Stelle un¬
weit der Paßhöhe angelangt, wollte es durchaus nicht von der
Stelle. Die Reiſenden, unverſtändig genug und der Führer zu
14*[212]Die Lauine. nachgiebig, trieben mit den äußerſten Mitteln das Roß zum Wei¬
tergehen an. Endlich, nachdem es durch lautes Wiehern ſeinen
Unwillen über die Unvernunft der Menſchen zu erkennen gegeben,
zog es aufs Neue mit äußerſtem Aufwande aller Kräfte an und
ſuchte durch ein faſt verzweifeltes Vorwärtseilen der drohenden
Gefahr zu entfliehen. Wenige Sekunden weiter, plötzlich Krach
und Wurf! — Die Lauine hatte die Reiſenden ſammt dem treuen,
klugen Roß begraben.


Die Gebirgsbewohner können durch befühlende Handprobe und
durch Beſichtigung des Schnees denſelben ziemlich richtig taxiren,
wie weit er für Lauinen reif ſei, und danach richten ſie ihre Ueber¬
berg-Reiſen ein. Gewöhnlich werden dieſe, wenn ſie über lange
und wilde Päſſe gehen, geſellſchaftlich unternommen, dann aber
doch immer ſektionsweiſe, ſo daß die einzelnen Schlitten ſtets in
einiger Entfernung von einander laufen; ſollte ſich dann irgendwo
ein Schneefall ereignen, ſo werden doch nicht Alle zugleich davon
ergriffen, und die verſchont Gebliebenen können ihren verſchütteten
Gefährten zu Hülfe kommen.


Die Lauinen ſind nur eine Erſcheinung der tieferen Regionen,
beſonders jener um und unter der Gränze der Holzvegetation; über
10,000 Fuß abſolute Erhebung kommen ſie kaum mehr vor. Es
giebt ſchon, ſelbſt in den bedeutendſten Höhen, Schneerutſche, die
ſich abwärts bewegen, und bei warmer Südluft fallen die an¬
gewehten Garnirungen von den jähen Grathen mitunter herab;
aber ſolche ſehr unbedeutende Partial-Ablöſungen tragen zu wenig
den Charakter der Lauinen, als daß ſie dieſe Bezeichnung ver¬
dienten. Für jene tiefer liegenden Regionen ſind ſie im Ganzen
genommen, trotz ihrer verheerenden Wildheit, eine wohlthätige
Erſcheinung; denn ſie befreien große Strecken Alpenweidelandes
durch einen einzigen Akt von unberechenbaren Schneelaſten, zu deren
Entfernung die Sonnen- und Luft-Wärme bis weit in den Hoch¬
ſommer hinein zu ſchmelzen haben würde.


[[213]]
Figure 5. Gletſcher.

Druck von F. A. Brockhaus in Leipzig.

[][]

Der Gletſcher.

Reiche mir, Führer, den Stab, und waffne die Sohlen mit Zacken,
Denn erklimmen muß ich dort jenen prächtigen Eisberg!
Leite mich weiter hinauf und halte mich, daß ich nicht ſinke.
Jetzt, jetzt bin ich ihm nahe, dem Gipfel! Hier ſteh' ich und athme
Reinere Luft, und ſtarre hinab in die offenen Klüfte,
Blicke ſtaunend umher auf die Reihen der Eispyramiden,
Sehe dort fern am Felſen hinauf die einſamen Hütten
Glücklicher Sennen, und Ziegen, die fetten Weiden verfolgend.
Wie es unter mir donnert! Mir iſt, als bebte der Eisberg,
Drohte zu berſten und mich zu begraben unter die Trümmer!
Ha! wie dort der gewaltige Strom aus der Pforte des Eisthurms,
Gleich als würd' er geſchleudert, in ſchwärzlichen Wogen hervorſchäumt
Und ſich, befruchtend, ergießt in den Schooß des blühenden Thales!
Stäudlin.

Was die Lauine im wilden Sturme entfeſſelter Leidenſchaft
während wenigen Augenblicken vollbringt, das führt der Gletſcher
im langſam bedächtigen Vorſchritt aus. Beide haben die gleiche
Aufgabe: das Hochgebirge von der drohenden Schnee-Ueberlaſtung
zu befreien und einer allgemach entſtehenden Total-Erkältung des
Alpengebäudes und ſeines Anlandes vorzubeugen; beide ſind aus¬
gleichende Faktoren, vermittelnde Ableitungskanäle, beide ſtreben
einem Ziele zu, aber auf verſchiedenen Wegen. Die Lauine iſt
eine jugendliche, unbeſonnene Erſcheinung, die allen Boden unter
den Füßen verlierend, mit einem kühnen Satze dem Opfertode ſich in
[214]Der Gletſcher. die Arme wirft und ihren, erſt in der Bildung begriffenen, noch
zuſammenhangloſen Schnee-Körper in irgend einem abgelegenen
Gebirgswinkel des Thales wie ein Selbſtmörder verborgen der
Auflöſung anheimgiebt, — der Gletſcher iſt ein alter beſonnener
Oekonom im Gebirgshaushalte, der anſcheinend faul und ſtillſtehend,
dennoch in ununterbrochener Thätigkeit, mit ruhigem praktiſchen
Takt, das Uebermaß des lockeren Hochgebirgsſchnees ſammelt und
zu feſtem, körperhaftem Eis verdichtet, langſam ins Thal hinabbe¬
fördert. Er iſt einer der vielen tauſend wunderbaren Beweiſe von
der Alles regelnden göttlichen Anordnung im großen Organismus
des Naturlebens, die jedem Ding ſein Maß und Ziel giebt und
durch den großen Kreislauf der Materie vor dem abſoluten Tode
bewahrt.


Alles, was im Sommer von den Höhen der Schneeregion und
eingeſchaltet in die Gebirgsrinnen weiß ins Thal, ins Alpendorf
herableuchtet, nennt der deutſche Schweizerbauer ſummariſch „Glet¬
ſcher
“, der Tyroler „Ferner“, der Romane „Vadret“, der
Unter-Walliſer und Savoyarde „Glacier“. Er macht keinen
phyſikaliſchen Unterſchied zwiſchen Schnee und Eis, ihm iſt Beides
ziemlich identiſch. Anders die Wiſſenſchaft; ſie unterſcheidet dem
Material und ſeiner Dichtheit, ſeiner Höhenlage nach, den lockeren
Hochgebirgsſchnee über 10,000 Fuß Höhe, von dem tiefer
vorkommenden, grieſelich-körnigen, älteren „Firn-Schnee“, (der
eben ſeinen Namen von der Bezeichnung „Fern“, welches im Idiom
„vorjährig“ bedeutet, erhielt) — und dieſen wieder vom eigentlichen
durchſichtigen, kompakten Gletſcher-Eis. Letzteres entſteht aus
Erſterem durch eine Menge unvermerkt vor ſich gehender Umwande¬
lungen dieſer kryſtalliniſchen Waſſerformen. Es repräſentirt ſomit der
feine Hochſchnee in den höchſten Regionen gleichſam die Periode
der Kindheit. Durch eigene Schwere und Druck der hinterliegenden
Maſſen gleitet er langſam tiefer und wird nach und nach durch
Wärme-Einwirkung inniger zu körnigen Konglomeraten verbunden,
[215]Der Gletſcher. er tritt ins Jünglings-Alter des Firnes über. Abermals zwiſchen
den Felſengaſſen tiefer geſchoben und ſomit in immer wärmere
Regionen hinabwandernd, geht er weiteren neuen Umgeſtaltungs-
Phaſen entgegen, ſchluckt niederfallenden Regen auf, bindet dieſen
durch die innewohnende Kälte ebenfalls zu Kryſtallen und verdichtet
ſich endlich zum poröſen Eis; er tritt ins Mannesalter über und
wird das Material des Gletſchers. — Jetzt hat er, wie der Mann
im Leben, die größten Drangſale zu beſtehen. Eingeklemmt in
tiefe Gebirgsſchluchten muß der Gletſcher den Windungen und dem
Fall ſeines Flußbettes folgen, gegebene Verhältniſſe zwingen ihn.
Wir ſagen abſichtlich Flußbett; denn nicht nur, daß ſein Körper
einem zwiſchen Berg- und Felſenketten herabkommenden, zu Eis
erſtarrten Strome gleicht, ſondern der Gletſcher fließt auch, er be¬
wegt ſich, dem Fluſſe gleich, nach der Tiefe fort, freilich nur mit
jener geringen Geſchwindigkeit, mittelſt welcher der Datum-Zeiger
auf großen Wanduhren ſeine Wanderung fortſetzt. Er muß Laſten
herabgeſtürzter Steine auf ſeinem Rücken tragen, — Furchen zer¬
reißen ſeine Oberfläche, und zerbrechend in Scherben ſtürzt er der
Tiefe zu, bis er im Thal das Ende ſeiner Lebensbahn erreicht und
aufgelöſt zu Waſſer dem Strome, dem Meere zueilt.


Es iſt ſchwer, ſich einen annähernd richtigen Begriff vom
wirklichen Weſen und realen Ausſehen eines Gletſchers zu machen.
Die beſten Abbildungen, ſelbſt getreue Photographieen, geben ſtets
nur trockene, oberflächliche, man möchte ſagen „hölzerne“ Bilder.
Immer iſt der Raum, ſelbſt der größten gemalten oder gezeichneten
Hochgebirgs-Landſchaft zu klein, um auch nur annäherungsweiſe die
gigantiſche Größe eines Gletſchers in ſeinen erſchreckenden Maſſen
anzudeuten; die Verhältniſſe werden immer kleinlich, nichtsſagend.
Höchſtens vermag das Stereoſkop, wenn recht vorzügliche Partial-
Aufnahmen in daſſelbe eingeſchoben werden, theilweiſe eine Idee
von der Großartigkeit dieſes Phänomens zu geben. Selbſt in
einiger Entfernung, von einem benachbarten, gegenüberliegenden
[216]Der Gletſcher. Berge geſehen, ſchwinden die mächtigſten Gletſcher unter dem Druck
der imponirenden Felſen-Umgebung zu untergeordneten, ſchmutzig-
weißen Streifen zuſammen. Dieſe, die Gebirgsrieſen der Granit-
und Kalk-Dome mit ihren Zinken, Riffen und Kämmen, ſteigen
frei und kühn in die Lüfte, zeigen die Größe ihrer Körperfülle in
kräftigen, derben Linien und geben durch dieſe mehrſeitigen Profile
Anhaltepunkte für die Höhen-Dimenſionen; — der Gletſcher birgt die
Summe ſeines unberechenbaren Inhaltes in den Gebirgs-Einſchnit¬
ten, welche er ausfüllt, er iſt ein begrabener Körper, der nur die
einſeitige Oberfläche bloslegt. Darum kann auch hier nur wieder
eine Wanderung über den Rücken dieſer Eisſchlange, der Einblick
in ſeine Spalten, Abgründe und geheimnißvollen Tiefen, das Be¬
treten eines Gletſcher-Thores uns einläßlich inſtruiren.


Ausgebildete, alle charakteriſtiſchen Merkmale an ſich tragende
Gletſcher giebt es nur in den Central-Stöcken der Alpen, dort wo
die Gebirgshebung unmittelbar und energiſch ſtattfand. Die größten
und umfangreichſten Gletſcher-Reviere ſind die Central-Maſſen des
Montblanc, der Walliſer und Berner Alpen, der Bernina in Grau¬
bünden und der Oezthaler-Gruppe im Tyrol, alſo jene, welche in
ihre Hochmulden die ausgebreitetſten Firn-Magazine einſchließen.
Bedeutende Gletſcher erſten Ranges enthalten außerdem die graji¬
ſchen Alpen Savoyens, die Tödi-Gruppe auf der Gränze von Uri,
Glarus und Graubünden, die Centralmaſſe des Adula oder Rhein¬
waldhornes, die Silvretta-Gruppe im Unter-Engadin, die Ortler-
Gruppe und die Tauern der Salzburger und Kärnthniſchen Alpen.
Unausgebildete Gletſcher und ſolche von ſekundärem Range finden
ſich in allen Alpentheilen, welche die abſolute Höhe von 8000 Fuß
erreichen und in dieſer Höhe nur einigermaßen nennenswerthe Hoch¬
flächen einſchließen, die Schneevorräthe anzuſammeln geeignet ſind.
Gletſcher in Bergzügen ſuchen zu wollen, die in ihrer mittleren
Erhebung die Schneegränze (7000—8000 Fuß) nicht überſchreiten,
würde ein vergebliches Beginnen ſein.


[217]Der Gletſcher.

Wir ſteigen durch Wieſen und Arvenwald leicht bergan. Dichte
Baumgruppen verdecken noch alle Ausſicht. Jetzt hellt es ſich auf
und wir betreten, das Schattendunkel verlaſſend, nackten felſigen
Boden, der ſeltſamerweiſe in allerlei Hohlbuchtungen und wellen¬
förmigen Segmenten wie vom Bildhauer ausgemeißelt und abge¬
ſchliffen erſcheint. Auf Trümmerhalden und koloſſalen Steinblöcken
oder aus den Felſenritzen, deren Oeffnung ſich mit Erde ausgefüllt
hat, wuchern, ein belebender Schmuck der öden Gehänge, leuchtend
blühende Alpenroſen in reichlicher Menge. Noch einen Bergriegel
umwandernd, — und die Ausſicht öffnet ſich, — wir ſtehen vor
der Stirn des Gletſchers. Kirchthurmhohe Wände ſteigen auf und
verſperren das weitere Vordringen. Iſt das ein weiß überſchneiter,
urſprünglich ſchmutzig-grauer Felſen, der hier in phantaſtiſcher Bild¬
nerei überhangend hervorragt? Dem widerſprechen ſofort transparent¬
ſchimmernde, glasartig-erſcheinende Einſchnitte in der Wand, die
wie tiefgelegte Falten ſich längs derſelben einſchmiegen. Wir
klettern über merkwürdig aufgehäufte Blockwälle ſcharfkantiger Fel¬
ſenfragmente, roh aufgerichtete Barrikaden von bedeutender Höhe
und dringen von Neugierde getrieben näher gegen die räthſelhafte
Wand vor. Jetzt entdecken wir am Fuße derſelben einen weitge¬
wölbten Kanal, der in den feenhafteſten Farben ſchimmernd, nach
ſeiner Tiefe hinein ſich in unbeſtimmte Nacht verliert. Jetzt ahnen
wir, daß wir vor einer gigantiſchen Eiswand ſtehen. Jenes graue
Geſtein, welches wir im erſten Anblick für den ſelbſteigenen Körper
einer Felſenfronte hielten, ſind nur eingebackene Geſteinsreſte, mit
denen der Gletſcher-Abſturz überſtreut iſt. Nun erſchließt ſich uns
die erſte Ahnung von der erſchreckenden Maſſenhaftigkeit eines Glet¬
ſchers, — nun erſt drängt ſich uns die Vermuthung auf, daß die
rieſige Trümmerſchanze, welche wir ſo eben überſtiegen, aus Geſteins¬
ſcherben beſteht, welche vom Gletſcher herunterſtürzten. Ein ober¬
flächlicher Blick, ſelbſt wenn wir zuvor nie uns mit Mineralogie
beſchäftigten, ſagt uns, indem wir nach Stoff, Korn und Farbe
[218]Der Gletſcher. die vorliegenden Brocken mit dem abgeſchliffenen Geſtein, über wel¬
ches wir wanderten, vergleichen, daß es ganz anderer Abſtammung
iſt. Dieſe aufgebauten Haufen werden Front-Moränen, Stirn-
Gandecken, Firnſtöße genannt. Sie ſind Reſultate der allmähligen
Gebirgszertrümmerung und Muſterkarten der Felſenarten, welche die
Gletſcher umſtehen. Der Gletſcher hat ſie aus zwei oder noch mehr
Stunden entfernten Hochgebirgs-Revieren auf ſeinem Rücken lang¬
ſam hierher transportirt, und wir erhalten durch ſie den erſten Be¬
weis von der wandernden Thätigkeit des ſcheinbar ſtillſtehenden
Eisgebäudes. Die Oeffnung aber, welche unten an der Eiswand
ſich zeigt, iſt das ſ. g. Gletſcherthor, aus dem ein breiter, kräftiger
Bach abgeſchmolzenen Eiswaſſers hervorſtrömt:


— — der Gletſcher Milch,

Die aus den Runſen ſchäumend niederquillt.

Das Waſſer iſt milchweiß oder hellgräulich-trübe, ſelten durch¬
ſichtig klar. Woher die Färbung? — Der Gletſcher mit ſeiner
millionenfach-zentnerſchweren Laſt langſam über den Granit- oder
Kalkfelſen ſeiner Stromſohle hinabgleitend, ſchleift unerkennbar feine
Theilchen des Geſteins ab und färbt mit dieſen das Gletſcherwaſſer.
Die ausgekehlten Flächen, die wir kurz vorher durchwanderten, ſind
gleichfalls Reſultate dieſer polirenden Thätigkeit. Man trifft am
Riffel, längs des Gorner-Gletſchers unterm Monte Roſa und nahe
bei Zermatt, — am Vieſcher-Gletſcher im Oberwallis und an den
Borden vieler anderer, ſolche wunderbar polirte Gneis- und Granit-
Hügel, welche Kunde geben, daß einſt der Gletſcher, als er größer,
höher, breiter war, über dieſe Stelle hinwegging und ſie alſo ab¬
rundete.


Manche Gletſcher haben gar kein Gletſcherthor, ſondern laufen,
flach wie eine Muſchel ſich ausbreitend, ſchwach geneigt über die
Thalſohle aus; — ſo der prachtvolle Rhône-Gletſcher in der Tiefe
des Wallis, der Roſegg-Gletſcher an der Bernina-Gruppe u. A. —
Wieder Andere haben hohe impoſante Gletſcherthore, ähnlich den
[219]Der Gletſcher. Portalen gothiſcher Dome. Die größten und ſchönſten derſelben
findet man am Glacier des Bois im Chamonny-Thal, aus dem der
Arveiron hervorſtrömt, in manchen Jahren mehr als hundert Fuß
hoch, — am Mortiratſch-Gletſcher unter der Bernina-Gruppe,
der den Flaty-Bach zum Inn entſendet, und am Marcell-Gletſcher.
So verlockend es iſt, in dieſe laſurblau oder glasgrün ſchillernden
Eishallen einzudringen, ſo gefährlich iſts, weil fortwährend Steine,
die droben auf dem Rücken des Gletſchers an deſſen Abſturz liegen,
herabſtürzen, oder ſelbſt Eiswürfel ſich ablöſen und herniederfallen.


Blau iſt die eigentliche Farbe des Gletſcher-Eiſes, wie über¬
haupt die alles reinen Waſſers; indeſſen müſſen dennoch verſchie¬
dene Umſtände auf die mehr oder minder intenſive Färbung ein¬
wirken, weil einige ſich beſonders durch die prachtvolle Tiefe ihres
Blau auszeichnen. Dahin gehören namentlich der Arolla-Gletſcher
im Val d'Herins, der Roßboden-Gletſcher an der Simplonſtraße,
der vielbeſuchte Roſenlaui-Gletſcher unweit Meyringen im Berner
Oberlande, und der obere Grindelwald-Gletſcher. Perſonen, die
in die Spalten eines ſolchen mährchenhaft beleuchteten Eisgebäudes
eintreten, werden magiſch von einem blauen Lichte übergoſſen, das
alle anderen Farben tödtet oder doch abſchwächt und das blühend¬
rothe, geſunde Antlitz erſtirbt in einem fahlen, blaſſen Leichenton.
Es iſt ein wirklich geiſterhaftes Blau, eine, man möchte faſt ſagen
ſpukhafte Farben-Erſcheinung; denn das gleiche Stück Eis, welches
in der Gletſcher-Grotte von ſich aus tief Indigofeurig ſtrahlt,
verliert, an das Licht des Tages gebracht, ſein ganzes herrliches
Colorit und erſcheint farblos durchſichtig wie jedes andere Stück
Fluß- oder See-Eis.


Wir müſſen, um auf die Höhe unſeres Gletſchers zu gelangen,
an den Seitenwänden durch wildes Geſtrüpp und über zerklüftete,
verwaſchene Gebirgsrudimente emporklettern.


Der erſte Eindruck, den die vordere Gletſcher-Oberfläche auf
den Beſchauer macht, iſt in der Regel kein anmuthig überraſchender.
[220]Der Gletſcher.Die Meiſten ſehen ſchmutzig, wie mit Sand und zerſtoßenem Berg¬
ſchutt beſtreut aus, etwa einen verwandten Anblick bereitend als
wie im Frühjahr, wenn nach bedeutendem Schneefall in den Städten
Thauwetter eintritt. Es giebt Gletſcher, die dermaßen mit Geröll und
Gebirgsunrath überlagert ſind, daß man auf eine lange Strecke hin
gar kein Eis erblickt. Dieſer ſchmutzige Bewurf rührt von den
Mittel-Moränen oder Guffern her, die wir gleich näher werden
kennen lernen.


Je weiter wir empordringen, deſto zerklüfteter wird die Fläche,
aber auch deſto reiner tritt der Eiskörper wieder hervor. Da feſſeln
denn unſere Aufmerkſamkeit zunächſt auffallend-geſtaltete, riſſig-zer¬
klüftete, pyramidal-emporgezackte, rieſige Eisſplitter, die auf die
Bruchkante geſtellt, bald überhangend-geneigt, bald ſtarr und trotzig
auf breiter Baſis, in poſitiver Haltung verharrend, das abenteuer¬
lichſte Durcheinander plaſtiſcher Modelle vorführen. — Noch
einige Schritte hinaufklimmend am Gletſcherrande, erreichen wir
einen freien Ausſichtspunkt. Himmel! welche Zerſtörung, welches
Klippen- und Zacken-Meer, welches wüſte Formen-Gewirr? Was
iſt das Trümmerfeld eines Bergſturzes gegen dieſes, ganz außer
dem Gebiete unſerer herkömmlichen Anſchauungsweiſe liegende, mehr
als phantaſtiſche Chaos? Hier iſt nicht das Rohe, Steinbrüchige,
Abſolut-Anorganiſche der Felſen-Stürzlinge, wie wir es allent¬
halben ſchon ſahen, — hier leuchtet unverkennbar bildneriſches
Element aus Allem hervor, ein ausgeartetes, uns völlig fremdes
Formengeſetz, zu dem wir jedoch den leitenden Gedanken nicht raſch
genug herausfinden können, tritt uns entgegen. Unſere Augen
ſchweifen beängſtiget und neugierig-ſuchend umher, und immer mehr
entdecken ſie eine Grunddispoſition, ohne jedoch den erwünſchten
Ruhe- und Anhaltspunkt finden zu können. Hat ein titaniſcher
Architekt hier den Verſuch gewagt, dem geiſterhaften Alpenkönige
aus Eisquadern ein Luſtſchloß errichten zu wollen, und hat er
ſeinen ornamentalen Phantaſieen in bizarrſter Form Körper verliehen,
[221]Der Gletſcher. das Bauwerk aber unaufgeführt liegen laſſen? — So drängt ſichs
in uns, wenn wir zum Erſtenmal denjenigen Theil eines großen
Gletſchers überſchauen, der mit ſ. g. „Gletſcher-Nadeln“ bedeckt
iſt. Woher in ganzer Breite dieſe ſeltſame Scherben-Anhäufung?
Wollen wir zur Verſtändigung uns eines Vergleiches bedienen, ſo
ſagen wir: es iſt der Waſſerfall des Gletſcher-Fluſſes. Wie der
Strom da, wo ihm plötzlich ſein Bett fehlt und abbricht, weil auch
das Thal eine Stufe macht, — in Giſcht und Schaum zerſtäubt
hinunter tobt, um dann drunten in einem tieferliegenden Bett ſeinen
Weg fortzuſetzen, ſo hat auch hier der langſam-fortrückende Glet¬
ſcher plötzlich den Boden unter ſich verloren, die ſpröden Eismaſſen
konnten ſich nicht halten, ſpalteten, riſſen von ihrer Schwere ge¬
drängt ab und ſtürzten hinunter. Aber Brocken auf Brocken häuften
ſich dieſelben ſo an, daß die Tiefen-Differenz dem Auge entſchwand
und wir nun blos die, in ſtarker Neigung abwärts ſtrebende Ober¬
fläche der Eistrümmer-Summe erblicken. Es würden auch Scherben
ſein ähnlich denen, wie wir ſie im Kleinen während des Win¬
ters in den Städten erblicken, wenn der Conditor ſeine Eiskeller
neu mit Vorräthen verſorgen läßt; hier aber modelliren unſichtbare
Hände an den geſtürzten Gletſcher-Brüchlingen herum, höhlen die¬
ſelben aus, ſchleifen ſie ab, und die verborgenen Künſtler, welche
ihnen ſtets neue Formen geben, ſind die Sonne, erwärmte Lüfte,
Regenſchlag und rückkehrender Froſt. Dieſe Modelleure und Pla¬
ſtiker lecken und waſchen bald an dieſer, bald an jener Stelle längs
der kryſtalliſchen Bruchkanten herum und formen ſo wunderſam,
daß aus dieſer nimmerraſtenden Thätigkeit jene ungeordnete und
doch einheitliche Geſammt-Wirkung entſteht, welche ſo frappirt.
Weil aber alle behülflichen Faktoren von Oben wirken, ſo wird
auch die Kuppe der Eistrümmer am Eheſten angegriffen und daher
die Obelisken- oder Thurm-ähnliche Form, die man bezeichnend
„Gletſcher-Nadeln“ nannte, weil ihre Spitzen oft ungemein ſcharf
gegen das Zenith auslaufen. Exemplare von dreißig bis fünfzig
[222]Der Gletſcher. Fuß Höhe ſind am Gorner-Gletſcher ob Zermatt (im Wallis), am
Glacier des Bois unterm Chapeau und am Montanvert, ſo wie
tiefer drin am Glacier du Talèfre (beide im Chamouny-Thal)
und am Paſterzen-Gletſcher beim Groß-Glockner durchaus keine
Seltenheiten. Auch der Rhône- und die beiden Grindelwald-Glet¬
ſcher ſind reich an ſolchen. Sie überdecken bei Manchem viertel¬
ſtundengroße Flächen.


Aber, ſo wie die Schaumwolken des Waſſerfalles drunten raſch
die gefangenen Luftbläschen wieder entlaſſen und ſich zu der glatten,
homogenen Fluß-Fläche wieder vereinen, eben ſo verwachſen die Eis¬
trümmer, nicht weit unter ihrer Katarakt-Linie, mittelſt Kompreſſion,
Durchfeuchtung und Wiedergefrieren der eingeſickerten, tropfbar¬
flüſſig gewordenen Abſchmelzwaſſer, bald wieder zu einem Körper-
Ganzen, das am Ende die kompakte Gletſcher-Front bildet.


Weiter hinauf! Wir können nun den Gletſcher endlich betreten.
Es iſt gegen Mittag und die Sonne ſcheint warm. Wie ganz
anders, als wir ſie uns dachten, geſtaltet ſich nun die ziemlich ebene
Oberfläche. Sie iſt von tauſend und abermals tauſend Rinnen
und Rinnchen durchfurcht, die kreuzend und mäanderiſch ihre Bahnen
gebildet haben. Emſig eilen die kleinen Waſſeradern des kaum
einen Grad Wärme haltenden, diamantklaren Eiswaſſers größeren
bach-ähnlichen Furchen zu, deren Bett ebenfalls aus durchſichtig¬
hellem Gletſcher-Eis beſteht. Dieſe Bäche aber ſtürzen nach kurzem
Laufe, laut rauſchend in tiefe, trichterförmige Löcher, „Mühlen
oder Moulins“ genannt, in denen ſie ſpurlos verſchwinden. Es
ſind geheime Kanäle, die in allerlei Windungen und Verzweigungen
bis auf den Felſengrund des Gletſchers hinabreichen und dem aus dem
Gletſcherthor hervorquellenden Gletſcherbach Nahrung zuführen. Die
ganze ſanft gewölbte Oberfläche des Gletſchers glitzert und leuchtet
vom Reflex der Sonnenſtrahlen auf dem blanken, waſſerüberron¬
nenen Eiſe; eine unendlich fieberhaft-zitternde Beweglichkeit iſt über
die ganze Eishalde ausgegoſſen, ſo daß ein wie von Monaden
[223]Der Gletſcher. belebtes Flimmern entſteht. Feſten Fußes und ſicheren Trittes läßt
ſichs ganz gut über den ſchwitzenden, glanz-erfüllten Gletſcher wan¬
dern; wer aber nicht derb zutritt und etwas Anlage zum Ausgleiten
hat, kann verſichert ſein, alle zwei bis drei Minuten im Naſſen zu ſitzen.
Dieſe unheimliche Lebendigkeit, dieſes glurrende, ſingende Rieſeln
in den netzförmig die Spiegelfläche überſpinnenden Rinnen währt,
ſo lange die Sonne ihre auflöſenden, froſt-zerſetzenden Strahlen
niederſendet; ſobald dieſe hinter die umſtehenden Berge tritt, ver¬
ſtummt allgemach das kleine Leben, der erſtarrende Todeshauch
ſtreift über die Eiswüſte und bindet die rieſelnden Tropfen wieder
zu Kryſtallen, und noch ehe es Nacht geworden, lagert lautloſe
Grabesſtille auch über dieſem Alpenwinkel.


Das Weiterwandern würde nun gar keine Schwierigkeiten
haben, wenn nicht eine neue Zerklüftung des Gletſchers, diesmal
aber nicht in aufrecht ſtehenden Trümmern, ſondern nach unten,
ſich zeigte. Es ſind die berühmten und berüchtigten „Querſpal¬
ten
oder Crevasses“ welche bis zu bedeutender Höhe hinauf den
Gletſcher durchziehen. Manche der alpinen Eismeere ſind von
dieſen Tiefriſſen ſo durchſetzt und zerborſten, daß ein Wandern über
dieſelben faſt zur Unmöglichkeit wird, oder doch in ein Labyrinth
führt, aus welchem ſich herauszufinden eine ſchwierige Aufgabe iſt.
Es giebt der Beiſpiele genug, daß Reiſende mit Führern bei nebel¬
freiem Wetter, am hellen Tage, auf Gletſchern, die kaum eine halbe
Stunde breit waren, deren beiderſeitige Felſenufer man alſo in
allernächſter Nähe ſehen konnte, ſich ſo zwiſchen den Spalten ver¬
irrten, daß ſie viele Stunden brauchten, um einen Ausweg zu finden.
Beiſpiele von Unglücksfällen ſollen in dem ſpäter folgenden Ab¬
ſchnitte „Alpenſpitzen“ erzählt werden. Die Gletſcherſpalten
haben an der Oberfläche gewöhnlich eine ſehr in die Länge gezo¬
gene elliptiſche Form, deren beide Enden ſpitz auslaufen. Breite
und Länge derſelben variirt je nach der Abdachung und Mächtig¬
keit der Gletſcher außerordentlich; es giebt ſolche, die, wenn ſie
[224]Der Gletſcher. unlängſt erſt entſtanden, leicht überſprungen werden können, und
wiederum ſolche, die zwölf Fuß und mehr breit ſind. Meiſt ſteht
dann die Breite im Verhältniß zur Länge-Ausdehnung derſelben,
und man hat deren ſchon geſehen, die quer über den ganzen Glet¬
ſcher, von einem Ufer deſſelben, bis zum andern liefen, alſo faktiſch
den Gletſcher in zwei Hälften theilten. Nach der Tiefe zu ver¬
engen ſich die meiſten. Der Einblick in dieſelben gewährt in
der Regel das gleiche ſchöne Farbenſpiel, wie bei den ſo eben er¬
wähnten Nadeln; beſonders läßt ſich die geaderte Struktur des
Gletſcher-Eiſes gut an den Spalten-Wänden beobachten. Die Spalten
entſtehen aus ähnlichen Urſachen, wie die Gletſcher-Katarakte; zu
ſtarke Spannung der Eismaſſen führen dieſelben herbei. Die
Naturforſcher Hugi und Agaſſiz, welche behufs ſpecieller Studien
ſich Hütten auf den Gletſchern erbauen ließen und Wochen lang dort
verweilten, haben das Spaltenwerfen genau beobachtet. Es kündete
ſich durch ein krachendes Getöſe im Innern des Eiskörpers an,
welch letzterer, ähnlich wie bei einem Erdbeben, erzitterte. Bald
darauf zeigten ſich Riſſe wie die einer geſprungenen Fenſterſcheibe
an der Oberfläche, deren Fortrücken und Längerwerden mit den
Augen verfolgt werden konnte. Oft war es jedoch auch der Fall, daß
die Spalte unmittelbar nach ihrer Entſtehung ſofort mehrere Cen¬
timeter weit auseinander klaffte. Die Erweiterung bildet ſich dann
nach und nach immer mehr aus. Es iſt indeß entgegengeſetzt auch
beobachtet worden, daß bereits ausgebildete, breite und tiefe Glet¬
ſcherſpalten, in Folge der Konfiguration des Gletſcher-Bodens, ſich
wieder ſchloſſen und gleichſam vernarbten. Gewöhnlich ſieht man
nur wenige mit Waſſer gefüllt, weil einerſeits viele derſelben mit
unterirdiſchen Tunnels und Kanälen in Verbindung ſtehen mögen,
mittelſt welcher das aufgenommene Gletſcherwaſſer ſogleich weiter¬
befördert und dem Hauptbache zugeſandt wird, — andererſeits weil
die, vom gewöhnlichen Fluß- oder See-Eis weſentlich verſchiedene
Struktur des Gletſcher-Eiſes eine ununterbrochene Infiltration des
[225]Der Gletſcher. Waſſers zuläßt. Letzteres iſt viel poröſer als das durch ſtarken
Froſt aus flüſſigem Waſſer entſtandene Eis. Das Gletſcher-Eis,
welches, wie ſchon oben bemerkt, mittelſt einer Menge von Me¬
tamorphoſen aus dem kryſtalliſirten Schnee der Hochgebirge ſich
ausbildet, enthält allenthalben ſehr kleine, linſenförmige, plattge¬
drückte Luftbläschen und iſt durch und durch von unendlich fei¬
nen Haarſpalten nach allen Seiten und Richtungen hin durch¬
woben, welche ſofort Flüſſigkeiten, die über dem Eis ausgeleert
werden, aufnehmen und einſaugen. Profeſſor Agaſſiz ſtellte Verſuche
mit aufgelöſtem Farbſtoff an und ſah denſelben, mittelſt der unend¬
lich feinen Aederchen, das ganze Stück Eis ſchleunigſt durchdringen,
als ob es ein aufſaugender Schwamm wäre; binnen kurzer Zeit war
es bis auf 15 Fuß Tiefe von dem Fernambuc-Waſſer roth gefärbt.

Vermöge dieſer, dem Gletſcher-Eiſe eigenen hohlen Räume
entwickelt ſich auch in demſelben die allſeitigſte, größte Thätigkeit.
Der jetzige Forſt-Inſpektor des Kantons Graubünden, Herr Coaz
(erſter Erſteiger der Bernina-Spitze, deſſen Mittheilungen wir
noch einigemal erwähnen werden) hatte behufs topographiſcher Ver¬
meſſungen des Val Morteratſch, ſein Zelt unweit des Gletſcher-
Randes aufgeſchlagen und unternahm von dort aus ſeine Excur¬
ſionen. Die Seiten-Rande der Gletſcher ſind ſehr mannigfaltig
gebildet; bald liegen ſie ruhig und geſchloſſen unmittelbar an der
Thalſeite an, — bald erheben ſie ſich in ſenkrechten, zerborſtenen
Eiswänden, bald überbauen letztere die Ufer, ſo daß man ein gutes
Stück unter den Gletſcher hineingehen kann. An manchen Stellen
finden ſich Moränen zu Seiten-Wällen angehäuft, — an anderen
gränzt die ſaftige Alpenweide unmittelbar an das Eis. Einſt
beſuchte er auch gegen Mittag an einem trüben, nebeligen Tage,
eine Gletſcherhöhle, die vom Rande des Morteratſch-Gletſchers
(Bernina-Gruppe) ſich gegen die Thalſohle ſenkte. Er ſtieg
unter die 5 bis 6 Fuß hohe Wölbung hinein und beobachtete die
über ihm hangenden Eismaſſen mit ihren rundlichen oder ovalen
Berlepſch, die Alpen. 15[226]Der Gletſcher. Blaſenräumen; durch einige derſelben tröpfelte Waſſer in regel¬
mäßigen Pulsſchlägen. Zugleich bemerkte er aber im Eis an den
gleichen Stellen kleine Waſſerwirbel von etwa ½ Zoll Durchmeſſer,
die mit großer Schnelligkeit ſich bewegten. Da er ſie früher nicht
geſehen hatte, ſo mußten ſie erſt während der Beobachtung, wahr¬
ſcheinlich durch die ausgeſtrömte Körperwärme entſtanden ſein. Daß
die Vertiefung, in welcher der Wirbel ſich drehte, ein zu Tage
geſchmolzener Blaſenraum ſei, durfte mit Gewißheit angenommen
werden. Um nun eine Rinne zu entdecken, welche durch das Eis
zu Häupten der Beobachter dem Wirbel das Waſſer zuführe, nahm
Herr Coaz die Loupe zur Hand, konnte jedoch nichts entdecken. End¬
lich half ihm ein kleines ſchwarzes Stäubchen, das an der Ober¬
fläche des hangenden Eisgewölbes hinſchoß, aus ſeinen Zweifeln
und beſtätigte die Annahme der vermutheten feinen Rinne. Sie
lief in ſchiefer Richtung nach der kleinen Vertiefung zu und führte
den Wirbel herbei. Bald darauf beobachtete er zwei ſolcher Wir¬
bel nahe bei einander, die entgegengeſetzte Strömung zeigten.
Als ſie weiter in die Höhle eindrangen, wurde das Eis immer
blaſenfreier, reiner und dunkler in der Färbung. Die Eiswände
waren ganz naß; an verſchiedenen Stellen tröpfelte Waſſer vom
Gewölbe, der Gletſcher befand ſich in ſeiner größten Lebensthätig¬
keit. Hier nahm eine wunderbare Erſcheinung die Aufmerkſam¬
keit des Beobachters ganz beſonders in Anſpruch; es war ein
kleiner, faſt einen Fuß Breite meſſender Bach, der über dem Kopfe
des Beſuchers an der etwas geneigten, äußerſt poröſen Eisdecke
feſtgehalten, raſch dahinfloß. Ein ſolches Phänomen frappirt un¬
gemein, indem hier das Waſſer nur theilweiſe dem gewaltigen
Geſetze der Schwere folgend, demſelben faſt Hohn zu ſprechen ſcheint.
Bezeichnend nannte er dieſe Erſcheinung „Hangende Bäche.“ —
Noch tiefer drinnen öffnete ſich eine Spalte, durch welche von oben
ein voller Lichtſtrom ſich ergoß und in dem kryſtallhellen Eiſe das
reinſte, mildeſte, lichteſte Blau erzeugte, wie es nur die Tiefe der
[227]Der Gletſcher. geheimnißvollen Gletſcherwelt bewahrt. Dieſe bietet überhaupt für
den forſchenden Geiſt wie für das empfängliche Gemüth weit mehr,
als der erſte flüchtige Beſuch eines Gletſchers vermuthen läßt.


Das Empordringen an den Ufern eines Gletſchers iſt mitun¬
ter nicht minder ſchwierig und gefahrvoll als wie der Aufmarſch
über die, mittelſt Schneebrücken verdeckten, tiefen Gletſcherſpalten.
Ein von Prof. Forbes (aus Edinburgh) erzählter Vorfall möge bei¬
ſpielsweiſe das Geſagte beſtätigen und zugleich zeigen, wie ſehr gefährlich
das Allein-Reiſen auf Gletſchern iſt; über die „Schneebrücken“ fin¬
den ſich weitere Mittheilungen in dem Abſchnitte „Alpenſpitzen.“ —


Mitte September 1842 beſuchte Herr Forbes von Chamouny
aus das einſame, im ſ. g. Mer de Glace gelegene Vorgebirge Tré¬
laporte
, einen Felsrücken öſtlich unter der Aiguille de Charmoz.
Da daſſelbe nirgends hin führt, ſo pflegt es höchſtens von den
Schäfern beſucht zu werden, welche von Zeit zu Zeit heraufkommen,
um ihren auſſichtslos in der Einöde während des Sommers wei¬
denden Schaafen Salz zu bringen. Herr Forbes, mit dem Skizziren
der kühnen Umriſſe der Aiguille du Dru und du Moine beſchäfti¬
get, ſandte ſeinen Führer Auguſt Balmat nach Trinkwaſſer aus,
welches, da das Vorgebirge Trélaporte nur aus öden Granitmaſſen
beſteht, ſchwer zu finden iſt. Als der Führer nach ½ Stunde noch
nicht zurückgekehrt war und zu befürchten ſtand, daß er ſich unter
den wilden Felſen verirrt habe, ſo brach der Naturforſcher ſelbſt
auf, ihn zu ſuchen. Nach einiger Zeit ſah er ihn mit zwei Bur¬
ſchen aus Chamouny, die nach der berühmten Gletſcher-Inſel
„Jardin“ gehen wollten, daher kommen. Sie führten einen Mann,
der völlig erſchöpft und geiſtesabweſend zu ſein ſchien und deſſen
Anzug in Fetzen herabhing. Auch der Führer Auguſt zeigte
ſich ſehr ermattet, denn er hatte, um den fremden Mann zu retten,
ſich den größten Gefahren ausgeſetzt. Der Fremdling, ein Ameri¬
kaner, der am Morgen des vorhergehenden Tages allein aufgebro¬
chen war, das Mer de Glace zu durchwandern, hatte, an den ein¬
15*[228]Der Gletſcher. ſamen Abhängen von Trélaporte emporkletternd, ſich verſtiegen und
die ganze Nacht auf einer faſt unnahbaren Klippe zugebracht.
Nach ſeiner Erzählung war er am vorhergehenden Nachmittage
ausgeglitten, an einem Felſen herabgeſtürzt, und wäre wahrſcheinlich
zerſchmettert in der Tiefe angekommen, wenn nicht ſeine Kleider an wil¬
dem Geſträuch hangen geblieben wären und ſo ſeinen völligen Todes¬
ſturz gehemmt hätten. Darauf hatte er eine Felsplatte erreicht, die, rings
von ſchauerlichen Abgründen umgeben, für ihn zum hoffnungsloſen
Gefängniß ward. Die Nacht war nicht allzu kalt, ſo daß er ſein
Leben unter zerſetzender Angſt zu friſten vermochte, und als es
Tag geworden war, hatte er die beiden jungen Männer in großer
Ferne erblickt und ſie durch Rufen herbeigezogen. Die kühnen Berg¬
gänger kletterten nun zwar auf weiten Umwegen ſo nahe herzu,
daß ſie über ihm ſich poſtiren konnten; aber ihre gemeinſchaftlichen
Anſtrengungen würden nicht ausgereicht haben, ihn zu erlöſen, wenn
nicht, wie durch eine Fügung der Vorſehung, Herr Forbes am gleichen
Morgen dieſe ſelten beſuchte Gegend betreten und ſeinen Führer nach
Waſſer ausgeſandt haben würde. Während dieſer nun nach Waſſer
ausſpähte, erblickte er die mit Rettungsverſuchen ſich abmühenden
Burſchen und ſchloß unaufgefordert ſich ihnen an. Seinem ſeltenen
Muthe, ſeiner Ausdauer und Verwegenheit, ſo wie ſeinen enormen
phyſiſchen Kräften gelang es endlich, den Aermſten aus einer Lage
zu befreien, in welcher ſelbſt die verwegene Gemſe umgekommen
wäre. Balmat erzählte, daß er, an einer faſt glatten Felſenwand,
gleichſam klebend, ſeinen Fuß habe ausgleiten fühlen, als er das
ganze Gewicht des fremden Mannes auf ſich trug, und ſchon ſich
und den Anderen verloren gegeben habe, als er ſich noch anklam¬
mern und halten konnte. Nachdem Herr Forbes Alle mit Wein ein
wenig geſtärkt hatte, ſandte er den Fremden, deſſen Gehirnnerven be¬
denklich afficirt zu ſein ſchienen, in Begleitung der beiden Burſche
nach Chamouny hinab, während er mit Balmat ſelbſt den Schreckensort
aufſuchte. Seine ausführliche Schilderung deſſelben beſtätigt, daß es
[229]Der Gletſcher. eine mit Gras und Wachholder-Gebüſch bewachſene, nur einen Fuß breite
und wenig Fuß lange Felſenplatte war, die im Rücken von einer
beinahe überhangenden Granitwand geſchloſſen wurde und vorn mehrere
Hundert Fuß ſenkrecht abſtürzte. Es mußte faſt wie ein Wunder erſchei¬
nen, daß der Unglückliche überhaupt rutſchend oder fallend dieſen
Punkt erreichen konnte; ohne das aufhaltende, ſeinen Sturz hemmende
Geſträuch, in welchem noch Fetzen der zerriſſenen Blouſe hingen, wäre
er über die Felſenplatte hinaus, ohne dieſelbe zu berühren, der Tiefe
zugeſtürzt. Auf dieſer Plattform, die kaum genügenden Raum für
einen Menſchen bot, mußte der Fremde die ganze lange finſtere Nacht
über, ohne einen Fuß zu regen, aufrecht ſtehend zubringen, immer
den gräßlichen Tod des Verhungerns oder des zerſchellenden
Sturzes vor Augen, ohne Ausſicht und Hoffnung auf Errettung.


Die Zerklüftung der Ufer iſt die Erzeugerin der Moränen.
Werfen wir einen Blick auf die unſerem Buche beigeheftete Ab¬
bildung eines Gletſchers (zu welchem die mittlere Parthie des
Gornergletſchers mit dem Riffelhorn und dem Monte Roſa im
Hintergrunde, die Motive abgaben, während das Gletſcherthor —
um ein inſtruktiv-überſichtliches Bild zu geben — verkürzt einge¬
zeichnet wurde), ſo erblicken wir hinter der Region der Gletſcher-
Nadeln, langgezogene Steinlinien, welche ſich weit bis in die Per¬
ſpective fortſetzen. Dies ſind die Moränen oder Gandecken,
auch Gufferlinien genannt. Was Hitze und Froſt, Regen
und Unwetter an den Gebirgsmauern zerſetzen, losſpalten, ab¬
bröckeln, das fällt hinunter auf die Firnfelder (wenns in den
Hochregionen iſt) oder auf die Gletſcherränder und rückt mit dieſen
Maſſen fort. Der Firn wie der Gletſcher haben ſozuſagen eine
ausſtoßende Kraft, ſie leiden keine fremden Stoſſe in ihrem
Körper; was Jahre lang in Firnſchründen begraben lag, wird durch
die Abſchmelzung der Oberfläche und den gleichſam hebenden
Druck im Fortrücken, nach und nach auf den Rücken des Eiskör¬
pers gebracht. So auch die Felſenbrocken. Triffts nun, daß,
[230]Der Gletſcher. ähnlich der Ineinander-Mündung zweier Flüſſe, zwei Gletſcher¬
thäler zu einem Strombett ſich vereinigen, alſo das aus zwei
verſchiedenen Heimath-Kammern ſtammende Eis gemeinſchaftlich
ſeinen Weg nach der Tiefe zu fortſetzt, ſo vereinigen ſich auch
die beiden inneren Rand- oder Seiten-Moränen zu einer Mittel-
Moräne und zeigen nun eine Gufferlinie längs der ganzen Mitte
des Gletſchers. So viel Seiten- oder Sekundär-Gletſcher in den
Haupt-Gletſcher münden, ſo viele Gufferlinien entſtehen. Unſer
Bild zeigt drei Central-Moränen, in Wahrheit aber hat der
Gornergletſcher acht Gufferlinien, die ſich durch Schärfe und Pa¬
rallelismus auszeichnen. Die Maſſenhaftigkeit des hier angehäuf¬
ten Bergſchuttes iſt oft ſo bedeutend, daß man auf einer unmit¬
telbar vom Gebirge gebildeten Trümmerhalde zu ſtehen wähnt.
Die Central-Moräne beim „Abſchwung“, welche aus der Mündung
des Finſter- und Lauter- Aargletſchers entſteht, auf der die Na¬
turforſcher Hugi und Agaſſiz ihre Hütten behufs mehrwöchentlicher
Beobachtungen und Meſſungen errichten ließen, iſt ein Schuttwall
von beinahe 400 Fuß Breite und ſtellenweiſe 30 Fuß Höhe über
dem Gletſcher-Niveau. Oft ſind jedoch dieſe Moränen auch nur
ſchmale Reihen, gleichſam perlenſchnur-ähnlich mit kleinen Unter¬
brechungen fortlaufender, einzelner Steine, die über die ganze
Länge des Gletſchers hinabſteigen. Mit auffallender Beharrlich¬
keit halten dieſe Steinlinien die eingeſchlagene Richtung feſt und
verlieren ſie oft ſelbſt dann nicht ganz, wenn ein großer Gletſcher¬
bruch mit ſeinen Nadeln und Scherbenkoloſſen ihre Direktion unterbricht.

Außer den eigentlichen Moränen begegnen wir auf dem ſanft¬
gewölbten Rücken des Gletſchers noch ſeparirten Steinblöcken,
gleichſam ſich abſchließenden Sonderlingen oder Einſiedlern, die,
weil ſie rundum vom verwandten Geſteins-Material entblößt ſind,
den Atmoſphärilien Gelegenheit zu höchſt auffallenden, mit dem
Entſtehen und der Geſtalt der Gletſcher-Nadeln verwandten Eis¬
bildungen geben; es ſind die ſogenannten „Gletſchertiſche.“
[231]Der Gletſcher.Bei dem während der warmen Jahreszeit ununterbrochen andauern¬
den Abſchmelzen der Gletſcher-Oberfläche, wird diejenige Stelle
des Eiſes, auf welcher ein derber Steinblock, eine dicke Gneis¬
oder Schiefer-Platte liegt, vor den auflöſenden, unmittelbaren Ein¬
wirkungen der Sonnenſtrahlen und warmen Winde geſchützt; es iſt
alſo natürlich, daß rundum die Eisfläche allmählig abſchmilzt,
während derjenige Theil des Eiskörpers, der von dem Steine be¬
deckt iſt, konſervirt wird, gleichſam ausgeſpart ſtehen bleibt. So
wächſt der Eisträger oder Pfoſten, wie der Fuß eines runden Tiſches,
allgemach aus dem Gletſcherboden, wird an den Seiten von der
ihn umſtreichenden, einige Grad Wärme haltigen Luft ſtets beleckt
und abſchmelzend gemindert, ſchlanker geformt, während die aus
dieſer Eisſäule ruhende Steinplatte gegen die energiſchen Sonnen¬
ſtrahlen und deren raſch wirkende Schmelzkraft ſchirmt. Solche
Gletſchertiſche, faſt wie rieſige Pilze ausſehend, finden ſich nicht
auf allen Gletſchern, doch aber auf den meiſten großen. Die ſchönſten
trifft man auf dem Unteraar-Gletſcher, wo Agaſſiz Fußgeſtelle bis
zu acht Fuß Höhe maß, — auf dem Theodul-Gletſcher (Unterm
Matterhorn) mit Platten von 20 Fuß Länge und 6 Fuß Breite,
während der Eisfuß oft ſo dünn iſt, daß man ihn umſtürzen zu
können glaubt, — häufig auf dem Liapey- oder Durand-Gletſcher
im Val Hérémence (Wallis) mit Platten von 30 Grad Neigung,
— auf dem Paſterzen-Gletſcher in Tyrol. Auf dem Glacier de
Léchaud
(Montblanc-Maſſe) traf Prof. Forbes ſogar einen Gletſcher¬
tiſch, der aus einer prächtigen flachen Granitplatte von 23 Fuß
Länge, 17 Fuß Breite und etwa 3 Fuß Dicke beſtand und deſſen
ſchöngeadertes, zierliches Eis-Piedeſtal bis Ende Auguſt eine Höhe
von dreizehn Fuß erreichte. Wird dann das Untergeſtell zu ſchwach,
ſo daß die Steinplatte ihr Gleichgewicht verliert, ſo ſtürzt dieſe
herab, und ſofort beginnt der Abſchmelzungsproceß rund um die Platte
aufs Neue, während der Eisrumpf des zerſtörten Tiſches von den
Atmoſphärilien vollends aufgelöſt wird.


[232]Der Gletſcher.

In auffallendem Gegenſatze zu dieſen, über das Gletſcher-
Niveau emporgehobenen, großen Felstrümmern und der früher er¬
wähnten, gleichſam ausſtoßenden Kraft der Gletſcher, ſteht das
Einſinken kleinerer Gegenſtände in das Eis. Wir finden dürre,
vom Winde heraufgewehte Laubblätter, todte Schmetterlinge und
Käfer oder kleine Steine auf dem Gletſcher, die 1 bis 1½ Zoll
tief in das Eis eingeſunken ſind. Daß dieſelben nicht eingebacken
in den Firn aus den Höhen heruntergebracht und hier erſt wieder
an die Oberfläche befördert wurden, beweiſen die ſcharfen Konturen
des nach oben offenen Loches, welche ganz genau den Umriſſen
des fraglichen Gegenſtandes entſprechen. So ſehr nun dieſe Thatſache
den anderen Erſcheinungen widerſpricht, ſo erklärlich iſt dieſelbe. Be¬
kanntlich nehmen Körper je nach ihrer mehr oder minder dunklen
Färbung ein größeres oder kleineres Wärme-Quantum auf; ſchwarze
Körper am Meiſten. Es iſt alſo begreiflich, daß die Inſolation
oder Sonnenſtrahlung auf ſolche dunkle Gegenſtände draſtiſcher ein¬
wirkt als auf das weiße, die Sonnenſtrahlen zurückſtoßende Eis
und dieſe Körper in Folge größerer Menge aufgenommener Wärme,
dieſe gegen das unter- und um-liegende Eis ausſtrahlen, alſo
dadurch Abſchmelzung verurſachen. Ebendeshalb, weil die Gegen¬
ſtände klein ſind, werden ſie ganz von der Sonnenwärme durch¬
drungen; große Felſenplatten wie bei Moränen und Gletſchertiſchen
werden nur an der Oberfläche erhitzt, ohne die aufgenommene Wärme
ſo weit in ihrem Innern nach unten fortpflanzen zu können,
daß dadurch eine Schmelzung des unterliegenden Eiſes herbeige¬
führt würde.


Zu den Moränen und Gletſchertiſchen geſellt ſich endlich noch
eine dritte verwandte Erſcheinung, welche uns beim Beſuche eines
ſolchen Eismeeres auffällt: die Schuttkegel und Sandhügel. Sie
entſtehen einfach dadurch, daß bei lebhafter Schmelzung der Gletſcher-
Oberfläche, Steinchen, Grien und Geröllſchlamm von den Schmelz¬
bächen zuſammengeſchwemmt werden, ſo daß ſie kleine Alluvial-
[233]Der Gletſcher. Ablagerungen bilden. Dieſe ſchützen vermöge ihrer Dicke das
darunterliegende Eis gegen die Wirkungen der Sonnenſtrahlen,
während der rundum frei zu Tage tretende Gletſcher abſchmilzt; ſo
bilden ſich jene den Maulwurfshaufen ähnlichen Hügel, die bis 12
Fuß hoch werden und meiſt den dreifachen Umfang ihrer Höhe
einnehmen.


Alle dieſe fremden, dem Gletſcherrücken aufgebürdeten Felſen-
Rudera werden durch den Gletſcher zu Thale transportirt und
geben ſelbſt eins der weſentlichſten Beweismittel von der Bewe¬
gung dieſer Eisſtröme ab. Die Menge der auf ſolche Art aus den
Hochregionen in die Tiefen getragenen Trümmer iſt außerordentlich
verſchieden und läßt ſich nur nach den Stirnwällen oder Front¬
moränen ſchätzen, welche im Laufe der Jahrtauſende ſich am Ende
des Gletſchers abgelagert haben. Die rieſigſten Stirnwälle finden
ſich am Fuße des Bois-Gletſchers im Chamouny-Thal, von denen
der aus dem Jahre 1820 ſtammende die jüngſte der großen Ab¬
lagerungen iſt. Eine gräuliche Wildniß von Steinen jeder Größe
und Geſtalt hat alle frühere Wieſen-Kultur verdrängt, und
ein jetzt bewaldeter Moränenberg von ſechstauſend Fuß Länge,
„les Tignes“ genannt, zeigt, was ein einziger Gletſcher zu Thal
ſchafft. Jetzt liegt das Dorf Lavanchi am öſtlichen Abhange des
koloſſalen älteſten Steinwalles. Einer der herniedergeſchafften Fel¬
ſen iſt ſo groß, daß man ihm, als ſelbſtſtändigem Individuum,
einen Eigennamen: „Pierre de Lisboli“ gab.


Die Thatſache, daß jeder Gletſcher wandert und ſich jährlich
eine beſtimmte Strecke vor- oder abwärts bewegt, iſt eine erſt
neuere Entdeckung der Wiſſenſchaft, während das Gebirgsvolk die¬
ſelbe ſchon ſeit Jahrhunderten kannte. So ſehr dem Tiefländer
die Erſcheinung konſtant ſich fortbewegender, auf hartem Grund
und Boden der Tiefe zuwandernder, ſpröder Eismaſſen befremdend
ſein mag, ſo wenig erklärlich würden dem Gebirgsbewohner ſtill
ruhende, lokal an die Scholle gebannte Eisflächen ſein. — Die
[234]Der Gletſcher. Bewegung der Gletſcher iſt eine durch die Abdachungsverhältniſſe
der Gletſcherbette bedingte und darum ſehr verſchiedene. Im All¬
gemeinen bewegt ſich der Gletſcher in der Mitte ſeines Körpers
raſcher als an den beiden Uferſeiten, in der Höhe ſtärker als in
der Tiefe. Nach Agaſſiz und ſeiner Gefährten Meſſungen auf dem
Aargletſcher, während der Monate Juli bis September in verſchie¬
denen Jahren, betrug das Fortrücken täglich etwa 8 Zoll. Pro¬
feſſor Forbes fand an einigen Gletſchern des Montblanc noch eine
raſchere Bewegung. Doch läßt auch hier ſich durchaus keine nor¬
male Durchſchnittszahl aufſtellen, indem der Einfluß der mittleren
Jahrestemperatur erfahrungsgemäß außerordentlich einwirkt. Nach
den von Ziegler am Grindelwaldgletſcher angeſtellten Beobachtun¬
gen über die Bewegung im Winter, zeigte ſich dieſelbe im Januar
am Schwächſten, etwas entſchiedener im December, bedeutend leb¬
hafter im Februar, und noch mehr zunehmend im März und April.
Ueberhaupt ſcheint jeder Gletſcher während des Winters ziemlich
zu ruhen und im Frühjahre mit dem Erwachen der Natur auch
ſeine Thätigkeit aufs Neue aufzunehmen. Aber nicht blos im All¬
gemeinen an der Oberfläche iſt die Bewegungsfähigkeit der Glet¬
ſcher eine verſchiedene, ſondern auch nach ihrer vertikalen Tiefe zu,
ſo daß die größte Bewegung an der Oberfläche ſich zeigt, eine
verminderte in der Mitte, und die geringſte in der dem Felsboden
aufliegenden Tiefe.


Die Gletſcher-Theorie ſtellte ſchon ſehr verſchiedene Behaup¬
tungen und Folgerungen über die Natur der Gletſcher-Bewegung
auf. Die älteſten Unterſucher, namentlich der geiſtreiche, um die
Naturgeſchichte und Phyſik der Alpen ſo hochverdiente de Sauſſure
nahm ein beſtändiges Gleiten der Eismaſſen über den geneigten
Boden an; Andere und unter ihnen der noch ältere Scheuchzer,
ſchrieben der durch den Froſt herbeigeführten Ausdehnung der kry¬
ſtalliſirten wäſſerigen Subſtanzen die Hauptſchiebekraft zu und ſchufen
die Expanſions- oder Dilatations-Theorie. Prof. Hugi, der die
[235]Der Gletſcher. oben beſchriebenen Haarſpalten kennen gelernt hatte, nahm einen all¬
gemeinen Durchfeuchtungs-Proceß an, gleichſam als ob der Glet¬
ſcher wie ein Schwamm flüſſig-wäſſerige Beſtandtheile in Menge
aufnähme, dieſe dann gefrören und dadurch ein Treiben nach der
Tiefe zu herbeigeführt würde. Noch Andere wollten ein eigent¬
liches Rollen oder Wälzen der Eismaſſen beweiſen. Nach allen
bisherigen Unterſuchungen ſcheint ganz beſonders die von oben
herab drängende, drückende Schwere der, hinter dem Gletſcher la¬
gernden, ungeheueren Schneemaſſen die vornehmſte, unaufhörlich
wirkende Haupttriebkraft zu ſein, welche den ſtarren Eisſtrom in
Bewegung hält (Gravitations-Theorie). Demnächſt mag das Weichen
der Maſſen an den Sturzſchwellen und an der Front weitere Ur¬
ſache zum leichteren Nachrücken geben. Endlich mag aber auch die
durch die Haarſpalten begründete größere Nachgiebigkeit des Eiſes
zu dem ganzen auffallenden Phänomen das Ihrige beitragen.


Wo dieſe Eisſtröme der Alpen durchgehends, bis an ihr Ende,
in geneigten Gebirgsrinnen ſich fortbewegen, da hat der Bergbe¬
wohner, welcher ſie nicht betritt, auch nichts von denſelben zu fürch¬
ten. Anders iſts mit denjenigen Gletſchern, welche in der Höhe
ſich bilden, eine Zeit lang normal ihren Weg fortſetzen, plötzlich
aber das Bett verlieren, weil das Felſen-Individuum, auf welchem
ſie ruhen, jähwandig abſinkt. Solche, die man „hangende Glet¬
ſcher“ nennt, brechen begreiflich, wo ſie an der Sturzwand ankom¬
men, trümmernweiſe los und ſtürzen als „Gletſcher-Lauinen“ zu
Thal. Begreiflich hat ſich die Kultur und der menſchliche Fleiß
am Fuße ſolch unermüdlicher Eisſchleuderer nicht angeſiedelt und ſie
entladen ihr Bruchmaterial ohne Schaden in wüſte Gründe. Doch
aber giebt es Beiſpiele genug, daß ſolche Gletſcher-Stürze dennoch
im bebauten Lande und in den bewohnten Gegenden mittelbar un¬
berechenbaren Schaden anrichteten. Das markanteſte Beiſpiel die¬
ſer Art iſt das Unglück, welches der Gietroz-Gletſcher oder viel¬
mehr deſſen angehäufte Sturzmaſſen am 16. Juni 1818 im Bagne¬
[236]Der Gletſcher.thal und Unterwallis anrichteten. Erſteres ſtellt fünf Stunden
oberhalb Sembranchier einen ſehr engen Schlund dar, im Sü¬
den von dem ſteilen Bollwerk des Mauvoisin, gen Norden von
dem 11400 Fuß hohen Mont Pleureur beherrſcht, deſſen Fuß eine
etwa 500 Fuß hohe Felſenwand bildet. Ueber dieſe hängt, von
den hohen Firn-Regionen herniederkommend, der Gietroz-Gletſcher.
Zu allen Jahreszeiten und faſt täglich ſtürzen von demſelben un¬
förmliche Eislaſten ins Thal hernieder, häufen ſich unten an der
Felſenwand zu rieſigen Gletſchertrümmerhügeln, unter denen das
wilde Thalwaſſer, die Dranſe hervorbricht. Während der Jahre
1815 bis 1818 hatten ſich die Eisbrüchlinge in zuvor nie geſehener
Weiſe vermehrt, und im Winter des zuletzt gedachten Jahres ver¬
ſtopfte ſich der immer enger gewordene, gewölbe-ähnliche Abfluß
dermaßen, daß er zuletzt gänzlich zufror und der Dranſe nicht den
mindeſten Abfluß geſtattete. Der Eisdamm zog ſich quer durchs
ganze Thal, lehnte ſich zu beiden Seiten an die Bergwände an
und hatte eine Höhe von mehr als zweihundert Fuß erreicht. Be¬
greiflich ſtaute ſich das Flußwaſſer immer mehr und mehr an
und bildete endlich einen See, der eine halbe Stunde lang und
gegen 700 Fuß breit war. Mit Entſetzen ſahen die Bewohner von
Lourtier, Champsec, Chables bis hinaus nach Martigny das
fortwährende Wachſen der Waſſermaſſe. Der Druck derſelben wurde
immer mächtiger, heftiger und es ließ ſich vorausberechnen, daß
beim Eintreten der warmen Jahreszeit der Damm nicht genügende
Widerſtandsſtärke beſitzen werde, um einen radikalen Durchbruch zu
verhüten. Viele Ortſchaften wanderten förmlich aus, indem ſie
beim Beginn der einigermaßen milden Jahreszeit mit Habe und Gut
in die höher gelegenen Alphütten flüchteten. Ingenieure, nament¬
lich der geniale Venetz, unterſuchten den Stand und riethen an:
eine große Rinne in den Eisdamm zu hauen, ſo weit er noch nicht
vom Waſſer beſpült ſei, ſo daß, wenn der See noch ſteigen würde,
er durch dieſe Rinne ſeinen allmähligen Abfluß finde; zugleich
[237]Der Gletſcher. glaubte man, daß das abfließende Waſſer die Oeffnung tiefer
ſchmelzen, alſo erweitern werde und dadurch nach und nach der
ganze See, ohne Schaden anzurichten, geleert werden könne. Aber
leider währten die Berathungen und gutachtlichen Berichte zu lange.
Man hatte zwar unter Venetz's Leitung einen 700 Fuß langen
Stollen ins Eis getrieben, der anfänglich ganz die erwarteten und
gewünſchten Dienſte leiſtete und einen weſentlichen Theil des Sees
ſchadlos ableitete. Aber die heiße Juniſonne und die Waſſerwärme
bohrten und fraßen ſo eindringlich an dem Eisdamme, daß derſelbe
am Nachmittage des 16. Juni 1818 nicht mehr widerſtehen konnte,
einbrach und nun eine Waſſermaſſe von 530 Millionen Kubikfuß
mit Einemmal, bei einer ſchier raſenden Geſchwindigkeit, durch das
ganze Thal herabfluthete. Was den unbändig einherjagenden, völ¬
lig entfeſſelten Wogen im Wege lag, wurde eine Beute derſelben;
ganze Dörfer ſchwemmte die reißende Fluth hinweg, zuſammen mehr
als fünfhundert Gebäude; Tannen, ſchlank und ſchaftmächtig wie die
Cedern des Libanon, kämpften in den Wellen mit hausgroßen Eis¬
blöcken, und im Grunde der tobenden Furie kanonirten mit dumpfem
Donner-Gebrüll die hinweggeriſſenen Felſen-Brocken. Schutt, Ge¬
röll und Unrath überdeckten das ganze Bagne- und Rhône-Thal
bis hinab an den Genfer-See. Trotzdem, daß durch Signale alle
Thalbewohner von dem gräßlichen Ereigniß eilends in Kenntniß
geſetzt und verwarnt wurden, büßten dennoch 34 Menſchen ihr Le¬
ben dabei ein. Den verurſachten Schaden ſchätzte man auf eine
Million alter Schweizerfranken. Mit dieſem entſetzlichen Vorfall
war aber das Uebel durchaus nicht gehoben; ſchon im nächſten
Jahre war der Gletſcher-Damm aufs Neue zu faſt gleicher Höhe an¬
gewachſen und drohte mit Wiederholung der Schreckens-Kataſtrophe.
Da leitete der Ingenieur Venetz Quellwaſſer mittelſt langer Holz¬
rinnen auf den Eisdamm und entfernte durch dieſes erwärmte Waſſer,
welches wie eine Säge einſchnitt, eine Parthie Eis nach der an¬
deren, ſo daß ohne allen Schaden die Gefahr abgewandt wurde.
[238]Der Gletſcher. Seitdem muß faſt regelmäßig jährlich die Operation wiederholt
werden.


Ein Seitenſtück zum Gietroz iſt der Biesgletſcher im vielbe¬
ſuchten Nicolaus-Thal (Kanton Wallis). Er hängt mit einer Nei¬
gung von etwa 45 Grad an der öſtlichen Abdachung des koloſſalen
Weißhornes und würde in ſeiner ganzen Mächtigkeit herabſtürzen,
wenn ihn nicht der Froſt an den Boden heftete. Daß die Laſt
aber zeitweiſe das Uebergewicht über dieſes Bindemittel gewinnt,
haben die entſetzlichen Gletſcher-Stürze der Jahre 1636, 1736, 1786
und ganz beſonders der vom 27. December 1819 bewieſen. Letz¬
terer zerſtörte lediglich durch den Luftdruck das jenſeit des Thales,
an den Abhängen des Grabenhornes, gelegene Aelpler-Dorf Ran¬
dah. Häuſer und Ställe wurden kopfüber weitweg zur Seite ge¬
ſchleudert, Mühlſteine fand man auf Kanonenſchuß-Weite von ihrem
ehemaligen Beſtimmungsorte, Dachbalken waren eine Viertelſtunde
höher hinauf in einen Wald geworfen worden, die Spitze des
Kirchthurmes ſtak verkehrt wie ein in den Boden getriebener Keil
in einer Wieſe, Vieh lag zerquetſcht mehrere Hundert Klaftern durch
die Luft getragen, weitumher und nahe an hundert Häuſer wurden
beſchädigt. Wunderbarer Weiſe verloren nur wenig Menſchen bei
dieſer Kataſtrophe das Leben. — Der Gletſcher hat ſeit dieſem
Radikal-Sturze wieder ſo an Maſſe gewonnen, daß ein ähnliches
Ereigniß in vielleicht nicht zu langer Zeit zu befürchten ſteht.

[[239]]

Alpenglühen.

Ein Feuermeer liegt an des Himmels Rande,
In das die Sonn' ihr breites Antlitz taucht:
Schon ſchweben Wölkchen auf aus jenem Brande,
Und glänzen hell, in gleiche Gluth getaucht;
Ihr letzter Blick hängt zitternd auf dem Lande,
Nach welchem ſie ein kühles Lüftchen haucht,
Und nur die Wölkchen ſind, als ſie verſunken
Dort ruht, von ihrer Roſengluth noch trunken.
L. Pyrker.

Es iſt erreicht, unſer faſt 8300 Fuß hohes Wanderziel, wir
ſtehen auf dem Gipfel des Faulhornes. Ein goldgelber, ſonnen¬
geſättigter Juli-Abend lagert rings auf dem Gebirge und die ganze
Natur ſcheint in wonniger Erholung tief aufzuathmen von dem
laſtenden Druck der Sonnenſchwüle. Ha! wie prächtig und kühn
ſie emporſtreben die rieſigen Firnzinken des Berner Oberlandes,
wie ſie hinaufragen in unbeſchreiblicher Klarheit zum „lichtdurch¬
drungenen Himmelsblau, das alle Welt mit lindem Arm umſchlingt,“
— drüben, die breite felſenzerfurchte Wetterhorn-Pyramide mit der
blanken Schneebruſt, die tieferliegenden, jähen Schreckhörner und
ihr ſtolzer, dominirender Nachbar, das einſame Finſteraarhorn,
an welches ſich die ganze Kette der Vieſcherhörner anlehnt; dann
geradeaus die gewaltige Felſenfront des Eiger und ihm über die
[240]Alpenglühen. Schultern ſehend die Schnee-Kapuze des Mönches; und nun im leuch¬
tenden Silbergewande die majeſtätiſche Jungfrau mit ihrem Tra¬
banten-Heer, weit hinein rechts, das ganze endloſe Zacken- und
Klippen-Gewirr der Gränz-Alpen gen Wallis! Alle Gruppen tre¬
ten beſtimmt, durch ſcharf gezeichnete Linien getrennt, aus dem Gan¬
zen hervor; mit einem großen, vollen Blick halten wir Heerſchau
über die Veteranen der Berner Alpen. Noch ſtrömt warmes Leben
durch das majeſtätiſche Rundbild. Nur drunten, wo die Hütten
von Grindelwald heimelig in den Keſſel gebettet liegen, iſt der
Abend eingezogen und hat ſeinen blauen Friedensſchleier über das
Lütſchinen-Thal geworfen.


Jetzt ein Blick mehr weſtlich. Der Beleuchtungs-Effekt wird
ſchwankend; der rein-blaue Aether verliert die Intenſität ſeiner
beſtimmten Färbung, welche die Konturen der Schneegipfel ſo ſcharf
und lineal-begränzt ablöſt, — er geht allmählig in ein indifferen¬
tes, zwiſchen bläulichen (alſo rein durchſichtigen) und gelblich-ange¬
hauchten Strahlenbrechungen ſchwankendes Luftfluidum über. Die¬
ſes aber reflektirt mittelbar wieder auf die unter ſolchem Horizont
liegenden Alpen der Wild- und Oldenhorn-Gruppe und auf die
Berge des Engſtligen- und Kien-Thales, ſo daß das Intereſſe für
dieſe Parthie ſehr geſchwächt wird. — Noch weiter rechts ſinkt das
Auge hinab auf die glitzernde Fläche des Thuner Sees, hinter dem
die Frutiger- und Simmenthaler Alpen mit dem geradlinigen, ſchö¬
nen Eckpfeiler des Nieſen aufſteigen. Immer mehr gehen die Maſſen
leicht verſchwimmend in einander über; warmer, leuchtender Abend¬
nebelrauch, hellokerfarbene Sonnendämpfe hüllen die Höhenzüge
ein, ſo daß die Umriſſe der einander vorliegenden Bergkouliſſen
kaum mehr zu unterſcheiden ſind. Je mehr und mehr der Blick
weiter ſchweift, deſto undeutlicher zerfließen alle landſchaftlichen Ge¬
bilde; ein glänzender, goldener Dunſt-Ocean hat Alles verſchlungen,
und ſonnentrunken badet das wellenförmige Mittelland und der
ferne Jura in ſeinen weichen Wellen.


[241]Alpenglühen.

Welcher Abſtand in der Farbenpracht, die ſo verſchwenderiſch
über Berg und Thal ausgegoſſen iſt! und doch haben wir erſt den
Halbkreis des großen, majeſtätiſchen Rundbildes durchwandert.
Denn in ähnlichem Maaße wie die Lichtanhäufung gegen die Stelle
hin wächſt, an welcher die Sonne binnen Kurzem niederſinken wird,
— in verwandter Weiſe ſtuft auch dieſelbe nach dem nördlichen
Horizonte hin ſich ab. Da liegt drunten in ſtiller Tiefe das ge¬
müthliche Brienz mit ſeinen kaffebraunen Holzhäuſern; flächenhafte
Schatten haben ſich breit in die See-Mulde hineingelagert und
beginnen leiſe und ſacht die Bergeshalden gegen uns heranzuklim¬
men. Den Thalbewohnern iſt das ſtrahlende Tagesgeſtirn ſchon
länger als eine Stunde entſchwunden. Feierliche Abendruhe wal¬
tet über ihren Hütten; nebelgraue Dünſte ſchleichen aus dem Tän¬
nicht hervor und umfangen wie ſanfte Schlummerlieder die däm¬
merigen Bergeshalden.


Da klingen wohlbekannte Töne aus der Tiefe zu uns herauf,
aber ſo fern und verſchmolzen, ſo geiſterhaft zart verhallend, wie
Harmonie der Sphären; es iſt der Alphornbläſer drunten an den
Giesbachfällen, der ſpät angelangten Gäſten ſein einſames Abendlied
ſchalmeit. Das Echo vom Brienzer Rothhorn trägts zu uns her¬
über. Lange lauſchen wir den melancholiſchen Tönen, die ſehnſucht¬
erweckend uns durch die Seele ziehen:


Ihr linder Athem ſchmiegt, gleich einem Traumgeſicht,

Sich um den äußern Saum der irdiſchen Geſtalten,

Und läßt den tiefern Reiz, den Glanz und Farbe nicht,

Nicht Duft und Blühn verleiht — und ihre Formen — walten.

Des Führers Mahnung unterbricht das ſinnende Schweigen,
das Alle gebannt hielt. Wir wenden uns und ſind überraſcht von
der Wandlung, welche am Rieſengebäude des Hochgebirges während
der kurzen Friſt unſerer Rundſchau vor ſich gegangen iſt. Die ſanft
anſteigende Halde der Wergiſthaler Alp, auf der wir geſtern bei
Berlepeſch, die Alpen. 16[242]Alpenglühen.unſerem Herabkommen von der Wengern-Scheidegg ein Blumen¬
meer feurigblühender Alpenroſen durchwanderten, und Itrammen-
Alp, die noch vor wenig Minuten in ſonnenheiterer Beleuchtung
dalagen, — ſie ruhen nun im blauen Schatten; der Eiger aber
und die Jungfrau und die ganze Bergkette erſcheinen roſig-ange¬
haucht in ihren Firn-Lagern und Gletſcher-Hängen, indeſſen das Ge¬
ſtein von Sekunde zu Sekunde immer dunkelrother ſich färbt. Es
iſt das Alpenglühen, das herrlich-erhabene Schauſpiel, welches be¬
ginnt. Ein ſtrahlenloſer, ſcharlach-feueriger Gluthball, ruht die Sonne
auf dem langgeſtreckten Rücken des Chaſſeral und färbt alle Gegen¬
ſtände, die noch im Bereich ihrer Beleuchtung liegen, mit tiefpur¬
purnen Tinten. Unſere Kleider, Wäſche, ja ſelbſt unſer Antlitz er¬
ſcheinen im brennenden Orange und die graue Leinwandblouſe un¬
ſeres Führers ſieht carminviolett aus. Mit Rieſenſchritten klimmen
jetzt die dunkelen Bergſchatten an den Alpen hinauf und paralyſi¬
ren alle Farben und Formen, die noch vor wenigen Augenblicken
die einzelnen Felsgebilde ſo draſtiſch-markirt hervortreten ließen;
aber im gleichen Maaße wächſt auch die Intenſität des Alpenglü¬
hens. Von Augenblick zu Augenblick ſteigert ſich das Feuer. Uns
entſchwindet jetzt im Weſten der, ſcheinbar zu rieſiger, bisher noch
nie geſehener Größe ausgedehnte, einer dunkelglimmenden Kohle
gleichende Sonnenball. Jetzt iſt es nur noch eine Halbkugel, die
mit breiter Baſis auf dem Jura ruht; nun nur noch ein flacher
Cirkelſchnitt, eine rundlich-gehobene Längenfläche, die hinter dem
zwanzig Stunden entfernten Bergwall hervorſchaut, — jetzt noch
eine ſchmale Linie, — ein Stern, — ein blitzender Punkt, — — fahr
wohl! Segensgeſtirn, große Freudenbotin der Welt! — Uns iſt
ſie entſchwunden! — Drüben aber an den Eiszinnen der höchſten
Alpen hat ſie noch ihre Fanale angezündet, die wie rothflüſſiges
Metall emporlohen. Es iſt ein Flammen-Dithyrambus, welchen
die Natur im Abſchiede von ihrer Lebensfreundin noch jubelnd
durch die anbrechende Nacht hinausjauchzt.


[243]Alpenglühen.
Ha! ſieh' der Alpen Haupt umſchlungen,
Vom Flammenkranz und gluthumrollt,
Als ob zu ſparen ihr gelungen
Ein Theil von ihrem Tagesgold!
Als ob tagüber ſie gefangen
Zum Kranz die Roſen all' im Thal;
Als ob bei Tag Dir von den Wangen,
Du Volk des Thals, das Roth ſie ſtahl!
 
Anaſt. Grün.

Es iſt kein alltägliches Phänomen, das wir hier anſtaunen;
es giebt Jahre, in denen das volle, wirkliche Alpenglühen zu den
Seltenheiten gehört. Woher der tiefe brennende Gluthton, der die¬
ſem prachtvollen Naturſchauſpiele den bezeichnenden Namen gegeben
hat? Andere Gegenſtände im Scheine der dunkelroth untergehen¬
den Sonne reflektiren auch, je nach der Receptionsfähigkeit ihres
urſprünglichen Farbentones, im bedeutend erhöhten, erwärmten Lichte,
— aber ſie erreichen nicht jenes intenſive, tranſparent-heiße
Incarnat wie die beſchneiten Gipfel der Hochalpen an einem, durch
das Zuſammenwirken verſchiedener Umſtände günſtig disponir¬
ten Abende. Es mögen folgende drei weſentliche Faktoren ſein,
welche das Alpenglühen herbeiführen: die Natur und Dichtigkeit
der Körper, welche die Strahlen der Sonne einſaugen und wieder¬
geben; — die Höhe und Lage der beſchienenen Gipfel, und der
auffallende, bedeutende Abſtand der Färbung zwiſchen der Dämme¬
rung in den Tiefen und der grellen Beleuchtung jener Kulmen.


Der Firn iſt eine, an der Oberfläche halbdurchſichtige Maſſe
zahlloſer Legionen kleiner, ſelbſtſtändiger Kryſtallkörperchen, deren
minutiöſe, dem unbewaffneten Auge kaum erkennbare, glatte Spie¬
gelflächen die Feuerſtrahlen der Sonne aufnehmen und in allen
Brechungslinien untereinander zurückwerfen. Dieſer Reflexions-
Reichthum iſt ſo groß, daß manche der kleinen Spiegelkryſtalle,
welche durch ein hervorſtehendes, winziges Schneekörnchen beſchat¬
tet werden, alſo nicht unmittelbar den Einwirkungen der Sonnen¬
ſtrahlen blosgegeben ſind, ihren Glanz erſt aus zweiter Hand, durch
die Ausſtrahlung eines anderen, nachbarlichen kleinen Eisſpiegels
16*[244]Alpenglühen. empfangen. So durchdringt die abendliche Sonnengluth die halbdurch¬
ſichtige Oberfläche der Firnmaſſe und ſammelt dadurch eine Strahlen-
Anhäufung, eine entwickelte Lichtmenge, wie ſie in keinem anderen
Gegenſtande, das durchſichtige Waſſer und die zu Wolken verdich¬
teten Dünſte ausgenommen, ſich konzentriren kann. Wie außeror¬
dentlich die Reflexionsfähigkeit der Eisnädelchen iſt, aus denen der
Schnee beſteht, können wir an kalten Sonnenſcheintagen im Win¬
ter wahrnehmen, wenn der Wind lockeren Schneeſtaub aufjagt und
dieſer wie Diamanten funkelnd in der Luft umherirrt.


Der zweite, mächtigere, das Alpenglühen ganz beſonders be¬
fördernde Umſtand iſt in der hohen Lage der Schneegipfel zu der
tiefen Sonnenſtellung zu ſuchen. Jener meteorologiſche Proceß, wel¬
cher die Abendröthe in der Atmoſphäre veranlaßt, giebt auch den
Firnen ihre Gluth. Wenn wir auf hohem Berge ſtehen, ſo ſehen
wir die Sonne als ſtrahlenloſe, hochrothe Kugel hinabſinken, wäh¬
rend ſie den Bewohnern der Ebene nur tiefgelb, aber in voller
ſtrahlenſchießender Glorie entſchwindet. Die Urſache dieſer ſchein¬
baren Farbenveränderung rührt von den, in den unterſten Schichten
der Atmoſphäre, bei der raſchen, abendlichen Abkühlung in verdich¬
teten Zuſtand übergehenden Dünſten her, welche, wie alle Waſſer¬
dämpfe, nach den Erfahrungen der Optik vorzugsweiſe die rothe
Seite des Spektrums durchlaſſen. Je länger nun die Linie iſt,
welche der Sonnenſtrahl durch die, mit kondenſirten Waſſergaſen
gefüllte Atmoſphäre zu machen hat, deſto intenſiver erſcheint auch
die rothe Färbung, — alſo, je höher der Punkt liegt, welcher von
der untergehenden Sonne beleuchtet wird, deſto kräftiger und
feuriger wird auch ſeine Abendbeleuchtung bei wolkenfreiem Him¬
mel ſein. Aber dieſe beiden Momente würden dennoch den maje¬
ſtätiſchen Lichteffekt des Alpenglühens nicht in dem erhöhten Maaße
erreichen, wenn nicht noch eine dritte, okulartäuſchende Helfershel¬
ferin dabei mitwirkte, nämlich die auffallende Farbendifferenz zwi¬
ſchen der im Blaudunkel des Erdſchattens bereits verſenkten Tiefe
[245]Alpenglühen. der Thalgelände und jener gluthdurchdrungenen Färbung der Firn¬
felder. Gerade eben aus dem Gegenſatze von greller Beleuchtung
und Licht-Armuth reſultiren die brillanteſten Farbenſpiele. Ein
Feuerwerk bei Tage abgebrannt, iſt todt, glanzlos, weil Licht auf
Licht ſich ebenſowenig abhebt wie Weiß von Weiß oder Schwarz
von Schwarz; erſt der dunkele Hintergrund der Nacht giebt den
Raketen ihre funkelnde Pracht.


Die Gluth, welche die Alpenſpitzen umwogte, iſt verſchwunden;
kalte, fahle Leichenbläſſe überzieht das ganze weite Schneegebirge;


Und wo noch kaum in Flammen ein Sonnentempel ſtand,

Da lagert nun ein Kirchhof, umringt von ſchwarzer Wand.

Es iſt ein fröſtelnder, unheimlicher Anblick. Der Uebergang
ans dem vollen, reichprangenden Schmucke feuriger Beleuchtung
und ſcharfer Zeichnung in dieſe eiſige, öde, bläulich-graue Unge¬
wißheit iſt allzujäh und zu unvermittelt; ein leibhaftiges Bild des
Todes. Aber es währt nicht lange, ſo kehrt nochmals einiges Le¬
ben wieder in die Färbung zurück. Denn blicken wir nach der
Stelle des Sonnen-Unterganges:


O Zauber über Zauber! am Himmel aufgethan
Vom Abend bis zum Morgen ein brennend rother Plan.
Jetzt auf- und nieder- wogend, jetzt fließend ſpiegelglatt
Und durch und durch von goldnen und Purpurfarben ſatt
Seeger.

Das endloſe Feld der feurigſten Abendröthe ſtammt empor
und ſtrahlt einen leichten, warmen Ton über die Gletſcher und
Schneewüſten aus. Noch einmal überzieht ſie ein leichter roſen¬
farbener Anflug; aber er iſt matt, matt wie das letzte, allerletzte
Lächeln eines geliebten Sterbenden.


In tiefen Frieden verſenkt, beginnt nun das große majeſtä¬
tiſche Alpenreich den einlullenden Träumen von des Tages Won¬
nenrauſch ſich zu überlaſſen. All das ſummende, ſurrende kleine
Leben in den Lüften iſt erſtorben; die trotzigen, plump-anrennen¬
den Käfer und das leicht-beſchwingte, gaukelnde Völklein der Fal¬
ter, die Legionen der unverſchämt-zudringlichen, paraſitiſch-läſtigen
[246]Alpenglühen. Fliegen und Alles, was ſommerfroh im Aether des Tages ſich
wiegt, — Alle haben ihre ſtille, heimliche Schlafſtätte geſucht un¬
ter den Blumenglocken und Blattdächern oder in den Riſſen der
Baumborke und des zerſpaltenen Felſengeſteines, Die Nachtfalter
erwachen nun aus ihren lichtſcheuen Tagträumen und zählen takti¬
rend mit den befiederten Fühlfäden die Sekunden ab, bis ſie ihren
ſchwerfällig-flatternden Flug beginnen; Eulen und Fledermäuſe
machen ihre luftigen Runden, und wo das Thierleben in der Nacht
untergegangen zu ſein ſcheint, da tritt das Leben der Pflanze üppi¬
ger und duftiger hervor.


Auf unſerem Berggipfel aber weht ein ſchneidend-kalter Wind.
Wir flüchten in Peter Bohrens gaſtliches Faulhornhaus zum warmen
Ofen, zur dampfenden Suppe, denn draußen iſt es völlig Nacht
geworden und das majeſtätiſche Sternenzelt prangt im unendlichen
Univerſum, ein ewiger Hymnus dem allgewaltigen Schöpfer.


[[247]]
Figure 6. Eine Alpenſpitze.

Druck von F. A. Brockhaus in Leipzig.

[][]

Alpenſpitzen.

Hart iſt die Schule der Höhen, wie jene ſpartaniſche Mutter:
„Kehrt nicht als Sieger der Sohn, kehr' er mir nimmer zurück!“
Doch nur feſter ihr an, nur inniger ſchmiegt ſich der Zögling,
Und mit unendlichem Weh' engt ihm die Ebne die Bruſt.
Rotter.

Ganz anderer Natur als jene harmloſen, eine edle Neugierde
befriedigenden Rigi-Promenaden und Faulhorn-Viſiten ſind die
Erſteigungen hoher, firnumlagerter, ſchwer-erklimmbarer und darum
ſelten betretener Alpenſpitzen. Dieſe gehören den Auserkohrenen
der emporſteigenden Wanderwelt. Nur Wiſſens-Durſt und ritter¬
licher Forſcherdrang, der „heilige Trieb, im Dienſte der ewigen
Wiſſenſchaft dem Bau und Leben der Erde, dem geheimnißvollen
Zuſammenhange alles Geſchaffenen nachzuſpüren,“ wie er einen
Forſter, Alexander von Humboldt und Bonpland, einen Clapper¬
ton, Barth, Vogel und Livingſtone, einen Franklin, Roſſ, Johann
von Tſchudi, Burne, Gebrüder Schlagintweit und andere Helden
der Polar- und Aequatorial-Expeditionen begeiſterte — oder wie
er die kühnen de Sauſſure, Hegetſchwyler, Eſcher, Hugi, Forbes,
Agaſſiz, Deſor u. A. auf jene von Eis ſtarrenden, faſt alles
[248]Alpenſpitzen. organiſchen Lebens baaren Gebirgszinnen trieb, — oder endlich die
männliche, freie, helle Luſt an dem überwältigenden Reize, den das
Außerordentliche, Wild-Erhabene bietet, — können zu ſolchen ge¬
fahrvollen Unternehmungen anregen. Es ſind Thaten, zu denen
muthiger Entſchluß und feſter Wille, große körperliche Kraft und
nachhaltige Ausdauer gehören, — die ohne Abhärtung und fröhliche
Entſagung liebgewordener Gewohnheiten nicht auszuführen ſind.
Es ſind aber auch Thaten, die ſowohl intellektuell wie materiell mit
Sorgfalt vorbereitet ſein wollen. Ohne ſelbſtbewußten Zweck, ohne
leitenden Gedanken, ohne entſprechende Vorſtudien und wiſſen¬
ſchaftliche Unterlage verflachen ſolche Expeditionen zu müßigen,
werth- und reſultatloſen Waghalſereien, die lediglich auf den mageren
Ruhm Anſpruch machen dürfen: „da droben geweſen zu ſein.“
Was K. Müller im Vorwort zu ſeinen „Anſichten aus den deut¬
ſchen Alpen“ über das Reiſen im Allgemeinen ſo treffend ſagt:
daß erſt die Kenntniß der Natur und ihrer ſich uns offenbarenden
Geheimniſſe den ächten, vollen Genuß beim Reiſen gewähre, daß
jährlich Tauſende aus den Alpen zurückkehren, ohne die Alpen ken¬
nen gelernt zu haben, weil ihnen die Einſicht zu den Ausſichten
mangele, — das gilt in erhöhtem Maaße ganz beſonders auch von
Solchen, die Mittel und Zeit, Mühe und Leben daran ſetzen, um
von ihrer Montblanc-Erſteigung prahlend erzählen zu können.


Und endlich will eine Bergbeſteigung dieſer Art, die ihr Wan¬
derziel in den Regionen über zehntauſend Fuß ſucht, mit großer
Sorgfalt und gründlicher Sachkenntniß ausgerüſtet ſein. In jene
vegetations-entblößten, todten, ſtarren Eiſesfelder, wo meilenweit
keine menſchliche Hilfe, kein ſchützendes Obdach zu erblicken iſt, wo
kein gaſtfreundlicher „Willkommen“ dem erſchöpften Wanderer ent¬
gegentönt, in jene ſchauerlich-erhabenen Einöden muß Alles, was
zu des Lebens dringendſtem Bedarf gehört, an Speiſe und Trank,
Holz und Decken, mit emporgetragen werden. Um Abgründe über¬
ſchreiten, Jähwände erklimmen, in glatte Eisdächer Stufen hauen
[249]Alpenſpitzen. und ſchlüpfrige Firnfelder möglichſt ungefährdet durchwandern zu
können, bedarf es Leitern und Stricke, Beile und Fußeiſen, deren
Transport neben Kompas und Fernrohr, Thermometer und Ba¬
rometer, Karten-, Zeichen- und Koch-Apparat den Aufmarſch we¬
ſentlich behindern. — Beſteigt ein einzelner Reiſender den Mont¬
blanc, wozu drei Tage Zeit gehören, ſo bedarf er nach dem obrig¬
keitlichen Reglement vier Führer, deren jeder 120 Francs Lohn
und nach beendeter Tour noch einen Napoleon Trinkgeld bekommt,
und um für die Bedürfniſſe dieſer fünf Perſonen zu ſorgen, ſind wie¬
derum fünf Träger nöthig, deren jeder 50 bis 60 Francs für den
ganzen Weg bekommt, ſo daß die Koſten zwiſchen 900 und 1000
Francs zu ſtehen kommen.


Führer giebts in den Alpen wie Sand am Meer, aber nur
ſehr wenige, die für centrale Expeditionen das erforderliche Zeug
haben. Hier genügen Körperkräfte und genaue Lokalkenntniß nicht
allein; hier müſſen Muth, Umblick, entſchiedene Beſonnenheit und
vor allen Dingen Geiſtesgegenwart den übrigen obligatoriſchen
Führer-Eigenſchaften beigeſellt ſein. Wehe dem, der, des Gebirges
unkundig, an Schwindler geräth, die in der Höhe keinen Beſcheid
wiſſen; er iſt ſo gut wie verlaſſen. Aber es giebt auch Führer,
ihres Gewerbes Gemsjäger und Wildheuer, die durch lange Praxis
ihren Ortsſinn ſo wunderbar ausgebildet haben, daß ſie an Alpen¬
ſtöcken fremder Gegenden, die nie zuvor ihr Fuß betrat, dennoch
mit ſpähendem Scharfblick den Weg durch Felſenlabyrinthe und
Eiswüſten herauszufinden wiſſen, der zum Ziele führt. Solch ein
mit ſeltenem Orientirungstalent begabter Führer war Maduz von
Matt im Glarner Kleinthal (eigentlich ein Schwabe), der bei offenem
warmen Sinn für Naturſchönheiten, außerordentlich beſorgt um
ſeine Klienten war und allenthalben Rath wußte. Als die Herren G.
Studer von Bern und M. Ulrich von Zürich zum Erſtenmal den
Monte Leone im Wallis, und Herr Prof. Oswald Heer von Zürich
(bekannter Botaniker und Entomolog) zum Erſtenmal den Piz Linard
[250]Alpenſpitzen. im Unter-Engadin beſtiegen, nahmen ſie den Maduz, der nie zuvor
dort geweſen war, mit, — und er führte ſie ſicher und wohlbe¬
halten hinauf. Ein anderer Führer, der als vieljähriger Begleiter
Hugi's und Agaſſiz's mit dieſen die Wagfahrten aufs Finſteraar¬
horn, auf die Jungfrau, Schreckhörner und andere Alpenſpitzen erſten
Ranges machte und die ganze Expedition ſtets leitete, war der
muthige Jacob Leuthold von Im-Boden (Haslithal). Von Bei¬
den wird auf folgenden Blättern mehr die Rede ſein.


Am Früheſten unter allen wurde der höchſte Gipfel Europas,
der Montblanc (14800 Fuß), im Jahre 1786 von Dr. Paccard
aus Genf unter Leitung des Jacob Balmat von Chamouny er¬
ſtiegen; ihm folgte am 1. u. 2. Auguſt des nächſten Jahres de
Sauſſure in Begleitung von 18 Führern und Trägern. Seit jener
Zeit wurde er öfter mit und ohne Erfolg das Ziel kühner Männer,
und gegenwärtig vergeht faſt kein Sommer, in welchem nicht Fremde,
namentlich Engländer, ihn in Angriff nehmen. — Viel ſpäter
wurden die erſten Verſuche zur Erklimmung der bedeutendſten
Höhenpunkte in den deutſchen Alpen gewagt; zuerſt die des Ortles-
Spitz auf Veranlaſſung des Erzherzogs Johann von Oeſterreich
durch den Bergofficier Gebhard und den Paſſeyer Jäger Joſeph
Pichler im September 1804 u. 1805. Dann die der Jungfrau
(12827 Fuß) durch die Gebrüder Meier von Aarau am 3. Aug. 1811
und am 3. Sept. 1812, denen eine dritte Ascenſion am 10. Sept. 1828
von 6 Grindelwaldnern, eine vierte am 28. Auguſt 1841 von den
Profeſſoren Agaſſiz, Forbes, Deſor und Duchâtelier, und endlich eine
fünfte am 14. Auguſt 1842 von Herrn Gottlieb Studer von Bern
folgten. Seitdem iſt ſie zu wiſſenſchaftlichen Zwecken nie mehr be¬
ſucht worden. — In die gleiche Zeit der erſten Jungfrau-Expedition
fällt auch der erſte, durch die Herren Meier unternommene, aber mi߬
glückte Verſuch der Erſteigung des Finſteraarhornes (des höchſten
Gipfels in den Berner Alpen, 13160 Fuß), welcher ſpäter der Natur¬
forſcher Hugi von Solothurn in den Jahren 1828 u. 1829 wie¬
[251]Alpenſpitzen. derum große Opfer brachte; nur zwei ſeiner Führer erreichten die
eigentliche äußerſte Spitze bei der dritten Erſteigung. Erſt im
Auguſt und am 6. Septbr. 1842 gelang es Herrn Sulger aus Baſel,
zweimal die Kuppe zu erklimmen und droben eine Fahne aufzu¬
pflanzen. Seitdem iſt dieſer Punkt nie mehr überwunden worden.
Die Schreckhörner (12568 Fuß) ſind ſo unzugänglich, daß die höchſte
Zacke derſelben bis jetzt wohl noch nie betreten wurde; am 8. Aug.
1842 verſuchten die Naturforſcher Eſcher von der Linth, Girard
und Deſor ihr Glück, erreichten aber nur die Spitze des großen
Lauteraarhornes
. Die angeblich dem Engländer Euſtace An¬
derſon am 6. Aug. 1857 gelungene Ascenſion wird allgemein be¬
zweifelt, weil durchaus keine Beweismittel für dieſelbe erſtellt
werden konnten. — Das Wetterhorn oder die Hasli-Jungfrau (11412
Fuß) galt lange für unerſteigbar; am 28. Aug. 1844 betraten die
Naturforſcher Deſor, Dollfuß u. A. zuerſt den ſüdlichſten Gipfel,
das Roſenhorn genannt, und zwei Tage ſpäter ſollen die beiden
Führer Bannholzer und Jaun auch die höchſte Spitze erklommen
haben. Seit 1845, wo die Herren Fankhauſer und Dr. Roth von Bern
am 9. Juli das Mittelhorn dieſes Stockes erreichten, iſt derſelbe
nie mehr beſucht worden. Alle anderen Erſteigungen bedeutender
Centralknoten-Spitzen des Alpengebäudes fallen in die jüngſte Zeit.

Dem Monte Roſa wurde ſchon ziemlich frühzeitig von den
Herren Vincent 1819, Zumſtein 1820 u. 1822, Freiherrn Ludwig
von Welden 1822, Aufmerkſamkeit geſchenkt; aber keiner derſelben
erreichte das Gornerhorn oder die höchſte Spitze, ſondern nur
die, jetzt allgemein nach ihnen benannten, niedrigeren Höhepunkte
dieſes neun-gipfeligen Koloſſes: Vincentpyramide, Zumſteinſpitz
(14064 Fuß) und Ludwigshöhe (13350 Fuß). Erſt nachdem die
Profeſſoren Ordinaire u. Puiſeux 1847, die Herren Prof. Melch.
Ulrich v. Zürich u. Gottl. Studer von Bern 1848 u. 1849 und die
Gebrüder Schlagintweit 1851 u. 1852 vergebliche Anſtrengungen
gemacht hatten, das Gornerhorn zu erklettern, gelang es 1855 den
[252]Alpenſpitzen. Herren Smith aus Great-Yarmouth, die höchſte Spitze zu ge¬
winnen. Wir kommen im Verlaufe unſerer weiteren Erzählung
nochmals darauf zurück, Aehnlich gings mit dem Tödi im Glarner
Lande und vielen Anderen. Treten wir auf die Beſchreibung des
Verlaufes und der Schwierigkeiten einer ſolchen Expedition etwas
näher ein.


Zu den putzigſten, von der Nothwendigkeit diktirten Inter¬
mezzos bei großen Gletſcher-Expeditionen gehören die zum Zweck
des Uebernachtens improviſirten Lagerhütten. Natürlich werden
ſolche blos dann nöthig, wenn die Erſteigung eines Berges mehr
als den Zeitraum eines Tages beanſprucht, wie dies z. B. beim
Montblanc, Finſteraarhorn und bei der Jungfrau der Fall iſt, —
oder wenn längerer Aufenthalt in den hohen Firn- und Gletſcher-
Revieren, behufs wiſſenſchaftlicher Forſchungen, Temperatur-Be¬
obachtungen und Gletſcher-Studien nöthig wird. Dann iſts entweder
nur ein niſchenähnlich-gewölbter, überhängender Felſen am Rande
der Schnee- und Eis-Anhäufungen, oder eine Höhle, die, gegen die
Wetterſeite ſchützend, als Bivouac-Local dienen müſſen — wie
ſolche z. B. der Ruſſe du Hamel im Auguſt 1820 auf dem Grand
Mulet 9000 Fuß üb. d. M. bei der Montblanc-Beſteigung, — oder
der engliſche Naturforſcher Forbes 1842 in der Tiefe des Mer
de Glace
unter dem Tacul (Montblanc-Gruppe) beinahe 7000 Fuß
üb. d. M. und im gleichen Jahre der famoſe Gebirgs-Gänger und
begeiſterte Alpenfreund, Herr Gottlieb Studer (von Bern) am
Fuße des Wannehornes nächſt dem Aletſch-Gletſcher (ca. 8000
Fuß üb. d. M.) bei ſeiner Jungfrau-Beſteigung bezogen; — oder es
findet der Aufbau einer wirklichen Hütte aus Trümmer-Geſtein auf
dem wandernden Fundament einer Moräne, wenn nicht gar auf
dem feſtgefrorenen Firn ſelbſt, ſtatt. Solche Baracken, die in ihrer
naiven Architektur an die urthümlichſten Bauverſuche unciviliſirter
Völker erinnern, und gegen welche die armſeligſten Sennhütten
in der Regel noch komfortable Wohnungen ſind, ließen z. B.
[253]Alpenſpitzen. de Sauſſure auf dem Col de Geant in einer Höhe von ca. 10000
Fuß, — Hugi beim Verſuche der Jungfrau-Erſteigung im Roth¬
thal, ferner auf dem Unteraargletſcher, auf dem Loetſchen-Gletſcher
und am Fuße des Finſteraarhornes (1829) errichten. Die Form
u. Konſtruktion derſelben iſt vorſündfluthlich-einfach. Gewöhnlich
werden auf den, am Boden gezeichneten Linien eines länglichen
Quadrates aus übereinander gelegten Glimmer- und Gneis-Scher¬
ben vier Seitenwände, einige Fuß hoch errichtet und die Fugen
mit Raſenſchollen (wenn und wo es deren nämlich noch giebt)
oder vom Geſtein abgelöſten Mooslappen ausgeſtopft. Ein an
der Frontſeite ausgeſpartes Loch dient als Portal des Gebäudes.
Ueber dieſen naiven Pferch werden dann in angemeſſenen Inter¬
vallen die 5 bis 6 Fuß langen Alpenſtöcke horizontal als Dach¬
gebälk gelegt, und eine lange, darüber ausgebreitete, durch be¬
ſchwerende Steine feſtgehaltene, wollene Decke vollendet den Bau.


Europäiſche Berühmtheit erlangte die, für die Profeſſoren
Agaſſiz, Carl Vogt, E. Deſſor, Nicolet, H. Coulon und F. Pour¬
talès, beim Abſchwung auf dem Aargletſcher (5 Stunden vom
Grimſelhospiz) 1840 erbaute, ſpäter reſtaurirte Cabane, welche dieſe
Naturforſcher in ihrem köſtlichen Humor „Hôtel des Neuchâtelois“
tauften, mehrere Sommer hindurch wochenlang bewohnten und
vielfache Beſuche von Reiſenden daſelbſt empfingen. Auch die Pro¬
feſſoren Forbes von Edinburg und Heath von Cambridge verweil¬
ten 1841 etwa 3 Wochen in derſelben. Deſor entwirft launige
Bilder von dieſem Aufenthalte. Zu unterſt war der Eisboden des
Gletſchers mit Schieferplatten ausgelegt, über denen eine dicke Lage
von dürrem Wildheu und eine gegen Feuchtigkeit ſchützende große
Wachsleinwand-Plane ſich ausbreiteten. Das war die gemeinſchaft¬
liche Matratze des Schlafkabinets für die 6 Naturforſcher. Sau¬
bere Betttücher und wollene Decken ergänzten das Arrangement,
wodurch daſſelbe ein bäuriſch-wohlbäbiges Anſehen bekam. Vor
dem Schlafzimmer waren Küche und Speiſezimmer etablirt, eben¬
[254]Alpenſpitzen. falls unter dem Dache des großen ſchwärzlichen Glimmerſchiefer-
Felſenblockes, welcher das ganze Gebäude ſchützte. Ein Tuch, quer¬
über an einen befeſtigten Stab gehängt, diente ſtatt Vorhang und
Thür. Unter einem anderen benachbarten Blocke war das Maga¬
zin für Lebensmittel und der Keller angelegt. Nahte nun die Mit¬
tagszeit heran, ſo verſammelten ſich die hungernden Gelehrten, und
obgleich die Normal-Speiſen, Reis und Schaaffleiſch, nur wenig ab¬
wechſelten, welche einer der Führer kochte, ſo geſtanden doch Alle,
daß ein Mittagseſſen in freier Luft an der großen Gneistafel vor
dem eben beſchriebenen Gletſcher-Hôtel eine Delikateſſe zu nennen
ſei. Die Taſſe Kaffee und Cigarre nach dem Eſſen in unmittel¬
barem vis-a-vis der Schreckhörner und des Finſteraarhornes erhöh¬
ten den Genuß der lebhaften Diskuſſionen. Eine Stunde ſpäter
ging Jeder wieder ſeinen Forſchungen nach. — Die Abende waren
kurz; — man ging, wie die Hühner, mit der Sonne ſchlafen, un¬
mittelbar nach dem Nachteſſen, weil die Temperatur meiſt raſch un¬
ter den Gefrierpunkt fiel. Alle die zahlreichen, am Tage über die
Gletſcher laufenden Bächlein verſchwanden, eins nach dem anderen,
das Geräuſch der durch dieſe gebildeten Waſſerfälle verſtummte all¬
mählig, und völlig lautloſes, tiefes Schweigen ſenkte mit der Nacht
ſich auf die weite, todte Eisfläche. Demungeachtet litten die küh¬
nen Gletſcher-Männer durchaus nicht an Froſt; die in den Grau¬
bündner und beſonders in den Walliſer Alpen als Deckbetten ge¬
bräuchlichen Schaafpelz-Decken veranlaſſen eine ſolche Wärme-An¬
häufung, daß das Verbleiben unter denſelben, trotz der draußen
herrſchenden Kälte, mitunter faſt unerträglich wird. Dieſe wahrhaft
„goldenen Vließe“ für jeden Hochgebirgswanderer bilden darum
auch eines der vornehmſten Requiſiten in der ambulanten Bagage
einer Gletſcher-Expedition.


Das Beſteigen außerordentlicher Gipfelpunkte der Alpen würde
für den ſchwindelfreien, muskelkräftigen Mann keine ſo beſonders
rühmens- und redenswerthe Aufgabe ſein, wenn einigermaßen Kon¬
[255]Alpenſpitzen. tinuität in den zu überwindenden Parthieen herrſchte, d. h. wenn
die Gletſcher und ihre Spalten, der Firn und ſeine Schründe, der
Hochſchnee in ſeiner Mächtigkeit und Konſiſtenz jahrein, jahraus
ſich gleich blieben und tüchtige, lokalkundige Führer daher mit Zu¬
verſicht voraus wüßten, welche Hilfs- und Transport-Mittel man
gebrauche, welcher Weg der beſte, wann die größte Kraftanſtren¬
gung von Nöthen und wo die drohendſte Gefahr zu beſtehen ſei.
Aber erfahrungsgemäß iſt die Metamorphoſe des Terrains nirgends
einer ſo ewigen Wandelung und Transfiguration unterworfen als
in den hohen und höchſten Alpenregionen. Wo heuer Mulden und
tiefe Schneebecken ſich zeigen, thürmen vielleicht im nächſten Jahre
Schnee-Hügel und Weheten ſich auf; wo in dieſem Sommer Wege
über Firnhalden gemächlich und leicht zu überwinden ſtetig anſteigen,
ragen im kommenden, wenn er ſchneearm und andauernd heiß iſt,
Felſenriffe und Geſteins-Grathe hervor, die geeignet ſind, den tüch¬
tigſten Führer völlig zu desorientiren. Solcher Ungewißheiten hal¬
ber, muß eine Expedition (abgeſehen von den Eventualitäten plötz¬
lich umſchlagender Witterung) immer auf das Schlimmſte gefaßt
und vorbereitet ſein.


Umſichtige Berggänger haben den Fundamental-Grundſatz: ſo
lange als irgend möglich auf dem „Aberen“, d. h. auf dem von
Schnee und Eis befreiten Raſen oder Felſen zu bleiben, weil hier
in der Regel der Tritt ſicherer, das Klettern minder mühſam, über¬
haupt das Fortkommen raſcher möglich, ausgiebiger iſt als auf dem
trügeriſchen, dem Menſchen fremden und feindlichen Element des
Firnes und Gletſchers. Es iſt ungefähr der gleiche Gegenſatz wie
zwiſchen der Fahrt auf feſtem Lande und jener auf dem Waſſer.
Einzig, bei faulem, bröckelichem Geſtein und jähen Schutthalden
und beim Hinabſteigen, wo man gewöhnlich die direkteſten Linien
wählt, zieht man den Marſch auf dem Schnee vor.


Die erſten bedeutenden Hinderniſſe im raſchen und direkten
Aufſteigen veranlaſſen gewöhnlich die Gletſcherſpalten. Es
[256]Alpenſpitzen. gieb wohl kaum eine namhafte bedeutende Alpenſpitze, deren Ba¬
ſis nicht von einem Eisſtrom umſchlungen iſt oder an deren Flan¬
ken nicht ein ſolcher mehr oder minder ausgebildet herabgleitet. —
Das Umgehen der Spalten iſt, wo man den Gletſcher überſehen
kann, eine zwar langweilige, aber in der Regel gefahrloſe Aufgabe.
Indeſſen giebt es auch ungleiche, gewiſſermaßen gehügelte Gletſcher,
wie z. B. ob dem Glacier de la Vanoise (zwiſchen Mont Cenis
und dem Iſèrethal), auf denen man durchaus keine beſtimmten Di¬
rektionslinien einhalten kann. Die Verirrung auf einem ſolchen
querſpaltenreichen Gletſcherfelde kann unter Umſtänden in die ge¬
fährlichſten Situationen führen, weil bei der faſt abſoluten Aehn¬
lichkeit der Spalten untereinander das Erkennen einer zweckdien¬
lichen Avancir-Linie ebenſo ſchwer iſt als das Wiederherausfinden
des Rückweges. Ueberfällt Unkundige in ſolch einem Labyrinth der
Nebel, dann dürfen ſie von großem Glück ſagen, wenn ſie ſich her¬
ausfinden.


Höchſt wahrſcheinlich ſind die Ende Auguſt 1849 myſteriös
auf dem Griesgletſcher (Paß aus Ober-Wallis nach dem Val
Formazza) verſchwundenen Reiſenden (Gebrüder Leonard aus Paris
und Dr. Wolfrath aus Frankfurt), — von denen man eine Zeit¬
lang fabelte, der ehemalige Grimſelwirth Peter Zybach habe ſie berau¬
ben und ermorden laſſen, — einem ſolchen Umſtande erlegen. Je
ſpäter im Sommer man die Gletſcher-Region betritt, um ſo zer¬
klüfteter wird man dieſelbe antreffen.


Nicht minder gefährlich als die Gletſcherſpalten ſind die un¬
kennbar dieſelben überwölbenden ſ. g. Schneebrücken. Sie ent¬
ſtehen bei andauerndem Schneefall durch die gleiche wunderbare
Aggregation einzelner Flocken und Eiskryſtällchen, welche auch im
Tieflande den Gartengeländern oder einzeln ſtehenden Pfählen und
Pfoſten ſchiefe überhängende Schneehauben aufſetzt oder im Ge¬
birge die lauinen-veranlaſſenden Schneeſchilder formt. Wenn der
ganze Gletſcher von neugefallenem Schnee bedeckt iſt, ſo ſind ſolche
[257]Alpenſpitzen. Schneebrücken platterdings nicht zu erkennen. Hat es auf die
Schneebrücken inzwiſchen wieder geregnet oder hat die Sonne die
obere Schicht erweicht, daß dieſe einſinkend ſich verdichtet und
dann wieder friert, ſo kann man ohne alle Gefahr darüber hinweg¬
gehen; eine Fuß dicke Schneebrücke, wenn ſie keine allzubreite Span¬
nung hat, trägt ihren Mann. Um jedoch dem bei Gletſchertouren
ſehr oft vorkommenden Einbrechen zu begegnen, knüpfen ſich Führer
und Geführte in Entfernung von etwa 4 Schritten an ein langes,
um den Leib geſchlungenes Seil, damit, wenn Einer derſelben
einſinken ſollte, die Uebrigen ihn leicht hervorziehen können. Das Unter¬
laſſen dieſer Vorſichtsmaßregel hat ſchon viel traurige Fälle zur
Folge gehabt. Im Jahre 1821 ſtürzte auf der Höhe des Grindel¬
waldgletſchers der junge, waatländiſche Pfarrer Meuron in eine
121 Fuß tiefe Spalte und wurde erſt ſpät, nach Ableitung des unterm
Gletſcher fließenden Baches, todt heraufgezogen und auf dem Grindel¬
walder Friedhofe zur Ruhe beſtattet. Sein jüngſtes Opfer ver¬
ſchlang der gleiche Gletſcher am 10. Juni 1860. — Ebenſo kamen
Dr. Bürſtenbinder aus Berlin auf dem Oezthal-Gletſcher in Tyrol
1846 und ein vornehmer Ruſſe auf dem Findelen-Gletſcher im
Sommer 1859 durch ähnliche Stürze ums Leben. — Im Juli
1836 fiel der Führer Michael Devouaſſon auf dem Glacier du
Talêfre,
unweit des Jardin, in eine ſolche Spalte, arbeitete ſich
aber unter Hilfe ſeines Taſchenmeſſers, mit dem er Tritte in die Eis¬
wände grub, wieder mühſam hervor. Sein Torniſter, den er dabei
verloren, wurde zehn Jahre ſpäter ſtückweiſe, 4300 Fuß weiter un¬
ten, am Fuß des Couvercle, vom Gletſcher wieder ausgeworfen. —
In ähnlicher Weiſe rettete ſich auf dem Roſegg-Gletſcher (am Ber¬
nina) ein in eine Gletſcherſpalte geſtürzter Gemſenjäger, der, weil
die Wände der über 60 Fuß tiefen Spalte unten zu weit ausein¬
ander lagen, ſich den Alpenſtock an das eine Bein band und ſo,
die Kluft überſpreizend, ſich langſam hinaufarbeiten konnte. —
Auf dem Trift-Gletſcher (Kant. Bern) ſtürzte 1803 der Gemſen¬
Berlepſch, die Alpen. 17[258]Alpenſpitzen.jäger Peter Moor von Gadmen in einen Gletſcher-Schlund, aber
dennoch ſo glücklich, daß er auf einen Eisvorſprung zu ſtehen kam
und dort ſich halten konnte. Unten in grauſiger Tiefe rauſchten
ſtrudelnde Gewäſſer, und kalte eiſige Luft wehte aus dem Abgrunde
herauf. Sonderbarerweiſe hörte er die Zurufe ſeiner Kameraden
ſcharf und deutlich, ohne daß dagegen dieſe ſeine laut geſchrienen
Antworten verſtehen konnten. Um nun den verunglückten Freund
zu retten, eilten die Anderen vier Stunden weit, bis zu den erſten
Häuſern, hinab und kehrten erſt gegen Abend mit dem Rettungs¬
material zurück. Nachdem der halberſtarrte Mann in der Eisgruft
den ihm zugeworfenen Strick feſt um ſeinen Körper geſchlungen hatte
und frei-ſchwebend einige Fuß hoch, gezogen worden war, riß derſelbe
und der Unglückliche ſtürzte abermals auf den Abſatz zurück. Jetzt
war das Seil zu kurz, weil deſſen eine Hälfte ſich drunten befand;
es blieb darum nichts Anderes übrig als nochmals den vierſtündigen
Weg bei Nacht hin und zurück zu machen, um endlich am anderen
Morgen den lebendig Begrabenen mit einem kräftigeren Seil nach
16ſtündiger Angſt zu erlöſen. — Noch wunderbarer iſt folgender
Fall: Chriſtian Bohren kam am 7. Juli 1787 in Begleitung des
Taglöhners In-Aebnit über den zwiſchen dem Wetterhorn und dem
Mettenberg liegenden Oberen Grindelwald-Gletſcher, im Begriff,
Schaafe und Geißen an den Mettenberg zu führen, als plötzlich
eine Schneebrücke unter ihm einbrach und er in einen 64 Fuß
tiefen Gletſcher-Riß hinabſtürzte. Er brach den Arm und fiel die
Hand aus dem Gelenk; dennoch verlor er die Geiſtesgegenwart
nicht. Glücklicherweiſe fand er unterm Gletſcher eine Oeffnung,
welche der vom Wetterhorn herabfließende Weißbach ausgegraben
hatte. Durch dieſen 130 Fuß langen Stollen kroch er mühſam
dem Laufe des Waſſers unterm Eiſe entgegen und entging auf
dieſe Weiſe dem Schickſal, lebendig begraben, verhungern zu müſſen.


De Sauſſure, als er im Juli 1778 von der Aiguille du
Midi
herabſtieg, brach plötzlich durch den Schnee mit beiden Füßen
[259]Alpenſpitzen.ein, doch ſo, daß er auf einem Eisſattel ſitzen blieb, während die
Füße frei in einen tiefen Abgrund hinabhingen. Sein Führer
Peter Balmat, unmittelbar hinter ihm, hatte das gleiche Schickſal.
Raſch beſonnen rief dieſer: „Halten Sie ſich ruhig, mein Herr,
machen Sie nicht die kleinſte Bewegung, ſonſt ſind Sie verloren!“
Dem anderen Führer, der nicht eingeſunken war, rief Peter, ohne
auch nur ein Glied zu rühren, zu, er möge raſch unterſuchen, nach
welcher Richtung die Spalte verlaufe und welches ihre Breite ſei.
Dabei beſchwor er Herrn von Sauſſure aufs Dringendſte, ſo ruhig
als nur möglich ſich zu verhalten, weil die kleinſte Bewegung un¬
fehlbar ihren Sturz in die Tiefe herbeiführen würde. Als der
zweite Führer mit der größten Behutſamkeit das Terrain rekog¬
noscirt und die Figur der Spalte erkannt hatte, legte er kreuz¬
weiſe zwei lange Alpenſtöcke vor Herrn v. Sauſſure, mit deren Hilfe
ſich dieſer vorſichtig aus ſeinem ſchwebenden Sitz emporhob, rettete,
und dann mit Hand anlegte, in gleicher Weiſe den Peter aus
ſeiner gefahrvollen Lage zu befreien. — Der Scharfſinn iſt nie erfin¬
deriſcher, als wenn die Noth zum Aeußerſten drängt. Das be¬
währte ſich, um mit dem Kapitel der Schneebrücken endlich zu
ſchließen, auch am 4. Auguſt 1829, bei Hugi's Rückkehr vom Fin¬
ſteraarhorn. Durch die warme Temperatur war der Schnee am
Nachmittage ſo ſehr aufgeweicht, daß jeden Augenblick einer der am
Seil befeſtigten Reiſegefährten bis an die Bruſt einſank. Da die
Schründe oft in einer Breite von 10 bis 20 Fuß den Weg
verſperrten und meiſt mit einer, nur ganz dünnen, erweichten Firn¬
kruſte überwölbt waren, ſo ordnete der vortreffliche Führer Jakob
Leuthold an: ſich platt auf den Bauch zu legen und alſo rutſchend
oder ſchiebend die gräßlichen Abgründe zu paſſiren, um der Gefahr
einzubrechen, durch die Vertheilung der Körperlaſt auf eine größere
Fläche, leichter zu entgehen. Das gleiche Vorſichtsmittel prakticirte
Herr Weilenmann bei ſeinem Herabſteigen vom Piz Corvatſch und
Piz Lat. (Bernina-Gruppe.)


17*[260]Alpenſpitzen.

Hat der Bergſteiger nun den Gletſcher ſeiner Länge oder Breite
nach überſchritten, ſo iſts nicht ſelten der Fall, daß ihm der
Uebergang auf das wieder zu betretende, feſte Geſtein noch uner¬
wartete Schwierigkeiten bereitet. Der Felſen ſchmilzt in Folge
ſeiner größeren Wärme-Kapazität die zunächſt auf ihm lagernden
Gletſcher-Ränder derart ab, daß dieſe in einer Höhe von 4, 6, 10,
ja bis 20 Fuß von ihm abſtehen. Läßt ſich nun kein Punkt fin¬
den, an welchem der Wanderer den vom Schmelzwaſſer ſchlüpfrigen
Boden durch einen vorausſichtlich gelingenden Sprung erreichen kann,
ſo bleibt ihm nichts als das Herabturnen am Seile übrig.


In ſehr vielen Fällen iſts jedoch gar nicht nöthig oder auch
nicht möglich, das feſte Geſtein zu betreten, ſondern man geht direkt
allmählig vom Gletſcher auf den Firn über. Dieſer iſt wegen ſei¬
ner körnigen, minder zuſammenhängenden Struktur und wegen der
größeren Bewegungs- und Anſchmiegungs-Fähigkeit gewöhnlich auch
weniger zerriſſen. Es giebt Firnfelder, über die man ſtundenweit,
ohne auf das mindeſte Hinderniß zu ſtoßen, gehen und ſteigen
kann, — die alſo das raſche Fortkommen außerordentlich begünſti¬
gen. Aber es giebt auch ſolche, die in Folge des ungleichen, zer¬
ſpaltenen Felſenbettes, auf dem ſie ruhen, von Riſſen und Zerklüf¬
tungen durchkreuzt werden, die unter dem Namen der „Firn¬
ſchründe
“ (Rimayes) bekannt ſind. Schauerlich-ſchöne Ein¬
blicke eröffnen ſich in ſolche große Firnhöhlen. Oft ſind ſie von
unſchätzbarer Tiefe, im Innern durchſichtig-azurblau beleuchtet, ſo
magiſch und ſanft, daß man an Kühleborns Zauberpalaſt in de
la Motte-Fouqué's Undine erinnert wird. Die von den Geſimſen
und Plafonds herabhangenden granulirten Eiszapfen, ähnlich den
Stalaktiten-Gebilden in den Kalkſinter- und Tropfſtein-Grotten, er¬
höhen das Mährchenhafte, und erreichen dieſe gar wieder den Bo¬
den der ſchräg-abſinkenden Schneehöhlen, ſo erſcheinen ſie dann wie
die Tragpfeiler hochgewölbter Dome und ſind wohlgeeignet, der
Phantaſie zu allerlei fabelhaften Arabesken Anhaltepunkte zu geben.
[261] Die eigentlichen und für die Bergſteigung inkonvenabelſten Firnſchründe
ſind jedoch jene, welche am Fuße hoher Felſenkämme vorkommen, von
denen die Firnhalden ſteil abfallen. Indeß umgeben ſie auch die
meiſten Berggipfel und ahmen deren Figuration in entſprechenden
Konturen nach. Hat ein Berg mehrere Schneeterraſſen, ſo zeigt er
auch meiſt in der Nähe jeder Terraſſe einen Bergſchrund, und ein
Gipfel kann deren zwei bis drei haben. Zuweilen, wenn ſehr reich¬
lich Schnee fällt, wird der Bergſchrund von Lauinen ausgefüllt,
und aus dieſem Grunde ſind ſchneereiche Jahre den Erſteigungen
der Hochgipfel ſehr günſtig. —


Die größte zu überwindende Schwierigkeit beſteht gewöhnlich
darin, daß die gegenüberſtehende Schnee- oder Eis-Wand bedeu¬
tend höher als der diesſeitige Standpunkt iſt. Haben die Führer
ſich nun auf ſolche Fälle vorbereitet, und eine Leiter mitgenommen,
dann iſt die Kluft in der Regel leicht zu paſſiren; eine ſolche Lei¬
ter beſteht aus einer etwa 20 Fuß langen, armsdicken, zähen Stange,
durch welche Quer-Sproſſen oder Pflöcke getrieben ſind, die als
Tritte dienen. Aber nicht ſelten tritt der Fall ein, daß eine Berg-
Expedition auf andere Weiſe ſich zu helfen ſuchen muß, und da
fördert dann die alle Gefahr verachtende Keckheit mitunter recht
waghalſige Verſuche zu Tage. Einige der intereſſanteſten erzählt
Herr G. Studer. Als er bei ſeiner, mit Herrn Weilenmann, Ende
Auguſt 1856 unternommenen Erſteigung des Mont Velan (11588
Fuß, Walliſer Alpen) den Glacier de Proz überſchritten hatte, war
am Fuße eines mächtigen Felſenpfeilers, der direkt gegen die höchſte
Kuppe des Berges aus dem Firn aufſteigt, ein klaffender Berg¬
ſchrund zu paſſiren. Die Führer Andreas Dorſat und Pierre
Morey überſchritten die Eiskluft an der ſchmalſten Stelle mit ver¬
wegener Gewandtheit und kletterten an der gegenüberſtehenden Eis¬
wand bis zu einem, durch vorragende gewaltige Blöcke geſicher¬
ten Standpunkte hinauf. Von hier warfen ſie das eine Seil-Ende
herab. Herr Weilenmann war der Erſte, der die ſchwindelige As¬
[262]Alpenſpitzen. cenſion vornahm, indem er das Seil um den rechten Arm ſchlang
und unter Nachhilfe des mit der linken Hand regierten Bergſtockes
(deſſen ſcharfe eiſerne Spitze er kräftig ins Eis einſchlug) ſich
über den Abgrund emporziehen ließ. Herr Studer folgte in
gleicher Weiſe. — Noch komplicirter war die Transſcenſion eines
Firnſchrundes bei der Erſteigung des Grand Combin (13261 Fuß,
Walliſer Alpen) am 10. Auguſt 1858 durch die beiden gleichen
Gebirgsforſcher. Dort war die enorm tiefe Kluft oben nur etwa zwei
Fuß breit, aber die gegenüberliegende Eiswand ragte ſieben Fuß
höher, ſenkrecht auf. Die Führer, Gebrüder Felley (von Lourtier)
wußten auch hier raſch Rath. „Zwei lange Bergſtöcke wurden in
einer Höhe von etwa fünf Fuß über der Oeffnung der Spalte
horizontal in die jenſeitige Firnwand feſt genug eingebohrt, damit
ſie als treppenartige Stützpunkte für den Fuß dienen konnten.
Darauf ließ Benjamin Felley dem Rande des Schrundes ſo nahe
als möglich ſich auf Hände und Kniee nieder. Sein Bruder Moritz
trat auf deſſen Rücken und Schulter, benutzte dieſe ſanft ſich em¬
porhebende, lebendige Treppe, ſo wie die eingebohrten Stöcke als
Fuß-Stützpunkte, und ſchwang, mit den Händen tief eingreifend,
ſich dann flink und kräftig nach dem oberen, weniger ſteil abge¬
ſchnittenen und in ſeiner Maſſe auch mehr gelockerten Firngehänge
empor, bis er eine ſichere Stellung gewonnen hatte. Als er dieſe
erreicht, wurde ihm das Seil zugeworfen; ein zweiter Führer band
deſſen unteres Ende ſich um den Leib und konnte mit Hilfe deſſel¬
ben nunmehr leichter hinaufklettern. Auf gleiche Weiſe wurden die
Uebrigen und das Gepäck hinaufgezogen. Nur der letzte Führer
(Benjamin) mußte das Manöver mit etwas mehr Unbequemlich¬
keit ausführen, weil er die Stütze der beiden Alpenſtöcke entbehrte,
die man ebenfalls ſchon hinaufgezogen hatte.“ Auf dem Rück¬
wege mußte die, ſieben Fuß tiefer liegende Firnfläche, am Seil durch
herzhaften Hinabſprung erreicht werden; einer der Führer war vor¬
angeſprungen und fing die Nachkommenden mit offenen Armen auf.


[263]Alpenſpitzen.

Freilich iſts auch ſchon der Fall geweſen, daß ſolche Firnſchründe
ſich als unüberwindbar zeigten und die völlige Erſteigung einer
Hochgebirgs-Kuppe nahe am Ziele darum ſcheiterte. Dieſe Fatali¬
tät begegnete dem verſtorbenen rüſtigen Berggänger Hoffmann aus
Baſel 1846 am Tödi; ein ſechzig Fuß breiter Schneeſchlund auf
dem oberſten Firnwalle, zwiſchen der Tödi-Kuppe und dem Piz
Ruſein, nöthigte ihn und ſeine renommirten Führer in einer Höhe
von 10800 Fuß (alſo 344 Fuß unter der Spitze) zur Umkehr.


Bevor das Beſteigen hoher Alpenſpitzen ſo populär wurde,
wie es heut zu Tage wirklich iſt, kurſirten, ſelbſt in guten Schrif¬
ten, wunderbare Faſeleien über allerlei körperliche Zufälle, denen
die Bergwanderer ausgeſetzt ſein ſollten. Bald wurde die Luft als
ſo exorbitant verdünnt dargeſtellt, daß das Athemholen faſt zur Un¬
möglichkeit werde; bald ſollte den Gipfelſtürmern Blut aus Mund,
Naſe und Ohren quellen; daneben ſollten Kongeſtionen, Brechreiz,
Druck auf Bruſt und Magen und allerlei Mißbehaglichkeiten als
unvermeidliche Uebel ſich bei Jedermann zeigen, der in eine Höhe
von 10000 Fuß und darüber empordringe. Ja, man konſtruirte
ſogar eine der Seekrankheit entſprechende „Bergkrankheit“ mit
ihren Symptomen, Exacerbationen, Remiſſionen, Kriſen ꝛc. und
ſtellte eine förmliche Arzneimittellehre dagegen auf. Die Berggän¬
ger unſerer Tage wiſſen nichts von dieſer Krankheit. Es mag
ſchon hier und da einmal Naſenbluten eintreten, aber ſicherlich nur
in Folge der durch das Bergſteigen veranlaßten bedeutenden Blut¬
wallung; Uebelkeiten mögen ſolche Leute befallen, die überhaupt an
Magenſchwäche leiden, und Mattigkeit iſt eine ſehr natürliche Kon¬
ſequenz der Abſpannung des Körpers, wenn man bei großer Kräfte-
Konſumtion 6 und 8 Stunden lang in verdünnter Luft und unter
mancherlei Gefahren bergauf marſchirt. — Die einzigen, wirklich
exiſtirenden, etwas ſtörend auf den Körper und ſeine normalen
Funktionen einwirkenden Erſcheinungen ſind der kaum zu löſchende,
wahrhaft brennende Durſt bei Abweſenheit entſchiedenen Appetites,
[264]Alpenſpitzen. den die Bergbewohner ſehr bezeichnend „Durſthunger“ nennen, —
und die den Augen drohende Entzündung, die in das ſ. g. „Schnee¬
blindwerden
“ ausarten kann, wenn man die Sehorgane nicht
durch eine blaue oder graue Brille gegen die andauernd blenden¬
den, heftigen Einwirkungen der grellen Schnee-Reflexe auf ſtunden¬
langen Firnwanderungen ſchützt. Aber nicht nur die Augen greift
dieſe Licht-Rückſtrahlung des Schnees an, ſondern ſogar auch die
entblößten Theile des Körpers, vor allen das Antlitz, wenn man
daſſelbe nicht durch einen farbigen Schleier ſchützt. Dieſe Einwir¬
kung äußert ſich in ſo hohem Grade, daß ein völliges Verbrennen
der Haut, wie jenes in der ſchärfſten Sonnenhitze, eintritt, dem
dann Blaſen und Wundwerden mit ſpäteren Schorfen folgen.
Schleier ſind freilich für die unbeſchränkte Ausſicht ſehr hinderlich
und vermehren die ohnedies herrſchende Hitze in hohem Grade,
da ſie allen Luftzutritt abſperren. Um ſich zu erfriſchen, ballen die
Führer Schnee zuſammen und legen denſelben in den Nacken, —
ein Kühlungsmittel, das kräftigen Naturen in jenen Hochregionen
nicht ſchadet, wo ohnedies, Geiſt wie Körper, entfeſſelter und unab¬
hängiger von äußeren Einflüſſen ſind. —


Wir kehren zum Bergmarſche zurück. Die Firnſchründe ſind
nicht die letzten der zu überwindenden Schwierigkeiten; es häufen
ſich deren neue, die unter Umſtänden gefahrbringend ſein können.
Zu dieſen gehören zunächſt die Eishänge. In bedeutenden Hö¬
hen ſchmilzt Sonnenwärme oder Föhnwind an jähen Abhängen die
Oberfläche des Firnes, mitunter bis auf mehrere Fuß Tiefe. Das
der Kryſtalliſation durch Wärmeaufnahme entbundene Waſſer durch¬
dringt den Schnee, friert jedoch während der Nacht wieder. Hier¬
aus entſteht eine Eisfläche, die, um einen hinkenden Vergleich an¬
zuwenden, dem, im Tieflande bekannten, ſ. g. „Glatteis“ verwandt
iſt, nur, daß ſie eben viel dicker, kompakter, maſſiger wird. Solche
Eisrücken zu erklimmen, erfordert immer viel Arbeit, Mühe und
Geduld; hier muß das Beil helfen, um mittelſt deſſelben Tritte in
[265]Alpenſpitzen.das ſpröde Material zu hauen. Es muß ein gutes, erprobtes In¬
ſtrument ſein, welches ein gewandter Arm regiert; einmal der Hand,
der leicht erſtarrenden, entfallen, macht der Verluſt deſſelben einen
quittirenden Strich durch die Rechnung und aus dem zu erwarten¬
den großen Loos plötzlich eine Niete. Das Empordringen einer
Geſellſchaft unter ſolchen Umſtänden, wo Schritt für Schritt erſt
geſchaffen, geebnet, geſichert werden muß, iſt dann höchſt langſam,
langweilig und erkältend. Bei Studers erſter Erſteigung des
Großen Rinderhornes (10670 Fuß, Wallis-Berner Gränze) mu߬
ten gegen 400 ſolcher Stufen in den übereisten Jähhang gehauen
werden, ein Zeitverluſt von mehreren Stunden. Bergſteiger-Regel
iſts, eine ſolche Kunſttreppe, ſo viel immer möglich, geradeanſteigend
zu beſchreiten, ſo daß das Geſicht dem Eis zugekehrt bleibt; der Fuß
tritt mit der Spitze weit ſicherer als mit der Seitenkante auf.


Höchſt gefährlich ſind ſolche vereiste, ſteile Hänge, wenn friſch
gefallener Schnee die glatten Eisſpiegel maskirt. Es fehlt nicht
an haarſträubenden Schreckensgeſchichten zur Illuſtrirung des Ka¬
pitels von den Schneerutſchen, die urplötzlich mit der, auf der obe¬
ren, neugefallenen Schicht wandernden Geſellſchaft über der darun¬
ter verborgenen Eisbahn ſich in Bewegung ſetzten. Hugi hätte
bei ſeinem zweiten Verſuch der Finſteraarhorn-Erſteigung beinahe
durch ſolch einen Schneeſchlipf das Leben eingebüßt, wenn der
entſchloſſene Leuthold ihn nicht noch im letzten Augenblicke mit
nervigem Arm ergriffen und gerettet hätte. Das furchtbarſte Er¬
eigniß dieſer Art iſt jenes, welches die völlige Beſteigung des Mont¬
blanc durch den ruſſiſchen Naturforſcher, Hofrath Hamel vereitelte.
Derſelbe war mit den beiden engliſchen Gelehrten der Oxforder
Univerſität, Herren Dornford und Henderſon, unter Begleitung der
kundigſten Chamounyführer (J. M. Coutet, Math. Balmat, Favret,
Jules Devouaſſon u. A.) und vielen Trägern für Komfortabilitäten,
Lebensmittel, mathematiſche und phyſikaliſche Inſtrumente, am
16. Auguſt 1820 von Prieuré ausgezogen, hatte am Grand Mou¬
[266]Alpenſpitzen.let übernachtet und befand ſich am folgenden Tage bei ausgezeich¬
net günſtigem Wetter 9 Uhr Morgens bereits in der Nähe des
Petit Plateau unterm Dôme de Gouté, von wo aus der Gipfel
des Montblanc in 2 bis 3 Stunden zu erreichen iſt. Die Führer
brachen ſchon in Glückwünſche aus, ſagten, daß nun alle Hinder¬
niſſe überwunden, weder Gefahren noch Eisſpalten mehr zu befürch¬
ten wären, überhaupt, daß noch nie eine Beſteigung ſo glücklich,
geſchwind und ohne jeden Unfall ausgeführt worden ſei als eben
dieſe. Die ganze Expedition war voll der beſten Hoffnung und
ſah im Voraus ſich ſchon auf dem Kulminationspunkte der Wan¬
derung. Hofrath Hamel hatte Zettel geſchrieben, welche er einem
aus Sallenches mitgenommenen kräftigen und brünſtigen Tauber
um den Hals binden und dieſen dann fliegen laſſen wollte, um
den Verſuch zu machen, ob dieſer ſein, in gerader Linie etwa fünf
Stunden entferntes Weibchen im Taubenſchlage wieder auffinden
werde; die Gelehrten freuten ſich ſchon auf den Ehrenplatz, wel¬
chen das von ihnen eigenhändig vom Gipfel des höchſten europäi¬
ſchen Berges abgeſchlagene Protogin-Stück in den Kabineten der
mineralogiſchen Sammlungen zu Petersburg, London ꝛc. einnehmen
würde, kurzum Jeder hing eigenen Lieblingsgedanken und Plänen
nach. Alle marſchirten Einer hinter dem Anderen, weil man gern
in die Fußſtapfen des wegbahnenden, erſten Führers tritt, welcher
dann von Zeit zu Zeit, der Erholung halber, von einem Anderen
abgelöſt wird. Niemand gab einen Laut von ſich, denn die An¬
ſtrengung hatte Alle ein Wenig ermattet. „Noch war ich der Letzte“,
erzählt Herr Hamel (in der Bibliothèque universelle), — „gewöhn¬
lich ging ich zwölf Schritte weit fort und hielt dann an, um auf
meinen Stock mich ſtützend fünfzehn Athemzüge zu thun; denn
ich fühlte, daß ich in dieſer Weiſe vorankommen würde, ohne mich
zu erſchöpfen. Durch eine grüne Brille und den Flor, welcher mein
Geſicht verhüllte, richtete ich zählend die Blicke auf die Fußſtapfen,
als ich plötzlich wahrnahm, daß der Schnee unter mir weiche. Da
[267]Alpenſpitzen.ich glaubte nur auszugleiten, ſo verſuchte ich auf der linken Seite
mich mit meinem Stocke feſtzuhalten, — aber vergeblich. Der zu
meiner Rechten ſich anhäufende, aufbäumende Schnee wirft mich
um, überdeckt mich und ich fühle von unwiderſtehlicher Gewalt mich
abwärts fortgeriſſen. Anfangs wähnte ich, dieſer Umſtand begegne
mir allein; als ſich aber der Schnee dergeſtalt über mir an¬
häufte, daß er mir den Athem entzog, ſo glaubte ich, eine große
Lauine komme vom Montblanc herab, welche ihn vor ſich herjage.
Ich rief, aber wie es ſchien umſonſt! Meine Gefährten ſah ich
nicht mehr. Jeden Augenblick erwartete ich, von der Maſſe erdrückt
zu werden; jedoch ſuchte ich im Hinabrollen beſtändig mich umzu¬
drehen und wandte alle Kräfte an, den Schnee, in welchen einge¬
hüllt ich gleichſam ſchwamm, zu zertheilen. Endlich gelang es mir
den Kopf daraus zu befreien und ich erblickte einen großen Theil
des Abhanges in Bewegung; da ich jedoch mich dem Rande des
rutſchenden Theiles ziemlich nahe ſah, ſo ſtrengte ich meine Kräfte
aufs Aeußerſte an, den feſtliegenden Schnee zu erreichen, auf wel¬
chem es mir endlich möglich war, ſicheren Fuß zu faſſen. Jetzt
erſt erkannte ich die wirkliche Gefahr; ich ſah, daß ich mich faſt
am Rande einer Spalte befand, welche den Abhang begränzte.
Zugleich ſah ich Herr Henderſons Kopf noch näher dem Abgrunde
aus dem ſtockenden Schnee hervorragen, und etwas weiter Herrn Dorn¬
ford nebſt drei Führern, Alle mit verzweifelt kämpfender Anſtren¬
gung bemüht, gleich mir ſicheren Boden zu gewinnen. Sie erreich¬
ten glücklich ihr Ziel, aber die fehlenden fünf Uebrigen konnte ich
nicht entdecken. Immer noch hoffte ich, ſie aus dem nun ſich
ſtauenden Schnee hervorkriechen zu ſehen, als Balmat uns zurief,
daß ſich Leute von uns in dem Abgrunde befänden. Dieſe Kunde
durchzuckte mich wie ein Wetterſchlag! fünf Menſchen lebendig be¬
graben und dies durch meine und meiner Freunde Veranlaſſung.
Dornford warf ſich unter den wildeſten Geberden des Schmerzes
auf den Schnee, und Henderſons Zuſtand erſchien momentan ſo
[268]Alpenſpitzen.zerrüttet, daß er böſe Folgen befürchten ließ. Welch unendliche Gefühle
der Freude uns elektriſch durchſtrömten, als wir bei unſerem Spähen
an einer Stelle den Schnee erſt wenig, dann immer entſchiedener
ſich bewegen ſahen, als nach einigen Augenblicken einer der verloren
Geglaubten ſich daraus hervorwand, iſt nicht zu beſchreiben. Ein
jubelndes Hurrah! begrüßte ihn und es verdoppelte ſich, als nach
kurzer Friſt wir noch einen Zweiten ſich emporkämpfen ſahen.
Schon loderte unſere Hoffnung in hellen Flammen auf, auch die
noch fehlenden drei Anderen erſcheinen zu ſehen; — es war ver¬
geblich.“ — Nach langen, mühevollen, aber erfolgloſen Nachforſchun¬
gen, ſo weit ſolche bei dem gänzlichen Mangel an Schaufeln und
ähnlichen Werkzeugen möglich waren, trat die ganze Geſellſchaft,
ſo nahe dem Ziele, in trübſter Stimmung den Rückweg an, weil
die Führer erklärten, daß unabweisbar neue Schneerutſche auf die¬
ſen folgen würden, namentlich in jenen Gegenden, die noch zu
durchwandern ſeien. Abends 9 Uhr langte die Karavane mit der
Schreckensbotſchaft im Thale an. Jene drei Opfer aber ſchlafen
den Todesſchlaf in den Eiskellern des Montblanc.


Es ſind jedoch nicht dieſe den Grundlauinen verwandten Schnee¬
rutſche allein, die den Wanderer in bedeutenden Höhen bedrohen,
ſondern auch zu Häupten deſſelben losbrechende, eigentliche Lauinen
und Eisbrüche können ihn begraben oder erſchlagen. Eine allen
Berggängern bekannte, ſehr berüchtigte Stelle dieſer Art iſt die
ſ. g. Schneeroſe oder Schneerunſe am Tödi. Es iſt ein kleines, etwa
½ Stunde langes Felſenthal unter der „Gelben Wand“, welches
von einer, in beträchtlicher Höhe ſenkrecht abgeriſſenen, gewaltigen
Eismauer geſchloſſen wird. Von letzterer ſtürzen zeitweiſe große
Eisblöcke herab, die in furchtbaren Sprüngen bis an das untere
Ende des Thales rollen. Da eine Wanderung durch die Schnee¬
roſe ſtets mit einiger Gefahr verbunden iſt, ſo eilen die Tödiſtei¬
ger ſtets auf das Drängendſte, dieſe heilloſe Stätte in möglichſt
kürzeſter Friſt zu paſſiren. Dr. Hegetſchwyler von Zürich, den be¬
[269]Alpenſpitzen.rühmten Botaniker und Monographen dieſes koloſſalen Bergſtockes,
hätte beinahe eine ſolche Schmetter-Kanonade zermalmt. Er wagte,
von ſechs Reiſegefährten und Führern begleitet, am 12. Auguſt 1822
den dritten Verſuch zur Erſteigung des Tödi. In jener Schreckens¬
runſe angekommen, ſtanden bereits drei Perſonen der Expedition
völlig geſichert unter dem Schutze überhangender Felſen, und die
Führer waren eben beſchäftigt, den Letzten am Seil durch die ge¬
fährlichſte Stelle dieſer Todesſchlucht zu geleiten, da dröhnte es
donnernd durch die Einöde. Toſend und dröhnend jagte ein Glet¬
ſcherſturz aus jener Höhe des eisbeladenen Grates herab. Angſt¬
ruf der Führer erfüllte die Luft; Schneegerieſel von allen Seiten,
dann ſchreckliche Todesſtille für ein paar Augenblicke! Nun rauſchte
es wieder ſtärker; in Schneegeſtöber, wie in Rauch gehüllt,
fuhren kleine Eisſtücke in den Abgrund und durch die Schlucht ge¬
rade auf die darin Weilenden zu. Da dieſe ſich dicht an die
Felſenwand ſchmiegten und anklammerten, ſo ging der Strom über
ſie ohne bedeutende Beſchädigung hinweg. In ſtummer, gräßlich
peinlicher Angſt verharrten die geſichert Stehenden noch ein paar
bange Augenblicke; da hörte der Strom auf und einander fröhlich
zurufend, erkannten ſich die Geretteten. Die Gletſcherſtücke waren
durch den tiefen Sturz völlig zerſplittert und zermalmt und dadurch
faſt unſchädlich geworden.


Das Schreckens-Arſenal der Hochgebirgs-Phänomene iſt aber noch
lange nicht erſchöpft. Je mehr wir uns den erſehnten Gipfelpunkten
nähern, deſto mehr häuft ſich die Summe der Fährlichkeiten und
Hinderniſſe. Zunächſt hat man die weit überhangenden „Schnee-
Weheten
“ zu fürchten, welche über oft ſchauerlich tiefen Abgründen
an den mehrere taufend Fuß ſenkrecht abſinkenden Felſenfronten der
Alpen auffallend breite, hohl gewölbte, trügeriſche Vorſprünge hinaus¬
bauen, die jeder mechaniſchen Stütze entbehren; nur durch den Froſt-
Verband der ineinander verflochtenen Eisnädelchen, durch die Kohä¬
renz der Schneeflocken werden ſie gehalten und getragen. Ein gering¬
[270]Alpenſpitzen.fügiger Umſtand kann ſolche, in die Luft hinausragende, gleich
Dächern die Felſen übertraufende Firngerüſte löſen und zum Tief¬
ſturz bringen. Herr Weilenmann hat deren am Gufferhorn (Adula-
Gruppe) beobachtet, die mehr als 30 Fuß frei hinausſtehend, Muſter
kühner Schneearchitektur genannt zu werden verdienen. Man hat ſich
alſo wohl zu hüten, auf ſolche überhangende Weheten zu weit hinaus
zu gehen. — Ferner bereitet das ſ. g. „faule Geſtein,“ d. h.
die durch Eroſion und durch die Thätigkeit der Atmoſphärilien ab¬
gelöſten, bröckeligen Felſenfragmente, dem Berggänger große Ver¬
legenheiten, ſei es, daß der Fuß keinen ſicheren Stand auf dem¬
ſelben hat und fortwährend ſich in der Gefahr befindet abzugleiten,
ſei es durch Ablöſung oberhalb, alſo durch entſtehenden Stein¬
hagel. Auch dünne Felſen-Nadeln, die wie Spitzthürmchen gothi¬
ſcher Kathedralen ſich präſentiren und Angeſichts von Abgründen
umklettert werden müſſen, gehören nicht ſelten zu den kleinen Mali¬
cen der letzten Marſch-Stunden.


Der letzte eigentlichſte Kernpunkt, die äußerſte Kulmination iſt
bei ſehr vielen Alpenſpitzen auch noch die härteſte der zu knacken¬
den Nüſſe. Manche mit der ſorgfältigſten Vorbereitung ausge¬
rüſtete Expedition ſcheiterte ganz oder theilweiſe noch dicht unter
der dominirenden Scheitelzinke, weil man zu ſpät erkannte, den
Streifzug gegen das Bollwerk von der unrechten, unzugänglichen
Seite unternommen zu haben (wie ſolches bei allen Monte Roſa-
Beſteigungen vor dem Jahre 1855 der Fall war) — oder weil
den Gipfelſtürmern jene wahrhaft unheimliche Kaltblütigkeit und
grauenhafte Reſignation neben den muskelfriſchen Kräften fehlten,
welche nöthig ſind, ſolche Wagſtücke auf Leben und Tod zu be¬
ſtehen. Einige Beiſpiele werden genügende Erläuterung geben.


Die letzte Paſſage zum Gipfel der Bernina-Spitze (12475
par. Fuß, Ober-Engadin) beſteht aus einem ſcharfen Gletſcher-
Grat, der ſteiler als der Firſt des ſteilſten Kirchendaches, ja bei¬
nahe ſenkrecht, wohl zweitauſend Fuß, einerſeits gegen das Val
[271]Alpenſpitzen.Rosegg, andererſeits gegen einen Gletſcher-Cirkus abfällt. Bei der
am 13. Septbr. 1850 erfolgten erſten Beſteigung dieſer giganti¬
ſchen Central-Maſſe überwand den Sattel Herr Coaz (Forſtinſpektor in
Chur) mit ſeinen beiden Führern rittlings rutſchend. — Am Groß-
Glockner
(12158 par. Fuß, Tyrol) führt der Weg über einen 36
Fuß langen, nur 4 bis 6 Zoll breiten Felſenſattel, vom Schnee leicht
geebnet, zum eigentlichen Gipfel; der öſterr. Major Sonklar Edler
von Innſtädten paſſirte ihn mit 3 Gefährten und 5 Führern
halb kriechend, halb reitend am 4. Septbr. 1855. Aehnlich, aber
noch komplicirter iſt der Zugang zum Monte Roſa (14284 par.
Fuß). Johannes Zumtaugwald überſchritt bei der am 14. Auguſt
1855 erfolgten zweiten Beſteigung, den kaum einen Fuß breiten
Kamm aufrecht, die Schneekante ſchwindelfrei durch Niedertreten
verebnend, als obs im flachen Felde wäre; Herr Weilenmann, der
verwegene Berggänger, folgte ihm (nach eigenem Geſtändniß) „mit
angehaltenem Athem und nicht ohne Schauern, ebenfalls aufrecht
gehend.“ Hiermit war aber der Kulm der äußerſten Spitze noch
nicht erreicht; jetzt galt es eine zwar nur wenig Schritte breite,
aber glänzend-glatt mit Eis überzogene Felſenplatte zu traverſiren,
welche abſchüſſig auf die jäh gen den Gorner-Gletſcher niederſin¬
kende Schneewand ausläuft. Wie auch dieſe überwunden war, ſo
mußte endlich noch eine faſt vertikale, kaminähnliche Runſe erklet¬
tert werden, welche direkt auf den äußerſten Kulm führt. Im Er¬
ſteigen derſelben ſchiebt ſich zu guter Letzt noch eine überragende
Felſenplatte vor, welche ohne Beihilfe gewandter, feſter und
muthiger Kameraden unmöglich zu überturnen iſt. Peter Zumtaug¬
wald ſpreizte ſich wie ein Kaminfeger feſt in die Wände der Schlucht
ein, ließ ſeinen Vetter Johannes dann auf ſeine Schultern treten,
und ſo ward es Letzterem möglich, den Vorſprung mit kräftigem
Armſchwung zu überwinden. Eine Sekunde lang ſchwebte er da¬
bei über Untiefen. Wie er erſt droben war, gings mit den Ande¬
ren raſch, mittelſt des Seiles. Ein hilfloser Archivrath, deſſen
[272]Alpenſpitzen. bei dieſer Expedition oft gedacht wird, mußte, wie ein Gü¬
terballen am Krahnen, den Strick um den Leib gebunden, hinauf¬
gehißt werden. Der Unglückliche hatte kurz vorher, ehe man den
ſchwindeligen Grat paſſirte, den Arm aus der Schulter gerenkt,
und nach langem, vergeblichem Ziehen und Stoßen war es den Füh¬
rern, die keine ſonderlichen chirurgiſchen Kenntniſſe beſaßen, gelun¬
gen, das Glied wieder einzurichten. — Eine ähnliche Paſſage iſt
die über den Roththal-Sattel, etwa 12000 Fuß ü. d. M., bei Erſtei¬
gung der Jungfrau (12827 Fuß); ſie erfordert feſten Tritt und
an Abgründe gewöhnte Augen, um nicht vom Schwindel er¬
griffen zu werden. Dennoch ſpart auch dieſer Berg ſeine ſchreck¬
hafteſten Schauermomente bis zu dem äußerſten Gipfelpunkt. Zu
dieſem führt nur ein ſcharf-zugeſchnittener Kamm, deſſen Breite
zwiſchen 6 bis 10 Zoll wechſelt, während die Gehänge der beiden
Seiten 60 bis 70 Grad Neigung haben. Als die Profeſſoren
Agaſſiz, Forbes, Duchatelier und Deſor denſelben am 28. Auguſt
1841 erreicht hatten, glaubten ſie nicht weiter kommen zu können.
Der unerſchrockene Jakob Leuthold behauptete indeſſen das Gegen¬
theil, und um ſofort den Beweis zu führen, legte er ſein Gepäck
ab und ſtieg in der Art vorwärts, daß er an der linken Seite des
Schneekammes ging, während er die Schärfe des Grates im buch¬
ſtäblichſten Sinne unterm rechten Arm hatte und auch auf der rech¬
ten Seite den Stock einſetzte. So ging er langſam und beſonnen
an dem entſetzlichen Abgrunde hin, indem er ſo viel als möglich
den Schnee zu einem Pfade zuſammentrat und den Uebrigen die Er¬
ſteigung möglich machte. — Bei der am 8. Auguſt 1842 von den
Profeſſoren Eſcher von der Linth, Girard und Deſor verſuchten
Erſteigung der Schreckhörner (12568 Fuß, Berner Alpen), bei
welcher ſie indeſſen nur bis auf die Spitze des großen Lauteraar¬
hornes kamen, wurde die Geſellſchaft, als ſie auf der Schneide
eines felſigen Kammes ging, unvermuthet am Weiterkommen ge¬
hindert; der Weg war durch einen etwa 10 Fuß tiefen ſenkrechten Ein¬
[273]Alpenſpitzen. ſchnitt vom Hauptſtocke des Berges getrennt, auf welchem einige
hundert Schritte weiter der Gipfel winkte. Der Einſchnitt ſelbſt
ſtellte einen ſcharfen Schneerücken dar, wie er auf den letzten Sei¬
ten mehrfach beſchrieben wurde. Während man noch konſultirte,
ob man ſich am Strick hinablaſſen, oder das Hinderniß zu umge¬
hen ſuchen ſollte, ſprang der Führer Bannholzer, ohne ſich anbin¬
den zu laſſen, mit einem Satze auf den Schneeſattel hinab. All¬
gemeiner Schrei des Entſetzens! denn man hielt den Wagehals
für verloren; allein er kam, ohne ſich wehe zu thun, rittlings auf
den Schneeſattel zu ſitzen, und ohne ſich an das Rufen, Bitten,
Fluchen der anderen Führer zu kehren, ſtieg er die gegenüberſte¬
hende Zacke hinan, erreichte die Höhe und winkte, ihm zu folgen.
Einer nach dem Andern wurde am Seil hinabgelaſſen, und ohne
Unfall kletterte die ganze Karavane dem Muthigen nach. Da er¬
wartete ſie in unmittelbarſter Nähe des Gipfels wiederum eine
letzte Schwierigkeit. Auf etwa 50 Fuß Länge wird der Kamm ſo
ſchmal, daß er kaum 18 Zoll Breite hat, während auf beiden Seiten
Abgründe von etwa 4000 Fuß beinahe vertikalen Abſturzes gähnen.
Hier hatten ſelbſt die verwegenſten Führer nicht den Muth, aufrecht
zu gehen, ſondern überkrochen die Stelle, mit ſtarr vor ſich blicken¬
den Augen, wie Quadrupeden, bis das erſehnte Ziel erreicht war. —
Schließlich noch die Erſteigung des Finſteraarhorns (13160
Fuß). Hugi war bei ſeinem dritten Verſuche der Erſteigung dieſes
höchſten Gipfels der Berner Alpen am 10. August 1829 bis auf
den hangenden Hochfirn gekommen, den man von allen guten
Standpunkten der nördlichen Schweiz, beſonders vom Faulhorn
aus, ſo deutlich ſehen kann. Um nun zu den Mittelfelſen in der
oberſten Ausſpitzung des Firnes und des Hornes ſelbſt zu gelan¬
gen, war eine im eigentlichſten Sinne hängende Eisfläche zu paſ¬
ſiren. Es konnte nur mittelſt eingehauener Tritte geſchehen. Die
Führer Leuthold und Währen gingen ſofort ans Werk, ſchlugen
den Fuß feſt in die eingehauene Stufe, ließen ihn etwas anfrieren,
Berlepſch, die Alpen. 18[274]Alpenſpitzen. um feſter zu ſtehen, und meißelten dann weiter. Es war ein hals¬
brechender Moment, ſie an dieſer Wand gleichſam hangend zu er¬
blicken. Endlich war die gefährliche Arbeit beendet und die Ueber¬
ſchreitung ſollte vor ſich gehen. Leuthold kam, um Profeſſor Hugi
zuerſt herüberzuholen, erklärte ihm aber zugleich auf das Beſtimm¬
teſte, daß, wenn er ausglitſche, Rettung unmöglich ſei und er, ſei¬
ner eigenen Sicherheit halber, nicht einmal den Verſuch eines ret¬
tenden Handgriffes wagen werde. Das Ende vielfacher Verſuche
war, daß kein einziger Mann der ganzen Expedition (unter denen
tüchtig bewährte Berggänger ſich befanden) die Eishänge zu über¬
ſchreiten wagte. Leuthold und Währen erklommen einzig das
ſchwindelhohe Ziel.


Wenn du den Muth verlierſt, verliereſt du die Kraft
Zu wirken, und dein Werk verkümmert krüppelhaft.
 
Rückert.

Der Augenblick, in welchem man einen berühmten Gipfel nach
unſäglichen Mühen und lebenbedrohenden Gefahren betritt, hat im¬
mer etwas Erſchütterndes, faſt möchte man ſagen Feierliches; es
iſt ein Moment höherer Weihe, wenn rundum im faſt endloſen
Ketten-Reigen ein weitgedehnter Horizont von Berggeſtalten und
Thaltiefen auftaucht. Da liegt ſie ausgebreitet uns zu Füßen, die
herrliche, gewaltige, große Alpenwelt, Firſt an Firſt, Grat an
Grat, Kulm über Kulm, und wie der Blick eines Mächtigen der
Erde bei ſeinem Regierungs-Antritt alle die Nationen, Völker und
Stämme überfliegt, die fortan ſeiner Leitung ſich fügen wollen,
ſo findet auch hier eine geiſtige Beſitz-Ergreifung, eine Heerſchau
im Dienſte der Intelligenz ſtatt. — Dem wohl bewanderten Berg¬
gänger ſchlägt die ausgebreitete Gipfelwelt ſein eigenes Tagebuch,
das Souvenir ſeiner ſommerlichen Freuden, Leiden, Genüſſe und
Entbehrungen auf; von allen Seiten winken ihm Freunde aus
früheren Tagen, die er ſofort wiedererkennt, grüßend entgegen und
das Auge überſchwebt im Spazierfluge alle bekannten Höhen, Joche
und Fluh-Toſſen. Da begegnet es unterwegs Geſtalten, ehrwürdi¬
[275]Alpenſpitzen. gen, hochaufgerichtet ſtolzen, aus der großen Menge bedeutſam her¬
vortretenden, ſilbergeſcheitelten Greiſen, auf denen es ſinnend haf¬
tet: es kennt ſie, ohne ſofort ſie zu erkennen, Karte, Fernrohr und
Führer kommen dem ſuchenden Gedächtniß zu Hilfe! — „Ah! Grüß
Gott, lieber Alter! Du auch da! Wie ganz anders ſiehst Du
von hier aus? Ich habe Dir immer von anderer Seite in Dein
ernſtes Antlitz geſchaut, wie Du Deinen verſteinerten Träumen nach¬
ſinnst, und heute ſchauſt Du mich nur verſtohlen über die Schul¬
tern an!“ — So ſchweift der Blick in flüchtiger Rundreiſe immer
weiter über die Zacken und Zinken des Rieſenreliefs, gleitet hinab
zu heimelig eingebetteten Thalſpalten, und überſpringt glitzernde
Flußadern, bis er beim Ausgangspunkte wieder anlangt, um nach
dieſem orientirenden Fluge in die Special-Muſterung einzutreten.
— Und vollends jenes erbebende Gefühl, wenn es ein Gipfel iſt,
den nur höchſt ſelten oder zuvor noch nie eines Menſchen
Fuß betrat; dies iſt dann eine Inauguration, erhabener, großarti¬
ger, als jede andere, durch Menſchen-Sinn und Hand bereitete.
Warum läuft durch alle Zeitungen die Nachricht, wenn endlich eine,
der ganzen gebildeten Welt längſt bekannte, ſchon unendlich oft
auf Karten und Panoramen gezeichnete, in Büchern genannte Al¬
penſpitze von Bedeutung zum Erſtenmal erſtiegen wurde? Weil es
eine kleine Kolumbus-That iſt, weil die kühnen Männer einen Bau¬
ſtein zum großen Tempelheiligthume der Naturwiſſenſchaften hinzu¬
fügten. — Alle Schrecken und Bedrängniſſe ſind vergeſſen, die
Gletſcherſpalten und Firnſchründe mit ihren trügeriſchen Brücken,
der ſchwindelſtarre Abgrund und die weichenden Trümmerhalden
liegen als überwundene Feinde hinter uns, und jauchzend hebt ſich
das Herz und klopft mächtiger in ſeines Gottes größerer Nähe.


Wie aber mag dieſer Gefühlsſturm ſich erſt ſteigern, wenn, wie
es bei der erſten Erſteigung des Tödi am 10. Auguſt 1837 der
Fall war, die unerſchrockenen Bergkämpen, längere Zeit im Nebel
berganklimmend, an der Um- und Ausſchau gehindert, plötzlich, wie
18*[276]Alpenſpitzen. die grauen verhüllenden Schleier reißen, in freudigem Schrecken
erkennen, daß rundum alle Gipfel tiefer liegen als der, auf wel¬
chem ſie ſtehen, und unbewußt der langerſehnte Zielpunkt erreicht
iſt. So ergings den ſtählernen, mit eiſerner Konſequenz vordringen¬
den Gebirgsmännern: Bernhard Voegeli, einem 60jährigen verwegenen
Gemsjäger und Wildheuer in Begleitung ſeines Sohnes Gabriel
und des kühnen Thomas Thut, alle Drei in den Obbordbergen hin¬
ter dem Dorfe Linththal (Kanton Glarus) daheim. Alle bis dahin
mit dem größten Aufwande veranſtalteten Expeditionen waren
ſämmtlich nicht ans Ziel gelangt, und im ganzen Glarner Gro߬
thale galt es für unbeſtreitbare Thatſache, daß der Tödi unerſteigbar
ſei, wie heute noch das Matterhorn, die Dente blanche, das Wei߬
horn und Mont Cervin der Walliſer Alpen für unerklimmbar gelten.


Mit der Erſteigung eines ſolchen äußerſten Höhepunktes iſt
indeſſen, nach Ueberwindung aller aufgezählten Hinderniſſe und
Fährlichkeiten, oft noch wenig erreicht, wenn nicht auch der Himmel
dem Unternehmen ganz außerordentlich günſtig und die Atmoſphäre
ſehr rein iſt. Jene Tage ſind ſelten, an denen auf Höhen von
mehr als eilftauſend Fuß die Temperatur einigermaßen mild, der
Aufenthalt behaglich oder auch nur erträglich iſt; gewöhnlich variirt
die Wärme in den Regionen über 12000 Fuß an ganz ſonnenkla¬
ren Sommertagen Mittags im Schatten nur um wenig Grad über
oder unter dem Gefrierpunkte. De Sauſſure fand auf dem Mont¬
blanc im Schatten — 2°,₃ und in der Sonne — 1°,₃; Hugi am
Finſteraarhorn im Auguſt 1 Uhr Mittags im Schatten — 2°,₄ R.,
in der Sonne 0,₀; Agaſſiz auf der Jungfrau Ende Auguſt 3 Uhr
Nachmittags im Schatten — 3°; Coaz auf dem Piz Bernina
13. Septbr. Abends 6 Uhr in der Sonne + 3° R. Freilich ſind
auch einzelne Fälle von außerordentlicher Temperatur-Höhe bekannt;
ſo z. B. fand Herr v. Dürler auf dem Tödi Mitte Auguſt 1 Uhr Nach¬
mittags im Schatten + 7°,₇ C. und in der Sonne + 9°,₃ C.; Zum¬
ſtein bei ſeinem Monte Roſa-Erſteigungs-Verſuch in 13920 Fuß Höhe
[277]Alpenſpitzen. + 8°,₅ R. (ob Sonne oder Schatten, iſt unbekannt) und Weilen¬
mann auf dem Piz Linard (bei 10516 Fuß) Anfang Juli, Mittags
11 Uhr, ſogar + 17° R. an der Südſeite in der Sonne. In¬
deſſen beeinträchtigt der geringe Wärme-Gehalt der Luft die
Gipfel-Erklimmer in den meiſten Fällen wenig; die Begleiter Agaſ¬
ſiz's tanzten bei ihrem Strahlegg-Uebergange (10380 Fuß ü. d. M.)
und wälzten ſich, den Buben gleich, im Schnee, die Führer ver¬
ſuchten einen Hoſenlupf (Schwingen oder Ringen) und der alte
ſechzigjährige Bernhard Voegeli ſtreckte ſich nach errungener Tödi-
Erſteigung gemächlich auf den Schnee und ſchnarchte bald ganz
behaglich. Allgemein rühmen die „Birgmannen“ eine eigene Elaſti¬
cität der Luft, die bei aller Friſche dennoch die größte Müdigkeit
paralyſirt; aber ebenſo einmüthig klagen ſie andererſeits über die
große Trockenheit der Atmoſphäre, welche ein eigenthümliches Spröde¬
werden der Haut und anderer Gegenſtände veranlaßt, ſo daß letz¬
tere ungemein leicht der Hand entgleiten.


Ein zweiter, den Genuß oft weſentlich beeinträchtigender Fak¬
tor iſt die meiſt ſehr geringe Durchſichtigkeit der Luft nach der
Tiefe zu. Während dieſelbe nach oben ſo außerordentlich tranſpa¬
rent iſt, daß der leere Himmelsraum im Zenith faſt ſchwarz¬
blau oder wie dunkel angelaufener Stahl ausſieht, erſcheinen die
fernen Berge, vom Montblanc oder Monte Roſa aus geſehen, in
beinahe dunkelgelber Färbung, und ſelbſt die Firnfelder nehmen
einen gelben Schein an. Dagegen verſchwimmen die Thaltiefen,
von Höhepunkten, wie die eben genannten, durch die über den
Tiefen lagernden Dünſte ins beinahe Unerkennbare; nur bei ganz
hellem Himmel kann man vom Montblanc, deſſen Ausſichtskreis im
Halbmeſſer auf 70 Stunden geſchätzt wird, die zunächſt gelegenen
Alpenketten ſcharf und deutlich erkennen, — weiterhin verſchleiert
ſich Alles immer mehr und mehr, bis es ins abſolut Unbeſtimmte
übergeht. Indeſſen variiren, je nach örtlicher Lage und nächſter
Umgebung der Gipfel, auch hier die Niederblicke und Ausſichten
[278]Alpenſpitzen. ungemein. Vortrefflich ſchildert dies Studer in ſeinen Gletſcher¬
fahrten: „Die Ausſicht von der Jungfrau iſt mehr erhaben als
ſchön. Ja, auf das Gemüth desjenigen, der zum Erſtenmal ihre
Zinne betritt und dem ſie die koloſſalen, in ihrer ernſten Pracht faſt
unheimlich ausſehenden Bilder des Umkreiſes enthüllt, wirkt ſie
wahrhaft erſchütternd. Das Bunte, Reizende fehlt; kein blauer
See erfreut dort das Auge, — denn auf den Spiegel des Thuner¬
ſees blickt es ſo tief hinunter, daß er an Farbe und Charakter
einem düſteren Alpenſee ähnlich, zwiſchen öden, baumloſen Berg¬
höhen zu liegen ſcheint. Die lieblichen Landflächen ſind zu ent¬
fernt, um ihren Reiz zu entfalten. Das trübe Grau, das ſie wie
eine Dämmerung bedeckt, verſchwimmt in dem finſteren Dunſt, der
den weiten Horizont geſtaltlos umzieht und keine Formen, keine
Farbe mehr erkennen läßt. Im weiten Kreiſe begränzt von den
farbloſen Niederungen oder dem düſteren Horizonte breitet ſich
eine Welt von zerriſſenen Gletſchern, ſchneeigen Hochthälern,
mannigfach verſchlungenen Firn- u. Felſenkämmen aus, über welcher
man in ſchauerlicher Einſamkeit thront und welche unter dem
ſchwarzblauen Firmamente von dem gebrochenen Lichtſchimmer einer
mattſtrahlenden Sonne beleuchtet iſt. Der Tödi, der die ganze
öſtliche Schweiz dominirt, bietet einen unermeßlichen Geſichtskreis
dar; man kann ſagen, man ſieht nur zu viel. Das Einzelne ver¬
ſchwindet unter dem Ganzen, und auch dort verſchwimmen die ent¬
fernten Niederungen in nebeligen Dunſt, und das ungeheuere Alpen¬
gebiet, das man überſieht, zeigt wenige einzelne, großartige
Gruppen oder Gebilde, die das Auge vorzugsweiſe feſſeln. Die
Berner Hochalpen und Bernina ſind ſchon zu entfernt, um einen
ſehr impoſanten Eindruck hervorzubringen. — Dagegen erhält die
Ausſicht vom Mont Velan (11588 Fuß üb. d. M.) ihren hohen Reiz
gerade durch das großartige, maleriſche Bild und den ſo verſchieden¬
artig ausgeprägten Charakter der einzelnen ſichtbaren Gebirgsgruppen.
Das Specielle tritt lohnend hervor. Das Auge muß nicht ermü¬
[279]Alpenſpitzen. den, ein unabſehbares Gewirr gleichförmiger Bergketten zu ent¬
ziffern; jede hat ihr beſonderes Gepräge, und man kann ſich kaum
ſatt ſehen an den ſcharf gezeichneten ſchönen Formen der überall
deutlich hervortretenden Gipfelgeſtalten. Man ſchaut noch an die
Rieſenhäupter des Montblanc und Grand Combin empor, und em¬
pfindet in dem überwältigenden Eindrucke die Macht ihrer Größe.
Und dennoch giebt der weite Geſichtskreis Zeugniß von der Erha¬
benheit des Standortes, und mit Stolz beherrſcht der Blick
tauſend mächtige Gipfel, die ſich vor ihm beugen müſſen. — In
älteren Reiſebeſchreibungen wird Mancherlei davon gefabelt, daß
man am hellen Mittage auf ſolch außerordentlichen Höhepunkten
die Sterne funkeln ſehen könne; alle die neueren Bergſteiger wiſſen
auch hiervon nichts zu berichten.“


Zu den originellſten Momenten gehört die Art und Weiſe,
wie die Bergſteiger der verſchiedenen Zeiten und Nationen unter¬
einander korreſpondiren und mit der Bewohnerſchaft angränzender
Thäler telegraphiſch ſignaliſiren. Ueberall nämlich, wo ein Gipfel
zum Erſtenmal erſtiegen wird, laſſen die Sieger irgend ein Zeichen
ihrer Anweſenheit zurück, wie die alten Römer das „hoc iter
Caesaris
.“ Beſteht eine ſolche Expedition nur aus Hirten und rüſti¬
gen Thalleuten oder Wanderfreunden der Alpenwelt, die das Ueber¬
maß ihrer phyſiſchen Kräfte an irgend ſolch einem Koloß erproben
wollen, weil er ihnen jahraus, jahrein ins Fenſter ſchaut, dann
bauen ſie als Promemoria für künftige Geſchlechter aus zuſammen¬
geleſenen Felſentrümmern eine kleine Pyramide, und das erſte Ge¬
ſchäft eines paſſionirten Bergſteigers, ſo wie er auf der Höhe an¬
kommt, iſt: dieſes ſ. g. „Steinmandli“ zu unterſuchen, ob daſ¬
ſelbe nicht irgend einen Zettel, eine Nachricht von den vorhergehen¬
den Erſteigern enthält. Um ſolche für vielleicht ferne Zeiten be¬
ſtimmte Korreſpondenzen gut zu konſerviren, werden die hier oben
geleerten Weinflaſchen benutzt. Sie, die für die Tiefe ſchwarzer
Keller-Nächte beſtimmt, manchen Mondenwechſel einſam in der Erde
[280]Alpenſpitzen. Tiefen vertrauerten, ſind nun auserwählt, auf den äußerſten Gipfeln
des Erdballes eine praktiſche Interpretation des hoffnungs-heiteren
post nubila Phoebus (durch Nacht zum Licht) zu bethätigen, — ſie, die
bisher Träger und Hülle geiſtiger Getränke waren, dienen nun dem
geiſtigen Fluidum des menſchlichen Gedankens und werden mittel¬
bare Vermittler und Begrüßungs-Poſtillone zwiſchen gänzlich un¬
bekannten Perſonen. Der aus dem Notizbuche geriſſene Zettel
mit den Namen der Beſteiger, Datum und allfälligen Aufzeichnungen
über Wärme, Ausſicht, beſtandene Abenteuer u. ſ. w. (dem es mit¬
unter nicht an witzigen, konfidentiellen Scherzen fehlt, je nachdem der
Weingeiſt den Gehirn-Barometer hinaufgetrieben hatte) wird in die
Flaſche verſenkt und dieſe feſt gepfropft, in die Mitte des umge¬
benden Steinmandli verwahrt, ſo daß Sturm, Regen und Schnee
ihr nichts anhaben können. Weilenmann fand auf dem Monte
Roſa-Gipfel in einer ſolchen Flaſche nächſt einem Couvert mit
Grüßen und Notizen auch noch breite, rothe und ſchwarze, ſeidene
Bänder, welche die Gebrüder Smith von Great-Yarmouth, die
erſten Beſucher der höchſten Spitze (Gebrüder Schlagintweit waren
blos bis zu einem 22 Fuß unter dem höchſten Kulm liegenden Punkte
vorgedrungen), dort zurückgelaſſen hatten; er ſchnitt kleine Streifen
ab, von denen er ſpäter, nach ſeiner Heimkehr, Abſchnitte den
Herren Smith brieflich zuſandte, als Zeichen der Nachfolgerſchaft.
Solche Depoſitionen erinnern lebhaft an die mittelalterliche Sitte:
in Thurmknöpfe und Grundſtein-Gemäuer, Dokumente und Mün¬
zen für ferne unbekannte Generationen niederzulegen.


Wo ſich die Bergſteiger aber auf eine Celebrirung ihrer Er¬
rungenſchaft vorbereitet haben, da wehen, als Zeichen der Beſitz¬
nahme eines Punktes, Fahnen ins Thal herab, die unten mit dem
Fernrohr (oder dem „italiſchen Feldſpiegel“, wie die Gebirgs¬
bauern ſagen) erkannt werden können. Gemeiniglich ſind es im¬
proviſirte Standarten, rothe Foulards mit Bindfaden an einen im
Steinmandli befeſtigten Stock gebunden, oder wie bei Coaz's Bernina¬
[281]Alpenſpitzen. Beſteigung das weiße eidgenöſſiſche Kreuz im rothen Felde, das
triumphirend über Gletſcher und Firnfelder flaggte. Da aber
ſolche Trophäen gar ſehr den Hochſtürmen ausgeſetzt ſind und in
der Regel bald umfallen, oder (wie auf dem Piz Linard, welche
Weilenmann fand) vom Blitze zerſplittert und verſengt werden,
ſo ließ Hugi auf dem Finſteraarhorn eine aus Eiſendraht gefertigte,
mit Harztuch überzogene Fahne aufpflanzen, welche man vom Grim¬
ſelhoſpiz, von Bern, ja ſelbſt von Solothurn aus (einer Entfernung
von 19 Schweizerſtunden oder 12 geographiſchen Meilen), durch
den Tubus beobachtete. Die originellſte, vom momentanen Sich¬
zuhelfenwiſſen zeugende Fahne etablirten die Gebrüder Schlagintweit
am Monte Roſa, wo ſie in Ermangelung entſprechenden Flaggen¬
ſtoffes ein Hemd an die Stange banden, — die in Betreff des
Humors faſt noch von jener übertroffen wird, die Studer auf dem
Rinderhorn aufhißte; auch dort mangelte, als man den Aufmarſch
antrat, ein Fahnentuch, und der Wirth des einſam gelegenen Berg¬
wirthshauſes Schwarenbach wußte ſich nicht anders zu helfen, als
daß er eine alte Weſte zu dieſem Zweck dem Spiel der Lüfte
preisgab.


Wie ſchon erwähnt, werden die Beſteiger durch gute Perſpektive
mit den Augen vom Thale aus auf ihrer Tour verfolgt, und es
war ſchon der Fall, daß man, als endlich die langerſehnte Fahne
luſtig auf dem Gipfel flatterte, in der Tiefe mit Kanonen- und
Böllerſchüſſen weithin den Thalbewohnern das Gelingen der Expe¬
dition verkündete. Es entſpricht den allgemeinen akuſtiſchen Be¬
dingungen und Geſetzen, daß die auf der Bergſpitze Weilenden dieſe
Freuden-Signale hörten, weil die Schallſchwingungen, vielfach von
den Bergwänden zurückgeworfen, heraufdringen mußten, während
Piſtolenſchüſſe auf ſolchen alle anderen überragenden Höhen, aus
Mangel katakuſtiſcher Faktoren, beinahe ſpurlos, ohne allen Effekt
verſchwinden und darum im Thale durchaus nicht gehört werden.
Ueberhaupt iſt abſolute, lautloſe, feierliche Stille, die durch keine
[282]Alpenſpitzen.Lebens-Aeußerung unterbrochen wird, ein beinahe ſchauerlich-charak¬
teriſtiſches Merkmal ſolcher äußerſter Höhepunkte, die in ewiger
Sabbathruhe daliegen; nur wenn der Sturm die Gipfel umbrauſt,
dann erbebt die Luft ſeufzend unter den Windſtößen, und langge¬
zogene heulende Disharmonieen umtanzen im wilden Reigen die
grauſe Einſamkeit.


In dieſen Höhen hat das organiſche Leben als normale Er¬
ſcheinung aufgehört. Selten iſts, im Schnee Spuren von Gemſen¬
tritten zu finden, und ebenſo ungewöhnlich, einen, der noch in der
unteren Schneeregion niſtenden Vögel zu erblicken; nur bisweilen
kreiſt ein Steinadler oder Lämmergeier um eine der benachbarten
Spitzen und unterbricht die hehre Stille mit ſeinem gedehnten,
ſchrillen „Pfii“ und „Hiä“. Wohl aber begegnet man nicht ſelten
den Leichen kleinerer Thiere, namentlich ſolchen von Inſekten, die
urſprünglich dem Tieflande angehörend, durch irgend eine empor¬
wirbelnde Windſäule hier heraufgetragen wurden und auf dem
Schnee raſch ihren Tod fanden. Herr v. Dürler ſah auf dem
vereisten Kulm des Tödi während ſeines Mittagsmahles einen
Schmetterling (Papilio brassicae, Kohlweißling) in mattem Fluge
vorüberflattern, den ebenfalls der Sturm in dieſe Todesfelder ver¬
ſchlagen hatte. Auch dürre Laubblätter von Buchen und Ahornen
wurden ſchon wiederholt auf den Firnen von 11 und 12 Tauſend
Fuß angetroffen, — immer aber, vermöge ihrer größeren Wärme-
Kapazität, einige Linien tief in ſcharfen Umriſſen in den Schnee
eingeſunken. Nur das Pflanzenreich hat hie und da noch einige
verlorene Gränzpoſten; ſo zeigen ſich an felſigen Stellen bei 10,000
Fuß noch die Aretia helvetica und glacialis, letztere mit ihren feu¬
rigrothen Vergißmeinnicht-Sternlein auf graugrünem Laubkiſſen, die
erſtorbene Einöde ein wenig belebend; — ferner Poa alpina var.
frigida
, und am Schreckhorn ſogar bei 11,000 Fuß noch der behaarte
Gletſcher-Hahnenfuß (Ranunculus glacialis L.). Noch einige
Moosarten wagen ſich hierherauf, indeſſen äußerſt ſpärlich, und als
[283]Alpenſpitzen. allerletzte Repräſentanten des Pflanzenreiches, zeigen ſich auf den
äußerſten Spitzen noch ein Paar Flechten, z. B. Parmelia elegans
und muralis, Cetraria nivalis Ach., und auf dem Gipfel der
Jungfrau die nach dieſer getaufte Umbilicaria virginis.


Wie es da droben, auf dieſen äußerſten Kulminationspunkten
unſeres Erdtheiles ausſieht, iſt zum Theil ſchon geſagt worden.
Die Gipfel des Montblanc, Tödi, Mont Velan, Cima de Jazzi
u. a. ſtellen ſich als ſanft rundlich anſteigende, gewölbte, große
Schneekiſſen auf breiter Baſis dar, auf denen ganz ungefährlich
zu weilen iſt. Der Galenſtock (Berner-Urner Gränze 11,073 Fuß)
zeigt ſich gen Weſten ebenfalls als ſanft abgerundete Schneekuppel,
die aber gen Oſten faſt ſenkrecht, mehrere tauſend Fuß plötzlich ab¬
fällt. Der Kulm des Groß-Glockner in Tyrol iſt ein unebener,
felſiger Platz von grünem Chloritſchiefer, der höchſtens für 12 Per¬
ſonen Raum bietet. Die ſüdliche Zacke der Schreckhörner (85 Fuß
niedriger als die nördliche, höchſte, noch unerſtiegene) bietet etwa 10
Quadratfuß Oberfläche, in Form eines Bogens oder Halbmondes,
dar, deſſen Konvexität nach Norden gerichtet iſt. Dagegen bildet
der Gipfel des Finſteraarhorns einen wellenförmigen Grat von
etwa 20 Fuß Länge und nur 1 bis 1½ Fuß Breite, der jäh nach
beiden Seiten abfällt. Gleiche oder ähnliche Formen zeigt die
Jungfrauſpitze; ſie fällt wie das Dach eines Zeltes mit 60 bis
70 Grad Neigung, bei einer Breite von nur 6 bis 10 Zoll, als
harter Schneefirſt ab, — und das Eisdach des Großen Rinderhornes
iſt vollends ſo entſetzlich zugeſchärft, daß es dem kühnſten Wagehalſe,
bei dem ſteilen Anſteigen der Schneide, unmöglich wird, hinauf zu
reiten oder kletternd zu rutſchen. Der Bernina-Gipfel bietet gar
nur ſo viel Platz, daß kaum 3 Perſonen neben einander ſtehen
können und der Grand Combin läuft in eine abſolute Firnſpitze,
aus, auf welche man ſich nicht wagen darf. Wir finden ſomit eine
reichhaltige Muſterkarte von Formen, ſowohl ſolchen, die Schnee
und Eis improviſiren und alljährlich, je nach den Abſchmelzungen
[284]Alpenſpitzen. oder Akkumulirungen neu modelliren, als auch ſolchen, die in aller¬
hand Geſtalt als Fels auslaufen. So mühevoll und gefährlich
die Erklimmung einer Alpen-Hochſpitze iſt, ebenſo ſchwer fällt dann
das Scheiden von derſelben. Es iſt ein Abſchied, vielleicht für
immer von einer, weit über dem kleinlichen Treiben der Menſchen
erhabenen, ſchönen Welt. Der Rückzug iſt oft mit noch mehr Schwie¬
rigkeiten verknüpft als das Emporſteigen; denn, ſind Führer und
Reiſende jetzt zwar mit dem Wege und ſeinen Hinderniſſen ver¬
trauter als vorher, ſo iſt die Summe der Kräfte nicht mehr ſo
groß, die Oberfläche des Schnees durch die Einwirkung der Tages¬
wärme weicher, naſſer, einſturzfähiger und das Hinabklettern an
Felſenwänden viel umſtändlicher und unzuverläſſiger als das
Hinaufklettern, weil man den ſicheren Tritt immer erſt unter ſich
ſuchen muß, der im andern Falle von ſelbſt dem Auge ſich darbietet.
Es kommt indeſſen auch vor, daß die Sonne die Spuren der Fu߬
tritte hinwegleckt und man dann beim Rückmarſch dieſen Leitfaden
verliert. Dann durchfurchen am Nachmittage Gletſcherbäche die
Oberfläche der Eisrücken und machen den Weg ungemein ſchlüpfrig.
Wie verhängnißvoll ſelbſt auch dieſe kleinen, mit lautem Getöſe
in die Gletſcherſpalten ſtürzenden Waſſeradern für den ſorglos oder
ermattet dahinſchlendernden Berggaſt werden können, beweiſt eine
Anekdote, welche Herr Weilenmann bei Gelegenheit ſeiner Monte
Roſa-Tour erzählt. Einer der Engländer, welche von der Partie
geweſen waren, rutſchte in ſolch einem Gletſcherbache aus und ver¬
ſchwand plötzlich. Die Führer ſtürzen mit Entſetzens-Schrei nach
und ergreifen ihn, der fortgleitend, eben dem Abgrunde eines 30 bis
40 Fuß breiten, tiefen, mit Waſſer gefüllten Trichters zugeſchwemmt
werden ſollte, an Arm und Kleidern, um ihn herauszuziehen. Der
Menſch hatte, horribile dictu, Gummiſchuhe angezogen und deshalb
keinen feſten Tritt. — Ueber Schneefelder, die nicht gar zu ſteil
abſinken, rutſcht man ſtehend, den Stock nach hinten gehalten,
wie ein Schlittſchuhläufer pfeilſchnell hinunter. Es will geübt
[285]Alpenſpitzen. ſein. Anfänger geben ergötzliche Intermezzi zum Beſten. Ueber¬
haupt macht auch hier, wie in allen Dingen, Uebung den Meiſter.
Der tägliche Umgang mit den Elementen des Hochgebirges macht
die Führer nicht nur ſo keck und vertraut, ſondern namentlich auch
außerordentlich gewandt. Es iſt faſt unglaublich, mit welcher Si¬
cherheit und Leichtigkeit der Aelpler, große Laſten auf dem Rücken,
die ſchwierigſten Paſſagen überwindet. Als Hugi bei ſeiner dritten
Finſteraarhorn-Expedition mit lahmem Fuße kaum mehr weiter
konnte, packte ihn Leuthold nolens volens auf ſeinen Rücken und
eilte mit ihm über den Gletſcher hinab, während es ſtürmte und die
Nacht hereinbrach. Die anderen beiden erprobten Führer Währen
und Zemt wetteiferten mit jenem, ihren Herrn zu tragen. Hugi
ſagt, es ſei ihm unbegreiflich geweſen, wie dieſe Männer, ohne
Stock, mit beiden Händen ihre Laſt haltend, Schründe in tiefer
Dämmerung überſprungen hätten, wo Alles trügeriſch und unſicher
geweſen ſei.


Schon weiter oben ſind Beiſpiele von der Verwegenheit der
Führer gegeben worden, mit welcher ſie halsbrechende Sprünge
wagen; hier noch eins, das nach anderer Seite hin die Tollkühn¬
heit derſelben beleuchtet. Gottl. Studer hatte, bei der Rückkehr
von der Jungfrau, ſeine Kopfbedeckung in einen tiefen Firnſchrund
fallen laſſen, der ſtufenlos und jäh, wie das ſteilſte Thurmdach
mit ſchiefer Eisfläche abſank; gegen die Tiefe verengten ſich die
Gründe des Schrundes, während die entgegengeſetzte Wand wie
eine hohe lothrechte Mauer mit vielen Eisnadeln aus dem nächt¬
lichen Dunkel aufſtieg. Der Führer Bannholzer, den der Verluſt
der Mütze ärgerte, rief raſch entſchloſſen, daß er nachſehen müſſe,
wo das Stück liege, und ließ, ungeachtet alles Abmahnens, das
Seil um den Leib befeſtiget, ſich in den grauſigen Schlund hinab¬
gleiten. In bedeutender Tiefe angekommen, wo er auf einem ab¬
gebrochenen, jeden Augenblick mit Einſturz bedrohten Eispfeiler
Stützpunkte für den Fuß fand, ſieht er die verlorene Kappe, —
[286]Alpenſpitzen. aber noch tiefer unter ſeinem Standorte, liegend. Der oben von
zwei Männern gehaltene Strick reicht nicht mehr aus. Der toll¬
kühne Bannholzer bindet ſich los und ſteigt vollends in die eiſige
Grabesnacht hinab. Nach banger Pauſe ertönt ſein jauchzender
Ruf aus der Tiefe. Er hatte ſeine Beute erreicht und kam glücklich
wieder ans Tageslicht. Trotzdem er in einer Tiefe von mindeſtens
hundert Fuß war, ſetzte, nach ſeiner Verſicherung, der Bergſchrund
noch in unergründliche Tiefen fort.


Es iſt ein beneidenswerthes Tagewerk, welches der Naturfreund
vollbracht hat, wenn er am Abend körperlich unverletzt, geiſtig
gehoben, reich an Erfahrungen und bereichert im Schatze ſeines
Wiſſens, drunten in den Hütten der Menſchen, ein Gefeierter des
Tages, wieder anlangt; — es iſt ein Genuß und ein Bewußtſein,
deſſen nur Wenige von der großen Menge der Alpenwanderer ſich
erfreuen können. Noch nie iſt dies Streben ſchöner und edler
gewürdiget worden als durch Friedr. von Tſchudi's Antwort auf die
Frage: Was ſoll der Menſch da oben? „Es iſt das Gefühl geiſtiger
Kraft, das ihn durchglüht und die todten Schrecken der Materie
zu überwinden treibt; es iſt der Reiz, das eigene Menſchenvermögen,
das unendliche Vermögen des intelligenten Willens an dem rohen
Widerſtande des Staubes zu meſſen; es iſt der heilige Trieb, im
Dienſte der ewigen Wiſſenſchaft dem Bau und Leben der Erde,
dem geheimnißvollen Zuſammenhange alles Geſchaffenen nachzu¬
ſpüren; es iſt vielleicht die Sehnſucht des Herrn der Erde, auf
der letzten, überwundenen Höhe im Ueberblick der ihm zu Füßen
liegenden Welt das Bewußtſein ſeiner Verwandtſchaft mit dem
Unendlichen durch eine einzige, freie That zu beſiegeln.“ —


[]
Figure 7. Alpenſtraße.

Druck von F. A. Brockhaus in Leipzig.

[][[287]]

Gebirgs-Päſſe und Alpen-Straßen.

Lob verdient, was, gering nur, der wenig Bemittelte leiſtet,

Wie das größere Werk des reicher vom Glücke Begabten.

Jeder doch thut nur ſo viel, als nach Maßgab' der Kräfte ihm obliegt.

Hoch über Beiden drum ſteht, deß Muth bei der Kräfte Beſchränktheit

Rieſenhaft Großes erfaßt und rühmlich zur Ausführung bringt.

Ueber die höchſten Grate der alpinen Centralketten läuft die
Gränzſcheide germaniſchen und romaniſchen Elementes; beide würden
ſchroff und ſtarr getrennt an den entgegengeſetzten Abhängen, ein¬
ander fremd, und unherührt von den nachbarlichen Eigenthümlich¬
keiten, durch Jahrtauſende fortexiſtirt haben, wenn nicht die Völker
und ihr Lebens-Verkehr in den tiefſten Einſenkungen der Gebirgs¬
züge ſich begegnet wären. Es war ein natürliches Bedürfniß der
erſten Bewohner, welche in den Alpenthälern ſich anſiedelten, noch
andere Wege aus ihrer abgeſchloſſenen Einſamkeit zu finden, als
blos dem Fall der Bäche und Ströme hinab in die Ebene zu folgen;
ſie drangen dieſſeits und jenſeits, dem Laufe der Gewäſſer entgegen¬
ſchreitend, zu den Quellen derſelben empor, und hier begegneten
beide Elemente einander. Daß dieſe Beſtrebungen jenen früheſten
Zeiten angehören, in denen das Alpenland zuerſt aus dem Dunkel
der Geſchichte auftaucht, beweiſt die noch heute gebräuchliche Be¬
[288]Gebirgs-Päſſe und Alpen-Straßen.zeichnung „Paß“; es war der passus (Schritt), welchen die Römer
auf ihren Eroberungszügen über die Alpen thaten. Als die Welt¬
herrſchaft derſelben gen Norden ſich auszudehnen begann, da über¬
ſchritten der römiſche Conſul Julius Caſſius im Kampfe wider die
Cimbern und Teutonen, — und nach ſeiner Niederlage, Marius
mit den römiſchen Legionen den Mont Cenis oder Mont Genèvre
(der Cottiſchen Alpen); Julius Cäſar drang über den Mons Penninus
(Großer St. Bernhard) gegen die Salaſſier vor, und nach der Grün¬
dung der Colonia Praetoria Augusta kurz vor Chriſti Geburt, wurde
zu Kaiſer Auguſtus Zeiten dieſer Paß ein viel begangener Weg. —
Ueppigkeit, Zwietracht und Laſter der entnervten Römer führte den
Sturz ihres Weltreiches herbei, und jetzt drangen die früher von
ihnen bekriegten nordiſchen Schaaren, namentlich Sueven und
Vandalen, Burgundionen und Alemannen, über dieſe Päſſe nach
Italien ein. Nur Werken des Streites, der Eroberung, Zerſtörung
und feindſeliger Abſichten dienten bis dahin die wüſten, beſchwerlich
zu paſſirenden Bergpfade. Mit dem Verrinnen der, alle damaligen
Zuſtände erſchütternden, Alles umgeſtaltenden Völkerwanderungen
fanden die ſittlich-hebenden und veredelnden Segnungen des Chriſten¬
thums auch in den Alpen Eingang, und hier begegnen wir auf
den einſamen Höhen des Lukmanier-Paſſes dem Friedensboten und
Glaubensapoſtel Columban und ſeinen Schülern. Dieſer Berg-
Uebergang wurde nun die gebräuchlichſte Straße der fränkiſchen und
carolingiſchen Fürſten; Pipins Heer zog über dieſelbe dem Papſt
Stephan III. zu Hilfe, Karl der Große holte ſich auf dieſem Alpen¬
wege die Kaiſerkrone, und die Lehrer, welche dieſer erhabene Herr¬
ſcher aus dem Süden kommen ließ, um Bildung, Künſte und
Wiſſenſchaften bei ſeinen Völkern einzuführen, mögen über die
Felſenrücken des Lukmanier gewandert ſein. Neben ihm beſtand
der Splügen, die alte Lombarden-Straße, als einer der bedeutendſten
Heereswege des Mittelalters; ſchon zu Kaiſer Antonins Zeiten war
er eine bekannte Römer-Paſſage.


[289]Gebirgs-Päſſe und Alpen-Straßen.

Mit dem Zunehmen des Verkehrs zwiſchen dem Süden und Norden
Europas, mit dem Beginn des transalpinen Landhandels, mit dem
Aufkommen der pomphaften Römerzüge, welche die Deutſchen Könige
unternahmen, um ſich vom Papſt mit dem Deutſchen Reiche belehnen
und zum Kaiſer krönen zu laſſen, mit den Kämpfen derſelben in
Italien, kamen dann auch die Alpenpäſſe des Brenner, Bernhardin,
Septimer und Julier in Aufnahme. Letzterer war vom 13ten bis
15ten Jahrhundert die Haupthandelsſtraße zwiſchen Venedig und
Deutſchland oder Frankreich.


Der Werth und die Bedeutung der Alpenpäſſe ſtieg von
Jahrhundert zu Jahrhundert. Es giebt wenig große Heerſtraßen
Europas, die geſchichtlich ſo denkwürdig und furchtbar-erhaben
daſtehen wie dieſe wilden Gebirgswege; die größten Feldherren
faſt aller Jahrhunderte haben um ihren Beſitz geſtritten, und auf
den einſamſten Höhen, ja oft in Mitte des ewigen Schnees finden
wir Trümmer alter Landwehren und Befeſtigungswerke, wie auf
dem Gargellen-Joch im Rhätikon und auf dem zehntauſend Fuß
hohen Matterjoch die Theodul-Schanze. Wir brauchen nicht an
Baldirons Schaaren im dreißigjährigen Kriege, an Suwaroffs
ſchreckliche Kämpfe auf dem Gotthard und ſeinen Rückzug über
den Pragel und Panixer-Paß, an Buonapartes Uebergang über
den großen St. Bernhard zur Schlacht von Marengo und an
Andreas Hofers Vertheidigung Tyrols zu erinnern, um die poli¬
tiſche und ſtrategiſche Wichtigkeit der Alpenpäſſe darzulegen. Nicht
die aufbauenden, ſegensvollen und länderbeglückenden Entwickelungs-
Phaſen des Friedens, nicht die mächtigen Pulſationen des völker¬
verbindenden, kulturfördernden Handels gaben die Veranlaſſung zu
dem erſten Kunſtſtraßenbau über den Simplon. — „Le canon, quand
pourra-t-il passer les Alpes?“
war die wiederholt drängende Frage
Napoleons I. an den rapportirenden Ingenieur-Offizier. Kanonen,
Heeresſäulen und Kriegestroß raſch und leicht übers Gebirge ſchaffen
zu können, war der Zweck des großen Eroberers. Aber das kühne
Berlepſch, die Alpen. 19[290]Gebirgs-Päſſe und Alpen-Straßen. Werk, deſſen Ausführung kurze Zeit vorher für eine tolle Phanta¬
ſterei gegolten haben mag, gab den Impuls zu anderen, ebenſo
großartigen Straßenbauten, deren jetzt mehr als ein Dutzend die
Hoch-Alpen überſpannen.


Der Begriff „Alpen-Paß“ iſt ein ſehr relativer. Es giebt
deren, die der gewöhnlichſte Fußgänger ſehr leicht und völlig ge¬
fahrlos paſſiren kann, die kaum einige Anſtrengung verurſachen, und
es giebt andererſeits wieder ſolche, die, über Gletſcher und Eisfelder
führend, nicht weniger Ausdauer, Sicherheit und ſchwindelfreien
Kopf bedingen, als die Erſteigung bedeutender Alpengipfel. Man
kann ſie daher zunächſt eintheilen in ſolche, welche zu Kunſt- und
Fahrſtraßen
gebaut ſind, auf denen Winter und Sommer ein
reges Leben herrſcht und über die tägliche Eil- und Poſtwagen
fahren; ferner in Saumpfade, die während der guten Jahreszeit
lebhaft benutzt werden und ſelbſt auch im Winter für Schlitten-
Paſſage dienen, und endlich in ſolche, die nur Fußpfade oder
Gletſcherpäſſe ſind.


Die künſtlich angelegten Alpenſtraßen ſind Meiſterwerke der
Baukunſt, — Triumphe des menſchlichen Verſtandes und der
eiſernſten Ausdauer. Ihre Erbauer: Napoleon I., Kaiſer Franz I.
von Oeſterreich, König Victor Emanuel von Sicilien und die
Schweizeriſchen Gebirgskantone Graubünden, Teſſin und Uri haben
ſich Denkmale durch dieſelben errichtet, welche die Pyramiden und
Tempelbauten der alten Völker übertreffen. Es gab zwar ſchon
vor dem Beginn unſeres Jahrhunderts gepflaſterte Alpenſtraßen,
wie z. B. die über den Septimer; aber ihre Anlage war ſo ſchwer¬
fällig und ohne alle Berückſichtigung für nur einigermaßen erleich¬
tertes Fortkommen, daß es für ein ziemlich gewagtes Unternehmen
galt, dieſelben mit Wagen zu paſſiren. Conſul Buonaparte war,
wie erwähnt, der erſte kühne Unternehmer, der in den Jahren 1801
bis 1806 den fahrbaren Weg über den Simplon bauen ließ.
Wichtig für den Handel waren von jeher die Päſſe über den Gott¬
[291]Gebirgs-Päſſe und Alpen-Straßen.hard, Splügen und Bernhardin. Seit vielen Jahrhunderten wur¬
den alle Waaren aus und nach Italien über dieſe drei Päſſe auf
dem Rücken der Maulthiere und Saumroſſe getragen, die in oft
langen Zügen die engen Gebirgswege ganz einnahmen. Graubün¬
den erkannte den unberechenbaren Werth fahrbarer Alpenſtraßen
und unternahm zuerſt allein auf eigene Koſten den Bau der Bern¬
hardin-Straße während der Jahre 1823. bis Hierdurch
wurde Oeſterreich genöthigt dem Beiſpiel zu folgen und baute den
Splügen; und als die Waldſtätte, beſonders Uri erkannten, daß
der Waaren- und Perſonen-Verkehr, welcher bisher über den Gott¬
hard gegangen war, ſich mehr den öſtlichen Fahrſtraßen zuwandte,
da wurde endlich 1828 bis 1830 auch dieſer Paß gebaut.


Alle Bergſtraßen ſteigen dem Laufe ziemlich bedeutender Flüſſe
entgegen, wie z. B. der Gottbard der Reuß und dem Ticino, der
Bernhardin dem Hinter-Rhein und der Möeſa, das Stilfſerjoch der
Adda und Etſch, der Brenner längs des Eisacktales u. ſ. w. An¬
fangs iſt die Steigung meiſt eine ſehr geringe, die Richtung eine
ziemlich direkte. Je tiefer die Kunſtſtraßen ins Gebirge eindringen,
je lebendiger der Lauf der ihnen entgegenkommenden Bergwaſſer
wird, deſto mehr weichen Richtung und Steigung ab. Bald nöthi¬
gen enge Felſenſchluchten zu komplicirteren Bauten. Hochgeſprengte
Brücken, durchbrochene Felſenthore, lavirende Zickzackwege beginnen,
und die Steigung wächſt auf 6 bis 7 Procent. Da die ganze
Konfiguration des Alpengebäudes gen Norden eine flacher gedehnte,
minder ſteile Abdachung zeigt als gen Süden, ſo häufen ſich die
Schwierigkeiten meiſt auch auf letztgedachter Seite.


In zahlreichen Schlangenwindungen (Tourniquets, Giravolte)
ſtuft ſich hier die bald in den Fels eingeſprengte, bald durch
Mauerwerk gehobene Straße in der Schlucht hinauf. Die „Kehren“
oder „Ränk“, wie der Fuhrmann die Curven nennt, mittelſt deren
die Straße in eine höhere oder tiefere Etage tritt und die meiſt
aufgemauert ſind, ſehen von der Tiefe wie übereinander errichtete
19*[292]Gebirgs-Päſſe und Alpen-Straßen. Baſtionen eines Feſtungswerkes aus. Am Auffallendſten zeigt ſich
dieſe Anordnung in dem jäh abfallenden Val Tremola, auf der
ſüdlichen Abdachung der Gotthardsſtraße. Von Airolo hinaufſtei¬
gend denkt man das Ende dieſer Windungen nicht erreichen zu
können; denn wenn man die Höchſte erklommen zu haben glaubt,
ſo wachſen immer und immer wieder neue, mit Schutzſteinen ge¬
ſpickte Mauer-Vorſprünge aus der öden, baumloſen, mit ſchwar¬
zen Glimmerſchiefer-Trümmern bedeckten, ſteil aufſteigenden Halde
heraus, und erſt nachdem man 46 ſolcher Windungen überwunden
hat, erreicht man das Hoſpiz. Reich an ſolchen Straßen-Zickzacken
iſt auch der Splügen, ſowohl auf der Nordſeite, als gen Süden
nach Iſola hinab, — der Bernhardin gegen das Dorf Hinterrhein
zu, — und das Stilffer Joch vom Dorfe Trafoi aufwärts im An¬
geſicht des Madatſch-Gletſchers und des gewaltigen Ortler-Maſſivs.


Mitunter bedingt aber auch ein die Hauptrichtung der Straße
durchſchneidendes, tiefes Querthal die Umgehung deſſelben und
verlängert dadurch die Linie außerordentlich. Dies zeigt ſich ganz
beſonders bei der Ganther-Schlucht am Simplon. Dort muß, vom
zweiten Stundenſtein von Brieg im Wallis aus, die Straße eine
volle Wegſtunde öſtlich einbiegen, um den Uebergangspunkt der
Ganther-Brücke zu gewinnen. Man ſieht das in gerader Linie
kaum ¾ Stunden entfernte, ſechſte Schutzhaus drüben über der
tiefen Schlucht hoch oben liegen und braucht drei und eine halbe
Stunde auf breiter ebener Chauſſee, ehe man es erreicht.


Um in den ungeheuerlichſten Gegenden, da wo die Schnee¬
ſtürme am Raſendſten wüthen, dem Wanderer im Winter eine Zu¬
fluchtsſtätte zu bieten, ſind in gemeſſenen Entfernungen feſte, ſtei¬
nerne Zufluchtshäuſer oder Refuges errichtet, die zum Theil von
den für die Straßenarbeit und zum Wegbahnen angeſtellten „Rut¬
nern“ oder „Cantonniers“ bewohnt werden, — eine Art ſibiriſcher
Verbannung. Während der wildeſten Wintermonate findet der
Hilfeſuchende in den unbewohnten Zufluchtshäuſern ſo viel geſpalte¬
[293]Gebirgs-Päſſe und Alpen-Straßen. nes Holz, um ſich ein Feuer im Kamin anzünden zu können, und
wohl auch ein Brod und ein Bündel Heu für den Fall, daß er
und ſein Roß durch Lauinenſturz oder hoch verwehte Schneewege
genöthigt würde, länger als einen Tag ſich hier aufhalten zu müſ¬
ſen. Auf der Simplon-Straße ſind außer dem großen Hoſpiz,
dem alten Hoſpiz, den Dörfern Beriſal, Simpelen und Gſteig
dennoch innerhalb neun Wegſtunden neun Zufluchtshäuſer, von de¬
nen das 5te und 6te, ſo wie das 8te und 9te, je nur etwa eine gute
Viertelſtunde von einander entfernt liegen.


Von noch größerer Wichtigkeit für die Sicherheit der Straßen
im Winter und Frühjahr ſind die Gallerien. Es ſind entweder
durch den Felſen getriebene Tunnel, wie z. B. auf dem Stilfſer
Joch die dritte Gallerie im Vallone della neve, — die Gallerien
bei Gondo und Algaby am Südabfall des Simplon u. a. — oder
künſtlich aufgemauerte und gewölbte Gänge mit Schießſcharten-ähn¬
lichen Oeffnungen, wie die in der Schöllinen-Schlucht beim Brüg¬
wald am Gotthard und auf vielen anderen Bergſtraßen, welche die
Beſtimmung haben, Mann, Roß und Geſchirr an notoriſch unſiche¬
ren, den regelmäßig wiederkehrenden Grundlauinen ausgeſetzten
Stellen gegen das Begrabenwerden im Schnee zu ſichern. Sie
ſind ſo feſt konſtruirt, daß die Lauinen mit ihren furchtbaren Sturz¬
ſchlägen den in den Gallerien Weilenden nichts anhaben können
und donnernd über dieſelben hinweg der Tiefe zu wettern. Frei¬
lich iſts auch ſchon begegnet, daß Schneeflächen in ungewöhnlicher
Breite losriſſen und die Gallerien an beiden Ausgängen verſchütte¬
ten. Indeſſen kommt dann gewöhnlich raſch Hilfe der Rutner, welche
die Schnee-Barrikaden durchbrechen und die Eingeſchloſſenen befreien.


Es giebt aber auch Gallerien, welche zum Schutz gegen das
Waſſer errichtet werden mußten, weil Bergſtröme in breiten, vollen
Kaskaden direkt auf die Straße herniederſchießen und die Paſſage
unmöglich machen würden; eine ſolche iſt die „Kaltwaſſer-Gallerie“
auf dem Simplon. Hier hängt der Kaltwaſſer-Gletſcher in nächſter
[294]Gebirgs-Päſſe und Alpen-Straßen.Höhe dräuend über der Straße und entſendet während der wär¬
meren Jahreszeiten einen kräftigen Bach milchig-trüben Abſchmelz-
Waſſers, das in luſtigem Bogen über das mittelſte der eilf Gallerien-
Fenſter herabbrauſt. Der Wanderer ſteht hinter dem Waſſerfall in
der mit Kalkſinter überzogenen Gallerie und ſieht durch die jagenden
Strahlen-Garben hindurch. Aber auch außerdem ſchützen die Gal¬
lerien im Frühjahr noch gegen die während des Winters durch
herabträufelndes, wiedergefrierendes Schneewaſſer gebildeten, koloſ¬
ſalen Eiszapfen, welche im Frühjahr ſich von den zu Häupten
hangenden Felſenmaſſen ablöſen und mit Blitzgeſchwindigkeit in
furchtbarer Vehemenz herniederſchmettern.


Die längſte aller Schutzgallerien iſt die all' aque rosse ge¬
nannte 1530 Fuß lange auf der Splügenſtraße, die ihren Namen
vom herabſickernden, eiſenhaltigen Waſſer, welches die Felſen roth
färbt, erhalten hat. Sie will freilich gegenüber den Rieſenarbeiten
der Neuzeit, z. B. gegen den 8310 Schweiz. Fuß langen Hauenſtein-
Tunnel (Baſelland) wenig bedeuten, galt aber lange als ein Wun¬
derſtück alpiner Baukunſt. — Kreuze an der Straße bezeichnen die
Stellen, wo Wanderer, durch Lauinen oder Schneeſtürme verſchüttet,
den Tod fanden.


Den Paß-Scheitel bezeichnet in der ein hochaufgerichtetes,
großes, roh-gezimmertes, hölzernes Kreuz als Siegeszeichen, daß die
Höhe des Weges erreicht iſt, als Mahnung zum Dankgebet für Gottes
Schutz. Die Hoſpitien oder Berghäuſer liegen gewöhnlich ſchon
wieder etwas ſüdlich unter der Uebergangshöhe, um gegen die von
beiden Seiten antobenden Stürme einigermaßen geſchützt zu ſein;
ſo iſts auf dem Simplon, Gotthard und Splügen.


Auf dieſen cultivirten Alpen-Uebergängen waltet noch die
alte, reichbelebte, vielgeſtaltige Landſtraßen-Romantik, welche die
Eiſenbahnen in der Ebene völlig verdrängt haben. Da bimmelt
noch das weittönende, disharmoniſche Schellengeläute von dem
Sechsgeſpann der ſchweren, robuſten Fuhrmannspferde vor dem hoch¬
[295]Gebirgs-Päſſe und Alpen-Straßen.gewölbten, mit weißer Plane ſtraff überzogenen, breiträderigen Fracht¬
wagen, und der roh-gemüthliche Blaukittel klatſcht ſeine Peitſchen-
Variationen dazwiſchen und accompagnirt dieſelben bisweilen mit
einer Auswahl der gebräuchlichſten Kernflüche. Staub dampft
in langgezogenen Wolken auf. Ein welſchländer Viehhändler treibt
ſeine Heerde jungen, ſchwarzen und dunkelbraunen Melkviehs und
eine Anzahl „Määßſtiere“, die zur Maſtung beſtimmt ſind, auf den
Lauiſer (Lugano) Markt. Voran geht der Knecht mit dem halb¬
hohen Bergſtecken und dem obligatoriſchen Regenſchirm unterm Arm
(denn kein Teſſiner und kein Appenzeller geht auf die Reiſe ohne
dieſes Präſervativ-Mittel). Auf der Schulter hängt der „Melk¬
tern“, und laut johlend erſchallt ſein hocheingeſetztes, anhaltendes,
dann aber im geſchleiften Tonfall ſinkendes „Ooo — — — ohoho¬
hohoho, komm wädli, wädli, wädli!“ womit er das Vieh lockt,
weidlich voranzuſchreiten. In Mitte der blöckenden Rinderſchaar,
mehr treibend als haranguirend, dagegen kräftig demonſtrativ auf
den Rücken ſeiner nächſten Umgebung mit Stockprügeln einwirkend,
geht ein Dolmetſcher, ein heruntergekommener Viehhändler, der
ſein Hab und Gut durch fehlgeſchlagene Spekulationen verlor.
Er iſt des italieniſchen Patois völlig mächtig, weil er ſeit einem
Vierteljahrhundert ununterbrochen nach der Lombardei handelte
und Vieh trieb. Jetzt, da ihm das letzte Stück daheim vergantet
worden iſt, dient er ſeinem Nachbar als Mäkler und Unterhändler um
Tagelohn und Tantième. Den Schluß des ganzen, langausgedehnten
Zuges bildet der eigentliche Entrepreneur der Alpen-Karavane. Der
größte Theil ſeines Vermögens ſteckt in dieſem wandernden Kapital.
Jetzt kommts auf gut Glück an, ob die Nachfrage lebendig iſt,
ob gute Preiſe gelten, oder ob der Markt mit ſchönem Vieh über¬
trieben und das Verlangen flau iſt. Schlägt die Spekulation ein,
ſo kann er einige tauſend Franken raſch verdienen. Aber ebenſo
viel kann er auch verlieren, wenn er um jeden Preis losſchlagen
muß; denn ſeine fünfzig Stück Jungvieh zehn bis zwölf Tage
[296]Gebirgs-Päſſe und Alpen-Straßen. über einige Bergpäſſe wieder heim zu treiben, für die er nicht genug
Futter hat, ſie zu überwintern, das käme ihm noch theuerer. Tief
ſinnend ſchreitet er hinter ſeinem Schickſalszuge her. Da ſchreckt
ihn Wagenrollen, lautes Geſchrei, Verwirrung in der Heerde aus
ſeinen berechnenden Meditationen auf. Der Eilwagen kommt in
raſchem Trabe von der Paßhöhe herab; der auf hocherhabenem
Sitze ſeiner kutſcherlichen Würde vollbewußte Poſtillon, dem als
einer dem Staate dienenden Perſon Alles, ſelbſt eine Heerde Rind¬
vieh ausweichen muß, fährt ſcharf in die gehörnte Schaar hinein.
Toben und Fluchen, Locken und Prügeln der Treiber, — Peitſchen¬
knall und Gelächter des Roſſelenkers, Angſtgeſchrei einer nerven¬
ſchwachen Dame im Coupé, welche für ihre perſönliche Sicherheit
fürchtet, Blöcken der Kühe aus allen Tonarten und heiſeres Hunde-
Gebell vermengen und verwickeln ſich mit den dicken Staubwolken
zu einer großen kataſtrophetreibenden Scene. Einige Kühe kehren
um und wollen den Heimweg antreten, aber „Schnautz“, der vigi¬
lante, alt-erprobte Heerdenhund, der nur die ihm obliegende Pflicht
des ſtrikteſten, unbedingteſten „Vorwärts“ kennt und keine Notiz
von den hindernden Umſtänden nimmt, übt ſeine Ordnungspolizei
mit unerbittlicher Strenge aus; er hat ſo eben mit der „B'plätzed“
(einer geſcheckten Kuh, die an der Stirn einen weißen „Plätz“
oder Flecken hat) einen Kampf zu beſtehen, die den Beweis ihres
Rechtes mit dem Kopfe durchſetzen will, während „s'Möhrli“,
ein ſanftes, verſtändiges Kuhtſchi ruhig ihren Schritt fortgeht. Sie
iſt darum auch gewürdiget, den zuſammengerollten Mantel des
Herrn als Halsband zu tragen. Die Viehtreiber ſchimpfen gegen
den Poſtillon und Kondukteur, der auf dem Wagendeck liegend, den
ihm zuſtändigen Sitz an einen Engländer abgetreten hat; die
Poſtleute repliciren in gleicher Weiſe. Durch den Alles umbrau¬
ſenden Tumult werden die Pferde unruhig, — eines ſpringt über die
Stränge, die Verwirrung nimmt zu, der Eilwagen muß halten. Gro¬
ßer Moment! Allgemeiner Skandal! Stürmiſche Sprachverwirrung!
[297]Gebirgs-Päſſe und Alpen-Straßen.Briccone! Kaibe-Dunders-Hagel! maldetto villano! scempiotto!
Strahls-Chogg!“ ſchreits und tobts von beiden Seiten.


„A delightful complication! En avant la voiture! Jar kene
Ordnung nich!“ tönts aus der Diligence. Endlich löſt ſich der Kon¬
flikt. Die Heerde zieht weiter bergwärts, der Wagen rollt mit
doppelter Geſchwindigkeit dem Thale zu. Die vielen Krümmungen
des Weges hindern den gewandten, mit feſter Hand vom hohen
Bock herab leitenden Wagenlenker nicht, den ſcharfen Trab beizube¬
halten. Im „Nu“ eilt er am begegnenden Kameraden vorüber, der
abgeſtiegen, neben den Pferden herſchlendert und nur langſam den
ſchweren Transport bergauf zu ſchaffen vermag. Ein ſpöttelnder
Zuruf begrüßt dieſen, der ihn am folgenden Tage mit Proteſt bei
abermaliger Begegnung zurückgiebt. Ueber Alle fliegt indeſſen un¬
geahnt, ungehört und ungeſehen an den Eiſendrähten des Tele¬
graphen, der jede Alpenſtraße begleitet, die Nachricht aus der
italieniſchen Halbinſel herüber: „Garibaldi hat Palermo einge¬
nommen!“ —


Wie ganz anders geſtaltet ſich das Leben auf der Alpenſtraße
im Winter. Schon Mitte Oktober legen die erſten, von den Wol¬
ken abgeſchüttelten Schneeladungen auf dem gefrorenen Boden
der Paßhöhen den Grund zum ſpäteren Schlittwege. Iſt der Herbſt
heiter und ſonnenhaft, weht vorherrſchend warme Südluft, ſo wer¬
den dieſe Fundamentalſchichten wohl theilweiſe wieder durch die
Tageswärme aufgelöſt. Aber immerhin bleiben ſporadiſche, kleine
Reſte liegen, die namentlich auf der Schattenſeite und durch die
nächtlichen Fröſte ſich konſerviren. So oft es im Thale regnet,
ſchneit es auf den Höhen. Dieſe ſchüchternen, immer noch wieder
zurückgeſchlagenen Verſuche wiederholen ſich, bis eines Tages die
ganze Gegend bis weit hinab eingeſchneit iſt und der Winter ſeinen
völligen Einzug hält. Jetzt wird der Berg für Räderfuhrwerk
geſperrt; der Schlittendienſt beginnt, ſowohl für die Poſt, als für
den Frachttransport. Auf den franzöſiſchen Päſſen über Mont
[298]Gebirgs-Päſſe und Alpen-Straßen.Cenis (6354 Fuß), Col de Lautaret (6443 Fuß) und Mont
Genèvre
(5741 Fuß) in den Grajiſchen Alpen, zeigt er nichts
ſehr Auffallendes. Die Reiſenden werden in große, ſechsſitzige
Poſtſchlitten gepackt, die 10 bis 12 Pferde Vorſpann erhalten.
Schimmel ſind ſeit Olimszeiten zu dieſem Dienſt beſtimmt, weil
Cavallo bianco mai stanco“ weiße Pferde nie müde werden.
Statt der Glasfenſter müſſen hölzerne Klappladen den Dienſt ver¬
ſehen, durch deren klaffende Fugen und Aſtlöcher der Sturm
pfeift und den feinen, ſtaubartigen Schnee in den dunkeln Raum
hineinkontrebandirt. Anders iſts auf den Walliſer und Graubünd¬
ner Paßſtraßen, über welche jetzt mit ſchweizeriſchem Geſchirr der
Poſtdienſt bis Colico piano am Comerſee (Splügen-Paſſage) und
bis Arona am Lago maggiore (über Simplon) beſorgt wird. Mit
großen bequemen Wagen fährt man, ſo weit es „aber“, d. h. ſo
weit die Straße ſchneefrei iſt, am Berg empor. Sporadiſche
Schneeflecken zu beiden Seiten melden die abſolut-winterliche
Region an. Kommt nun endlich der konſtante, weiße, glatte
Gleitweg, dann erblickt der Paſſagier eine Anzahl kleiner, ein- und
zweiſitziger Schlitten, die ohne Dach und Fach, ohne Bewachung
ſicher und unangetaſtet hier umgeſtürzt neben der Straße liegen.


Scenen, die an Nordpol-Expeditionen lebhaft erinnern, ent¬
wickeln ſich nun hier. Der Poſtillon tritt mit beiden Füßen eine
Futter-Krippe in den Schnee, wirft Heu hinein, daß die Pferde
eine Interims-„Collazione“ einnehmen und zu neuer Anſtrengung
ſich reſtauriren können; der Kondukteur wählt die für ſeinen jedes¬
maligen Transport geeignetſten Fahrzeuge aus, läßt ſie auf die
Kufen ſtellen, und die Umladung der Güter, Briefſäcke, Koffer,
und Paſſagiere beginnt. Letztere erhalten jeder einen hieb- und
ſchußfeſten, dicken Büffel-Mantel. Es iſt ein rühmenswerther Akt
der Humanität, daß die Eidgenoſſenſchaft ſolche zweckmäßige Prä¬
ſervative hier bereit hält. Wenn es ein trockener, kalter Winter¬
tag und heller Himmel iſt, dann herrſcht in der Regel das hei¬
[299]Gebirgs-Päſſe und Alpen-Straßen.terſte, ungezwungenſte Leben unter den Reiſenden; Maler würden
Stoffe zu draſtiſchen Genrebildern, voll des köſtlichſten Humors,
finden; — Seitenſtücke zu den ſommerlichen Rendez-vous unter
den Wettertannen. Windet und ſchneiet es aber ſcharf, hängt die
Atmoſphäre voll mißmüthig-grauer Wolken und heult der
Sturm in den Felſengaſſen, dann giebts freilich herzlich unliebſame
Scenen. — Der große, feſte Eilwagen bleibt nun gut verſchloſſen
ebenſo ſchutzlos und unbewacht ſeitwärts an der Straße ſtehen
wie vorher die Schlitten, bis die über den Berg entgegenkommende
Poſt an dieſer Stelle die Schlitten verläßt und die gleiche Trans¬
lokation der Paſſagiere im umgekehrten Verhältniß vornimmt.
Früher gabs Schlitten zum Transport für weibliche Reiſende, in
welche die Perſonen wie Wickelkinder eingepackt wurden. Dieſe be¬
ſtanden aus langen, ſargähnlichen Kaſten mit reinlichen Betten,
ſo daß eine Perſon völlig ausgeſtreckt ſich hineinlegen konnte,
mit einer vierfachen wollenen Decke und darüber mit einem feſt¬
geſchnallten Wagenleder bis an den Oberkörper zugedeckt wurde.
Es war eine gegen Kälte und Wind vollkommen ſchützende Ein¬
richtung. Begreiflich mußte die Reiſende auf der Höhe des Paſſes
ihre Lage ändern, um mit dem Kopfe höher zu liegen als mit den
Füßen.


Jeder Poſtſchlitten erhält nur ein Pferd. Im erſten ſitzt
der Poſtillon, im letzten der Konducteur, um den ganzen Zug
überſchauen zu können. Die Pferde aller übrigen Schlitten gehen
ohne Leitung. Iſt ſtarker Schnee gefallen, ſo wurde ſchon vorher
ein mit Ochſen beſpannter Bahnſchlitten vorausgeſandt, den ein
halb Dutzend ſtarke Männer, die Rutner, mit Schaufeln be¬
gleiten, um, wo nöthig, nachzuhelfen. Höchſt umſtändlich und
koſtſpielig iſt die Beförderung von herrſchaftlichen Reiſewagen in
dieſer Jahreszeit; ſie müſſen auseinander genommen, in ihre Theile
zerlegt und auf mehrere Schlitten verpackt werden, wobei dann jener,
welcher den Kutſchenkaſten trägt, noch ganz beſonderer Bedienung
[300]Gebirgs-Päſſe und Alpen-Straßen. und eines ununterbrochenen Anſpannens mit Balancir-Seilen be¬
darf, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Da, wo einfache La¬
dungen leicht und ungefährdet über etwas ſchmale Stellen hin¬
weggleiten, läuft ſo ein Kutſchkaſten-belaſteter Schlitten nicht ſelten
Gefahr, in den Abgrund zu ſtürzen, wenn nicht die begleitende
Mannſchaft friſch und umſichtig Hand anlegt. Denn je weiter
man am Berge hinaufkommt (beſonders an freien, dem Spiel
der Winde ausgeſetzten Wendungen), deſto ungleicher wird die An¬
häufung des Schnees. Einzelne Stellen erſcheinen wie gefegt, ſo
dünn liegen die glitzernden, winterlichen Kryſtalle auf der Straße,
während an anderen Stellen ungeheuere Maſſen zuſammengeweht
wurden. Je tiefer im Winter oder gegen das Frühjahr zu man
nun den Berg paſſirt, deſto größer iſt begreiflich auch das Schnee-
Quantum. Da iſts denn nicht ſelten der Fall, daß der Weg,
trotzdem er über 6 bis 10 Fuß hohe Schneelagen führt, dennoch
zwiſchen ſtockwerkhohen Schnee-Batterien durchläuft, oder wo durch
Lauinenſturz oder „Weheten“ der Schnee ſo gewaltig ange¬
häuft iſt, daß man wirkliche, jähe Hügel mühſam überklettern
müßte, da brechen die Rutner Gallerien und Tunnel durch
dieſelben.


Die allergefährlichſten Paſſagen ſind im Frühjahr jene, welche
an Abgründen vorüberführen. Nach und nach baut der angewehte
Schnee nämlich überhangende Vorſprünge an, die wie koloſſale
Dachtraufen über das eigentliche Straßen-Fundament oder die Stütz¬
mauern frei hinausragen. Gar leicht läßt ſich der mit der
Straße nicht ganz ſpeciell bekannte Fuhrmann oder Poſtillon, bei
der gänzlich veränderten und maskirten Geſtalt des Wegs, verlei¬
ten, den ſcheinbar bequemeren, am äußerſten Rande hinführenden
Pfad zu wählen, nicht ahnend, daß er im eigentlichſten Sinne
durchaus keinen Boden unter den Füßen hat und mit ſeinem Ge¬
ſchirr gleichſam ſchwebend über einen Abgrund hinfährt. Ein
geringfügiger Umſtand kann ſolch eine Schneelehne, die den ganzen
[301]Gebirgs-Päſſe und Alpen-Straßen. Winter über wie mit Cement gemauert ſteinfeſt hielt, zum Sturz
bringen und Roß und Mann tief drunten begraben.


Es iſt dies (neben den zahlreichen Lauinenſtürzen) eine jener
vielen Urſachen, welche den ſteilabfallenden, in Schlangenwin¬
dungen aufgemauerten, engen Paßſchluchten ſo ominöſe Namen
gaben, wie am Gotthard das Val Tremola (Thal des Zitterns),
am Splügen oberhalb Isola den Passo della Morte (Todespaß) ꝛc.


Der Weg iſt im Winter bei tiefem Schnee nur immer für
eine Schlittenbreite geöffnet; zu beiden Seiten ſind hohe Schnee-
Wälle emporgeworfen. Darum ſind Ausweichſtationen nothwendig,
wo die von der Höhe kommenden Ueberberg-Karavanen an ausge¬
buchteten Stellen warten müſſen, wenn ſie eines Zuges in der
Tiefe anſichtig werden, bis dieſer mit ihnen gekreuzt hat. An
denjenigen Stellen der Straße, die in Windungen anſteigen, iſts
der Fall, daß die Poſtillone dem vorderſten Pferd noch einen
kräftigen Streich mit der Peitſche verſetzen und dann vielleicht für
eine Viertelſtunde das Geſchirr verlaſſen, um auf näherem, nieder¬
getretenem Wege gerade aufzuſteigen. Die Reiſenden pflegen
dann, wenn das Pferd ermatten will, durch einen Schneeballen-
Wurf daſſelbe anzuſpornen. — Es giebt dann aber auch Zeiten,
in denen die Straße ſtreckenweiſe ſo unbedingt ausfüllend verweht
wird, daß die Poſt faktiſch auf dem Paß ſtecken bleibt und ſich
gratuliren muß das Hoſpiz oder Berghaus zu erreichen. Hier
pauſirt ſie vielleicht einen ganzen Tag lang, bis die Straße wieder
genügend praktikabel gemacht iſt. Weihnachten 1859 mußten
4 Kondukteure 4 Tage lang auf dem Gotthardshoſpiz die Oeffnung
des Val Tremola abwarten.


Dieſes Oeffnen und Fahrbarhalten der Straße iſt Sache der
Rutner, Rottori oder Cantonniers. Man wähnt im Flachlande,
der Forſt- und Hüttenmann, der Bauer und Chauſſeewärter und
ähnliche Leute ſeien völlig gegen Wind und Wetter abgehärtet.
Es fragt ſich, ob ſie jenes unerhört-zählebige Weſen, jene faſt un¬
[302]Gebirgs-Päſſe und Alpen-Straßen. verwüſtliche Ausdauer und jene Stahl- und Eiſenkräfte entwickeln
könnten, ohne welche der Rottore nicht denkbar iſt. Es liegt ſchon
im Mark und Bein des Bergmannes, in ſeinen, man möchte ſagen,
zu Federharz gewordenen Sehnen und Muskeln, in den (wie es
ſcheint) gegen die Kälte-Einwirkungen wie abgeſtumpften, härteren
Organismen des menſchlichen Körpers, daß er ein ganzes Mannes¬
alter hindurch, Jahr für Jahr, den gefährlichen und beſchwerlichen
Dienſt bei guter Geſundheit verrichtet. — Die Rutner werden von
den betreffenden Landesregierungen (auf dem Gotthard von der
Schweizeriſchen Eidgenoſſenſchaft, die jährlich fünfzig bis ſechszig
Tauſend Francs für den Schneebruch dieſes einzigen Paſſes be¬
zahlt) angeſtellt. In früheren Zeiten, bevor eigentliche Straßen-
Ordnungen beſtanden, geſchah es, daß die Kommunikation halbe
Monate lang durch übermäßigen Schneefall gehemmt war; jetzt
kann eine ſolche Unterbrechung ſich höchſtens nur auf einen bis zwei
Tage ausdehnen.


Gewöhnlich wird die Arbeit in zwei große Hälften getheilt.
Die erſtere iſt die ſogenannte „Fürleite“. Sie hat, ſo oft es
ſtark ſchneite, den eigentlichen erſten Durchbruch zu erzwingen. Mit
einem Dutzend feſter, ſtarker Zugochſen vor dem Bahnſchlitten,
geht der „Fürleiter“ ins wüſte Schnee-Dickicht hinein. Ein
Thier wird vor das andere geſpannt, weil zwei nebeneinander ſich
leicht im Geſchirr verwickeln würden. Die beſten und dauerkräftig¬
ſten Pferde würden viel leichter ermüden als das Ochſengeſpann.
Durch dieſe, auf beiden Seiten des Berges in Angriff genommene
erſte Arbeit entſteht nur ein unbedeutender Pfad. Die begleitenden
Rutner gehen hinter dem Schlitten her und ſchaufeln die erſte
Weg-Anlage einigermaßen aus. Eine zweite Arbeiter-Kompagnie iſt
weniger radikaler Natur; ſie hat die konſervative Aufgabe, den
nun einigermaßen geöffneten Graben auszuweiten und in fahr¬
barem Zuſtande zu erhalten. Es ſind die „Weger“ oder Rutner
mit dem „Hauptweger“ an der Spitze.


[303]Gebirgs-Päſſe und Alpen-Straßen.

So gefahrvoll beide Zweige dieſer Arbeit ſind, ſo ſelten iſts
der Fall, daß Leute dabei umkommen. Sie kennen die örtlichen
Beſchaffenheiten des Berges ſo genau wie die Lokalitäten ihrer
Wohnſtube; ſie achten vorſichtig auf jede Wind- und Wetter-Aen¬
derung und taxiren deren Folgen, — ſie wiſſen den Lauinen
faſt inſtinktmäßig auszuweichen. Poſtillone, Fuhrleute, Säumer,
überhaupt, wer den Berg überſchreitet, — Alle beachten genau die
Mahnungen und Rathſchläge der Rutner, und wo dieſelben aus
Uebermuth oder Leichtſinn verworfen wurden, erfolgten gewöhnlich
Unglücksfälle.


Iſt nun die Höhe von der Poſt glücklich erreicht, haben
Paſſagiere und Pferde ſich geſtärkt, dann gehts mit blitzſchneller
Geſchwindigkeit unter lautem Jauchzen und Jubeln, durch die eiſig¬
wehende Winterluft hinab. Bisweilen ſchneidet der ganze Zug
ſchnurgerade die Straßenwindungen ab, wenn der Schnee nicht zu
hoch liegt oder wo eine Diagonal-Linie (Contrapendenza) gebro¬
chen wurde. Nach Mühſeligkeiten vieler Art kommt der Reiſende
wieder im Thale an, und begrüßt mit freudigen Gefühlen die
Wohnungen des erſten Dorfes. Im Vergleich mit den im Flach¬
lande häufig vorkommenden Unglücksfällen durch umgeworfene
Poſtwagen und ſcheue Pferde, begegnen auf den Alpen-Paſſagen
glücklicherweiſe wunderbar wenig Schreckens-Ereigniſſe dieſer Art.
Um ſolche aber auch, wenn ſie vorkommen ſollten, ſo viel immer
möglich, in ihren Effekten zu ſchwächen, werden im Winter auf
den Schweizer Alpenſtraßen nie gedeckte, mit Fenſtern verſehene
Schlitten benutzt, damit, im Falle des Umwerfens, die Paſſagiere
nicht durch Glasſcherben verwundet werden können. Aus gleichem
Grunde haben die franzöſiſchen und ſardiniſchen Ueberberg-Schlitten
nur hölzerne Jalouſien ſtatt der Glasfenſter. — So iſt das Leben auf
den fahrbaren Bergſtraßen.


Weſentlich anders geſtaltet es ſich auf den vielbegangenen,
nicht fahrbaren Alpenpäſſen. Dort zeigt ſich das Verkehrsleben
[304]Gebirgs-Päſſe und Alpen-Straßen.noch in ſeiner uralterthümlichen, naiv-naturwüchſigen Einfachheit
ſowohl im Charakter der Straßen-Anlage, als aller darauf bezüglichen
Einrichtungen. Wo die Natur den Durchgang nicht genügend
öffnete, da haben Menſchenhände nur wenig nachgeholfen, und wo
Sümpfe oder weichender Boden den Pfad unſicher machten, ver¬
ſenkte der Alpenbauer ungeſchlachte Felſentrümmer und ſchuf ein
Cyklopenpflaſter, das einigermaßen an die hie und da vorkommen¬
den Fragmente alter Römerſtraßen erinnert. Hier durchwandert
der Berggänger an lauinengefährlichen Stellen keine Schutzgallerien,
nirgends gewähren Zufluchtshäuſer Rettung bei einbrechenden
Schneeſtürmen. Höchſtens errichteten die korreſpondirenden Thal¬
ſchaften auf der Uebergangshöhe, wie z. B. auf dem Fluela-Paß
in Graubünden, eine ärmliche Holzhütte, in der den Pferden etwas
Futter geſtreut werden kann, oder kunſtlos improviſirte Steingaden,
wie an der Daubenkehr auf der frequenten Gemmi-Paſſage. Uebri¬
gens iſt es todt und erſtorben zwiſchen den Ausgangs- und End¬
punkten, und Pferdegerippe, neben dem Wege liegend, berichten von
den zahlreichen Unglücksfällen, die in dieſen Einöden zur Winters¬
zeit ſich ereignen. Denn die meiſten Päſſe ſind landſchaftlich
außerordentlich langweilig und ermüden den Fußgänger durch ihre
unerquickliche Monotonie. In breiter, einförmiger Gebirgs-Rinne,
zu beiden Seiten von unintereſſanten Felſenformen eingeſchloſſen,
und von einem indifferenten Gebirgsbach ohne ſonderlich ſchöne
Kaskaden durchfloſſen, ſteigen die Paß-Aufgänge mehrere Stunden
lang auf holperig-ſteinigem Wege an, gewähren auf der Höhe
weder Fernſicht noch entſchädigenden Tiefblick, ſondern führen, der
vorhergehenden Partie entſprechend, wieder in gleicher Weiſe ins
jenſeitige Thal hinab. Dies iſt ganz beſonders bei vielen Tyroler
und Schweizeriſchen Voralpen-Päſſen der Fall. Der Pragel zwiſchen
Glarus und Schwyz (4750 Fuß) iſt ein Muſter dieſer Langweilig¬
keit, welcher aber auch mehrere andere Päſſe der eigentlichen, inneren
Alpen, z. B. der Septimer (7114 Fuß), der Albula und Fluela in
[305]Gebirgs-Päſſe und Alpen-Straßen. Graubünden, über das Pfietſcher Joch (6905 Fuß) und mehrere
Päſſe über die Tauern nicht nachſtehen.


Weſentlich energiſcher, unterhaltender, formenreicher und oft
überraſchend ſchöne Ausſichten plötzlich erſchließend, ſind die Päſſe
der centralen und weſtlichen Schweiz. Zu dieſen gehören zuvörderſt
jene, die wegen ihrer großen Frequenz einigermaßen mit Schutzmitteln
ausgeſtattet ſind. Vornehmſter Repräſentant derſelben iſt der Große
St. Bernhard zwiſchen Wallis und Savoyen mit ſeinem berühmten,
gaſtfreundlichen Hospitium. Er iſt nicht minder Wanderziel ſommer¬
licher Touriſten als Reiſemittel für jährlich viele Tauſende. An
Wichtigkeit iſt ihm die Grimſel (Paßhöhe bei der Hausegg, 6785
Fuß) zur Seite zu ſtellen; über dieſen Paß wird der bedeutendſte Kä¬
ſehandel aus dem Kanton Bern nach Italien getrieben. Er gehört
zu den begangenſten Alpen-Paſſagen, weshalb auch die Thalſchaft
Hasli ein feſtes, ſteinernes Gebäude als Hospitium unweit der
Paßhöhe gründete und dotirte. Jeder arme Wanderer wird hier, wie
auf dem Gotthard, Simplon und Großen St. Bernhard, im Win¬
ter wie im Sommer unentgeldlich übernachtet und verpflegt. Der
dritte, mit ſolchen Hospitien ausgerüſtete, nicht fahrbare Hochalpen-
Paß iſt, der Lukmanier in Graubünden, bezüglich ſeiner Umgebung
gleichfalls wieder ein Muſter landſchaftlicher Langweiligkeit.


Auf und an vielen Hochalpenpäſſen, die zur täglichen Kommu¬
nikation dienen, ſind „Berghäuſer“ oder „Taurenhäuſer“, wie ſie
in Tyrol heißen, erbaut, die von Bauern bewirthſchaftet werden,
wo man gegen Zahlung, wie in anderen Wirthshäuſern, dürftiges
Lager und Zehrung erhält. Deutſche Berühmtheit hat das Berg¬
haus Schwarenbach auf dem Gemmi-Paß durch Werners Schauer-
Komödie „der vierundzwanzigſte Februar“ erhalten. Die dort zu
Grunde gelegte, verhängnißvolle Mordthat iſt indeſſen leere Fiktion.
— Gemmi und Grimſel, wie faſt alle aus den Berner Alpen ins
Wallis führenden Päſſe, erſchließen auf ihren Höhen, wenn auch be¬
ſchränkte, doch imponirende Ausſichten auf bedeutende Hochalpengruppen.


Berlepſch, die Alpen. 20[306]Gebirgs-Päſſe und Alpen-Straßen.

Da der ſüdliche Abhang der Alpen, wie ſchon früher erwähnt,
immer ſteiler iſt als der gen Norden auslaufende, ſo ſind auch die
Paßniedergänge an dieſer Seite immer jäher und ſtotziger. Von
der Grimſel-Höhe führt der gut geebnete Pfad über die ſteile
Meyenwand zum Rhône-Gletſcher hinab, und an der Gemmi wurde
ein ſolcher gar in die faſt vertikal ſich erhebende, beinahe 2000 Fuß
hohe Balmwand geſprengt. Es iſt einer der abenteuerlichſten Wege,
der überhaupt in den Alpen vorkommt. Eine tiefe, düſtere Felſen¬
ſpalte klafft von unten bis hinauf in der Wand; in dieſer wurde
durch künſtliche Aufmauerung oder durch Ausbrechen ein etagen¬
förmig ſich übereinander emporwindender Felſengang erzwungen,
der dem Wanderer ſelten mehr als einige Dutzend Schritte zeigt.
Lautſchallendes Echo, wie in den leeren Hallen einer großen Kirche,
begleitet jedes geſprochene oder gerufene Wort. Mehr als eine
halbe Stunde lang hört der vom Bade Leuk aufſteigende Wanderer
in der ſenkrechten Schlucht von oben herab die Jauchzer der
Herunterkommenden, ohne ſie früher zu ſehen, als bis er ihnen un¬
mittelbar begegnet. Mitunter iſt der durch Bruſtwehr-Mauern ge¬
ſchützte Niederblick in die felſige Wüſtenei mehr als ſchauerig, und
während 1½ Stunden ſieht man, ſo oft der Weg ſich wieder aus¬
buchtet, immer aufs Neue das Leukerbad ſenkrecht zu Füßen liegen.
Auf dieſen Päſſen begegnet man zur Seltenheit noch dem „Säu¬
mer und ſeinen Saumroſſen.“


Seit dem Bau der Kunſtſtraßen iſt dieſe, Jahrhunderte lang,
während des ganzen Mittelalters bis auf die jüngſt vergangene
Zeit gebräuchliche Art des Transportes der Handelswaaren auf dem
Rücken der Pferde und Maulthiere, faſt gänzlich verſchwunden.
Nur auf den nicht fahrbaren, aber dennoch ſehr frequenten Alpen¬
päſſen, wie z. B. auf der Gemmi, begegnet man denſelben noch
vereinzelt. Jedes Saumthier trägt einen aus hölzernen Sparren
konſtruirten Sattel, der auf beiden Seiten weit herabreicht und
den Rücken vom Halsbug bis zu den Hüften überdeckt. An und
[307]Gebirgs-Päſſe und Alpen-Straßen.auf dieſen Sattel werden die Waarenballen, welche eine ziemlich
gleichmäßige Geſtalt haben müſſen, ſo vertheilt aufgeladen, daß
die ganze Laſt von höchſtens drei Centnern im Gleichgewicht hängt.
Herkömmlich iſts, daß die Saumthiere Maulkörbe tragen; man
traf dieſe Einrichtung, um zu verhindern, daß die Pferde wäh¬
rend des Marſches am Wege ſtehendes Gras abweiden und da¬
durch den ganzen Zug der hintereinander gehenden Thiere auf¬
halten. Außerdem war jedes Saumroß mit einer Glocke ver¬
ſehen, damit auf den früher ſehr ſchmalen Pfaden, namentlich
während der Winterszeit, einander begegnende Karavanen an den
beſtimmten Ausweicheplätzen ungehindert paſſiren konnten. Ueber
die ganze Laſt des Thieres wird eine große Wachstuch-Decke aus¬
gebreitet, meiſt braunroth bemahlt und mit dem Namen des Säu¬
mers verſehen. Da auf jeder Seite des Packſattels die aufge¬
ladenen Waaren ziemlich weit hervorſtehen, ſo bedarf jedes Pferd
begreiflich einen ziemlich breiten Weg-Raum, und dieſer Umſtand
nöthiget die Thiere, nicht in der Mitte des Pfades, wo ſie an
den ſteilen, oft hervorſtehenden oder überhängenden Felſen-Ecken
leicht anſtoßen oder hängen bleiben könnten, zu gehen, ſondern
längs dem Rande des Paß-Weges, alſo oft unmittelbar an Ab¬
gründen. Eine Kleinigkeit, ein einziger unvorſichtiger Tritt, kann
das Thier zum zerſchellenden Sturze in Schauertiefen bringen. —
Dieſe Kavalkaden, ein Saumroß hinter dem andern, von Weitem
durch lautes harmoniſches Gebimmel ſchon ſich ankündigend, waren
ehedem eine weſentlich zierende Staffage der Alpenlandſchaften.
Jeder Säumer führte 6 bis 7 Pferde, und eine ſolche Sektion
wurde ein „Staab Roſſe“ genannt.


Die Unternehmer dieſer organiſirten Alpen-Karavanen theilten ſich,
je nach der Strecke, welche ihre Transport-Züge zu begehen pflegten, in
Strackfuhrleute oder Adrittura-Säumer“ und in „Rood¬
fuhrleute
.“ Erſtere paſſirten den Berg, ohne ihre Waaren ab¬
zugeben, vom italieniſchen Stapelplatz (Chiavenna, Bellinzona,
20*[308]Gebirgs-Päſſe und Alpen-Straßen. Meran, Aoſta u. ſ. w.) bis zu dem dieſſeit der Alpen gelegenen
Speditions-Orte; letztere jedoch gingen nur bis auf den Scheitel des
Berges, wo die Mauthhäuſer, Suſten oder Dogana ſtanden, und
dort wurde umgeladen, — dort übergaben die „ennetbirgiſchen“
oder wälſchen Säumer ihr Frachtgut den „diſſentbirgiſchen Roo¬
dern.“ Gewöhnlich trafen ſie um die Mittagszeit droben ein und
da entwickelte ſich denn für wenige Stunden ungemein reger Ver¬
kehr und lautes, ſchreiendes Leben in dieſen ſonſt todten Einöden.


Dieſe Transport-Art iſt, wie geſagt, ſeitdem fahrbar-gemachte
ſichere Kunſtſtraßen beſtehen, gänzlich verſchwunden. Auch die Zoll-
und Mauth-Häuſer auf den Paßhöhen und an den Linien, die
innerhalb der ſchweizeriſchen Eidgenoſſenſchaft liegen, ſind einge¬
gangen und werden zu anderen Zwecken verwendet, ſeit eine allge¬
meine, große Grenz-Zollkette alle Kantone umfaßt; nur noch
einzelne Namen, wie z. B. Dazio grande (großer Zoll) im Livi¬
nenthal auf der Gotthards-Route, erinnern an die alten Zuſtände.
Innerhalb der ganzen Schweiz exiſtiren ſeit der neuen Bundes-
Verfaſſung von 1848 weder Zölle noch Chauſſee- und Brücken-
Gelder.


Das Saumroß, ſo wie das noch heutigen Tages vielfach be¬
nutzte Bergpferd, welch letzteres zum Tranport der Touriſten im
Sommer, ſo wie in manchen Gegenden zum Hinauf- und Herab¬
ſchaffen der Sennhütten-Utenſilien und Milchprodukte von und
nach den Alpweiden verwendet wird, iſt kleinen, gedrungenen
Schlages, derbknochig und muskelkräftig, keinesweges ſchön und
ebenmäßig im Bau. Seine Beine ſind kurz, die Hufen plump,
aber mit langen Feſſeln, wodurch größere Elaſticität in den Gang
kommt; in der Bruſt iſt es ſehr breit, hinten meiſt überbaut und
im Haarwuchs an den Mähnen und Füßen gewöhnlich verwildert.
Steht es nun auch an Lebhaftigkeit des Temperamentes, an
Grazie der Bewegung und Adel der Haltung, als Arbeitspferd
hinter dem bevorzugten Reit- und Wagenpferde des ebenen Landes
[309]Gebirgs-Päſſe und Alpen-Straßen.unverkennbar zurück, ſo giebt es dieſem an Treue, gutem Willen
und Klugheit, überhaupt an ſoliden, praktiſchen Eigenſchaften nicht
nur nichts nach, ſondern übertrifft daſſelbe noch, was Vorſicht und
wunderbar fein ausgebildeten Inſtinkt anbelangt. Es geht unge¬
mein ſicher; ſein Schritt auf dem rauhen, ſteinigen und abſchüſſi¬
gen Pfade iſt bedächtig ausgewählt, und höchſt ſelten wird man
ein Saumroß ſtolpern oder ſtraucheln ſehen. Läßt man ihm
freie Wahl, ſo findet es ſelbſt, ohne unzeitiges Leiten und Lenken,
die rechten, ihm paſſenden Tritte und vermeidet den äußerſten, am
Abgrunde hinführenden Wegrand, wo es denſelben zu fürchten hat.


Der nunmehr eingegangene Stand der Säumer umfaßte
eine brutale, rohe, gegen alles civiliſirte Leben völlig abgeſtumpfte
Menſchenklaſſe; das zweite Wort, was aus ihrem Munde ging,
war nur eine Läſterung oder ein Kernfluch. Der gefahrvolle und
mühſelige Beruf, ſo wie der ewige Kampf mit den Elementen,
bildete in ihnen ſtarre Härte und Todesverachtung aus. Die
Meiſten von ihnen erfroren früher oder ſpäter Hände und Füße,
oder wurden ſonſt am Körper verſtümmelt, wenn nicht übermäßiger
Genuß geiſtiger Getränke und Entzündungskrankheiten ſie zeitig ins
Grab legten oder der Lauinen-Tod ſie jählings ereilte. Man hat
berechnet, daß allein auf den Graubündner Straßen, in früheren
Zeiten, jährlich 3 bis 4 Säumer ums Leben kamen.


Weſentlich verſchieden von den bisher beſchriebenen Päſſen
ſind endlich noch jene einſamen, außerordentlich rauhen und un¬
heimlichen, oft ſtundenlang über Gletſcher und Firnfelder führen¬
den Fußpfade, die faſt nur von Schwärzern, Paſchern und Gränz¬
ſoldaten, oder von Hirten, Boten und Laſtträgern im Sommer
begangen werden. Auch hier ſtuft ſichs wieder in viele Schatti¬
rungen und Unterabtheilungen ab. Den meiſten fehlt mehr oder
minder die betretene, ſichtbare Weglinie, alſo das, was dem Auge
erkennbar den begangenen Pfad anzeigt; durch waldige Tobel,
am Rande finſterer Schluchten, über Alpweiden und zerriſſene Ge¬
[310]Gebirgs-Päſſe und Alpen-Straßen. röllhalden lavirt der, mehr in der Erinnerung des Paß-Gängers
vorhandene oder durch einzelne Orientirungs-Momente eigentlich erſt
zu ſchaffende Weg nach dem kluftigen Felſen-Gewirr hinauf, in
deſſen tiefſter Einſattelung der Uebergangspunkt liegt. Hier ſenkt
ſich nicht, wie auf jenen couranten Päſſen, eine muldige Hochebene
zwiſchen dem breiten Rücken des Gebirgszuges ein, mit dem in bei¬
nahe ewigen Naturſchlafe ruhenden Bergſee; meiſt ſcheidet der ſcharfe
zackige, wenige Fuß breite Grat das Dieſſeits und Jenſeits, pracht¬
volle Rück- und Vorblicke geſtattend, wie z. B. beim Juchli (6905
Fuß) zwiſchen dem Engelberger- und Melch-Thal im Kanton Unter¬
walden, bei der Gocht in den Churfirſten zwiſchen Quinten am
Wallen-See und Alt-St. Johann im Toggenburg, — bei der
Saxer Lucke im Appenzeller Alpſtein u. a. m. Paßpfade dieſer
Art zeigen ſich meiſt in den zerriſſenen, an Felſenſplittern reichen
Kalkalpen.


Wilder und in der Regel ungeheuerlicher ſind jene Scheideggen,
die über die Schneegränze heinaufſteigen, wie es z. B. bei dem
Segnas- oder Flimſer-Paß, (8081 Fuß, zwiſchen den Kantonen Glarus
und Graubünden) der Fall iſt, wo ein ſchmaler, ſchwarz-grauer
Kalkrücken aus den Firnlagern ſteil aufſteigt; hier iſt das berühmte
Martinsloch, ein natürliches Felſenfenſter von bedeutender Breite
in der Tſchingelwand, durch welches im März und September
während drei Tagen die Sonne das Glarner Dorf Elm beſcheint.
Auf dieſem Paß wüthen die Schneeſtürme mit diaboliſcher Wucht
und ſchon viele Wanderer wurden hier oben eine Beute derſelben.
Andere, welche ſich verirrten und glaubten, der Weg führe durch das
Martinsloch, ſtürzten über den Felſenhang herunter und mußten
von den Aelplern, ſchwer verwundet, hinabgeſchafft werden. Noch
ſchauerlicher iſt der weſtliche Nachbar deſſelben, der 8500 Fuß
hohe Kiſten-Paß, der von Linththal (Kanton Glarus) nach Brigels
(im Bündner Vorder-Rheinthal) führt. Dort zieht ſich der Weg
an den Felſenwänden des Ruchi nach dem ſ. g. „Hohen Loch“
[311]Gebirgs-Päſſe und Alpen-Straßen.und von dieſem über ſchmale Grasplanken und Felſenbänder zur
Muttalp. Das „Hohe Loch“ geht durch einen röthlichen Kalk¬
felſen und bietet einen ſo ſchmalen Durchpaß dar, daß nur eine
Perſon um die andere denſelben durchkriechen kann. Steckt man
den Kopf durch das Loch, ſo ſieht man aus dieſem Felſenfenſter
unmittelbar in die grauenvolle Tiefe des Limmerntobels hinab.
Nur kühne Gemſenjäger und entſchloſſene, ſchwindelfreie Berggänger
wagen dieſen Weg zu nehmen, da man außerdem lange durch den
im ſchauerlichen Limmerntobel fließenden Bach waten und an einer
Stelle, beim Nothſtein, von einem Felſenabſatze in das Waſſer
herunterſpringen muß, wenn der Bach, wie dies häufig geſchieht,
das Tannenbäumchen hinweggeſchwemmt hat, das die Jäger dort
hinſtellen, um an demſelben hinunter zu klettern.


Es giebt indeſſen weit höher ſteigende Gletſcher-Päſſe, die viel
ungefährlicher zu begehen ſind, wie z. B. das Langtaufer Joch
(9697 Fuß) am Oezthaler Ferner und das Hochthor (7860 Fuß)
unterm Groß-Glockner in Tyrol, der Paß über Monte Moro (8386
Fuß), Col d' Oren (9687) über den Arolla-Gletſcher aus dem
Val d' Hérins ins Piemonteſiſche Val Pellina, — und ganz be¬
ſonders das Matterjoch oder Passage St. Théodule (10242 Fuß)
unterm Mont Cervin, aus dem Zermatter Thal ins Tournanche,
welchen, trotzdem er vier Stunden über Gletſcher-Eis führt, nicht nur
Weiber begehen, ſondern der im October und November, wenn die
Gletſcherſpalten mit tragenden Schneebrücken überſpannt ſind, ſo¬
gar mit Maulthieren und Vieh betrieben wird.


Die ſchlimmſten Uebergänge endlich, die indeſſen die, zum feſt¬
ſtehenden Begriff gewordene Bezeichnung „Paß“ kaum mehr ver¬
dienen, ſind jene, nur ganz beherzten, ſtahlkräftigen, völlig ſchwin¬
delfreien Männern paſſirbar möglichen Eiswüſten-Wege, die allen
den gleichen Bedingungen und Zufällen unterliegen wie Expedi¬
tionen zu den Hochalpen-Spitzen. Es giebt deren einige, die
großen Ruf in der Touriſten-Welt haben und allſommerlich mehrere¬
[312]Gebirgs-Päſſe und Alpen-Straßen.mal unter Leitung erprobter und renommirter Führer überſchritten
werden. Dahin gehören: der vierzehnſtündige Gletſchermarſch über
die Strahlegg (10379 Fuß), ein Eisrücken zwiſchen den Schreck¬
hörnern und dem Finſteraarhorn im Berner Oberlande, auf dem
direkten Wege von der Grimſel nach Grindelwald, bei welchem der
Unteraar-, Finſteraar- und Untere Grindelwald- Gletſcher ihrer gan¬
zen Länge nach paſſirt werden müſſen; ferner die Paſſage über
Col de Géant (10500 Fuß) in der Montblanc-Gruppe, die von
Chamouny über die ganze Länge des Glacier des Bois oder Mer
de Glace
und den Glacier du Tacul zwiſchen den Aiguilles du
Dru
(11471 Fuß), du Moine (11580 Fuß) und du Géant (13019
Fuß) öſtlich, und den Aiguilles de Charmoz (10255 Fuß),
Blaitière und Montblanc du Tacul weſtlich, anſteigend, über den
Glacier d'Entrèves hinab in 16 Stunden nach Cormajeur führt,
wovon mehr als die Hälfte des Weges über Gletſcher. Am 15.
Auguſt 1860 verunglückten drei, den erſten Familien von Wales
angehörende Engliſche Reiſende beim Hinabſteigen nach Cormajeur.
Sie gingen über einen Grat, der links und rechts einen Abgrund
hatte; da brach der zu hinterſt Gehende aus Müdigkeit zuſammen,
glitſchte im Fall über den Schnee hinweg, und riß den Führer
und ſeine beiden Reiſekameraden mit ſich fort. Die beiden
anderen Führer, welche die Enden des angelegten Seiles hielten,
thaten das Möglichſte, um die vier Unglücklichen aufzuhalten;
aber umſonſt! ſie mußten nachlaſſen, wenn ſie nicht ſelbſt mit zu
Grunde gehen wollten. Die Stürzenden rollten fünf Kilometer
weit den Abhang hinunter und ihr Fall löſte eine Lauine, die
ihnen nachrollte, ſie überholte und begrub. Am andern Morgen
fand von Cormajeur requirirte Hilfsmannſchaft die vier Leichen,
faſt unkenntlich mit gebrochenen Schädeln, die eine unter einem
großen Felſenſtück. Sie wurden am 17 Auguſt, in Begleitung
aller zur Zeit anweſenden Fremden, auf dem Friedhof von Cor¬
majeur beerdigt.


[313]Gebirgs-Päſſe und Alpen-Straßen.

Zu dieſer Kategorie gehören ferner noch die Eispfade über den
Saasgrat von Zermatt über den Findelen-Gletſcher zwiſchen dem Strahl-
und Rimphiſchhorn hindurch zum Mattmark-See, — dann die Pracht-
Paſſage von Evolena im Val d' Hérins über den Ferpecle-Gletſcher
um die Tête Blanche und über den Zmutt-Gletſcher nach Zermatt,
— dann der Weg vom Riffelhorn übers Weißthor (11138 Fuß) in
furchtbar jähem Abſturz hinab nach Macugnaga im piemonteſiſchen
Val d'Anzasca. Der Weg vom Riffelhaus bis zur Höhe des
Weißthores iſt, obgleich er über den Gornergletſcher und ein ge¬
waltiges Firnfeld führt, doch durchaus nicht gefährlich oder ſehr
beſchwerlich. Nur auf der Höhe, wo ſich eine unbeſchreiblich ſchöne
Ausſicht gen Oſten und Süden erſchließt, iſt ein Schneekamm mit
größter Vorſicht zu paſſiren, weil jenſeit deſſelben der furchtbare,
gegen 8000 Fuß tiefe Krater von Macugnaga jäh abſtürzend ſich
öffnet. Ein Fehltritt, ein einziges Ausgleiten muß den unvermeid¬
lichen Todesſturz in dieſen Abgrund zur Folge haben. An dieſer
entſetzlichen Felſenwand, die von einer Unmaſſe von Runſen zer¬
furcht iſt, zwiſchen denen wieder kleine ſcharfkantige Gräte her¬
vorragen, muß der Paßgänger über ganz verwittertes Geſtein hin¬
abſteigen. Der Fuß hat keinen ſicheren Tritt, die Hand keinen
feſten Anhalt; ununterbrochen bröckelt das faulige Geſtein los.
Mitunter iſt der Kletterpfad ſo jäh, daß der tiefer ſtehende mit
ſeinem Kopf an den Fuß des über ihm befindlichen Wanderge¬
noſſen anſtößt. Schon bei hellem Wetter iſts ſchwierig, ſich aus
dieſem Chaos herauszufinden, geſchweige denn, wenn Nebel das
Monte-Roſa-Maſſiv einhüllen oder Schneeſtürme den Wanderer über¬
raſchen; er iſt dann unrettbar verloren, wenn nicht die Hand der
Vorſehung ihn leitet. Alle anderen Gletſcherpäſſe übertrifft aber
endlich an Großartigkeit der Hochgebirgs-Scenerie der abenteuerliche
Col de Trift, der erſt ſeit wenig Jahren gangbar gemacht, aus
dem Walliſer Einfiſch-Thal nach Zermatt führt. Die Paſſage iſt
dort ſo ungeheuerlich, daß unter anderen Schwierigkeiten eine bei¬
[314]Gebirgs-Päſſe und Alpen-Straßen.nahe ſenkrechte Eiswand Tritt für Tritt, wie auf den Leitern in
der Breſche einer mit Sturm zu nehmenden Feſtung erklommen, und
eine ebenfalls faſt vertikale Felſen-Mauer mit Hilfe einer einge¬
ſchmiedeten eiſernen Kette kletternd, frei am Abgrunde ſchwebend,
transverſirt werden muß.


Man klagt im Flachlande über ſchlechte Wege, wenn der
Boden vom andauernden Regen aufgeweicht, oder eine neue Straße
friſch mit Kies überſchüttet, oder ein Waldweg mit Wurzelwerk
verwachſen iſt. Was wollen ſolche kleine Unannehmlichkeiten gegen
jene der gewöhnlichſten, vielbegangenen Paßwege im Gebirge, —
und dieſe wiederum im Vergleich zu denen ſagen, deren zuletzt
Erwähnung geſchah.

[]

Die Hospitien.

Ich habe von Paläſten viel geſehen,
Ich bin gewandelt durch die weiten Hallen;
Es hat mir aber keiner ſo gefallen,
Als den ich eben ſah auf Bergeshöhen.
Das iſt ein wahrhaft königliches Haus:
Die Liebe gehet ein und aus.
Es öffnet freudig ſeine hohen Kammern,
Wenn winterlich die wilden Stürme ſauſen,
Die Elemente durch einander brauſen,
Und tief im Schnee die armen Pilger jammern.
Und eilig ſendet es zur böſen Stunde,
Wenn mitternächtige Lauinen rollen,
Und hoch die Gletſcherbäche angeſchwollen,
Zur Rettung aus die klugen treuen Hunde.
J. J. Peſtalozzi.

Es wird außerordentlich viel theoretiſches Chriſtenthum in der
Welt gelehrt und gedruckt und von der „Nächſtenliebe“ mit Oſten¬
tation gepredigt und mit den „Werken der Barmherzigkeit“ Miſſion
getrieben, und die aus allem dem entſpringende Gottſeligkeit wird
mit einer ſolchen Summe von ingründlicher Gelehrſamkeit und
kauſtiſchem Scharfſinn der duldenden Menſchheit auseinandergeſetzt,
daß es keine zweite Wiſſenſchaft giebt, die ſchon ſo viel Papier,
Buchdruckerſchwärze, Beredſamkeit und Menſchenblut gekoſtet hat
[316]Die Hospitien.als eben die Lehre von den höchſten und edelſten Gütern und Auf¬
gaben des Menſchen-Geſchlechtes; aber in die freiwillige, uneigen¬
nützige Praxis iſt das herrliche Gebot der Bergpredigt: „Liebe
deinen Nächſten wie dich ſelbſt“, nur ſehr vereinzelt und bedin¬
gungsweiſe übergegangen. Zu dieſen ſehr ſporadiſch auftretenden
Erſcheinungen des bethätigten Chriſtenthums gehören die Hospitien
in den Alpen. Hospitium heißt im Lateiniſchen die Herberge und
auch die Gaſtfreundſchaft. Während in ſolchen Fällen gar häufig
die wörtlichen Bezeichnungen nur ſchöne Aushängeſchilder für minder
ſchöne Beſtrebungen zu ſein pflegen, ſtoßen wir hier umgekehrt auf
eine ſehr beſcheidene Benennung weit größerer, edlerer Lebensauf¬
gaben. Hier iſt nicht blos Einkehr für Hungernde und Ermattete;
der ſehr elaſtiſche Begriff der Gaſtfreundſchaft wird hier nicht nur
zur vollendeten Thatſache, ohne Anſehen der Perſon, des Volkes
und des Glaubens-Bekenntniſſes, ſondern das uneigennützige Be¬
ſtreben: der bedrängten Menſchheit zu nützen, — zu helfen, wo
Mangel, zu retten, wo Gefahr vorhanden iſt, freiwillig (ohne Be¬
rechnung des zu erwartenden Dankes) das Werk des Samariters
zu üben, das iſt der Kern der Aufgabe. Und er wird zu Tage
gefördert, — recht und ſchlicht, ſtill und geräuſchlos, ohne phari¬
ſäiſches Geſchrei. Sie, die dieſem Werke der ächten Humanität
ſich weihen, rufen nicht ſcheinheilig in die Welt hinaus: „Ich und
mein Haus wollen dem Herrn dienen!“ ſondern ſie thun, was ſie
verſprechen.


Unſere Hospitien prangen alſo nicht mit der Außenſeite, noch
mit Eigenſchaften, die ſie entweder gar nicht, oder doch nur ſehr
bedingter Weiſe beſitzen; ihre Firma iſt keine geſchminkte Lüge.
Ebenſowenig hüllt ſich die Ausübung des Barmherzigkeitswerkes in
frömmelnden Nimbus oder in geſalbte Phraſendreherei und tar¬
tüffiſches Schleicherthum; gerade und derb, wie die Natur des
Bergbewohners iſt, begrüßt und behandelt der Spittler den bei
ihm Einkehrenden. Der alte Zybach auf der Grimſel, ehe er ſich
[317]Die Hospitien. zu dem, weiter unten zu erzählenden, dummen Streiche verleiten
ließ, war das Urbild eines gemüthlichen, klugen und praktiſchen
Alpenbauern, bieder und anſpruchslos; man leſe Agaſſiz's geologiſche
Reiſen, um ſein Lob aus vollem Herzen verkünden zu hören. Der
alte, ſiebenzigjährige Direktor Lombardi auf dem Gotthard und ſein
intelligenter Tochtermann, ſind Leute ſo friſch und frei, wie die ſie
umwehende Bergluft. Und vollends gar in den Hospitien, denen
Mönche vorſtehen, wie auf dem Großen Bernhard und dem Simplon,
herrſcht ein fröhlicher, lebensfreudiger Ton, eine geſellige Unge¬
zwungenheit, die mit dem herkömmlichen Begriffe eines Conventes
anfangs ganz unvereinbar erſcheinen.


Und endlich die Gebäude ſelbſt, dieſe einfachen, feſten, dick¬
wandigen, ſteinernen Berghäuſer, — wie ſtehen ſie ohne allen
äußeren Schmuck, ohne jedes kokettirende Moment, ſo urnatürlich
und altersergraut da, oft eher ausgebauten Ruinen ähnelnd, als
Lokalen, die öffentlichen, allgemeinen Beſtimmungen dienen! Form
und Charakter entſprechen ſo recht der wilden, ſteintrümmer-erfüllten,
rauhen Gebirgs-Umgebung, die an den neunmonatlichen, zähen,
ſtürmiſchen Winter erinnert. Einzig das Simplon-Hoſpiz, vom
weltſtürmenden, alle ſeine Pläne im großen Maßſtabe anlegenden
Frankenkaiſer Napoleon I. begonnen, dann aber erſt zwanzig Jahre
ſpäter von den Bernhardinern erworben und ausgebaut, dehnt ſich
wie ein Alpenſchloß palaſtähnlich, vierſtockig, vielfenſterig auf dem
Bergübergange aus.


Alle Hospitien, deren es in den Alpen etwa fünfzehn giebt,
ſind milde Stiftungen, größeren oder kleineren Umfanges, welche die
Aufgabe haben, je nach ihren Mitteln jeden Reiſenden, der es
verlangt, unentgeldlich zu beherbergen, Armen eine Mahlzeit gratis
zu verabfolgen, oder wenn allzuwildes Wetter den Wanderer zwingen
ſollte, länger zu bleiben, ihn während dieſer Zeit zu verpflegen,
und bei Schneeſtürmen durch Glockenläuten oder durch Ausſendung
von Spürhunden Verirrte auf den rechten Weg zu leiten. Nicht
[318]Die Hospitien. alle Alpenpäſſe erfreuen ſich dieſer großen Wohlthat; nur die
Uebergänge über Col de Lautaret (Mont Genèvre), Mont Cenis,
über den Großen und Kleinen Bernhard, Simplon und Gotthard,
über die Grimſel, San Giacomo im Teſſin und über den Lukmanier
ſind mit Hospitien ausgerüſtet. Alle anderen haben höchſtens
Berghäuſer (in Tyrol Tauernhäuſer), in denen ums Geld gewirth¬
ſchaftet wird. — Ihre Höhenlage iſt immer nur wenige tauſend
Fuß unter der Linie des perennirenden Schnees. Auf dem Gotthard
beginnt der Schneefall in der Regel ſchon Mitte Oktober und
dauert bis gegen das letzte Drittel des Monats Mai; er währt
alſo volle ſieben Monate. Außerdem giebts keinen Tag im Kalender,
an dem es nicht ſchon in dieſem oder jenem Jahrgange geſchneit
hätte. Oft iſts im Juli und Auguſt ſo empfindlich kalt in dieſer
Höhe von 6388 Fuß überm Meeresſpiegel, daß Blumen, wie im
Winter, an den Fenſtern frieren, und Tag für Tag geheizt werden
muß. Der Lago grande nächſt dem „Ospizio“ hat gewöhnlich
bis Anfangs Juli Eis, und im Winter giebt es Nächte, deren
beißende Kälte mit jener von Nova Sembla und Spitzbergen kon¬
kurriren mag. Mehr als die Hälfte der Tage eines Jahres hüllen
das Haus dichte Nebel ein, während vielleicht in den Thälern
oder auf höheren Bergen ſonnenheiteres Leben lacht. Denn die
Paßübergänge ſind auch die Wege, auf denen die wäſſerigen Dunſt¬
koloſſe aus den ſüdlichen, feuchtwarmen Thälern die Alpen über¬
ſchreiten und als ſchwere Wolkenmäntel und trübe Nebelkappen ſich
um die nächſten Felſenpfeiler hängen, bis ſie entweder der Südwind
hinüber treibt und zu eigentlichen Regen-Urnen formirt, oder der
ſchärfere Nord dieſelben zurückdrängt. Ungefähr ähnlich geſtaltet
ſichs um das Hoſpiz auf dem Col de Lautaret (6443 Fuß). Auf
dem Großen Bernhard wächſt bei einer Höhenlage von 7368 Fuß die
Zahl der Wintermonate auf neun, und die ganz heiteren, ſonnenhellen
Tage des Jahres ſind raſch gezählt. Alles Brennmaterial muß
viele Stunden weit hinausgeſchafft werden.


[319]Die Hospitien.

Alle dieſe Umſtände ins Auge gefaßt, gehört ungewöhnliche
Reſignation dazu, „ospitaliere“ zu werden. Denn der bloße Wunſch,
eine freie Stelle einzunehmen, gleichſam eine Pfründe anzutreten,
kann unmöglich zu einem ſolchen Akt der Entſagung verleiten. Es
iſt keine Sinecure, keine Spital-Verwalterſtelle, wie die eines großen
ſtädtiſchen Armen- und Krankenhauſes; ſchwere Pflichten (oft ohne
genügende Mittel) und Entbehrungen aller Art laſten auf derſelben.
Um dieſe Verhältniſſe etwas näher beleuchten zu können, müſſen
wir die Hospitien klaſſifiziren.


Voran ſtehen die vier großen Mönchs-Klöſter auf dem Großen
und Kleinen St. Bernhard, Mont Cenis und Simplon. Sie
werden von Auguſtiner-Chorherren bewohnt und bewirthſchaftet, und
die Gründung der drei erſteren geht hoch ins Alterthum hinauf.
Das Hoſpiz auf dem Mont Cenis (5969 Fuß) ſoll von Karl dem
Großen gegründet worden ſein, wurde durch Napoleon I. im Jahre
1801 weſentlich vergrößert und diente dem Papſt Pius VII. 1812
als Aſyl. Die Stiftung des Kloſters auf dem Großen St. Bern¬
hard erfolgte im Jahre 962 durch den heil. Bernhard von Menthou
(einer edlen ſavoyiſchen Familie entſproſſen), obwohl die Annalen
der Biſchöfe von Lauſanne ſchon eines früheren, 832 beſtandenen
Kloſters gedenken, deſſen Gründung ebenfalls Karl dem Großen
zugeſchrieben wird. Archiv und Dokumente ſind durch Feuersbrünſte,
welche zweimal dieſe einſamen Gebäude heimſuchten, gänzlich ver¬
nichtet worden. Die gegenwärtigen großen Gebäude ſtammen aus
der Mitte des 16. Jahrhunderts, werden von 12 Auguſtiner-Chor¬
herren und einer Anzahl dienender Brüder, den berühmten Mar¬
ronniers
, bewohnt und ſind zur Beherbergung von 70 bis 80
Fremden eingerichtet. Das Simplon-Hoſpiz iſt Eigenthum des
großen Bernhards-Kloſters, hat eine Verwaltung mit dieſem und
wird von demſelben mit 4 bis 6 Geiſtlichen, unter der Leitung
eines Subpriors, verſehen. Das Hospitium auf dem Kleinen St.
Bernhard endlich iſt vielleicht das älteſte unter allen, obwohl auch
[320]Die Hospitien. hier keine ſchriftlichen Urkunden als Beweismittel vorhanden ſind.
Es iſt weit dürftiger ausgeſtattet als die vorhergenannten, wird
von der Gemeinde zu Aoſta in ſeinen Bedürfniſſen unterſtützt und
von einigen delegirten Brüdern des Großen Bernhard bewohnt.
Der Tradition zufolge ſoll Hannibal auf dieſer Höhe geraſtet und
Kriegsrath gehalten haben, weshalb ein mit großen, rohen Stein¬
blöcken eingefaßter Raum auf der Ebene der Paßhöhe noch der
Cirque d'Annibal genannt wird. Die jungen Geiſtlichen, welche
ſich zum Dienſt in dieſen Klöſtern entſchließen, treten gewöhnlich
ſchon mit dem zwanzigſten Lebensjahre ein, und übernehmen die
Verpflichtung, fünfzehn Jahre hier oben zu bleiben. Viele von
ihnen erliegen vor der Zeit der Härte des Klimas und den An¬
ſtrengungen oder Lebensgefahren, wenn ſie im Winter und Früh¬
jahr nach dem Fall von Lauinen oder wilder Schneeſtürme mit
den Hunden die vorgeſchriebenen Excurſe machen, um allfällig Ver¬
unglückten beiſtehen zu können. Die wenigen erträglichen Sommer-
Monate, während welcher Vergnügungs-Reiſende hier heraufkommen,
ſind die einzige Rekreation für die ſonſt ſehr entbehrenden Mönche.
Während dieſer Zeit genießen ſie aber ihr Leben auch in vollen
Zügen, widmen ſich ganz der Unterhaltung, machen Ausflüge mit
den Damen auf benachbarte Ausſichtspunkte, muſiciren am Piano
und wiſſen durch ihr feines, kavaliermäßiges Benehmen ſich die
Gunſt aller ihrer Gäſte in hohem Grade zu erwerben. Die Wiſſen¬
ſchaften ſcheinen ihnen den Kopf nicht beſonders ſchwer zu machen, und
wenn auch hier und da ein Einzelner ſich mit irgend einer Disciplin
beſchäftiget, ſo ſind die Reſultate doch immer ziemlich unbedeutend.


Die Freundlichkeit des Entgegenkommens und die Aufmerk¬
ſamkeit in Behandlung der Fremden, wenn deren nicht allzuviel
ſchon Einquartierung genommen haben, iſt wirklich groß. Bereits
beim Eintritt kommt, wie in einem guten Hôtel, irgend ein die¬
nender Bruder dem Ankömmling entgegen und führt ihn, je nach
deſſen Stande, entweder in das Refektorium oder in ein großes,
[321]Die Hospitien.neben der Küche liegendes, für die ärmeren Volksklaſſen beſtimmtes
Zimmer. Hier wird der Gaſt ſofort mit einem Imbiß regalirt,
wenn es nicht ohnedies Tiſchzeit iſt. Fremde der gebildeten Stände
ſpeiſen mit den Chorherren an der gleichen Tafel und erhalten
eine, für dieſe Höhe wirklich reiche und reichliche Speiſenfolge
neben delikaten Weinen. Die ärmeren, auf abſolut unentgeldliche
Verpflegung Anſpruch machenden Paſſanten werden mit kräftigen
Suppen, Fleiſch, Brod und einem kleinen Glas Branntwein zur
Weiter-Reiſe geſtärkt oder, wenn es Abend iſt, zur reinlichen, be¬
quemen und warmen Schlafſtätte geführt. Auf dem Großen St.
Bernhard werden weibliche Gäſte in einem beſonderen, neben dem
eigentlichen Hoſpiz befindlichen, kleinen Gebäude, „Hôtel de St.
Louis
“ genannt, beherbergt. Ebenſo ſind, der Ordensregel ge¬
mäß, bei den großen Mahlzeiten Mittags und Abends 6 Uhr,
Damen von der gemeinſamen Tafel ausgeſchloſſen, was indeſſen
die Mönche nicht hindert, außer dieſer Zeit den weiblichen Gäſten
in franzöſiſcher Galanterie einen großen Theil ihrer freien Zeit zu
widmen; denn Franzöſiſch iſt die allgemeine Verkehrsſprache in
dieſen vier Kloſter-Hospitien. Das Vermögen der mit dem Großen
Bernhard affiliirten beiden anderen Anſtalten (Kleiner Bernhard
und Simplon) mag bedeutend ſein. Immerhin ſind aber auch die
Opfer, welche ſie gemeinnützig bringen, groß. Die jährliche Fre¬
quenz der auf dem Simplon im Hoſpiz einkehrenden Wanderer
ſchwankt zwiſchen 10 und 12 Tauſend; die derer auf dem Großen
Bernhard zwiſchen 16 und 20 Tauſend, ſo daß das Budget der
Ausgaben im letztgenannten Hoſpiz mitunter die Höhe von hun¬
derttauſend Francs erreicht.


Lange nicht ſo günſtig iſt ſeinen ökonomiſchen Mitteln und
Lokalitäten nach das Gotthards-Hoſpiz geſtellt. Die Stiftung
deſſelben fällt wahrſcheinlich in den Anfang des 14. Jahrhunderts.
Seit dem Jahre 1682 wurde daſſelbe von zwei Kapuzinern (mit
einigen Unterbrechungen durch Kriegsfälle, Brand, Zerſtörung) bis
Berlepſch, die Alpen. 21[322]Die Hospitien.zum Jahre 1841 bewirthſchaftet, ſeit welcher Zeit es in die Hände
eines, nicht dem geiſtlichen Stande angehörenden, ſehr berufseifri¬
gen Direktors, des allbekannten, alten Lombardi überging. Dieſer
wohnt Winter und Sommer dort oben, hat die Verpflichtung, da¬
für zu ſorgen, daß die Straße immer, namentlich bei ſchlechtem
Wetter, gehörig beaufſichtiget ſei, und muß deshalb in der böſen
Jahreshälfte täglich, theils ſelbſt, theils durch ſeine Leute, die
Straße durchwandern laſſen und mit den zum Schneebruch ange¬
ſtellten Individuen ſich ins Einvernehmen ſetzen. Um die Aufſuchung
und Beſorgung allfällig verirrter Reiſender bewerkſtelligen zu kön¬
nen, iſt ihm von Seite der Teſſiner Regierung die Verpflichtung
auferlegt, beſtändig einen ſtarken Knecht und für die Beſorgung
weiblicher Reiſenden eine Magd, ſo wie mindeſtens ein Pferd zu
unterhalten, mittelſt deſſen er Fremde, die ihren Weg unmöglich zu
Fuß fortſetzen können, nach den Schirmhäuſern zu Airolo oder
Urſeren zu transportiren hat. Denn auch er hat die beſtimmte Auf¬
gabe, Reiſende, ſo lange ſie den Weg nicht fortſetzen können, wie
immer nöthig, zu verpflegen. „Tutti gli uomini sono fratelli ed
eguali
“, heißt es in dem Regierungs-Erlaß, „tutti hanno diritto
ai medesimi servigi, ai medesimi benefici
“ (Alle Menſchen ſind
hier Brüder und gleich, alle haben Anrechte auf die gleichen Dienſte
und Wohlthaten). Das iſt eine ſchöne, den Kanton Teſſin und
ſeine Staatsmänner ehrende Geſinnung. Aber das Hoſpiz iſt arm,
gänzlich mittellos; es beſaß nie einen Fond und muß ſeine Unter¬
ſtützungs-Quellen, die jährlich über zehntauſend Franken in Anſpruch
nehmen, auf dem Wege milder, freiwilliger Beiträge zu unterhalten
ſuchen. Dieſe fließen aber ſo ſparſam, daß beinahe jedes Jahr
mit einem Paſſiv-Saldo abgeſchloſſen werden muß. Da iſts denn
eine herzlich ſchwere Aufgabe, mildthätig ſein zu müſſen, ohne die
genügenden Mittel dazu in den Händen zu haben. Die Zahl der
alljährlich hier verpflegten armen Reiſenden variirt zwiſchen 10
und 12 Tauſend, und iſt unverkennbar im Zunehmen, ohne daß
[323]Die Hospitien. auch die Mittel wachſen. Hier könnten reiche Leute, wenn ſie an
der Scheidegränze des irdiſchen Lebens angekommen, den letzten
Willen über ihre Güter niederlegen, ſich ein hundertfach größeres
Verdienſt um die leidende Menſchheit erwerben und innigerer
Segenswünſche gewärtig ſein als bei vielen anderen Dotationen
für Fonds, die ohnedies ſchon bedeutende Güter gehäuft haben.
Denn: mit einem Labetrunke, mit einem Biſſen Brod, dem in
grauſiger Felſen-Einöde ſchmachtenden Armen, — oder gar dem
durch die entfeſſelte Wuth, der Elemente in ſeinem Leben Bedroh¬
ten, mittelbar rettend ſich nahen zu können, iſt ſicherlich ein ſchönes,
erhebendes Bewußtſein. Möchte die hier beiläufig eingeworfene
Bemerkung irgendwo Widerhall im Herzen humaner Menſchen
finden!


Die Regierung des Kantons Teſſin, in deren Gebiet das
Gotthardshoſpiz liegt, liefert je zeitweilig aus ihrem Zeughauſe,
für den Militairdienſt unbrauchbar gewordene Kleidungsſtücke zur
Vertheilung an die Armen. Die Art und Weiſe, wie hier, ſo wie
in den von Mönchen beſorgten Hospitien, die bei großer Kälte
und wildſtürmiſchem Wetter faſt beſinnungslos ankommenden, halb
erfrorenen Reiſenden behandelt werden, iſt höchſt zweckmäßig. An¬
fangs werden ſie in einem kalten Zimmer umhergeführt und er¬
halten entweder erwärmten Rothwein oder eine Art ſchwachen Grog.
Dann werden die dem Froſt am meiſten ausgeſetzt geweſenen Kör¬
pertheile in Schneewaſſer getaucht, mit Schnee gerieben und ſo,
wie die Cirkulation des Blutes lebendiger eintritt, legt man ſie in
ein erwärmtes Zimmer, deckt ſie tüchtig mit Wolldecken zu und
reicht ihnen die nöthigen Speiſen. Hierauf folgt in der Regel
ein lethargiſcher Schlaf, der mitunter bis zu 20 Stunden andauert.
Nach dem Erwachen ſind die Halb-Patienten gewöhnlich ſo reſtau¬
rirt, daß ſie nach eingenommener Mahlzeit ihre Reiſe weiter fort¬
ſetzen können. Jene unendlich wohligen Gefühle und die ſelige
Behaglichkeit, welche den Bergwanderer umfängt, der bei wildem
21*[324]Die Hospitien.Wetter hier einkehrt, und ſo wohlwollende, menſchenfreundliche,
herzliche Aufnahme findet, ſind nicht zu beſchreiben, und freiwillig,
ohne irgend welche Aufforderung, erlegt gewiß der Fremde, welcher
über nur einige Mittel gebieten kann, gern den Werth deſſen, was
er uneigennützig empfing. Freilich giebts auch Reiſende der wohl¬
habenderen Stände, die ſchmutzig genug ſind, ohne irgend eine Gabe
weiter zu ziehen.


In allen bisher genannten Hospitien werden jene berühmten
Hunde gehalten, die bei gefährlichem Wetter mit den Knechten
ausziehen und durch ihren, in außerordentlich hohem Grade ent¬
wickelten Witterungs-Inſtinkt, Verirrte oder Verunglückte aufſuchen
helfen. Durch ſehr kräftigen Körperbau und durch ungewöhnliche
Abhärtung vermögen ſie den tobendſten Schneeſtürmen nachhaltig
zu widerſtehen. Eine genau charakteriſirende Beſchreibung dieſer
vortrefflichen Thiere findet man in Tſchudis „Thierleben der Alpen¬
welt.“ Auf dem Gotthard werden gegenwärtig noch ein Bernhards¬
hund (Weibchen), eine Kamſchatka-Race, und zwei Leonbergerhunde
(Geſchenk vom Stadtrath Eſſig in Stuttgart) unterhalten, die nach
den Verſicherungen der Hoſpiz-Bewohner ſehr gute Dienſte leiſten
ſollen.


Die Summe der wirklichen Unglücksfälle hat in den letzten
Jahren ſehr abgenommen. Am Großen St. Bernhard iſt ſeit langer
Zeit kein erheblicher Fall mehr vorgekommen. Schlimmer geſtaltete
ſich das Verhältniß auf dem Gotthard, wegen des regelmäßigen
obligatoriſchen Poſt-Betriebes. Außer dem ſchon pag. 175 dieſes
Buches erzählten Falle ereignete es ſich wenige Wochen früher (12.
März 1848), daß in den ſ. g. Plangen, oberhalb des Schirmhauſes
am „Mätteli“, dreizehn Männer, welche die Poſt begleiteten, ſammt
Pferden und Schlitten durch eine gewaltige Lauine bis zur Reuß
hinuntergeſchleudert wurden. Drei derſelben, Familienväter, fanden
nebſt 9 Roſſen ihr Grab im Sturzſchnee; die anderen konnten durch
eiligſt herbeigerufene Hilfe gerettet werden. Wahrhaft tragiſch aber
[325]Die Hospitien. iſt das Schickſal, welches bei dieſen Rettungsverſuchen einen der
eifrigſten Helfer, den Rathsherrn Joſeph Müller von Hospenthal
ereilte. Auch er war mit ausgezogen, ſeinen Nachbarn beizuſtehen,
wurde aber in der Gegend, welche „im Harniſch“ heißt, mit noch
zwei Anderen von einer neuen Lauine verſchüttet und kam dabei
um. Im gleichen Jahre, am 27. Oktober, wurde die von Airolo
kommende Poſt beim Schirmhauſe Ponte Tremola gleichfalls von
einer Lauine verſchüttet; ein Reiſender von Bergamo blieb todt,
die anderen wurden gerettet. Die jüngſten Unfälle ereigneten ſich
am 2. November 1855, an welchem Tage drei Männer von einem
unerwartet losbrechenden Schneeſchild weit in die Tiefe hinabge¬
ſchleudert wurden, aber durch vereinte, angeſtrengte Kräfte gerettet
werden konnten.


Weſentlich anderen Charakters iſt das, ſeiner Größe und Be¬
deutung nach hierher gehörige, berühmte Grimſel-Hoſpiz; es
trägt heutzutage weit mehr das Gepräge eines, der Spekulation
dienenden, offenen Bergwirthshauſes, in welchem für Geld Alles
zu haben iſt, was den Gaumen kitzelt, als den Charakter jener un¬
eigennützigen, gemeinwohlthätigen Anſtalten. Schon der Umſtand,
daß daſſelbe von der Landſchaft Oberhasli an den jeweiligen
Spittler verpachtet wird, weiſt ihm eine weſentlich andere Stel¬
lung an. Hierzu kam ehedem die Berechtigung des Spittlers, von
jedem Vorüberziehenden einen Zoll für ſeine Inſtandhaltung des
Weges zu verlangen und die ausgeſprochene Erlaubniß: fürs Geld
Wirthſchaft treiben zu dürfen. Wenn der Pächter nun zugleich
auch die Verpflichtung hatte, arme Reiſende übernachten und mit
einer einfachen Mahlzeit verpflegen zu müſſen, ſo ſtand ihm anderer¬
ſeits das Recht zu, innerhalb der ganzen Schweiz kollektiren laſſen
zu dürfen und ſich an dem Facit für ſeine vermeintlichen Wohl¬
thaten zu erholen. Rechnet man hinzu, daß die Grimſel-Paſſage
bei weitem nicht jener für den Handel und Völker-Verkehr ſo all¬
gemein gebräuchliche Weg iſt wie der über den Gotthard, daß ſo¬
[326]Die Hospitien. mit eigentlich nur die Armen der zunächſt anſtoßenden Thalſchaften
von dieſer Einrichtung profitirten, ſo ergiebt ſich aus allem dem,
daß das Grimſelhaus nicht mehr und nicht weniger als ein eigent¬
liches Bergwirthshaus, keinesweges ein Hoſpiz im oben angeführ¬
ten Sinne iſt. Ueberdies hält der Spittelpächter mit ſeiner Familie
den Winter über keinesweges in dem, mehr als 700 Fuß tiefer
als das Gotthardshaus gelegenen Grimſelſpital (5780 Fuß) aus,
ſondern er verläßt daſſelbe im November mit dem Vieh und kehrt
erſt Anfang März dahin zurück. Während des ſtrengſten Viertel¬
jahres bleibt blos ein Knecht (höchſtens deren zwei) im Spital,
mit der Aufgabe, den Weg zunächſt beim Hauſe im Stande zu
halten, Hunde während ſtarken Schneegeſtöbers auszuſenden und,
— wenn die Hunde anſchlagen, durch lautes Rufen die Richtung
des Weges anzuzeigen. Dieſer Winteraufenthalt iſt freilich faſt
einer ſibiriſchen Verbannung gleich zu achten, da in ſtrengen und
ſchneereichen Wintern Wochen, ja Monate vergehen, ehe irgend
Jemand den Weg paſſirt, ſomit auch aller Verkehr mit den zunächſt
gelegenen Dörfern abgeſchnitten iſt. Die nächſte menſchliche Woh¬
nung iſt das, überdies 2½ Stunden entfernte, Walliſer Dorf
Oberwald. Bedenkt man nun, daß bei tiefem Schnee eine Weg¬
ſtunde Entfernung oft die drei- und vierfache Zeit in Anſpruch
nimmt, als bei trockenem, harten Boden, — erwägt man ferner,
daß der Schneefall in dieſer Gegend gar nicht ſelten eine ſolche Höhe
gewinnt, daß der Knecht zu den oberſten Fenſtern des Hauſes her¬
ausſteigen muß, um den Zugang zur Thür freiarbeiten zu können,
— und endlich, daß Lauinenſtürze ſchon wiederholt das große,
feſte, kaſematten-ähnliche Gebäude zu zerſtören drohten, ſo wird
man zugeben, daß das Loos eines Winterknechtes auf der Grimſel
trauriger und ertödtender iſt, als das eines im Zellen-Gefängniß
abgeſonderten Züchtlinges.


Früher war es dem Spittler vergönnt, kollektirend im Lande
umherzuziehen oder Kollekteure für ſeinen Zweck auszuſenden. Da
[327]Die Hospitien. ſich jedoch ergab, daß viel Schelmerei unter dieſem Vorwande ge¬
trieben wurde, und man außerdem in Erfahrung brachte, daß der
Spittelpächter durch außerordentlich wachſenden Fremden-Beſuch
im Sommer und durch tüchtige Rechnungen ein vortreffliches Ge¬
ſchäft in ſeiner unbelauſchten und unkontrolirbaren Einöde mache,
ſo ſank der gute Wille mildthätig ſteuernder Leute, und in den
meiſten Kantonen wurde ihm das Einſammeln unterſagt, wogegen
die Regierungen ihm zeitweiſe aus ihren Kantonal-Armenfonds eine
Gabe verabfolgten. Ueberdies beträgt die Summe der hier ver¬
pflegten Armen jährlich nur zwiſchen 909 und 1600 Perſonen.


Ein berühmt gewordener Kriminalfall trug weſentlich dazu
bei, die Verhältniſſe des Grimſelſpitales öffentlich zu beleuchten.


Seit dem Jahre 1836 hatte Peter Zybach von Meyringen
als Pächter das Grimſelſpital mit den dazu gehörigen Weiden und
Kollektur-Rechten um den jährlichen Zins von 2500 Francs inne
gehabt und zu Jedermanns Zufriedenheit verwaltet. Er ſelbſt hatte
die größte Urſache, mit ſeinem Pacht-Objekte zufrieden zu ſein, in¬
dem es ſich herausſtellte, daß er während des Sommers von den
wohlhabenden Touriſten jährlich etwa 14000 Francs einnahm.
Der Pacht-Vertrag ging mit Schluß des Jahres 1852 zu Ende,
und da Zybach auf der Grimſel zum wohlhabenden Manne gewor¬
den war, ſo gabs für den Termin einer Neupachtung mehr Aſpi¬
ranten als ihn allein. Ueberdies kurſirte das Gerücht, man werde
das Spital an öffentliche Verſteigerung bringen und in ſolch einer
Auction möchte es hoch hinaufgetrieben werden. Zybach proponirte
der Landſchaftskommiſſion einen neuen vieljährigen Pachtvertrag
mit bedeutend erhöhtem Zins, ohne jedoch die Zuſtimmung der
Behörde zu erhalten. Da kam plötzlich die Nachricht aus der
Grimſel-Wildniß ins Haslithal hernieder, das Spital ſei in der
Nacht des 5. Novembers binnen wenig Stunden niedergebrannt.
Nach Ausſage der drei Knechte, ſollte ein Fremder Abends ange¬
kommen ſein und im mittleren Stockwerk logirt haben. Nachts
[328]Die Hospitien.halb zwölf Uhr ſeien die Knechte durch das Bellen des Hundes
aufgeweckt worden, und als ſie hinaus in den Gang getreten, ſei
ihnen die helle Flamme entgegengeloht. Das Feuer ſei unverkenn¬
bar durch Unvorſichtigkeit des Gaſtes entſtanden und dieſer ver¬
brannt. Die Brunſt habe ſo unendlich raſch überhand genommen,
daß alle Rettungsverſuche vergeblich geweſen ſeien. Das für
20000 Francs aſſekurirte Mobiliar ſei verbrannt. Trotz des ſehr
hohen Schnees begab ſich eine Unterſuchungskommiſſion zur Grimſel
hinauf, und bald ſtellte es ſich heraus, daß faſt das ganze fahrende
Hab und Gut verſteckt, alſo gerettet war. Zybach wurde ſchwan¬
kend in ſeinen Antworten, wollte dann die Anſprüche auf Ent¬
ſchädigung fallen laſſen, war ſogar ſo unklug, dem Unterſuchungs-
Beamteten Beſtechungs-Anträge zu machen, wenn er ſchweige, —
und als dieſer unerſchütterlich in ehrenhafter Handhabung ſeiner
Pflicht blieb, ſtürzte ſich der unglückſelige Brandſtifter in den,
hinterm Hoſpiz befindlichen Grimſelſee, um durch Selbſtmord
der Schande einer harten Kriminalſtrafe zu entgehen. Allein Zy¬
bach wurde gerettet und ins Gefängniß ſammt ſeinen Knechten ab¬
geführt. Hier ergab die Unterſuchung, daß auf Zybachs Veran¬
laſſung und unter Verſprechen einer Belohnung von 750 Francs,
die Knechte ſich bereit erklärt und, nachdem ſie die Effekten in
Sicherheit gebracht, das Gebäude ſelbſt angezündet hatten.


Zybach, ohnedies bei der Bevölkerung der Thalſchaft nicht ſehr
beliebt, weil er raſch zum wohlhabenden und dieſe ſeine Wohl¬
habenheit accentuirenden Mann ſich emporgeſchwungen hatte, wurde
nun nicht nur im ganzen Haslithal ohne Weiteres verdammt, ſon¬
dern der Zorn des Volkes fand namentlich dadurch noch neue
Nahrung zu unverſöhnlichem Haß, als durch die Einäſcherung des
Grimſel-Hoſpizes den Leuten die Möglichkeit genommen war, im
Frühjahr bei Zeiten in Geſchäften des Käſehandels nach Italien,
die Grimſel paſſiren zu können. Denn von Guttannen, dem letzten
Dorfe des Haslithales, iſts 4½ Stunden bis zum Hoſpiz, und von
[329]Die Hospitien.dort wieder einige Stunden bis ins Wallis hinab, und zwar ſehr
anſtrengenden, im Winter höchſt gefährlichen Weges. Eine gute
Raſt wird alſo zur unabweisbaren Nothwendigkeit, und zu dieſem
Zwecke war eigentlich das Grimſelſpital geſtiftet worden.


Der Staatsanwalt mußte bei Zybach den Antrag auf Todes¬
ſtrafe ſtellen, und das Urtheil der Aſſiſen des Berner Oberlandes
lautete: Todesſtrafe, während die Complicen zu zwölfjährigen Ketten
verurtheilt wurden. Die von Zybach an den Großen Rath des
Kantons gerichtete Appellation wandelte im Wege der Gnade die
Todesſtrafe in lebenslängliches Zuchthaus um, weil Zybach während
ſeiner ganzen Lebenszeit ein rechtſchaffener Ehrenmann und vor¬
trefflicher Familien-Vater geweſen war, und als der Unglückliche
einige Jahre ſeiner Strafe abgebüßt hatte und die Aerzte erklärten:
eine Veränderung ſeines Aufenthaltes ſei nothwendig, wenn man
ihn nicht faktiſch todtſchlagen wolle, wurde ihm auf Verwenden
ſeiner Familie die übrige Strafzeit vollends erlaſſen unter der
Bedingung, daß er nach Amerika auswandere. Jetzt lebt der
unglückliche Mann unerkannt, unter einem anderen Namen in
Deutſchland. Wo? weiß Niemand. Das Grimſelhoſpiz iſt aber
vergrößert und zweckmäßiger eingerichtet wieder neu erbaut und
allſommerlich der Sammelplatz der Touriſtenwelt.


Dies ſind die großen, weltbekannten, vielgenannten Alpen¬
hospitien. Es giebt ihrer aber noch eine Hand voll, die nicht
bekannt und gerühmt, wenig beſucht und noch weniger von der
Freigebigkeit mildthätiger Menſchen bedacht, ein ſtilles, einſames
Leben verkümmern; es ſind jene kleinen, mittelloſen Zufluchtsſtätten
am alten Alpen-Wanderweg des Lukmanier, die von armen Bauern
bewirthſchaftet werden. In der Tiefe des Val Blegno, hinter
Olivone ſchlangelt ſich der Weg zur Paßhöhe hinauf, und hier
liegen, je in einigen Stunden Entfernung, die beiden kleinen
Samariter-Häuſer zu Caſaccia und Camperio. Sie wurden vom
heil. Carlo Borromeo geſtiftet aus den Mitteln der von ihm auf¬
[330]Die Hospitien.gehobenen Humiliaten-Orden, die ſeinen reformatoriſchen Beſtre¬
bungen ſich widerſetzten, ſind aber jetzt ſo unendlich verarmt, daß
ſie nur mehr den Namen noch tragen, als ihren Zweck erfüllen.
Noch weit verkommener und aller Unterſtützungs-Mittel beraubt
ſind vollends jene drei, die auf der graubündneriſchen Seite des
Berges liegen: Santa Maria, das ganz ärmliche und unſaubere
San Gallo, und tiefer San Johann ohne Lebensmittel und jeg¬
liche Gabe. Das ehemals reiche Kloſter Diſſentis ſollte ſie ur¬
kundlich ausſtatten und verpflegen; ſeit aber die Mönche ſelbſt
nicht viel haben und ſie wegen unordentlicher Haushaltung vom
Staate gewiſſermaßen bevormundet werden mußten, geben dieſe
Wohlthätigkeits-Anſtalten immer mehr ihrem gänzlichen Ruin ent¬
gegen. Ein klein wenig beſſer iſt das Ospizio in Valle bei
Airolo und jenes All' Acqua (beim Waſſerfall des heil. Carl) im
Bedretto-Thale beſtellt.


An allen anderen Alpenwegen, mögen ſie noch ſo rauh und
gefährlich ſein, exiſtiren keine ſolch ſchöne Stätten hilfsfreundlicher
Menſchenliebe. Höchſtens hat der Erwerbstrieb ein Berghaus
irgendwo angeſiedelt, wenn die Paſſage lebendig und der baare
Geldverdienſt vorausſichtlich iſt; im Uebrigen iſts jedem armen
Teufel auf dieſen Päſſen freigeſtellt, nach Belieben zu verhungern
oder zu erfrieren.


So ſtehe denn, du ſchöne Gotteshütte
Du Bergpalaſt, vor allen groß und theuer!
Auf deinem Herd erlöſche nie das Feuer!
Nimm alle Armen auf in deine Mitte!
Bleib immer du das königliche Haus,
In dem die Liebe gehet ein und aus.

(J. J. Peſtalozzi.
)
[[331]]
Figure 8. Waldkirchli.

Druck von F. A. Brockhaus in Leipzig.

[][]

Sennenleben in den Alpen.

Zur grünen Alpe kehrt die Herde wieder,
Weithin ertönt ihr froher Glockenſchall.
Der Wildbach ſtürzt vom Klippenhange nieder
Ein Freudenthränenſtrom, dem Lenz entgegen;
Froh ſonnen ſich der Alpe Felſenglieder
Im warmen Schein, der Frühling klimmt verwegen
Zum Schneeberg auf und ruft ihn jubelnd wach:
Der ſchüttelt ſich den Winter ab, den trägen,
Und ſchleudert ihm Lauinendonner nach.
Lenau.

Fremdartig und halb ſagenhaft, faſt wie eine romantiſche
Reminiscenz aus längſt vergangenen Zeiten, ragt die patriar¬
chaliſche Alpenwirthſchaft in unſer modernes Jahrhundert herüber.
Nachdem wir allenthalben den Landwirth und Oekonomen des
Flachlandes an den Fortſchritten der Neuzeit, an Erfindungen
und Entdeckungen in den ihn berührenden Gebieten der Chemie,
Mechanik und Phyſik lebhaft und mit Erfolg Antheil nehmen
ſehen, — nachdem er den Segen ſeiner Scheunen und die Schätze
ſeiner Ställe mittelſt der Eiſenbahn auf unſere Märkte bringt, in
den erſten Hôtels zu Mittag ſpeiſt, ſtädtiſche Kleider zu tragen,
ſtädtiſche Häuſer zu bauen, ſtädtiſche Manieren anzunehmen und
den guten, alten, herkömmlichen, abgerundeten und feſtſtehenden
Begriff „Bauer“ allmählig abzuſtreifen beginnt, — will es Manchem
[332]Sennenleben in den Alpen. nicht recht in den Sinn, daß es ganz in der Nähe jener Eiſenbahnen,
jenes drängenden, ſtädtiſchen Lebens, noch eine Bauernwelt geben
ſoll, die gewiſſermaßen erſt auf der geſchichtlich-zweiten Kulturſtufe
der Völker-Entwickelung ſteht, und ähnlich, wie die Tartaren und
Mongolen, als Nomaden während eines Theiles vom Jahre, Haus
und Hof, Weib und Kind verläßt, um mit dem, in Herden be¬
ſtehenden Reichthume tagereiſenweit nach Plätzen im Gebirge zu
wandern, wo friſche, junge Nahrung für das Vieh wächſt. Und doch
iſt es ſo. Die in den Alpen weit hinauf zerſtreut liegenden Weide¬
plätze mit ungemein kräftigen, kurzen, dichten, ſehr milchhaltigen
Futterkräutern, bilden einen weſentlichen Theil des National-Reich¬
thumes im Gebirge und werfen jährlich viele Millionen Gulden
an Gewinn ab.


Aber eben darum, weil das Aelplerleben in den Sennhütten
etwas Ungewöhnliches, Außerordentliches, Fremdartiges iſt, ſo trägt
der, welcher die Alpen noch nicht beſuchte, gern die Romantik
der landſchaftlichen Umgebung, die großartigen Eindrücke der
Alpenwelt, wie ſie ihn aus Gemälden entgegentraten, vermiſcht mit
einer poetiſch-idealen Auffaſſung der Sitten, Trachten und Lebens¬
weiſe des Volkes, auf das Sennerleben über, und konſtruirt ſich
ausgeſchmückte Traumbilder, die in der Wirklichkeit nicht exiſtiren.


Die Alpenwirthſchaft iſt ganz anders, als man ſich dieſelbe
bisweilen denkt. Sie exiſtirt faktiſch nur während des Spätfrüh¬
lings, im Sommer und bis in die erſten Herbſtmonate hinein.
Während des Winters herrſcht in den Alpen ebenſogut Stallwirth¬
ſchaft, als wie überall, bei jedem Bauern. Derjenige nun, welcher
mit ſeiner Herde während der guten Jahreszeit ins Gebirge hinauf
zieht, iſt ein Senn. In der Schweiz iſts Aufgabe der Männer, —
in den öſtlichen Alpen, im bayeriſchen Oberlande und in Oeſter¬
reich meiſt Geſchäft der Weiber, — der „Sennerin, Almerin.“


Ein Senn (romaniſch („Sejniun“) iſt, mit wenig Ausnahmen,
ein ungemein proſaiſcher Gebirgsbauer. Sein Vieh iſt ſein Haupt¬
[333]Sennenleben in den Alpen.beſitz, und darum die Quelle ſeines Lebensunterhaltes und Ver¬
dienſtes, der Gegenſtand ſeines Studiums, Nachdenkens und ſeiner
größten Sorgfalt, ſein Stolz, kurzum der ſächliche Inbegriff ſeiner
vorzüglichſten irdiſchen Lebensaufgabe. Nach der Größe ſeiner
Herde rangirt er in der Geſellſchaft ſeiner Gemeindsgenoſſen, nach
ihr wird er geſchätzt und aus ihr ſchreibt ſich ſein heimathli¬
ches Anſehen, ſeine Dorf-Magnatenſchaft her. So iſts in den
meiſten Alpenthälern. Indeſſen giebts auch in Alpendörfern reiche
Bauern, die ſich nicht mit der Viehzucht und Alpenwirthſchaft be¬
faſſen und ihre Alpen in Lehenzins geben.


Nicht jeder Vieh-beſitzende Gebirgsbauer „fährt ſelbſt auf
Alp“; die Größe ſeiner Herde entſcheidet darüber. Wer 24 und
mehr Kühe beſitzt, heißt ein „Sennten-Bauer“, weil dieſe Anzahl,
beſonders wenn ein Zuchtſtier dabei iſt, ein „Senntum“ genannt
wird. Wer weniger beſitzt, hat nach dem Ausdruck der Appenzeller
blos ein „Schüppeli Vech.“ Solch größere Vieh-Beſitzer, in den
italieniſchen Bergen „alpadore“ genannt, haben entweder eigene
Alpweiden, oder ſie nehmen deren in Lehenzins, oder ſie benutzen
(was am Meiſten der Fall iſt) die Gemeinde-Alpen oder „Hirtenen“
und „laden ſelbſt z'Alp.“ — Kleinere Bauern, die nur wenige
Kühe beſitzen, gehen im Frühling wohl perſönlich in die Voralpen
„Berggüter“ oder „Maienſäße“ (auch Allmeinden); aber wenn das
Vieh dann im Juli und Auguſt in die höheren Weiden (die ſ. g.
mittleren und oberen Staffeln, italieniſch: stabii oder corti) ge¬
trieben wird, ſo übergeben eine Anzahl von Nachbaren ihr Vieh
einem gemeinſamen Sennen, mit dem ſie dann am Schluß der
Alpenzeit (gewöhnlich Michaelistag) Abrechnung halten. Um aber
eine ſolche Auseinanderſetzung des Käſe- und Butter-Ertrages der
verſchiedenen Intereſſenten feſtſtellen zu können, da nicht eine Kuh
ſo viel Milch giebt als die andere, ſo gehen ſämmtliche Betheiligte
während der Dauer der Alpzeit an zwei beſonders hierzu beſtimmten
Tagen hinauf „auf Alp goh meſſe“ (engadiniſch: „in süras“),
[334]Sennenleben in den Alpen.d. h. in Gegenwart ſämmtlicher Antheilhaber wird eine jede Kuh
gemolken, ihre Milch gemeſſen und nach dieſem Ergebniß der Bruch¬
theil des Einzelnen am gemeinſchaftlichen Gewinn feſtgeſtellt.
Der mit der Milchwirthſchaft beauftragte Senn beſorgt nun
während der ganzen Alpzeit mit ſeinen Gehilfen alle Tages¬
geſchäfte und empfängt dafür einen bedungenen Lohn oder Antheil
am Ertrag.


Um jedoch die Alpenweiden in gutem Stande zu erhalten und
bei der größten Freiheit auf den Bergen dennoch allgemeine Ord¬
nung zu handhaben, der Jeder ſich unterziehen muß, wählen alle
Alpengenoſſen einen „Alpmeiſter“, eine Art Gebirgspolizei, „der
die Alp in Ehren halten, ſchützen und ſchirmen ſoll, als wie ſein eigen
Gut, — der Weg und Steg machen und Acht haben ſoll, daß
Niemand im „Birg heue“ (Wildheu mache) bis nach St. Jakobs¬
tag, — der die Alpgenoſſen anhalte, jährlich einen Tag die Alp
zu ſäubern und zu ſteinen“ und Aehnliches mehr. So ſchreibts
das „Alpbüchli“ vor, eine naive, von den Bauern in der „Alp¬
gemeinde“ ſelbſt gegebene Geſetzeſammlung, die jährlich einmal
verleſen und beſtätiget oder je nach Bedürfniß durch Mehrheits¬
beſchluß abgeändert werden muß.


Der Winter verläuft einförmig und ſtill. Die Alpendörfer
ſind tief eingeſchneit; oft fehlt die Verbindung von einem Thaldorf
zum andern, — oft ſogar, wo die Häuſer weit zerſtreut im Grunde
liegen, die Kommunikation der Wohnungen unter einander. Die
einzigen Geſchäfte, welche die Thalbauern in die Höhe lockt, iſt
entweder das Herabſchlitten des Holzes oder des Wildheues. (Man
ſehe den drittnächſten Abſchnitt: Der Wildheuer.) In manchen
Alpengegenden iſts auch der Fall, daß der Senn, wenn er die
Vorräthe des einen Heuſtadels aufgefüttert hat, einen andern,
vielleicht eine Stunde davon entfernten Stall mit ſeiner Kuhherde
bezieht, — einen dritten und vierten, — alſo ſelbſt im Winter
ein wanderndes Leben führt, bis die Alpzeit kommt.


[335]Sennenleben in den Alpen.

Endlich zieht der Frühling auch ins Alpenland ein.


Es hat der Lenz auf ſeinen Bahnen
Die ganze Welt zur Luſt geweckt;
Die Hoffnung hat die grünen Fahnen
An allen Zweigen aufgeſteckt!
Es baut im innerſten Gemüthe
Der Frieden ſeinen heil'gen Dom.
Ein Freudenbrief iſt jede Blüthe
Und jeder Quell ein Letheſtrom!
Ritterhaus.

Es iſt Ende Mai! — Der langerſehnte Tag der Alpfahrt kommt,
— des Auferſtehungsfeſtes im Wirthſchaftskalender der Sennen.
Schon mehrere Tage vorher war er droben mit dem Knecht, hatte
den Weg, wo er vielleicht durch eine Lauine zerſtört war, wieder¬
hergeſtellt, das Dach nachgeſehen, überhaupt die nöthigſten Vor¬
kehrungen zum Einzug der Gäſte getroffen. Jetzt ſchmücken ſich
die Sennen und alle, welche in die Berge mitziehen. Die Schweſter
heftet dem Bruder, „s Maiteli“ ihrem „Buob“, — „d' Schwaigeri“
im Tyrol ſich ſelbſt, Blumenſträuße mit Flittergold oder Kränze
von jungem Laub und Buchsbaum auf den Hut; bunte Bänder
flattern und winken, — das blendendweiße, hoch über die gebräunten
Arme hinaufgewickelte Linnenhemd, kontraſtirt gut gegen die ſchar¬
lachrothe Tuchweſte und die leuchtend-gelben, ledernen Kniehoſen
der Appenzeller und Toggenburger, oder wo überhaupt noch Volks¬
tracht exiſtirt, und wo das, auch in die ſtillen Gebirgsthäler ein¬
dringende Nivellirungs- und Verflachungsbeſtreben unſerer Zeit
nicht jede Spur urwüchſiger Selbſtſtändigkeit in des Volkes Thun
und Denken, Kleidung und Sitten verwiſcht hat. Denn es giebt
auch große Alpenthäler, in denen aller Spiritus, jede poetiſche
Seite des Volkslebens verſchwunden iſt und nur die hausbackenſte,
nüchternſte, kahl-alltäglichſte Proſa waltet. — Die Kühe ſind ge¬
ſtriegelt und wie „g'ſchlecket“, daß ſie im goldigen Sonnenſchein
glänzen und kein Waſſertropfen auf den glatten Haaren haften
würde. Mit korybantiſchem Jauchzen und „Zauren“, die einen unver¬
[336]Sennenleben in den Alpen. wüſtlichen Humor bekunden, eröffnet da, wo blos Männer zur Alp
„fahren“, der „Zuſenn“, mit dem weißgeſcheuerten oder buntbe¬
malten Melkeimerli auf der Schulter, den Zug. Ihm folgen die
ſchönſten und größten Kühe mit den fußhohen, meſſingblechenen
„Trychlen“ (Glocken), die an breiten, ledernen, mit allerhand farbig
ausgenähtem Putzwerk verſehenen Halsbändern hängen. Dieſe
Glocken, deren gewöhnlich nur drei bei einem Zuge ſind, bauchen
oberhalb am Henkel ziemlich breit aus, oft einen Fuß im Durch¬
meſſer, laufen nach unten ſchmaler zuſammen und verurſachen ſolch
einen heilloſen, trommelähnlich-alarmirenden und doch nicht unhar¬
moniſchen Lärm, daß man ihn bei geeigneter Luft eine Stunde
weit hört. Man legt dieſe Rieſen-Schellen den Kühen nur für
die Dauer an, während welcher der Zug durch die Dörfer geht,
um Pracht mit der Herde zu treiben und alles Volk herbeizulocken.
Iſt dieſer Zweck erreicht, dann wird das gewichtige Spektakel-In¬
ſtrument den Kühen wieder vom Halſe genommen, weil erfahrungsge¬
mäß das lange Tragen derſelben den Lungen der Thiere nachtheilig iſt.


Jetzt entſtehen in den Dörfern, durch welche der Zug kommt,
völlige Volksaufläufe; denn Alt und Jung will des „Korde Urche-
Bübli's“ (Konrad Ulrich) oder des „Franz-Antony-Lismer-Seppelis“
ſchöne „Chüena“ (Kühe) die Revüe paſſiren laſſen und mit Ken¬
nermiene deren Bau und „G'ſchlachtheit“ prüfen. — Der Berg¬
bauer hat ſeine Kuh-Aeſthetik, die mit den feinſten Nüancirungen
ungemein „heikel“ und wähleriſch in Farbe, Stellung der Füße,
Hörner und anderer Eigenſchaften diſtinguirt. Blökend und ſprin¬
gend, gleich als ob ſie es wiſſe, daß es hinauf gehe zu den gewür¬
zigen, nahrhaften Alpweiden, folgt nun, in lange Reihe aufgelöſt,
die ganze Herde der Kühe, Galtlinge, Ziegen und Lämmer, —
mitten darunter brummend und mürriſch der Sultan des Stall-
Serails, der „Muni“, heute der Sündenbock des allgemeinen
Spottes; denn der Volkswitz bindet altherkömmlich dieſem „Sen¬
tenpfaar“ (Zuchtſtier) den Melkſtuhl, mit Blumen geſchmückt, zwiſchen
[337]Sennenleben in den Alpen. die Stirngabel der Hörner. Neben dem Zug gehen im leinenen
Futterhemd und in der groben Zwillichhoſe der „Gaumer“ (Hirt) und
der „Handbub“, den Zuſenn mit „Juchz'gen“ und Jodeln ſekun¬
dirend. Den Schluß endlich bildet das Saumroß mit den Käſerei-
Geräthſchaften und der Herden-Beſitzer in unverkennbarem Selbſt¬
bewußtſein des augenblicklich zu feiernden Triumphes.


Im Allgemeinen bleiben Weiber und Kinder in den Thal¬
dörfern zurück. Aber es giebt in Graubünden, z. B. im Davos
und in Mutten, ſo wie im Wallis Ortſchaften, die mit Kind und
Kegel ins Sommerdorf auswandern, und ihren Winter-Aufenthalt,
die Häuſer verſchloſſen, vollſtändig verlaſſen; — höchſtens daß ein
alter Mann als Wächter zurückbleibt. — So gehts hinauf auf die
Berge, in die Alpen.


Das iſt die maleriſche, fröhliche Seite eines Alpenfahrt-Bildes.
Aber es giebt auch Herden-Expeditionen im Hochgebirge, bei denen
es nicht nur beſchwerliche Paſſagen zu überwinden, ſondern Kräfte und
Umſicht zu brauchen, ja ſogar das Leben zu riskiren gilt. Dies iſt
vornehmlich der Fall, wenn die Alpweide jenſeit eines Gletſchers
liegt und es gilt, die ſchlüpfrige, hähle Eisfläche mit ihren verbor¬
genen Spalten und Schründen zu überſchreiten. Da bedarf es
denn beſonderer baulicher Vorkehrungen; mit Hilfe des Pickels
und der Axt hat man Stege und Bretterbrücken improviſirt, oder
Wege durch die Eislabyrinthe gebahnt und mit ſandigem Geröll
und Erde beſtreut, um dem Vieh den inſtinktmäßigen Widerwillen
gegen das ihm unheimliche, fremde und trügeriſche Element zu
benehmen. Oft ſträubt ſich die Herde mit unverwüſtlichem Trotz,
die glaſige Eisſpiegelfläche zu betreten, und die Sennen ſind ge¬
nöthigt, zu den verzweifeltſten Zwangsmitteln zu greifen. Ja, es
giebt ſogar Alpen, zu denen ein Haupt Vieh nach dem andern
wie Waarenballen am Flaſchenzuge des Krahnen über hohe Felſen¬
wände hinabgelaſſen werden müſſen.


Schmucklos, einfach, wie ein Wurf aus freier Hand, traulich
Berlepſch, die Alpen. 22[338]Sennenleben in den Alpen. und einladend wie ein herzlicher Gruß des Willkommens auf den
Matten, mitunter ſogar theatraliſch-maleriſch (wie z. B. auf der
Alp „Büls“ unter den Churfirſten am Wallenſee) liegt das ſchützende
Dach der ſtillen Sennhütte im Kräutermeer der Alpweide da.
Der ganze Bau iſt in den wälderreichen Gegenden durchaus Block¬
hauskonſtruktion, alſo lediglich aus Holz errichtet, das von der
langjährigen Wirkung der Sonnenſtrahlen tief gebräunt wurde.
Nur der wenige Fuß hohe Unterbau iſt grobes Steingefüge, oft
Mauerwerk wie aus vorkulturlichen Zeiten. Ueber dieſem einſtöckigen,
kunſtloſen Erdgeſchoß, das ſeiner naiven, ungeſuchten Natürlichkeit
halber ganz mit der in ihrer Einfachheit majeſtätiſchen und erha¬
benen Gebirgswelt harmonirt, ruht das flache, ſilbergrau-glänzende,
derbe Schindeldach. Es iſt mit ſchweren Steinen belaſtet, damit
der wilde Föhn, des Aelplers „älteſter Landsmann“, wenn er aus
dem Süden warm einherbrauſt, über die Felſenklippen niederſtür¬
zend ſich in die Bergmulden einbohrt und


— ſeine Donnerwürfe wirft,

Daß Wald und Fels herunterbricht erſchrocken, —

die Friedenshütte unangetaſtet laſſe. Dieſe iſt des Sennen und
ſeiner Gehilfen Aſyl während der Sommermonate. In denjenigen
Alpen, wo gute Ordnung herrſcht und für das Vieh vorſorgliche
Einrichtungen getroffen wurden, ſind nahe bei der Sennhütte „Gaden“
oder Stallungen errichtet, in denen die Herde während drückender
Mittagswärme und in kalten Nächten oder während der wilden
Wetter eingeſtellt wird. Nicht überall hat die rationelle Praxis
ſolche Einrichtungen getroffen, und es giebt noch Alpen genug, in
denen die Wettertanne der einzige Zufluchtswinkel des armen Viehs
während der Hitze und der furchtbaren Hochgewitter iſt. Die dem
Gebirgsbewohner angeborene und anerzogene Läſſigkeit vermag es
nicht zu überwinden, daß irgend eine Neuerung in der Alp
vorgenommen werde. Wie es zu „Pfuchähni's“ (Ur-Urgroßvaters)
Zeiten war, ſo wird die Alpenwirthſchaft auch heute noch betrieben.


[339]Sennenleben in den Alpen.

Iſts irgend thunlich, ſo wird die Sennhütte an einen Felſen¬
klotz gebaut oder, wenn er überhängt, ſogar zum Theil unter den¬
ſelben geſchoben, um im Fond einen recht kühlen Platz für den
Milchkeller zu gewinnen. Rinnt vollends gar ein friſcher Quell
oder eiſiger Gletſcherbach in der Nähe, ſo leitet der Aelpler das
Waſſer gern durch ſein Magazin, um die von der Milch geſäuerte
Luft durch die entſtehende Ventilation zu entfernen und dagegen
friſche, dem Waſſer entſtrömende Lufttheilchen dem Gemache zuzu¬
führen. Die nächſte Umgebung einer Sennhütte iſt faſt immer
ein bodenloſer Koth, in dem ſtrotzend-fettes Blakenkraut und Alpen¬
ſauerampfer wuchernd wächſt. Das Innere entſpricht in den meiſten
Fällen dieſer unſauberen Umgebung und iſt eine kräftig-korrigirende
Strahlendouche für jedes durch ſublime Phantaſien erhitzte Gehirn.
Denn Reinlichkeit und Akkurateſſe ſind allenthalben nichts weniger
als hervorragende Attribute viehzüchtender Völker, und der Aelpler
beſtrebt ſich durchaus nicht, hierin als Ausnahme zu erſcheinen.
Der leuchtende, farbenheitere Feſttagsanzug, der das Auge bei der
Auffahrt ſo anregend ergötzte, iſt verſchwunden. Weite, derbleinene
Beinkleider, die in allen Schattirungen der Stallbeſchäftigung
ſchillern, und ein ditto Futterhemd, d. h. eine blouſenähnliche Jacke
ohne Schlitz auf der Bruſt, bilden mit den ſchweren klappernden
Holzſchuhen und einem enganliegenden Käppchen die ganze Beklei¬
dung des Sennen.


Die Entrée zum Innern der Sennhütte führt ſogleich zu den
centraliſirten Gemächern. Nach altgermaniſcher Sitte iſt Wohn¬
zimmer und Küche, Speiſelokal und Ankleidekammer zu einem
Geſammt-Appartement vereinigt, und hier kann man buchſtäblich
am gaſtlichen „Herde“ weilen. Letzterer und das über ihm aufge¬
hängte „Milchkeſſi“ nehmen den meiſten Raum ein und bekunden
dadurch ihre hohe Bedeutung. Hier iſt die Stelle, wo der chemiſche
Scheidungsproceß vorgenommen wird, der die erſte konſiſtente Grund¬
lage zu den delikaten „Schweizerkäſen“ legt. Bezeichnend wird
22*[340]Sennenleben in den Alpen. darum auch dieſe Lokalität der „Weller“ (wo die Milch „erwellet“ oder
leicht aufgekocht wird) genannt. Unter dem Herd darf man ſich indeſſen
keine eigentliche kulinariſche Vorrichtung denken, etwa ſo, wie man
ſie in alten Bauernhäuſern findet mit umfangreichem Schlotfang; —
ſolche Weitläufigkeiten paſſen nicht zur Einfachheit der alpinen
Baukunſt. Etwa ſo, wie es, jugendſeligen Andenkens, der gute
Robinſon Cruſoe aus Noth einrichtete, arrangirt heutiges Tages
der Senn in den Schweizer Alpen ſeine Küchen-Vorkehrung; ein
ſchwarzes, verkohltes Loch im vorderen Winkel der Hütte mit einigen
Steinen eingefaßt, ohne Kamin oder Rauchleitung, ſtellt den Herd
dar. „Ein Verſprechen hinter dem Herde“ hier zu geben, wäre
nicht wohl möglich. Daneben ſteht ein ſenkrecht-aufgerichteter, oben
und unten eingezapfter und deshalb drehbarer Baum mit langem,
eiſernem Arm, der ſogenannte „Turner“, an den der große „Milch¬
keſſi“ gehangen wird. Der Rauch mag ſehen, wo er ſeinen Ausweg
findet, — es ſteht ihm frei, zur Thür, oder durch die Dachklinſen,
oder durch die Ritzen zwiſchen dem Gebälk hinauszuſchleichen. Darum
iſt das Innere jeder Sennhütte auch wacker eingeräuchert. Iſt die
Alpenluft rein, fein, dünn und wenig mit Waſſer-Atomen geſättigt,
ſo werden die Dämpfe auffallend raſch konſumirt, ſo daß ſie die
Reſpirations-Organe nicht ſonderlich beläſtigen. Schneits und
regnets aber, ſo daß die Luft ſchwer aufs Dach drückt, dann iſt
der ohnehin zughafte, kalte Aufenthalt in der Hütte des Rauches
halber faſt kaum erträglich. Die weiteren Komforts für die aller¬
dringendſten täglichen Bedürfniſſe ſind: ein etwa 2 Fuß langer
Klapptiſch, der in Angeln an der Wand befeſtiget der Raumerſparniß
halber nach dem Gebrauch zurückgeſchlagen werden kann; dann eine
Truhe in Form einer Bank längs der Wand, ein Holzklotz, der
die Dienſte eines Seſſels zugleich vertreten, und ein Napfenbrett,
das die Stelle eines Schrankes verſehen muß, auf dem allerlei Ge¬
räthſchaften, Brod und Kleidungsſtücke aufbewahrt werden. Außerdem
hängt vielleicht eine Büchſe im Winkel, wenn der Senn zugleich
[341]Sennenleben in den Alpen. Jagdliebhaber iſt, und in den katholiſchen Gebirgstheilen iſt bei
ſtrenggläubigen Bauern das Weihwaſſerkeſſeli mit dem „Nuſter“
(Pater noster oder Roſenkranz) nicht vergeſſen, welches vielleicht
noch durch ein an das Brett-Getäfer geklebtes „Heiligen-Helgeli“
von Kloſter Einſiedeln zur Erhöhung der häuslichen Andacht ver¬
mehrt wird. Alle übrigen in der Hütte vorkommenden Geräth¬
ſchaften gehören zur Butter- und Käſe-Bereitung. Das Schlafgemach
iſt ſehr verſchieden angebracht. Im Berner Oberlande, wo die
Sennhütte an ihrer Eingangsfront, eine Art kunſtloſer Vorhalle
in Form eines Peristylum hat, das „Mulchedach“ oder der Melk¬
gang genannt (weil im Schutz deſſelben das Vieh bei ſchlechtem
Wetter gemolken wird), befindet ſich das Ruhe-Lager oder „Gaſtere“
in dieſem Dach-Vorbau; in anderen Gegenden wurde daſſelbe über
den Schweineſtall verlegt und heißt „Trileten.“ Welche Annehm¬
lichkeiten für dieſen Fall aus der unmittelbarſten Nähe der unruhigen,
ewig-grunzenden Schlafkameraden und durch ihre penetranten
Ausdünſtungen erwachſen, iſt begreiflich. Uebrigens ſteht das Lager
ſelbſt an Urſprünglichkeit ſeiner Einrichtung dem Charakter und der
Einfachheit der ganzen Hütte durchaus nicht nach; ein mit Wildheu
ausgeſtopfter Matrazzen-Sack, die ungeſtörte Heimath einer Legion
von ſpringenden Blutſaugern, und eine Wollendecke oder, wie im
Wallis und Graubünden, eine aus Schaaffellen zuſammengeſetzte
Decke, bilden die ganze Ausrüſtung der Schlafſtätte. Iſt nun
das Schindeldach nicht gut verwahrt, ſo begegnets, daß bei ſolidem,
kräftigem Regenwetter der Schläfer einem unfreiwilligen Tropfbade aus¬
geſetzt wird, — oder wenn, wie vorher erwähnt, das flache Hüttendach
an einen erklimmbaren Felſenklotz anlehnt, ſo klettern die naſeweiſen,
nie raſtenden Ziegen Nachts auf demſelben herum und verurſachen
ſolch einen unheimlichen Skandal, als ob der gehörnte Pferdefüßler
da droben ſein ungeheuerlich Weſen triebe. So ſiehts in den „idyl¬
liſchen, romantiſchen Sennhütten“ aus, die im „letzten Fenſterln“ und
ähnlichen poetiſchen Produktionen auf der Bühne ſo reizend erſcheinen.


[342]Sennenleben in den Alpen.

In jeder, einigermaßen großen Alpenwirthſchaft der Schweiz
hauſen gewöhnlich drei Aelpler und ein Knabe; Weiber beſorgen
dieſelbe, wie ſchon erwähnt, nur in den öſterreichiſchen und bayeri¬
ſchen Alpen, ſo wie in einigen Thälern des Wallis. Major domus
iſt der Senn; entweder ſelbſt Herdenbeſitzer oder Beauftragter einer
Societät, führt er das Regiment, beſorgt die Käſerei ſammt deren
Magazine und iſt zugleich Buchhalter des Geſchäftes. Memorial,
Lagerſtrazze, Conto corrente und Hauptbuch finden ſich entweder
in einem mit Papier durchſchoſſenen Quartkalender vereinigt, der
hinter einem angenagelten Holzſpahn an der Wand ſteckt, oder irgend
ein kleines Taſchen-Notizbuch enthält die Hieroglyphen der ganzen
Geſchäfts-Abwickelung. Sein Beiſtand und Handlanger iſt der
„Sennbub, Handbub, Schorrbueb, Junger, oder im Wallis der
„Pató“, der wie der Senn den größten Theil der Zeit in der
Hütte zubringt; er hat die Gefäße zu reinigen (die im Gegenſatz
zum beſchriebenen Habitus der Hütte auffallend ſauber gehalten
werden, weil von dieſem Umſtande die Güte der zu gewinnenden
Milchprodukte abhängt) und dem Senn unmittelbare Handhilfe zu
leiſten, iſt aber nicht immer ein 14 oder 15 jähriger Bube, ſondern
oft ein derber Geſell, der ſeine Dreißig überwunden hat. Die Ver¬
mittelungsperſon zwiſchen Berg und Thal, der Käſemerkurius und
Heimaths-Telegraph, iſt der „Zuſenn“, welcher alle Alpenprodukte
hinab und Holz ſammt Viktualien herauf zu ſchaffen hat; im Walliſer
Patois wird er gemüthlich bezeichnend „Lamieiy“ (l'ami, der Freund)
genannt. Ihm ſteht, wo gute Einrichtungen getroffen ſind, ein
Saumroß zu Dienſten. Der eigentliche Hirt endlich iſt der „Chüener,
Gaumer, Kühbub oder Rinderer“, im Wallis „Vigly“ (vigilantia,
die Wachſamkeit?); ſeine ausſchließliche Obliegenheit iſt's, das
„Senntem“ auszutreiben und zu hüten. An ſicheren Orten, wo
kein Vieh ſtürzen und kein Raubthier der Herde ſchaden kann,
liegt er halbe Tage lang bei gutem Wetter am Boden, ſchaut in
die herrliche Gebirgslandſchaft hinaus, jodelt nach Herzensluſt in
[343]Sennenleben in den Alpen. die Thäler hinab und iſt ſelig im träumeriſchen Nichtsthun. Gilts
aber, das Vieh auf ſteiler Alp zu hüten, dann muß er am ſchwin¬
delnden Abgrunde gehen, zu äußerſt, wohin das weidende Thier
ſich nicht getraut, — und auf Schritt und Tritt geht der Tod dicht
neben ihm. Beim Sturm und Hochgewitter, im ſtrömenden Regen
und zu jeder Tageszeit muß er ſeinen lebensgefährlichen Beruf
erfüllen, und da iſt's nicht ſelten, daß er Tage lang in völlig durch¬
näßten Kleidern verbleiben muß. Dies iſt die Kehrſeite des ſo
reizend geſchilderten Hirtenlebens. Aber auch der Senn bekommt
ſein Theil davon, wenns Wochen lang regnet, Nebel wie böſe Geiſter
des Gebirges ſich grau und unheimlich um die Hütte lagern, das
naſſe Holz nicht brennen will und Wind und eiſiger Luftzug durch
die Hütte fegen, daß die Glieder erſtarren, oder wenns gar im
Juli ſchneit und fußhoch Flocken wirft, daß das Vieh Tage lang
kein Hälmlein Futter findet, vor Hunger brüllt und keine Milch
giebt. So auffallend und ſichtbarlich die Herde auf der Alp wäh¬
rend eines guten Sommers ſich mäſtet, ſo ſehr verelendet und
magert ſie in einem kalten, naſſen Sommer ab.


Des Aelplers Tagesordnung iſt höchſt einförmig, Sonntag
und Wochentag die gleiche, kein Glockenklang läutet die Sabbath¬
ruhe ein, kein ſchmuckes Kleid bezeichnet den Feiertag, kein Schluck
Wein netzt am Wirthstiſch den durſtigen Gaumen am Abend.
Während die ganze Landſchaft noch träumeriſch nebelblau dem
frühen Morgen in den Armen ruht, die Thäler tief drunten däm¬
mernd dampfen und Streifen weißen Nebelrauches durch die
Schluchten und Tobel ſchleichen
Als wälzte fraßesmatt, träg, auf dem BauchDahin die Schlange ſich, der Ewigkeit, —  (Lenau.
)
während die Nacht durchs Morgenſternlein ihren Scheidegruß ſendet
und des Himmels frohes Antlitz und der Eisberge Schneegipfel von
des Tages erſtem Kuſſe leiſe erröthen, erhebt ſich der Senn von
ſeinem harten Heulager und melkt, während der Handbub Feuer
[344]Sennenleben in den Alpen.anzündet. Die gewonnene Milch wird ſogleich in dem großen
„Keſſi“ erhitzt, und mit „Etſcher“ (ſauere Schotte) geſchieden, daß
ſie gerinnt und ſich ausſcheidet in „Käsbulderen“ und Molke. In¬
deſſen iſt auf morgenheiteren Schwingen der volle Tag herabgeſchwebt.


Sonnenaufgang! Goldne Pfeile
Schießen nach den weißen Nebeln,
Die ſich röthen, wie verwundet,
Und im Glanz und Licht zerrinnen.
Endlich iſt der Sieg erfochten
Und der Tag, der Triumphator,
Tritt in ſtrahlend voller Glorie
Auf den Nacken des Gebirges.
H. Heine.

Das Sennenvolk hat zu Morgen gegeſſen, der Hirt treibt aus,
der Handbub ſäubert ſeine Geräthe, und der Senn fährt fort, ſeine
Milchprodukte zu bearbeiten. Häusliche Arbeiten füllen den Tag
reichlich aus. — Iſts dann Abend geworden, entſchläft der müde
Tag allmählig, ſinkt das ewige „Flammenherz der Welt“, die
Sonne, hinter den Bergen nieder, dann lockt der Hirt oder der
Senn mit dem „Ruggüßler“ oder mit dem „Kuhreihen“ die Thiere
zur Hütte, entleert die ſtrotzenden Euter von der fetten, rahm¬
ähnlichen Milch, und die Procedur vom Morgen, ſammt Abendeſſen
und Reinigen der Geräthe, ſchließen die Tagesgeſchäfte. Bei ein¬
brechender Nacht tritt dann in den katholiſchen Gegenden der Senn
vor ſeine Hütte hinaus, ſingt mit lauter Stimme durch einen
großen hölzernen Milchtrichter (die „Volle“ genannt) in der Choral-
Melodie der Präfation ein Gebet, meiſt Strophen aus dem Evan¬
gelium Johannis, und den engliſchen Gruß. Die anderen Hirten
im Gebirge und die im Freien übernachtenden Wildheuer oder
Wurzelgräber, die es hören, knieen fromm nieder und beten ein
Pater noſter und Ave Maria dabei. Dieſer ſpäte Ruf erſetzt in
den ſtillen, einſamen Alpen die Abendglocke, welche in den Thälern
zum Dankgebet für die Segnungen des verlebten Tages auffordert,
und dient zugleich dem von der Nacht überraſchten, vielleicht ver¬
[345]Sennenleben in den Alpen. irrten Wanderer als gaſtfreundliche Einladung. — Mit der Gaſt¬
freundſchaft hats indeſſen, namentlich in den wälſchen Alpen, mitunter
ſeine Haken. Die Hirten in den entlegenen Alpen ſträuben ſich oft
außerordentlich, Fremde zu übernachten, aus Furcht, Verbrechern
Unterſchlauf zu geben. Sie können ſichs nicht denken, daß man
Vergnügens halber oder um der Wiſſenſchaft willen in den Felſen
herumklettert, ſie wähnen, nur Noth und Flucht treiben in die
Berge hinein. Im Tyrol halten ſie Bergwanderer häufig für
Abgeſandte der Regierung, welche die Zuſtände des Volkes, ihren
Viehſtand und Verdienſt auskundſchaften wollen. „Nun wirds bald
eine neue Steuer geben“, iſt gewöhnlich der Refrain der Ungläu¬
bigen. Andere Sennen auf Pacht-Alpen, oder ſolche, die von
Geſellſchaften angeſtellt ſind, verweigern aufs Gewiſſenhafteſte jede
Spende, oder geben nur um „Gotteswillen“ dem beinahe ver¬
ſchmachtenden Wanderer etwas alten „Zieger“ (trockenen Käſe) und
ein wenig Milch, nehmen aber um keinen Preis Geld dafür, um
nicht in den Verdacht der Veruntreuung zu kommen. Dies iſt, wie
geſagt, in den weniger von Touriſten durchſtreiften Gegenden, nament¬
lich in den Seitenthälern des Engadin der Fall.


Iſt in der Hütte Alles dann beendet, ſo gehts zur Ruhe aufs
Wildheu, unter die „Schnetzli-Decke“, und ein kräftiger, tiefer Schlaf
ſtärkt die ermatteten Glieder dieſer harmloſen Naturmenſchen.


Nur eine Intervalle tritt wie ein freundlicher Ruhepunkt in
das Einerlei der Alpzeit ein. Es iſt das Aelplerfeſt, die „Alp¬
ſtoberte“, die „Aelpler Kilbi“, oder wie es ſonſt noch in den ver¬
ſchiedenen Thalſchaften genannt wird. Dieſem widmen wir ſpäter
einen beſonderen Abſchnitt. In den katholiſchen Gegenden iſt
bisweilen ein öffentlicher Vormittagsgottesdienſt damit verbunden.
Nur ſehr wenig Alpen haben Kapellen oder Gotteshäuſer, in denen
während des ganzen Sommers einmal Gottesdienſt gehalten wird.
Die größte Kapelle ſteht auf einer der ſchönſten Alpen, die es giebt,
auf dem Urner Boden; ſie ſieht einer ſtattlichen Kirche gleich, und
[346]Sennenleben in den Alpen. der Pfarrhelfer von Spiringen im Schächenthal (Tells Heimaths-
Thal) lieſt dort den zahlreich verſammelten Sennen die Meſſe.
Gleichen Urſprunges iſt das Kirchlein mit dem Kloſter „Maria
zum Schnee“ am Rigi. Dann ſteckt ganz hinten im Kalfeuſerthal
des St. Galler Oberlandes die reizend, zwiſchen zahlreichen Fels¬
ſturztrümmern gelegene kleine Kapelle St. Martin, — und im
Martell-Thale (Vintſchgau, Tyrol) ſteht einſam die Kapelle „Maria-
Schmelz“, urſprünglich für die Ofenknechte des eingegangenen
Schmelzwerkes gebaut; jetzt kommt im Sommer allſonntäglich der
Kaplan von Thal hierher.


Der originellſte Tempel dieſer Art iſt das „Wildkirchli“ im
Appenzeller Lande. Eine Felſenhöhle an hoher, ſenkrechter Berg¬
wand (unter der ſchönen Ebenalp), in die ſich, wäre ſie nicht von
den Altvätern zu einer Stätte der Gottes-Verehrung geweiht, der
Gaisbub mit ſeiner Herde vor dem Gewitterſturme flüchten würde,
giebt die Hallen des Gotteshauſes ab, — ſchlicht, kunſtlos, ein
Naturgewölbe, wie es aus der Hand der geſtaltenden Schöpfung
hervorging. Kein Marmoraltar, kein Gebilde von Künſtlerhand
trägt die geweihten Geräthe; — ein ſchlichter Schragen, von des
Zimmerers Beil bearbeitet, verſieht den Dienſt, — der Altar iſt
mit einem Teppich verhangen, und neben friſch gepflückten Alpen¬
roſen in den Vaſen flackern die Kerzen im Zugwinde gegen die
Tiefe der Höhle, das Marterkreuz andampfend, vor dem die Menge
in den Staub ſinkt. Das „Wildkirchli“ iſt dem heiligen Michael
geweiht, und alljährlich am Schutzengel-Feſt hält ein Kapuziner
droben Gottesdienſt. Da liegt das Volk auf den Knieen, ſchlägt
reuig an die Bruſt und murmelt ſeine Gebete. Ob die Einkehr
in des Gemüthes Tiefen ihm wohl erſchloſſen iſt? Ob es nach
ſeiner Weiſe Selbſtſchau hält in dem Herz-erſchütternden, alle
Quellen der Seele öffnenden Augenblicke? Das Weihrauchfaß
dampft; mechaniſch, dienſtbefliſſen, unberührt von der Gewalt des
Gott-geweihten Augenblickes, ſchwingt es der miniſtrirende Knabe,
[347]Sennenleben in den Alpen.— ein matter, ſinnebethörender Ambradunſt ſteigt auf; — was iſt
er gegen den großen Weihrauchduft des Sommermorgens, der die
hohen, hehren Gebilde der Alpenklippen umwogt? — Jetzt kündet
des Glöckleins weittönender Schall, fern hinab in des Seealpſee-
Thals Tiefen es an, daß das Myſterium der „Wandlung“ hoch
droben an jäher Felſenwand vor ſich gegangen iſt, und der einſame
Tauner auf Maarwies oder ob der Felſenbaſtei des Alpſiegleten,
der nicht zum Feſt herüberkommen konnte, weil der Dienſt ihn an
ſeine Hütte bannt, hört des Glöckleins mahnenden Ruf, ſchlägt an
die Bruſt und murmelt gewohnheitsgemäß ſeinen Spruch dazu.
Drunten in der Schwendi ſitzt die Matrone auf den Treppenſteinen,
vor ihres Tochtermannes Haus, die Roſenkranz-Schnur zwiſchen den
dürren, zitternden Händen. Auch ſie hört des Glöckleins Schall
und betet; aber ihre Gedanken weilen nicht im Heiligthume des
ererbten Glaubens. Ihre Erhebung ſchweift wohl hinauf, aber
nicht in die glanzerfüllten Räume des Alls, wo nach ihrer kind¬
lichen Meinung, jenſeit der Wolken, die Gebenedeite auf dem
Strahlenthrone weilt, umgeben von Engelſchaaren: — ihr Sinnen
und geiſtiges Empfinden erhebt ſich nur zur Ebenalp. Sie denkt
des heute zu feiernden Feſtes, wie es in ſeiner ländlichen Pracht
vor ihrer Mädchenzeit freudevoll vorüberrauſchte. Damals vor
fünfzig Jahren war ſie die Schönſte der ganzen Inneren Rhoden;
des Franz-Antoni's Mareieli mußte bei allen Tanzſpinnenen und
winterlichen Abendverſammlungen ſein, die es weit umher gab, —
ſie war die Zierde jeder Alpſtubete und der Urnäſcher Chilbi, des
leidenſchaftlich-fröhlichſten Hirtenfeſtes im ganzen Appenzeller Lande.
Im Kranze der ſingenden Mädchen war ſie Tonangeberin; ihre
helle, glockenreine Stimme jauchzte am Freudigſten hinaus gegen
die Bergwände und — als ob das Echo Mareieli bevorzugend zu
ſeinem Lieb erkoren hätte, gab es nur ihren „Juchzger“ freudevoll
accentuirt, überlaut zurück, während der Widerhall vom Geſang
der Uebrigen nur wie Folie klang, von der Mareielis Jubel dia¬
[348]Sennenleben in den Alpen.mantklar ſich ablöſte. O! ſie hatte eine herrliche, harmloſe Jugend
verlebt, und juſt am Schutzengelfeſte wars, wo ſie der Sepp von
ihren Eltern zum Weibe begehrte. Jetzt iſt er todt, ſchon zwanzig
Jahre lang; der heil. Michael war ihm kein Schutzengel geweſen,
denn juſt unterm Wildkirchli war er beim Laubſammeln geſtürzt
und todt gefallen. Nun ſitzt's Mareieli drunten allein, alt, gebrech¬
lich und arm. Des Glöckleins Klang läutet ihr Erinnerung: Freude
und Gram zugleich ins lebensmüde Herz.


Wir kehren zur Alp zurück! — Vorhin wurde des Kuhreihens
gedacht. Dieſer weltberühmt gewordene Hirtengeſang, der in Frank¬
reich einſt bei Todesſtrafe verboten wurde, weil bei ſeinen Klängen
die Soldaten der Schweizerregimenter vom Heimweh befallen,
maſſenweiſe deſertirten und den Bergen zueilten, — der wirkliche
ächte „Chüereiha“ iſt faſt gänzlich verſchwunden; vollſtändig hört
man ihn ſelten mehr. Er iſt, wie ſchon geſagt, das Eintreibelied,
welches der Kuhhirt unter der Stallthür ſingt und durch dieſe,
dem Vieh bekannten Töne daſſelbe herbeilockt. Um ſie folgſamer
zu machen, giebt er ihnen aus dem „Läcktäſchli“ ein wenig Salz.
Der Text zum Appenzeller Kuhreihen lautet! „Wönd—d—er iha
Loba? (Wollt ihr herein Kühe?) Allſamma mit Nama, di alta,
di junga, allſamma Loba, Loba, Lo — — — ba. Chönd (Kommet)
allſamma, allſamma, Loba, Loba. Wenn i—em Vech ha pfeffa
(wenn ich dem Vieh habe gepfiffen), ha pfeffa, ha pfeffa, ſo chönd
allſamma zuha ſchlicha, — ſchlicha, wol zuha da zuha. Trib iha
allſamma, wohl zuha, bas zuha. Höpſch ſönds ond frei, holdſälig
dazue. Loba, Lo — — ba. Wääs wohl, wenn — ers Singa
vergod: wenn e Wiega i — dr Stoba ſtod, wenn de Ma mit
Füſta dre ſchlod ond der Loſt (Wind) zue ala Löchera inablost.
Lo — — ba, Loba, Loba, Lo — — ba. Trib iha, iha alſamma,
n'alſamma: die Hinked, die Stinked; die B'bletzed, die Gſchegget;
die Gflecket, die Bläſſet; die Schwanzert, die Tanzert; Glinzeri,
Blinzeri; d' Lehneri, d' Fehneri; d' Schmalzeri, d' Hasleri, d' Moſeri;
[349]Sennenleben in den Alpen.s' Halböhrli, s' Möhrli; s' E-äugli, die erſt Gel ond die Alt,
der Großbuch ond die Ruch; d' Langbeneri, d' Haglehneri, — trib
iha wohl zuha, da zuha, bas zuha. Lo — ba. — Sit das i
g'wibet ha, ha — n — i ke Brod me k'ha, ſit das i g'wibet (ge¬
weibet, geheirathet) ha, ha — n — i ke Glöck me k'ha! Loba! —
Wenns aſa wohl god ond niena ſtill ſtod, ſo iß jo grotha, (wenns
alſo wohl geht und nirgends ſtill ſteht, ſo iſts ja gerathen), —
s'iß kena Lüta bas, as öſera Chüeha; ſie trinkid oſ — ſem Bach,
ond mögid trüeha (S'iſt keinen Leuten beſſer als unſeren Kühen,
ſie trinken aus dem Bach und mögen gedeihen)“. — So wenig
Poeſie im Ganzen iſt, ſo muß man doch die große Gemüthlichkeit
anerkennen, die darin liegt, wenn der Hirt, ſeine Kühe beim Namen
aufrufend, anfragt, ob ſie herein wollen, und in Mitte dieſer alpinen
Harmloſigkeit plötzlich an die Mißhelligkeiten ſeines Eheſtandes er¬
innert wird, ſich jedoch raſch zu tröſten weiß.


Die waatländer Aelpler im Ormonds-Thal haben einen ähn¬
lichen Kuhreigen (Ranz-des-Vaches), nur daß er bei Weitem
mehr poetiſchen Schwung hat. Der Anfang deſſelben lautet:


Les armailles dé Colombetta

Dé bon matin sé son lévâ,

Ah! ah! lioba, lioba, por t' aria.

Venidé toté, petité, grozzé,

Et bliantz' é néré, d'zouven é autre,

Dézo stou tzano, yo yié ario,

Dézo stou trimblio, yo yié trinzo!

 
Lioba! lioba! por t' aria. etc. etc.
Die Hirten der Colombetta

Sind früh aufgeſtanden!

Ho! Ho! Kühe, Kühe! zum Melken.

Kommt alle, kleine und große

Und weiße und ſchwarze, junge und alte

Unter dieſe Eiche, wo ich Euch melke,

Unter dieſe Espe, wo ich (die Milch)
gerinnen laſſe!

Kühe! Kühe! zum Melken u. ſ. w.

Der Eindruck, den ſolche Aelpler-Geſänge auf das Thier ma¬
chen, iſt unauslöſchlich. Denn wenn Kühe von Alpenzucht aus
dem Geburtslande entfernt werden und ſpäter durch Zufall den
Refrain wieder hören, ſo ſcheinen alle Erinnerungen an ihre frühe¬
ren Bergweiden wieder in ihnen wach zu werden; ſie ſchlagen aus,
thun völlig ungeberdig, rennen umher und durchbrechen in ihrer
Raſerei die Zäune. Ueberhaupt äußert das Vieh, welches auf den
[350]Sennenleben in den Alpen. Alpen groß gezogen wurde, im Frühjahr ein ſehnendes Verlangen
nach den Bergen; es iſt unſtät im Weiden, wähleriſch im Freſſen
und beruhiget ſich nicht eher, bis der ihm innewohnende Natur¬
trieb nach dem Hochgebirge befriedigt wird. Corrodi ſagt in ſeinen
Alpenbriefen: „Die Alpenkühe haben Intelligenz. Wenn Du bergan
gehſt über die Weiden und die ſchönen Thiere erheben den Kopf
ſo klug und fragend nach Dir, dann meinſt Du, Du müſſeſt ihnen
den Paß vorzeigen! — Das ſind keine Kühe, wie ſie im Land
unten vor alle möglichen Fuhrwerke geſpannt und abgekarrt werden,
daß man an den Hüftknochen den Hut aufhängen könnte, — das
ſind Honoratioren, bewußtvoll, ſich fühlend, nicht Vieh mehr, ſon¬
dern Thier. Da iſt Race, Schnitt, Charakter. Glaubſt Du, ein
Thalkühlein würde Empfindung zeigen, wenn ſie die große Glocke
getragen und man ſie ihr wieder abnähme? Nein. Geh aber und
frag', wie die Leitkuh traurig wird und nicht mehr freſſen mag,
wenn man ſie ihrer Glocke beraubt“ ꝛc.


Die Leitkuh iſt das ſchönſte Thier des Sennthums, und
weil ſie von allen Kühen am Weiteſten, alſo gleichſam an der
Spitze derſelben geht, wird ſie die „Heer-Kuh“ genannt und trägt
eine Glocke. Begegnet es nun, daß ein ſolches Thier, das in
ſeinen früheren Verhältniſſen den Vorzug genoß, Führerin der Schaar
zu ſein, durch Kauf zu einer anderen Herde kommt und ſoll ſich
hier der Prinzipalität einer anderen Leitkuh unterordnen, ſo ent¬
ſteht nicht ſelten ein Kampf auf Tod und Leben. Die penſionirte
Leitkuh greift die, im Beſitz der Glocke ſich befindliche Vorgeſetzte
an, und zwar mit einer Entſchloſſenheit und mit einer Wuth, daß
die intervenirenden Hirten oft große Mühe haben, die Kämpferinnen
auseinander zu bringen. Weil ſie um den Vorrang ringt, wird
ſie deshalb in der Sennenſprache auch „d' Ringgeri“ genannt. —
Ganz ähnlich verhält es ſich mit den Zuchtſtieren der Herden.
Einſichtige und aufmerkſame Hirten verhüten es, daß zwei Sennten,
deren jedes einen Pfaar hat, auf unmittelbar aneinander ſtoßende
[351]Sennenleben in den Alpen. Weiden getrieben werden; kein Graben und Zaun, ſelbſt keine
Schlucht würde die eiferſüchtig aufeinander werdenden „Muni“
von einem Zweikampfe abhalten, der in der Regel mit einem Ver¬
luſte endet. So wars im Sommer 1856 der Fall, daß auf den
Almend-Weiden der Gemeinde Tamins (im Vorder-Rheinthal) zwei
Herden auf dieſelbe getrieben wurden und durch die Sorgloſigkeit
der Gaumer ſich ſo näherten, daß beide gehörnten Großherren ein¬
ander anſichtig wurden. Unter tiefem Gebrüll, mit zum Angriff
geſenkten Häuptern ſtürzten ſie aufeinander los und der Stierkampf
begann. Lautlos, erwartungsvoll ſahen die Herden beider Parteien
zu. Die herbeigeeilten Hirten wagten es nicht ſich zwiſchen die
wüthenden Thiere zu werfen, und das ſchöne, aber koſtbare Schau¬
ſpiel endete damit, daß nicht nur der Beſiegte in den Abgrund
ſtürzte, ſondern auch der Sieger im wuchtigen Anlauf ſich nicht zu
halten vermochte und ſeinem Feinde folgte. —


So entſchiedene Abneigung der Senn gegen Reinlichkeit und
Akkurateſſe in ſeinem alpinen Hausweſen hat, ſo ſehr beſorgt iſt er
dennoch um das Gelingen ſeines Manufaktes, ſeines Milchproduk¬
tes. Ihm widmet er die größte Sorgfalt und Pflege, und wie der
große Reben-Kultivateur und Wein-Producent den Kenner mit
Wohlbehagen in ſeinen unterirdiſchen Räumen zwiſchen den Fäſſer-
Alleen herumführt, ſo weiß ſich der tüchtige Senn etwas auf ſeine
Käſe-Speicher einzubilden. Der arme Talpi, dem die Käſe „ver¬
tſchaaggen“ d. h. mißrathen, verderben, bleibt Jahre lang Gegen¬
ſtand des Dorfgeſpöttes, und es giebt deren, die heutiges Tages
noch von ihres Großvaters Zeiten her einen Spitznamen tragen
müſſen. Die Anerkennung, ein perfekter „Chäſer“ zu ſein, iſt, (wer
ſollte es glauben!) ſogar von Einfluß bei Liebesverhältniſſen; „s'
Maitli“ vermags nicht zu ertragen, wenn ihr Bub nicht als ein
perfekter Senn gilt, und manche „Bröggleri“ (d. h. Stolze) hat dar¬
um ihrem Liebesbewerber einen Korb gegeben, wenn er ſonſt ſchon
wacker Batzen beſaß. Es kann nicht auffallen, wenn man bedenkt,
[352]Sennenleben in den Alpen.daß Käſe für das getreidearme Gebirgsland ein weſentlicher Be¬
ſtandtheil der täglichen Nahrung iſt und daß man die geſammten
Milchprodukte des ganzen Alpenlandes, einſchließlich Selbſtverbrauch
und Ausfuhr, jährlich auf mehr als hundert Millionen ſchwerer
Gulden ſchätzt. Denn was die Schweiz allein an dem allenthalben
ſo beliebten Schweizer-Käſe verſendet, erreicht die Höhe von minde¬
ſtens acht Millionen Franken.


Nicht die Sehnſucht zur Thalheimath, nicht der Mangel an
Futter nöthigen den Sennen zum Rückzug von Staffel zu Staffel;
es giebt viele Alpen, die nicht eigentlich „abgeweidet“ ſind, wenn
die Herde ſie verläßt. Das Eintreten kälterer Nächte in dieſen
Höhen iſts, was ihn erfahrungsgemäß vertreibt; darum kommts
vor, daß in milden Jahrgängen ausnahmsweiſe der Senn einige
Wochen länger auf Alp bleibt, als es ſonſt üblich iſt. — Herbſtelet
es nun entſchieden, kandiren die Nachtfröſte mit ihren Reifen Blatt
und Halm, entfärben ſich die Laubkronen und zieht der Wald
ſein buntſcheckiges Kleid an, dann mahnts den Hirten die „Alp zu
entladen.“ Vor ſeiner Hütte zündet er am Vorabend der „Abfahrt“
ein luſtiges, weit ins Thalgelände hinableuchtendes Feuer an, das
uralte Flammenzeichen der Gebirgsvölker, durch das ſie in ihren
Freiheitskämpfen korreſpondirten, und überlaut jauchzend rollen
ſie die glühenden Klötze über die Felſenhänge hinab, daß die Fun¬
ken zerſtiebend die Lüfte durcheilen. Das Thalvolk ſiehts, und
lauſcht und freut ſich der Heimkehr der Herden.


Hin iſt die Poeſie des Hirtenlebens fürs laufende Jahr, und
im Beſitz des errungenen Gewinnes, im Andenken an die Freuden
der Alpzeit, zieht der Senn hinab und zehrt an der Erinnerung in
der tief eingeſchneiten Winterhütte des Thales im Hoffen auf
die Wiederkehr des Frühlings.

[[353]]

Das Alphorn.

Zu Straßburg auf der Schanz, da ging mein Trauern an;
Das Alphorn hört ich drüben wohl anſtimmen,
Ins Vatterland mußt ich hinüber ſchwimmen,
Das ging nicht an.
(Altes Volkslied.)

In den Rahmen eines idylliſchen Bildes aus dem Hochge¬
birge gehört das Alphorn, — ein Inſtrument, das ſo wenig zu den
muſikaliſchen gezählt wird und doch ſo große Wirkungen und eigen¬
thümliche Stimmungen hervorruft, — freilich auch nur in ſeiner
urſprünglichen Heimath. Es gehört die Großartigkeit der hohen
Gebirgswelt dazu, die gigantiſchen Felſenſtirnen ob engen Thälern,
mit ihrem bezaubernden Echo, die friſche, reine Luft und deren ge¬
ſchloſſene Strömungen, um die eigenthümliche Tonfärbung zu er¬
zeugen, wie ſie kein anderes muſikaliſches Inſtrument beſitzt, und die
hier ſo mächtig ergreift und entzückt.


Einfach wie die große, hohe Alpennatur und das dieſelbe be¬
wohnende Volk iſt auch der äußere Bau dieſes Hirten-Inſtrumentes
mit ſeinen gewaltigen und doch wieder ſo zarten, ſehnſuchtsvolles
Heimweh erregenden Tönen. Das Ganze repräſentirt den In¬
Berlepſch, die Alpen. 23[354]Das Alphorn.ſtrumentenbau in ſeiner früheſten Kindheit. Ein Alphorn iſt aus
zwei Theilen zuſammengeſetzt; das obere bildet eine junge Tanne
von ungefähr 5 Fuß Länge, welche nach dem unteren Ende hin
breiter ausläuft und gewöhnlich mit einem Eiſen hohl ausgebrannt
oder auch ausgebohrt wird. Das untere Theil beſteht aus einem
zweiten Stück Tannenholz, das gekrümmt und becherartig erweitert
iſt und eine Länge von etwa 1½ Fuß einnimmt. Das iſt der
ganze äußere Bau. In neuerer Zeit verſuchte man dem oberen,
dünnen Ende ein Mundſtück aufzuſetzen, ähnlich wie bei den großen
alten Trompeten, um dadurch den Ton raſcher und präciſer hervor¬
bringen zu können und das Inſtrument ſelber für größere und aus¬
geführtere Weiſen zu gewinnen. Allein was hierin gewonnen wurde,
ging auf der anderen Seite in weit größerem Maße wieder ver¬
loren. Das Inſtrument, urſprünglich ohne Mundſtück geblaſen,
verlor durch dieſen Anſatz die Größe und Poeſie des Tones, den
Schmelz und den zauberhaften Klang der (muſikaliſch bezeichneten)
„Naturtöne“, wenn allerdings nicht geläugnet werden kann, daß es
durch die künſtliche Erweiterung einen runden, volleren Ton erhielt.
Es ergiebt ſich ungefähr das gleiche Verhältniß wie bei dem alten
Waldhorne ohne Ventilen und den neueren Maſchinenhörnern: dort
Einfachheit und Größe, ein unausſprechliches Wohl und Wehe;
— hier ein etwas bedeckter, umflorter Ton, aber inſtrumentlich
erweitert und zu allen harmoniſchen Wendungen und Tonver¬
ſetzungen fähig gemacht.


Der allgemeine Charakter des Alphorntones kommt dem einer
etwas gedämpften, großen Trompete am Nächſten, läßt aber keinen
ſpeciellen Vergleich zu mit den beſtehenden Inſtrumenten. Von
der erwähnten Trompete beſitzt das Alphorn den Metallton — und
als Holzinſtrument die Weichheit und Fülle einer guten Klarinette.
Durch ſeine Länge dagegen gewinnt es die Klangſtärke einer acht¬
füßigen Orgelſtimme, annähernd dem Bourdon in der mittleren
Lage — ein Gemiſch von Metallklang und Holztoncharakter, eigen¬
[355]Das Alphorn.thümlich wie das ganze Inſtrument ſelber. — Der Tonumfang iſt
ungefähr in der gleichen Ausdehnung wie der einer Trompete,
innerhalb welchem hauptſächlich die Mittellage benutzt wird, weil die
Töne dieſer Lage leichter hervorzubringen ſind und auch die Klang¬
farbe die ſchönſte iſt.


Die Wirkungen des Alphorntones hängen dagegen von einer
Menge äußerer Umſtände, ja ſelbſt von Zufälligkeiten ab. In
unmittelbarer Nähe gehört, klingt das Alphorn rauh, unangenehm,
mehr mit einem heiſeren Geſtöhn, als mit einem klangvollen Tone
zu vergleichen. Schon in einiger Entfernung vermindert ſich dieſe
Rauheit (zu welcher auch die bedeutende Lungen-Anſtrengung des
Bläſers viel beitragen mag) und der Ton zieht klangvoll, weich,
fein und zart fibrirend über die Thäler dahin, ſich mächtig ausbrei¬
tend, je weiter die Luft den Ton trägt. Bei heiterem Himmel,
überhaupt bei reiner Luft klingt der Ton hell, markirt, ſcharf, glän¬
zend und ähnelt hier in ſeinem Klangcharakter am Meiſten der
Trompete. An gewitterſchwülen Tagen oder ſonſt bei bedecktem Himmel
nimmt der Ton des Alphornes einen melancholiſch-düſter gefärbten
Charakter an, ſehnſuchtsvoll, wunderbar-eigenthümlich klagend, —
jenen Ton, der ſchmerzlich in uns nachklingt, wehmüthige Stim¬
mungen in uns wachruft und dem wir doch nicht entfliehen können,
— denn er zaubert und bannt unſere Seele, entzückt und berauſcht
unſere Sinne. Es mag ein Theil ſein von Orpheus, durch Milde
und ſeelentiefe Zartheit, Alles bewältigendem Tone. Eine beſon¬
dere Merkwürdigkeit in der hohen Gebirgswelt findet ſich bezüglich
unſeres Inſtrumentes darin, daß gewiſſe Felſenwände und darunter
liegende Thäler oder bewaldete Felſenparthien den Klang des Alp¬
hornes ganz eigenthümlich umgeſchaffen wiedergeben. Leider hat
bis jetzt die Phyſik in Bezug auf Akuſtik die Reſonanz der Ge¬
birgswände für den Ton, die Verſchiedenheit des Tones gegen
dieſe oder jene Felſenwand, oder einer mit Felſenwänden abge¬
ſchloſſenen, Echo erzeugenden Gegend — noch nicht ſo genau in
23*[356]Das Alphorn. den Kreis ihrer Studien gezogen, daß ſich Geſetze aufſtellen ließen
wie im Bereiche der muſikaliſchen Inſtrumente und ihrer akuſtiſchen
Wirkungen.


Die Weiſe des Alphornes, das ſeine jungfräuliche Reinheit
bewahrte und noch nicht zum konzertirenden Inſtrumente emporge¬
ſchraubt wurde, iſt eine kleine, fanfarenartige Melodie von wenig
Takten und variirt je nach der Laune, Fertigkeit oder „Phantaſie“
des Bläſers. Immerhin aber iſt ſie rhythmiſch und zwar ſtreng¬
rhythmiſch, ſogar herb, zerhackt zu nennen. Da das Alphorn nur
für die großartigen Raum-Verhältniſſe der Gebirgswelt geſchaffen
iſt, ſo liegt auch ſein Zweck nahe und ſchließt damit jede größere,
melodiſch ausgeführte Weiſe faſt von ſelbſt aus; das Echo iſt
ſein Ziel
. Dieſe wenigen Takte, mit dem in der Regel etwas
länger und kräftiger gehaltenen Schlußton, ſind hinreichend, ein
prachtvolles „Natur-Konzertſtück“ mittelſt des Echos zu erzeu¬
gen. Die Weiſe oder die Melodiefigur ſelbſt iſt ſo kurz, daß
zwiſchen ihr und dem Widerhall eine merkliche Pauſe liegt, ſo daß
das Echo dieſelbe unverwiſcht und ungeſtört zu uns herübertragen
kann. Gewöhnlich wählen die „Alphornkünſtler“, die ſich in der
Regel für die unermüdliche Bereitwilligkeit und modulirende Vir¬
tuoſität des Echos mit einer Kleinigkeit honoriren laſſen, ſolche
Standpunkte, welche eine mehrmalige Repetition des Echos veran¬
laſſen. Wie dieſe widerhallenden Felſenſtimmen ſelber auftreten,
iſt ſehr verſchieden. Man hört deren, die drei- bis viermal rück¬
kehrend, immer voller und muthiger anſchwellen, alſo im crescendo
ſich wiederholen, gleichſam als ob der Ton, an die Granitwände
anſchlagend, von deren feſtem, körnigem Weſen gekräftiget, etwas
annehme; — dann wieder, an anderen Orten, jauchzt das erſte
Echo hell und lebendig in reiner, freudiger Fülle wie ein wahres
urchiges Alpenkind, ermattet dann aber von Stufe zu Stufe, und
klingt die folgenden Repetitionen in elegiſch aushallenden, weit,
weit in die Berge hinein verfliegenden Reminiscenzen nach, wie
[357]Das Alphorn. der vergeiſtigende Aushauch einer ſchönen Seele; — und wieder
umgekehrt giebt es dann auch ſolche, die faſt mit Scheu, mit mäd¬
chenhaft-verſchämtem Zögern beim Erſtenmal antworten, dann Muth
faſſen, ſich aufraffen und laut und beſtimmt hervortreten, ſofort
aber wieder erſchreckend zuſammenfahren, verwirrt durcheinander¬
murmelnd unverſtändlich werden und faſt bedeutungslos auslau¬
fen. Genug, ebenſo mannigfaltig wie der plaſtiſche Bau der Alpen
und ihrer Felſenſtirnen und die verſchiedene Entfernung der Berge
iſt, welche die Reſonanzflächen abgeben, ebenſo variirend ſind die
akuſtiſchen Reſultate in ihrer mehr oder minder raſchen Aufeinan¬
derfolge und in der Fülle und Kraft ihres Tones. Wenige Schritte
rechts oder links, auf- oder abwärts des vorher eingenommenen
Standpunktes, verändern oft auffallend den Gegenſchall-Effekt.
Könnte man die Schwingungswellen, welche den Ton durch die
Lüfte tragen, ſehen und fixiren, es würden neue wunderbare
Räthſel ſich darbieten, welche zu löſen einen Aufwand von Unter¬
ſuchungen veranlaſſen müßte. So aber müſſen wir uns einfach
mit den gegebenen, unentſchleierten Reſultaten begnügen, die ſo
zauberhaft-ſchöne Wirkungen hervorbringen. Nun aber ſind die
ſteigende und fallende Tonſtärke und die ſo abweichenden Intervallen
innerhalb jeder Echo-Repetition nicht die einzigen Probleme, die
dem lauſchenden und denkenden Hörer ſich aufdrängen, — es zeigen
ſich noch ganz andere Geheimniſſe aus dem Gebiete der Tonerzeu¬
gung. Die Weiſe wird hinübergetragen an die Schallwand und
kommt das Erſtemal in gleicher Tonhöhe zurück, rein, ſcharf, markirt,
wie das Original; das zweite Echo iſt jedoch ſchon um faſt einen
Viertelton geſunken, hat die rhythmiſche Lebendigkeit verloren, klingt
matt, etwas langſamer, ſchier hinſterbend. Welcher Umſtand, wel¬
ches unbekannte Luft-Medium, welches Reſonanz-Geheimniß trans¬
ponirt die Reproduktion des erſten ſo reinen, markigen Echos? Wir
haben das Echo unterhalb des Faulhornes beobachtet, wohl zwanzig¬
mal wiederholen laſſen und immer daſſelbe Sinken des Tones bei
[358]Das Alphorn. dem zweiten Echo und die gleiche, langſame Bewegung, ein faſt
ſynkopirtes Hinziehen der Melodie zurückerhalten. Die verminderten
Schwingungen durch die große Entfernung erklären wohl einzig
das Sinken und allmählige Hinſterben des Tones. Ein anderes,
wieder abweichendes Beiſpiel giebt das Echo des Alphornbläſers
auf Alpiegeln gegen die Buſtiglen-Läger zu, wenn man von Grin¬
delwald gegen die Wengern-Scheidegg (im Berner Oberlande) auf¬
ſteigt. Dort ſcheint der Itrammenwald die ganze Tonſumme der
Alphorn-Melodie aufzufangen und in ſeinen Tannenhallen tauſend¬
fach-reflektirend zu vermengen; denn das Echo kehrt, wie die rollen¬
den Orgelklang-Maſſen aus dem majeſtätiſchen Gewölbe eines
Münſters, in mächtig-ergreifenden, großen, vollen Wogen, rund
ineinander verfloſſen, zurück, ein gewaltiger, erſchütternder Hymnus,
den Alpendom durchfluthend.


Am Genußreichſten iſt des Alphornes Zauberſchall, wenn er
dem Wanderer unerwartet entgegenklingt. Wir ſtiegen eines ſchönen
Sommermorgens aus dem Lauterbrunnen-Thale gegen die Hütten
und Speicher des Wengenberges, auf ſteilem Pfade, durch uralte
Tannen mit langzottigen Aeſten, empor. Rechts drüben ſtrahlte
die herrliche Jungfrau, die hohe ſtille Königin des Alpenreiches in
unvergleichlicher Pracht und Klarheit; von der Höhe und aus dem
Thalgrunde herauf tönte das melodiſche Glockengeläute der Herden.
Da drang an unſer Ohr ein langgehaltener Ton von den Felſen¬
wänden der Jungfrau herüber. „Ein Alphorn“, rief freudig über¬
raſcht Einer dem Andern zu, und Alle ſtanden ſtill, in vollen Zügen
genießend, was ſelbſt eine Beethoven'ſche Symphonie nicht zu bieten
vermag. Der Hirt begann ſeine Künſte und wir lauſchten athemlos
den ſympathie-entzündenden Tönen, die aus den Gletſchern der Jung¬
frau herüber zu wehen ſchienen; den Bläſer vermutheten wir in
einer Entfernung von mindeſtens einer halben Stunde, und beeilten
uns denſelben aufzuſuchen. Wie groß aber war unſer Erſtaunen, als
wir um eine Waldecke biegend den Alphorniſten, links ab dem
[359]Das Alphorn. Wege, ganz in unſerer Nähe erblickten, — ihn, den wir weit ent¬
fernt geglaubt und deſſen Felſen-Jodler jetzt breit und derb ertönten.


Das Alphorn wird leider nicht mehr häufig geblaſen, und es
will ſcheinen, als ob der Gebrauch deſſelben immer ſeltener werde.
Selbſt wo es noch zu finden iſt, mißhandeln es meiſt Stümper
und quälen damit ſich und die getäuſchten Zuhörer, wie z. B. auf
dem Rigi. In der Orcheſterkompoſition iſt uns, mit Ausnahme
von Meyerbeers „Ziegenoper“ Dinorah keine weitere Einführung
und Gebrauch des Alpenhornes bekannt. In Roſſini's „Tell“ tritt
die Schalmei, im Tone der Hoboe verwandt, im Mittelſatze der
Ouvertüre charakteriſtiſch auf und zeichnet eine Seite der „Alpen¬
muſik“, welche noch weniger kultivirt wurde, als das Alphorn.
Welchen großartigen, eigenthümlichen Effekt würde Roſſini in der
„Grütliſcene“ erreichen, wenn er hier ein Alphorn angebracht hätte,
das durch die ſtille Nacht, wie von den Bergen herüberklingend,
die bedeutungsvolle, große Schwurſcene national einzuleiten. Die
Wirkung müßte eine gewaltige ſein.


Man hat auch ſchon verſucht, Alphörner zu ſtimmen, um mit
ihnen Quartetten oder auch nur zweiſtimmig zu blaſen. Der Ver¬
ſuch ſcheint nicht gelungen zu ſein, da ſich auf unſeren Bergtouren
immer nur „Solokünſtler“ producirten. Dagegen haben Alphorn¬
bläſer ſich ſchon das Vergnügen gemacht, von entfernten, einander
gegenüberliegenden Alpen, zu korreſpondiren, was bei der Ver¬
ſchiedenheit der Höhe oder Tiefe des Tones und den auftauchenden
Echo's eine unbeſchreiblich ſchöne Wirkung hervorbrachte. Wir
hörten einmal im Berner Oberlande in der Nähe von Kanderſteg
einem ſolchen „muſikaliſchen Wettſtreite“, einem „Alphornkriege“ zu.
Das Intereſſanteſte dabei war, daß das antwortende Alphorn genau
einen ganzen Ton tiefer in der Stimmung ſtand, als das rufende.
Dieſe, mit ganz verändertem Toncharakter zurückgegebene Antwort
machte eine frappante Wirkung. In früheren Zeiten war der Ge¬
brauch des Alphornes allgemeiner; mit dem Eindringen neuer
[360]Das Alphorn. Lebensformen in die ſtillen Alpenthäler, mit dem allmähligen Ver¬
ſchwinden der alten volksthümlichen Gebräuche und Trachten, ver¬
ſchwand auch das Alpenhorn. Früher, als der Kuhreigen noch
allgemein in den Bergen exiſtirte, wurde dieſer Aelpler-Sang mit
dem Alphorne begleitet, oder ſogar die Melodie deſſelben allein
auf dem Alphorne geblaſen; auch dieſer Gebrauch iſt geſchwunden.
Sein Urſprung geht weit zurück; Conrad Geßner erwähnt deſſelben
in ſeinem 1555 gedruckten Buche vom Pilatus-Berge, nennt es
lituum alpinum und ſagt, daß es eilf Fuß Länge habe. Im vier¬
zehnten Jahrhundert diente es den muthigen und mannhaften Entli¬
buchern und Unterwaldnern als Signalhorn, um aus weiter Ferne
den anrückenden Feind zu verkünden, — und heutiges Tages wer¬
den ihm mit Qual einige Töne abgerungen, um — ein Trinkgeld
einzuziehen. Andere Zeiten, andere Sitten.


[]
Figure 9. Geisbub.

Druck von F. A. Brockhaus in Leipzig.

[][[361]]

Der Geißbub.

Juheh, der Geißbueb bi — n — i ja!
Mys Hörnli u my Geißle da
Thüe mir no nit verleide.
Im Täſchli ha — n — i Chäs u Brod;
Mys Haar iſt chruus u d' Backe roth,
U d's Herz voll Luſt und Freude.
Jungi, Alti,
Melchi, Galti,
Großi, Chleini,
Hübſchi, G'meini
Führe — n — ig uf Berg und Weid.
G. J. Kuhn.

Flüſterndes, ſäuſelndes Glockengeläute, ineinander verſchwim¬
mend, bald fern vom Winde verweht und erſterbend, verſtummend,
— dann plötzlich wieder laut anſchwellend, im gaukelnden Durch¬
einander eine akkordloſe Harmonien-Fülle, ſtrömt von der Höhe
hernieder. Nun tönt einfarbig, hohl, aber doch auch von den
Lüften weich modulirt und abgerundet ein Hornruf dazwiſchen, —
der kommt und geht, bald nah und grell ans Ohr ſchlägt,
dann wieder weit, weit hinein ins Schluchten-Gewirr der Felſen
ſich verkriecht, ein neckiſcher Kobold, der Verſteckens zu ſpielen ſcheint.
[362]Der Geißbub. Du ſtehſt und lauſcheſt dieſem geiſterhaften Klangſpiel, das zaube¬
riſch und unbeſtimmt daher weht, und Dich gefangen hält, ein
neuer, wunderbarer Reiz der Alpenwelt. Es iſt der Geißbub, der
droben an den Flühen ſeine genäſchige, neckiſche, kletternde Herde
weidet. Er hat uns erblickt und ein freude-ſchmetterndes „Juhu“
ſendet er uns als kernigen Alpengruß herüber.


Der Geißbub iſt ein Attribut der Gebirgswelt wie der Laui¬
nendonner und das Alpenglühen, wie der Gemsjäger und das flie¬
hende, pfeifende Murmelthier. Er iſt ein Schmuck der Berge, ein
jovial die hohen Fluhtoſſen und Felſenwüſten belebendes Element.
Wohin kein Senn die ſchweren Thiere treiben darf, weil Weg und
Steg verſchwinden und die Kräuterdecke nur wie zerzauſte Flocken
am verwitternden Geſteine hangt, da klettert der braune, fröhliche
Knabe mit der meckernden Ziegenſchaar hinauf und träumt ſich
größer und reicher und ſeliger als Ordens-Komthure und Kapital-
Regenten.


Und doch iſts gewöhnlich der ärmſte Bube des Dorfes, oft
vaterlos oder ganz verwaiſt, der nicht die Jugendfreude anderer
Kinder kennen lernte, nicht am elterlichen Herde Schutz und Nah¬
rung und Frieden fand. Damit er nicht der Gemeinde zur Laſt
falle und früh ſein Brod verdienen lerne, wies ihn die Vormund¬
ſchaft hinaus in die Einöde des Gebirges, wo ſonſt keines Men¬
ſchen Fuß weilt. Dort iſt ſein Aufenthalt vom beginnenden Früh¬
ling bis ſpät hinaus ins Jahr; dort zieht Mutter Natur an ihrem
Buſen ihn groß und tränkt ihn mit reinem Aether und macht ihn
groß und ſtark zum gefährlichen Beruf, den er ſpielend und mit
Freude erfüllt. Aber er liebt ſie auch, die nährende Mutter, und
der wie ein wildes Reis aufgeſchoſſene, halb verwilderte Knabe
ſchwelgt in Genüſſen, die wir bedürfnißvollen Thalmenſchen kaum
zu ahnen vermögen.


Der Bergbauer theilt die große reiche Tafel, welche die Alpen
ſeinem Viehſtande darbieten, nach ſeiner Konvenienz, nach der Mög¬
[363]Der Geißbub.lichkeit: den größten Nutzen aus den Weideplätzen zu ziehen, in
verſchiedene Klaſſen ein. Was drunten in der Nähe der menſch¬
lichen Wohnungen und in den „Vorderen Berggütern“ liegt, das
ſchneidet die Senſe für die winterlichen Vorratskammern, für die
aromatiſchen Heuſtöcke ab. Weiter hinauf, was ſanft geneigt als
flächenhafte Halde oder Hochmulde ſich ausdehnt, iſt zu Kuhalpen
„gerechtſamt und verbrieft“ und wird nach den verſchiedenen Staf¬
feln mit einer beſtimmten Anzahl Vieh „beſtoßen“ und „abgeätzt“.
Was darüber hinausliegt, ſteil und ſteinig wird, wo nur ganz
kurzes Futter wächſt, das ſteht im „Alprodel“ als „Schaafalp“
verzeichnet und wird in Tyrol und Graubünden an die Bergamasker
Hirten verpachtet oder, in anderen Gegenden, ſonſt vom „Schäfler“
abgeweidet. Und jene Parzellen endlich, die dann noch wilder
und zerklüfteter ſind, wo nur Legföhren und Alpenroſengeſträuch
den kleinen Kräuterwuchs überwuchern, — oder die Holzſchläge und
„Forſt-Stocketen“, in denen eine reichfarbig-blühende Flora prangt,
nach der das große Milch-Vieh aber wenig Gelüſten zeigt, — dieſe
gehören dem Geißbuben und ſeiner Herde an.


Es iſt ein ganz anderes, lebensfriſcheres, beſtimmteres Naturell,
das aus ſolch einem Geißbuben herausſchaut, als das träge, ver¬
ſchwommene Element des ſtrumpfſtrickenden Schäfers in der nord¬
deutſchen Heide, oder des halb-ſtumpfſinnigen, platt-vegetirenden
Dorfhirten in den Agrikultur-Diſtrikten. Hier iſt Elaſticität, Feſtig¬
keit, Raçe, — wenn auch noch ſo roh und naturwüchſig. Durch
das tägliche Verweilen in der Wildniß und bei ſteter Uebung
weiden dieſe 12 bis 16jährigen Knaben ſo vertraut mit allen
anwendbaren Vortheilen im Felſenklettern, daß man ebenſowohl
über ihre eminente Gewandtheit als naturaliſtiſche Gymnaſtiker, wie
über ihre ſeltene Unerſchrockenheit und ihren reſoluten Ueberblick,
mit welchem ſie den rechten Pfad ausſpähen, erſtaunt. Da, wo
man wähnt, es könne kaum eine Maus auf dem ſchmalen Felſen¬
karnieß vorüberſchlüpfen, geſchweige denn eines Menſchen Fuß Raum
[364]Der Geißbub. für Tritte finden, ſpäht der Geißer Wege für ſich und ſeine Ziegen
aus. Pfeifend und johlend kriecht er wie eine Katze an den Ab¬
ſätzen herum, denn er hat ein Kletterbedürfniß in den Gliedern,
das ihn nicht ruhen läßt. Schwindel iſt ein Ding, das nicht in
ſeinem Begriffs-Vokabularium ſteht. Als J. G. Kohl auf ſeinen
Alpenreiſen einen Gotthards-Bergbauer fragte, ob denn ſein Bube
keine Furcht habe, an den Zacken herumzuklettern, antwortete dieſer
ihm: „non ha paura di cervello“ d. h. er hat keine Gehirnfurcht
(Schwindel); „als Säugling iſt er mit Ziegenmilch genährt worden,
und das giebt Berggeſchick und Klettermuth.“ Das iſt der gleiche
Volksglaube wie mit dem Gemſenblut, von dem ältere Alpenbe¬
ſchreiber faſeln, daß die Jäger es warm tränken, um den Schwindel
zu verlieren.


Und adlerartig-ſcharf bildet das Auge ſich aus, eine Kräf¬
tigung der Sehorgane, die ans Mährchenhafte gränzt. So ein
Bube zeigt uns auf ſtundenweit entfernten Höhepunkten Gemſen,
beſchreibt ihre Bewegungen und ſpecialiſirt das Terrain nach ſeinen
kleinſten Formverhältniſſen, wo der Ungeübte nur eine große, un¬
belebte Geſammtmaſſe erblickt. Aus ſolchen Buben werden dann
in der Regel auch die verwegenſten Wildheuer, die furchtloſeſten
und leidenſchaftlichſten Gemſenjäger. Ich habe Geißbuben geſehen,
die den Ernſt eines in der Schule des Lebens geſtählten Mannes
hatten; unter der braunen, verwitterten Wildheit des Antlitzes
ſchaute etwas von der kalten Energie jener Marmorgeſichter hervor,
welche die Helden alter Zeiten auszeichnete. O! Exemplare ſolcher
Jungen giebts, die, wenn ſie auf einem in der Weide liegenden
Felſenbrocken ſtehen, trotz der zerlumpten Lodenhoſe und dem
formloſen, alten Filzdeckel etwas Diktatoriſches in ihrem ganzen
Weſen haben; in dem ruhig beobachtenden Blicke, in den jugend¬
lich-entſchloſſenen Mienen des verbrannten Geſichtes, in der dreiſten,
ungezwungenen Haltung, liegt das ausgeprägte Bewußtſein: „Hier
bin ich Herr!“ — Und er iſts im vollſten Maße, er iſt Allein¬
[365]Der Geißbub. herrſcher in dem von ihm betriebenen Gebiete. Gehen wir hinauf
auf die Hochalp in die Steinrieſete oder in die Gocht, wo der
Geißer hauſt! Er, der vorhin uns mit einem elektriſchen „Juchz¬
ger“, wie man ihn weit und breit in den Bergen nicht mehr hört,
bewillkommnete, hält uns nun, wo wir ihm näher kommen, keines
Grußes werth. Keck ſchaut er uns ins Geſicht, als ob er fragen
wollte: „Und nun?“ Es liegt etwas Herausforderndes in dem
meſſenden Blicke, und dabei ſpielt ein verſchlagenes Lächeln, wie
fernes Wetterleuchten, um die Mundwinkel. Nun gut! grüßen wir
ihn zuerſt und richten wir irgend eine Frage an ihn. Die ſeinem
Ohre fremden Laute müſſen ihm unendlich komiſch klingen, denn
das Lächeln nimmt einen leicht höhnenden Ausdruck an; es zuckt
über die Stirn, als ob er ſagen möchte: „Ach! Ihr Mode-
Mannli, was wollt auch Ihr da in meinem Revier?“ Nöthigen
wir ihn endlich zu einer Antwort, ſo fragt es ſich noch ſehr, obs
nicht eine ziemlich abweiſende, wenn nicht gar trotzige iſt. Er be¬
trachtet es eben als abſolut überflüſſiges Unternehmen, da in die
Wildniß zu ihm herauf zu ſteigen, und man darf es ſolchen in
dieſer Einöde aufgewachſenen, fern von allem geſelligen Umgange
abgeſchnittenen, urnatürlich-entwickelten Knaben nicht verübeln, wenn
Mißtrauen gegen fremde Leute in ihm wohnt. Eine Ausnahme
davon machen die Appenzeller Buben; das Bedürfniß, in einem
derben, ungeſuchten Witze ihren Anſchauungen und plötzlichen
Launen Luft zu machen, der im ganzen Volke tiefwurzelnde Hang
zur Spöttelei, tritt bei dieſen Buben ſchon draſtiſch zu Tage, und
es bedarf eines recht gemüthlichen, durchaus nicht empfindlichen
Eingehens auf den angeſchlagenen Ton, um ſie zu einiger Vertrau¬
lichkeit zu bewegen. Hat man dies Ziel erreicht, dann iſt ſolch ein
Knabe aber mitunter auch ein wahrer Goldkerl voll friſcher, urwüchſi¬
ger Gedanken, wie eine flott gewurzelte a la prima-Skizze eines genia¬
len Malers. Aug. Corrodi ſchwärmt (in ſeinen genialen Alpenbrie¬
fen) mit Recht für den Hanbiſchli (Johann Baptiſt) auf der Ebenalp.


[366]Der Geißbub.

Aber auch den Gefahren gegenüber ſind ſolche Buben völlig
Herren ihres Revieres; von der Vermeſſenheit ihres Muthes, von
ihrer ſpannfriſchen, nervigen Schlagbereitſchaft, von ihrer momen¬
tanen Entſchloſſenheit, macht man ſich kaum einen Begriff. Sie
ſind gleichſam auf der Menſur großgewachſen, haben von Jugend
auf den feindlichen Elementen trotzen lernen, und darum überraſcht
ſie auch durchaus Nichts. Wehe dem Räuber, der ein Herdeſtück
anzugreifen wagt, — er hats mit einem hartnäckigen, beſonnenen
und entſchloſſenen Kämpfer zu thun. Am Meiſten habens die
Buben auf die großen Raubvögel abgeſehen; wiſſen ſie das Neſt
eines ſolchen, ſo iſts um die junge Brut geſchehen. Beiſpiele von
den frecheſten Wageſtücken, um Neſter von Stoßvögeln auszuneh¬
men, giebts in den Alpen allenthalben. Aber auch den Alten ge¬
genüber ſtehen ſie ihren Mann. Ein Bravourſtück jüngſter Zeit
möge hier Platz finden. Gegen Ende des Juli 1859 befand ſich
der vierzehnjährige Knabe Jann Guler auf einer Schaafalp im
Gemeindsgebiete von Kloſters (Prätigau), da wo es „im Hafen“
heißt. Schon früher hatte er einigemal einen großen Raubvogel
in den Lüften über ſeinem Weideplatze kreiſen ſehen und war des¬
halb beſonders aufmerkſam. Eines Tages ſieht er plötzlich ſeine
Thiere aufgeſchreckt auseinanderfahren, und in der nächſten Sekunde
ſtürzt ein völlig ausgewachſener Adler hernieder und verfolgt ein
in die Legföhren ſich flüchtendes Lamm. Der Knabe, raſch ent¬
ſchloſſen, ſpringt mit ſeinem eiſenbeſchlagenen Bergſtecken zu dem
Gebüſch, in welches der Raubvogel ſich ſo völlig verſtrickt hatte,
daß er von den Flügeln keinen Gebrauch machen konnte; hier
hämmerte nun der Knabe ſo lange energiſch auf den Adler ein,
bis dieſer tödtlich getroffen erlag.


Nicht mindere Beſonnenheit, Muth, Ausdauer und Gewandt¬
heit entwickeln die Geißbuben, wenn eines ihrer Thiere ſich ver¬
ſtiegen oder „verjuckt“ hat, d. h. durch einen Sprung auf einen
Felſenſatz gekommen iſt, von dem es weder vor noch zurück kann.
[367]Der Geißbub. Denn wo nur irgend eine grüne Stelle lockt, klettern die Ziegen
wie die Schaafe hin, erblicken dann von der Höhe unter ſich aber¬
mals neue Raſenbänder und ſpringen von Abſatz zu Abſatz, oft
klafterhoch, hinab, bis ſie nicht weiter können. Da wird es dann
Aufgabe des hütenden Knaben, das gefangene Thier zu löſen.
Unſer Illuſtrator Rittmeyer hat auf dem beigegebenen Blatt einen
ſolchen Moment dargeſtellt. Das iſt ganz die zähe, unnachgiebige,
ſtörriſche Natur eines ächten Vollblut-Geißbuben. Beide, Thier und
Knabe, ſind wie aus einem Stück gegoſſen. Droben ſchweben die
Adler, die durch das Klagegeſchrei der Ziege aufmerkſam gemacht,
dieſe, ohne des Buben Erlöſung, durch Flügelſchlag in die Tiefe
geſtürzt und als Beute zerfleiſcht haben würden. Und kämen ſie
noch jetzt, eher ließ ſich der Bube mit in den Abgrund nieder¬
ſchmettern, als daß er ſeine Geißmutſch losließe. Eine Schrot¬
ladung ihm in den Rücken gegeben, würde das hartnäckige, ſtarr¬
ſinnige Weſen des Buben nicht brechen.


Im Hochgebirge bleiben die Schaafe oft Monate lang ſich
ſelbſt überlaſſen und nagen die ſporadiſch an den Felſen hangen¬
den Raſenſtellen ab. Es genügt dann, daß der Eigenthümer vom
Thal oder von ſeiner Hütte aus (wo er mit dem Großvieh weilt)
täglich einigemal durchs Fernrohr ſeine Schaafe beobachtet und
überzählt. Entdeckt er nun, daß ſich einige derſelben verſtiegen
haben, ſo ſteigt er auf die Höhe des Gebirges, von der aus er
glaubt ſenkrecht von oben herab den Schaafen beikommen zu können.
Der Entſchloſſenſte, meiſt ein Bube unſerer Zeichnung, wird dann
am Seil hinabgelaſſen. Da begegnets denn, daß die Thiere ſcheu
gemacht durch die von oben herniederſchwebende Erſcheinung, dieſe
wahrſcheinlich für einen Raubvogel halten, ſich zu flüchten ſuchen,
und ſämmtlich in den Abgrund ſtürzen. Dann aber kommts auch
wieder vor, daß man die genaue Richtung verfehlt hat und der
Bube noch über manches Raſenband, oder längs glatter Felſen¬
wände, an denen er faſt nur wie eine Schwalbe klebend ſich zu
[368]Der Geißbub.halten vermag, weiter klettern muß. Hat er dann wirklich die
Thiere erreicht, dann kommt erſt das eigentlich Lebensgefährliche
der Aufgabe. Auf ſchmaler Felſenkante muß er das Thier er¬
greifen, nach ſich ziehen oder Angeſichts des oft ſchaurigen Abgrun¬
des das Thier ſich über den Kopf heben und ſo belaſtet, nur mit
einer freien Hand zum Anklammern, den Rückweg antreten, bis er
das Seil erreicht, an dem dann das wiedergewonnene Herdenhaupt
gebunden und emporgezogen wird. Dieſes Manöver ſetzen ſolche
Buben drei, vier und mehrmal fort, bis ſie ihren Zweck erreicht
haben. Sie ſind durch Nichts abzuſchrecken, und es iſt oft vielleicht
weniger der eigentliche Werth, um den es ſich hier handelt, als
das eigenwillige, ſtarrköpfige Durchſetzen eines einmal gefaßten
Entſchluſſes. —


Und dann der Lohn aller dieſer Gefahren, Entbehrungen und
Widerwärtigkeiten? — Betrachten wir die Lebensweiſe dieſer origi¬
nellen Halbwilden im Kulturlande ein wenig näher. Der Geißer
treibt gewöhnlich Morgens ſehr früh vom Thal aus eine große Menge
Milchgeißen ins Gebirge hinauf. Er bat ſein näſchiges, neugieriges,
überall hin excurſirendes Hornvölklein gut in Ordnung und kommt
mit demſelben viel raſcher in die Höhe hinauf, als man glauben
ſollte; ehe die Sonne nur einigermaßen hoch ſteht, iſt er ſchon
mehrere Stunden weit von ſeinem Dorfe. Dort überläßt er die
Herde ihrem bon plaisir, legt an einem ihm bequemen Platze
ſich nieder und verträumt im Ideenkreiſe ſeiner Geißbubenphiloſophie
den Tag. Hat er Hunger, ſo muß ein Stück hartes, trockenes
Gerſtenbrod und etwas Käſe ihm zur Sättigung dienen, — hat
er Durſt, ſo zieht er die erſte beſte Ziege herbei, legt ſich unter
ihre Euter und melkt in den Mund hinein, daß es ſchäumt. Rückt
dann der hohe Mittag heran, der mit ſengender Gluth die Felſen¬
wände erhitzt, dann ſucht der Knabe für ſich und ſeine Herde ein
ſchattiges Plätzchen, wo alle zuſammen Sieſta halten. So auch
für einbrechende Hochgewitter hat er Höhlen oder Felſenbuchten,
[369]Der Geißbub.in die er ſich flüchtet. Iſts aber ein kalter, regneriſcher Sommer,
dann hat der arme, barfußlaufende Tropf höchſtens einen alten
Sack über die Schultern zum Schutz gegen die Näſſe. Deſſen un¬
geachtet iſt er fröhlich und ſcheint die Unbilden der Witterung
wenig zu fühlen. Abends dann treibt er heim, hat ſeinen Hut
mit Alpenblumen geſchmückt, und kehrt ſo friſch und kräftig ins
Dorf zurück, als er am Morgen auszog. So gehts vom frühen
Frühjahr bis in den Spätherbſt. Und als baaren Lohn erhält
er fürs Stück jährlich zwei bis drei Batzen. Es gehört eben Gei߬
bubenſtoff zu ſolch einem Menſchen.


Am Südabhange der Alpen giebts große prachtvolle, lang¬
haarige Thiere. Im Herbſt, wenn ſie keine Milch mehr geben,
werden ſie in die Wälder getrieben, ohne Aufſicht und Huth ſich
ſelber überlaſſen, und erſt im Frühjahr, wenn ſie dem Gitzelen nahe
ſind, halb verwildert wieder eingefangen. Nach Belgien, Frank¬
reich und England werden die zarten Ziegenfelle in großen Maſſen
zur Verwendung für Glacé-Handſchuhe ausgeführt. Ob wohl eine
unſerer ſchönen Leſerinnen ſchon je daran gedacht hat, wenn ſie
ihre feinen, weichen, dehnbaren und parfümirten Handſchuhe anzog,
daß der Stoff dazu aus den wildeſten und entlegenſten Gegenden
der Alpen ſtamme, wo die „Gizzi“ und ihr Bub ein armſeliges,
dürftiges, aber freies Leben friſten?


Das Geißhirtenleben hat auch ſeine ſchauerlich-romantiſche
Seite. Wenn Nachts die Eulen in den Wäldern ſchreien, daß es
wie ein hölliſches Jauchzen klingt, ähnlich wie mans beim Heuet
in den Bergen hört, dann ſagt das Volk, es ſei „der wilde Gei߬
ler.“ Mit dem ſoll es folgende Bewandniß haben. Ein großer
Geißbube, der vor Uebermuth und Langeweile oft nicht wußte,
womit er die Zeit ſich vertreiben ſollte und ſchon tauſend tolle
Streiche mit ſeinen Thieren begonnen hatte, gerieth auf den Ein¬
fall, einen großen, ſtarken Bock zu kreuzigen, d. h. ihn an ein aus
rohen Baumſtämmen improviſirtes Kreuz mit Schlingpflanzen oder
Berlepſch, die Alpen. 24[370]Der Geißbub. Stricken anzubinden, als Heiland aufzurichten und dann ſeine
Herde davor zu treiben, mit der er Kirche halten wollte. Dieſer
Frevel wurde aber augenblicklich beſtraft. Ein furchtbares Ge¬
witter zog herauf, jagte mit ſchrecklichem Donner und Blitz die
Herde auseinander und erſchlug den Buben ſammt dem gekreuzig¬
ten Bock, ſo daß Aelpler ihn am anderen Tage mit gräßlich ver¬
zogenem Geſicht und über und über ſchwarz am Körper fanden.
Zur Strafe aber für ſeinen gottloſen Muthwillen müſſe er nun
Nachts als „wilder Geißler“ umgehen. Im Walde bei Adlenbach
im Kanton Glarus hört man ihn Abends pfeifen, von wo aus er
dann über die Alpen treibt. So meldets der Volksglauben. —
Aber es giebt auch verhexte und verzauberte Ziegen. Corrodi's
Hannbiſchli erzählte auf der Ebenalp wörtlich folgende Geſchichte:
„Eben im Herbſt iſt en Roßma (Roßhirt) uf de Siegel ui (auf
den Alpſiegel hinauf), ebe daß er e Roß hät müſſe ſuche. So hät
er das Roß nit gfunde, 's iſt niene gſi (es iſt nirgends geweſen),
und ſo iſt er in e Stadel ie cho (in einen Stall hineingekommen)
ufem Siegel. Chuebode häßts. So ſind ſiebe Motſchgäße (un¬
gehörnte Ziegen) drin gſi i dem Stadel. So hät's e ghungeret;
ſo denkt er, er wöll ſuge (er wolle ſaugen, d. h. melken), und ſo
wie-n-er wott ſuge, het's ke Milch ge, het's ke Strich gha (es hat
keine Milch gegeben, keinen Strich gehabt); do ſät er: „du Oflat
du, biſch gad e Bock!“ (du Unflath du, biſt nur ein Bock). Und ſo
händ die andere Gäße nebet ihm zue glachet. So hei's em gfürcht
und ſo hei er gſät, das ſeiid Onghür (das ſeien Ungeheuer), da
göng er wieder. Und ſo lauf er e halb Viertelſtond wit abe und
d'Gäße ſeiid em naheglaufe und heiid en all usglachet. Und ſo iſt er
halt in Sämtis abi und hät's Roß gfunde und iſt mit i's Land uſi
gfahre (hinaus gefahren), und het's verzellt, wie's em im Chue¬
bode gange ſei: es ſeiid Onghür dobe, es ſei nöd ganz richtig,
's hei em gruſam gfürcht, er ſei glaufe, daß er d'Füß faſt ver¬
lore hei.“

[371]Der Geißbub.

So wenig beneidenswerth das Loos eines alpinen Geißbuben
auch erſcheinen mag, ſo iſts dennoch ein gemächliches und freund¬
liches gegenüber dem von manchen Schaafhirten in den Alpen.
Wir meinen hierbei nicht die Bergamasker Schäfer, die auch außer¬
ordentlich frugal leben und ſich nicht getrauen von ihren ſelbſt
producirten Käſen zu eſſen; ſondern jene, in einer freiwilligen
Verbannung den Sommer verlebenden Schaafhirten wie am Zäſen¬
berg unterm Eiger und ähnliche. Der Zäſenberg liegt in der
Tiefe des unteren Grindelwaldgletſchers, gegenüber von den Schreck¬
hörnern, und iſt rings vom Eis umgeben. Hier wirthſchaften zwei
Hirten mit einem Buben, mehreren hundert Schaafen und einigen
Ziegen. Die eine ihrer Sennhütten iſt unter einem Granitblock
ausgegraben, und die andere ſchmiegt ſich an dieſe, aus roh über¬
einander gelegten Gneisſcherben errichtet, an. Die Genügſamkeit
dieſer Hirten überſteigt, nach Hugi's Verſicherung, der ſie beſuchte,
alle Begriffe. Zwei kleine Kübel und eine Pfanne ſind die ganzen
Geräthſchaften des einen Hirten. Der andere, welcher kleine
Schaafkäſe bereitet, hat ein paar Stückchen Hausrath mehr, Alles
aber in urthümlichſter Einfachheit. Das Holz muß mehr als zwei
Stunden weit übers Eismeer heraufgetragen werden; nichtsdeſto¬
weniger gehen ſie mit ihrem Bischen künſtlicher Wärme ſehr ver¬
ſchwenderiſch um und ſtopfen nicht einmal die Klinſen zwiſchen
den Steinen mit Moos oder Heu aus, um die Wärme zuſammen¬
zuhalten. Alles Denken, alles Weiterſtreben ſcheint hier aufzu¬
hören, und über die vorzeitlichen Einrichtungen hinaus wird Neue¬
rungen kein Zutritt geſtattet. Vom fröhlichen Leben, das auf an¬
deren Alpen herrſcht, iſt hier nicht die mindeſte Spur. Die Sprache
ſcheint den Leuten eingefroren zu ſein; ihr ganzes Weſen iſt ſo
froſtig und kalt wie die wilde, große Eisnatur, welche ſie umgiebt.
Kein Menſch kommt zu ihnen hierher, und begegnets, daß einmal
Touriſten über die Strahlegg kommen, die ſie von ferne ſehen, ſo
iſts ein Ereigniß in dieſer gewaltigen Einöde; zu keinem Dorfe
24*[372]Der Geißbub.kommen ſie den ganzen Sommer über hinab, auf keine befreundete
Alp können ſie zum Zeitvertreib gehen; zu keinem theilnehmenden
Menſchen vermag das Johlen des Hirtenrufes zu dringen. Unter
ſich ſprechen dieſe Troglodyten ebenſo wenig, und nur ein kurz ab¬
gebrochener gellender Ruf ladet die Ziegen zum dargereichten Salz
und zum Melken ein. Die Schaafe aber irren, ohne je die Hütte
zu ſehen, immer auf den Kämmen und Graten umher. Was dann
im Spätjahr die Herde, nachdem ſie nach Grindelwald wieder
hinabgezogen iſt, noch übrig gelaſſen hat, das weiden endlich die
Gemſen noch ab. — Noch trauriger iſt der Oberaarhirt daran;
im Jahre 1841 bei Agaſſiz's Beſteigung der Jungfrau hatte man
ein armes Bübchen von zwölf Jahren aus dem Wallis daherauf
geſchickt, das ſchlecht gekleidet und ſchlecht genährt, ein ſtupides
Ausſehen hatte. Es war für drei Monate mit Lebensmitteln ver¬
ſehen; ſein Brod war ſo hart wie der Granit ſeiner jämmerlichen
Hütte, und der Käſe war trockner als das Heu, auf dem das arme
Kind ſchlief. — So ſchlimm haben es nun freilich nicht alle
Schäfler; es giebt deren, die ein ganz gemüthliches Leben führen.
Da iſt z. B. der Schäfler auf den Churfirſt-Alpen, ein ungemein
freundlicher und beredter Burſch, der aber das Unglück hat, keine
Hütte zu beſitzen. Man wollte ihm droben unterm Falzloch, wo
der Uebergang ins Toggenburg iſt, eine Hütte bauen; aber die
kunſtloſen Naturmauern wurden, wie der Mann behauptet, immer
wieder von unſichtbaren Händen eingeriſſen und die Arbeiter mit
Steinwürfen verfolgt, ſo daß der Bau unmöglich wurde und auf¬
gegeben werden mußte. Seitdem weiden die Schaafe unangefoch¬
ten im Felſenkeſſel des Käſera-Ruck, und der Hirt hospitirt in den
Hütten von Büls.


Dies iſt eine der Kehrſeiten vom Leben in den freien Alpen.


[[373]]
Figure 10. Wildhäuer.

Druck von F. A. Brockhaus in Leipzig.

[][]

Der Wildheuer.

Und weiter, höher, ſteiler treibt die Haſt,
Der Unmuth fort, der Berge trüben Gaſt,
Auf Klippen, wo den Pfad die Furcht verſchlingt,
Wohin verzweifelnd nur die Gemſe ſpringt.
Lenau.

Droben, auf jenen Felſenköpfen, die vom Thal geſehen für
den menſchlichen Fuß unerreichbar ſcheinen, dort wo die kleinen
runden, maigrünen Raſenpolſter, eine freundliche, das Auge beruhi¬
gende Unterbrechung, an den glatten, ſenkrechten, grauen Fluh¬
wänden hangen und die, von der Verwitterung geriſſenen, klaffenden
Zacken-Linien des todten, ſpröden Geſteines mildernd überkleiden,
— da wo man höchſtens die Horſte des Adlers und Lämmergeiers
ſucht, — dort iſt der Ernteplatz für den Wildheuer.


Als Armgart, das vom Kummer gequälte Weib, in Schillers
Wilhelm Tell, dem Landvogt Geßler auf offener Straße ſich vor
das Roß niederwirft und jammernd ihm entgegenruft:
„Mein Mann liegt im Gefängniß;
„Die armen Waiſen ſchrei'n nach Brod — Habt Mitleid,
„Geſtrenger Herr, mit unſerm großen Elend!“
[374]Der Wildheuer. und Rudolph der Harras ſie darauf fragt:
„Wer ſeid Ihr? Wer iſt Euer Mann?
da antwortet ſie mit zitternder Stimme:
„Ein armer Wildheuer, guter Herr, vom Rigiberge,
„Der überm Abgrund weg das freie Gras
„Abmähet von den ſchroffen Felſenwänden,
„Wohin das Vieh ſich nicht getraut zu ſteigen.“ —

und der ſtolze Ritter, wohl wiſſend, welch trauriges Loos dieſer
Erwerb iſt, bittet nun ſelbſt für den Mann:
„Bei Gott! ein elend und erbärmlich Leben!
„Ich bitt' Euch, gebt ihn los, den armen Mann!
„Was er auch Schweres mag verſchuldet haben,
„Strafe genug iſt ſein entſetzlich Handwerk.“


Ja, wahrlich, es iſt ein armſelig Leben, ein müheſam Tagewerk,
voller Entbehrungen, gegen Wind und Wetter kämpfend, ſtets mit
einem Fuße auf der Gränzlinie zwiſchen Leben und Tod ſchreitend.
Denn zu Wildheuplätzen werden lediglich jene ſchwer nahbaren
Grashalden im Hochgebirge, meiſt über der Waldregion gelegen,
alſo in einer Höhe von 6000 Fuß und darüber, erklärt, die ihrer
ſteilen Böſchung halber weder mit Schaafen noch Ziegen, viel weni¬
ger mit ſchwerem Großvieh betrieben werden können, oder zu denen
der Aufgang für eine Herde völlig unpraktikabel iſt.


Hierher, wo höchſtens der Wageſprung der ſchwindelfreien
Gemſe noch Boden findet, anklammernd ſich feſtzuhalten, — hier¬
her wagt der Menſch ſich im Kampfe um ſeine Exiſtenz, hier ſucht
er Winterfutter für das, ihn und die Seinen ernährende Stall¬
thier; — und wenn das Bibelwort Moſis dem Arbeiter ſein hartes
Loos prophezeit: „Im Schweiße deines Angeſichts ſollſt du dein
Brod eſſen“, — ſo muß man beim Wildheuer hinzufügen: „als
Lohn deines Arbeitsmuthes und deiner Todesverachtung, darfſt du
deine Milch trinken.“ Denn es giebt Wildheuplätze, wo der er¬
werbungsluſtige Wagehals den ganzen Tag über die Fußeiſen
[375]Der Wildheuer. nicht ablegen darf, weil er zu ſeinem Schutz bei Schritt und Tritt
mit den Stachel-Sohlen ſich am Boden einbohren muß.


Dieſe ungeheuerlichen Gegenden, die faſt einem Beſitzthum im
Monde gleich zu achten ſind, weil ihr Werth erſt durch die Tollkühnheit
des Wagehalſes geſchaffen wird, der, um der Ausſicht auf einen dürfti¬
gen Gewinn halber, ſein Leben als Einſatz riskirt, — dieſe kulturun¬
fähigen Wildniſſe, ſollte man meinen, müßten Gemeingut alles Alpen¬
volkes, ein und deſſelben politiſch zuſammengehörenden Landes ſein.
O nein. Die Eroberungsſucht und Habgier des Menſchen und
deſſen Beſtreben, durch Verträge ſeinen Beſitzſtand ſicher zu
ſtellen, dringt auf Erden ſo weit, als das Auge zu reichen vermag.
Da, wo Gränzſteine und trennende Holzhäge oder tiefeingeſchnittene
Runſen und Tobel als natürliche Gränzen des Mein und Dein
im Gebirge nicht ſichtbar ſcheiden, läuft die Gemeinde-March eines
Alpendorfes in idealer Linie über geborſtene Felſenzacken und um¬
nachtete Abgründe, über Gletſcher und Firnfelder, durch Wüſte¬
neien, in welche vielleicht noch nie eines Menſchen Fuß hindrang.


Aber innerhalb dieſer Gemeinde-Gränzen handelt es ſich um
Aufſtellung einer zweiten Linie, welche die guten, für den Weide¬
gang brauchbaren Alpenmatten von den gefährlichen Grashalden
oder „Böſenen“ trennt, — und dieſe ſteht nicht allenthalben feſt.
Darum herrſcht ſelbſt hier oben, in dieſen wildeſten Gegenden des
Gebirges, der alte, wohl nimmer endende Hader zwiſchen den
Schickſals-Antipoden „Arm“ und „Reich.“ — Denn der habliche,
im Bewußtſein des Beſitzes ſich fühlende Bauer, der ſo glücklich
iſt, ein ganzes Sennthum Vieh zur Sömmerung auf die Alpen
treiben zu können, der ſeine Stimme im Gemeinderathe mit Nach¬
druck erheben darf, weil er zur Geld-Ariſtokratie des Dorfes zählt,
dieſer will ſich den Vollgenuß ſeiner Privat- oder Kommunal-
Rechte nicht um einen Zoll ſchmälern laſſen und begehrt nach
altem Landesbrauch die wachſenden Kräuter zur Weide für ſein
Vieh, „ſo weit man mit Kuh und Kalb ätzen könne.“ Dies iſt
[376]Der Wildheuer. freilich ſehr relativ, und es kommt dabei viel auf die Schwere des
Viehs, deſſen Kletterfähigkeit und auf das Riſiko an, welches jeden¬
falls derjenige übernimmt, der Herden an Orte treibt, die wenig
geeignet für Weideplätze ſind. — Der arme Wildheuer dagegen,
auf dem der Ernſt des Lebens bitter laſtet, der mit Todesgefahr
ſchwer nach dem kümmerlichen Erwerbe ringt, der vielleicht kaum
ein mageres Zicklein ſein Eigenthum nennt, der aber ebenſo gut
anſpruchsberechtigter Gemeinds-Genoſſe iſt, wie der vermögliche
Sennten-Bauer, findet die Gränze für den Anfang ſeiner Sichel¬
thätigkeit zum Abmähen des den Armen gehörenden Wildheues
ſchon einige hundert Fuß tiefer in den Alpen. Darum ſtehen die
Anſprüche der Beſitzenden und die der Beſitzloſen in denjenigen
Gegenden immer auf der Menſur, wo nicht durch endgültigen Ge¬
meinde-Beſchluß allen Interpretationen ein für allemal vorgebeugt
wurde.


Der Wildheuer übt ſeinen halsbrechenden Beruf begreiflich nur
während weniger Wochen im Jahre aus, gemeiniglich in den Monaten
Auguſt und September; die übrige Zeit hindurch iſt er Kleinbauer,
Tagelöhner, im Herbſt vielleicht Gemſenjäger, im Winter Weber,
Holzſchnitzler, Dorf-Handwerker oder Waldarbeiter. Entweder durch
Gemeinde-Beſchluß oder durch das Geſetz ein für allemal, (Glarus
den 13. Auguſt), wird der Tag feſtgeſetzt, von welchem an das
Wildheuet erlaubt iſt. Aus einer Haushaltung darf in der Regel
nicht mehr als ein Mann gehen.


Um Mitternacht vor der Eröffnungsfriſt zieht der Wildheuer
aus; mit Tages Anbruch will er ſchon auf jener „Plangge“ ſein,
die er ſich als Ernteplatz auserwählt hat. Freudigen Muthes
nimmt er Abſchied von ſeinem „Heimet“, von Weib und Kind,
— vielleicht für ewig, — auf Nimmerwiederſehen. Die Senſe,
der Bergſtock, die Fußeiſen, ein Garn oder Tuch, um das zu ge¬
winnende kurze Heu darin zu den „Wild-Gaden“ zu tragen, und
ein Säcklein mit Lebensmitteln bilden die ganze fahrende Habe
[377]Der Wildheuer. des armen Mannes. Mitunter folgt ihm eine Ziege als getreue
Genoſſin und milchſpendende Quelle in ſeine Einſamkeit. So
gehts durch die Nacht fort, bergauf. Wie es dämmert, „juheit“
er mit ſchmetternder Stimme in die ſchweigende Felſenwelt hinein,
an welcher er auf ſchmalem Pfade emporklimmt. Weich moduli¬
rend wirft das Echo den dargebrachten Morgengruß zurück, und
von verſchiedenen Seiten, von nah und fern, antworten die Stim¬
men anderer Kameraden, die auf gleicher Bergfahrt begriffen ſind.
Es geſchieht aus Ungeduld und Beſorgniß, um auszukundſchaften,
ob ihm nicht ein Anderer zuvorgekommen ſei. Denn zu Schutz
und Trutz muß der Wildheuer gerüſtet ſein, nicht nur gegen die
Unwirthlichkeit der Gebirgsnatur, ſondern auch gegen ſeinesgleichen,
gegen den Konkurrenten ſeines Erwerbes, der ihm vielleicht den
Platz ſtreitig machen will. Da hats ſchon blutige Kämpfe geſetzt,
dicht am Abgrunde, da wo jeder unbewachte Tritt über die Schwelle
zur Ewigkeit führen kann.


Das Heuen iſt aber außer den genannten, noch von anderen
Fährlichkeiten bedroht. Schon mancher Wildheuer wurde von her¬
abſtürzenden Steinen erſchlagen, die von höher gelegenen Felſen¬
wänden abbröckelten; andere ereilte der Tod, wenn ſie die vom
ſchweren Gewitterregen urplötzlich hochangeſchwellten Runſen durch¬
waten wollten, ausglitten und vom jagenden Wildwaſſer fortge¬
riſſen wurden. Oder jäher Schneefall, der auf Höhen von 6000
Fuß und darüber im Hochſommer keine ſeltene Erſcheinung iſt,
überdeckt und verkittet die ſchmalen Felſenbänder binnen wenig
Minuten dermaßen, daß über dieſelben hinabzuſteigen faſt unmög¬
lich wird. Und ſolche Quergurte ſind an den vertikal aufſtreben¬
den Rieſenkörpern der Berge meiſt die einzigen natürlichen Zu¬
gänge, deren der Wildheuer ſich bedienen kann, um zu ſeinen
„Fluhſätzen“ oder „Bergbetten“ zu gelangen.


Je wärmer und beſtändiger die Witterung im Auguſt und
September iſt, deſto reichlicher fällt auch die Bergheu-Ernte aus,
[378]Der Wildheuer. und ineinandergerechnet vermag jeder Mann täglich wohl einen
Zentner einzubringen. Er verdient damit etwa einen Tagelohn
von 3 bis 4 Franken. Tritt aber ſtürmiſches Wetter ein, weht
der in der Höhe oft wildbrauſende Wind das geſchnittene Kamm¬
heu über die Wand hinab, daſſelbe weit umher zerſtreuend, oder
ſchwemmen brauſende Regengüſſe daſſelbe fort, dann iſt freilich
viel Gefahr und mühevolle Arbeit umſonſt geweſen. Denn das
Wildheu beſteht größtentheils aus zarten, dünnſtengeligen, kurzen
Kräutern und Gräſern von ungemein zierlichem Wuchſe, eine wahre
Liliputaner-Vegetation, gegenüber dem halmenreichen, hochgeſchoſſe¬
nen, breitblätterigen „Feiſthen“ der Thalwieſen. Die duftende
Mutteri (Meum mutellina) mit ihren weißen Doldenblüthen
nimmt die vornehmſte Stelle unter den Futterpflanzen ein; ſie
gilt für das milchergiebigſte Alpenkraut, dem das Adelgras oder
Riz (Plantago alpina, Alpenwegerich) an Milchgehalt zunächſt
ſteht. Mit ihnen konkurriren: die flach an den Boden gedrückte
Bergbenedikte (Geum montanum, Bergnelkenwurz) mit breiten,
fingerkrautartigen Blättern und großen roſettirten Goldblüthen, —
das niedliche, weißblumige Alpenmaslieb (Chrysanthemum al¬
pinum
), — der zierliche Mannsſchild (Androsace obtusifolia
und chamaejasme) und das runde Frauenmänteli (Alchemilla
vulgaris
), auch „Thaumänteli“ genannt, weil die mittelalterliche
Heilkunſt und der Volksglaube dem, auf die nierenförmig-rund¬
lichen, ſeidenharigen Blätter niedergeſchlagenen Thau Wunder¬
kräfte zuſchrieb. Dazwiſchen birgt ſich der hygrometriſch-empfind¬
liche Eberwurz (Carlina acaulis), der zwergartige Alpenehren¬
preis
(Veronica alpina), das niedrige, brennendgelb blühende
Fingerkraut (Potentilla aurea), der feingeſtaltete Alpenſchwin¬
gel
(Festuca pumila und nigrescens), der niedliche Felſen-
Windhalm (Agrostis alpina) und die ihrer Nährkraft halber
hochgeſchätzte Romeye (Poa alpina, Alpen-Rispengras). Aus
dieſem, oft dicht ineinander gefilzten Kräuterraſen erheben ſich ferner
[379]Der Wildheuer.ſporadiſch das Frauen-Schüheli oder der Wundkrautklee
(Anthyllis vulneraria und alpina), die ſchwarzgrün-kelchige
Schaafgarbe (Achillea atrata) auf niederem, mit vielfach ge¬
ſchlitzten Blättchen garnirtem Stengel, — der prächtige Alpenklee
(Trifolium alpinum und montanum) mit ſeinen herrlichen fleiſch¬
rothen, großblüthigen Blumenknäueln, — der vereinzelt wachſende
Knöterich (Polygonum viviparum) über ſeine lanzettförmigen
Blätter langſtengelig die mit rothen Knötchen beſetzte weiße Blu¬
menähre hervorſtreckend, — dann die aus dichtem Raſenſchopf die
azurblauen Blumenköpfchen emportreibende, niedliche, pfriemen¬
blätterige Rapunzel (Phyteuma haemisphaericum), — der bunte
Hafer (Avena versicolor), — die purpurgoldigen Crepis-Arten, die
brennend-violetten Campanulen, die behaarten Hieracien,
die lappenblätterigen Alchemillen, die Aretien, Androſaceen, die
endloſe Sippſchaft der Gramineen und wie die kräftigen, aromati¬
ſchen Bergpflanzen alle heißen. Dieſe zuſammen komponiren das
Wildheu, welches darum auch von ungemein ſtarkem Geruch iſt,
das Vieh viel raſcher mäſtet und eine an Butterkügelchen ungleich
reichhaltigere Milch liefert als das Thalheu. In Norwegen halten
es die Bergbauern der Kjölen für ein Polychreſtmittel wider alle
Viehkrankheiten; deshalb holen ſie es mit Lebensgefahr von den
höchſten Zacken und Zinken, und heben ein Bündel davon als Ar¬
kanum bis zur nächſten Ernte auf.


Iſt das Heu je vom einen zum anderen Tage glücklich ge¬
dörrt, ſo gilts, daſſelbe an einem tieferliegenden, beſſer zugänglichen
Platze zu ſammeln. Dieſer Theil der Arbeit iſt nicht minder be¬
ſchwerlich und gefahrvoll als der des Abmähens ſelbſt. Wenn die
Felſenwand, ob welcher der Heuplatz liegt, nicht zu hoch oder zer¬
klüftet iſt, dann wirft der Wildheuer die in grobe Leintücher oder
Netze zuſammengepackten „Burdenen“ einfach hinab, ſteigt unbelaſtet
hinterher und befördert Alles an den Ort ſeiner Beſtimmung.
Iſt aber der Felſenhang ſehr tief, ſo daß durchs Werfen die
[380]Der Wildheuer. ſchweren, feſt zuſammengeſchnürten Bündel beim Auffallen zerplatzen
könnten, oder iſt die abſinkende Fluh ſtark mit Geſtrüpp und Knieholz
bewachſen, in welchem das Ballot hängen bleiben könnte, dann hat
der Wildheuer keine andere Wahl, als die zentnerſchweren Laſten
auf den Schultern hinabzutragen, — hinabzutragen auf Pfaden,
die oft kaum Raum bieten, einen Fuß vor den anderen zu ſetzen.

Man denke ſich eine Felſenwand mehrere hundert Fuß faſt loth¬
recht über der darunterliegenden, üppiggrünen Alpen-Terraſſe auf¬
ſteigend und hoch droben auf dem Felſengerüſt die Wildheu-
Plangge. Dieſe ungeheuere Strebemaſſe, gegen welche der größte
Münſter, das rieſigſte Bauwerk der Erde Spielzeug zu ſein ſchei¬
nen, beſteht aus emporgerichteten, gleichſam auf die Kanten ge¬
ſtellten Schiefer-, Kalk- oder Dolomit-Schichten. Die Verwitterung
hat in verſchiedener Höhe einzelne Lagen abgeblättert, gebrochen
und zu Thal geſtürzt, ſo daß, gleichſam terraſſirt, horizontal ge¬
neigte Bruchkanten an der gewaltigen Front, wie Geſimſe an einem
Gebäude hinlaufen. Je nach der Dicke der abgebrochenen Schich¬
ten, ſind begreiflich auch dieſe Geſimſe nur wenige Zoll oder Fuß
breit und bilden jene „Felſenbänder“, oder wenn ſie bewachſen
ſind, ſ. g. Grasbänder (Draie), die vom Thal geſehen, gleich
dünnen, zarten, grünen Litzen die graue oder okerfarbige Felſen¬
front überſpinnen. Es ſind die Pfade des Gemſenjägers, des
Wildheuers Rechts wächſt die Wand jäh, glatt, ſenkrecht in die
Lüfte empor bis zum nächſten Raſenband oder bis zu den Gipfel¬
zacken, — links ſinkt ſie ebenſo ſteil in die Tiefe nieder. Da¬
zwiſchen liegt der Felſenweg, abſchüſſig, ſchlüpfrig, bröcklig, oft
nur wenig Spannen breit. Frei kann das Auge über das große
Thalbild hinſchweifen, wenn der Kopf ſchwindelfrei und an die
gewaltigen Eindrücke gewöhnt iſt; ein unſeliger Blick in die
erblauende Tiefe, — hinab auf die Gipfelpyramiden der Tannen¬
wälder, die zu Moosdecken zuſammengeſchrumpft zu ſein ſcheinen,
— reißt den Mann mit magnetiſcher Kraft zum Todesſturz.


[381]Der Wildheuer.
Verſchwunden iſt das letzte Leben,
hier grünt kein Blatt, kein Vogel ruft,
Und ſebſtl der Pfad ſcheint bang zu beben,
So zwiſchen Wand und Todeskluft.
Lenau.

Aber das Bergvolk iſt ſo gewöhnt an die Größe und Maje¬
ſtät ſeiner Alpenwelt, ſo vertraut mit den entſetzlichen Schreck¬
niſſen der Gebirgsnatur, daß es da droben, wo jeder Andere zittern
würde, erſt recht in ſeinem Elemente lebt und webt. Die meiſten
Unglücksfälle, welche beim Herabtragen ſich ereignen, entſtehen da¬
durch, daß der Träger mit ſeiner Bürde an irgend einem Strauch
oder Felſenvorſprung hängen bleibt, das Gleichgewicht verliert und
ſtürzt. Schon frühzeitig nimmt der Vater den Buben mit in die
Berge, daß er ſich gewöhnen lerne. Anfangs ſchreitet dieſer wohl
etwas befangen längs den Abgründen, hält ſich am Geſtein feſt
und läßt mit Herzklopfen, in bangender Neugier den Blick nieder¬
ſinken auf die Waldnacht in den Tobeln, auf den tief drunten
rauſchenden Bergbach oder auf die ſilberblinkenden, ſteinbeſchwerten
Schindeldächer der Sennhütten, während der Alte mit ſchwerer
Laſt im Nacken, ſichergewohnten Schrittes ihm folgt, überrechnend,
ob er mit dem Ertrage ſeines Tagewerkes den Zins auf Michaeli
werde decken können. Aber es macht dem Buben Freude, es iſt
der Durchbruch des zähen, trotzigen, nach Selbſtſtändigkeit ringen¬
den Naturells, das allen Gebirgsvölkern eigen iſt, die im Kampfe
mit der ſie umgebenden Natur groß werden. Welches Loos harrt
denn des Knaben? Muß er nicht das Handwerk des Vaters auch
einſt ergreifen? Ihm bleibt keine Wahl.


Weiter drunten, wo der Berg ſich behaglich auszudehnen be¬
ginnt, am Fuße der Schreckenswände, ſtehen kleine Heuſpeicher,
kunſtloſe Holzhütten, — „Bargaun“ nennt ſie der romaniſche Grau¬
bündner, — „Gäden“ der deutſche Schweizer; in dieſen birgt der
erntende Wagehals ſein gewonnenes Wildheu den Herbſt über, bis
der Schlittweg des Winters ihm bequeme Gelegenheit giebt, die
[382]Der[Wildheuer]. Vorräthe vollende ins Thal hinab zu bringen. Oft aber fehlen
auch dieſe armſeligen Nomaden-Magazine, und vertrauend auf gut
Glück und den Rechtlichkeitsſinn ſeiner Nachbarn, ſpeichert er die
errungene Habe im Freien auf, wo einiger Schutz gegen Sturm
und Unwetter iſt. Solche „Heu-Feimen“ werden um einge¬
rammte Stangen feſtgetreten und mit großen Steinen beſchwert.
Nicht ſelten aber iſts der Fall, daß, wenn der arme Mann um
Weihnachten ſein gewonnenes Futter holen will, die Berghaſen
oder anderes hungeriges Wild, ſeine Vorräthe halb aufgezehrt
haben.


Im Winter, wenn dann Weg und Steg dick eingeſchneit ſind
und alle Felſenvorſprünge unter der großen allgemeinen weißen
Decke verſchwimmen, wenn
Eisblumen ſtarr kryſtallen an den ScheibenWie ein Gehege gen der Sturmnacht Toſen, —  (A. Grün.
)
dann geht der Wildheuer mit ſeinem „Hornſchlitten“ auf dem
Rücken, ſobald der „Schnee trägt“, d. h. ſich feſt geſetzt und eine
harte Kruſte bekommen hat, hinauf zu ſeinen Magazinen, ladet
einen derben „Schochen“ feſtgeſchnürt auf, ſtellt ſich dann zwiſchen
die hoch heraufgehenden Kufen an die Stirn ſeines Fahrzeuges,
und dieſes gleitend in Bewegung ſetzend, jagt er mit Lokomotiven-
Geſchwindigkeit über die Abhänge hinab. Auch dieſer letzte Theil
der ſorgenvollen Arbeit iſt noch mit großer Gefahr verbunden, weil
gar häufig, wenn drunten im Thal Alles pickelhart gefroren iſt,
in der Höhe weit mildere Lüfte wehen oder gar der warme Föhn
regiert und dann Lauinen losbrechen, die den Mann ſammt ſeinem
Geſchirr begraben. Darum bereitet ſich der Tyroler, wenn er mit
ſeinen Gefährten zum „Hatzen oder Heuziehen“ in die Berge
geht, auf alle Schickſalsfälle vor, und ein gemeinſames Gebet er¬
öffnet das bedrohliche Tagewerk. Glückt das oft wiederholte Wag¬
ſtück, kehren Alle wohlerhalten und friſchen Sinnes heim, dann wird
das Gelingen durch eine gemeinſame Zeche, das „Hatzermahl“ gefeiert.


[383]Der Wildheuer.

Nicht alles Heu, welches im Winter ab den Bergen geſchlittet
wird, iſt nur Wildheu; es giebt auch Bergwieſen, die ebenſo be¬
wirthſchaftet werden wie die im Thale liegenden fetten oder „Mahd-
Wieſen.“ Liegen dieſe nun zu entfernt vom Dorfe oder des
Eigenthümers „Heimet“, dann wird der Ernte-Ertrag derſelben,
ebenſo wie das Wildheu in Gäden aufgeſpeichert, und entweder
an Ort und Stelle im Winter gefüttert, oder in angegebener Weiſe
zu Thal geſchlittet. — Die Verwegenheit und das Geſchick, mit
denen der Heuſchlitter ſeine, ihn hoch überragende, mehrere Zentner
wuchtige Ladung dirigirt, iſt bewundernswürdig. Völlig vertraut
mit den Gefahren, welche ihn bedrohen, kennt er die (jetzt mit
Schnee ausgefüllten) Schluchten, durch welche ſeine Eisbahn läuft,
bis in die kleinſte Einzelnheit genau; mit ſcharfem Blick und ſiche¬
rer Berechnung zirkelt er die Bogenfahrt ab, ſo daß er pfeilſchnellen
Fluges dicht am ſchauerlichen Abgrunde mit ſeiner Laſt vorüber¬
ſtürmt; — nur wenig Fuß Fehlberechnung in der Curve, würde
ihn hinabſchleudern in Untiefen, aus denen es keine Rückkehr giebt.


„Dem Muthigen hilft Gott“ und „Kein Muthiger erbleicht
vor kühner That!“ Dieſe Worte Schillers finden volle Anwen¬
dung auf alle Wildheuer, namentlich aber auch auf jenen tollküh¬
nen Molliſer (Kanton Glarus), der einſt von den Heubergen unterm
Frohnalpſtock bei ſeiner Fahrt zu Thal den allerdirekteſten und
ſchnurgeradeſten Weg über die treppenförmig ſich abtiefenden Fluh¬
ätze nahm. Sichere Zeichen verkündeten ihm, als er droben ge¬
laden hatte, daß Lauinenſtürze zu befürchten ſtänden. Mehrere Stel¬
len ſeines gewöhnlichen Weges lagen in den Schreckensbahnen
dieſer Donnergrüße des Winters; ihm drohte der entſetzliche Tod:
verſchüttet zu werden. Jede Minute Zögerung vergrößerte die Ge¬
fahr. Da entſchloß er ſich kurz, befahl dem Himmel ſeine Seele
und wählte unter zwei Schreckniſſen das kleinere. Wer das Ter¬
rain kennt, hält ſolch ein Unternehmen für Wahnwitz; denn es iſt
weitaus mehr Wahrſcheinlichkeit, daß der Wagehals dabei um¬
[384]Der Wildheuer.kommt, als daß ſeine Force-Tour gelingt. Genug, unſer Heu¬
ſchlitter unternahms, ſtellte ſich jedoch nicht an die Spitze ſeines
Trains, ſondern klammerte ſich hinter demſelben an, ſteckte den
Kopf ins Heu und überließ das Weitere der Fügung des Schick¬
ſals. Und ſiehe, die kühne That gelang, den muthigen Mann
rettete ſeine gewaltige Entſchloſſenheit.


[[385]]
Figure 11. Alpſtubeten oder Älplerfeſt.

Druck von F. A. Brockhaus in Leipzig.

[][]

Alpſtubete oder Aelplerfeſt.

Ich ſeh vor mir den ſtillen Alpenſee,
Von hoher Bergwand ſorglich eingegränzt.
Wie lacht vom Haupte nicht der friſche Kranz
Dornloſer Alpenroſen, überhängt ins Thal,
Und ſchüttelt ſeine Blüthendolden aus
Aufs junge Volk, das auf der Matte tanzt
Beim Klang des Hackbretts und der luſt'gen Geige.
Da ſchwingt der Burſche hoch ſein Sennenkind
Und ſtampft im Jugendübermuth den Raſen,
Indeß ein helles Jauchzen wiederhallt,
Der Freude Rottenfeuer, von den Bergen.
O, unverſiegbar biſt du friſcher Quell
Des Lebens, wie du ſprudelſt aus dem Volke,
Wenns nicht in Dämme künſtlich eingezwängt,
Nein, frei hinrollt in ſelbſtgeſchaff'nen Wegen.
Carl Morell.

Das Volksfeſt! Dieſes Erinnerungs-heitere, Freude-verheißende
Wort, an dem die Hoffnung von Tauſenden fröhlich emporrankt,
— dieſes ſtrahlende Geſtirn im trüben Gedränge des einförmigen
Alltagslebens! wie ſehr entſchwindet unter dem Einfluſſe der fort¬
ſchreitenden, mächtig-umgeſtaltenden Zeit, immer mehr ſein urſprüng¬
liches, kindliches, harmloſes Weſen! wie verliert es täglich mehr
Berlepſch, die Alpen. 25[386]Alpſtubete oder Aelplerfeſt. an friſchem Geiſt und Gehalt, und bleicht zum blaſſen, mark- und
körperloſen Schemen ab! Schon müſſen ſinnenberauſchendes Ge¬
pränge und eitler Tand jene Gemüths-Armuth und Blöße decken,
die mit dem Ueberwuchern des Scheins, auch bei den Feſten, wie
eine böſe Seuche immer ſchrecklicher um ſich greift. Da tritt uns
denn ein Aelplerfeſt in ſeiner ungeſuchten Einfachheit, in ſeiner
natürlich-ſprudelnden Luſt, als eine wohlthuende Erſcheinung ent¬
gegen. Wie ſich ſo Manches in Sitten und Gebräuchen noch rein
und ungeſchminkt beim Gebirgsvolke erhalten hat, gleich als ob
der harte, feſte Grund und Boden, auf dem es lebt, auch in ſein
Denken und Handeln übergegangen wäre, ſo ſehen wir noch heute
den kecken, muskelſtrammen Burſchen auf der Alp die Spiele üben,
an denen ſich die Aelterväter vor Jahrhunderten ergötzten und
ihrer Zeit ein kräftiges und unerſchrockenes Geſchlecht gaben.


Alpſtubeten oder Dorfeten ſind Hirtenfeſte, die ſo alt ſein
mögen, als die Sennerei, die ſo lange beſtehen, als die Herden
zur Alp getrieben werden. Ihr Name iſt ebenſo naiv und an
die Anfänglichkeit der Zuſtände erinnernd, wie ihr Weſen und
Verlauf heute noch iſt. In jenen zerſtreuten Gebirgsdörfern, die
aus den allmähligen Anſiedelungen und Familien-Erweiterungen
entſtanden, die abſeit der großen Handelswege und Verkehrsſtraßen
lagen, gab es bis in die jüngſte Zeit, und giebts ſogar heute noch
in Savoyen, Wallis, Graubünden und Tyrol keine Wirthshäuſer
mit großen Lokalitäten. Die Alpenbauern kannten das Bedürfniß
nicht, zu einem ihrer Nachbarn zu gehen, um bei demſelben für
Geld zu zechen; Geld überhaupt kurſirt in manchen Bergdörfern
faſt das ganze Jahr nicht, weil Jeder ſelbſt erzeugt, was er für
ſein Haus bedarf. Wohl aber ſtellte ſich bei ihnen das Bedürfniß
geſelligen Lebens, freundnachbarlichen Beſuches zum Zweck der
Unterhaltung ein, und da es, wie geſagt, keine Geſellſchaftshäuſer
und kein Caſino in den Gebirgsorten giebt, ſo ging man in die Stube
des Anderen, und dieſe Viſite wurde eine „Stuberta“ genannt.
[387]AlpſtubeteoderAelpſerfeſt. Die Bezeichnung wurde aber auch ganz beſonders auf jene Zu¬
ſammenkünfte junger Leute angewendet, welche zu Spiel, Geſang
und Tanz ſich in der größten oder am Bequemſten gelegenen Stube
eines Nachbarn zuſammenfanden, und dieſe improviſirten Geſell¬
ſchaften beſtehen überall in den Alpen und im Schwarzwalde noch.
Sie ſind nun keinesweges immer ſo harmloſen, idylliſchen Charak¬
ters, dieſe eigentlichen Stubenzuſammenkünfte, wie man behaupten
will, ſondern ſie ſind vielſeitig Urſache immer größerer Entſitt¬
lichung des Volkes.


Anders verhält ſichs mit unſeren Alpfeſten, auf welche man,
da es gleichfalls Beſuche und Vergnügungs-Anläſſe, wie die drunten
im Dorfe, ſind, auch den gleichen Namen übertrug. Der Tag
ihrer Feier ſteht ebenſo feſt wie der eines Kalender-Heiligen, und
hängt, wie ſchon bemerkt wurde, in den katholiſchen Gebirgsgegen¬
den meiſt mit der Feier eines Patronatsfeſtes zuſammen. Alles
Bergvolk, das während des Sommers ſich mehr vereinſamt fühlt
als zu jeder anderen Jahreszeit, weil die Hälfte droben in den
Alpen, die andere Hälfte drunten im Thale lebt, ſtrömt nun mit
Ungeduld dem allgemeinen Sammelplatze zu, hört Predigt und
Meſſe herkömmlich an, und wenn dieſer althergebrachten Sitte
Genüge gethan iſt, dann werden alle geiſtigen und geiſtlichen Ge¬
danken für dieſen Tag quittirt, — die kommenden Stunden ge¬
hören nur der ausgelaſſenſten Freude. Alles Volk prangt im
Sonntagsſtaat, in hellen, leuchtenden Farben. Dazwiſchen man¬
gelts nicht, daß auch ein Senn im Ehrenkleid der Stall-Arbeit,
wenn nicht zum Schmuck, doch zur maleriſchen Ergänzung der
Gruppen, ſich zwiſchen den Feſtgenoſſen bewegt. Unter lautem
Jubelruf und johlenden Zauren und „Löcklen“, daß die Berg¬
wände es gellend wiederhallen und die Lüfte von klingender Freude
erfüllt ſind, ſpringt nun jeder Sennbub mit dem Mädchen ſeiner
Neigung zu den umliegenden Sennhütten. Hier iſt ſchon Alles
auf den Beſuch vorbereitet; Krapfen und Küchli, Birnenweggen
25*[388]AlpſtubeteoderAelplerfeſt. und geſchwungener Nidel (zu Schaum geſchlagener fetter Rahm),
lockend feines, weißes Weizenbrod und Wein, genug, was des
Alpenſohnes Kunſt vermag, wird hier in Menge zum fröhlichen
Mahl aufgetiſcht. Das iſt ein Scherzen und Koſen, ein Föppeln
und Necken, mitunter weidlich derb und unglimpflich, wies eben
Sitte iſt da droben.


Noch einmal trennt ſich das junge Volk. Die Mädchen ziehen
ſchaarenweiſe ſingend umher, ſuchen die bekannten Stellen auf und
zwingen die Gnomen der Felſenwände, durch alle Tonarten hin¬
durch ihnen als Echo zu ſekundiren. Es iſt der vollendetſte Ueber¬
muth, die aufs Aeußerſte geſpannte Elaſticität des Humors und
der Freudenbegierde, die ſich zu entladen beſtrebt und nun jeden
Anlaß benutzt, um das Ueberſelige der Stimmung zu bethätigen.


Die Sonne ſteht hoch! Der Himmel ſtrotzt im tiefſten Blau
des unendlichen Aethers! Da jauchzts und ruggüßelet es aus
jedem Winkel hervor, von allen Halden herab. Wo irgend eine
Hütte hinterm Tannenſchopf verborgen liegt, oder wo es über einen
Bühel hinaufführt in ein anderes Berggut, oder der ſchmale,
ſchlängelnde Pfad hinüberläuft übers Tobel zur Nachbar-Alp, von
allen Seiten ſtrömts herbei, das genußdurſtige Volk, elektriſche
Freudenblitze durch die Lüfte ſchleudernd. Hei! drunten auf dem
Plan der Bergwieſe, welch ein Gedränge, welch wogendes, ſchwirren¬
des Durcheinander! Da iſt das Feſt im vollſten Gange ſchon.
„Wer gerne tanzt, dem iſt leicht gepfiffen!“ Erhöht auf einem
Felſenblock hat ein Orcheſter ſeine Kunſtwerkſtätte aufgeſchlagen.
Zwei Muſikanten ſinds, Autodidakten, die hemdärmelig dem Volke
neckiſche Weiſen aufſpielen. Der eine hat das Hackbrett auf den
Knieen, den Urgroßvater aller pianiſtiſchen Inſtrumente, deſſen
Saiten er mit dem Stahlſtäbchen hellſchwirrende Metalltöne in
kecken, zuckenden Rhythmen entlockt. Sein Sekundant iſt ein Geiger,
ebenſo ein origineller Kauz; voll Witz und ſprudelndem Humor
ſchmückt er die ohnehin ſchon herausfordernd muthwillige Melodie
[389]AlpſtubeteoderAelplerfeſt. noch mit Schnicken und Schnacken aus, lebt und zappelt am gan¬
zen Körper, und ſtampft mit den Füßen metriſch den Takt zu ſeinen
muſikaliſchen Arabesken. Der arme Narr ſchwitzt über und über,
und um bei ſeiner ſchweren Arbeit wenigſtens einigen Schutz zu
haben, ſo hat er den Baldachin eines großen, rothbaumwollenen
Familien-Regenſchirmes, an einen langen Stock gebunden, hinter
ſich aufgerichtet, in deſſen leuchtendem Schatten er ſein Tagewerk
vollbringt.


Juſt ſo iſts dem Volke recht; das iſt die Muſik, die es ſucht
und haben will. Stellt ihm die Virtuoſen einer fürſtlichen Kapelle
hin; — mit aller ihrer Präciſion und Glockenreinheit im Spiel
vermögen ſie es nicht, das ſinnenberauſchte Alpenvölklein ſo auf
dieſer zitternden Höhe der Glückſeligkeit zu erhalten und zu balan¬
ciren, als der verſchmitzte, diaboliſch-anſpannende Dorfgeiger. —
Und nun der Reigentanz ſelbſt, der uralte, den heute noch die
Indianer und wilden Völker bei ihren Feſten tanzen, der große,
runde Ring von Menſchen-Armen, die zu einer Kette verſchlungen,
den braunbemooſten Felſenklotz umjauchzen. Was iſt das noch ein
primitives Springen und Bewegen im Vergleich mit dem äſthetiſch¬
feenhaften Schweben der Kunſttänze auf unſeren Soireen und
Bällen! Und dennoch iſt Grazie und Anmuth darin, weil Natür¬
lichkeit aus jeder Körperwendung ſchaut. Die Buben haben ſich
bei den Händen gefaßt, und in jeder ſolcher männlichen Armfeſſel
lehnt, ſich ſicher wiegend, die Sennerin, indem ſie ihre Arme leicht
und nachläſſig auf die Schultern ihrer beiden Tanznachbarn legt.
Es liegt eine ſchelmiſche Koketterie in dieſem Geflecht, die unge¬
meinen Reiz hat und wellenhaft ſchöne Formen darbietet. Da¬
neben werden Extratouren gegeben. Ein Burſch, dems in den
Füßen zittert und zuckt, als ob ein galvaniſcher Strom ihn durch¬
brauſe, hat ſeine Tänzerin mit beiden Händen beim Mieder gefaßt,
rundwirbelt kreiſelartig auf einem Plätzchen, das eben groß genug
iſt, um vier menſchlichen Füßen Raum zu gewähren, durchbohrt
[390]AlpſtubeteoderAelplerfeſt. die Lüfte mit ſeinen maifriſchen Jauchzern und ſchwingt das
lachende Alpenkind hoch über ſich wie ein Spielzeug ſeiner roſigſten
Laune.
Jetzt, als wollt es mit Macht durchreißen die Kette des Tanzes,Schwingt ſich ein muthiges Paar dort in den dichteſten Reihn.Schnell vor ihm her entſteht ihm die Bahn, die hinter ihm ſchwindet,Wie durch magiſche Hand öffnet und ſchließt ſich der Weg.Schiller. So gaukelt und brauſt es durcheinander, ein im Entſtehen ſich
ſchon wieder verzehrendes Bild.


Das iſt der innere Kern, das Centrum der Freude und Luſt.
Mit reichen, lebensvollen Gruppen, je wenig Menſchen ein draſti¬
ſches Genrebild aufſtellend, iſt dieſe große Scene eingefaßt. Auch
die Kühe ſind herzugekommen und ſtarren mit verwunderten Augen
hinein in das Gedränge, das ihrem ſtillen Tempe ſonſt ſo fremd iſt.
Durch lautes Blöken geben ſie ihre Theilnahme zu erkennen; ſolls
ein Proteſt ſein, daß man ihren kräuterreichen Futterboden ſo über¬
müthig zerſtampft, oder ſinds Beifallsbezeigungen in der Kuhſprache!
Der Gaumer, der ſich an einem Glaſe Wein ergötzt hatte, geſtattet
aber ſolche familiäre Einmiſchung der Hausthiere nicht und jagt
die mit geſtrecktem Schweif zurückgaloppirenden Thiere wieder auf
das ihnen zur Weide angewieſene Terrain.


Endlich lechzt und ſchnauft und fieberglüht der ganze Kreis
unter dem Druck der ſengenden Strahlen, — der Regenſchirm-
Geiger und der „Hackbrettli-Ma“, die Buben und Mädchen müſſen
raſten vom Uebermaß der Luft.


Da zieht ein neuer Kreis, den wir bisher nicht beachtet hatten,
unſere volle Aufmerkſamkeit auf ſich. Ein großer, ſchwerer Centner¬
ſtein fliegt durch die Luft und fällt dumpf dröhnend auf den Boden;
gellendes Gelächter folgt. Das ſind die Kraftproben im Stein¬
ſtoßen, dieſes wiederum uralte Aelplerſpiel, eine Mahnung an
die rollenden Felſenblöcke in den Schlachten am Morgarten und
am Stoß, die wie der böſe Feind in die kampfgerüſteten Züge der
[391]AlpſtubeteoderAelplerfeſt.Ritter und Reiſigen ſchmetterten und ſie zu Boden warfen. Hier
iſts nur Scherz, faſt nur ein Kinderſpiel im Großen, und doch
bekundet es den ſtreitbaren, männlich ſich rüſtenden Geiſt, der in
dieſem Bergvolke lebt und webt. Mit feſten Händen umſpannt
der Senn den Laſtſtein, hebt ihn ſcheinbar leicht ſich auf die Schul¬
ter, während die innere Fläche der rechten Hand ihn eigentlich
trägt. Das Ziel, das er im Wurfe erreichen will, iſt etwa ein
Dutzend Schritte vor ihm abgeſteckt. Im wiegenden Schwanken
des Oberkörpers ſucht er den rechten Augenblick abzupaſſen, und
plötzlich den Arm ausſtoßend wirft er den Stein dem Ziele zu.
Es gilt gewöhnlich eine Wette, die durch ein Halbes Wein aus¬
geglichen wird.


Turnübungen wurden von den Aelplern naturaliſtiſch ſchon
Jahrhunderte lang exerzirt, bevor der „Demagogen-Jahn“ und
Vater Maßmann auf der Haſenhaide die erſten Lektionen gaben.
Das Klettertalent der Geißbuben iſt ebenſo alt als ihr Stand,
und von der Sicherheit des Schuſſes legte Wilhelm Tell ſchon vor
mehr als 500 Jahren eine hiſtoriſch gewordene Probe ab. Die
unterhaltendſte aber von allen Turnerfähigkeiten können wir auf
unſerem heutigen Aelplerfeſte ſehen; es iſt das „Schwingen
oder der „Hoſenlupf“. Im Lande Appenzell ſind ſie unmittelbar im
Gefolge einer Alpſtubete; im Entlibuch und Emmenthal, im Berner
Oberlande und im Kanton Unterwalden beſtehen ſie als ſelbſteigene
Volksfeſte, die aber ebenſo wie dort die Stubeten ihre unabän¬
derlich feſten Tage haben. So finden deren auf der Wengenalp
und auf der Großen Scheideck am Fuße des Wetterhornes ſtatt, —
jenes von den Grindelwaldnern und Lauterbrunnern, dieſes von den
Grindelwaldnern und Bewohnern des Haslithales beſucht. Ge¬
wöhnlich iſts auf einer Gränzalp, zu der von beiden Thalſeiten
die kampfesluſtigen Jünglinge hinaufſteigen. Denn es kommt
darauf an, daß zwiſchen den Parteien zweier Thalſchaften die
eine den Sieg über die andere erringe. Begreiflich iſts, daß die,
[392]AlpſtubeteoderAelplerfeſt.welche das letzte Mal mit Ruhm gekrönt vom Platze ging, dieſen
Ruhm nun nicht einbüßen mag und alle ihre beſten Kräfte
aufbietet, das Aeußerſte zu leiſten, was immerhin nur möglich iſt.
Die jüngſthin überwundene Partei jedoch ſtrebt diesmal die ihr ange¬
thane Schmach zu rächen und heute als Sieger den Platz zu verlaſſen.

So wie ein ſolches Schwingen um die Wege iſt, ziehen ſich die
Burſchen, welche mit zu kämpfen gedenken, von den ſtrengſten Arbeiten
zurück, pflegen den Körper und genießen kräftigende Speiſen und Ge¬
tränke. Iſt nun der Schwingtag erſchienen, ſo finden ſich die Kämpen
beider Seiten in einem Wirthshauſe ein. Jeder ſucht ſich von der Ge¬
genpartei ſeinen Mann aus, mit dem er einen Gang zu unternehmen
wünſcht, und in herzlichſter Freundſchaft und Eintracht zechen ſie gemein¬
ſchaftlich, einander wacker zutrinkend. Die Stunde ruft. Arm in Arm,
vorauf Muſik, ziehen die Gegner paarweiſe zum Zug geſchaart zum
Schwingplatz, wo ihrer ſchon ein großer Haufen Volkes wartet.
Das Kampfgericht, von alten kundigen Vertrauensmännern gebildet,
iſt ſchon gewählt. All das übrige Volk formirt nun einen großen
Ring, in deſſen Mitte die Kämpfer ſtehen. Sie haben ſichs be¬
quem gemacht; das Hemd und die Schwinghoſe ſind die einzigen
Kleidungsſtücke, welche ſie auf dem Leibe tragen. Die Schwinghoſe
beſteht aus feſtem, derbem Drill, der dauerhaft genäht ſein muß.
Sie wird über die nackten Füße und Kniee bis auf die halben
Schenkel feſt heraufgerollt, und hat am Gurt um die Taille einen
Wulſt zum Anfaſſen. So ausgerüſtet treten die Ringer paarweiſe
an. Der ſelbſtgewählte Obmann ordnet die Reihenfolge an, in
welcher die Paare mit einander zu kämpfen haben; — zuvörderſt
die Schwächeren und dann gradatim ſteigend, die Stärkeren, Ro¬
buſteren. Allgemeine Schwingregeln beſtehen bei allen Alpenbe¬
wohnern. Zuerſt bieten beide Parteien treuherzig ſich die Hand,
um öffentlich zu bekunden, daß Keiner Haß und Groll gegen den
Anderen im Herzen trage, und daß das Schwingen ein freies,
freundliches ſein ſolle. Der Hemdenkragen iſt geöffnet, damit dem
[393]AlpstubeteoderAelplerfeſt. Athmen kein Hinderniß beſchwerlich falle; die Hemdärmel ſind bis
über den Ellenbogen hinaufgerollt, ſo daß die Arme entblößt ſich
um ſo leichter bewegen können. An der ganzen Kleidung ſoll,
altem Herkommen gemäß, nichts Geſchnürtes bleiben, überhaupt der
Eine wie der Andere im Anzuge ſein, weil bei längerem, hartnäcki¬
gem Kampfe irgend eine Kleinigkeit durch früheres Ermüden den
Ausſchlag geben könnte. So vorbereitet tritt das erſte Paar in
den Kreis; Freude, Heiterkeit, Zuverſicht, Kampfesluſt leuchten aus
den Augen. In aller Ruhe erfolgt das Zuſammengreifen, d. h.
ein Jeder ſchlägt ſeine rechte Hand feſt in den Taillen-Gurt des
Gegners, die linke in den aufgerollten Hoſenwulſt am rechten Schenkel
des Anderen, oder wies im Entlibuch heißt „ins Geſtöß“. Alle
falſchen und betrügeriſchen Praktiken ſind ſtreng unterſagt, wohin
namentlich auch gehört, den Gurt mit Talg einzureiben, weil dann
der Gegner keinen feſten Halt hat. Das „Zuſammengreifen“ ge¬
ſchieht je nach Belieben ſtehend oder knieend, die Köpfe Beider
je auf des Gegners rechter Schulter liegend. Sinds nun zwei
recht geübte Ringer, ſo treiben ſie, im taktmäßigen Hin- und Her¬
wogen, ſich mehrere Minuten lang im Kreiſe umher; Keiner von
Beiden verſucht den erſten Kunſtgriff oder Schwung, bevor er nicht
den rechten Moment gekommen glaubt. Weil ein Jeder ſich auf
der Defenſive hält, ſo erwartet er von Augenblick zu Augenblick
des Gegners unvermutheten Angriff und hat vorläufig ſeine ganze
Aufmerkſamkeit darauf gerichtet, feſt zu ſtehen. Die kleinſte Blöße,
die geringſte Schwäche vom Gegner wahrgenommen, benutzt dieſer
ſofort zu einem energiſchen Schwung oder Zug. Es begegnet
aber auch, daß Beide ſo lange auf einander „duſen“, (wie es im
Entlibuch heißt), daß ſie ermattet voneinander ablaſſen, ſich auf
den kühlen Raſen werfen, um zu verſchnaufen, brüderlich ein Glas
Wein ſelbander trinken zur neuen Stärkung, die Hände mit Erde
reiben, um die Haut rauher zu machen. Während des „Duſens“
herrſcht lautloſe Stille im Kreiſe; Alle lauſchen geſpannt auf den
[394]AlpſtubeteoderAelplerfeſt. erſten Schwung, und ſo wie dieſer erfolgt und nun das verzweifelte
Ringen, das Beinſtellen und Anziehen, das Heben und Drängen
beginnt, da folgen mit fieberhafter Haſt, mit jagenden Blicken, mit
klopfendem Herzen die Zuſchauer beider Parteien allen Bewegungen.
Halblaute Rufe, unterdrückte Interjektionen, Anfeuerungen begleiten
den Kampf, bis plötzlich durch eine einzige Wendung, durch einen
unvermutheten Griff und Zug der Eine des Anderen Herr und
Meiſter wird und ihn zu Boden wirft. Dieſe einmalige Ueber¬
windung entſcheidet indeſſen den Sieg noch nicht. „Eines Mannes
Red iſt keine Red, man muß ſie hören alle beed!“ Nach dieſem
Grundſatz wird dem Ueberwundenen nochmals Gelegenheit gegeben,
ſeine Ringer-Ehre zu retten, und nicht ſelten iſts der Fall, daß
diesmal das Glück auf ſeiner Seite iſt. Nur wer zweimal ſeinen
Gegner auf den Rücken wirft, iſt wirklich Sieger.


Kämpfen nun die Schwinger zweier Thalſchaften mit einander
für die Ehre ihrer Partei, z. B. die Unterwaldner und Haslithaler
auf der Alp Breitenfeld ob Meyringen, oder die Entlibucher und
Emmenthaler am Schüpferberg oder auf Ennetegg, — ſo tritt aus
der Partei des zuletzt Gefallenen der Erſatzmann heraus und ver¬
ſucht ſeine friſchen Kräfte an dem, der im vorhergehenden Gange
Sieger blieb, deſſen Kräfte jedoch ſchon ziemlich angegriffen ſind.
Dieſe Reihenfolge wird beſonders feſt innegehalten, wenn um einen
ausgeſetzten Preis gekämpft wird. Iſts indeſſen nur ein Schwinget
gewöhnlicher Art, ſo treten überhaupt eine beliebige Anzahl Ringer
aus zwei verſchiedenen Pfarrgemeinden auf, die ihre Kräfte mit
einander meſſen.


Iſts jedoch der Fall, daß bei einem ſolennen Schwinget die
ſtärkſten und gewandteſten Kämpfer beider Parteien die letzten
ſind und jede Thalſchaft ihre endliche und entſcheidende Sieges¬
hoffnung auf ihren Mann ſetzt, es alſo gilt, die Ehre des Tages
für eine ganze große Gemeinde zu retten, ſo entfaltet ſich mitunter
ein Schauſpiel eigener Art. Beide Ringer einander fürchtend,
[395]AlpſtubeteoderAelplerfeſt. ſuchen ſich nur defenſiv zu verhalten, jeder nur ſeinen Fall zu
verhüten und dadurch den Sieg des Gegners unmöglich zu ma¬
chen. Dann weichen beide in der Regel von der gewöhnlichen
Schwingart ab. So wie die beiden, Gymnaſten ſich ordnungs¬
mäßig gefaßt haben, laſſen ſie ſich, der eine genau die Stellung
des anderen abmeſſend, aufs rechte Knie nieder und entfernen
ſich mit dem ganzen Unterkörper, ſo weit es Griff und Muskel¬
anſpannung erlauben, von einander. Fürchtet der Eine auf dieſe
Art von ſeinem Gegner mit übermächtiger Gewalt dennoch gelüpft
zu werden, ſo legt er ſich platt auf den Bauch, worin ihm dann
auch der Mitkämpfer folgen muß. In ſolch unnatürlicher Stel¬
lung martern Beide einander oft eine halbe Stunde lang, winden
ſich am Boden wie kriechende Schlangen, und ſpannen Sehnen und
Muskeln ſo übermäßig an, daß von dem furchtbaren Kraftauf¬
wande das Antlitz braunroth erſcheint. Vermag nun Keiner durch
Ausdauer, Kraftübermaß oder Liſt den Gegner zu bewältigen, ſo
ſtehen ſie endlich freiwillig, aber zum Tode erſchöpft, vom Kampf¬
platz auf, bekennen einander mit traulichem Handſchlag gegen¬
ſeitig ihre Männerſtärke, und keine Partei kann ſich des Tages¬
ſieges rühmen. — Sie iſt wild, ja faſt barbariſch, dieſe Kund¬
gebung der phyſiſchen Kraft; aber ſie legt Zeugniß ab für ein
männliches, kampfbereites Volk, für ein Geſchlecht, das nicht ver¬
weichlicht iſt und noch Muth und Ausdauer genug beſitzt, für
ſeine Ehre, ſeine Freiheit und ſein Vaterland mit äußerſter Ent¬
ſchloſſenheit zu kämpfen.


Der originellſte Lupf, ſo weit überhaupt dieſe Kraftprobe
volksthümlich exerzirt wird, findet im Refektorium des Kapuziner¬
kloſters zu Appenzell im Beiſein der Mönche ſtatt. Im Herbſt
nämlich bringen an einem beſtimmten Tage junge kräftige Burſche
von nah und fern Natural-Lieferungen an Wein, Früchten, Holz
u. ſ. w. dem Kloſter freiwillig dar. Für dieſe Geſchenke nun
laſſen die Mönche den Lieferanten eine feſte Mahlzeit verabfolgen,
[396]AlpſtubeteoderAelplerfeſt. und als Deſſert, wenn die Tiſche hinausgeräumt ſind, wird zur
Ergötzung der Konventualen im Refektorium von den Burſchen ein
Schwingen zum Beſten gegeben. Die Mönche ſtehen auf Tiſchen
und Stühlen, nehmen den lebhafteſten Antheil an dem Verlaufe
des Zweikampfes und lachen oft ſo draſtiſch, daß die Schwinger
über das Gelächter der Mönche ſelbſt ins Lachen gerathen und
kampfesunfähig werden. — Dieſe Kloſter-Arena iſt ſo landesbe¬
kannt, daß ſich die Burſche das Jahr über nicht nur wegen Strei¬
tigkeiten auf den „Kloſter-Lupf“ laden, ſondern recht herkuliſch-ſtarke
junge Männer „Jedem im ganzen Lande ausbieten“, d. h., einen
Jeden, der ſich mit ihnen meſſen will, einladen, im Kloſter zu
Appenzell am genannten Tage zu erſcheinen.


Der Reſt des Tages verläuft auf einer Alpſtubeten, wie er
begonnen, nur daß die Freude, ſtatt zu ſinken, ſich noch ſteigert.

Bald verſinkt die Sonne; des Waldes Rieſen

Heben höher ſich in die Lüfte, um noch

Mit des Abends flüchtigen Roſen ſich ihr

Haupt zu bekränzen.

In ungetrübter Glückſeligkeit hüpft jedes Mädchen, an ihres Buben
Hand, über Stock und Stein hinab ins Thal.


[]
Figure 12. Holzflößer.

Druck von F. A. Brockhaus in Leipzig.

[][[397]]

HolzſchlägerundFlößer.

Welch ein Gebraus im grünen Alpſtrom-Schlunde!

Wie donnert Wog' an Woge mit Schaum-Gebrüll!

Wie tobt es wirbelnd, ſich ſelbſt verſchlingend!

Bin ich entrückt in des Orkus Nachtgrau'n?

„Cinque! sette! tre! Cinque! quatter! due! Hahahaha!
ſchallt brüllendes, heiſeres Geſchrei aus der Oſteria von Cremaglia.
Die ſouveränen Bauern dieſes, auf hoher Berg-Terraſſe liegenden,
teſſiniſchen Dörfchens ſitzen beim vollen Boccale des feurigen
Weines von Cugnasco und ſpielen, die Finger auf dem Tiſche
beinahe ſich wund ſchlagend und Tollhäuslern gleich einander
gegenſeitig anſchreiend, mit leidenſchaftlicher Lebhaftigkeit das be¬
liebte Mora-Spiel. In Deutſchland und dieſſeit der Alpen würde
man die Geſellſchaft für Wahnſinnige halten, ſo geberden ſie ſich
in aller Liebe und Freundſchaft; das iſt eben italieniſches Blut. —
Der leventiner Aelpler, oder der aus der Tiefe des Val Maggia
iſt ein ganz gelaſſener Mann, ſo lange die Leidenſchaften ihn nicht
aufregen; Streit, Geſellſchaft, ein fröhlicher Trunk geſtalten ihn
völlig um, und machen aus dem ſonſt ſo beſonnenen, ruhigen
[398]HolzſchlägerundFlößer.Menſchen einen hitzigen, tobenden Poltron. Was aber regt heute,
an einem Werktage dieſe Handvoll Leute ſo auf?


Die ganze Gemeinde von Cremaglia iſt officiell beiſammen.
Gianella, der Holzſpekulant von Comprovasco im Blenio-Thale,
hat wieder einen großen Wald der Gemeinde abgekauft und giebt
einen Trunk obendrein. Die Ratification des Kaufes wird ſoeben
von der Municipalità ausgefertigt und die baare, klingende Kauf¬
ſumme für dieſes veräußerte Gemeinde-Gut kommt nicht etwa in
die Kaſſe des Patriciato, um daraus Straßen zu bauen, Schulen
und Almoſen-Bedürftige zu unterſtützen, ſondern die Vicini oder
Gemeinde-Nachbarn vertheilen den Betrag unter ſich, ſo daß ein
Jeder mehrere hundert Lire bekommt. Darum ſind heute die Con¬
federati
, von Cremaglia ſo heiteren Humors.


Ein jeder ehrſame, deutſch-ſchweizeriſche Burger, der mit Stolz
auf den „Gemeinde-Säckel“ und das „Stockamt“ blickt, der etwas
auf den ökonomiſchen Stand ſeines Orts-Haushaltes giebt, oder
ein jeder andere civiliſirte Menſch, der überhaupt cultivirte Be¬
griffe von den geordneten Verhältniſſen ſorgſam-verwalteter Kom¬
munal-Güter hat, wird vor ſolch einer urgemüthlichen Handhabung
der Verwendung von Genoſſame-Gütern zurückſchrecken, — der teſſi¬
niſche Bauer nicht. Er hat keinen Begriff von der Nothwendigkeit
eines geregelten, ſtaatlich-beaufſichtigten Forſthaushaltes. Seine
Berge ſind noch reich an Hochwäldern, wenigſtens ſeiner Meinung
nach, die ihn und ſeine Kindeskinder überdauern, — und bis da¬
hin, wo Holznoth eintreten könnte, wachſen neue Waldungen an
Stelle der abgeholzten. So räſonnirt der Bauer. Früher gabs
allerdings meilengroße Forſte, die ſeit Jahrhunderten unbenutzt
geblieben waren. Als dann in der benachbarten Lombardei die
Holzpreiſe ſtiegen, kamen italieniſche Spekulanten in die Schweiz,
unterhandelten, kauften um Spottpreiſe, und ganze Gebirge wurden
ihres koſtbaren Schmuckes beraubt.


Jetzt ſoll auch wieder ein großer, ſchöner Hochwald, tief in
[399]HolzſchlägerundFlößer. den hinterſten, geſchluchteten Thälern, am Fuße des Rheinwald¬
hornes, unter dem Beile der Borratori fallen. Die Waldung liegt
weit von der Straße ab und wohl einige Tagereiſen entfernt von
dem lombardiſchen Orte, wo das Holz an den Sägemüller ver¬
kauft wird. Durch den Transport auf der Achſe würde das Holz
zu einem enormen Preiſe hinaufgetrieben werden, den Nie¬
mand zahlte; deshalb müſſen andere Transportmittel erſonnen
werden, — namentlich auch ſchon, um nur das Holz aus den tief¬
verſteckten, einſamen Gebirgswinkeln erſt in die Nähe menſchlicher
Communikation zu bringen.


Ueberall, wo große Bergſtröme von den Alpen herabkommen,
ſind auch die Thalwände ſehr von Waldungen entblößt. Das
Holz, welches nach Gewicht und Volumen in keinem Verhältniß
zu ſeinem Werthe ſteht, iſt, bei nur einiger Entfernung, ein un¬
dankbar zu transportirendes Naturprodukt. Darum nahm man die
Flüſſe für den Transport des Holzes in Anſpruch, und deshalb
griff die Axt zunächſt diejenigen Forſte an, welche in der Nähe
kräftiger Waſſeradern lagen. Auffallend entwaldeter iſt die Süd¬
ſeite der Alpen als die nördliche. Das ſtark bevölkerte Italien
erzeugte von jeher nicht ſeinen Bedarf an Hölzern; deshalb griff
es in die Alpenwälder und rückte, Schritt für Schritt, immer wei¬
ter gegen den Kern der Forſtſchätze emporſteigend, mit ſeiner Plün¬
derungsſpekulation vor, bis jene auffallende Entblößung an den
Südhängen entſtand, welche uns bei jedem Berg-Uebergange ſo
ſehr auffällt. Die leicht und frei gelegenen Forſte fielen zuerſt,
und als dieſe gelichtet waren, drang der Wälderhandel immer tiefer
in die Seitenthäler und die holzreichen, verwinkelten Gebirgsſchluchten
ein, die früher ſelten eines Menſchen Fuß betrat. Hier wächſt,
mit dem Näher-Eindringen an den Gebirgskern, auch die Böſchung,
die Zerklüftung des Bodens. An ſtoßigen Bergwänden, die gar
oft der Abdachung eines Kirchthurmhelmes wenig nachſtehen, klettern
die Lärchen und Rothtannen wie rechte Sturmbäume muthig hinan,
[400]HolzſchlägerundFlößer. daß einer dem andern immer weit über die Wipfelkrone hinweg¬
ſchaut. Dann aber giebts da drin in den Winkelmyſterien der
großen Gebirgsfalten iſolirte Kegel, rings von Abgründen um¬
geben, die prächtige Wälderkapuzen auf ihren Felſenſchädeln tragen.
Wie eine Gruppe von Baumſchildwachen oder wie die kleine,
muthige Beſatzung einer Feſtung ſtehen ſie da droben unantaſtbar,
weil Niemand, ſo lange es noch bequemer zu fällendes Holz gab,
auf den übermüthigen Gedanken kam, die Excluſiven da droben
anzugreifen. Freilich modert, wie im Bannwalde, manch blitzzer¬
ſpälter Urſtamm auf dieſem Scheitel, mancher äſteloſer Schaft leuch¬
tet wie ein Ruinen-Splitter ſilberfarben aus dem Dunkel hervor,
indeſſen die Nachkommenſchaft friſch und ſtark, eine neue Generation,
die Alten überholt. — Jetzt, wo in den Vorbergen Alles ſchon
unter dem Beil der Holzknechte gefallen iſt, wird dieſes bisher
wenig geachtete Reſerve-Kapital auch angegriffen. Die Wälder¬
ſpekulanten bieten, und mit dem Handſchlag, mit der Namens-
Unterſchrift des Podestat, mit der Aufzählung der blanken baaren
Kaufſumme, ſind alle die verwegenen Trutzbäume zu Todeskandida¬
ten geſtempelt, und übers Jahr grinſt eine kahle Felſenglatze in
die Einſamkeit hernieder.


Solch einen verſteckten Wäldertompler haben die Bauern von
Cremaglia ſoeben verkauft und freuen ſich des Geſchäftes. Denn
ſie ſelbſt als Korporation hätten all ihr Lebtag das Holz aus den
verborgenen Winkeln nicht hervorgeholt; dazu gehört ein feſter
ſpekulativer Wille, dazu ſind koſtſpielige Vorkehrungen, Ausbeu¬
tungsbauten und disponible Kapitalien nöthig; — und an alle
dem fehlts dem Sign. Gianella nicht. — Heute kreiſt noch der
Boccale in lärmender Geſellſchaft, heute freut ſich noch Jeder des
Lebens. Morgen beginnt die Gefahr-drohende Arbeit; wer weiß,
ob er den letzten Stamm fallen ſieht, — ob er nicht früher ſelbſt
mit zerſchellten Gebeinen am Fuße der Felſenwand ruht.


Der Ticineſe (Bewohner des Kanton Teſſin) iſt ganz ein
[401]HolzſchlägerundFlößer. anderer Menſch, als der deutſchredende Aelpler. In ihm vereint
ſich die kalte Entſchloſſenheit, das an harte Strapazen und Ent¬
behrungen gewöhnte Leben des Gebirgsbewohners mit der drängenden
Unruhe, dem heißblutigen, raſchhandelnden Element des Italieners.
Er iſt ein vortrefflicher Arbeiter, umſichtig, ſcharfblickend, erfinde¬
riſch und nicht verlegen, wo es gilt, geſchickte Handgriffe, kleine
Hilfsmittel raſch zu erſinnen, die ihm ſein Vorhaben praktiſch er¬
leichtern: dabei ausdauernd, fleißig und ſparſam. Darum be¬
ſchäftiget man ihn dieſſeit der Berge gern bei Straßenbauten.
Einige Zoll Ingenieur-Fähigkeit bringt jeder als Natur-Geſchenk
mit auf die Welt, — und dieſe wendet er mit wunderbarer Ge¬
wandtheit ganz beſonders bei der Ausbeutung der Wälder an.


Während alljährlich Tauſende den Sommer über in der Fremde
als Gypſer, Glaſer, Steinbrecher und Erdarbeiter ihr Brod ſuchen,
und von dem zurückgelegten Gelde den Winter hindurch mit Frau
und Kindern ſpärlich in dem verſteckten Alpendorfe leben, — be¬
ſchäftigen abermals Tauſende ſich daheim als „Tagliatori di
selva“
und „Borratori“. Erſtere ſind die eigentlichen Holzfäller,
die Männer mit Säge und Art, die dem Baum den Todesſtreich
verſetzen: letztere (oft Bergamasken) ſind diejenigen, welche durch
erfinderiſche Vorkehrungen die Stämme aus dem Labyrinth der
Bergwildniß hinab zum Fluß befördern, der dann auf ſeinem
Rücken die Blöcke ſpielend weiter trägt.


Haben wir die Klettertalente der Geißbuben bewundert, ſo
finden wir hier würdige Genoſſen, Naturturner, die ihres Gleichen
ſuchen. Wie Spechte laufen ſie mit ihren Klettereiſen-Krallen an
den Stämmen empor, hängen ſchwindelfrei über tiefen Abgründen
und hauen mit wuchtiger Fauſt die Aeſte ab, ſo daß der ſchlanke
Schaft wie eine Kerze, nur noch mit der Krone geſchmückt, daſteht.
Jetzt bekommt das Mordbeil Arbeit. Dort, wo das Moos am
Ueppigſten den Stamm umſpinnt, da iſt der ſaftigſte Zellenbau im
Holzgewebe, da dringt der Aexte Schnitt am Ausgiebigſten hinein.
Berlepſch, die Alpen. 26[402]HolzſchlägerundFlößer. Wie dem Verbrecher, ehe der Henker ſeinen Schwertſtreich führt,
das Haar aus dem Nacken geſchoren wird, ſo entblößt auch hier
des Holzers Hand den Stamm von den Epheu-Feſſeln oder dicken
Moospolſtern, die an dem ſtarken Baum ihr kleines, ärmliches
Schmarotzerleben friſteten. Jetzt blitzt es hell im Sonnenſcheine!
Hieb um Hieb durchhallt den weiten, ſtillen Wald, und immer tiefer
dringt die Mordaxt ein. Ziſchend fliegen die Spähne durch die
Luft, immer größer wird die Wunde, immer näher kommt ſie dem
innerſten geſunden Kern des Stammes. Nun reicht das Beil nicht
mehr. Nach kurzer Raſt greifen die Holzknechte zur Säge. Es
iſt ein gefährlicher Stand, den ſie einnehmen, denn vor ihren
Blicken gehts jäh hinab. Am Wurzelgeflecht des Baumes, den ſie
tödten, wühlt ſich ihr Abſatz in die Erde. Nun Riß um Riß und
Schnitt um Schnitt gehts immer tiefer von der anderen, geſunden
Seite her, der Hiebwunde entgegen, bis auch hier die ſchwache
Menſchenkraft erlahmt und das Mordinſtrument den Dienſt ver¬
ſagt. Da kommt das letzte Martermittel für den ſchönen, reſignirt
ſeinem Ende entgegenſehenden Baum: der breite Keil muß die
klaffende Spalte erweitern, und leichter arbeitet nun der freſſende
Zahn der Säge fort. Jetzt ſtöhnts wie Todesſchauern aus dem
Baum; der Wipfel zittert, leiſe ſchwankend wogt er hin und her;
noch wehrt er ſich, noch will die urgeſunde, feſte, ſtramme Kraft,
die in ihm wohnt, ihn halten, — da reißt der letzte Lebensfaden,
ein knatterndes Zerberſten, und gebrochen ſinkt die Säule des
Waldes im ſauſenden Sturze jach hinab, bis irgend ein anderer
Stamm, ein hervorragender Felſenzahn ſeine wilde Flucht aufhält.
Schon mancher Holzer wurde von den Aeſten des gegen den Berg
ſtürzenden Baumes, wenn ſie nicht genügend abgeſchlagen waren,
von ſeinem Poſten hinweggefegt und in die Tiefe geſchleudert.


So geht das Schlachten fort. So oft eine Partie am Boden
liegt, beginnt das Zertheilen des Stammes in Blöcke oder „borre“
von gewiſſer Länge und das Abſchälen der Rinde oder „strapinà“.
[403]HolzſchlägerundFlößer. Bis hierher hat das Fällen des Baumes, die Gefährlichkeit des
Standortes abgerechnet, wenig Eigenthümliches; ſo ähnlich kommts
auch in anderen Wäldern vor. Nun aber kommt die Arbeit
der Borratori. Die ſchweren, feſten Walzen würden nur mit
außergewöhnlichem Kraft-Aufwande ſtundenweit bis an den Fluß
geſchafft werden können, wenn nicht der Scharfſinn ein anderes,
viel leichteres Transportmittel erfunden hätte. Dies ſind die
Sovenden“ oder „Seguenden“ d. h. Holzleitungen, die in
Kühnheit ihrer Bauart den antiken Waſſerleitungen nicht nur oft
gleichkommen, ſondern dieſelben noch übertreffen. Mit vortrefflich
ausgebildetem Orientirungs-Sinn, mit richtig taxirendem Augen¬
maß, und mit einem Scharfblick, der manchem Ingenieur zu wün¬
ſchen wäre, erſpähen ſie, ohne Hilfe von Kompaß oder Situations¬
plänen, ohne Vermeſſungstafeln und hypſometriſche Angaben,
ſtundenweite, ideale Linien über Abgründe, durch Wälder, an
Felſenwänden hin, bald in gerader Flucht, bald in einer Menge
von Wendungen, die immer das richtige Fall-Verhältniß einhal¬
tend, endlich im Hauptthale auslaufen. Dabei benutzen ſie jeden
kleinen ſich darbietenden Vortheil; ein einzelner, weit hervorragender
Baum, eine überhängende Steinwand, ja ſogar die Dächer von
Sennhütten müſſen ihren Conſtruktionen als Stützpunkte dienen.
Dieſe Strüsone oder Holzrinnen werden ungemein präcis aus je
6 bis 7 glatten Baum-Stämmen gebaut; ſie ſind 3 bis 5 Fuß
breit, muldenförmig, alſo an den beiden Seiten mit aufſtehenden
Rändern verſehen und müſſen immer ein Abdachungsverhältniß
von mindeſtens zehn Procent einhalten. So lange es möglich iſt,
laufen ſie auf feſtem Boden, über den Rücken der Berge; wo dann
die Richtung dem Borratore nicht mehr konvenirt, verläßt er die
ſichere Unterlage und hängt ſeine Bahn an die nackten Gneis- oder
Granitwände, gleich wie die Regenrinne unter der Traufe eines
Daches ſchwebt, und wo auch dies nicht mehr thunlich iſt, da
ſpannt er in verwegenem Wurfe ſein Geleiſe, thurmhoch durch die
26*[404]HolzſchlägerundFlößer. Lüfte, von einer Schluchtſeite zur anderen, Seitenſtücke zu den
kühnſten Brückenbauten. Ueberall aber reſervirt er ſich dabei mög¬
lichſt bequeme Zugänge, die freilich mitunter zu Standpunkten
führen, auf denen nur der an ſchwindelnde Tiefen gewöhnte Ge¬
birgsbauer zu arbeiten vermag.


Iſt nun dieſes ingenieuſe, gefährliche und koſtſpielige Bauwerk
hergeſtellt, das in den öſtlichen Alpen, in Tyrol und Steyermark
„Las“ oder „Laaß“ genannt wird, ſo warten die Borratori und
ihre Knechte den Winter ab. So wie der erſte feſte Froſt eintritt,
eilen ſie hinauf zu ihren Holzrinnen, begießen ſie fleißig mit
Waſſer, daß die Klunſen und Spalten ſich mit Eis ausfüllen, und
die ganze innere Fläche des Leitungskanales mit einer glatten Eis¬
rinde überzogen wird. Oft, wenn der Föhn unvermuthet eintritt,
ſchmilzt über Nacht die ganze, ſorgſam-erzeugte Spiegelfläche wieder
hinweg, und die Arbeit muß von Neuem wiederholt werden. Iſt
nun Alles in dieſer Weiſe vorbereitet, ſo beginnt endlich der
Transport. Abgehärtet, den eiſigen Winden, den wildeſten Wettern
trotzend, klimmt er an den ſteilen Schneehalden empor bis zur
Lagerſtätte der Blöcke. Der Winter hat ſein weißes Flockenkleid
darüber geworfen, und nur undeutliche Umriſſe verrathen die Tief¬
vergrabenen. Das erſte Geſchäft iſt nun der „portarùnt“, d. h.
das Herbeiſchaffen des Holzes zur Gleite. Dies geſchieht auf ver¬
ſchiedene Weiſe. Entweder, wenn der Schnee eine glatte, gefrorene
Oberfläche hat, genügt es, die Blöcke in Bewegung zu ſetzen, die
dann über die winterliche Rutſchbahn hinabgleiten bis zur Stelle,
wo ſie auf die „Strüsone“ gebracht werden, oder ein Knecht kuppelt
deren einige in Form eines Triangels aneinander, ſetzt ſich auf
die Spitze, und mit den Füßen ſteuernd fährt er herab, oder es
weiden, wie in den übrigen Alpen beim winterlichen Hernieder¬
ſchlitten des Heues oder Holzes, kleine Schlitten benutzt. Es muß
dieſe Arbeit des Herbeiſchaffens an die Bahnlinie meiſt für den
Winter aufgeſpart werden, weil die Blöcke als ſchwere, rauhe
[405]HolzſchlägerundFlößer.Körper bei nicht mit Schnee bedecktem Boden viel mühſamer zu
transportiren ſind.


Soll dann die eigentliche Thalfahrt beginnen, ſo vertheilen
ſich die Borratori in gemeſſenen Entfernungen, wie die Wärter
einer Eiſenbahn, längs der ganzen Sovenda als Wacht-Poſten
in ſicheren Hinterhalt, mit langen, ſtarken Speeren bewaffnet; be¬
ſonders an ſolchen Orten ſtellen ſie ſich auf, wo in Folge der
Rinnen-Wendungen die hinabgleitenden Blöcke leicht ins Stocken
gerathen könnten. An ſolchen Stellen haben überdies die „Eis¬
rieſen“ (ſo werden die Rinnen in Nieder-Oeſterreich genannt) an
der äußeren Seite eine Erhöhung, um das Ausſpringen der Balken
bei ihrer raſchen Bewegung zu verhindern. Jetzt werden die
Holzſtämme, einer nach dem anderen, eingeworfen und, in hetzender
Haſt, die Geſchwindigkeit einer Lokomotive weit überholend, ſauſt
Stück für Stück hernieder, binnen wenig Minuten einen mehrere
Stunden langen Weg über Abgründe zurücklegend. Es wird in
der Regel ſorgfältig vermieden, krumme Stämme einzuwerfen, weil
ſolche leicht Sperrungen verurſachen oder über die Rinne hinaus¬
ſpringen. Entſteht eine ſolche Störung, ſo zeigt der Borratore
mit gellendem Pfiff dem nächſten Poſten die Hemmung an, und
das Signal geht von Mann zu Mann, bis hinauf zur Einwurf¬
ſtelle, wo ſo lange pauſirt wird, bis die Hemmung beſeitiget iſt.
Ein neues Signal giebt Ordre zur Fortſetzung. Wenn mehrere,
recht trocken-froſtige, klingend-kalte Tage mit mondhellen Nächten
auf einander folgen, ſo begegnets, daß ohne Unterbrechung fortge¬
arbeitet wird, um die Vortheile dieſer vortrefflich geeigneten Witte¬
rung ökonomiſch zu benutzen. Nur unter den freiwillig-auferlegten,
härteſten Entbehrungen, und durch Anſtrengungen, die faſt zur Er¬
ſchöpfung führen, wird es möglich, die Arbeit ununterbrochen fort¬
zuſetzen. Ihre Lebensweiſe während des Dienſtes iſt auffallend
einfach und nüchtern; Polenta (Brei von Maismehl) und etwas
Käſe bildet die ganze Nahrung. Geiſtige Getränke, um durch die¬
[406]HolzſchlägerundFlößer.ſelben ſich anzuregen, muß er gänzlich ausſchließen; denn bei dem
oft ſtundenlangen Stillſtehen in bedeutender Kälte möchte ihn
leicht Schlaf anwandeln, wenn er Branntwein genöſſe, und der
Tod des Erfrierens wäre ſein trauriges Loos. Aber auch die Ge¬
fahr, durch Sturz oder plötzliches Ausgleiten ſein Leben zu ver¬
lieren, umgiebt ihn ununterbrochen. Trotz der ſtachelbewaffneten
Fußeiſen an den Schuhen iſt der Stand des Borratore auf über¬
eister Felſenklippe oft ein höchſt unſicherer. Haben ſich Blöcke
feſtgeklemmt in der Rinne, dann bedarf es nicht ſelten recht ener¬
giſcher Kraftanſtrengung, um ſie wieder flott zu machen; der erſte,
zweite, dritte Stoß wollen nicht helfen, — die Blöcke ſind in
einander verkeilt, daß es größerer Gewalt bedarf, um ſie zu löſen.
Der Borratore tritt auf den glatten Rand der Rinne und ſucht
mit ſeiner Axt nachzuhelfen, — aber die Klemmung wird nicht
gehoben. Da wagt ſich der Unbeſonnene auf einen der Blöcke,
um einen tieferliegenden ein wenig aufzulockern — und ſiehe, an¬
ders als er es vermuthet, geräth die ganze Ladung wieder ins
Gleiten. Gelingt es ihm, ſo rettet ein augenblicklicher Rück-Sprung
ſein Leben; — aber ach! wie Viele verloren es ſchon, indem der
Sprung mißglückte, oder indem ſie von den hinabjagenden Hölzern
fortgeriſſen, beſinnungslos in die Tiefe geſchleudert, elend umkamen.
Es giebt wenig „Holzer“, die im Alter nicht mit erfrorenen Füßen
oder ſonſt verſtümmeltem Körper umherhinken. Und nichts deſto
weniger fehlts nie an jungem Nachwuchs, die ihr Loos im Alter
kennend, dennoch dem lebensgefährlichen Berufe ſich widmen.


Dort, wo der Waldhang unmittelbar ſich zu den großen
Waſſerrinnen der Alpen, zu den lebendig ſtrömenden Flüſſen und
kräftigen Bergbächen abſenkt, bedarf es freilich keiner Bauten, um
Bau- und Brenn-Holz weiter zu befördern; dort muß das Waſſer
ſeine alten Transportdienſte verrichten. Das kommt nun zwar in
allen Berg-Gegenden vor; aber die Alpen haben auch hier wieder
ihre romantiſche und großartige Eigenthümlichkeit. Unbekümmert
[407]HolzſchlägerundFlößer.um den Waſſerſtand, wird Holz gefällt und in die oft halb trocken
liegenden Flußbetten geworfen. Kommt Zeit, kommt Rath. Steigt
nun durch Regen oder Schneeſchmelze der Bach, dann räumt er
ſelbſt das ihm zur Spedition anvertraute Gut auf, und dies iſt
der Moment, der neue, unbekannte Bilder komponirt. Bei Be¬
ſchreibung der Rüfe wurde gezeigt, zu welchen furchtbaren Ver¬
heerungen das Wildwaſſer führen kann, wenn ſichs verſtopft und
plötzlich mit Uebermacht ſich neue Wege bahnt. Wie dort der An¬
wohner, ſo muß jetzt der Holzflößer den Augenblick wahrnehmen
und helfen, wo eine Stockung einzutreten droht.


Da donnert das Waſſer, da ſchäumt es vor Wuth,

Sich freien Lauf zu erkämpfen!

Da ſtrudelt und wirbelt die ſtürzende Fluth

In ziſchenden, ſiedenden Dämpfen.

Und mitten hinein in das aufgeregte Element, wo die Wellen
mit zorniger Schleuderluſt ihn umjagen, wagt ſich der Flößer mit
ſeinem Haken und öffnet hier, und lenket dort, daß die viele Zent¬
ner ſchweren Blöcke gaukelnd an ihm vorübertanzen. In dichten
Strömen gießt der Regen herab, — ihn kümmerts nicht! Es iſt
ja ſein Beruf, er kennts nicht anders. Und zwängt der Strom
ſich durch ein ſchwarzes Felſenthor, in welchem große Geſteinſtrüm¬
mer den freien Ausgang verſperren, da läßt der unerſchrockene
Bergbewohner an dickem Tau ſich in die grauſige Tiefe hinab, und
halb ſchwebend über den wildhetzenden Wogen, vielleicht mit einem
Fuße nur ſich an die Felswand ſtemmend, arbeitet er mit raſtloſem
Eifer, um ein armſelig Tagelohn zu verdienen.


Beim Flößen in den durch ſtarken Fall wild einherſtrömenden
Gebirgswaſſern kommen beim Hochgang des Fluſſes auch häufig
Felſenquadern mit aus den Alpen herunter, die ein Dutzend Pferde
nicht würden vom Platze ſchaffen können. Dieſe verſperren be¬
greiflich das freie Flußbett und hindern den ungeſtörten Fortgang
des Holzes. In ſolchen Fällen müſſen die Flößer mit Schlägel
[408]HolzſchlägerundFlößer. und Meißel mitten in die Brandung des Stromes hinein und in
die herabgeſchwemmten Gebirgs-Rudera Bohrlöcher eintreiben, um
mit Pulver die unwillkommenen Gäſte zu ſprengen. Hierbei be¬
geben ſich oft Unglücksfälle, die den Arbeitern das Leben koſten.
Aber auch bei dem Flottmachen des verſchlagenen, ſich aufdämmen¬
den Holzes, wenn die Flößer ſich an Seilen (wie erwähnt) in
tiefe Schluchten hinablaſſen müſſen, werden ſie gar oft eine Beute
ihres Berufes. So wars am 2. October 1860 der Fall. Im
Schanfigg, einige Stunden von Chur (Graubünden), waren vier
Flößer in der Pleſſur-Schlucht beſchäftigt, verſtecktes Holz in Gang
zu bringen. Ein ſehr gewandter Flößer Namens Chriſtian Jäger
hing wie eine webende Spinne am Seil und begann mit der Art
zu arbeiten, während die Anderen ihn hielten, als ein warnender
Signal-Ruf der aufgeſtellten Wache ertönte. Aber im gleichen
Augenblicke praſſelte auch eine Maſſe abgebröckelten Geſteines von
der Wand hernieder und begrub alle Vier in des Fluſſes Tiefe
unter ſeinem Schutt.


Ungleich vertheilt ſind des Lebens Güter
Unter der Menſchen flücht'gem Geſchlecht;
Aber die Natur, ſie iſt ewig gerecht.
Schiller.
[]
Figure 13. Auf der Gemsjagd.

Druck von F. A. Brockhaus in Leipzig.

[][[409]]

Auf der Jagd.

Ihr Klippen ihr, an deren jähem Rand
Ich ſteh', wo vor dem Blick an Stromes Ufer
Zu niedrigem Geſtrüpp die ſchlanke Tanne
Im Schwindel der Entfernung ſchrumpft: ein Sprung,
Ein Schritt, ein Ruck, ein Odemzug, er könnt'
Auf ewig an der Felſen rauher Bruſt
Zu Bett mich bringen. —
Byrons Manfred.

Der Aelpler iſt eine feſte, kernige, einfache Erſcheinung in
allen ſeinen Lebensbeziehungen, in allen ſeinen Lebensäußerungen.
Ebenſo genügſam, wie er in ſeinen Bedürfniſſen, ebenſo unge¬
künſtelt wie er in ſeinen Sitten, ebenſo muthig, wie er in Ge¬
fahren, und ebenſo ausdauernd wie er bei den Beſchwerden ſeines
Erwerbes iſt, — ebenſo kühn und beharrlich, friſch und entbeh¬
rend iſt er auch auf der Jagd. Sie ſteht im vollen Einklange
mit ſeinem ganzen Weſen und mit der gewaltigen, großartigen
Natur, die ihn umgiebt.


Der Bürſchgang auf Alpenthiere iſt nach Terrain, Suche und
Jagdart eine völlig anderen Bedingungen unterſtellte, gänzlich
[410]Auf der Jagd. anderen Umſtänden unterliegende Thätigkeit, als die zur Wiſſenſchaft
und noblen Paſſion ausgebildete hohe Jagd im Hügel- und Flach¬
lande. Der größte Theil jener Praktiken, welche dort zuläſſig
oder ſogar geboten ſind, und deren genaue Kenntniß und fertige
Handhabung den flotten Jäger kennzeichnen, können in den Alpen
nicht in Anwendung kommen; es iſt keine paragraphiſch-ſyſtemati¬
ſirte Waidmannskunſt, die ſich theoretiſch aus Büchern einſchulen
läßt, um ritterlich-elegante Komödie damit zu treiben, ſondern ſo
urnatürlich derb und wild, wie die Alpen ſelbſt, iſt auch die Jagd.
Wer nicht das Zeug dazu in Knochen und Blut, in Muskeln und
Faſern hat, wer nicht Gefahren und Strapazen lachend die Stirn
bieten kann, weſſen Auge nicht ſcharf und ſchwindelfrei in Ab¬
gründe zu blicken vermag, der laſſe den Stutzen daheim, oder ver¬
ſuche ſein Glück drunten im blaſſen, dürren Stoppelfelde und
zwiſchen den Krautäckern, wo ihm der Hund den Haſen fangen
hilft oder die Kitte Hühner vor den Schuß bringt. In den Alpen
gilts wilden Beſtien: Bären, Wölfen, Adlern und Geiern, oder
der flüchtigen, weit witternden Gemſe, oder den ſchlauen, ſcheuen,
Stein- und Schneehühnern. Es kann Einer ein perfekter Nimrod
auf Rothwild ſein und in der Sauhatz ſchon mancher Bache den
Garaus gemacht haben, ohne auch nur eins der bezeichneten Alpen¬
thiere erlegen zu können.


Zuvörderſt gehört Mark in den Knochen dazu, ein leichter,
ſicherer Tritt, der, wenn auch Geröll und faulendes Geſtein an
jäher Bergwand ihm unter den harten, ſtachelbewaffneten Sohlen
weicht, dennoch mit Sicherheit und kalter Ruhe darüber hinweg¬
eilt, der ſich zu helfen weiß im Labyrinth der Gletſcher-Spalten
und an der glatten, trügeriſchen Firnhalde, wie ſie im früheren
Abſchnitt „Alpenſpitzen“ geſchildert wurden, — der nicht vorm
Wageſprung zurückſchreckt in den kahlen Kalkklippen, und der auf
den Raſenbändern an den Felſenwänden ſo unbefangen geht wie
der Dachdecker am Kirchthurm-Geſimſe; — mit einem Wort, der
[411]Auf der Jagd.Alpenjäger ſoll ein guter, ausdauernder Berggänger ſein. Denn
auf flinkem Jagdroß kann man nicht in die Flühenen reiten, wo
das Wild hauſt; der eigene, feſte Fuß muß den Alpenſchützen
hinauf in die zackige Gebirgs-Wildniß zum Waidwerk tragen.
Dann ferner ſoll er vertraut mit den Revieren ſein, in denen er
ſein Glück verſuchen will. Er muß die Gebirgs-Stöcke und ihre
Sippſchaft, die Grate, Joche, Zinken und Kämme, den inneren
Zuſammenhang der Schluchten und gewundenen Felſengaſſen kennen,
um ſich nicht zu verſteigen, wie weiland Kaiſer Max an der Mar¬
tinswand im Tyrol, oder Rudolph Bläſi von Schwanden, deſſen
haarſträubendes Jagdabenteuer der Dichter Reithard in ſeiner be¬
kannten poetiſchen Erzählung: „Die beiden Gemsjäger“ aufbe¬
wahrt hat. Es iſt wohl kaum ein rechter Bergſchütz, der nicht
ſchon oft in ähnliche Lagen gerieth und nur durch einen Verzweif¬
lungs-Sprung ſein Leben rettete. Wie viele ſchon dabei zu Tode
ſtürzten oder einſam verhungerten, iſt nicht zu berechnen. — Und
endlich muß er entbehren können, entbehren Speiſe und Trank,
Ruhe und Wärme. Wer bedenkt, daß die Jagd in den Bergen
meiſt erſt aufgeht, wenn die Alpen von den Herden verlaſſen ſind,
daß alſo in den Hütten keine labende, kuhwarme Milch, kein Imbiß
Brod zu haben iſt, wer bedenkt, daß der Schütze oft vier bis fünf
Tage in der Einöde umherſchweift, ohne inzwiſchen zu ſeiner tief
unten im Thale liegenden Wohnung hinabzuſteigen, daß er alſo
ſeine Mahlzeiten knapp eintheilen muß, um mit dem wenigen trock¬
nen Brod und Käſe und ſeinem Fläſchchen „Chrieſiwaſſer“ (Kirſch¬
geiſt) auszureichen, — wer endlich erwägt, daß nicht einmal der
rauhe Wildheuſack in dürftiger Alphütte ihm eine gegen Kälte und
Wetter ſchützende Lagerſtätte bietet, ſondern daß der Mann auf
hartem Stein, in irgend einer Felſenſpalte gar oft zu übernachten
gezwungen wird, wenn ihn die Nebel in den Höhen überfallen,
und er ohne äußerſte Gefahr nicht von der Stelle gehen darf, —
der wird zugeſtehen, daß ein ungemein an Entbehrungen gewöhnter
[412]Auf der Jagd.Körper außer den oben angeführten Eigenſchaften zur Ausübung
der Jagd in den Alpen gehört. Alle dieſe körperlichen Requiſiten
bedingt die edle Hochjagd in Deutſchlands Auen und Wäldern nicht.


Das Kapitel von den Gemſen und deren Jagd iſt von dem
gründlichen Kenner der Alpen, Fr. von Tſchudi, in ſeinem „Thier¬
leben“ erſchöpft. Indem wir auf daſſelbe verweiſen, tragen wir
zur Ausfüllung des Rahmens, der unſere Bilder umſchließt, blos
einige charakteriſtiſche Jagdabenteuer nach.


Jäger-Spürſinn und Wild-Inſtinkt ſind neben den ſoeben
aufgezählten körperlichen Erforderniſſen die erſten bedingenden Eigen¬
ſchaften des Gemſen-Jägers. Er muß die Standquartiere, die
Weidegänge und Nachtlager erforſchen, um mit einiger Sicherheit
berechnen zu können, in welcher Gegend er um irgend eine be¬
ſtimmte Zeit Gemſen zu treffen hoffen dürfe. Der Spittler Jan
aus dem Graubündner Münſterthale, ſeines Gewerkes eigentlich ein
Muſikant, zugleich aber einer der verwegenſten Gemſenſchützen, ſoll
mehrmals Wetten gewonnen haben, weil er genau Stunde und
Platz angab, an denen man ſo und ſo viel Stück antreffen müſſe.
— Kennt er nun überhaupt den Jagdplatz, auf dem er ſeine Beute
holen will, ſo bricht er, je nach der Entfernung ſeines Wohnortes
(wenn er, wie dies die beſten Gemsjäger immer thun, allein
jagt), um Mitternacht oder bald nachher auf und ſteigt in ſchwei¬
gender Nacht ſo weit empor, als er unbeſchadet ſeines Jäger-Vor¬
theils kommen kann. Hierbei achtet er ſorgfältig auf die Richtung
des Windes, damit derſelbe nicht den Gemſen Witterung und
Schall des Kommenden zutrage. Iſt er nun den Thieren im
Rücken, die noch ruhend im Graſe liegen und nur die „Vorgaiß“
als Poſten auf erhöhtem Felſenblock aufgeſtellt haben, ſo ſchleicht
er, noch unter dem Schutze der Dämmerung, ſo nahe als immerhin
möglich, ſich heran und ſucht ſeinen Körper durch irgend einen
Felſenblock, Baumſtrunk oder wie ſonſt zu decken. Hier wartet er,
ſchußfertig, den Anbruch des Tages ab. Welche unendliche Be¬
[413]Auf der Jagd. hutſamkeit und Vorſicht gehört zu dieſem katzenartigen Vorgehen,
welch äußerſt ſpannendes Lauern bei größter Ruhe und Kälte!
Erſt nachdem ſich die Thiere erhoben haben, wählt er ſein Opfer
aus und ſchießt. Oft begegnets, daß der reſolute Jäger, bevor
das erſchrockene Gemſenvolk die Gegend ausfindet, von welcher
Gefahr droht, noch ein zweites Thier mit ſeiner Doppelbüchſe er¬
legt. Hat er gut getroffen, ſo ſchnellt die Gemſe hoch auf und
ſtürzt raſch zuſammen; es trifft aber auch, daß angeſchoſſene Thiere,
die nicht tödtlich verwundet wurden, mit dem ganzen Rudel auf
und davon jagen. Mitunter giebt es auffallend große Geſellſchaf¬
ten dieſes Wildes, die bis zur Paarung bei einander bleiben; der
bekannte Berggänger Statthalter Gottl. Studer in Bern ſah deren
einſt im Wallis 60 zuſammen weiden. Solojäger pflegen in der
Regel keine Hunde mitzunehmen.


Der gewaltigſte Gemſenjäger der Jetztzeit möchte vielleicht
Ignaz Troger von Ober-Ems in Eiſchol (Wallis) ſein; wenig¬
ſtens erzählen die Hirten auf den Alpen des Turtmann- und
Nicolai-Thales völlige Wunderdinge von ihm. Er ſcheint ein
moderner Colani der dortigen Gegend zu ſein, der ein mehrere
Quadratmeilen großes Gebiet ſtillſchweigend als ausſchließlich nur
ihm zuſtändiges Jagdrevier uſurpirt hat und in welches kein ande¬
rer Schütze ſich getraut. Außerdem umgiebt ihn der Volksglaube
mit einem unheimlichen, ſagenhaften Nimbus und macht ihn zu
einem Freiſchützen, der auf jeden Schuß ſich holen könne, was er
verlange. Jedenfalls ſteht es feſt, daß er im ganzen Kanton
Wallis der beſte Alpenjäger iſt, und wahrſcheinlich mag der Um¬
ſtand, daß er unter ſchlauer Benutzung gemachter Erfahrungen
vielleicht an einem Tage 3 und 4 Gemſen ſchoß, dieſe geſchickt ver¬
barg und dann eine nach der anderen in ſeine Wohnung hinab¬
trug, Veranlaſſung zu allerlei Fabeleien gegeben haben. Zugleich
iſt er der verwegenſte und unternehmendſte Berggänger; wenn die
Erſteigung des Weißhornes je möglich ſei, ſo erreiche Troger zu¬
[414]Auf der Jagd. erſt die Spitze. So behaupten es die Walliſer. — Ein anderer
vortrefflicher Schütze, der jährlich ſeine 20 bis 30 Gemſen ſchießt
und auch ſchon zwei Bären erlegte, iſt Battiſta Margnia im
Val Calanca, der einen Theil des Jahres als Glaſer die deutſche
Schweiz, namentlich den Kanton Glarus durchzieht. In Grau¬
bünden gilt gegenwärtig Benedeto Cathomen von Briegels im
Vorder-Rheinthale als der größte Gemſenjäger, aus den dann der
berühmte Bären-Nimrod, Fili, Poſtmeiſter in Zernetz, Jakob
Spinas
von Tinzen, Zinsli von Scharans und A. folgen.


Minder gefährlich iſt das von den weniger hervorragenden
Jägern geſellſchaftlich unternommene Treibjagen auf Gemſen. Es
findet meiſt in den ziemlich wildarmen Voralpen ſtatt und nähert
ſich in manchen Beziehungen der organiſirten hohen Jagd des
Flachlandes, weil eine Aufſtellung der Jäger, wie beim Anſtand,
ſtattfindet und oft auch Hunde zum Zutreiben benutzt werden.


Dieſe Jagdweiſe hat indeſſen auch wieder ihre eigenthümlichen
Fährlichkeiten, die nach der Urſache und Veranlaſſung bei der
Solojagd verhältnißmäßig weniger vorkommen können. Wie bei
jedem Treibjagen, ſo muß auch hier ein Plan, eine gewiſſe Ver¬
ſtändigung unter den Jägern und Treibern ſtattfinden; wird die
getroffene Abrede durch einen der im Gebirge leicht möglichen,
unvorhergeſehenen Zwiſchenfälle nicht genau inne gehalten, ſo iſt
leicht ein gänzliches Fehlſchlagen des Jagdtages das Reſultat vieler
Anſtrengungen. Einen ſolchen Moment repräſentirt unſer Bild.
Drei wohlgeübte Schützen des Appenzellerlandes jagten an der
Gloggeren, jener hohen Wand ſüdöſtlich von der Seealp, an dem
Wege gelegen, wenn man vom Weißbad über Meglisalp zum
Sentis aufſteigt. Einer derſelben ging dieſen unteren Weg, ein
zweiter droben über Marwies, und der dritte Jäger über ein ſchma¬
les Raſenband an der Felſenwand, zwiſchen den beiden zuerſt Ge¬
nannten. Auf dieſes Raſenband waren die Gemſen getrieben.
Der zu unterſt und zu oberſt Gehende hatten leichteren Marſch und
[415]Auf der Jagd.kamen früher an der Stelle an, wo das gemeinſchaftliche Schießen
beginnen ſollte. Erſterer ſieht die Thiere auf ſich zukommen, ihm
direkt in den Schuß gehen, wartet und wartet und erblickt immer
noch nicht den auf dem Raſenband treibenden Jäger. Die Gemſen
kommen immer näher; er befürchtet um den Schuß zu kommen,
legt fieberhaft aufgeregt an, drückt los und — aufgeſchreckt durch
den Knall, kehren die Thiere ſofort um und fliehen in jagendſter
Haſt auf dem Raſenbande den Weg zurück, den ſie gekommen
waren. Juſt an einer ſehr ſchmalen, abſchüſſigen Stelle von kaum
etwas mehr Breite, als für einen Menſchen zum Gehen nöthig iſt,
da, wo es um eine Felſen-Ecke biegt, ſtoßen ſie in wildeſter Flucht
auf den mühſam emporkletternden Jäger. Ein Begegnen Beider
in aufrechter Stellung, auf dieſem ſchwindelnden Felſenbande, hätte
unfehlbar zum Sturze des Jägers in eine mehr als hundert Fuß
abſinkende Klippentiefe führen müſſen, da die Gemſen inſtinkt¬
mäßig, in der Angſt der Verzweiflung den Durchpaß zwiſchen der
Felſenwand und dem Jäger geſucht haben würden. Dies erkennt
der beſonnene Mann, und um ſein Leben zu retten, wirft er ſich
nieder, und läßt das ganze Rudel in flüchtigem Sprunge über
ſich hinwegbrauſen. — Ein anderer Jäger, im Glarnerlande, in ähn¬
licher Lage an kritiſcher Stelle, glaubte dennoch durch raſchen Ent¬
ſchluß ſeine Beute erlegen zu können und kauerte ſich ſitzend, feſt
an die Felſenwand geſtemmt, nieder und ſchoß. Die Ladung ging
fehl, die Gemſe ſetzte über ihn hinweg, berührte ihn aber im
ſchnellenden, elaſtiſchen Sprung mit einem der Hinterläufe an
ſeiner Jacke und riß ihm das oberſte Knopfloch aus; ein Hängen¬
bleiben hätte unfehlbar zum zerſchmetternden Sturze Beider geführt.

Von einem teſſiner Gemſenjäger aus dem Val Blegno wird
folgende verbürgte Force-Tour erzählt. Ihrer Zwei waren aufs
Treiben ausgegangen. Da kommt der Eine von ihnen zum Schuß,
trifft den Gemsbock gut ins Vorderblatt, der verwundet und blu¬
tend, dennoch fortrennt und dem anderen Jäger in einem Defilé
[416]Auf der Jagd.zwiſchen zwei koloſſalen Felſenblöcken entgegenſpringt. Dieſer,
durch den Block gedeckt, ſo daß das geängſtete Thier ihn nicht
ſehen kann, ſchlägt an, drückt los, — aber das Gewehr verſagt.
Raſch entſchloſſen, wirft der Teſſiner ſeine Waffe fort, ſpringt dem
großen Gemsbock in dem Augenblick entgegen, als dieſer in der
Felſengaſſe weder rechts noch links fortkann, packt ihn glücklich erſt
mit einer, dann auch mit der anderen bei den Hörnern und
läßt ſich von dem wahre Löwenkräfte entwickelnden Thiere 30 bis
40 Schritte weit über Raſen und Geſtein bis dicht an einen Ab¬
grund ſchleifen, wo daſſelbe erſchöpft zuſammenbricht. Noch zwei
oder drei Sprünge und der Abgrund hätte Beide aufgenommen.
Hier am Rande der Tiefe entſteht nach einer Sekunde, in einer
Blutlache, nochmals ein Ringen Beider. Mit der einen Hand
hält der Jäger krampfhaft den zähen Zweig einer Föhre feſt,
während er mit der anderen die Hörner des Thieres umſpannt,
auf deſſen Halſe er kniet. So verweilt er einige Minuten, bis
ſein Gefährte herbeieilt und durch einige Stiche mit dem Brod¬
meſſer dem Leben des bis zum Tode ſich wehrenden Thieres ein
Ende macht.


Bei Streifzügen durch die Alpen begegnets höchſt ſelten, daß
Touriſten, wenn auch nur in großer Entfernung, Gemſen zu ſehen
bekommen. Eine Stelle giebts, wo man im Frühſommer faſt täg¬
lich ſehr nahe Gemſen ſehen kann: dies iſt in den Churfirſten-
Alpen oberhalb Wallenſtad im Kanton St. Gallen. Dieſe Berge
zwiſchen dem Speer und dem Gonzen ſind „Freibergen“ von
der Regierung erklärt, — dort darf, bei hoher Strafe, keinerlei Wild
geſchoſſen werden. Wer in Wallenſtad übernachtet und frühzeitig
nach den Alpen Löfis und Büls aufſteigt, wird außer einem gro߬
artigen Gebirgs-Panorama leicht Gemſen zu ſehen bekommen.
Der Weg iſt ganz bequem, ſelbſt für Damen praktikabel.


Die Bärenjagd iſt nicht, wie die Gemſenjagd, ein zur Leiden¬
ſchaft gewordener Akt waidmänniſchen Vergnügens oder des Geld¬
[417]Auf der Jagd. verdienſtes; ſie iſt entweder (und zwar in den ſeltenſten Fällen)
eine unfreiwillige, durch den Zufall herbeigeführte Muthprobe für
den Aelpler, — oder ein abſichtlich aufgeſuchter, höchſt gefahrvoller
Vernichtungskampf gegen den gefürchteten Herden-Räuber. In
beiden Fällen iſt dieſe Jagd nicht minder beſchwerlich und drohend
als jene, nur daß die Gefahr weniger in dem zu paſſirenden un¬
zugänglichen Terrain, als vielmehr in der Natur des zu erlegenden
Wildes beruht.


Die eigentliche Bärenheimath in den Alpen ſind die Kantone
Wallis und Graubünden. Als das am Schwächſten bevölkerte
Alpenland, welches zugleich noch die ausgedehnteſten, dichteſten
Waldungen und umfangreiche, wenig betretene Gebirgsreviere be¬
ſitzt, bietet es dem großen Raubwild die beſte Gelegenheit zu un¬
geſtörtem Aufenthalt. Es vergeht kein Jahr in den rhätiſchen und
walliſer Alpen, daß nicht bald hier, bald dort die Schreckensbot¬
ſchaft ins Thal hinabkommt: der Bär habe wiederum Schaafe,
Kälber oder überhaupt Jungvieh auf der Alp zerriſſen. Aber zur
Genugthuung der allgemeinen Sicherheit verbreitet ſich dann auch
oft die freudig wiederhallende Kunde durch die Berge, daß unter
den, oft abenteuerlichſten, Umſtänden wieder ein Bär erlegt worden
ſei. Die Summe der in den Alpen geſchoſſenen Bären darf in
neuerer Zeit immerhin jährlich auf 12 bis 20 Stück angenommen
werden. Es giebt, möchte man ſagen, Bärenjahre, in denen ſich
dieſe Beſtien außerordentlich zahlreich zeigen, und deren viele in
engen Gränzen geſchoſſen werden, und wieder andere Jahre, in
denen wenig von dieſem Raubthiere verlautet. Die Menge der
erlegten Bären würde bei Weitem größer ſein, wenn es mehr
Jäger in den Bergen gäbe und die geſetzte Schußprämie größer
wäre. (Graubünden z. B. zahlt von Regierungswegen nur 28 Francs
für jeden erlegten Bären, ob alt oder jung, wobei dem Schützen
dann das Thier ſammt Fell zum Verkauf noch bleibt.) Taxationen
von Forſt- und Jagd-Männern ſchätzen den Bären-Reichthum von
Berlepſch, die Alpen. 27[418]Auf der Jagd. den Grajiſchen Alpen bis hinaus nach Steyermark und Krain auf
etwa 500 Stück; doch iſt dieſe Annahme um ſo unſicherer, als er¬
wieſen iſt, daß der Bär in fortwährendem Wandern zwiſchen dem
Oſten und Weſten Europas begriffen iſt und nur für unbeſtimmte
Zeit feſte Standquartiere bezieht.


Münchhauſen iſt nicht blos ein Kollege der Jäger des Hügel-
und Flachlandes, er hat auch Niederlaſſung bei den Alpenjägern
geſucht und gefunden; daher kommts, daß eine Menge der über¬
triebenſten Anekdoten von Bärenjagden exiſtiren. Dies ſchließt
indeſſen nicht aus, daß es Jagdabenteuer giebt, die zu den wirk¬
lich draſtiſchen gehören.


Eine höchſt tragi-komiſche Bären-Attake trug ſich im Sommer
1857 in der Tiefe des Engadiner Val d'Uina zu. Schon mehr¬
fach hatte ein hungeriger Mutz Herden angefallen, die unterm
Griankopfe und an den Abhängen des Piz Cornet weideten, ſo
daß man Jagd auf ihn machte. Ein Mann von Sins begegnet
in wilder Einöde dem zottigen Geſellen, legt auf ihn an und
brennt ihm eine Kugel auf den Pelz. Der Bär, zu gering ver¬
wundet, um durch den Schuß kampfesunfähig zu werden, wendet
ſich zornig gegen den Jäger, der das Gefahrvolle ſeiner Lage ſofort
erkennend, ſich hinter einen großen, ringsum freien Felsblock flüch¬
tet. Während der laut brummende Bär hinkend ihn verfolgt,
ladet der Jäger aufs Neue, indem er den Felſen fortwährend um¬
läuft. Da, als die Büchſe wieder ſchußfertig iſt, ſtellt er ſich zum
zweiten Mal, und trifft das Thier, abermals jedoch, ohne es tödtlich
verwundet niederzuſtrecken. Die Wuth des Bären wird dadurch
nur geſteigert, und bald rechts, bald links den Block umgehend,
entſteht nun ein Haſchens- und Verſteckens- Spiel zwiſchen dem
fortwährend blutenden Thiere und ſeinem flüchtenden Verfolger, das
von Augenblick zu Augenblick ſchrecklicher zu werden beginnt. Denn
weit und breit nur felſige, todte Einöde, — kein rettender Freund,
kein kampfunterſtützender Jagd-Genoſſe. Der Sinſer Bauer ver¬
[419]Auf der Jagd. liert immer noch nicht ſeine Geiſtes-Gegenwart und die gewiß
ſeltene Kaltblütigkeit; im Springen gelingt es ihm, die Büchſe zum
dritten Mal zu laden und den dritten Schuß auf ſeinen Gegner
abzufeuern. Ob dieſer traf, iſt unbeſtimmt. Zu ſeinem Entſetzen
entdeckt aber der Jäger nun, daß ſeine Munition zu Ende iſt;
wahrſcheinlich hatte er einen Theil derſelben während des ſpringen¬
den Ladens verloren. Das Verfolgungsſpiel beginnt gräßlich zu
werden. Zwar zeigen ſich die Blutverluſte des Bären immer
mächtiger, aber auch die Wuth deſſelben ſteigert ſich immer mehr.
Noch eine Zeitlang ſetzt der nun faſt die Beſinnung verlierende
Aelpler das Fluchtſpiel um den Felſenkloß fort und glaubt das Thier
ſo zu ermatten, daß ihm zuletzt die Kraft zur weiteren Verfolgung
fehle; — aber vergeblich. Stets fort und fort ſieht er ſich von dem
lautbrüllenden Ungeheuer auf Schritt und Tritt verfolgt, bald un¬
mittelbar dicht hinter ſich, bald durch Umkehr ihm entgegenkommend.
Die Kniee zittern ihm, der Fuß wird unſicher und ſtrauchelt ein
übers andere Mal, — der Athem geht ihm aus, und in Schweiß
gebadet wähnt er jede Sekunde ohnmächtig niederſtürzen zu müſſen.
Da endlich ermattet auch das Raubthier, ſein Gebrüll ertönt nur
noch ſtoßweiſe, und Unterbrechungen im Laufe treten ein. Dieſen
Umſtand benützt der auf den Tod geängſtete Jäger und ſtürmt,
mit letztem Aufwand aller ſeiner Kräfte, dem Thale zu, — lange
Zeit ohne umzuſchauen, ob er verfolgt werde oder nicht. Er war
gerettet, vermochte aber kaum ſeine Wohnung zu erreichen. Eine
ſchwere Krankheit warf ihn aufs Siechbett. — Nachbarn, die am
andern Morgen gut bewaffnet an die bezeichnete Stelle gingen,
fanden, den Blutſpuren folgend, das Thier in ziemlicher Entfer¬
nung vom Schauplatze des entſetzlichen Jagdſpieles verendet.


Nicht mindere Geiſtesgegenwart und rettende Entſchloſſenheit
entwickelte einſt der als Gemſenjäger hoch berühmte Colani von
Pontreſina im Ober-Engadin. Auf ſeinen Streifzügen entdeckte er
eines Tages die unverkennbaren Fährten eines Bären, und ver¬
27*[420]Auf der Jagd. folgte dieſelben über ein nur wenige Fuß breites Felſenband (ähn¬
lich dem, wie es unſere Abbildung des Gemſenjagd-Abenteuers
zeigt) bis zu einer Höhle, vor welcher der Pfad auslief. Da es
ſchon ſpät am Tage war, und er nur eine leichte Büchſe bei ſich
trug, ſo beſchloß er den Angriff auf das Thier zu verſchieben, und
nahm ſeinen Rückweg mit der größten Vorſicht.


Am andern Morgen, zu rechter Jägerzeit, noch ehe es tagte,
ging er, von ſeinem, damals zwölfjährigen Sohne begleitet, mit
der beſten Doppelbüchſe bewaffnet, vor die Bärenhöhle; auch der
Knabe trug eine gleiche Waffe. Nicht lange liegen Beide auf der
Lauer, der Alte kniet zuvörderſt, der Knabe dicht hinter ihm, als
es da drinnen lebendig zu werden beginnt. Bald funkeln zwei
Augen, den Kohlen gleich, aus dem Dunkel der Höhle hervor, und
der alterfahrene Schütze ſendet ihnen die erſte, wohlgezielte Kugel
entgegen. Sie hat getroffen, denn laut ſtöhnendes Geheul erſchallt
aus der Tiefe; zugleich aber auch entwickeln ſich die dunkelen Um¬
riſſe immer mehr, und im nächſten Augenblick kriecht eine gewaltig
große Bärenmutter aus der Höhle hervor. So wie Colani des
Schuſſes ſicher zu ſein glaubt, giebt er die zweite Salve. Sie
zerſchmettert dem Ungethüm die rechte Vorderpfote, das mit don¬
nerndem Gebrüll zwar niederſtürzt, jedoch ſofort ſich wieder erhebt,
vollends hervorkriecht und ſich zum Kampfe auf den beiden Hinter¬
beinen emporrichtet, da ihm die vorderen den Dienſt verſagen. —
„Vater! ſoll ich ſchießen?“ ruft der über ſeines Vaters Rücken im
Anſchlag liegende Knabe, vor Begierde zitternd. Aber der alte
Colani verliert nicht einen Augenblick ſeine entſetzliche Jäger-Ruhe
und kalte Beſonnenheit. Der nächſte Schuß mußte unbedingt dem
Thier ein Ende machen, ſonſt wars um ihn und ſein Kind ge¬
ſchehen. — „Gieb mir die Büchſe!“ herrſcht er, ohne den Blick
von ſeiner Beute zu verwenden, dem Knaben zu und wechſelt,
während der Bär nur wenig Schritte von ihm entfernt iſt, mit
feſter Hand die Waffe. So läßt er das hochaufgerichtete Thier in
[421]Auf der Jagd. fürchterlicher Ruhe ſo dicht herankommen, daß faſt die Mündung
der Rohre in den weit aufgeriſſenen Rachen der Beſtie reicht. —
Ein Druck, — der erſte Schuß verſagt, — der zweite knallt, und
die Kugel jagt durch das Gehirn, daß das Raubthier mit ſchwerem
Fall zuſammenſtürzt. Da leidets den Bub nicht mehr; im Nu
hat er am jähen Abhang den Vater umklettert und hämmert mit
verkehrter Büchſe auf den Schädel des röchelnden Feindes ein, daß
dieſem der letzte Lebensfunken entflieht. — Colani iſt ſchon lange
geſtorben, aber der 12jährige Bub iſt jetzt ein muthiger Gemsjäger
und im Sommer Führer zu dem Gipfel des Piz Languard.


Das neueſte und putzigſte Bären-Abenteuer ereignete ſich am
18. Auguſt 1860 Mittags auf dem Buffalora-Paß. Ein Bergamas¬
ker Schaafhirt, dem einige Schaafe todt gefallen waren, hatte den¬
ſelben das Fell abgezogen, das noch brauchbare Fleiſch ausgeſchnit¬
ten und Alles auf ſein Pferd geladen, um es in ſeine Hütte zu
bringen. Nicht an die mindeſte Gefahr denkend, reitet er, nach
Bergamasker Art ſeitwärts ſitzend, die Straße, als er plötzlich zwei
jungen Bärchen begegnet, deren eines, von dem ungewohnten An¬
blick erſchreckt, laut zu blöken anfängt. Die Bärenmutter im Wahn,
es begegne ihren Kindern etwas Böſes, ſtürzt aus dem Walde
hervor und greift Roß und Reiter wüthend an. Der Hirt ſpringt
ab und überläßt, um ſich zu retten, ſeinen Gaul dem Zufall.
Dieſer, muthiger als ſein Herr, ſchlägt mit den Hinterhufen ſo
kräftig aus, daß die Bärin, von den gepfefferten Ohrfeigen be¬
täubt, einigemal zurücktaumelt, immer aber ſich wieder erholt und
aufs Neue ihre Angriffe fortſetzt. Durch die exceſſiven Bewegun¬
gen des Pferdes iſt der braune grobe Wollentuchmantel des Hirten,
mit dem die Fleiſch- und Fell-Ladung überdeckt war, locker ge¬
worden und fällt bei einem neuen Sturm der vor Raſerei blind
tobenden Bärin über den Kopf. Dieſe im Wahn, ein Feind um¬
nachte ſie alſo, läßt nun das Pferd in Ruhe und begiebt ſich mit
ihren Jungen daran, den Mantel in Millionen Fetzen zu zerreißen,
[422]Auf der Jagd. während der Hirt mit ſeinem Gaul eiligſt die Flucht ergreift und
glücklich das Ofen-Wirthshaus erreicht, wo ihn eine Krankheit
überfiel.


Der Sommer 1860 war überhaupt außerordentlich bärenreich;
im Unterengadin kamen ſie oft bis in die unmittelbarſte Nähe der
Dörfer, und bei Süß wars der Fall, daß ein großer, ausgewachſe¬
ner Meiſter Petz etwa eine halbe Büchſenſchuß-Weite von der
Landſtraße unbeſorgt weidete, während ein Fuhrmann aus Leibes¬
kräften mit der Peitſche knallte, um ihn zu vertreiben, und jenſeit
des Inn mehr denn ein halb Dutzend Leute mit Heuen beſchäftigt
waren. — Bei Zernetz hatte kurz vorher ein Bär in der Zeit von
zehn Tagen 17 der fetteſten Schaafe geraubt.


So zufällig trifft ſichs denn doch nicht jederzeit. Auf die
Kunde von dem übermäßigen Bärenreichthum des Jahres 1860,
machten ein Paar hohe Herrſchaften: der auf ſeinem Sommerſitz
Weinburg (Kanton St. Gallen) verweilende Preußiſche Premier-
Miniſter, Fürſt von Siegmaringen, und der Großherzog von Heſſen,
in Begleitung einiger tüchtiger Alpenjäger, gegen Ende September
im Engadin den Verſuch einer Bärenjagd, konnten aber keine
Beſtie auftreiben, und mußten ſich begnügen, einige Gemſen ge¬
ſchoſſen zu haben.


Der Bär iſt urſprünglich ſcheu, ja faſt möchte man ſagen
feige; er flieht mit ſeiner Beute, wenn er eine Herde beraubt hat,
als ob das böſe Gewiſſen ihm jage, die Nähe der Menſchen.
Lediglich wenn er gereizt, angegriffen wird, oder wenn er ſeine
Jungen bedroht wähnt, geht er zur Offenſive über. Frecher als
Meiſter Braun iſt unter den Alpenraubthieren der Geyer und Adler.
Er wartet nicht den Angriff ab, ſondern er greift ſelbſt an, jedoch
nur nach ungemein kluger Berechnung, wenn er glaubt ſeines Er¬
folges gewiß zu ſein. Gemſenjäger, Wurzelgräber, Wildheuer wiſſen
genug Fälle zu erzählen, wo ſie an jäher Felſenwand von einem
großen Raubvogel überraſcht wurden und derſelbe verſuchte, durch
[423]Auf der Jagd.Flügelſchlag die Kletternden in den Abgrund zu ſtürzen. Chriſtian
Danuſer von Felsberg, Forſtaufſeher im Val Meſocco (Graubün¬
den), ſtand eines Morgens um die Mitte des Octobers 1856 dicht
am Rande einer hohen Felſenwand und ſpähte nach Gemſen in die
Tiefe hinab. Durch ein ſtarkes, raſch wachſendes Rauſchen in der
Luft aufgeſchreckt, erblickt er in einer Höhe von etwa 60 Fuß über
ſich einen großen Steinadler, eben im Begriff, mit eingezogenen
Schwingen ſich auf ihn herabzuſtürzen. Danuſer, der die meuch¬
leriſche Augriffsweiſe dieſes Thieres wohl kannte, ſpringt eilends
einige Schritte zurück, wirft ſich zu Boden und liegt kaum auf dem
Rücken, als der Adler herabſchießt und ſo nahe an ihm ſich vor¬
überſchwingt, daß er ihn noch mit den äußerſten Spitzen des einen
Flügels ſtreift. Kaum iſt das in ſeinem Schuß mit vollſter Ge¬
walt herabſauſende Thier an dem Bedrohten vorüber in die Tiefe,
als dieſer ſchleunigſt emporſpringt und ſeine Kugelbüchſe auf den
langſam ſich wieder hebenden Adler anſchlägt und ihn in dem
Moment herniederſchießt, als er zum zweiten Male ſich anſchickt,
einen Angriff zu unternehmen. Die Kugel des entſchloſſenen
Schützen hatte die Bruſt des Vogels durchbohrt, und mit einem
mächtigen Klapf (wie Danuſer ſich ausdrückte) fiel er vor ihm
nieder. Jetzt ziert das ſchöne Exemplar ausgeſtopft eine Samm¬
lung zu Frankfurt am Main.


[[424]][]
Figure 14. Begräbniß.

Druck von F. A. Brockhaus in Leipzig.

[][[425]]

Dorfleben im Gebirge.

Im Dorfe wohnt ein friedlich-ſtill Geſchlecht,

Das, weil es nie des Glückes Gunſt erfährt,

Auch nicht des Glückes Launen fürchten darf, —

Das tauſend Dinge, die die Stadtbewohner

Zu ihrer Qual beſitzen, gar nicht kennt, —

Und deſſen Schickſal, meiſtens an den Gang

Der ſtets ausgleichenden Natur gebunden,

Wenn's leicht verwundet, ſchnell auch wieder heilt.

Mit dem Dorfleben im Gebirge gehts faſt ebenſo wie mit
der geträumten Poeſie des Sennen-Lebens auf den Alpen; man
denkt ſich daſſelbe in gewiſſen Beziehungen viel ideal-romantiſcher,
als es in Wirklichkeit iſt. Der ſchwärmende Beſucher aus dem
Flachlande, dem alle Reiſe-Annehmlichkeiten zu Gebote ſtehen, nimmt
nur den wonnigen, berauſchenden Eindruck der ſommerlichen, duft¬
blauen Morgenlandſchaft in ihrer Totalität, oder den beſeligenden
Abendfrieden mit ſeinen wunderheimlichen Staffagen aus dem
Alpenthale hinweg, und überträgt dieſe Sättigung ſeiner Gefühls-
Bedürfniſſe nun auf das Dorf, in welchem er weilte, auf ſeine
Bewohner und deren erwerbliche und geſellige Zuſtände, ohne die¬
[426]Dorfleben im Gebirge. ſelben in ihren inneren Verhältniſſen und Beziehungen eigentlich
kennen gelernt zu haben; er konſtruirt ſich unter Zuhilfenahme des
Vorhandenen ein ideales Alpendorf aus den Phantaſien, welche in
glücklichen Stunden ihn umranken, und ſchafft dadurch ein Ding,
welches in Wirklichkeit nicht exiſtirt.


Der Alpenbauer, wie wir ihn bereits in einzelnen Umriſſen
kennen lernten, iſt allenthalben, dieſſeit und jenſeit des Gebirges,
ein ungemein derber, höchſt proſaiſcher Menſch, der ſich beim erſten
Anblick (vielleicht Tracht und Haltung ausgenommen) wenig vom
Bauer des Flachlandes unterſcheiden würde, wenn hinter ſeiner
Nüchternheit und in ſeiner Proſa nicht ein weit kernigeres Naturell,
eine gewiſſe urwüchſige Originalität, man möchte faſt ſagen ein
klaſſiſcher Ernſt ſteckte. Er iſt bei Weitem nicht ſo dreſſirt und
gehobelt wie ein großer Theil der agrikolen Bauern, die durch
ihre fortwährende Beziehung zum Stadtleben viel von dieſem ge¬
lernt und aufgenommen haben; aber eben darum iſt er auch wahrer,
urſprünglicher und trägt weniger fremdes Weſen in ſich als jener.
Es iſt die Eigenthümlichkeit, die bei jedem Gebirgsvolke, gegen¬
über dem Flachlandsbewohner, heraustritt; das patriarchaliſche
Moment, getragen und gehoben durch die kräftigere, präciſere Aus¬
drucksweiſe, die wiederum ein Reſultat der Einwirkungen jener
impoſanten, oft furchtbar-erhabenen Natur ſind. Sie ſtählt und
kräftigt nicht nur den Körper, ſondern auch den Charakter des
Volkes, das unbekannt mit den, im Sturme ſich häufenden, täglich
neuen Bedürfniſſen der großen Welt, genügſam in ſeinen Lebens-
Anſprüchen iſt, und in einer Altherkömmlichkeit der Sitten und
Gebräuche verharrt, die, eben ihrer uns fremd gewordenen Alter¬
thümlichkeit halber, uns auffallen und anheimeln.


Dieſen ungekünſtelten, naturgemäßen Lebensformen begegnen
wir zunächſt und am Unmittelbarſten an dem uns fremden Habitus
der Häuſer. Sie ſind ein integrirender Theil der uns entzückenden
Landſchaft und beleben dieſelbe durch ihre, weit über die Matten
[427]Dorfleben im Gebirge. zerſtreute Lage ungemein. Dennoch aber würden ſie den maleri¬
ſchen, poetiſchen Effekt nicht erreichen, wenn wir an ihnen nur eben
wieder den uns bekannten, geraden Linien, den äußerlichen Merk¬
malen der modernen Tieflands-Architektur, und den nüchternen,
weißen Anſtrichfarben begegneten. Die Wohnungen in den Alpen¬
dörfern ſehen nicht aus wie Kunſtgebilde von Menſchenhand, —
ſie ſcheinen mit den Bergen und Bäumen aus der Erde gewachſen
zu ſein. Da iſt noch die ſaftige, weiche, braune Holzfarbe, wie ſie
die Natur den Stämmen ſelbſt verlieh, da ſind die ſilberglänzen¬
den Schindeldächer, auf denen ſchwere bemooſte Steine laſten, die
trotzenden Hüter gegen den wilden Föhn. Breit und niedrig ſteht
es da das Berghaus, als obs vom jahrelangen Druck der Steine
und des Schnees halb in den Boden verſenkt wäre; aber gerade
dieſe behäbige, lagernde Breite giebt ihm eine unendlich wohl¬
thätige Ruhe, die der erhabenen Einfalt und Stille der Alpenwelt
entſpricht. So vortheilhaft nun dieſe Häuſer in der landſchaft¬
lichen Kompoſition wirken, ſo wenig würde deren innere Verfaſſung
und Einrichtung den Beſucher befriedigen. Die mehr oder minder
allen Hirten-Völkern eigene geringe Sorgfalt für die Reinlichkeit
ihrer Wohnungen zerſtört jede idylliſche Illuſion. — Ueber alle
Begriffe einfach iſt der Hausrath; ein großer Theil deſſelben iſt
Produkt eigener Handfertigkeit, und es giebt noch manches Dorf
der inneren Alpen, in denen das eiſerne Thürſchloß noch keine
Aufnahme und Anwendung gefunden hat, und der brennende Kien¬
ſpahn die Stelle des Talglichtes oder der Oellampe vertreten muß.
Dem Rauch vom Herd und Ofen iſt kein Kaminweg angewieſen,
durch den er ſeinen Ausgang ſuchen muß; in vielen Berghäuſern
geht die Schornſteinleitung bis in den Bodenraum, und dort dampft
es dann durch alle Luken und Spalten des Daches hinaus. Menſchen
und Vieh leben und gedeihen gemeinſam im gleichen Hauſe; die Stallun¬
gen nehmen meiſt einen weſentlichen Theil deſſelben ein und ſchützen
durch ihre natürliche Wärme im ſtrengen Winter gegen die ſcharfe Kälte.


[428]Dorfleben im Gebirge.

Betritt man dann des Alpendorfes Kirchlein, ſo iſts auch
hier wieder, als ob man einen Rieſenſchritt zurück ins graue Mittel¬
alter machte. Die meiſten ſind im Bau Urtypen der Einfachheit
und verrathen kaum, aus welcher Zeit ſie ſtammen, welchem Styl
ſie angehören. Das Innere hat einſt die fromme Einfalt mit
allerlei Zierathen oder die Hand eines wandernden Maler-Dilet¬
tanten mit Bildwerk aus dem Leben des Orts-Patrons oder ande¬
ren Heiligen-Legenden geſchmückt, in denen gewöhnlich der Teufel
mit Hörnern und Pferdefuß eine hauptſächliche Rolle ſpielt; da
iſts denn nicht ſelten der Fall, daß die liebe Dorfjugend an dieſen
hölliſchen Mißgeſtalten ihren Zorn ausgelaſſen und den Herrn
Satan im heiligen Glaubenseifer ganz zerkratzt hat. Oder man
findet plötzlich, zu ſeiner größten Ueberraſchung, ein neues, von
tüchtigem Künſtler gemaltes Altarblatt und hört bei weiterer Nach¬
frage, daß ein Münchener oder Düſſeldorfer Maler, der einen ganzen
Sommer lang im Wirthshäusle des Dorfes logirt, dies Bild ge¬
malt und dem Kirchlein geſchenkt habe. — Indeſſen giebts auch
Alpendörfer, ganz verſteckt, zu hinterſt im Thal, die Gotteshäuſer
haben, groß, edel im Styl, ſogar prunkvoll in der Ausführung,
mit Marmorſäulen und trefflichen Bildſchnitzereien, — Kirchen, die
jene mancher ehemaligen Reichsſtadt weit übertreffen. Entweder
ſteht oder ſtand ein Kloſter dort, welches aus ſeinem wohlgeſpick¬
ten Säckel und unter Beihilfe der dienſteigenen Thallente den
überraſchend-ſchönen Bau herſtellte, — oder es lebte einſt in dieſem
von der Welt abgeſchiedenen Alpenwinkel ein Mann, der ſeine
Nachbarn zu ſolch großem Werk zu entflammen wußte, daß Alle
Hand anlegten, bis das Gebäude vollendet daſtand. — Die Herr¬
ſchaft der äußerſten Gegenſätze, die in den Alpen allenthalben zu
Tage tritt, zeigt ſich auch hier.


Und nun das Leben ſelbſt in dieſen Dörfern, in dieſen großen
Einſiedeleien Central-Europas, — wie tritt auch hier uns wieder
ſo viel Uranfänglich-Einfaches entgegen! — Ohne Beiſtand der
[429]Dorfleben im Gebirge. Wehmutter, ohne ärztliche Hilfe, treten die meiſten Alpenbewohner
in den Kreis ihrer Familie ein. Die erſte Pflege, welche ihnen
wird, ſteht nicht ſelten weit unter jener, mit der die wilde Bären¬
mutter ihre Jungen inſtinktiv verſorgt und hegt und ſchützt. Nicht
wenig Gegenden im Alpenlande ſinds, deren Bewohner den Kinder¬
ſegen als eine große materielle Laſt betrachten; denn iſts die Ar¬
muth allein, welche die wandernde Savoyarden-Jugend in die
ferne, fremde Welt, ohne Schutz, ohne Anhalt, ohne Mittel hin¬
ausjagt und ihrem Schickſal preisgiebt, — oder iſts nicht viel¬
mehr das beinahe vertrocknete Gemüth, das ſelbſt zu Fels und
Stein gewordene Elternherz, das dieſen zur Volksgewohnheit ge¬
wordenen Akt immer wieder erneuert? — Aus dieſem Grunde iſt
auch der Akt der Taufe in vielen Gegenden der Alpen durchaus
kein Familienfeſt. Und wiederum liegt der äußerſte Gegenſatz dicht
daneben. Dort, wo das Volk, ſei es aus Glaubenseifer und
Ueberzeugung, oder gedrängt von der Nothwendigkeit, Werth auf
das Sakrament der Taufe legt, finden oft weite Wanderungen bis
zur Kirche der Gemeinde mit dem erſt wenig Tage alten Kindlein
ſtatt; denn Haustaufen ſind in den Alpen unbekannt, und nicht
jedes Dorf, nicht jeder weit in einem Seitenthal gelegene Weiler
oder Hof hat ſeine eigene Kirche. Die evangeliſchen Walliſer gingen,
als vor einigen Jahrhunderten nach der Reformation ringsum
das katholiſche Glaubensbekenntniß wieder angenommen wurde,
mit ihren Täuflingen über Schnee und Eis, wohl 6 bis 7 Stun¬
den weit, nach dem proteſtantiſchen Grindelwald, um dort vom
Pfarrer ihres Glaubens die kirchliche Weihe über die Aufnahme
ihrer Kinder in den Bund der Chriſtenheit ſprechen zu laſſen, —
einen Weg, den heutzutage der kühnſte Berggänger kaum zurückzu¬
legen ſich getraut, weil Alles furchtbar vergletſchert und von Firn¬
ſchründen zerriſſen iſt. Da zeigt ſich eben wieder die Kraft und
Konſequenz des Aelplers, — der Ernſt und die Ausdauer, der
feſte Wille und der Muth, nicht nur in Dingen des alltäglichen
[430]Dorfleben im Gebirge.Müſſens und Sollens, ſondern auch in Sachen eigenen Entſchluſſes,
eigener freier Meinung: ſo zäh wie er in ſeinen phyſiſchen An¬
ſtrengungen iſt, ebenſo nachhaltig iſt er auch in den Reſultaten
ſeines Nachdenkens, ſeiner Willensfreiheit.


Faſt lediglich der natürlichen Körperentwickelung überlaſſen,
wächſt nun das Kind, halb nackend unter und mit den Thieren
des Hauſes auf. Während der beſſeren Jahreszeit iſt ſein Tum¬
melplatz auf der ſchwellenden Matte, welche die „Heimet“ umgiebt,
im Walde und ob jäher Felſenfluh, immer umgeben von tauſend
Gefahren, — hier des Sturzes in den Wildbach und des Zer¬
ſchmettertwerdens durch Steinſchläge, dort des Ertrinkens im See,
oder der Vergiftung durch Beeren und Pflanzen; aber wie nicht
der Frieden, ſondern der Krieg ſeine Helden groß zieht, ſo dienen
auch alle dieſe, der zarten Jugend drohenden Schreckniſſe nur da¬
zu, das Alpenkind für ſein ihm beſtimmtes Loos im Leben vorzu¬
bereiten und zu kräftigen. Es müßte allenthalben ein ſpartaniſch¬
männlicher, eiſern-feſter Volksſchlag erwachſen, wenn nicht vielſeitig
die gänzlich vernachläſſigte Hautkultur und das Leben in engen,
oft mit peſtartig-verdorbener Luft gefüllten, während des Winters
überheizten Stuben einer geſunden, normalen Körperausbildung
weſentlich hindernd entgegenträten. Darum in einzelnen Gebirgs¬
gegenden, wo noch andere beeinträchtigende Faktoren mitwirken,
die auffallende Menge von Cretins, blödſinnigen und nur halb
entwickelten Menſchen. Die Schule quält den jungen Weltbürger
der Alpen mit Wiſſensbeläſtigungen herzlich wenig; drei bis vier
Elementar-Fächer, innerhalb der engſten Gränzen, genügen, um die
Baſis für den geiſtigen Horizont des ganzen Lebens zu legen, —
alles Uebrige muß die Praxis ſpäterer Jahre lehren. Und dieſe
Schulzeit, — o nachahmungswürdiges Beiſpiel, Seligkeitsgedanke
der unterrichtsfeindlichen, ſtundenſchwänzenden Jugend, — dauert
jährlich nur ſechs Wintermonate; den ganzen ſchönen, langen
Sommer über, von Oſtern bis Michaeli, ſind Ferien, — Ferien für
[431]Dorfleben im Gebirge. Lehrer und Schüler. Was von den Gehirn-Nerven während des
Winters dürftig aufgeſogen und von den zugeſpitzten Fingern tech¬
niſch erlernt wurde, hilft das freie, ungebundene Sommerleben
innerhalb der Berge und an den Kräuter-duftenden Halden glücklich
wieder verſchwitzen: nur einige Zahlenreſte für die Haus- und
Markt-Arithmetik, etwas Leſefertigkeit und die oft ſchwer entziffer¬
baren Hieroglyphen der Namens-Unterſchrift, ſind in ſehr vielen
Fällen die ganzen für die Zukunft eroberten Schätze der Schul¬
weisheit. Und unter welchen erſchwerenden Umſtänden werden
dieſe geringen Fertigkeiten gewonnen? — Der Lehrer, — armer
Mann! — er ſteht, was ſein Honorar betrifft, gewöhnlich mit dem
Hirten auf gleicher Höhe des Einkommens, — nicht ſelten im Ge¬
halt noch unter dieſem; er iſt ein wandernder Scholarch, der ſehen
mag, wo ihm die Vorſehung zur Sommerszeit ein anderes Brod
beſcheert, — der, wenn er ſelbſt ein kleines Häuschen und etwas
Land nebſt einigen Stücken Vieh beſitzt, die unterrichtsfreie Zeit
mit Land- und Hand-Arbeit ausfüllt. In mehr als hundert
Dörfern giebts gar kein Schulhaus; ein kleines Zimmer in des
Pfarrers Wohnung oder beim Kaplan, wo kaum die Hälfte der
Kinder Raum zum Sitzen findet, muß deſſen Stelle vertreten.
Der Schulmeiſter hat dann ein Schlafkämmerlein im gleichen
Hauſe oder wo es ſonſt Platz für ihn giebt, und hoſpitirt heute
hier, morgen dort am Mittagstiſch der Bauern. Die Kinder aber
kommen oft eine Stunde weit in Schnee und wildem Wetter zur
Schule.


Tritt nun der Knabe ins Leben ein, ſo hängt, wie überall,
ſeine Zukunft von der Eltern Beſitz, von der Zahl ſeiner Ge¬
ſchwiſter und hundert anderen Umſtänden ab. Gar mancher arme
Bube, der einſt die Ziegen hütete und wenig mehr als ſeine Klei¬
dung ſein Eigenthum nannte, gelangte dennoch zu Reichthum und
Gütern. Da ſind vor allen die Graubündner ein wunderbar ſpe¬
kulatives Volk. Das große, ſchwach bevölkerte Land ſendet alljähr¬
[432]Dorfleben im Gebirge. lich eine namhafte Zahl ſeiner Angehörigen ins Ausland, damit
ſie dort ihr Brod erwerben. Was ihnen daheim am Mindeſten
geboten wird, Zucker und Leckereien, das legt den Grund bei
Vielen zu nicht geringem Wohlſtand. Als arme Knaben wandern
ſie, mit dürftigem Zehrpfennig und einer Reiſe-Empfehlung ausge¬
rüſtet, weit fort nach Italien, Rußland, Deutſchland oder Frank¬
reich, um bei einem dort etablirten Konditor als Helfershelfer und
junger Dienſtknecht einzutreten. Hier müſſen ſie Kakao reiben,
Zucker mörſern, Kaffee ſieden lernen, und bilden ſo ſich nach und
nach zum Schweizerbäcker aus. Die wenigen Pfennige Lohn und
Trinkgeld erſparen ſie mit Harpagons-Geiz. Inzwiſchen findet ſich
Gelegenheit, mit einem anderen Landsmann ein kleines Stübchen
zu miethen, ſelbſt einen Kaſtanien-Handel, eine kleine Chokoladen-
Fabrik oder Kaffee-Siederei zu etabliren. Aus den verdienten
Groſchen werden Thaler, die Kompagnons trennen ſich, um Jeder
nun auf eigene Fauſt dem Gelderwerbe weiter obzuliegen, ſie richten
größere Geſchäfte ein, und das hohe Mannesalter findet ſie als
reiche Leute. Da treibt ſie denn die Sehnſucht wieder heim ins
alte liebe Vaterland, wo ſie nach und nach Güter, Wieſen, Häuſer
erwerben, und dort verleben ſie, in ſtiller Einſamkeit, den Abend
ihres Lebens. — Ein anderer Theil der jungen Burſchen, beſon¬
ders aus den katholiſchen Schweizerkantonen Wallis, Uri, Unter¬
walden, Schwyz und auch aus Graubünden, verlaſſen heimlich
Haus und Hof, um in fremden Dienſten als Lohnſoldaten ihr
Glück zu verſuchen. Die Schweizertruppen in Neapel und Rom
erlangten in jüngſter Zeit traurige Berühmtheit. Oder der Tyroler
iſt als Kaiſerjäger in den Garniſonen Oeſterreichs zum feſten
Mann herangereift, hat kapitulirt und dient dem Vaterlande, bis
der Tod auf dem Schlachtfelde ihn heimruft oder eine armſelige
Civil-Verſorgung ihn dürftig im Alter erhält. Die meiſten Alpen¬
knaben aber, die nur einige Mittel beſitzen, bleiben in ihren Bergen,
und weichen in ihrer Lebensart nicht eine Linie breit von dem
[433]Dorfleben im Gebirge.althergebrachten Wirthſchafts-Betriebe der Urältern ab. Je nach
ihren Fähigkeiten und den ortsüblichen Beſchäftigungen widmen ſie
ſich entweder der Viehzucht, lernen die Märkte und den Handel
kennen, und verſuchen ſelbſt ihr Glück, oder ſie werden Flößer,
Holzhacker, Wurzelgräber und im Sommer vielleicht Fremdenführer.
Nur wenige Gegenden giebts, in denen, wie im Berner Oberlande,
ein eigentlicher Fabrik-Erwerb und induſtrielle Thätigkeit Raum
gewonnen haben.


Der Aelpler hängt in ſeinen Lebensbedürfniſſen weit weniger
von fremder Hilfe und fremden Erzeugniſſen ab, als der Bauer
des Flachlandes. Fleiſch, Milch, Käſe und Butter liefert ihm der
Stall, rauhes ſchwarzes Brod geben ihm die ſelbſt gebauten Kör¬
nerfrüchte, und ſeine Körperbekleidung webt er ſelbſt. Es giebt
Familien in den Bergdörfern, die Monate lang nicht das kleinſte
Geldſtück für ihren Lebensunterhalt zur Hand zu nehmen brauchen.
Wirthshäuſer giebts in gar vielen Alpenthälern nicht, und wo den¬
noch ſolche exiſtiren, da ſind es mehr Sprech- als Zech-Häuſer.
Da ſitzen z. B. die Bauern des vom Spoel durchfloſſenen Livinen-
Thales oft Stunden lang im Wirthshauſe beiſammen, qualmen ihren
(zu öſterreichiſcher Zeit ausſchließlich gebräuchlichen) Regie-Tabak,
ohne einen Tropfen Wein oder Branntwein zu verzehren; dabei
aber ſchreien ſie ſo entſetzlich und disputiren beim Mora-Spiel ſo
fieberhaft aufgeregt, als ob ſie über und über berauſcht wären.
Solche freundnachbarliche Beſuche im Wirthshauſe, bei denen
durchaus nicht die Abſicht zu Grunde liegt, irgend etwas verzehren
zu wollen, kommen auch in den Alpendörfern deutſchredender Be¬
völkerung, mehr jedoch in denen der italieniſchen Alpen, vor. Es
iſt ein Akt der altgerühmten Gaſtfreundſchaft aller Gebirgsvölker;
die Einſamkeit und das Bedürfniß menſchlicher Geſellſchaft führt
ſie zuſammen, ohne daß Gaumen und Magen gewohnheitsgemäß
dabei ihren Tribut fordern. In jenen Thälern, in denen keine
Wirthshäuſer exiſtiren, iſt oft der Mann der Seelen-Pflege: der
Berlepſch, die Alpen. 28[434]Dorfleben im Gebirge. Pfarrer oder Kaplan zugleich auch Pfleger der Hunger- und Durſt-
Bedürfniſſe fremder Wanderer; im Wallis, im Kanton Unterwalden
und noch in anderen Gegenden, iſt der Weinzapfen und der Käſe¬
laib ein Accidenz-Erwerb der Geiſtlichen.


Es giebt eine große Menge von Alpendörfern, in denen die
äußerſte Einſamkeit und das abſoluteſte Stillleben ſich niederge¬
laſſen haben; wohl aber wenige werden vom Rofnerhof am Oetz¬
thaler Ferner in Tyrol übertroffen, wo einſt der vom Konzil zu
Konſtanz geächtete Herzog von Oeſterreich, Friedrich mit der leeren
Taſche, ein verborgenes Aſyl fand. Vier Brüder wirthſchaften
dort miteinander und üben alle Handwerke gemeinſam aus, die ſie
für ihren Lebensbedarf beanſpruchen müſſen; wie eine robinſonſche
Kolonie, ſind ſie von allem Verkehr ziemlich abgeſchloſſen, und der
Winter in dieſer Höhenlage von mehr als 6000 Fuß über dem
Meeresſpiegel trennt ſie für faſt halbjährige Friſt von den nächſten
Nachbarn.


Bei aller dieſer Abgeſchiedenheit von der lärmenden, in Ge¬
nüſſen ſich überſtürzenden Außenwelt gehts dennoch in manchen
Alpengegenden, je nach des Volkes Temperament und Sitten, zu
Zeiten ganz fröhlich und vergnüglich her. Der ſommerlichen länd¬
lichen Feſte, der Alpen-Auffahrt, des „Goh-Meſſe“ Tages, der
Schwingeten und Alpſtubeten wurde ſchon ausführlicher gedacht;
aber damit begnügt ſich das Bergvölklein noch nicht. Auch wenn
die Herden wohlbehalten und gemäſtet von den hohen Triften
heimgekehrt ſind, feiert Alt und Jung die Wiederkunft der Haus¬
genoſſen; das iſt die Aelpler-Kilbi, die mit dem Kirchweihfeſt an
manchen Orten zuſammenfällt. Da gehts denn ländlich, ſittlich
her. In manchen Thälern des Wallis bringen ſie den Decem dem
Pfarrer ins Haus, beſtehend aus großen, fetten Käſen; Wohlehr¬
würden regalirt dagegen die Spender mit einem feſten, wohlberei¬
teten Mittagsmahl, bei dem es dann am Weine nicht fehlen darf.
Im Kanton Unterwalden zieht die ganze Sennenſchaar mit Blumen¬
[435]Dorfleben im Gebirge. ſträußen überſchwänglich ausſtaffirt an einem Herbſtſonntage in die
Kirche und nimmt daſelbſt die Ehrenplätze des Tages auf den
vorderſten Bänken ein. Nachdem das Standbild ihres Schutzpa¬
trons, des heiligen Wendelinus, auf dem Altare ausgeſtellt iſt, hält
der Ortsgeiſtliche eine Predigt zum Lobe des Hirtenſtandes, und
der übrige Theil des Gottesdienſtes verläuft nach dem Ritual.
Nun aber, wenn die Kirche zu Ende iſt, beginnt draußen vor den
Thüren ein jubelvolles Leben. Die Muſiker ſchmettern ihre Fan¬
faren luſtig hinaus, hoch weht die Aelpler-Fahne, und der heilige
Wendelinus wird in jauchzender Prozeſſion, begleitet vom Pfarrer,
durchs Dorf getragen. Als Wildmann und Wildweib verkleidete
Burſchen, ganz in grünes Tannenreis gehüllt, mit Bärten von der
langen Rag-Flechte (Usnea barbata) treiben Tollheit über Tollheit,
indeſſen kunſtgeübte Fahnenſchwenker ſich produziren. So geht der
Zug zum Wirthshauſe, wo die Begeiſterung aufs Höchſte ſteigt
und mit einem ſchönen Akt der Humanität in der Weiſe geſchloſſen
wird, daß der Bratenmeiſter den Aermſten der Gemeinde den mit
Blumen geſchmückten Kirchweihbraten und eine große Kanne Wein
zum Beſten giebt. Am andern Morgen dann, wenn Alle ausge¬
ſchlafen haben, beginnt, nach abermaligem Gottesdienſt, der Tanz,
der lärmend und tobend ſo lange fortgeſetzt wird, als ſich nur
noch ein Bein regen kann. — Noch toller treibens die Appenzeller
auf ihrer Kilbene zu Urnäſch; dort geht es Tag und Nacht in
Saus und Braus. Und was gilt dann als die größte Ehre für
ein Mädchen, das vom Kirchweihfeſte kommt? Was glaubt man
wohl? Blitzblaue und blutig geſtoßene Ellenbogen! das iſt ein
Zeichen, daß ſie brav Tänzer hatte, und keine Allemande auszu¬
laſſen brauchte. Der Saal, in welchem getanzt wird, iſt für die
Menſchenmenge nämlich ſo klein, daß bei dem ungeſtümen Drehen
die entblößten Ellenbogen allenthalben anſtoßen, und daher die
blutigen Siegesmaale. — Im Graubündner Vorderrheinthal findet
ein ſolches Tanzfeſt zur Faſtnachtszeit ſtatt, welches drei Tage und
28*[436]Dorfleben im Gebirge. drei Nächte dauert; zu dieſem bringen die Tanzgäſte ſelbſt ihre
Speiſen mit und entnehmen bei dem Wirthe blos den Wein. Die
Luſt am Tanzen (das meiſt nur an wenigen Tagen im Jahre ge¬
ſtattet wird) iſt ſo groß beim Alpenvolke, daß die wunderbarſten
Erſcheinungen dabei vorkommen. So iſts im Appenzeller Lande
der Brauch, daß nach der ſ. g. „Trägete“, d. h. nachdem das Heu
von den Vorbergen herunter in die tiefer liegenden Gaden getragen
iſt, von dem Beſitzer den ledigen Burſchen, die ſich bei der Trägete
betheiligten, in einer Scheunen-Tenne ein Tanz mit einem ſehr
frugalen Eſſen als Entſchädigung gegeben wird. Da drängt ſich
denn Alles herzu, an dieſer Hilfeleiſtung ſich zu betheiligen, —
nur um einige Stunden ausgelaſſen tanzen zu können.


Auch die Winter-Abende ſind lange nicht ſo ſtill, als man
bei der zerſtreuten Lage der Häuſer wohl glauben ſollte. Die
Weiber halten ihre „Spinneten“, bei denen allerlei abenteuerliche
Geſchichten und abergläubiſcher Hokuspokus erzählt werden; und
haben ſie dann ihre Phantaſie aufs Aeußerſte erhitzt, dann begeg¬
nets in katholiſchen Thälern wohl, daß Alle ein gemeinſames Ge¬
bet, mitunter eine halbe Stunde lang, herzuſagen beginnen, um
ſich gegen die Einwirkungen böſer Mächte zu ſchirmen und zu pan¬
zern. Im Urner Mayenthale an der Gotthardsſtraße, das durch
Lauinenſtürze ſehr bedroht iſt, verſammeln ſich die Nachbarn bei
ſtürmiſchem Winterwetter in einer der größten Wohnungen, um
dort zu wachen und gemeinſchaftlich ans Werk gehen zu können, wenn
ein Alles begrabender Schneefall herniederwettern ſollte. Damit
aber den guten Leuten die Zeit nicht zu lang werde, durchtanzen
ſie die Schickſalsnacht beim Klange einer Geige oder Harmonika.
So ſtumpft Gewohnheit ſelbſt ein Schreckniß ab, an das der
Fremde nur mit Entſetzen denkt.


Die winterlichen Abendzuſammenkünfte, die Spinneten und
Stubeten oder das „z' Liecht goh“, an denen junge Leute beiderlei
Geſchlechtes Theil nehmen, leiten gemeiniglich auch die Dorflieb¬
[437]Dorfleben im Gebirge. ſchaften ein, deren unmittelbare Folge der „Kiltgang“ iſt. Er
herrſcht nicht überall, und ſelbſt da, wo er beſteht, iſt er nach
ſeinen Einwirkungen auf die ſittlichen Zuſtände ſehr verſchieden.
Kiltgang bezeichnet die Erlaubniß, welche ein lediges Mädchen (mit
Wiſſen ihrer Eltern) ihrem Liebhaber giebt, ſie Abends beſuchen zu
dürfen. Bald findet dieſes tête-a-tête blos am Fenſter ſtatt, ſo
daß der Burſch an einer vor dem Hauſe aufgebauten Beige Scheit¬
holzes hinaufklettert und ſo bis tief in die Nacht hinein mit dem
Mädchen ſeiner Wahl ſich traulich unterhält, weshalb es der Be¬
wohner in den Bayeriſchen und Salzburger Alpen „s' Fenſterln“
nennt, — oder die Zuſammenkunft erfolgt im Kämmerlein der
Geliebten und währt oft bis gegen Tages Grauen. In beiden
Fallen regalirt das Mädchen den Burſchen mit Naſchwerk und
Wein oder anderen geiſtigen Getränken. — Es iſt eine uralte
Sitte, die ſchon unendlich viel Unheil geſtiftet hat, aber ſich ſchwer¬
lich bannen läßt. Da die Knabenſchaft eines Ortes, d. h. die
Summe der jungen heirathsfähigen Burſchen, es nicht duldet, daß
Einer aus einem anderen Orte ihnen ins Gehege komme, beſon¬
ders bei den Töchtern reicher Bauern, ſo hat der Kiltgang ſchon
Mord und Todtſchlag herbeigeführt, und leider haben die Kriminal-
Gerichte faſt alljährlich Prozeſſe abzuwandeln, die aus dieſer alten
Volksſitte reſultiren. Mit Liſt und Muth, mit Unerſchrockenheit
und tapferer Gegenwehr muß der Begünſtigte, wenn er nicht zur
Knabenſchaft oder zu den „Nachtbuben“ eines Ortes gehört, ſich die
Braut erkämpfen. Der Aelpler iſt eben derb und kühn in Allem,
was er thut und unternimmt.


Der Feſttag der Hochzeit hat nur in wenigen Alpenthälern
volksthümlichen, poetiſchen Duft und Reiz behalten, — in den
meiſten Gegenden iſt dieſer minnigſte Lebensmoment zu einem
ziemlich nüchternen, von der Nothwendigkeit und vom Geſetz be¬
dingten ſocialen Akt abgeblaßt, der nur materiell mit Eſſen, Trin¬
ken und Tanzen, ohne alles ſymboliſche Ceremoniell vollzogen
[438]Dorfleben im Gebirge. wird. — Die ſinnigſten Gebräuche, jedoch auch mit großen ört¬
lichen Abweichungen, herrſchen in dieſer Beziehung noch im
Bayeriſchen Oberlande, im Salzkammergut, ſo wie in einem Theile
von Tyrol, wo die kleidſame, flotte Volkstracht weſentlich das
Ihrige zum Schmuck der Feier mit beiträgt. Dort wird in man¬
chen Dorfſchaften die Braut am Hochzeits-Vorabend ſchlau verſteckt,
und der Bräutigam muß wie ein feindlicher Feldherr mit Hilfe
ſeiner Freunde alle Bewegungen der bräutlichen Partei beobachten
und fortwährend die Umgebung des Hauſes recognosciren, um
dann mit Uebermacht in das ausgekundſchaftete Verſteck eindringen
und ſich die Liebſte erobern zu können. Iſt er ein heller, pfiffiger
Kopf, ſo greift er nicht eher an, als bis er ſich ſeines Sieges ver¬
ſichert hält; ſchallendes Gelächter und gutmüthiger Spott verfolgen
ihn indeſſen noch lange, wenn er ein- oder mehrmals fehlputſcht.
Wer es aufs erſte Mal trifft, von dem nimmt man an, daß er
einſt ein beſonnener, praktiſcher Hauswirth werde, der Alles recht
angreife und mit offenen Augen auf's Ziel losgehe. —


Aehnliche Präliminarien kommen auch im Teſſiner Livinen¬
thale vor. Dort rückt der Bräutigam von ſeinen Freunden und
Verwandten begleitet vor das Haus ſeiner Braut und begehrt
deren Herausgabe. Langes Parlamentiren erfolgt, bei dem die
poſſigſten und oft ſehr witzige Bemerkungen mit unterlaufen.
Endlich entſchließt ſich der Brautvater, die Hausthür zu öffnen
und dem Bräutigam die geſuchte Herzensdame zuzuführen; aber
gewöhnlich wird dann das älteſte Mütterchen der Umgebung, wo¬
möglich mit Kropf oder Höcker am Rücken, oder eine angekleidete
Strohpuppe oder ſonſt irgend welche Fopperei dem Bräutigam ent¬
gegengeſchoben, worüber das verſammelte Volk in ſtürmiſch-jubeln¬
des Gelächter ausbricht. Der Suchende, endlich der Faſeleien
müde, dringt nun mit Ungeſtüm ins Haus ein und findet die
feſtlich geſchmückte Braut, die er triumphirend entführt.


Nur in verhältnißmäßig wenigen Gebirgsthälern herrſcht noch
[439]Dorfleben im Gebirge.die ſchöne Sitte, mit großem feſtlichen Zuge unter Begleitung be¬
kränzter Brautjungfern, die ſpielenden Muſikanten vorauf, zur
Kirche zu gehen. Die Art, wie einſt der Kloſtermeir von Mörli¬
ſchachen den Brautlauf hielt, als er die Braut von Immenſee
(Schillers Tell, IV. Akt, 3. Scene), abholte, iſt längſt außer Brauch
gekommen. Auch in die Berge iſt die Verflachung gedrungen
und hat mit der Beſeitigung der alten, nationalen Tracht auch
manche ſchöne Sitte entfernt. Nur noch das Schießen auf dem
Kirchwege aus alten, halb verroſteten Böllern, Piſtolen oder Mus¬
keten, oder gar aus hohlgebohrten, in die Erde gegrabenen Holz¬
röhren wird noch ziemlich allgemein praktizirt und ruft im taumeln¬
den Freudenrauſch durch Unvorſichtigkeit manche Schreckensſtunde
hervor.


Der Sonntag in Gebirgsdörfern hat etwas ungemein Er¬
hebendes, Feierliches. Es iſt, als ob die ganze Natur den Feſttag
mit begehe. Die gleichen wunderbar-akuſtiſchen Schallwände, welche
den Ton des Alpenhornes ſo zauberhaft-modulirt wiedergeben,
reflektiren auch das Glockengeläute in den Alpenthälern auf nicht
zu beſchreibende Weiſe. Der Klang ſcheint den Metallton zu ver¬
lieren und nimmt dagegen eine intenſiver-gefüllte, innigere, wär¬
mere Tonfülle an, wie ſie den kryſtallenen Glasglocken eigen iſt.
Auf etwas erhöhtem Punkt ob einem Alpſee-Geſtade an hellem
Sommer-Morgen zur Kirche lauten zu hören, wie die rufenden und
antwortenden Glocken von hüben und drüben ihre Klänge weit
hinein in die Schluchten und Thaltiefen ſenden, und die ganze
Landſchaft rundumher in wonniger Ruhe den Tönen lauſcht, gehört
zu den ſinnigſten Genüſſen, welche die Bergwelt dem empfänglichen
Gemüthe zu geben vermag. Da ſtrömt es denn herbei aus allen
Winkeln und hervor aus den dunkelen Tobeln und herab von den
braunen Holzhütten über die maigrünen Matten, das Volk in ſeinem
ländlichen Sonntagsſtaat. Die Weiber und Mädchen, je nach der
Thalſchaft Gebrauch, ernſt und ſchwarz, im dicht gefältelten Loden¬
[440]Dorfleben im Gebirge.rock, oder in hellen, fröhlichen Farben, mit keck-geneſteltem, maleriſch
geformtem Mieder und ſilbernem Kettlein gehen direkt ins Gottes¬
haus hinein, während die Buab'n und Männer noch draußen
ſtehen bleiben und Revue halten, bis das „ganze Geläute“ zu¬
ſammen, als letztes Mahnzeichen, ertönt und nun der Orgel mäch¬
tige Stimmen anheben und in den Gaſſen Alles ſtill und lauſchig
wird. — Da iſts Sonntag; da iſt wirkliche Feier, mehr und er¬
greifender, als in den Städten. — Und iſt die Kirche dann zu
Ende, ſo wandeln die, welche noch jüngſt ein liebes Angehöriges
der Familie verloren, auf die Gräber und ſchmücken ſie mit friſch
gepflückten Alpenroſen, oder zieren die einfachen, ſchwarzen Kreuze
mit einem Immortellen-Kranz und Rosmarin und Nägelein. Die
Burſchen aber ziehen ins Wirthshaus, um ſich zum weiten Heim¬
wege zu ſtärken, oder es findet Gemeindeverſammlung vor der
Kirche ſtatt, wo Proklamen der Regierungen, Aufgebote zum Mi¬
litair-Dienſt verleſen oder Orts-Beamtete gewählt werden. Der
Nachmittag aber vereint die männliche Jugend auf dem Schützen¬
ſtand; denn die Büchſe iſt des Aelplers liebſte Waffe, mit der er
die Freiheit ſeiner Berge und ſeines Vaterlandes vertheidigt, wenn
es irgend einem fremden Eindringlinge gelüſten ſollte, Eroberungs¬
züge dorthin unternehmen zu wollen.


Und iſt das kleine, ſtille und beſcheidene Leben der Alpen¬
einſamkeit durchgelebt, wird der Körper der Erde wieder anvertraut,
von der er kam, dann tritt uns auch in dieſer letzten Feierlichkeit
wieder ein ganz eigenthümlicher Moment entgegen. Drunten im
Lande, wo alle Nachbarn beiſammen wohnen und ihre Häuſer um
des Dorfes Kirchlein gruppirt haben, da iſt (das landesübliche
Zeremoniell abgerechnet) das Begräbniß eine Handlung, die ſich
faſt allenthalben gleicht. Anders in den Alpen, wenn droben,
ſtundenweit von der gemeinſamen Ruheſtätte, der Erdenbürger zur
Ewigkeit eingebt. Den Weg. den er allſonntäglich als Lebender
zum Kirchlein machte, muß jetzt ſein Leichnam im engen Bretter¬
[441]Dorfleben im Gebirge. haus zum letzten Mal zurücklegen. So weit hinab iſt's ſchwer ihn
zu tragen. Da ladet denn der Sohn des Vaters oder der Mutter
Sarg, wenns Sommer iſt, auf einen kleinen, ſchmalen Karren,
ſpannt aus dem Stall, was er juſt hat: ein Roß oder ein Stück
Hornvieh davor, und geleitet ſo die irdiſchen Reſte hinab ins Thal.
Ueberall, wo dieſes Trauer-Gefährt vorüberkommt, tritt das Volk
hinaus, betet laut ein „Vater unſer“, oder ſchließt ſich dem Zuge
an. Und hat der Winter ſeine Schneedecke über Berg und Thal
geworfen, dann muß der Schlitten dem Verſtorbenen den letzten
Dienſt erweiſen. Der Sarg wird feſt aufgebunden, ein ſtarker,
kräftiger Mann, mit zwei Bergſtöcken unter den Armen, ſetzt ſich
zu vorderſt auf, lenkt mit den Füßen, und im jagenden Fluge
gleitet der Leichen-Kondukt hinab.

[]

Appendix A

Druck von Ferber \& Seydel in Leipzig.

[][][][][]
Notes
*)

Die Bezeichnung „Eocen“ rührt vou einigen in dieſe Geſteinsarten
eingeſchloſſenen Organismen (Pflanzenabdrücke, Muſcheln, Thierüberreſte) her,
deren Arten in der Gegenwart noch exiſtiren, als Verſteinerungen aber ſich
zuerſt in dieſer Formation zeigen. — Nummuliten-Gebilde haben ihre
Benennung von einer in denſelben in großer Menge vorkommenden verſteinerten,
linſenförmigen Muſchel (Nummulites nummularia, vom Gebirgsbauer auch
„Batzenſteine“, „Kümmiſteine“ genannt, welche geſpalten einen ſpiralförmigen
Kanal mit einer Unmaſſe von Kämmerchen zeigt. Abbildung in Vogt's Geologie,
2. Aufl., 1. Bd. pag. 626.

Dieses Werk ist gemeinfrei.


Rechtsinhaber*in
Kolimo+

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2025). Collection 1. Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bhsp.0