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Ahnung und Gegenwart.


Ein Roman



Mit
einem Vorwort
von
de la Motte Fouque´.



Nürnberg,:
bei Johann Leonhard Schrag.
1815.
[][]

Vorwort.

Der Verfaſſer hatte dieſen Roman vollendet,
ehe noch die Franzoſen im letzten Kriege Ru߬
land betraten. Eine nothwendig fortlaufende
Berührung des Buches mit den öffentlichen
Begebenheiten verhinderte damals den Druck
deſſelben. Später faßte die gewaltige Zeit
den Dichter ſelbſt, er focht in den Reihen
der Vaterlandsretter rühmlich mit, und alle
ſeine Muſſe, Gedanken und Kräfte wandten
ſich auf den gemeinſchaftlichen Zweck. Nach¬
her meinte er, es ſeye der Zeitpunkt einer
allgemeinen Theilnahme für dieſen Roman
vielleicht inzwiſchen verſtrichen.

1 *[IV]Vorwort.

Ich war und bin nicht dieſer Meinung;
auch ſchien es mii nicht wohlgethan, die Fä¬
den dieſer Geſchichte in die neueſten Ereigniſſe
herüber zu ſpinnen, oder auch prophetiſche
Ausſichten auf die erfolgte Weltbefreyung
mit Abſichtlichkeit darin aufzuſtellen. Die
Ganzheit der ſo ächt lebendigen und wahr¬
haften Dichtung hätte darunter gelitten; ſie
wäre nicht geblieben, was ſie iſt: ein ge¬
treues Bild jener gewitterſchwülen Zeit, der
Erwartung, der Sehnſucht und Verwir¬
rung.


Der Verfaſſer gieng in meine Anſichten
ein, und giebt den Roman daher wörtlich
und ohne die geringſte Aenderung ſo, wie er
ihn damals aufgeſchrieben hatte. In ſeinen
Mittheilungen hierüber an mich finden ſich
unter Anderm folgende denkwürdige Worte:


„Es lieben edle Gemüther, ſich mitten
aus der Freude nach den überſtandenen
Drangſalen zurückzuwenden, nicht um hoch¬
[V]Vorwort. müthig über ſich ſelbſt zu erſtaunen, wie ſie
ſeitdem ſo Großes vollbracht, ſondern um
ſich noch einmal mit jenem heiligen Zürnen,
jenem gerüſteten Ernſte der Bedrängniß zu
erfüllen, der uns im Glücke eben ſo noth
thut, als im Unglück. Dieſen weihe ich das
Buch als ein Denkmal der ſchuldgedrückten
Vergangenheit.“


„Alle Kräfte, die in uns aufgewacht,
ſchlummerten oder träumten ſchon damals.
Aber Roſt frißt das Eiſen. Die Sehnſucht
hätte ſich langſam ſelbſt verzehrt, und die
Weisheit nichts ausgeſonnen, hätte ſich der
Herr nicht endlich erbarmt, und in dem
Brande von Moskau die Morgenröthe eines
großen herrlichen Tages der Erlöſung ange¬
zündet. Und ſo laßt uns Gott preiſen, Je¬
der nach ſeiner Art! Ihm gebührt die Ehre,
uns ziemet Demuth, Wachſamkeit und from¬
mer, treuer Fleiß.“

[VI]Vorwort.

Dieſen Kernworten, wie aus dem In¬
nerſten und Beſten meiner Seele geſprochen,
weiß ich nichts hinzuzufügen, als den herzli¬
chen Wunſch: möchten ſie und das ganze ju¬
gendlich friſche Dichterwerk unſern theuern
Landsleuten nach Verdienſt lieb werden und
bekannt.


Geſchrieben
am 6. Januar,
1815.


La Motte Fouque´.

[]

Erſtes Buch.

[][]

Erſtes Kapitel.

Die Sonne war eben prächtig aufgegangen,
da fuhr ein Schiff zwiſchen den grünen Bergen und
Wäldern auf der Donau herunter. Auf dem Schif¬
fe befand ſich ein luſtiges Häufchen Studenten.
Sie begleiteten einige Tagereiſen weit den jungen
Grafen Friedrich, welcher ſo eben die Univerſi¬
tät verlaſſen hatte, um ſich auf Reiſen zu begeben.
Einige von ihnen hatten ſich auf dem Verdecke auf
ihre ausgebreitete Mäntel hingeſtreckt und würfel¬
ten. Andere hatten alle Augenblick neue Burgen
zu ſalutiren, neue Echo's zu verſuchen, und waren
daher ohne Unterlaß beſchäftigt, ihre Gewehre zu
laden und abzufeuern. Wieder andere übten ihren
Witz an allen, die das Unglück hatten am Ufer
vorüberzugehen, und dieſe aus der Luft gegriffene
Unterhaltung endigte dann gewöhnlich mit luſtigen
Schimpfreden, welche wechſelſeitig ſo lange fortge¬
ſezt wurden, bis beide Partheyen einander längſt
nicht mehr verſtanden. Mitten unter ihnen ſtand
Graf Friedrich in ſtiller, beſchaulicher Freude.
Er war größer als die andern, und zeichnete ſich
durch ein einfaches, freyes, faſt altritterliches An¬
ſehen aus. Er ſelbſt ſprach wenig, ſondern ergözte
[10] ſich vielmehr ſtill in ſich an den den Ausgelaſſenhei¬
ten der luſtigen Geſellen; ein gemeiner Menſchen¬
ſinn hätte ihn leicht für einfältig gehalten. Von
beiden Seiten ſangen die Vögel aus dem Walde,
der Wiederhall von dem Rufen und Schießen irrte
weit in den Bergen umher, ein friſcher Wind ſtrich
über das Waſſer, und ſo fuhren die Studenten in
ihren bunten, phantaſtiſchen Trachten wie das Schiff
der Argonauten. Und ſo fahre denn, friſche Ju¬
gend! Glaube es nicht, daß es einmal anders
wird auf Erden. Unſere freudigen Gedanken wer¬
den niemals alt und die Jugend iſt ewig.


Wer von Regensburg her auf der Donau hin¬
abgefahren iſt, der kennt die herrliche Stelle, wel¬
che der Wirbel genannt wird. Hohe Bergſchluften
umgeben den wunderbaren Ort. In der Mitte des
Stromes ſteht ein ſeltſam geformter Fels, von
dem ein hohes Kreutz Troſt- und Friedenreich in
den Sturz und Streit der empörten Wogen hinab¬
ſchaut. Kein Menſch iſt hier zu ſehen, kein Vogel
ſingt, nur der Wald von den Bergen und der
furchtbare Kreis, der alles Leben in ſeinen uner¬
gründlichen Schlund hinabzieht, rauſchen hier ſeit
Jahrhunderten gleichförmig fort. Der Mund des
Wirbels öffnet ſich von Zeit zu Zeit dunkelblickend,
wie das Auge des Todes. Der Menſch fühlt ſich
auf einmal verlaſſen in der Gewalt des feindſeli¬
gen, unbekannten Elements, und das Kreutz auf
dem Felſen tritt hier in ſeiner heiligſten und grö߬
ten Bedeutung hervor. Alle wurden bey dieſem
[11] Anblicke ſtill und athmeten tief über dem Wellen¬
rauſchen. Hier bog plötzlich ein anderes fremdes
Schiff, daß ſie lange in weiter Entfernung verfolgt
hatte, hinter ihnen um die Felſenecke. Eine hohe,
junge, weibliche Geſtalt ſtand ganz vorn auf dem
Verdecke und ſah unverwandt in den Wirbel hinab.
Die Studenten waren von der plötzlichen Erſcheinung
in dieſer dunkelgrünen Oede überraſcht und brachen
einmüthig in ein freudiges Hurrah aus, daß es
weit an den Bergen hinunterſchallte. Da ſah das
Mädchen auf einmal auf, und ihre Augen begegne¬
ten Friedrichs Blicken. Er fuhr innerlichſt zu¬
ſammen. Denn es war, als deckten ihre Blicke
plötzlich eine neue Welt von blühender Wunder¬
pracht, uralten Erinnerungen und niegekannten
Wünſchen in ſeinem Herzen auf. Er ſtand lange
in ihrem Anblick verſunken, und bemerkte kaum,
wie indeß der Strom nun wieder ruhiger geworden
war und zu beiden Seiten ſchöne Schlöſſer, Dör¬
fer und Wieſen vorüberflogen, aus denen der
Wind das Geläute weidender Heerden herüber¬
wehte.


Sie fuhren ſo eben an einer kleinen Stadt
vorüber. Hart am Ufer war eine Promenade mit
Alleen. Herren und Damen giengen im Sonntags¬
putze ſpazieren, führten einander, lachten, grüßten
und verbeugten ſich hin und wieder, und eine luſti¬
ge Muſik ſchallte aus dem bunten, fröhlichen
Schwalle. Das Schiff, worauf die ſchöne Unbe¬
kannte ſtand, folgte unſeren Reiſenden immerfort
[12] in einiger Entfernung nach. Der Strom war hier
ſo breit und ſpiegelglatt wie ein See. Da ergriff
einer von den Studenten ſeine Guitarre, und ſang
der Schönen auf dem andern Schiffe drüben luſtig
zu:


Die Jäger zieh'n in grünen Wald

Und Reiter blitzend über's Feld,

Studenten durch die ganze Welt,

So weit der blaue Himmel wallt.
Der Frühling iſt der Fleudenſaal,

Viel tauſend Vöglein ſpielen auf,

Da ſchallt's im Wald bergab, bergauf:

Grüß' dich, mein Schatz, viel tauſendmal!

Sie bemerkten wohl, daß die Schöne allezeit
zu ihnen herüberſah, und alle Herzen und Augen
waren wie friſche junge Seegel nach ihr gerichtet.
Das Schiff näherte ſich ihnen hier ganz dicht.
Wahrhaftig, ein ſchönes Mädchen! riefen einige,
und der Student ſang weiter:


Viel rüſt'ge Burſche ritterlich,

Die fahren hier in Stromes Mitt',

Wie wilde ſie auch ſtellen ſich,

Trau' mir, mein Kind, und fürcht' dich nit!
Querüber über's Waſſer glatt

Laß werben deine Aeugelein,

Und der dir wohlgefallen hat,

Der ſoll dein lieber Buhle ſeyn.

Hier näherten ſich wieder die Schiffe einander.
Die Schöne ſaß vorn, wagte es aber in dieſer
Nähe nicht aufzublicken. Sie hatte das Geſicht auf
[13] die andere Seite gewendet, und zeichnete mit ihrem
Finger auf dem Boden. Der Wind wehte die
Töne zu ihr herüber, und ſie verſtand wohl alles,
als der Student wieder weiter ſang:


Durch Nacht und Nebel ſchleich' ich ſacht',

Kein Lichtlein brennt, kalt weht der Wind,

Riegl' auf, riegl' auf bey ſtiller Nacht,

Weil wir ſo jung beyſammen ſind!
Ade nun, Kind, und nicht geweint!

Schon gehen Stimmen da und dort,

Hoch über'n Wald Aurora ſcheint,

Und die Studenten reiſen fort.

So war es endlich Abend geworden, und die
Schiffer lenkten an's Ufer. Alles ſtieg aus, und
begab ſich in ein Wirthshaus, das auf einer An¬
höhe an der Donau ſtand. Dieſen Ort hatten die
Studenten zum Ziele ihrer Begleitung beſtimmt.
Hier wollten ſie morgen früh den Grafen verlaſſen
und wieder zurückreiſen. Sie nahmen ſogleich Be¬
ſchlag von einem geräumigen Zimmer, deſſen Fen¬
ſter auf die Donau hinausgiengen. Friedrich
folgte ihnen erſt etwas ſpäter von den Schiffen
nach. Als er die Stiege hinauf gieng, öffnete ſih
ſeitwärts eine Thüre, und die unbekannte Schöne,
die auch hier eingekehrt war, trat eben aus dem
erleuchteten Zimmer. Beyde ſchienen über einander
erſchrocken. Friedrich grüßte ſie, ſie ſchlug die
Augen nieder und kehrte ſchnell wieder in das Zim¬
mer zurück.

[14]

Unterdeß hatten ſich die luſtigen Geſellen in
ihrer Stube ſchon ausgebreitet. Da lagen Jacken,
Hüte, Federbüſche, Tabackspfeifen und blanke
Schwerdter in der bunteſten Verwirrung umher,
und die Aufwärterinn trat mit heimlicher Furcht
unter die wilden Gäſte, die halbentkleidet auf Bet¬
ten, Tiſchen und Stühlen, wie Soldaten nach ei¬
ner blutigen Schlacht, gelagert waren. Es wurde
bald Wein angeſchaft, man ſezte ſich in die Run¬
de, ſang und trank des Grafen Geſundheit.
Friedrich'n war heute dabey ſonderbar zu Mu¬
the. Er war ſeit mehreren Jahren dieſe Lebens¬
weiſe gewohnt, und das Herz war ihm jedesmal
aufgegangen, wie dieſe freye Jugend ihm ſo keck
und muthig in's Geſicht ſah. Nun, da er von dem
allem auf immer Abſchied nehmen ſollte, war ihm
wie einem, der von einem luſtigen Maskenballe
auf die Gaſſe hinaustritt, wo ſich alles nüchtern
fortbewegt wie vorher. Er ſchlich ſich unbemerkt
aus dem Zimmer und trat hinaus auf den Balkon,
der von dem Mittelgange des Hauſes über die Do¬
nau hinausgieng. Der Geſang der Studenten, zu¬
weilen von dem Geklirre der Hieber unterbrochen,
ſchallte aus den Fenſtern, die einen langen Schein
in das Thal hinaus warfen. Die Nacht war ſehr
finſter. Als er ſich über das Geländer hinauslehn¬
te, glaubte er neben ſich athmen zu hören. Er
langte nach der Seite hin und ergriff eine kleine,
zarte Hand. Er zog den weichen Arm näher an
ſich, da funkelten ihn zwey Augen durch die Nacht
an. Er erkannte an der hohen Geſtalt ſogleich das
[15] ſchöne Mädchen von dem andern Schiffe. Er ſtand
ſo dicht vor ihr, daß ihn ihr Athem berührte.
Sie litt es gern, daß er ſie noch näher an ſich
zog, und ihre Lippen kamen zuſammen. Wie hei¬
ßen Sie? fragte Friedrich endlich. Roſa, ſagte
ſie leiſe und bedeckte ihr Geſicht mit beyden Hän¬
den. In dieſem Augenblicke gieng die Stubenthür
auf, ein verworrener Schwall von Licht, Tabacks¬
dampf und verſchiedenen toſenden Stimmen quoll
heraus, und das Mädchen war verſchwunden, ohne
daß Friedrich ſie halten konnte.


Erſt lange Zeit nachher gieng auch er wieder in
ſein Zimmer zurück. Aber da war indeß alles ſtill
geworden. Das Licht war bis an den Leuchter
ausgebrannt, und warf, manchmal noch aufflackernd,
einen flüchtigen Schein über das Zimmer und die
Studenten, die zwiſchen Trümmern von Tabacks¬
pfeiffen, wie Todte, umherlagen und ſchliefen.
Friedrich machte daher die Thüre leiſe zu, und
begab ſich wieder auf den Balkon hinaus, wo er
die Nacht zuzubringen beſchloß. Entzückt in allen
ſeinen Sinnen, ſchaute er da in die ſtille Gegend
hinaus. Fliegt nur, ihr Wolken, rief er aus,
rauſcht nur und rührt euch recht, ihr Wälder! Und
wenn alles auf Erden ſchläft, ich bin ſo wach, daß
ich tanzen möchte! Er warf ſich auf die ſteinerne
Bank hin, wo das Mädchen geſeſſen hatte, lehnte
die Stirn an's Geländer und ſang ſtill in ſich ver¬
ſchiedene alte Lieder, und jedes gefiel ihm heut
beſſer und rührte ihn neu. Das Rauſchen des
[16] Stromes und die ziehenden Wolken ſchifften in ſeine
fröhlichen Gedanken hinein; im Hauſe waren längſt
alle Lichter verlöſcht. Die Wellen plätſcherten im¬
merfort ſo einförmig unten an den Steinen, und ſo
ſchlummerte er endlich träumend ein.

Zweites Kapitel.

Als die erſten Strahlen der Sonne in die
Fenſter ſchienen, erhob ſich ein Student nach dem
andern von ſeinem harten Lager, riß das Fenſter
auf und dehnte ſich in den friſchen Morgen hinaus.
Auch Friedrich befand ſich wieder unter ihnen;
denn eine Nachtigall, welche die ganze Nacht uner¬
müdlich vor dem Hauſe ſang, hatte ihn drauſſen
geweckt, und die kühle, der Morgenröthe voraus¬
fliegende, Luft in die wärmere Stube getrieben.
Singen, Lachen und muntere Reden erfüllten nun
bald wieder das Zimmer. Friedrich überdachte
ſeine Begebenheit in der Nacht. Es war ihm, als
erwachte er aus einem Rauſche, als wäre die ſchö¬
ne Roſa, ihr Kuß und alles nur ein Traum ge¬
weſen.


Der Wirth trat mit der Rechnung herein.
Wer iſt das Frauenzimmer, fragte Friedrich,
die geſtern Abends mit uns angekommen iſt? Ich
kenne[17] kenne ſie nicht, antwortete der Wirth, aber eine
vornehme Dame muß ſie ſeyn, denn ein Wagen
mit vier Pferden und Bedienten hat ſie noch lange
vor Tagesanbruch von hier abgeholt. — Friedrich
blickte bey dieſen Worten durch s offene Fenſter auf
den Strom und die Berge drüben, welche heute
Nacht ſtille Zeugen ſeiner Glückſeligkeit geweſen
waren. Jezt ſah da draußen alles anders aus,
und eine unbeſchreibliche Bangigkeit flog durch ſein
Herz.


Die Pferde, welche die Studenten hierher be¬
ſtellt hatten, um darauf wieder zurückzureiten, harr¬
ten ihrer ſchon ſeit geſtern unten. Auch Frie¬
drich
hatte ſich ein ſchönes, munteres Pferd ge¬
kauft, auf dem er nun ganz allein ſeine Reiſe fort¬
ſetzen wollte. Die Reiſebundel daher nun ſchnell
zuſammengeſchnürt, die langen Sporen umgeſchnallt
und alles ſchwang ſich auf die rüſtigen Klepper.
Die Studenten beſchloßen, den Grafen noch eine
kleine Stre[c][k]e landeinwärts zu geleiten, und ſo
ritt denn der ganze bunte Trupp in den heitern
Morgen hinein. An einem Kreuzwege hielten ſie
endlich ſtill und nahmen Abſchied. Lebe wohl, ſag¬
te einer von den Studenten zu Friedrich'n, du
kommſt nun in fremde Länder, unter fremde Men¬
ſchen, und wir ſehen einander vielleicht nie mehr
wieder. Vergiß uns nicht! Und wenn du einmal
auf deinen Schlöſſern hauſeſt, werde nicht wie alle
andere, werde niemals ein trauriger, vornehmer,
ſchmunzelnder, bequemer Philiſter! Denn, bey
2[18] meiner Seele, du warſt doch der beſte und bravſte
Kerl unter uns allen. Reiſe mit Gott! Hier
ſchüttelte jeder dem Grafen vom Pferde noch ein¬
mal die Hand und ſie und Friedrich ſprengten
dann in entgegengeſezten Richtungen von einander.
Als er ſo eine Weile fortgeritten war, ſah er ſie
noch einmal, wie ſie eben, ſchon fern, mit ihren
bunten Federbüſchen über einen Bergrücken fortzo¬
gen. Sie ſangen ein bekanntes Studentenlied,
deſſen Schlußchor:

In's Horn, in's Horn, in's Jägerhorn!

der Wind zu ihm herüber brachte. Ade, ihr rüſti¬
gen Geſellen, rief er gerührt; Ade, du ſchöne,
freye Zeit! Der herrliche Morgen ſtand flammend
vor ihm. Er gab ſeinem Pferde die Sporen, um
den Tönen zu entkommen, und ritt, daß der friſche
Wind an ſeinem Hute pfiff.


Wer Studenten auf ihren Wanderungen ſah,
wie ſie frühmorgens aus dem dunkeln Thore aus¬
ziehen und den Hut ſchwenken in der friſchen Luft,
wie ſie wohlgemuth und ohne Sorgen über die
grüne Erde reiſen, und die unbegränzten Augen
an blauem Himmel, Wald und Fels ſich noch er¬
quicken, der mag gern unſern Grafen auf ſeinem
Zuge durch das Gebirge begleiten. Er ritt jezt
langſam weiter. Bauern ackerten, Hirten trieben
ihre Heerden vorüber. Die Frühlingsſonne ſchien
warm über die dampfende Erde, Bäume, Gras und
Blumen äugelten dazwiſchen mit blitzenden Tropfen,
unzählige Lerchen [ſchwirrten] durch die laue Luft.
[19] Ihm war recht innerlichſt fröhlich zu Muthe. Tau¬
ſend Erinnerungen, Entwürfe und Hoffnungen zo¬
gen wie ein Schattenſpiel durch ſeine bewegte
Bruſt. Das Bild der ſchönen Roſa ſtand wieder
ganz lebendig in ihm auf, mit aller Farbenpracht
des Morgens gemahlt und geſchmückt. Der Son¬
nenſchein, der laue Wind und Lerchenſang verwirr¬
te ſich in das Bild, und ſo entſtand in ſeinem
glücklichen Herzen folgendes Liedchen, das er im¬
merfort laut vor ſich herſang:


Grüß' euch aus Herzensgrund:

Zwey Augen hell und rein,

Zwey Röslein auf dem Mund,

Kleid blank aus Sonnenſchein!
Nachtigall klagt und weint,

Wollüſtig rauſcht der Hain,

Alles die Liebſte meynt:

Wo weilt ſie ſo allein?
Weil's draußen finſter war,

Sah ich viel hellern Schein,

Jezt iſt es licht und klar,

Ich muß im Dunkeln ſeyn.
Sonne nicht ſteigen mag,

Sieht ſo verſchlafen drein,

Wünſchet den ganzen Tag,

Daß wieder Nacht möcht' ſeyn.
Liebe geht durch die Luft,

Holt fern die Liebſte ein;

Fort über Berg und Kluft!

Und Sie wird doch noch mein!
2 *[20]

Das Liedchen gefiel ihm ſo wohl, daß er ſeine
Schreibtafel herauszog um es aufzuſchreiben. Da
er aber die flüchtigen Worte anfieng bedächtig auf¬
zuzeichnen und nicht mehr ſang, mußte er über ſich
ſelber lachen und löſchte alles wieder aus.


Der Mittag war unterdeß durch die kühlen
Waldſchluften faſt unvermerkt vorübergezogen. Da
erblickte Friedrich mit Vergnügen einen hohen,
bepflanzten Berg, der ihm als ein berühmter Be¬
luſtigungsort dieſer Gegend anempfohlen worden
war. Farbige Luſthäuſer blickten von dem ſchattigen
Gipfel ins Thal herab. Rings um den Berg her¬
um wand ſich ein Pfad hinauf, auf dem man vie¬
le Frauenzimmer mit ihren bunten Tüchern in der
Grüne wallfahrten ſah. Der Anblick war ſehr
freundlich und einladend. Friedrich lenkte daher
ſein Pferd um, und ritt mit dem fröhlichen Zuge
hinan, ſich erfreuend, wie bey jedem Schritte der
Kreis der Ausſicht ringsum ſich erweiterte. Noch
angenehmer wurde er überraſcht, als er endlich den
Gipfel erreichte. Da war ein weiter, ſchöner und
kühler Raſenplatz. An kleinen Tiſchchen faſſen im
Freyen verſchiedene Geſellſchaften umher und ſpei߬
ten in luſtigem Geſpräch. Kinder ſpielten auf dem
Raſen, ein alter Mann ſpielte die Harfe und ſang.
Friedrich ließ ſich ſein Mittagmahl ganz allein in
einem Sommerhäuschen bereiten, das am Abhange
des Berges ſtand. Er machte alle Fenſter weit auf.
ſo daß die Luft überall durchſtrich, und er von al¬
len Seiten die Landſchaft und den blauen Himmel
ſah. Kühler Wein und hellgeſchliffene Gläſer blink¬
[21] ten von dem Tiſche. Er trank ſeinen fernen Freun¬
den und ſeiner Roſa in Gedanken zu. Dann ſtell¬
te er ſich an's Fenſter. Man ſah von dort weit in
das Gebirge. Ein Strom gieng in der Tiefe, an
welchem eine hellglänzende Landſtraße hinablief.
Die heißen Sonnenſtrahlen ſchillerten über dem
Thale, die ganze Gegend lag unten in ſchwüler
Ruhe. Drauſſen vor der offenen Thüre ſpielte und
ſang der Harfeniſt immerfort. Friedrich ſah den
Wolken nach, die nach jenen Gegenden hinausſegel¬
ten, die er ſelber auch bald begrüßen ſollte. O Le¬
ben und Reiſen, wie biſt du ſchön! rief er freu¬
dig, zog dann ſeinen Diamant vom Finger und
zeichnete den Nahmen Roſa in die Fenſterſcheibe.
Bald darauf wurde er unten mehrere Reuter ge¬
wahr, die auf der Landſtraße ſchnell dem Gebirge
zu vorüberflogen. Er verwandte keinen Blick da¬
von. Ein Mädchen hoch und ſchlank, ritt den an¬
dern voraus und ſah flüchtig mit den friſchen Au¬
gen den Berg hinan, gerade auf den Fleck, wo
Friedrich ſtand. Der Berg war hoch, die Ent¬
fernung und Schnelligkeit groß; doch glaubte ſie
Friedrich mit Einem Blicke zu erkennen, es war
Roſa. Wie ein plötzlicher Morgenblick blizte ihm
dieſer Gedanke fröhlich über die ganze Erde. Er
bezahlte eiligſt ſeine Zeche, ſchwang ſich auf ſein
Pferd, und ſtolperte ſo ſchnell als möglich den ſich
ewig windenden Bergpfad hinab; ſeine Blicke und
Gedanken flogen wie Adler von der Höhe voraus.
Als er ſich endlich bis auf die Straße hinausgear¬
beitet hatte und freyer Athem ſchöpfte, war die
[22] Reuterinn ſchon nicht mehr zu ſehen. Er ſezte die
Sporen tapfer ein und ſprengte weiter fort. Ein
Weg gieng links von der Straße ab in den Wald
hinein. Er erkannte an der friſchen Spur der
Roßeshufe, daß ihn die Reuter eingeſchlagen hat¬
ten. Er folgte ihm daher auch. Als er aber eine
große Strecke ſo fortgeritten war, theilten ſich auf
einmal wieder drey Wege nach verſchiedenen Rich¬
tungen und keine Spur war weiter auf dem härte¬
ren Boden zu bemerken. Fluchend und lachend zu¬
gleich vor Ungeduld, blieb er nun hier eine Weile
ſtillſtehen, wählte dann gelaſſener den Pfad, der
ihm der anmuthigſte dünkte, und zog langſam
weiter.


Der Wald wurde indeß immer dunkler und
dichter, der Pfad enger und wilder. Er kam end¬
lich an einen dunkelgrünen, kühlen Platz, der rings
von Felſen und hohen Bäumen umgeben war. Der
einſame Ort gefiel ihm ſo wohl, daß er vom Pfer¬
de ſtieg, um hier etwas auszuruhen. Er ſtreichelte
ihm den gebogenen Hals, zäumte es ab und ließ
es frey weiden. Er ſelbſt legte ſich auf den Rü¬
cken und ſah dem Wolkenzuge zu. Die Sonne neig¬
te ſich ſchon und funkelte ſchräge durch die dunkeln
Wipfeln, die ſich leiſerauſchend hin und her beweg¬
ten. Unzählige Waldvögel zwitſcherten in luſtiger
Verwirrung durcheinander. Er war ſo müde, er
konnte ſich nicht halten, die Augen ſanken ihm zu.
Mitten im Schlummer kam es ihm manchmal vor,
als höre er Hörner aus der Ferne. Er hörte den
Klang oft ganz deutlich und näher, aber er konnte
[23] ſich nicht beſinnen und ſchlummerte immer wieder
von neuem ein.


Als er endlich erwachte, erſchrack er nicht we¬
nig, da es ſchon finſtere Nacht und alles um ihn
her ſtill und öde war. Er ſprang erſtaunt auf. Da
hörte er über ſich auf dem Felſen zwey Männer¬
ſtimmen, die ganz in der Nähe ſchienen. Er rief
ſie an, aber niemand gab Antwort und alles war
auf einmal wieder ſtill. Nun nahm er ſein Pferd
beym Zügel und ſetzte ſo ſeine Reiſe auf gut Glück
weiter fort. Mit Mühe arbeitete er ſich durch die
Rabennacht des Waldes hindurch und kam endlich
auf einen weiten und freyen Bergrücken, der nur
mit kleinem Geſträuch bewachſen war. Der Mond
ſchien ſehr hell, und der plötzliche Anblick des
freyen, gränzenloſen Himmels erfreute und ſtärkte
recht ſein Herz. Die Ebne mußte ſehr hoch liegen,
denn er ſah ringsumher eine dunkle Runde von
Bergen unter ſich ruhen. Von der einen Seite
kam der einförmige Schlag von Eiſenhämmern aus
der Ferne herüber. Er nahm daher ſeine Richtung
dorthin. Sein und ſeines Pferdes Schatten, wie
er ſo fortſchritt, ſtrichen wie dunkle Rieſen über die
Haide vor ihm her und das Pferd fuhr oft ſchnau¬
bend und ſträubig zuſammen. So, ſagte Frie¬
drich
, deſſen Herz recht weit und vergnügt war,
ſo muß vor vielen hundert Jahren den Rittern zu
Muthe geweſen ſeyn, wenn ſie bey ſtiller, nächtli¬
cher Weile über dieſe Berge zogen und auf Ruhm
und große Thaten ſannen. So voll adelicher Ge¬
danken und Geſinnungen mag mancher auf dieſe
[24] Wälder und Berge hinuntergeſehen haben, die
noch immer daſtehen, wie damals. Was müh'n
wir uns doch ab in unſeren beſten Jahren, lernen,
polieren und feilen, um uns zu rechten Leuten zu
machen, als furchteten oder ſchämten wir uns vor
uns ſelbſt, und wollten uns daher hinter Geſchick¬
lichkeiten verbergen und zerſtreuen, anſtatt daß es
darauf ankäme, ſich innerlichſt nur recht zuſammen¬
zunehmen zu hohen Entſchließungen und einem tu¬
gendhaften Wandel. Denn wahrhaftig, ein ruhi¬
ges, tapferes, tüchtiges und ritterliches Leben iſt
jezt jedem Manne, wie damals, vonnöthen. Jedes
Weltkind ſollte wenigſtens jeden Monat Eine
Nacht im Freyen einſam durchwachen, um einmal
ſeine eitlen Mühen und Künſte abzuſtreifen und
ſich im Glauben zu ſtärken und zu erbauen. Wie
bin ich ſo fröhlich und erquickt! Gebe mir Gott
nur die Gnade, daß dieſer Arm einmal was Rech¬
tes in der Welt vollbringe!


Unter ſolchen Gedanken ſchritt er immer fort.
Der Fußſteg hatte ſich indeß immer mehr und mehr
geſenkt, und er erblickte endlich ein Licht, das aus
dem Thale heraufſchimmerte. Er eilte darauf los
und kam an eine elende, einſame Waldſchenke. Er
ſah durch das kleine Fenſter in die Stube hinein.
Da ſaß ein Haufen zerlumpter Kerls mit bärtigen
Spitzbubengeſichtern um einen Tiſch und trank. In
allen Winkeln ſtanden Gewehre angelehnt. An dem
hellen Kaminfeuer, das einen gräßlichen Schein
über den Menſchenklumpen warf, ſaß ein altes
[25] Weib gebückt, und zerrte, wie es ſchien, blutige
Därme an den Flammen auseinander. Ein Grau¬
ſen überfiel den Grafen bey dem ſcheußlichen An¬
blick, er ſezte ſich raſch auf ſein Pferd und ſpreng¬
te querfeldein.


Das Rauſchen und Klappen einer Waſſermühle
beſtimmte ſeine Richtung. Ein ungeheurer Hund
empfieng ihn dort an dem Hofe der Mühle.
Friedrich und ſein Pferd waren zu ermattet, um
noch weiter zu reiſen. Er pochte daher an die
Hausthüre. Eine rauhe Stimme antwortete von
innen, bald darauf gieng die Thüre auf, und ein
langer, hagerer Mann trat heraus. Er ſah Frie¬
drich'n
, der ihn um Herberge bath, von oben bis
unten an, nahm dann ſein Pferd und führte es
ſtillſchweigend nach dem Stalle. Friedrich gieng
nun in die Stube hinein. Ein Frauenzimmer ſtand
drinnen und pickte Feuer. Er bemerkte bey den
Blitzen der Funken ein junges und ſchönes Mäd¬
chengeſicht. Als ſie das Licht angezündet hatte, be¬
trachtete ſie den Grafen mit einem freudigen Er¬
ſtaunen, das ihr faſt den Athem zu verhalten
ſchien. Darauf ergriff ſie das Licht und führte ihn,
ohne ein Wort zu ſagen, die Stiege hinauf in ein
geräumiges Zimmer mit mehreren Betten. Sie
war barfuß und Friedrich bemerkte, als ſie ſo
vor ihm hergieng, daß ſie nur im Hemde war und
den Buſen faſt ganz bloß hatte. Er ärgerte ſich
über die Frechheit bey ſolcher zarten Jugend. Als
ſie oben in der Stube waren, blieb das Mädchen
[26] flehen und ſah den Grafen furchtſam an. Er hielt
ſie für ein verliebtes Ding. Geh, ſagte er gut¬
müthig, geh ſchlafen, liebes Kind. Sie ſah ſich
nach der Thüre um, dann wieder nach Frie¬
drich'n
. Ach, Gott! ſagte ſie endlich, legte die
Hand aufs Herz und gieng zaudernd fort. Frie¬
drich'n
kam ihr Benehmen ſehr ſonderbar vor, denn
es war ihm nicht entgangen, daß ſie beym Hinaus¬
gehen an allen Gliedern zitterte.


Mitternacht war ſchon vorbey. Friedrich
war überwacht und von den verſchiedenen Begeg¬
niſſen viel zu ſehr aufgeregt, um ſchlafen zu kön¬
nen. Er ſetzte ſich an's offene Fenſter. Das Waſ¬
ſer rauſchte unten über ein Wehr. Der Mond
blickte ſeltſam und unheimlich aus dunkeln Wolken,
die ſchnell über den Himmel flogen. Er ſang:


Er reitet Nachts auf einem braunen Roß,

Er reitet vorüber an manchem Schloß:

Schlaf' droben, mein Kind, bis der Tag erſcheint,

Die finſtre Nacht iſt des Menſchen Feind!
Er reitet vorüber an einem Teich,

Da ſtehet ein ſchönes Mädchen bleich

Und ſingt, ihr Hemdlein flattert im Wind,

Vorüber, vorüber, mir graut vor dem Kind!
Er reitet vorüber an einem Fluß,

Da ruft ihm der Waſſermann ſeinen Gruß,

Taucht wieder unter dann mit Geſaus,

Und ſtille wird's über dem kühlen Haus.
[27]
Wann Tag und Nacht in verworrenem Streit,

Schon Hähne krähen in Dörfern weit,

Da ſchauert ſein Roß und wühlet hinab,

Scharret ihm ſchnaubend ſein eigenes Grab.

Er mochte ohngefähr eine Stunde ſo geſeſſen
haben, als der große Hund unten im Hofe ein
Paarmal anſchlug. Bald darauf kam es ihm vor,
als hörte er drauſſen mehrere Stimmen. Er horch¬
te hinaus, aber alles war wieder ſtill. Eine Un¬
ruhe bemächtigte ſich ſeiner, er ſtand vom Fenſter
auf, unterſuchte ſeine geladenen Taſchenpiſtolen und
legte ſeinen Reiſeſäbel auf den Tiſch. In dieſem
Augenblicke gieng auch die Thüre auf, und mehrere
wilde Männer traten herein. Sie blieben erſchro¬
cken ſtehen, da ſie den Grafen wach fanden. Er
erkannte ſogleich die fürchterlichen Geſichter aus der
Waldſchenke und ſeinen Hauswirth, den langen
Müller, mitten unter ihnen. Dieſer faßte ſich zu¬
erſt und drückte unverſehens eine Piſtol nach ihm
ab. Die Kugel prellte neben ſeinem Kopfe an die
Mauer. Falſch gezielt, heimtükiſcher Hund! ſchrie
der Graf auſſer ſich vor Zorn und ſchoß den Kerl
durch's Hirn. Darauf ergriff er ſeinen Säbel,
ſtürzte ſich in den Haufen hinein und warf die
Räuber, rechts und links mit in die Augen gedrück¬
tem Hute um ſich herumhauend, die Stiege hinun¬
ter. Mitten in dem Gemetzel glaubte er das ſchö¬
ne Müllermädchen wieder zu ſehen. Sie hatte ſel¬
ber ein Schwerdt in der Hand, mit dem ſie ſich
hochherzig, den Grafen vertheidigend, zwiſchen die
Verräther warf. Unten an der Stiege endlich, da
[28] alles, was noch laufen konnte, Reißaus genommen
hatte, ſank er, von vielen Wunden und Blutverlu¬
ſte ermattet, ohne Bewußtſeyn nieder.

Drittes Kapitel.

Als Friedrich wieder das erſtemal die Augen
aufſchlug und mit geſunden Sinnen in der Welt
umherſchauen konnte, erblickte er ſich in einem un¬
bekannten, ſchönen und reichen Zimmer. Die Mor¬
genſonne ſchien auf die ſeidenen Vorhänge ſeines
Bettes; ſein Kopf war verbunden. Zu den Füßen
des Bettes kniete ein ſchöner Knabe, der den
Kopf auf beyde Arme an das Bett gelehnt hatte
und ſchlief.


Friedrich wußte ſich in dieſe Verwandlungen
nicht zu finden. Er ſann nach, was mit ihm vor¬
gegangen war. Aber nur die fürchterliche Nacht in
der Waldmühle mit ihren Mordgeſichtern ſtand leb¬
haft vor ihm, alles übrige ſchien wie ein ſchwerer
Traum. Verſchiedene fremde Geſtalten aus dieſer
lezten Zeit waren ihm wohl dunkel erinnerlich, aber
er konnte keine unterſcheiden. Nur eine einzige un¬
gewiſſe Vorſtellung blieb ihm lieblich getreu. Es
war ihm nemlich immer vorgekommen, als hätte
ſich ein wunderſchönes Engelsbild über ihn geneigt,
ſo daß ihn die langen, reichen Locken rings umga¬
[29] gaben, und die Worte, die es ſprach, flogen wie
Muſik über ihn weg.


Da er ſich nun recht leicht und neugeſtärkt
ſpürte, ſtieg er aus dem Bette und trat ans Fen¬
ſter. Er ſah da, daß er ſich in einem großen
Schloſſe befand. Unten lag ein ſchöner Garten;
alles war noch ſtill, nur Vögel flatterten auf den
einſamen, kühlen Gängen, der Morgen war über¬
aus heiter.


Der Knabe an dem Bette war indeß auch auf¬
gewacht. Gott ſey Dank! rief er aus Herzens¬
grunde, als er die Augen aufſchlug und den Gra¬
fen aufgeſtanden und munter erblickte. Friedrich
glaubte, ſein Geſicht zu kennen, doch konnte er ſich
durchaus nicht beſinnen, wo er es geſehen hatte.
Wo bin ich? fragte er endlich erſtaunt. Gott ſey
Dank! wiederholte der Knabe nur, und ſah ihn
mit ſeinen großen, fröhlichen Augen noch immer un¬
verwandt an, als könnte er ſich gar nicht in die
Freude finden, ihn wirklich wieder hergeſtellt zu ſehen.
Friedrich drang nun in ihn, ihm den Zuſammen¬
hang dieſer ganzen ſeltſamen Begebenheit zu ent¬
wirren. Der Knabe beſann ſich einen Augenblick
und erzählte dann: Geſtern früh, da ich eben in
den Wald gieng, ſah ich Dich blutig und ohne Le¬
ben am Wege liegen. Das Blut floß über den
Kopf, ich verband die Wunde mit meinem Tuche ſo
gut ich konnte. Aber das Blut drang durch und
floß immerfort, und ich verſuchte alles vergebens,
um es zu ſtillen. Ich lief und rief nun in meiner
[30] Angſt rings im Walde umher und betete und wein¬
te dann wieder dazwiſchen, da ich mir gar nicht
mehr zu helfen wußte. Da kam auf einmal ein
Wagen die Straße gefahren. Eine Dame erblickte
uns aus demſelben und ließ ſogleich ſtillhalten.
Die Bedienten verbanden die Wunde ſehr geſchickt.
Die Dame ſchien ſehr verwundert und erſchrocken
über den Umſtand. Darauf nahm ſie uns beyde
mit in den Wagen und führte uns hierher auf ihr
Schloß. Die Gräfinn hat beynahe die ganze Nacht
hindurch hier am Bette gewacht. — Friedrich
dachte an das Engelsbild, das ſich wie im Traume
über ſein Geſicht geneigt hatte, und war noch ver¬
wirrter, als vorher. — Aber wer biſt denn Du?
fragte er darauf den Knaben wieder. Ich habe
keine Aeltern mehr, anwortete dieſer, und ſchlug
verwirrt die Augen nieder, ich gieng eben über
Land, um Dienſte zu ſuchen. Friedrich faßte den
Furchtſamen bey beyden Händen: willſt du bey mir
bleiben? Ewig, mein Herr! ſagte der Knabe mit
auffallender Heftigkeit.


Friedrich kleidete ſich nun völlig an und ver¬
ließ ſeine Stube, um ſich hier umzuſehen und über
ſein Verhältniß in dieſem Schloſſe auf irgend eine
Art Gewißheit zu erlangen. Er erſtaunte über das
Altfränkiſche der Bauart und der Einrichtung. Die
Gänge waren gewölbt, die Fenſter in der dicken,
dunkeln Mauer alle oben in einen Bogen zugeſpizt
und mit kleinen, runden Scheiben verſehen. Wun¬
derſchöne Bilder von Glas füllten oben die Fenſter¬
[31] bogen, die von der Morgenſonne in den bunteſten
Farben brannten. Alles im ganzen Hauſe war ſtill.
Er ſah zum Fenſter hinaus. Das alte Schloß ſtand
von dieſer Seite an dem Abhange eines hohen
Berges, der, ſo wie das Thal, unten mit Schwarz¬
wald bedeckt war, aus welchem die Klänge einſa¬
mer Holzhauer heraufſchallten. Gleich am Fenſter
über der ſchwindlichten Tiefe war ein Ritter, der
ſein Schwerdt in den gefalteten Händen hielt, in
Rieſengröße, wie der ſteinerne Roland, in die
Mauer gehauen. Friedrich glaubte jeden Augen¬
blick, das Burgfräulein, den hohen Spitzenkragen
um daß ſchöne Geſicht, werde in einem der Gänge
heraufkommen. In der ſonderbarſten Laune gieng
er nun die Stiege hinab und über eine Zugbrücke
in den Garten hinaus.


Hier ſtanden auf einem weiten Platze die ſon¬
derbarſten, fremden Blumenarten in phantaſtiſchem
Schmucke. Künſtliche Brunnen ſprangen, im Mor¬
genſcheine funkelnd, kühle hin und wieder. Da¬
zwiſchen ſah man Pfauen in der Grüne weiden und
ſtolz ihre tauſendfarbigen Räder ſchlagen. Im
Hintergrunde ſaß ein Storch auf einem Beine und
ſah melankoliſch in die weite Gegend hinaus. Als
ſich Friedrich an dem Anblicke, den der friſche
Morgen prächtig machte, ſo ergözte, erblickte er in
einiger Entfernung vor ſich einen Mann, der hin¬
ter einem Spaliere an einem Tiſchchen ſaß, das
voll Papiere lag. Er ſchrieb, blickte manchmal in
die Gegend hinaus, und ſchrieb dann wieder emſig
[32] fort. Friedrich wollte ausweichen, um ihn nicht
zu ſtören, aber es war nur der einzige Weg und
der Unbekannte hatte ihn auch ſchon erblickt. Er
gieng daher auf ihn zu und grüßte ihn. Der
Schreiber mochte eine lange Unterhaltung befürch¬
ten. Ich kenne Sie wahrhaftig nicht, ſagte er
halb ärgerlich, halb lachend, aber wenn Sie ſelbſt
Alexander der Große wären, ſo müßt' ich Sie für
jezt nur bitten, mir aus der Sonne zu gehen.
Friedrich verwunderte ſich höchlichſt über dieſen
unhöflichen Diogenes und ließ den wunderlichen Ge¬
ſellen ſitzen, der ſogleich wieder anfieng zu ſchrei¬
ben.


Er kam nun an den Ausgang des Gartens, an
den ein luſtiges Wäldchen von Laubholz ſtieß. An
dem Saume des Waldes ſtand ein Jägerhaus, das
ringsum mit Hirſchgeweihen ausgeziert war. Auf
einer kleinen Wieſe, welche vor dem Hauſe mitten
zwiſchen dem Walde lag, ſaß ein ſchönes, kaum
fünfzehnjähriges Mädchen auf einen, wie es
ſchien, ſo eben erlegtem Rehe, ſtreichelte das todte
Thierchen und ſang:


Wär' ich ein muntres Hirſchlein ſchlank,

Wollt' ich im grünen Walde geh'n,

Spazieren geh'n bey Hörnerklang,

Nach meinem Liebſten mich umſeh'n.

Ein junger Jäger, der ſeitwärts an einem
Baume gelehnt ſtand und ihren Geſang mit dem
Waldhorne begleitete, antwortete ihr ſogleich nach
derſelben Melodie:


Nach[33]
Nach meiner Liebſten mich umſeh'n

Thu' ich wohl, zieh' ich früh von hier,

Doch Sie mag niemals zu mir geh'n

Im dunkelgrünen Waldrevier.

Sie ſang weiter:


Im dunkelgrünen Waldrevier,

Da blizt der Liebſte roſenroth,

Gefällt ſo ſehr dem armen Thier,

Das Hirſchlein wünſcht, es läge todt.

Der Jäger antwortete wieder:


Und wär' das ſchöne Hirſchlein todt,

So möcht' ich länger jagen nicht;

Scheint über'n Wald der Morgenroth:

Hüt', ſchönes Hirſchlein, hüte dich!

Sie.


Hüt' ſchönes Hirſchlein, hüte dich!

Spricht's Hirſchlein ſelbſt in ſeinem Sinn,

Wie ſoll ich, ſoll ich hüten mich,

Wenn ich ſo ſehr verliebet bin?

Er.


Weil ich ſo ſehr verliebet bin,

Wollt' ich das Hirſchlein, ſchön und wild,

Aufſuchen tief im Walde d'rinn

Und ſtreicheln, bis es ſtille hielt.

Sie.


Ja, ſtreicheln bis es ſtille hielt,

Falſch locken ſo in Stall und Haus!

Zum Wald ſpringt's Hirſchlein frey und wild

Und lacht verliebte Narren aus.
3[34]

Hiebey ſprang ſie von ihrem Rehe auf, denn
Pferde, Hunde, Jäger und Waldhornsklänge
ſtürzten auf einmal mit einem verworrenen Getöſe,
aus dem Walde heraus und verbreiteten ſich bunt
über die Wieſe. Ein ſehr ſchöner, junger Mann
in Jägerkleidung, und das Halstuch in einer un¬
ordentlichen Schleife herabhängend, ſchwang ſich
vom Pferde und eine Menge großer Hunde ſpran¬
gen von allen Seiten freundlich an ihm herauf.
Friedrich erſtaunte beym erſten Blick über die
große Aehnlichkeit, die derſelbe mit einem älteren
Bruder hatte, den er ſeit ſeiner Kindheit nicht
mehr geſehen, nur daß der Unbekannte hier friſcher
und freudiger anzuſehen war. Dieſer kam ſogleich
auf ihn zu. Es freut mich, ſagte er, Sie ſo
munter wieder zu finden. Meine Schweſter hat
Sie unterwegs in einem ſchlimmen Zuſtande getrof¬
fen und geſtern Abends zu mir auf mein Schloß
gebracht. Sie iſt heute noch vor Tagesanbruch wie¬
der fort. Laſſen Sie es ſich bey uns gefallen, Sie
werden luſtige Leute finden. Während ihm nun
Friedrich eben noch für ſeine Güte dankte, brach¬
te auf einmal der Wind aus dem Garten oben
mehrere Blätter Papier, die hoch über ihre Köpfe
weg nach einem nahe gelegenen Waſſer zuflatterten.
Hinterdrein hörte man von oben eine Stimme:
halt, halt, halt auf! rufen, und der Menſch, den
Friedrich im Garten ſchreibend angetroffen hatte,
kam eilends nachgelaufen. Leontin, ſo hieß der
junge Graf, dem dieſes Schloß gehörte, legte
ſchnell ſeine Büchſe an und ſchoß das unbändige
[35] Papier aus der Luft herab. Das iſt doch dumm,
ſagte der Nachſetzende, der unterdeß athemlos an¬
gelangt war, da er die Blätter, auf welche Verſe
geſchrieben waren, von den Schroten ganz durch¬
löchert erblickte. Das ſchöne Mädchen, das vorher
auf der Wieſe geſungen hatte, ſtand hinter ihm und
kikkerte. Er drehte ſich geſchwind herum und woll¬
te ſie küſſen, aber ſie entſprang in das Jägerhaus
und guckte lachend hinter der halbgeöffneten Thüre
hervor. Das iſt der Dichter Faber, ſagte Leontin,
dem Grafen den Nachſetzenden vorſtellend. Friedrich
erſchrack recht über den Nahmen. Er hatte viel
von Faber geleſen; manches hatte ihm gar nicht
gefallen, vieles andere aber wieder ſo ergriffen,
daß er oft nicht begreifen konnte, wie derſelbe
Menſch ſo etwas Schönes erfinden könne. Und
nun, da der wunderbare Menſch leibhaftig vor ihm
ſtand, betrachtete er ihn mit allen Sinnen, als
wollte er alle die Gedichte von ihm, die ihm am
beſten gefallen, in ſeinem Geſichte ableſen. Aber
da war keine Spur davon zu finden.


Friedrich hatte ſich ihn ganz anders vorge¬
ſtellt, und hätte viel darum gegeben, wenn es
Leontin geweſen wäre, bey deſſen lebendigem,
erquicklichen Weſen ihm das Herz aufgieng. Herr
Faber erzählte nun lachend, wie ihn Friedrich
in ſeiner Werkſtatt überraſcht habe. Da ſind Sie
ſchön angekommen, ſagte Leontin zu Frie¬
drich'n
, denn da ſizt Herr Faber wie die Löwinn
3 *[36] über ihren Jungen, und ſchlägt grimmig um ſich.
— So ſollte jeder Dichter dichten, meynte Frie¬
drich
, am frühen Morgen, unter freyem Himmel,
in einer ſchönen Gegend. Da iſt die Seele rüſtig,
und ſo wie dann die Bäume rauſchen, die Vögel
ſingen und der Jäger vor Luſt in ſein Horn ſtößt,
ſo muß der Dichter dichten. — Sie ſind ein Natu¬
raliſt in der Poeſie, entgegnete Faber mit einer
etwas zweydeutigen Miene. — Ich wünſchte, fiel
ihm Leontin ins Wort, Sie ritten lieber alle
Morgen mit mir auf die Jagd, lieber Faber.
Der Morgen glüht Sie wie eine reizende Geliebte
an, und Sie klecken ihr mit Dinte in das ſchöne
Geſicht. Faber lachte, zog eine kleine Flöte her¬
vor und fieng an darauf zu blaſen. Friedrich
fand ihn in dieſem Augenblicke ſehr liebenswürdig.


Leontin trug dem Grafen an, mit ihm zu
ſeiner Schweſter hinüberzureiten, wenn er ſich ſchon
ſtark genug dazu fühlte. Friedrich willigte mit
Freuden ein, und bald darauf ſaßen beyde zu Pfer¬
de. Die Gegend war ſehr heiter. Sie ritten eben
über einen weiten grünen Anger. Friedrich fühl¬
te ſich bey dem ſchönen Morgen recht in allen Sin¬
nen geneſen, und freute ſich über den anmuthigen
Leontin, wie das Pferd unter ihm mit geboge¬
nem Halſe über die Ebne hintanzte. Meine Schwe¬
ſter, ſagte Leontin unterweges, und ſah den Gra¬
fen mit verſtecktem Lachen immerfort an, meine
Schweſter iſt viel älter als ich, und, ich muß es
nur im Voraus ſagen, recht häßlich. So! ſagte
[37]Friedrich, langſam und gedehnt, denn er hatte
heimlich andere Erwartungen und Hoffnungen ge¬
hegt. Er ſchwieg darauf ſtill; Leontin lachte und
pfiff ein luſtiges Liedchen. Endlich ſah man ein
ſchönes, neues Schloß ſich aus einem großen Park
luftig erheben. Es war das Schloß von Leontins
Schweſter.


Sie ſtiegen unten am Eingange des Parkes ab
und giengen zu Fuß hinauf. Der Garten war ganz
im neueſten Geſchmacke angelegt. Kleine, ſich
ſchlängelnde Gänge, dichte Gebüſche von [ausländi¬
ſchen]
Sträuchern, dazwiſchen leichte Brücken von
weiſſem Birkenholze luftig geſchwungen, waren
recht artig anzuſchauen. Zwiſchen mehreren ſchlan¬
ken Säulen traten ſie in das Schloß. Es war ein
großes, gemahltes Zimmer mit hellglänzendem Fu߬
boden; ein kryſtallener Luſter hieng an der Decke
und Ottomannen von reichen Stoffen ſtanden an den
Wänden umher. Durch die hohe Glasthüre überſah
man den Garten. Niemand, da es noch früh, war
in der ganzen Reihe von prachtvollen Gemächern,
die ſich an dieſes anſchloſſen, zu ſehen. Die Mor¬
genſonne, die durch die Glasthüre ſchien, erfüllte
das ſchöne Zimmer mit einem geheimnißvollen Hell¬
dunkel und beleuchtete eben eine Guitarre, die in
der Mitte auf einem Tiſchchen lag. Leontin nahm
dieſelbe und begab ſich damit wieder hinaus.
Friedrich blieb in der Thür ſtehen, während
Leontin ſich draußen unter die Fenſter ſtellte, in
die Saiten griff und ſang:


[38]
Frühmorgens durch die Winde kühl

Zwey Ritter hergeritten ſind,

Im Garten klingt ihr Saitenſpiel,

Wach' auf, wach' auf, mein ſchönes Kind!
Ringsum viel' Schlöſſer ſchimmernd ſteh'n,

So ſilbern geht der Ströme Lauf,

Hoch, weit rings Lerchenlieder weh'n,

Schließ' Fenſter, Herz und Aeuglein auf!

Friedrich war gar nicht begierig, die alte
Schöne kennen zu lernen, und blieb ruhig in der
Thüre ſtehen. Da hörte er oben ein Fenſter ſich
öffnen. Guten Morgen, lieber Bruder! ſagte eine
liebliche Stimme. Leontin ſang:


So wie du biſt, verſchlafen heiß,

Laß allen Putz und Zier zu Haus,

Tritt nur herfür im Hemdlein weiß,

Siehſt ſo gar ſchön verliebet aus.

Wenn du ſo garſtig ſingſt, ſagte oben die lieb¬
liche Stimme, ſo leg' ich mich gleich wieder ſchlafen.
Friedrich erblickte einen ſchneeweißen, vollen Arm
im Fenſter und Leontin ſang wieder:


Ich hab' einen Fremden wohl bey mir,

Der lauert unten auf der Wacht,

Der bittet ſchön dich um Quartier,

Verſchlafnes Kind, nimm dich in Acht!

Friedrich trat nun aus ſeinem Hinterhalte
hervor und ſah mit Erſtaunen — ſeine Roſa im
Fenſter. Sie war in einem leichten Nachtkleide und
dehnte ſich eben mit aufgehobenen Armen in den
friſchen Morgen hinaus. Als ſie ſo unverhofft
[39]Friedrich'n erblickte, ließ ſie mit einem Schrey
die Arme ſinken, ſchlug das Fenſter zu und war
verſchwunden.


Leontin gieng nun fort, um ein neues Pferd
der Schweſter im Hofe herumzutummeln und
Friedrich blieb allein im Garten zurück.


Bald darauf kam die Gräfin Roſa in einem
weißen Morgenkleide herab. Sie hieß den Grafen
mit einer Schaam willkommen, die ihr unwiderſteh¬
lich ſchön ſtand. Lange, dunkle Locken fielen zu
beyden Seiten bis auf die Schultern und den blen¬
dendweißen Buſen hinab. Die ſchönſte Reihe von
Zähnen ſah man manchmal zwiſchen den vollen ro¬
then Lippen hervorſchimmern. Sie athmete noch
warm von der Nacht; es war die prächtigſte
Schönheit, die Friedrich jemals geſehen hatte.
Sie giengen nebeneinander in den Garten hinein.
Der Morgen blizte herrlich über die ganze Gegend,
aus allen Zweigen jubelten unzählige Vögel. Sie
ſezten ſich in einer dichten Laube auf eine Raſen¬
bank. Friedrich dankte ihr für ihr hülfreiches
Mitleid und ſprach dann von ſeiner ſchönen Donau-
Reiſe. Die Gräfin ſaß, während er davon erzähl¬
te, beſchämt und ſtill, hatte die langen Augen¬
wimper niedergeſchlagen, und wagte kaum zu ath¬
men. Als er endlich auch ſeiner Wunde erwähnte,
ſchlug ſie auf einmal die großen ſchönen Augen auf,
um die Wunde zu betrachten. Ihre Augen, Locken
und Buſen kamen ihm dabey ſo nahe, daß ſich ihre
Lippen faſt berührten. Er küßte ſie auf den rothen
[40] Mund und ſie gab ihm den Kuß wieder. Da nahm
er ſie in beyde Arme und küßte ſie unzähligemal
und alle Freuden der Welt verwirrten ſich in dieſen
einen Augenblick, der niemals zum zweytenmale
wiederkehrt. Roſa machte ſich endlich los, ſprang
auf und lief nach dem Schloſſe zu. Leontin kam
ihr eben von der anderen Seite entgegen, ſie rann¬
te in der Verwirrung gerade in ſeine ausgebreiteten
Arme hinein. Er gab ihr ſchnell einen Kuß und
kam zu Friedrich'n, um mit ihm wieder nach
Hauſe zu reiten.


Als Friedrich wieder drauſſen im Freyen zu
Pferde ſaß, beſann er ſich erſt recht auf ſein gan¬
zes Glück. Mit unbeſchreiblichem Entzücken betrach¬
tete er Himmel und Erde, die im reichſten Mor¬
genſchmucke vor ihm lagen. Sie iſt mein! rief er
immerfort ſtill in ſich, ſie iſt mein! Leontin wie¬
derholte lachend die Beſchreibung von der Häßlich¬
keit ſeiner Schweſter, die er vorhin beym Herritt
dem Grafen gemacht hatte, jagte dann weit vor¬
aus, ſezte mit bewunderungswürdiger Leichtigkeit
und Kühnheit über Zäune und Gräben und trieb
allerley Schwänke.


Als ſie bey Leontins Schloſſe ankamen, hör¬
ten ſie ſchon von ferne ein unbegreifliches, verwor¬
renes Getös. Ein Waldhorn raßte in den unbän¬
digſten, falſcheſten Tönen, dazwiſchen hörte man ei¬
ne Stimme, die unaufhörlich fortſchimpfte. Da hat
gewiß wieder Faber was angeſtellt, ſagte Leon¬
tin
. Und es fand ſich wirklich ſo. Herr Faber
[47] hatte ſich nemlich in ihrer Abweſenheit niedergeſezt,
um ein Waldhornecho zu dichten. Zum Unglück fiel
es zu gleicher Zeit einem von Leontins Jägern
ein, nicht weit davon wirklich auf dem Waldhorn
zu blaſen. Faber ſtörte die nahe Muſik, er rief
daher ungeduldig dem Jäger zu, ſtille zu ſeyn.
Dieſer aber, der ſich, wie faſt alle Leute Leon¬
tins
, über Herrn Faber von jeher ärgerte, weil
er immer mit der Feder hinter'm Ohr ſo erbärmlich
ausſah, gehorchte nicht. Da ſprang Faber auf
und überhäufte ihn mit Schimpfreden. Der Jäger,
um ihn zu übertäuben, ſchüttelte nun ſtatt allen
Antwort einen ganzen Schwall von verworrenen und
falſchen Tönen aus ſeinem Horne, während Fa¬
ber
, im Geſichte überroth vor Zorn, vor ihm ſtand
und geſtikulirte. Als der Jäger jezt ſeinen Herrn
erblickte, endigte er ſeinen Spaß und gieng fort.
Faber'n aber hatte indeß, ſo boshaft er auch aus¬
ſah, ſchon längſt der Zorn verlaſſen; denn es wa¬
ren ihm mitten in der Wuth eine Menge witziger
Schimpfwörter und komiſcher Grobheiten in den
Sinn gekommen, und er ſchimpfte tapfer fort, ohne
mehr an den Jäger zu denken, und brach end¬
lich in ein lautes Gelächter aus, in das Leontin
und Friedrich von Herzen mit einſtimmten.


Am Abend ſaſſen Leontin, Friedrich und
Faber zuſammen an einem Feldtiſche auf der Wie¬
ſe am Jägerhauſe und aßen und tranken. Das
Abendroth ſchaute glühend durch die Wipfel des
Tannenwaldes, welcher die Wieſe ringsumher ein¬
[42] ſchloß. Der Wein erweiterte ihre Herzen und ſie
waren alle drey wie alte Bekannte mit einander.
Das iſt wohl ein rechtes Dichterleben, Herr Fa¬
ber
, ſagte Friedrich vergnügt. — Immer doch,
hub Faber ziemlich pathetiſch an, höre ich das
Leben und Dichten verwechſeln. — Aber, aber, be¬
ſter Herr Faber, fiel ihm Leontin ſchnell ins
Wort, dem jeder ernſthafte Diſkurs über Poeſie
die Bruſt zuſammenſchnürte, weil er ſelber nie ein
Urtheil hatte. Er pflegte daher immer mit Witzen,
Radottements, dazwiſchen zu fahren, und fuhr auch
jezt, geſchwind unterbrechend, fort: ihr verwechſelt
mit euren Wortwechſeleyen alles ſo, daß man am
Ende ſeiner ſelbſt nicht ſicher bleibt. Glaubte ich
doch einmal in allem Ernſte, ich ſey die Weltſeele,
und wußte vor lauter Welt nicht, ob ich eine See¬
le hatte oder umgekehrt. Das Leben aber, mein
beſter Herr Faber, mit ſeinen bunten Bildern,
verhält ſich zum Dichter, wie ein unüberſehbar
weitläufiges Hyerogliphenbuch von einer unbekannten,
lange untergegangenen Urſprache zum Leſer. Da
ſitzen von Ewigkeit zu Ewigkeit die redlichſten, gut¬
müthigſten Weltnarren, die Dichter, und leſen und
leſen. Aber die alten, wunderbaren Worte der
Zeichen ſind unbekannt und der Wind weht die Blät¬
ter des großen Buches ſo ſchnell und verworren
durcheinander, daß einem die Augen übergeh'n. —
Friedrich ſah Leontin groß an, es war etwas
in ſeinen Worten, das ihn ernſthaft machte. Fa¬
ber
aber, dem Leontin zu ſchnell geſprochen zu
haben ſchien, ſpann gelaſſen ſeinen vorigen Diſkurs
[43] wieder an: Ihr haltet das Dichten für eine gar ſo
leichte Sache, weil es flüchtig aus der Feder fließt,
aber keiner bedenkt, wie das Kind, vielleicht vor vie¬
len Jahren ſchon in Luſt empfangen, dann wie in
Mutterleibe mit Freuden und Schmerzen ernährt
und gebildet wird, ehe es aus ſeinem ſtillen Hauſe
das fröhliche Licht des Tages begrüßt. — Das iſt
ein langweiliges Kind, unterbrach ihn Leontin
munter, wäre ich ſo eine ſchwangere Frau, als Sie
da ſagen, da lacht' ich mich gewiß, wie Philine,
vor dem Spiegel über mich ſelber zu Tode, eh' ich
mit dem erſten Verſe niederkäme. — Hier erblickte
er ein Paket Papiere, das aus Fabers Rocktaſche
hervorragte; eines davon war: „ an die Deut¬
ſchen,“ überſchrieben. Er bat ihn, es ihnen vor¬
zuleſen. Faber zog es heraus und las es. Das
Gedicht enthielt die Herausforderung eines bis zum
Tode verwundeten Ritters an alle Feinde der deut¬
ſchen Ehre. Leontin ſowohl als Friedrich er¬
ſtaunten über die Gediegenheit und männliche Tiefe
der Romanze und fühlten ſich wahrhaft erbaut.
Wer ſollte es glauben, ſagte Leontin, daß Herr
Faber dieſe Romanze zu eben der Zeit verfertiget
hat, als er Reißaus nahm, um nicht mit gegen die
Franzoſen zu Felde zieh'n zu dürfen. Faber
nahm darauf ein anderes Blatt zur Hand und las
ihnen ein Gedicht vor, in welchem er ſich ſelber mit
höchſt komiſcher Laune in dieſem ſeinen feigherzigen
Widerſpruche darſtellte, worin aber mitten durch
die luſtigen Scherze ein tiefer Ernſt wie mit gro¬
ßen, frommen Augen ruhend und ergreifend hin¬
[44] durchſchaute. Friedrich'n gieng jeder Vers die¬
ſes Gedichtes ſchneidend durch's Herz. Jezt wurde
es ihm auf einmal klar, warum ihm ſo viele Stel¬
len und Einrichtungen in Fabers Schriften durch¬
aus fremd blieben und mißfielen. —

Dem einen iſt zu thun, zu ſchreiben mir
gegeben,


ſagte Faber, als er ausgeleſen hatte. Poetiſch
ſeyn und Poet ſeyn, fuhr er fort, das ſind zwey
ſehr verſchiedene Dinge, man mag dagegen ſagen,
was man will. Bey dem lezteren iſt, wie ſelbſt
unſer großer Meiſter Göthe eingeſteht, immer et¬
was Taſchenſpielerey, Seiltänzerey u. ſ. w. mit im
Spiele. — Das iſt nicht ſo, ſagte Friedrich ernſt
und ſicher, und wäre es, ſo möchte ich niemals
dichten. Wie wollt ihr, daß die Menſchen eure
Werke hochachten, ſich daran erquicken und erbauen
ſollen, wenn ihr euch ſelber nicht glaubt, was ihr
ſchreibt und durch ſchöne Worte und künſtliche Ge¬
danken Gott und Menſchen zu überliſten trachtet?
Das iſt ein eitles, nichtsnutziges Spiel, und es
hilft euch doch nichts, denn es iſt nichts groß, als
was aus einem einfältigen Herzen kommt. Das
heißt recht dem Teufel der Gemeinheit, der immer
in der Menge wach und auf der Lauer iſt, den
Dolch ſelbſt in die Hand geben gegen die göttliche
Poeſie. Wo ſoll die rechte, ſchlichte Sitte, das treue
Thun, das ſchöne Lieben, die deutſche Ehre und alle
die alte herrliche Schönheit ſich hinflüchten, wenn
es ihre angebohrnen Ritter, die Dichter, nicht wahr¬
[45] haft ehrlich, aufrichtig und ritterlich mit ihr mey¬
nen? Bis in den Tod verhaßt ſind mir beſonders
jene ewigen Klagen, die mit weinerlichen Sonetten
die alte ſchöne Zeit zurückwinſeln wollen, und, wie
ein Strohfeuer, weder die Schlechten verbrennen,
noch die Guten erleuchten und erwärmen. Denn
wie wenigen möchte doch das Herz zerſpringen,
wenn alles ſo dumm geht, und habe ich nicht den
Muth, beſſer zu ſeyn, als meine Zeit, ſo mag ich
zerknirſcht das Schimpfen laſſen, denn keine Zeit iſt
durchaus ſchlecht. Die heiligen Märtyrer, wie ſie,
laut ihren Erlöſer bekennend, mit aufgehobenen Ar¬
men in die Todesflammen ſprangen — das ſind des
Dichters ächte Brüder und er ſoll eben ſo fürſtlich
denken von ſich, denn ſo wie ſie den ewigen Geiſt
Gottes auf Erden durch Thaten ausdrückten, ſo ſoll
er ihn aufrichtig in einer verwitterten, feindſeligen
Zeit durch rechte Worte und göttliche Erfindungen
verkünden und verherrlichen. Die Menge, nur auf
weltliche Dinge erpicht, zerſtreut und träge, ſizt
gebückt und blind drauſſen im warmen Sonnenſchei¬
ne und langt rührend nach dem ewigen Lichte, das
ſie niemals erblickt. Der Dichter hat einſam die
ſchönen Augen offen; mit Demuth und Freudigkeit
betrachtet er, ſelber erſtaunt, Himmel und Erde,
und das Herz geht ihm auf bey der überſchwengli¬
chen Ausſicht, und ſo beſingt er die Welt, die,
wie Memnons Bild, voll ſtummer Bedeutung, nur
dann durch und durch erklingt wenn ſie die Aurora
eines dichteriſchen Gemüthes mit ihren verwandten
Strahlen berührt. — Leontin fiel hier dem Gra¬
[46] fen freudig um den Hals. — Schön, beſonders
zulezt ſehr ſchön geſagt, ſagte Faber, und drückte
ihm herzlich die Hand. Sie meynen es doch alle
beyde nicht ſo, wie ich, fühlte und dachte Friedrich
betrübt.


Es war unterdeß ſchon dunkel geworden und
der Abendſtern funkelte vom heiteren Himmel über
den Wald herüber. Da wurde ihr Geſpräch auf
eine luſtige Art unterbrochen. Die kleine Marie,
die am Morgen mit dem Jäger auf der Wieſe ge¬
ſungen, hatte ſich nemlich als Jägerburſche angezo¬
gen. Die Jäger jagten ſie auf der Wieſe herum,
ſie ließ ſich aber nicht erhaſchen, weil ſie, wie ſie
ſagte, nach Tabaksrauch röchen. Wie ein geſcheuch¬
tes Reh kam ſie endlich an dem Tiſche vorüber.
Leontin fieng ſie auf und ſezte ſie vor ſich auf
ſeinen Schooß. Er ſtrich ihr die Haare aus den
munteren Augen und gab ihr aus ſeinem Glaſe zu
trinken. Sie trank viel und wurde bald ungewöhn¬
lich beredt, daß ſich alle über ihre liebenswürdige
Lebhaftigkeit erfreuten. Leontin fieng an, von
ihrer Schlafkammer zu ſprechen und andere leicht¬
fertige Reden vorzubringen, und als er ſie endlich
auch küßte, umklammerte ſie mit beyden Armen
heftig ſeinen Hals. Friedrich'n ſchmerzte das
ganze loſe Spiel, ſo ſehr es auch Faber'n gefiel,
und er ſprach laut von Verführen. Marie hüpf¬
te von Leontins Schooß, wünſchte allen mit ver¬
ſchmizten Augen eine gute Nacht und ſprang fort
ins Jägerhaus. Leontin reichte Friedrich'n
[47] lächelnd die Hand und alle drey ſchieden von einan¬
der, um ſich zur Ruhe zu begeben. Faber ſagte
im Weggehen: ſeine Seele ſey heut ſo wach, daß
er noch tief in die Nacht hinein an einem angefan¬
genen, großen Gedichte fortarbeiten wolle.


Als Friedrich in ſein Schlafzimmer kam,
ſtellte er ſich noch eine Weile ans offene Fenſter.
Von der andern Seite des Schloſſes ſchimmerte
aus Fabers Zimmer ein einſames Licht in die
ſtille Gegend hinaus. Fabers Fleiß rührte den
Grafen, und er kam ihm in dieſem Augenblicke als
ein höheres Weſen vor. Es iſt wohl groß, ſagte
er, ſo mit göttlichen Gedanken über dem weiten,
ſtillen Kreis der Erde zu ſchweben. Wache, ſinne
und bilde nur fleiſſig fort, fröhliche Seele, wenn
alle die anderen Menſchen ſchlafen! Gott iſt mit
dir in deiner Einſamkeit und Er weiß es allein,
was ein Dichter treulich will, wenn auch kein
Menſch ſich um dich bekümmert. Der Mond ſtand
eben über dem alterthümlichen Thurme des Schloſ¬
ſes, unten lag der ſchwarze Waldgrund in ſtum¬
mer Ruhe. Die Fenſter giengen nach der Gegend
hinaus, wo die Gräfin Roſa hinter dem Walde
wohnte. Friedrich hatte Leontins Guitarre
mit hinaufgenommen. Er nahm ſie in den Arm
und ſang:


Die Welt ruht ſtill im Hafen,

Mein Liebchen, gute Nacht!

Wann Wald und Berge ſchlafen,

Treu' Liebe einſam wacht.
[48]
Ich bin ſo wach und luſtig,

Die Seele iſt ſo licht,

Und eh' ich liebt', da wußt' ich

Von ſolcher Freude nicht.
Ich fühl' mich ſo befreyet

Von eitlem Trieb und Streit,

Nichts mehr das Herz zerſtreuet

In ſeiner Fröhlichkeit.
Mir iſt, als müßt' ich ſingen

So recht aus tiefſter Luſt

Von wunderbaren Dingen,

Was niemand ſonſt bewußt.
O könnt' ich alles ſagen!

O wär' ich recht geſchickt!

So muß ich ſtill ertragen,

Was mich ſo hoch beglückt.

Viertes Kapitel.

Friedrich gab Leontins Bitten, noch län¬
ger auf ſeinem Schloſſe zu verweilen, gern nach.
Leontin hatte nach ſeiner raſchen, fröhlichen Art
bald eine wahre Freundſchaft zu ihm gefaßt, und
ſie verabredeten miteinander, einen Streifzug durch
das nahe Gebirge zu machen, das manches Sehens¬
werthe enthielt. Die Ausführung dieſes Planes
blieb indeß von Tage zu Tage verſchoben. Bald
war das Wetter zu nebligt, bald waren die Pferde
nicht[49] nicht zu entbehren oder ſonſt etwas Nothwendiges
zu verrichten, und ſie mußten ſich am Ende ſelber
eingeſtehen, daß es ihnen beyden eigentlich ſchwer
fiel, ſich, auch nur auf wenige Tage, von ihrer
hieſigen Nachbarſchaft zu trennen. Leontin hatte
hier ſeine eignen Geheimniſſe. Er ritt oft ganz ab¬
gelegene Wege in den Wald hinein, wo er nicht
ſelten halbe Tage lang ausblieb. Niemand wußte,
was er dort vorhabe, und er ſelber ſprach nie da¬
von. Friedrich dagegen beſuchte Roſa faſt täg¬
lich. Drüben in ihrem ſchönen Garten hatte die
Liebe ihr tauſendfarbiges Zelt aufgeſchlagen, ihre
wunderreichen Fernen ausgeſpannt, ihre Regenbo¬
gen und goldenen Brücken durch die blaue Luft ge¬
ſchwungen, und rings die Berge und Wälder, wie
einen Zauberkreis, um ihr morgenrothes Reich gezo¬
gen. Er war unausſprechlich glücklich. Leontin be¬
gleitete ihn ſehr ſelten, weil ihm, wie er immer zu
ſagen pflegte, ſeine Schweſter wie ein gemahlter
Frühling vorkäme. Friedrich glaubte von jeher
bemerkt zu haben, daß Leontin bey aller ſeiner Leb¬
haftigkeit doch eigentlich kalt ſey, und dachte dabey:
was hilft dir der ſchönſte gemahlte oder natürliche
Frühling! Aus dir ſelber muß doch die Sonne das
Bild beſcheinen, um es zu beleben.


Zu Hauſe auf Leontins Schloſſe wurde Frie¬
drichs
poetiſcher Rauſch durch nichts geſtört; denn
was hier Faber Herrliches erſann und fleiſſig auf¬
ſchrieb, ſuchte Leontin auf ſeine freye, wunderliche
Weiſe in's Leben einzuführen. Seine Leute moch¬
4[50] ten alle fortleben, wie es ihnen ihr friſcher, guter
Sinn eingab; das Waldhorn irrte faſt Tag und
Nacht in dem Walde hin und her, dazwiſchen
ſpuckte die eben erwachende Sinnlichkeit der kleinen
Marie wie ein reizender Kobold, und ſo machte
dieſer ſeltſame, bunte Haushalt dieſen ganzen Auf¬
enthalt zu einer wahren Feenburg. Mitten in dem
ſchönen Feſte blieb nur ein einziges Weſen einſam
und Antheillos. Das war Erwin, der ſchöne Kna¬
be, der mit Friedrich auf das Schloß gekommen
war. Er war allen unbegreiflich. Sein einziges
Ziel und Augenmerk ſchien es, ſeinen Herrn, den
Grafen Friedrich, zu bedienen, welches er bis
zur geringſten Kleinigkeit aufmerkſam, emſig und
gewiſſenhaft that. Sonſt miſchte er ſich in keine
Geſchäfte oder Luſt der anderen, erſchien zerſtreut,
immer fremd, verſchloſſen und faſt hart, ſo lieblich
weich auch ſeine helle Stimme klang. Nur manch¬
mal bey Veranlaſſungen, die oft allen gleichgültig
waren, ſprach er auf einmal viel und bewegt, und
jedem fiel dann ſein ſchönes, ſeelenvolles Geſicht
auf. Unter ſeine Seltſamkeiten gehörte auch, daß
er niemals zu bewegen war, eine Nacht in der
Stube zuzubringen. Wenn alles im Schloſſe ſchlief
und drauſſen die Sterne am Himmel prangten,
gieng er vielmehr mit der Guitarre aus, ſezte ſich
gewöhnlich auf die alte Schloßmauer über dem
Waldgrunde und übte ſich dort heimlich auf dem
Inſtrumente. Wie oft, wenn Friedrich manch¬
mal in der Nacht erwachte, brachte der Wind ein¬
zelne Töne ſeines Geſanges über den ſtillen Hof zu
[51] ihm herüber, oder er fand ihn frühmorgens auf
der Mauer über der Guitarre eingeſchlafen. Leon¬
tin nannte den Knaben eine wunderbare Laute aus
alter Zeit, die jezt niemand mehr zu ſpielen ver¬
ſtehe.


Eines Abends, da Leontin wieder auf einem
ſeiner geheimnißvollen Ausflüge ungewöhnlich lange
ausblieb, ſaſſen Friedrich und Faber, der ſich
nach geſchehener Tagesarbeit einen fröhlichen Feyer¬
abend nicht nehmen ließ, auf der Wieſe um den
runden Tiſch. Der Mond ſtand ſchon über dem
dunkeln Thurme des Schloſſes. Da hörten ſie plötz¬
lich ein Geräuſch durch das Dickicht brechen und
Leontin ſtürzte auf ſeinem Pferde, wie ein gejagtes
Wild, aus dem Walde hervor. Todtenbleich,
athemlos, und hin und wieder von den Aeſten blu¬
tig geriſſen, kam er ſogleich zu ihnen an den Tiſch
und trank haſtig mehrere Gläſer Wein nacheinander
aus. Friedrich'n erſchütterte die ſchöne, wüſte
Geſtalt. Leontin lachte laut auf, da er bemerkte,
daß ihn alle ſo verwundert anſahen. Faber drang
neugierig in ihn, ihnen zu erzählen, was ihm be¬
gegnet ſey. Er erzählte aber nichts, ſondern ſagte
ſtatt aller Antwort: ich reiſe fort in's Gebirge,
wollt ihr mit? — Faber ſagte überraſcht und un¬
entſchloſſen, daß ihm jezt jede Störung unwillkom¬
men ſey, da er ſo eben an dem angefangenen gro¬
ßen Gedichte arbeite, ſchlug aber endlich ein. Frie¬
drich ſchwieg ſtill. Leontin, der ihm wohl anſah,
was er meyne, entband ihn ſeines alten Verſpre¬
4 *[52] hens ihn zu begleiten; er mußte ihm aber dagegen
geloben, ihn auf ſeinem Schloſſe zu erwarten. Sie
blieben nun noch einige Zeit beyeinander. Aber
Leontin blieb nachdenklich und ſtill. Seine beyden
Gäſte begaben ſich daher bald zur Ruhe, ohne zu
wiſſen, was ſie von ſeiner Veränderung und ra¬
ſchem Entſchluſſe denken ſollten. Noch im Weggeh'n
hörten ſie ihn ſingen:


Hinaus, o Menſch, weit in die Welt,

Bangt dir das Herz in krankem Muth!

Nichts iſt ſo trüb in Nacht geſtellt,

Der Morgen leicht macht's wieder gut.

Am Morgen frühzeitig blickte Friedrich aus
ſeinem Fenſter. Da ſah er Leontin ſchon unten auf
der Waldſtraſſe auf das Schloß ſeiner Schweſter
zureiten. Er eilte ſchnell hinab und ritt ihm nach.


Als er auf Roſa's Schloſſe ankam, fand er
Leontin im Garten in einem lauten Wortwechſel mit
ſeiner Schweſter. Leontin war nemlich hergekom¬
men, um Abſchied von ihr zu nehmen. Roſa hat¬
te aber kaum von ſeinem Vorhaben gehört, als ſie
ſogleich mit aller Heftigkeit den Gedanken ergriff
mitzureiſen. Das laß ich wohl bleiben, ſagte Leon¬
tin, da ſchnüre ich noch heut mein Bündel und reit'
euch ganz allein davon. Ich will eben als ein Ver¬
zweifelter weit in die Welt hinaus, will mich, wie
Don Quixote, im Gebirge auf den Kopf ſtellen und
einmal recht verrückt ſeyn, und da fällt's euch ge¬
rade ein, hinter mir drein zu zotteln, als reisten
wir nach Karlsbad oder Pyrmont, um mich jedes¬
[53] mal fein natürlich wieder auf die Beine zu bringen
und zurecht zu rücken. Kommt mir doch jezt meine
ganze Reiſe vor, wie eine Armee, wo man vorn
blitzende Schwerter und wehende Fahnen, hinter¬
drein aber einen langen Schwanz von Wägen und
Weibern ſieht, die auf alten Stühlen, Betten und
anderem Hausgeräth ſitzen und plaudern, kochen,
handeln und zanken, als wäre da vorn eben alles
nichts, daß einem alle Luſt zur Kourage vergeht.
Wahrhaftig, wenn du mitziehſt, meine weltliche
Roſa, ſo laſſe ich das ganze herrliche, tauſendfar¬
bige Rad meiner Reiſevorſätze fallen, wie der
Pfau, wenn er ſeine proſaiſchen Füße beſieht. —
Roſa, die ſein Wort von allem verſtanden hatte,
was ihr Bruder geſagt, ließ ſich nichts ausreden,
ſondern beharrte ruhig und feſt ihrem Entſchluſſe,
denn ſie gefiel ſich ſchon im Voraus zu ſehr als
Amazone zu Pferde und freute ſich auf neue Spek¬
takel. Friedrich, der eben hier dazu kam, ſchüt¬
telte den Kopf über ihr hartes Köpfchen, das ihm
unter allen Untugenden der Mädchen die unleidlich¬
ſte war. Noch tiefer aber ſchmerzte ihn ihre Hart¬
näckigkeit, da ſie doch wußte, daß er nicht mitrei¬
ſe, daß er es nur um Ihretwillen ausgeſchlagen
habe, und ihn wandelte heimlich die Luſt an, ſel¬
ber allein in alle Welt zu gehen. Leontin, der,
wie auf etwas ſinnend, unterdeß die beyden ver¬
liebten Geſichter angeſehen hatte, lachte auf einmal
auf. Nein, rief er, wahrhaftig, der Spaß iſt ſo
größer! Roſa, du ſollſt mitreiſen, und Faber und
Marie und Erwin und Haus und Hof. Wir wollen
[54] ſanft über die grünen Hügel wallen, wie Schäfer,
die Jäger ſollen die ungeſchlachten Hörner zu Hauſe
laſſen und Flöte blaſen. Ich will mit bloßem Hal¬
ſe geh'n, die Haare blond färben und ringeln, ich
will zahm ſeyn, auf den Zehen gehen und immer
mit zugeſpiztem Munde leiſe liſpeln: o theuerſte,
ſchöne Seele, o mein Leben, o mein Schaf! Ihr
ſollt ſehen, ich will mich bemühen, recht mit An¬
ſtand luſtig zu ſeyn. Dem Herrn Faber wollen wir
einen Strohhut mit Lillabänder auf das dicke Ge¬
ſicht ſezen und einen langen Stab in die Hand ge¬
ben, er ſoll den Zug anführen. Wir andern wer¬
den uns zuweilen zum Spaß im grünen Hayne ver¬
irren, und dann über unſer hartes Trennungsloos
aus unſeren ſpaßhaften Schmerzen ernſthafte Sonet¬
te machen. — Roſa, die von allem wieder nur ge¬
hört hatte, daß ſie mitreiſen dürfe, fiel hier ihrem
Bruder unterbrechend um den Hals und that ſo
ſchön in ihrer Freude, daß Friedrich wieder ganz
mit ihr ausgeſöhnt war. Es wurde nun verabre¬
det, daß ſie ſich noch heute Abend auf Leontins
Schloſſe einfinden ſollen, damit ſie alle Morgen
frühzeitig aufbrechen könnten, und ſie ſprang fröh¬
lich fort, um ihre Anſtalten zu treffen.


Als Friedrich und Leontin wieder nach Hauſe
kamen, begann lezterer, der ſeinen geſtrigen Schreck
faſt ſchon, ganz wieder vergeſſen zu haben ſchien,
ſogleich mit vieler Luſtigkeit zuſammenzurufen, Be¬
fehle auszutheilen und überall Allarm zu ſchlagen,
um, wie er ſagte, das Zigeunerleben bald von allen
Seiten aufzurühren. Roſa traf, wie ſie es ver¬
[55] ſprochen hatte, gegen Abend ein und fand auf der
Wieſe bey Mondenſchein bereits alles in der bun¬
teſten Bewegung. Die Jäger putzten ſingend ihre
Büchſen und Sattelzeug, andere verſuchten ihre
Hörner, Faber band ganze Ballen Papier zuſam¬
men, die kleine Marie ſprang zwiſchen allen leicht¬
fertig herum.


Alle begaben ſich heute etwas früher als ge¬
wöhnlich zur Ruhe. Als Friedrich eben einſchlum¬
merte, hörte er drauſſen einige volle Akkorde auf der
Laute anſchlagen. Bald darauf vernahm er Erwins
Stimme. Das Lied, das er ſang, rührte ihn wun¬
derbar, denn es war eine alte, einfache Melodie,
die er in ſeiner Kindheit ſehr oft, und ſeitdem nie¬
mals wieder gehört hatte. Er ſprang erſtaunt an's
Fenſter, aber Erwin hatte ſo eben wieder aufgehört.
Das Licht aus Roſa's Schlafzimmer am anderen
Flügel des Schloſſes war erloſchen, der Wind dreh¬
te knarrend die Wetterfahne auf dem Thurme, der
Mond ſchien außerordentlich hell. Friedrich ſah
Erwin wieder wie ſonſt mit der Guitarre auf der
Mauer ſitzen. Bald darauf hörte er den Knaben
ſprechen; eine durchaus unbekannte, männliche Stim¬
me ſchien ihm von Zeit zu Zeit Antwort zu geben.
Friedrich verdoppelte ſeine Aufmerkſamkeit, aber
er konnte nichts verſtehen, auch ſah er niemand auſ¬
ſer Erwin. Nur manchmal kam es ihm vor, als
lange ein langer Arm über die Mauer herüber nach
dem Knaben. Zulezt ſah er einen Schatten von
dem Knaben fort längſt der Mauer hinuntergehen.
Der Schatten wuchs beym Mondenſchein mit jedem
[56] Schritte immer höher und länger, bis er ſich end¬
lich in Rieſengröße in den Wald hinein verlohr.
Friedrich lehnte ſich ganz zum Fenſter hinaus,
aber er konnte nichts unterſcheiden. Erwin ſprach
nun auch nicht mehr und die ganze Gegend war
todtenſtill. Ein Schauer überlief ihn dabey. Sollte
dieſe Erſcheinung, dachte er, Zuſammenhang haben
mit Leontins Begebenheiten? Weiß vielleicht dieſer
Knabe um ſeine Geheimniſſe? Ihm fiel dabey ein,
daß ſich ſein ganzes Geſicht lebheft verändert hat¬
te, als Faber heute noch einmal Leontins geſtrigen
unbekannten Begegniſſes erwähnte. Beynahe hätte
er alles für einen überwachten Traum gehalten, ſo
ſeltſam kam es ihm vor, und er ſchlief endlich mit
ſonderbaren und abentheuerlichen Gedanken ein.

Fuͤnftes Kapitel.

Als draußen Berg und Thal wieder licht wa¬
ren, war der ganze bunte Trupp ſchon eine Stunde
weit von Leontins Schloſſe entfernt. Der ſonder¬
bare Zug gewährte einen luſtigen Anblick. Leontin
ritt ein unbändiges Pferd allen voraus. Er war
leicht und nachläſſig angezogen, und ſeine ganze
Geſtalt hatte etwas Ausländiſches. Friedrich ſah
durchaus deutſch aus. Faber dagegen machte den
allerſeltſamſten und abentheuerlichſten Aufzug. Er
[57] hatte einen runden Hut mit ungeheuer breiten
Krempen, der ihn, wie ein Schirm, gegen die Son¬
ne und Regen zugleich ſchüzen ſollte. An ſeiner
Seite hieng eine dickangeſchwollene Taſche mit
Schreibtafeln, Büchern und anderem Reiſegeräth
herab. Er war wie ein fahrender Skolaft anzuſehen.
Roſa ritt mitten unter ihnen ein ſchönes, frommes
Pferd auf einem weiblichen engliſchen Sattel. Ein
langes grünes Reitkleid, von einem goldenen Gürtel
zuſammengehalten, ſchmiegte ſich an ihre vollen
Glieder, ein blendendweiſſer Spitzkragen umſchloß
das ſchöne Köpfchen, von dem hohe Federn in die
Morgenluft nickten. Zu ihrer Begleitung hatte man
die kleine Marie beſtimmt, die ihr als Jägerknabe
folgte. Auch Erwin ritt mit und hatte die Guitar¬
re an einem himmelblauen Bande umgehangen.
Hinterdrein kamen mehrere Jäger mit wohlbepackten
Pferden.


Sie zogen eben über einen freyen Berggrücken
weg. Die Morgenſonne funkelte ihnen fröhlich ent¬
gegen. Roſa blickte Friedrich aus ihren großen
Augen ſo friſch und freudig an, daß es ihm durch
die Seele gieng. Als ſie auf den Gipfel kamen,
lag auf einmal ein unüberſehbar weites Thal im
Morgenſchimmer unter ihnen. Viktoria! rief Leon¬
tin fröhlich und ſchwang ſeinen Hut. Es geht doch
nichts über's Reiſen, wenn man nicht dahin oder
dorthin reist, ſondern in die weite Welt hinein,
wie es Gott gefällt! Wie uns aus Wäldern,
Bergen, aus blühenden Mädchengeſichtern, die von
lichten Schlöſſern grüßen, aus Strömen und alten
[58] Burgen das noch unbekannte, überſchwengliche Le¬
ben ernſt und fröhlich anſieht! — Das Reiſen, ſag¬
te Faber, iſt dem Leben vergleichſam. Das Leben
der Meiſten iſt eine immerwährende Geſchäftsreiſe
vom Buttermarkt zum Käſemarkt; das Leben der Poe¬
tiſchen dagegen ein freyes, unendliches Reiſen nach
dem Himmelreich. — Leontin, deſſen Widerſpruchsgeiſt
Faber jederzeit unwiderſtehlich anregte, ſagte dar¬
auf: Dieſe reiſenden Poetiſchen ſind wieder den
Paradießvögeln zu vergleichen, von denen man
fälſchlich glaubt, daß ſie keine Füße haben. Sie
müſſen doch auch herunter und in Wirthshäuſern
einkehren, und Vettern und Baſen beſuchen, und,
was ſie ſich auch für Zeug einbilden, das Fräulein
auf dem lichten Schloſſe iſt doch nur ein dummes,
höchſtens verliebtes, Ding, das die Liebe mit ihrem
bischen brennbaren Stoffe eine Weile in die Lufte
treibt, um dann deſto jämmerlicher, wie ein aus¬
geblaſener Dudelſack, wieder zur Erde zu fallen,
auf der alten, ſchönen, trozigen Burg findet ſich
auch am Ende nur noch ein kahler Landkavalier
u. ſ. w. Alles iſt Einbildung. — Du ſollteſt nicht
ſo reden, entgegnete Friedrich. Wenn wir von
einer inneren Freudigkeit erfüllt ſind, welche, wie
die Morgenſonne, die Welt überſcheint und alle
Begebenheiten, Verhältniſſe und Kreaturen zur ei¬
genthumlichen Bedeutung erhebt, ſo iſt dieſes freu¬
dige Licht vielmehr die wahre göttliche Gnade, in
der allein alle Tugenden und große Gedanken ge¬
deihen, und die Welt iſt wirklich ſo bedeutſam, jung
und ſchön, wie ſie unſer Gemüth in ſich ſelber an¬
[59] ſchaut. Der Mißmuth aber, die träge Niederge¬
ſchlagenheit und alle dieſe Entzauberungen, das iſt
die wahre Einbildung, die wir durch Gebeth und
Muth zu überwinden trachten ſollen, denn dieſe
verdirbt die urſprüngliche Schönheit der Welt. —
Iſt mir auch recht, erwiederte Leontin luſtig. —
Graf Friedrich, ſagte Faber, hat eine Unſchuld
in ſeinen Betrachtungen, eine Unſchuld. — Ihr
Dichter, fiel ihm Leontin haſtig ins Wort, ſeyd
alle euerer Unſchuld über den Kopf gewachſen, und,
wie ihr eure Gedichte ausſpendet, ſagt ihr immer:
da iſt ein prächtiges Kunſtſtück von meiner Kindlich¬
keit, da iſt ein beſonders wohleingerichtetes Stück
von meinem Patriotismus oder von meiner Ehre!
Friedrich erſtaunte, da Leontin ſo keck und
hart ausſprach, was er, als eine Läſterung aller
Poeſie, ſich ſelber zu denken niemals erlauben
mochte.


Roſa hatte unterdeß über dem Geſpräche meh¬
reremal gegähnt. Faber bemerkte es und da er ſich
jederzeit als ein galanter Verehrer des ſchönen Ge¬
ſchlechtes auszeichnete, ſo trug er ſich an, zu allge¬
meiner Unterhaltung eine Erzählung zum Beſten zu
geben. Nur nicht in Verſen, rief Roſa, denn da
verſteht man doch alles nur halb. Man rückte da¬
her näher zuſammen, Fabern in die Mitte neh¬
mend, und er erzählte folgende Geſchichte, während
ſie zwiſchen den waldigten Bergen langſam fort¬
zogen:


Es war einmal ein Ritter. — Das fängt ja
an, wie ein Mährchen, unterbrach ihn Roſa. —
[60] Faber ſezte von friſchem an: Es war einmal ein
Ritter, der lebte tief im Walde auf ſeiner alten
Burg in geiſtlichen Betrachtungen und ſtrengen Bu߬
übungen. Kein Fremder beſuchte den frommen Rit¬
ter, alle Wege zu ſeiner Burg waren lange mit
hohem Graſe überwachſen und nur das Glöcklein,
das er bey ſeinen Gebethen von Zeit zu Zeit zog,
unterbrach die Stille und klang in hellen Nächten
weit über die Wälder weg. Der Ritter hatte ein
junges Töchterlein, die machte ihm viel Kummer,
denn ſie war ganz anderer Sinnesart als ihr Va¬
ter und all ihr Trachten gieng nur auf weltliche
Dinge. Wenn ſie Abends am Spinnrocken ſaß,
und er ihr aus ſeinen alten Büchern die wunderba¬
ren Geſchichten von den heiligen Märtyrern vorlas,
dachte ſie immer heimlich bey ſich: das waren wohl
rechte Thoren, und hielt ſich für weit klüger, als
ihr alter Vater, der alle die Wunder glaubte. Oft,
wenn ihr Vater weg war, blätterte ſie in den Bü¬
chern und mahlte den Heiligen, die darin abgebil¬
det waren, große Schnurrbärte — Roſa lachte
hierbey laut auf. — Was lachſt du? fragte Leontin
ſpitzig und Faber fuhr in ſeiner Erzählung fort:
Sie war ſehr ſchön und klüger als alle die anderen
Kinder in ihrem Alter, weswegen ſie ſich auch im¬
mer mit ihnen zu ſpielen ſchämte, und wer mit ihr
ſprach, glaubte eine erwachſene Perſon reden zu
hören, ſo geſcheid und künſtlich waren alle ihre
Worte geſezt. Dabey gieng ſie bey Tag und Nacht
ganz allein im Walde herum, ohne ſich zu fürch¬
ten, und lachte immer den alten Burgvogt aus,
[61] der ihr ſchauerliche Geſchichten vom Waſſermann er¬
zählte. Gar oft ſtand ſie dann an dem blauen
Fluſſe im Walde und rief mit lachendem Munde:
Waſſermann ſoll mein Bräutigam ſeyn! Waſſermann
ſoll mein Bräutigam ſeyn!


Als nun der Vater zum ſterben kam, rief er
die Tochter zu ſeinem Bette und übergab ihr einen
großen Ring, der war ſehr ſchwer von purem
Golde gearbeitet. Er ſagte dabey zu ihr: Dieſer
Ring iſt vor uralten Zeiten von einer kunſtreichen
Hand verfertiget. Einer deiner Vorfahren hat ihn
in Paläſtina, mitten im Getümmel der Schlacht
erfochten. Dort lag er unter Blut und Staub auf
dem Boden, aber er blieb unbefleckt und glänzte ſo
hell und durchdringlich, daß ſich alle Roſſe davor
bäumten und keines ihn mit ſeinem Hufe zertreten
wollte. Alle deine Mütter haben den Ring getra¬
gen und Gott hat ihren frommen Eheſtand geſegnet.
Nimm du ihn nun auch hin und betrachte ihn alle
Morgen mit rechten Sinnen, ſo wird ſein Glanz
dein Herz erquicken und ſtärken. Wenden ſich aber
deine Gedanken und Neigungen zum Böſen, ſo ver¬
löſcht ſein Glanz mit der Klarheit deiner Seele und
wird dir gar trübe erſcheinen. Bewahre ihn treu
an deinem Finger, bis du einen tugendhaften Mann
gefunden. Denn welcher Mann ihn einmal an ſei¬
ner Hand trügt, der kann nicht mehr von Dir
laſſen, und wird dein Bräutigam. — Bey dieſen
Worten verſchied der alte Ritter.

[62]

Ida blieb nun allein zurück. Ihr war längſt
angſt und bange auf dem alten Schloſſe geweſen,
und da ſie jezt ungeheure Schäze in den Kellern
ihres Vaters vorfand, ſo veränderte ſie ſogleich ihre
ganze Lebensweiſe. — Gott ſey Dank, ſagte Roſa,
denn bis jezt war ſie wahrhaftig ziemlich langwei¬
lig. — Faber fuhr wieder fort: Die dunkeln Bo¬
gen, Thore und Höfe der alten Burg wurden nie¬
dergeriſſen und ein neues, lichtes Schloß mit blen¬
dendweiſſen Mauern und kleinern, luftigen Thürm¬
chen erhob ſich bald über den alten Steinen. Ein
großer, ſchöner Garten wurde daneben angelegt,
durch den der blaue Fluß vorüberfloß. Da ſtanden
tauſenderley hohe, bunte Blumen, Waſſerkünſte
ſprangen dazwiſchen und zahme Rehe giengen darin
ſpazieren. Der Schloßhof wimmelte von Roſſen und
reichgeſchmückten Edelknaben, die luſtige Lieder auf
ihr ſchönes Fräulein ſangen. Sie ſelber war nun
ſchon groß und außerordentlich ſchön geworden. Von
Oſt und Weſt kamen daher nun reiche und junge
Freyer angezogen, und die Straſſen, die zu dem
Schloſſe führten, blizten von blanken Reitern, Hel¬
men und Federbüſchen.


Das gefiel dem Fräulein gar wohl, aber ſo
gern ſie auch alle Männer hatte, ſo mochte ſie doch
mit keinem Einzelnen ihren Ring auswechſeln; denn
jeder Gedanke an die Ehe war ihr lächerlich und
verhaßt. Was ſoll ich, ſagte ſie zu ſich ſelbſt, mei¬
ne ſchöne Jugend verkümmern, um in abgeſchiede¬
ner, langweiliger Einſamkeit eine armſelige Haus¬
mutter abzugeben, anſtatt daß ich jezt ſo frey bin,
[63] wie der Vogel in der Luft. Dabey kamen ihr alle
Männer gar dummlich vor, weil ſie entweder zu
unbehülflich waren, ihrem müſſigen Witze nachzu¬
kommen, oder auf andre, hohe Dinge ſtolz thaten,
an die ſie nicht glaubte. Und ſo betrachtete ſie ſich
in ihrer Verblendung als eine reizende Fee unter
verzauberten Bären und Affen, die nach ihrem Win¬
ke tanzen und aufwarten mußten. Der Ring wur¬
de indeß von Tag zu Tage trüber.


Eines Tages gab ſie ein glänzendes Banket.
Unter einem prächtigen Zelte, daß im Garten auf¬
geſchlagen war, ſaſſen die jungen Ritter und Frauen
um die Tafel, in ihrer Mitte das ſtolze Fräulein,
gleich einer Königin, und ihre witzigen Redensarten
überſtrahlten den Glanz der Perlen und Edelgeſteine,
womit ihr Hals und Buſen geſchmückt war. Recht
wie ein wurmſtichiger Apfel, ſo ſchön roth und be¬
trüglich, war ſie anzuſehen. Der goldene Wein
kreißte fröhlich herum, die Ritter ſchauten kühner,
üppig lockende Lieder zogen hin und wieder im Gar¬
ten durch die ſommerlaue Luft. Da fielen Ida's
Blicke zufällig auf ihren Ring. Der war auf ein¬
mal finſter geworden, und ſein verlöſchender Glanz
that nur eben noch einen ſeltſamen, dunkelglühen¬
den Blick auf ſie. Sie ſtand ſchnell auf und gieng
an den Abhang des Gartens. Du einfältiger Stein,
ſollſt mich nicht länger mehr ſtören! ſagte ſie in
ihrem Uebermuthe lachend, zog den Ring vom Fin¬
ger und warf ihn in den Strom hinunter. Er be¬
ſchrieb im Fluge einen hellſchimmernden Bogen und
tauchte ſogleich in den tiefſten Abgrund hinab.
[64] Darauf kehrte ſie wieder in den Garten zurück,
aus dem die Töne wollüſtig nach ihr zu langen
ſchienen.


Am andern Tage ſaß Ida allein im Garten und
ſah in den Fluß hinunter. Es war gerade um die
Mittagszeit. Alle Gäſte waren fortgezogen, die
ganze Gegend lag ſtill und ſchwüle. Einzelne, ſelt¬
ſamgeſtaltete Wolken zogen langſam über den dun¬
kelblauen Himmel; manchmal flog ein plötzlicher
Wind über die Gegend, und dann war es,
als ob die Felſen und die alten Bäume ſich über
den Fluß unten neigten und miteinander über ſie
beſprächen. Ein Schauder überlief Ida. Da ſah
ſie auf einmal einen ſchönen, hohen Ritter, der
auf einem ſchneeweiſſen Roße die Straſſe hergeritten
kam. Seine Rüſtung und ſein Helm war waſſer¬
blau, eine waſſerblaue Binde flatterte in der Luft,
ſeine Sporen waren von Kryſtall. Er grüßte ſie
freundlich, ſtieg ab und kam zu ihr. Ida ſchrie laut
auf vor Schreck, denn ſie erblickte den alten wun¬
derthätigen Ring, den ſie geſtern in den Fluß ge¬
worfen hatte, an ſeinem Finger, und dachte ſo¬
gleich daran, was ihr ihr Vater auf dem Todtbet¬
te prophezeiht hatte. Der ſchöne Ritter zog ſogleich
eine dreyfache Schnur von Perlen hervor und hieng
ſie dem Fräulein um den Hals; dabey küßte er ſie
auf den Mund, nannte ſie ſeine Braut und ver¬
ſprach, ſie heute Abend heimzuholen. Ida konnte
nichts antworten, denn es kam ihr vor, als läge
ſie in einem tiefen Schlafe, und doch vernahm ſie
den[65] den Ritter, der in gar lieblichen Worten zu ihr
ſprach, ganz deutlich, und hörte dazwiſchen auch den
Strom, wie über ihr, immerfort verworren drein¬
rauſchen. Darauf ſah ſie den Ritter ſich wieder auf
ſeinen Schimmel ſchwingen und ſo ſchnell in den
Wald zurückſpringen, daß der Wind hinter ihm
dreinpfiff.


Als es gegen Abend kam, ſtand ſie in ihrem
Schloſſe am Fenſter und ſchaute in das Gebirge hin¬
aus, das ſchon die graue Dämmerung zu überziehen
anfieng. Sie ſann hin und her, wer der ſchöne
Ritter ſeyn möge, aber ſie konnte nichts heraus¬
bringen. Eine niegefühlte Unruhe und Aengſtlichkeit
überfiel dabey ihre Seele, die immer mehr zunahm,
je dunkler draußen die Gegend wurde. Sie nahm
die Zitter, um ſich zu zerſtreuen. Es fiel ihr ein
altes Lied ein, das ſie als Kind oft ihren Vater
in der Nacht, wenn ſie manchmal erwachte, hatte
ſingen hören. Sie fieng an zu ſingen:

Obſchon iſt hin der Sonnenſchein

Und wir im Finſtern müſſen ſeyn,

So können wir doch ſingen

Von Gottes Güt' und ſeiner Macht,

Weil uns kann hindern keine Nacht,

Sein Lobe zu vollbringen.

Die Thränen brachen ihr hiebey aus den Augen,
und ſie mußte die Zitter weglegen, ſo weh war ihr
zu Muthe.

5[66]

Endlich, da es draußen ſchon ganz finſter ge¬
worden, hörte ſie auf einmal ein großes Getös von
Roßeshufen und fremden Stimmen. Der Schloßhof
füllte ſich mit Windlichtern, bey deren Scheine ſie
ein wildes Gewimmel von Wagen, Pferden, Rit¬
tern und Frauen erblickte. Die Hochzeitsgäſte ver¬
breiteten ſich bald in der ganzen Burg, und ſie er¬
kannte alle ihre alten Bekannten, die auch lezthin
auf dem Banket bey ihr geweſen waren. Der ſchö¬
ne Bräutigam, wieder ganz in waſſerblaue Seide
gekleidet, trat zu ihr und erheiterte gar bald ihr
Herz durch ſeine anmuthigen und ſüſſen Reden.
Muſikanten ſpielten luſtig, Edelknaben ſchenkten
Wein herum und alles tanzte und ſchmaußte in
freudenreichem Schalle.


Während dem Feſte trat Ida mit ihrem Bräu¬
tigam ans offene Fenſter. Die Gegend war unten
weit und breit ſtill, wie ein Grab, nur der Fluß
rauſchte aus dem finſteren Grunde herauf. Was
ſind das für ſchwarze Vögel, fragte Ida, die da
in langen Schaaren ſo langſam über den Himmel
zieh'n? — Sie ziehen die ganze Nacht fort, ſagte
der Bräutigam, ſie bedeuten deine Hochzeit. —
Was ſind das für fremde Leute, fragte Ida wie¬
der, die dort drunten am Fluſſe auf den Steinen
ſitzen und ſich nicht rühren? — Das ſind meine
Diener, ſagte der Bräutigam, die auf uns war¬
ten. — Unterdeß fiengen ſchon lichte Streifen an,
ſich am Himmel aufzurichten und aus den Thälern
hörte man von ferne Hähne krähen. Es wird ſo
kühl, ſagte Ida und ſchloß das Fenſter. In mei¬
[67] nem Hauſe iſt es noch viel kühler, erwiederte der
Bräutigam, und Ida ſchauderte unwillkührlich zu¬
ſammen.


Darauf faßte er ſie beym Arme und führte
ſie mitten unter den luſtigen Schwarm zum Tanze.
Der Morgen rückte indeß immer näher, die Kerzen
im Saale flackerten nur noch matt und löſchten zum
Theil gar aus. Während Ida mit ihrem Bräuti¬
gam herumwalzte, bemerkte ſie mit Grauſen, daß
er immer bläſſer ward, je lichter es wurde. Drauſ¬
ſen vor den Fenſtern ſah ſie lange Männer mit
ſeltſamen Geſichtern ankommen, die in den Saal
hereinſchauten. Auch die Geſichter der übrigen Gä¬
ſte und Bekannten veränderten ſich nach und nach,
und ſie ſahen alle aus wie Leichen. Mein Gott,
mit wem habe ich ſo lange Zeit gelebt! rief ſie
aus. Sie konnte vor Ermattung nicht mehr fort
und wollte ſich loswinden, aber der Bräutigam
hielt ſie feſt um den Leib und tanzte immerfort,
bis ſie athemlos auf die Erde hinſtürzte.


Frühmorgens, als die Sonne fröhlich über das
Gebirge ſchien, ſah man den Schloßgarten auf dem
Berge verwüſtet, im Schloſſe war kein Menſch zu
finden, und alle Fenſter ſtanden weit offen. Die
Reiſenden, die bey hellem Mondenſchein oder um
die Mittagszeit an dem Fluſſe vorübergiengen, ſa¬
hen oft ein junges Mädchen ſich mitten im Strome
mit halbem Leibe über das Waſſer emporheben.
Sie war ſehr ſchön, aber todtenblaß.

5 *[68]

So endigte Faber ſeine Erzählung. Erſchreck¬
lich! rief Leontin, ſich, wie vor Froſt, ſchüttelnd.
Roſa ſchwieg ſtill. Auf Friedrich hatte das
Mährchen einen tiefen und ganz beſonderen Eindruck
gemacht. Er konnte ſich nicht enthalten, während
der ganzen Erzählung, mit einem unbeſtimmten,
ſchmerzlichen Gefühle an Roſa zu denken, und es
kam ihm vor, als hätte Faber ſelber nicht ohne
heimliche Abſicht gerade dieſe Erfindung gewählt.


Fabers Mährchen gab Veranlaſſung, daß auch
Friedrich und Leontin mehrere Geſchichten erzähl¬
ten, woran aber Roſa immer nur einen entfern¬
ten Antheil nahm. So vergieng dieſer Tag unter
fröhlichen Geſprächen, ehe ſie es ſelber bemerkten,
und der Abend überraſchte ſie mitten im Walde in
einer unbekannten Gegend. Sie ſchlugen daher den
erſten Weg ein, der ſich ihnen darboth, und ka¬
men ſchon in der Dunkelheit bey einem Bauernhau¬
ſe an, das ganz allein im Walde ſtand, und wo
ſie zu übernachten beſchloſſen. Die Hauswirthinn,
ein junges, rüſtiges Weib, wußte nicht, was ſie
aus dem ganzen unerwarteten Beſuche machen ſollte
und maaß ſie mit Blicken, die eben nicht das beſte
Zutrauen verriethen. Die luſtigen Reden und
Schwänke Leontins und ſeiner Jäger aber brachten
ſie bald in die beſte Laune, und ſie bereitete alles
recht mit Luſt zu ihrer Aufnahme.


Nach einem flüchtig eingenommenen Abendeſſen
ergriffen Leontin, Faber und die Jäger ihre Flinten
und giengen noch in den Wald hinaus auf den An¬
[69] ſtand, da ihnen die gefällige Bäuerinn mit einer
gewiſſen verſtohlenen Vertraulichkeit den Platz ver¬
rathen hatte, wo das Wild gewöhnlich zu wechſeln
pflegte. Roſa fürchtete ſich nun hier allein zurück¬
zubleiben, und bath daher Friedrich, ihr Geſell¬
ſchaft zu leiſten, welches dieſer mit Freuden an¬
nahm. Beyde ſezten ſich, als alles fort war, auf
die Bank an der Hausthüre vor den weiten Kreis
der Wälder. Friedrich hatte die Guitarre bey
ſich und griff einige volle Akkorde, welche ſich in
der heiteren, ſtillen Nacht herrlich ausnahmen.
Roſa war in dieſer ungewohnten Lage ganz verän¬
dert. Sie war einmal ohne alle kleine Launen,
hingebend, ungewöhnlich vertraulich und liebens¬
würdig ermattet. Friedrich glaubte ſie noch nie¬
mals ſo angenehm geſehen zu haben. Er hatte ihr
ſchon längſt verſprechen müſſen, ſeine ganze Ju¬
gendgeſchichte einmal ausführlich zu erzählen. Sie
bath ihn nun, ſein Verſprechen zu erfüllen, bis die
andern zurückkämen. Er war gerade auch aufgelegt
dazu und begann daher, während ſie, mit dem ei¬
nen Arme auf ſeine Achſel gelehnt, ſo nahe als
möglich an ihn rückte, folgendermaſſen zu erzählen:


Meine früheſten Erinnerungen verlieren ſich in
einem großen, ſchönen Garten. Lange, hohe Gän¬
ge von gradbeſchnittenen Baumwänden laufen nach
allen Richtungen zwiſchen großen Blumenfeldern
hin, Waſſerkünſte rauſchen einſam dazwiſchen, die
Wolken ziehen hoch über die dunkeln Gänge weg,
ein wunderſchönes kleines Mädchen, älter als ich,
ſizt an der Waſſerkunſt und ſingt welſche Lieder,
[70] während ich oft Stundenlang an den eiſernen Stä¬
ben des Gartenthors ſtehe, das an die Straſſe
ſtößt, und ſehe, wie drauſſen der Sonnenſchein wech¬
ſelnd über Wälder und Wieſen fliegt, und Wa¬
gen, Reuter und Fußgänger am Thore vorüber in
die glänzende Ferne hinausziehen. Dieſe ganze ſtil¬
le Zeit liegt weit hinter alle dem Schwalle der
ſeitdem durchlebten Tage, wie ein uraltes, wehemü¬
thig ſüßes Lied, und wenn mich oft nur ein einzel¬
ner Ton davon wieder berührt, faßt mich ein un¬
beſchreibliches Heimweh, nicht nur nach jenen Gär¬
ten und Bergen, ſondern nach einer viel ferneren
und tieferen Heimath, von welcher jene nur ein
lieblicher Wiederſchein zu ſeyn ſcheint. Ach, warum
müſſen wir jene unſchuldige Betrachtung der Welt,
jene wundervolle Sehnſucht, jenen geheimnißvollen,
unbeſchreiblichen Schimmer der Natur verlieren, in
dem wir nur manchmal noch im Traume unbekann¬
te, ſeltſame Gegenden wieder ſehen!


Und wie war es denn nun weiter? fiel ihm
Roſa ins Wort.


Meinen Vater und meine Mutter, fuhr Frie¬
drich
fort, habe ich niemals geſehen. Ich lebte
auf dem Schloſſe eines Vormunds. Aber eines äl¬
teren Bruders erinnere ich mich ſehr deutlich. Er
war ſchön, wild, witzig, keck und dabey ſtörriſch,
tiefſinnig und menſchenſcheu. Dein Bruder Leontin
ſieht ihm ſehr ähnlich und iſt mir darum um deſto
theurer. Am beſten kann ich mir ihn vorſtellen,
wenn ich an einen Umſtand zurückdenke. An unſerm
[71] alterthümlichen Schloſſe lief nemlich eine große ſtei¬
nerne Gallerie rings herum. Dort pflegten wir bey¬
de gewöhnlich des Abends zu ſizen, und ich erinnere
mich noch immer an den eignen, ſehnſuchtsvollen
Schauer, mit dem ich hinunterſah, wie der Abend
blutroth hinter den ſchwarzen Wäldern verſank und
dann nach und nach alles dunkel wurde. Unſere
alte Wärterin erzählte uns dann gewöhnlich das
Mährchen von dem Kinde, dem die Mutter mit
dem Kaſten den Kopf abſchlug und das darauf als
ein ſchöner Vogel drauſſen auf den Bäumen ſang.
Rudolph, ſo hieß mein Bruder, lief oder ritt un¬
terdeß auf dem ſteinernen Geländer der Gallerie
herum, daß mir vor Schwindel alle Sinne vergien¬
gen. Und in dieſer Stellung ſchwebt mir ſein Bild
noch immer vor, das ich von dem Mährchen, den
ſchwarzen Wäldern unten und den ſeltſamen Abend¬
lichtern gar nicht trennen kann. Da er wenig lern¬
te und noch weniger gehorchte, wurde er kalt und
übel behandelt. Oft wurde ich ihm als Muſter vor¬
geſtellt, und dieß war mein größter und tiefſter
Schmerz, den ich damals hatte, denn ich liebte ihn
unausſprechlich. Aber er achtete wenig darauf.
Das ſchöne italiäniſche Mädchen fürchtete ſich vor
ihm, ſo oft ſie mit ihm zuſammen kam, und doch
ſchien ſie ihn immer wieder von neuem aufzuſuchen.
Mit mir dagegen war ſie ſehr vertraulich und oft
ausgelaſſen luſtig. Alle Morgen, wenn es ſchön
war, gieng ſie in den Garten hinunter und wuſch
ſich an der Waſſerkunſt die hellen Augen und den
kleinen, weißen Hals, und ich mußte ihr während¬
[72] deß die zierlichen Zöpfchen flechten helfen, die ſie
dann in einen Kranz über dem Scheitel zuſammen¬
heftete. Dabey ſang ſie immer folgendes Liedchen,
das mir mit ſeiner ganz eignen Melodie noch im¬
mer ſehr deutlich vorſchwebt:


Zwiſchen Bergen, liebe Mutter,

Weit den Wald entlang,

Reiten da drey junge Jäger

Auf drey Rößlein blank,

lieb' Mutter,

Auf drey Rößlein blank.
Ihr könn't fröhlich ſeyn, lieb' Mutter,

Wird es drauſſen ſtill:

Kommt der Vater heim vom Walde,

Küßt Euch wie er will,

lieb' Mutter,

Küßt Euch wie er will.
Und ich werfe mich im Bettchen

Nachts ohn' Unterlaß,

Kehr' mich links und kehr' mich rechtshin,

Nirgends hab' ich was,

lieb' Mutter,

Nirgends hab' ich was.
Bin ich eine Frau erſt einmal,

In der Nacht dann ſtill

Wend' ich mich nach allen Seiten,

Küß', ſo viel ich will,

lieb' Mutter,

Küß', ſo viel ich will.

Sie ſang das Liedchen ganz allerliebſt. Das
arme Kind wußte wohl damals ſelbſt noch nicht
deutlich, was ſie ſang. Aber einmal fuhren die
[73] Alten, die ſie darüber belauſcht hatten, gar tüppiſch
mit harten Verweiſen drein, und ſeitdem, erinnere
ich mich, ſang ſie daß Lied heimlich noch viel lieber.

So lebten wir lange Zeit in Frieden nebenein¬
ander, und es fiel mir gar nicht ein, daß es je¬
mals anders werden könnte, nur daß Rudolph im¬
mer finſterer wurde, je mehr er heranwuchs. Um
dieſe Zeit hatte ich mehreremale ſehr ſchwere und
furchtbare Träume. Ich ſah nemlich immer meinen
Bruder Rudolph in einer Rüſtung, wie ſie ſich auf
einem alten Ritterbilde auf unſerem Vorſaale be¬
fand, durch ein Meer von durcheinanderwogenden
ungeheuren Wolken ſchreiten, wobey er ſich mit ei¬
nem langen Schwerte rechts und links Bahn zu
hauen ſchien. So oft er mit dem Schwerte die
Wolken berührte, gab es eine Menge Funken, die
mich mit ihren vielfarbigen Lichtern blendeten, und
bey jedem ſolchen Leuchten kam mir auch Rudolphs
Geſicht plötzlich blaß und ganz verändert vor. Wäh¬
rend ich mich nun mit den Augen ſo recht in den
Wolkenzug vertiefte, bemerkte ich mit Verwunde¬
rung, daß es eigentlich keine Wolken waren, ſon¬
dern ſich alles nach und nach in ein langes, dunk¬
les, ſeltſamgeformtes Gebirg verwandelte, vor dem
mir ſchauderte, und ich konnte gar nicht begreifen,
wie ſich Rudolph dort ſo allein nicht fürchtete.
Seitwärts von dem Gebirge ſah ich eine weite
Landſchaft, deren unbeſchreibliche Schönheit und
wunderbaren Farbenſchimmer ich niemals vergeſſen
habe. Ein großer Strom gieng mitten hindurch bis
in eine unabſehbare duftige Ferne, wo er ſich mit
[74] Geſang zu verlieren ſchien. Auf einem ſanftgrünen
Hügel über dem Strome ſaß Angelina, das italiä¬
niſche Mädchen, und zog mit ihrem kleinen, roſi¬
gen Finger zu meinem Erſtaunen einen Regenbogen
über den blauen Himmel. Unterdeß ſah ich, daß ſich
das Gebirge anfieng, wunderſam zu regen; die Bäu¬
me ſtreckten lange Arme aus, die ſich wie Schlan¬
gen ineinander ſchlungen, die Felſen dehnten ſich zu
ungeheuren Drachengeſtalten aus, andre zogen
Geſichter mit langen Naſen, die ganze wunderſchö¬
ne Gegend überzog und verdeckte dabey ein qual¬
mender Nebel. Zwiſchen den Felſenſpalten ſtreckte
Rudolph den Kopf hervor, der auf einmal viel äl¬
ter und ſelber wie von Stein ausſah, und lachte
übermäſſig mit ſeltſamen Geberden. Alles verwirr¬
te ſich zulezt und ich ſah nur die entfliehende Ange¬
lina mit ängſtlich zurückgewandtem Geſicht und
weißem, flatterndem Gewande, wie ein Bild über
einen grauen Vorhang, vorüberſchweben. Eine
große Furcht überfiel mich da jedesmal und ich
wachte vor Schreck und Entſezen auf.


Dieſe Träume, die ſich, wie geſagt, mehreremal
wiederholten, machten einen ſo tiefen Eindruck auf
mein kindiſches Gemüth, daß ich nun meinen Bru¬
der oft heimlich mit einer Art von Furcht betrachte¬
te, auch die ſeltſame Geſtaltung des Gebirges nie
wieder vergaß.


Eines Abends, da ich eben im Garten herum¬
gieng und zuſah, wie es in der Ferne an den Ber¬
gen gewitterte, trat auf einmal an dem Ende eines
[75] Bogenganges Rudolph zu mir. Er war finſterer
als gewöhnlich. Siehſt du das Gebirge dort? ſag¬
te er, auf die fernen Berge deutend. Drüben liegt
ein viel ſchöneres Land, ich habe ein einzigesmal
hinuntergeblickt. Er ſezte ſich ins Gras hin, dann
ſagte er in einer Weile wieder: hörſt du, wie jezt
in der weiten Stille unten die Ströme und Bäche
rauſchen und wunderbarlich locken? Wenn ich ſo
hinunterſtiege in das Gebirge hinein, ich gienge
fort und immer fort, du würdeſt unterdeß alt, das
Schloß wäre auch verfallen und der Garten hier
lange einſam und wüſte. — Mir fiel bey dieſen
Worten mein Traum wieder ein, ich ſah ihn an,
und auch ſein Geſicht kam mir in dem Augenblicke
gerade ſo vor, wie es mir im Traume immer er¬
ſchien. Eine niegefühlte Angſt überwältigte mich
und ich fieng an zu weinen. Weine nur nicht!
ſagte er hart und wollte mich ſchlagen. Unterdeß
kam Angelina mit neuem Spielzeuge luſtig auf uns
zugeſprungen und Rudolph entfernte ſich wieder in
den dunkeln Bogengang. Ich ſpielte nun mit dem
munteren Mädchen auf dem Raſenplatze vor dem
Schloſſe und vergaß darüber alles das vorhergegan¬
gene. Endlich trieb uns der Hofmeiſter zu Bette.
Ich erinnere mich nicht, daß mir als Kind irgend
etwas widerwärtiger geweſen wäre, als das zeitige
Schlafengehen, wenn alles drauſſen noch ſchallte
und ſchwärmte und meine ganze Seele noch ſo wach
war. Dieſer Abend war beſonders ſchön und
ſchwül. Ich legte mich unruhig nieder. Die Bäu¬
me rauſchten durch das offene Fenſter herein, die
[76] Nachtigall ſchlug tief aus dem Garten, dazwiſchen
hörte ich noch manchmal Stimmen unter dem Fen¬
ſter ſprechen, bis ich endlich nach langer Zeit ein¬
ſchlummerte. Da kam es mir auf einmal vor, als
ſchiene der Mond ſehr hell durch die Stube, mein
Bruder erhöbe ſich aus ſeinem Bett und gienge
verſchiedentlich im Zimmer herum, neige ſich dann
über mein Bett und küſſe mich. Aber ich konnte
mich durchaus nicht beſinnen.


Den folgenden Morgen wachte ich ſpäter auf,
als gewöhnlich. Ich blickte ſogleich nach dem Bet¬
te meines Bruders, und ſah, nicht ohne Ahnung
und Schreck, daß es leer war. Ich lief ſchnell in
den Garten hinaus, da ſaß Angelina am Spring¬
brunnen und weinte heftig. Meine Pflegeältern
und alle im ganzen Hauſe waren heimlich, verwirrt
und verſtört, und ſo erfuhr ich erſt nach und nach,
daß Rudolph in dieſer Nacht entflohen ſey. Man
ſchickte Boten nach allen Seiten aus, aber keiner
brachte ihn mehr wieder.


Und habt ihr denn ſeitdem niemals wieder et¬
was von ihm gehört? fragte Roſa.


Es kam wohl die Nachricht, ſagte Friedrich,
daß er ſich bey einem Freykorps habe anwerben laſ¬
ſen, nachher gar, daß er in einem Treffen geblie¬
ben ſey. Aber aus ſpäteren, einzelnen, abgebro¬
chenen Reden meiner Pflegeältern gelangte ich wohl
zu der Gewißheit, daß er noch am Leben ſeyn müſ¬
ſe. Doch thaten ſie ſehr heimlich damit und hörten
ſogleich auf zu ſprechen, wenn ich hinzutrat; und
[77] ſeitdem habe ich von ihm nichts mehr ſehen, noch
erfahren können.


Bald darauf verließ auch Angelina mit ihrem
Vater, der weitläufig mit uns verwandt war, un¬
ſer Schloß und reiste nach Italien zurück. Es iſt
ſonderbar, daß ich mich auf die Züge des Kindes
nie wieder beſinnen konnte. Nur ein leiſes, freund¬
liches Bild ihrer Geſtalt und ganzen lieblichen Ge¬
genwart blieb mir übrig. Und ſo war denn nun
das Kleeblatt meiner Kindheit zerriſſen und Gott
weiß, ob wir uns jemals wiederſehen. — Mir war
zum Sterben bange, mein Spielzeug freute mich
nicht mehr, der Garten kam mir unausſprechlich
einſam vor. Es war, als müßte ich hinter jedem
Baume, an jedem Bogengange noch Angelina oder
meinem Bruder begegnen, das einförmige Plät¬
ſchern der Waſſerkünſte Tag und Nacht hindurch
vermehrte nur meine tiefe Bangſamkeit. Mir war
es unbegreiflich, wie es meine Pflegeältern hier
noch aushalten konnten, wie alles um mich herum
ſeinen alten Gang fortgieng, als wäre eben alles
noch, wie zuvor.


Damals gieng ich oft heimlich und ganz allein
nach dem Gebirge, das mir Rudolph an jenem lez¬
ten Abend gezeigt hatte, und hoffte in meinem kin¬
diſchen Sinne zuverſichtlich, ihn dort noch wiederzu¬
finden. Wie oft überfiel mich dort ein Grauſen vor
den Bergen, wenn ich mich manchmal droben ver¬
ſpätet hatte und nur noch die Schläge einſamer
Holzhauer durch die dunkelgrünen Bogen herauf¬
[78] ſchallten, während tief unten ſchon hin und her Lich¬
ter in den Dörfern erſchienen, aus denen die Hun¬
de fern bellten. Auf einem dieſer Streifzüge ver¬
fehlte ich beym Herunterſteigen den rechten Weg
und konnte ihn durchaus nicht wiederfinden. Es war
ſchon dunkel geworden und meine Angſt nahm mit
jeder Minute zu. Da erblickte ich ſeitwärts ein
Licht; ich gieng darauf los und kam an ein kleines
Häuschen. Ich guckte furchtſam durch das erleuch¬
tete Fenſter hinein und ſah darin in einer freundli¬
chen Stube eine ganze Familie friedlich um ein lu¬
ſtigflackerndes Heerdfeuer gelagert. Der Vater, wie
es ſchien, hatte ein Büchelchen in der Hand und
las vor. Mehrere ſehr hübſche Kinder faſſen im
Kreiſe um ihn herum und hörten, die Köpfchen in
beyde Arme aufgeſtüzt, mit der größten Aufmerk¬
ſamkeit zu, während eine junge Frau daneben ſpann
und von Zeit zu Zeit Holz an das Feuer legte.
Der Anblick machte mir wieder Muth, ich trat in
die Stube hinein. Die Leute waren ſehr erſtaunt,
mich bey ihnen zu ſehen, denn ſie kannten mich
wohl, und ein junger Burſche wurde ſogleich fort¬
geſandt, ſich anzukleiden, um mich auf das Schloß
zurück zu geleiten. Der Vater ſezte unterdeß, da
ich ihn darum bat, ſeine Vorleſung wieder fort.
Die Geſchichte wollte mich bald ſehr anmuthig und
wundervoll bedünken. Mein Begleiter ſtand ſchon
lange fertig an der Thüre. Aber ich vertiefte mich
immer mehr in die Wunder; ich wagte kaum zu
athmen und hörte zu und immer zu und wäre die
ganze Nacht geblieben, wenn mich nicht der Mann
[79] endlich erinnert hätte, daß meine Aeltern in Angſt
kommen würden, wenn ich nicht bald nach Hauſe
gienge. Es war der gehörnte Siegfried, den er
las.


Roſa lachte. — Friedrich fuhr, etwas ge¬
ſtört, fort:


Ich konnte dieſe ganze Nacht nicht ſchlafen, ich
dachte immerfort an die ſchöne Geſchichte. Ich be¬
ſuchte nun das kleine Häuschen faſt täglich und der
gute Mann gab mir von den erſehnten Büchern mit
nach Hauſe, ſo viel ich nur wollte. Es war gerade
in den erſten Frühlingstagen. Da ſaß ich denn ein¬
ſam im Garten und las die Magelone, Genovefa,
die Heymonskinder und viele andere unermüdet der
Reihe nach durch. Am liebſten wählte ich dazu
meinen Sitz in dem Wipfel eines hohen Birnbau¬
mes, der am Abhange des Gartens ſtand, von wo
ich dann über das Blüthenmeer der niederen Bäu¬
me weit ins Land ſchauen konnte, oder an ſchwü¬
len Nachmittagen die dunklen Wetterwolken über
den Rand des Waldes langſam auf mich zukommen
ſah.


Roſa lachte wieder. Friedrich ſchwieg eine
Weile unwillig ſtill. Denn die Erinnerungen aus
der Kindheit ſind deſto empfindlicher und verſchäm¬
ter, je tiefer und unverſtändlicher ſie werden, und
fürchten ſich vor großgewordenen, altklugen Men¬
ſchen, die ſich in ihr wunderbares Spielzeug nicht
mehr zu finden wiſſen. Dann erzählte er weiter:

[80]

Ich weiß nicht, ob der Frühling mit ſeinen.
Zauberlichtern in dieſe Geſchichten hineinſpielte, oder
ob ſie den Lenz mit ihren rührenden Wunderſchei¬
nen überglänzten, — aber Blumen, Wald und
Wieſen erſchienen mir damals anders und ſchöner.
Es war, als hätten mir dieſe Bücher die goldenen
Schlüſſel zu den Wunderſchäzen und der verborge¬
nen Pracht der Natur gegeben. Mir war noch nie
ſo fromm und fröhlich zu Muthe geweſen. Selbſt
die ungeſchickten Holzſtiche dabey waren mir lieb,
ja überaus werth. Ich erinnere mich noch jezt mit
Vergnügen, wie ich mich in das Bild, wo der Rit¬
ter Peter von ſeinen Aeltern zieht, vertiefen konn¬
te, wie ich mir den einen Berg im Hintergrunde
mit Burgen, Wäldern, Städten und Morgenglanz
ausſchmückte, und in das Meer dahinter, aus we¬
nigen groben Strichen beſtehend, und die Wolken
drüber mit ganzer Seele hineinſegelte. Ja, ich
glaube wahrhaftig, wenn einmal bey Gedichten Bil¬
der ſeyn ſollen, ſo ſind ſolche die beſten. Jene
feinern, ſauberen Kupferſtiche mit ihren modernen
Geſichtern und ihrer, bis zum kleinſten Strauche,
ausgeführten und feſtbegränzten Umgebung verder¬
ben und beengen alle Einbildung, anſtatt daß dieſe
Holzſtiche mit ihren verworrenen Strichen und un¬
kenntlichen Geſichtern der Phantaſie, ohne die doch
niemand leſen ſollte, einen friſchen, unendlichen
Spielraum eröffnen, ja, ſie gleichſam herausfor¬
dern.

Alle[81]

Alle dieſe Herrlichkeit dauerte nicht lange. Mein
Hofmeiſter, ein aufgeklärter Mann, kam hinter mei¬
ne heimlichen Studien und nahm mir die geliebten
Bücher weg. Ich war untröſtlich. Aber Gott ſey
Dank, das Wegnehmen kam zu ſpät. Meine Phan¬
taſie hatte auf den waldgrünen Bergen, unter den
Wundern und Helden jener Geſchichten geſunde,
freye Luft genug eingeſogen, um ſich des Anfalls
einer ganzen nüchternen Welt zu erwehren. Ich
bekam nun dafür Kampe's Kinderbibliothek. Da er¬
fuhr ich denn, wie man Bohnen ſteckt, ſich ſelber
Regenſchirme macht, wenn man etwa einmal wie
Robinſon auf eine wüſte Inſel verſchlagen werden
ſollte, nebſtbey mehrere zuckergebackene, edle Hand¬
lungen, einige Aelternliebe und kindliche Liebe in
Charaden. Mitten aus dieſer pädagogiſchen Fabrik
ſchlugen mir einige kleine Lieder von Mathias Clau¬
dius rührend und lockend ans Herz. Sie ſahen mich
in meiner proſaiſchen Niedergeſchlagenheit mit ſchlich¬
ten, ernſten, treuen Augen an, als wollten ſie
freundlichtröſtend ſagen: „Laſſet die Kleinen zu mir
kommen!“ Dieſe Blumen machten mir den Far¬
ben- und Geruchsloſen, zur Menſchheitsſaat umge¬
pflügten, Boden, in welchen ſie ſeltſam genug ver¬
pflanzt waren, einigermaſſen heimathlich. Ich ent¬
ſinne mich, daß ich in dieſer Zeit verſchiedene Plä¬
ze im Garten hatte, welche Hamburg, Braun¬
ſchweig und Wandsbeck vorſtellten. Da eilte ich
denn von einem zum andern und brachte dem guten
6[82] Claudius, mit dem ich mich beſonders gerne und
lange unterhielt, immer viele Grüße mit. Es war
damals mein größter, innigſter Wunſch, ihn einmal
in meinem Leben zu ſehen.


Bald aber machte eine neue Epoche, die ent¬
ſcheidende für mein ganzes Leben, dieſer Spielerey
ein Ende. Mein Hofmeiſter fieng nemlich an, mir
alle Sonntage aus der Leidensgeſchichte Jeſu vorzu¬
leſen. Ich hörte ſehr aufmerkſam zu. Bald wurde
mir das periodiſche, immer wieder abgebrochene Vor¬
leſen zu langweilig. Ich nahm das Buch und las
es für mich ganz aus. Ich kann es nicht mit Wor¬
ten beſchreiben, was ich dabey empfand. Ich wein¬
te aus Herzensgrunde, daß ich ſchluchzte. Mein
ganzes Weſen war davon erfüllt und durchdrungen,
und ich begriff nicht, wie mein Hofmeiſter und alle
Leute im Hauſe, die doch das alles ſchon lange
wußten, nicht eben ſo gerührt waren und auf ihre
alte Weiſe ſo ruhig fortleben konnten. —


Hier brach Friedrich plözlich ab, denn er be¬
merkte, daß Roſa feſt eingeſchlafen war. Eine
ſchmerzliche Unluſt flog ihn bey dieſem Anblicke an.
Was thu ich hier, ſagte er zu ſich ſelber, als alles
ſo ſtill um ihn geworden war, ſind das meine Ent¬
ſchlüſſe, meine großen Hoffnungen und Erwartun¬
gen, von denen meine Seele ſo voll war, als ich
ausreißte? Was zerſchlage ich den beſten Theil
meines Lebens in unnütze Abentheuer ohne allen
Zweck, ohne alle rechte Thätigkeit? Dieſer Leon¬
[83] tin
, Faber und Roſa, ſie werden mir doch ewig
fremd bleiben. Auch zwiſchen dieſen Menſchen rei¬
ſen meine eigentlichſten Gedanken und Empfindungen
hindurch, wie ein Deutſcher durch Frankreich. Sind
dir denn die Flügel gebrochen, guter, muthiger,
Geiſt, der in die Welt hinausſchaute, wie in ſein
angebohrenes Reich? Das Auge hat in ſich Raum
genug für eine ganze Welt, und nun ſollte es eine
kleine Mädchenhand bedecken und zudrücken können?
— Der Eindruck, den Roſa's Lachen während ſei¬
ner Erzählung auf ihn gemacht hatte, war noch
nicht vergangen. Sie ſchlummerte rückwärts auf
ihren Arm gelehnt, ihr Buſen, in den ſich die
dunklen Locken herabringelten, gieng im Schlafe ru¬
hig auf und nieder, ſo ruhte ſie neben ihm in un¬
beſchreiblicher Schönheit. Ihm fiel dabey ein Lied
ein. Er ſtand auf und ſang zur Guitarre:


Ich hab' manch Lied geſchrieben,

Die Seele war voll Luſt,

Von treuem Thun und Lieben,

Das beſte, was ich wußt'.
Was mir das Herz bewogen,

Das ſagte treu mein Mund,

Und das iſt nicht erlogen,

Was kommt aus Herzensgrund.
Liebchen wußt's nicht zu deuten

Und lacht mir ins Geſicht,

Dreht ſich zu andern Leuten

Und achtet's weiter nicht.
6 *[84]
Und ſpielt mit manchem Tropfe,

Weil ich ſo tief betrübt.

Mir iſt ſo dumm im Kopfe,

Als wär' ich nicht verliebt.
Ach Gott, wem ſoll ich trauen?

Will Sie mich nicht verſteh'n,

Thun all' ſo fremde ſchauen,

Und alles muß vergeh'n.
Und alles irrt zerſtreuet —

Sie iſt ſo ſchön und roth —

Ich hab' nichts, was mich freuet,

Wär' ich viel lieber todt!

Roſa ſchlug die Augen auf, denn das Wald¬
horn erſchallte in dem Thale und man hörte Leon¬
tin und die Jäger, die ſo eben von ihrem Streif¬
zuge zurückkehrten, im Walde rufen und ſchreyen.
Sie hatten gar keine Beute gemacht und waren alle
der Ruhe höchſtbedürftig. Die Wirthin wurde da¬
her eiligſt in Thätigkeit geſezt, um jedem ſein La¬
ger anzuweiſen, ſo gut es die Umſtände zuließen.
Es wurde nun von allen Seiten Stroh herbeyge¬
ſchafft und in der Stube ausgebreitet, die für
Roſa, Leontin, Friedrich und Faber beſtimmt
war; die übrigen ſoll[e]en ſonſt im Hauſe unterge¬
bracht werden. Da alles mithalf, gieng es bey den
Zubereitungen ziemlich tumultuariſch her. Beſonders
aber zeigte ſich die kleine Marie, welcher die Jä¬
ger tapfer zugetrunken hatten, ungewöhnlich ausge¬
laſſen. Jeder behandelte ſie aus Gewohnheit als
ein halberwachſenes Kind, fieng ſie auf und küßte
[85] sie. Friedrich aber ſah wohl, daß ſie ſich dabey
gar künſtlich ſträubte, um nur immer feſter gehal¬
ten zu werden, und daß ihre Küſſe nicht mehr kin¬
diſch waren. Dem Herrn Faber ſchien ſie heute
ganz beſonders wohlzubehagen, und Friedrich
glaubte zu bemerken, daß ſie ſich einigemal verſtoh¬
len und wie im Fluge mit ihm beſprach.


Endlich hatte ſich nach und nach alles verlohren
und die Herrſchaften blicken allem im Zimmer zu¬
rück. Faber meinte: ſein Kopf ſey ſo voll guter
Gedanken, daß er ſich jezt nicht niederlegen könne.
Das Wetter ſey ſo ſchön und die Stube ſo ſchwül,
er wolle daher die Nacht im Freyen zubringen.
Damit nahm er Abſchied und gieng hinaus. Leon¬
tin lachte ihm ausgelaſſen nach. Roſa war unter¬
deß in üble Laune gerathen. Die Stube war ihr
zu ſchmutzig und enge, das Stroh zu hart. Sie
erklärte, ſie könne ſo unmöglich ſchlafen, und ſetzte
ſich ſchmollend auf eine Bank hin. Leontin warf
ſich, ohne ein Wort darauf zu erwiedern, auf das
Stroh und war gleich eingeſchlafen. Endlich über¬
wand auch bey Roſa die Müdigkeit den Eigen¬
ſinn. Sie verließ ihre harte Bank, lachte über
ſich ſelbſt und legte ſich neben ihren Bruder hin.


Friedrich ruhte noch lange wach, den Kopf
in die Hand geſtützt. Der Mond ſchien durch das
kleine Fenſter herein, die Wanduhr pickte einförmig
immerfort. Da vernahm er auf einmal draußen,
folgenden Geſang:


[86]
Ach, von dem weichen Pfühle

Was treibt dich irr' umher?

Bey meinem Saitenſpiele

Schlafe, was willſt du mehr?
Bey meinem Saitenſpiele

Heben dich allzuſehr

Die ewigen Gefühle;

Schlafe, was willſt du mehr?
Die ewigen Gefühle,

Schnupfen und Huſten ſchwer,

Zieh'n durch die nächt'ge Kühle;

Schlafe, was willſt du mehr?
Zieh'n durch die nächt'ge Kühle

Mir den Verliebten her

Hoch auf ſchwindliche Pfühle;

Schlafe, was willſt du mehr?
Hoch auf ſchwindlichem Pfühle

Zähle der Sterne Heer;

Und ſo dir das mißfiele:

Schlafe, was willſt du mehr?

Friedrich konnte die Stimme nicht erkennen;
ſie ſchien ihm mit Fleiß verändert und verſtellt.
Mit beſonders komiſchem Ausdruck wurde jedesmal
das: Schlafe, was willſt du mehr? wiederholt.
Er ſprang auf und trat ans Fenſter. Da ſah er
einen dunkeln Schatten ſchnell über den mondhellen
Platz vor dem Hauſe vorüberlaufen und zwiſchen
den Bäumen verſchwinden. Er horchte noch lange
Zeit dort hinaus, aber alles blieb ſtill die ganze
Nacht hindurch.


[87]

Sechstes Kapitel.

Ein Hüfthorn draußen im Hofe weckte am
Morgen die Neugeſtärkten. Leontin ſprang ſchnell
vom Lager. Auch Roſa richtete ſich auf. Die
Morgenſonne ſchien ihr durch das Fenſter gerade
in's Geſicht. Die Locken noch verwirrt vom nächt¬
lichen Lager, ſah ſie ſo blühend und reizend ver¬
ſchlafen aus, daß ſich Friedrich nicht enthalten
konnte, ihr einen Kuß auf die friſchen Lippen zu
drücken. Alles rüſtete ſich nun fröhlich wieder zur
Weiterreiſe. Aber nun bemerkten ſie erſt, daß Fa¬
ber fehle. Er hatte ſich, wie wir wiſſen, Abends
hinausbegeben, und war ſeitdem nicht mehr wieder
in die Stube zurückgekehrt. Leontin befragte daher
die Jäger, und dieſe ſagten denn zu allgemeiner
Verwunderung Folgendes aus:


Als ſie, noch vor Tagesanbruch, hinausgien¬
gen, um nach den Pferden zu ſehen, hörten ſie
jemand hoch über ihnen, wie aus der Luft, zu wie¬
derholtenmalen rufen. Sie ſahen ringsherum und
erblickten endlich mit Erſtaunen Herrn Faber, der
mitten auf dem Dache des Hauſes an dem feſtver¬
ſchloſſenen Dachfenſter ſaß und ſchimpfend mit bey¬
den Armen, wie eine Windmühle, in der Morgen¬
dämmerung focht. Sie ſezten ihm nun auf ſein
[88] Begehren die Leiter an, die vor dem Hauſe auf
der Erde lag, und erlöſten ihn ſo von ſeinem luf¬
tigen Throne. Er aber forderte, ſobald er unten
war, ohne ſich weiter in Erklärungen einzulaſſen,
ſogleich ſein Pferd und ſeinen Mantelſack heraus.
Da er ſehr heftig und wunderlich zu ſeyn ſchien,
thaten ſie, was er verlangte. Als er ſein Pferd
beſtiegen hatte, ſagte er nur noch zu ihnen: ſie
möchten ihren Herrn, den fremden Grafen und
die Gräfin Roſa von ihm auf das beſte grüßen,
und für die langerwieſene Freundſchaft in ſeinem
Nahmen danken; er für ſeinen Theil reiſe in die
Reſidenz, wo er ſie früher oder ſpäter wiederzuſe¬
hen hoffe. Darauf habe er dem Pferde die Sporen
gegeben und ſey in den Wald hineingeritten.


Lebe wohl, guter, unruhiger Freund! rief
Leontin bey dieſer Nachricht aus, ich könnte wahr¬
haftig in dieſem Augenblick recht aus Herzensgrun¬
de traurig ſeyn, ſo gewohnt war ich an dein wun¬
derliches Weſen. Fahre wohl, und Gott gebe, daß
wir bald wieder zuſammenkommen! Amen, fiel
Roſa ein; aber was in aller Welt hat ihn denn
auf das Dach hinaufgetrieben und bewogen, uns
dann ſo plötzlich zu verlaſſen? — Niemand wußte
ſich das Räthſel zu löſen. Aber die kleine Marie
hörte während der ganzen Zeit nicht auf, geheim¬
nißvoll zu kikkern, Friedrich erinnerte ſich auch an
das geſtrige, ſonderbare Nachtlied vor dem Fenſter,
und nun überſahen ſie nach und nach den ganzen
Zuſammenhang.

[89]

Faber hatte nemlich geſtern Abend mit Marie
eine heimliche Zuſammenkunft in der Dachkammer,
wo ſie ſchliefe, verabredet. Das ſchlaue Mädchen
aber hatte, ſtatt Wort zu halten, das Dachfenſter
von innen feſt verſperrt und ſich, ehe noch Faber
ſo künſtlich von ihnen weggeſchlichen, in den Wald
hinausbegeben, wo ſie abwartete, bis der Verlieb¬
te, der Verabredung gemäß, auf der Leiter das
Dach erſtiegen hatte. Dann ſprang, ſie ſchnell her¬
vor, nahm die Leiter weg und ſang ihm unten das
luſtige Ständchen, das Friedrich geſtern be¬
lauſcht, während Faber, ſtumm vor Zorn und
Scham, zwiſchen Himmel und Erde hieng.


Leontin und Roſa lachten unmäſſig und fan¬
den den Einfall überaus herrlich. Friedrich aber
fand ihn anders und ſchüttelte unwillig den Kopf
über das vierzehnjährige Mädchen.


Sie ſezten nun alſo ihre Reiſe allein weiter
fort. Der Morgen war ſehr heiter, die Gegend
wunderſchön; demohngeachtet konnten ſie heute gar
nicht recht in die alte Luſt und gewohnte Geſprächs¬
weiſe hineinkommen. Faber fehlte ihnen und wurde
von allen vermißt, beſonders von Leontin, der fort¬
während einen Ableiter ſeines überflüſſigen Witzes
brauchte. Dazu taugte ihm aber gerade niemand
beſſer als Faber, der komiſch genug war, um Witz
zu erzeugen, und ſelber witzig genug, ihn zu ver¬
ſteh'n. Friedrich nannte daher auch alle Geſpräche
zwiſchen Leontin und Faber egoiſtiſche Monologe,
[90] wo jeder nur ſich ſelbſt reden hört und beantwor¬
tet, anſtatt daß er bey jeder Unterhaltung mit red¬
lichem Eifer für die Sache ſelbſt in den anderen
überzeugend einzudringen ſuchte. Am ſichtbarſten
unter allen aber war Roſa verſtimmt. Sie hatte
ſich ganz beſondere, unerhörte Ereigniſſe und Wun¬
derdinge von der Reiſe verſprochen, und da dieſe
nun nicht erſcheinen wollten und auch der Schimmer
der Neuheit von ihren Augen gefallen war, fieng
ſie nach und nach an zu bemerken, daß es ſich doch
eigentlich für ſie nicht ſchicke, ſo allein mit den
Männern in der Welt herumzuſtreifen, und ſie hat¬
te keine Ruhe und keine Luſt mehr an den ewigen,
langweiligen Steinen und Bäumen.


So waren ſie an einen freygrünen Platz auf
dem Gipfel einer Anhöhe gekommen und beſchloſſen,
hier den Mittag abzuwarten. Ringsum lagen nie¬
drigere Berge mit Schwarzwald bedeckt, von der
einen Seite aber hatte man eine weite Ausſicht in's
ebene Land, wo man die blauen Thürme der Re¬
ſidenz an einem blitzenden Strome ſich ausbreiten
ſah. Der mitgenommene Mundvorrath wurde nun
abgepackt, ein Feldtiſchchen mitten in der Aue auf¬
gepflanzt, und alle lagerten ſich in einem Kreiſe
auf dem Raſen herum und aßen und tranken.
Roſa mochte launiſch nichts genießen, ſondern zog,
zu Leontins großem Aergerniß, ihre Strickerey her¬
vor, ſezte ſich allein ſeitwärts und arbeitete, bis ſie
am Ende darüber einſchlief. Friedrich und Leon¬
tin
nahmen daher ihre Flinten und giengen in den
[91] Wald, um Vögel zu ſchießen. Die luſtigen, bun¬
ten Sänger, die von einem Wipfel zum andern vor
ihnen herflogen, lockten ſie immer weiter zwiſchen
den dunkelgrünen Hallen fort, ſo daß ſie erſt nach
langer Zeit wieder auf dem Lagerplatze anlangten.


Hier kam ihnen Erwin mit auffallender Lebhaf¬
tigkeit und Freude entgegengeſprungen und ſagte,
daß Roſa fort ſey. Ein Wagen, erzählte der
Knabe, ſey bald, nachdem ſie fortgegangen wären,
die Straße hergefahren. Eine ſchöne junge Dame
ſah aus dem Wagen heraus, ließ ſogleich ſtillhal¬
ten, und kam auf die Gräfin Roſa zu, mit der
ſie ſich dann lange ſehr lebhaft und mit vielen Freu¬
den beſprach. Zulezt bat ſie dieſelbe, mit ihr zu
fahren. Roſa wollte Anfangs nicht, aber die
fremde Dame ſtreichelte und küßte ſie und ſchob ſie
endlich halb mit Gewalt in den Wagen. Die klei¬
ne Marie mußte auch mit einſitzen, und ſo hatten
ſie den Weg nach der Reſidenz eingeſchlagen. —
Friedrich kränkte bey dieſer unerwarteten Nach¬
richt die Leichtfertigkeit, mit der ihn Roſa ſo ſchnell
verlaſſen konnte, in tiefſter Seele. — Als ſie an
den Feldtiſch in der Mitte der Aue kamen, fanden
ſie dort ein Papier, worauf mit Bleyſtift geſchrie¬
ben ſtand: „Die Gräfin Romana.“


Das dacht' ich gleich, rief Leontin, das iſt ſo
ihre Weiſe. — Wer iſt die Dame? fragte Frie¬
drich
. — Eine junge reiche Wittwe, antwortete
Leontin, die nicht weiß, was ſie mit ihrer Schön¬
[92] heit und ihrem Geiſte anfangen ſoll, eine Freundin
meiner Schweſter, weil ſie mit ihr ſpielen kann wie
ſie will, eine tollgewordene Genialität, die in die
Männlichkeit hineinpfuſcht. Hiebey wandte er ſich
ärgerlich zu ſeinen Jägern, die ihre Pferde ſchon
wieder aufgezäumt hatten, und befahl ihnen, nach
ſeinem Schloße zurückzukehren, um die Reiſe freyer
und bequemer, bloß in Friedrichs und Erwins
Begleitung weiter fortzuſetzen.


Die Jäger brachen bald auf und die beyden
Grafen blieben nun allein auf dem grünen Platze
zurück, wo es ſo auf einmal ſtill und leer geworden
war. Da kam Erwin wieder geſprungen und ſag¬
te, daß man den Wagen ſo eben noch in der Fer¬
ne ſehen könne. Sie blickten hinab und ſahen, wie
er in der glänzenden Ebne fortrollte, bis er zwi¬
ſchen den blühenden Hügeln und Gärten in den
Abendſchimmer verſchwand, der ſich eben weit über
die Thäler legte. Von der andern Seite hörte man
noch die Hörner der heimziehenden Jäger über die
Berge. Siehſt du dort, ſagte Friedrich, die
dunklen Thürme der Reſidenz? Sie ſtehen wie Lei¬
chenſteine des verſunkenen Tages. Anders ſind die
Menſchen dort, unter welche Roſa nun kommt;
treue Sitte, Frömmigkeit und Einfalt gilt nicht
unter ihnen. Ich möchte ſie lieber todt, als ſo
wiederſeh'n. Iſt mir doch, als ſtiege ſie, wie eine
Todesbraut, in ein flimmernd aufgeſchmücktes, gro¬
ßes Grab, und wir wendeten uns treulos von ihr
[93] und ließen ſie gehen. — Leontin fuhr luſtig über
die Saiten der Guitarre und ſang:

Der Liebende ſteht träge auf,

Zieht ein Herr Jemine-Geſicht,

Und wünſcht, er wäre todt.

Der Morgen thut ſich prächtig auf,

So ſilbern geht der Ströme Lauf,

Die Vöglein ſchwingen hell ſich auf:

„Bad', Menſchlein, dich im Morgenroth,

Dein Sorgen iſt ein Wicht!“

Darauf beſtiegen ſie beyde ihre Pferde und ritten
in das Gebirge hinein.


Nachdem ſie ſo mehrere Tage herumgeirrt, und
die merkwürdigſten Orte des Gebirges in Augen¬
ſchein genommen hatten, kamen ſie eines Abends
ſchon in der Dunkelheit in einem Dorfe an, wo ſie
im Wirthshauſe einkehrten. Dort aber war alles
leer und nur von einer alten Frau, die allein in
der Stube ſaß, erfuhren ſie, daß der Pächter des
Ortes heute einen Ball gebe, wobey auch ſeine
Grundherrſchaft ſich befände, und daß daher alles
aus dem Hauſe gelaufen ſey, um dem Tanze zuzu¬
ſehen.


Da es zum Schlafengehen noch zu zeitig und
die Nacht ſehr ſchön war, ſo entſchloſſen ſich auch
die beyden Grafen, noch einen Spaziergang zu ma¬
chen. Sie ſtrichen durch's Dorf und kamen bald
darauf am andern Ende deſſelben an einen Garten,
hinter welchem ſich die Wohnung des Pächters be¬
[94] fand, aus deren erleuchteten Fenſtern die Tanzmu¬
ſik zu ihnen herüberſchallte. Leontin, den dieſe gan¬
ze, unverhoffte Begebenheit in die luſtigſte Laune
verſetzt hatte, ſchwang ſich ſogleich über den Gar¬
tenzaun und überredete auch Friedrich, ihm zu
folgen. Der Garten war ganz ſtill, ſie giengen
daher durch die verſchiedenen Gänge bis an das
Wohnhaus. Die Fenſter des Zimmers, wo getanzt
wurde, giengen auf den Garten hinaus, aber es
war hoch oben im zweyten Stockwerke. Ein großer,
dichtbelaubter Baum ſtand da am Hauſe und brei¬
tete ſeine Aeſte grade vor den Fenſtern aus. Der
Baum iſt eine wahre Jakobsleiter, ſagte Leontin,
und war im Augenblicke droben. Friedrich wollte
durchaus nicht mit hinauf. Das Belauſchen, ſagte
er, beſonders fröhlicher Menſchen in ihrer Luſt,
hat immer etwas Schlechtes im Hinterhalte. Wenn
du Umſtände machſt, rief Leontin von oben, ſo fan¬
ge ich hier ſo ein Geſchrey an, daß alle zuſammen¬
laufen und uns als Narren auffangen oder tüchtig
durchprügeln. So eben knarrte auch wirklich die
Hausthüre unten und Friedrich beſtieg daher
ebenfalls eilfertig den luftigen Sitz.


Oben aus der weiten, dichten Krone des Bau¬
mes konnten ſie die ganze Geſellſchaft überſehen.
Es wurde eben ein Walzer getanzt, und ein Paar
nach dem andern flog an dem Fenſter vorüber.
Junge, flüchtige Oekonomen, wie es ſchien, in
knappen und engzugeſpitzten Fracken fegten tapfer
mit tüchtigen Mädchen, die vor Geſundheit und
[95] Freude über und über roth waren. Hin und wie¬
der zogen fröhliche, dicke Geſichter, wie Vollmon¬
de, durch dieſen Sternenhimmel. Mitten in dem
Gewimmel tanzte eine hagere Figur, wie ein Sa¬
tyr, in den abentheuerlichſten, übertriebenſten
Wendungen und Kapriolen, als wollte er alles
Affektirte, Lächerliche und Eckle jedes Einzelnen der
Geſellſchaft in eine einzige Karrikatur zuſammendrän¬
gen. Bald darauf ſah man ihn auch unter den
Muſikanten eben ſo mit Leib und Seele die Geige
ſtreichen. Das iſt ein höchſt ſeltſamer Geſell, ſagte
Leontin, und verwendete kein Auge von ihm. Es
iſt doch ein ſonderbares Gefühl, erwiederte Frie¬
drich
nach einer Weile, ſo draußen aus der wei¬
ten, ſtillen Einſamkeit auf einmal in die bunte Luſt
der Menſchen hineinzuſehen, ohne ihren inneren
Zuſammenhang zu kennen; wie ſie ſich, gleich Ma¬
rionetten, voreinander verneigen und beugen, lachen
und die Lippen bewegen, ohne daß wir hören, was
ſie ſprechen. — O, ich könnte mir, ſagte Leontin,
kein ſchauerlicheres und lächerlicheres Schauſpiel zu¬
gleich wünſchen, als eine Bande Muſikanten, die
recht eifrig und in den ſchwierigſten Paſſagen ſpiel¬
ten, und einen Saal voll Tanzender dazu, ohne
daß ich einen Laut von der Muſik vernähme. —
Und haſt du dieſes Schauſpiel nicht im Grunde täg¬
lich? entgegnete Friedrich. Geſtikuliren, quälen
und mühen ſich nicht überhaupt alle Menſchen ab,
die eigenthümliche Grundmelodie äußerlich zu geſtal¬
ten, die jedem in tiefſter Seele mitgegeben iſt,
[96] und die der eine mehr, der andere weniger und kei¬
ner ganz auszudrücken vermag, wie ſie ihm vor¬
ſchwebt? Wie weniges verſtehen wir von den Tha¬
ten, ja, ſelbſt von den Worten eines Menſchen! —
Ja, wenn ſie erſt Muſik im Leibe hätten! fiel ihm
Leontin lachend in's Wort. Aber die meiſten fin¬
gern wirklich ganz ernſthaft auf Hölzchen ohne Sai¬
ten, weil es einmal ſo hergebracht iſt und das vor¬
liegende Blatt heruntergeſpielt werden muß; aber
das, was das ganze Handthieren eigentlich vorſtel¬
len ſoll, die Muſik ſelbſt und Bedeutung des Le¬
bens, haben die närriſchgewordenen Muſikanten
darüber vergeſſen und verlohren.


In dieſem Augenblicke kam ein neues Paar bey
dem Fenſter angeflogen, alles machte ehrerbietig
Platz und ſie erblickten ein wunderſchönes Mädchen,
das ſich durch ſeinen Anſtand vor allen den anderen
auszeichnete. Sie lehnte lächelnd die zarte, glü¬
hende Wange an die Fenſterſcheibe, um ſie abzu¬
kühlen. Darauf öffnete ſie gar das Fenſter, theil¬
te zierlich ihre Haare, durch die ein Roſenkranz ge¬
ſtochten war, nach beyden Seiten über die Stirne,
und ſchaute, ſo, wie in Gedanken verſunken, lange,
in die Nacht hinaus. — Leontin und Friedrich
waren ihr dabey ſo nahe, daß ſie ihren Athem hö¬
ren konnten; ihre ſtillen, großen Augen, in deren
feuchtem Spiegel der Mond widerglänzte, ſtanden
grade vor ihnen. Wo iſt das Fräulein? rief auf
einmal eine Stimme von innen, und das Mädchen
wendete[97] wendete ſich um und verlohr ſich unter den Men¬
ſchen. — Leontin ſagte: Ich möchte den Baum
ſchütteln, daß er bis in die Wurzeln vor Freude
beben ſollte, ich möchte hier in's offene Fenſter hin¬
einſpringen und tanzen, bis die Sonne aufgienge,
ich möchte wie ein Vogel von dem Baume fliegen
über Berge und Wälder! — Zwey ältliche Herren
unterbrachen dieſe Ausrufungen, indem ſie ſich zum
Fenſter hinauslehnten. Ihr Geſpräch, ſo ruhig wie
ihre Geſichter, ergoß ſich wie ein einförmiger, aber
klarer Strom über die neueſten politiſchen Zeitbege¬
benheiten, von denen ſie bald auf ihre Landwirth¬
ſchaft ablenkten, und aus den Blitzen, die man in
der Ferne am wolkenloſen Himmel erblickte, ein
günſtiges Aerndtewetter prophezeiten.


Unterdeß hatte die Muſik aufgehört, das Zim¬
mer oben wurde leerer. Man hörte unten die Thü¬
re auf- und zugehen, verſchiedene Partheyen gien¬
gen bey dem ſchönen Mondſcheine im Garten auf
und nieder, und auch die beyden alten Herren ver¬
ſchwanden von dem Fenſter. Da kam ein junges
Paar, ganz getrennt von den übrigen, langſam auf
den Baum zugewandelt. Gott ſteh' uns bey, ſag¬
te Leontin, da kommen gewiß Sentimentaliſche,
denn ſie wandeln ſo ſchwebend auf den Zehen, wie
einer, der gern fliegen möchte und nicht kann. Sie
waren indeß ſchon ſo nahe gekommen, daß man
verſtehen konnte, was ſie ſprachen. Haben Sie,
fragte der junge Mann, das neueſte Werk von La¬
7[98] fontaine geleſen? Ja, antwortete das Mädchen,
in einer ziemlich bäueriſchen Mundart, ich habe es
geleſen, mein ädler Freund! und es hat mir Thrä¬
nen entlockt, Thränen, wie ſie jeder Fühlende gern
weint. Ich bin ſo froh, fuhr ſie nach einer kleinen
Pauſe fort, daß wir aus dem Schwarm, von den
lärmenden, unempfindlichen Menſchen fort ſind; die
rauſchenden Vergnügungen ſind gar nicht meine
Sache, es iſt da gar nichts für das Herz. Er.
O, daran erkenne ich ganz die ſchöne Seele! Aber
Sie ſollten ſich der ſüßen Melankolie nicht ſo ſtark
ergeben, die edlen Empfindungen greifen den Men¬
ſchen zu ſehr an. — Sie ſieht aber doch, flüſterte
Friedrich, blitzgeſund aus und voll zum Aufſprin¬
gen. Das kommt eben von dem angreifen, meynte
Leontin. — Er. Ach, in wenigen Stunden ſcheidet
uns das eiſerne Schickſal wieder, und Berge und
Thäler liegen zwiſchen zwey gebrochnen Herzen.
Sie. Ja, und in dem einen Thale iſt der Weg
immer ſo kothig und kaum zum durchkommen. Er.
Und an meinem neuen ſchönen Parutſch grade auch
ein Rad gebrochen. — Aber genießen wir doch die
ſchöne Natur! An ihrem Buſen werd' ich ſo warm!
Sie. O ja. Er. Es geht doch nichts über die Ein¬
ſamkeit für ein ſanftes, überfließendes Herz. Ach!
die kalten Menſchen verſtehen mich gar nicht! Sie.
Auch Sie ſind der einzige, mein ädler Freund, der
mich ganz verſteht. Schon lange habe ich Sie im
Stillen bewundert, dieſen — wie ſoll ich ſagen? —
dieſen ädlen Charakter, dieſe ſchönen Sentimentre —
[99] Sentiments wollen Sie ſagen, fiel Er ihr in's
Wort, und rückte ſich mit eitler Wichtigkeit zuſam¬
men.


O Jemine! flüſterte Leontin wieder, mir juckt
der Aedelmuth ſchon in allen Fingern, ich dächte, wir
prügeln ihn durch.


Die beyden Sentimentaliſchen hatten einander
indeß mit den Armen umſchlungen, und ſahen lange
ſtumm in den Mond. Nun ſizt die Unterhaltung
auf dem Sande, ſagte Leontin, der Witz iſt im ab¬
nehmenden Monde. Aber zu ſeiner Verwunderung
hub Er von neuem an: O heilige Melankolie! du
ſympathetiſche Harmonie gleichgeſtimmter Seelen!
So rein, wie der Mond dort oben, iſt unſere Lie¬
be! Während deß fieng er an, heftig an dem Bu¬
ſenbande des Mädchens zu arbeiten, die ſich nur
wenig ſträubte. Nun, ſagte Leontin, ſind ſie in
ihre eigentliche Natur zurückgefallen, der Teufel hat
die Poeſie geholt. Das iſt ja ein verwetterter
Schuft, rief Friedrich, und fieng oben auf ſeinem
Baume an ganz laut zu ſingen. Die Sentimentali¬
ſchen ſahen ſich eine Weile erſchrocken nach allen Seiten
um, dann nahmen ſie in der größten Verwirrung
Reißaus. Leontin ſchwang ſich lachend, wie ein Wet¬
terkeil, vom Baume hinter ihnen drein und verdop¬
pelte ihren Schreck und ihre Flucht.


Unſere Reiſenden waren nun wahrſcheinlich ver¬
rathen und mußten alſo auf einen klugen Rückzug
7 *[100] bedacht ſeyn. Sie zogen ſich daher auf den leeren
Gängen des Gartens an den Spazierengehenden
vorüber, und wurden ſo, vom Dunkel begünſtigt,
von allen entweder überſehen, oder für Ballgäſte ge¬
halten.


Als ſie, ſchon nahe am Ausgange, eben um
die Ecke eines Ganges umbeugen wollten, ſtand auf
einmal das ſchöne Fräulein, die mit einer Beglei¬
terin von der anderen Seite kam, dicht vor ihnen.
Der Mondſchein fiel grade ſehr hell durch eine Oeff¬
nung der Bäume und beleuchtete die beyden ſchönen
Männer. Das Fräulein blieb mit ſichtbarer Ver¬
wirrung vor ihnen ſtehen. Sie grüßten ſie ehrer¬
bietig. Sie dankte verlegen mit einer tiefen, zier¬
lichen Verbeugung, und eilte dann ſchnell wieder
weiter. Aber ſie bemerkten wohl, daß ſie ſich in
einiger Entfernung noch einmal flüchtig nach ihnen
umſah.


Sie kehrten nun wieder in ihr Wirthshaus zu¬
rück, wo ſie bereits alles zu einer guten Nacht vor¬
bereitet fanden. Leontin war unterwegs voller Ge¬
danken und ſtiller als gewöhnlich. Friedrich ſtellte
ſich oben noch an das offene Fenſter, von dem man
das ſtille Dorf und den geſtirnten Himmel überſah,
verrichtete ſein Abendgebeth und legte ſich ſchlafen.
Leontin aber nahm die Guitarre und ſchlenderte
langſam durch das nächtliche Dorf. Nach verſchie¬
denen Umwegen kam er wieder an den Garten.
Da war unterdeß alles leer geworden und todten¬
[101] ſtill, in der Wohnung des Pächters alle Lichter
verlöſcht und die ganze laute, fröhliche Erſcheinung
verſunken. Ein leichter Wind gieng rauſchend durch
die Wipfel des einſamen Gartens, hin und wieder
nur bellten Hunde aus entferntern Dörfern über das
ſtille Feld. Leontin ſezte ſich auf den Gartenzaun
hinauf und ſang:


Der Tanz, der iſt zerſtoben,

Die Muſik iſt verhallt,

Nun kreiſen Sterne droben,

Zum Reigen ſingt der Wald.
Sind alle fortgezogen,

Wie iſt's nun leer und todt!

Du rufſt vom Fenſterbogen:

„Wann kommt der Morgenroth!“
Mein Herz möcht' mir zerſpringen,

Darum ſo wein' ich nicht,

Darum ſo muß ich ſingen

Bis daß der Tag anbricht.
Eh' es beginnt zu tagen:

Der Strom geht ſtill und breit,

Die Nachtigallen ſchlagen,

Mein Herz wird mir ſo weit!
Du trägſt ſo rothe Roſen,

Du ſchauſt ſo Freudenreich,

Du kannſt ſo fröhlich koſen,

Was ſtehſt Du ſtill und bleich?
Und laß ſie geh'n und treiben

Und wieder nüchtern ſeyn,

Ich will wohl bey Dir bleiben!

Ich will Dein Liebſter ſeyn!
[102]

Das ſchöne Fräulein war in dem Hauſe des
Pächters über Nacht geblieben. Sie ſtand halbent¬
kleidet an dem offenen Fenſter, das auf den Gar¬
ten hinausgieng. Wer mögen wohl die beyden
Fremden ſeyn? ſagte ſie gleichgültigſcheinend zu
ihrer Jungfer. — Ich weiß es nicht, aber ich möch¬
te mich gleich fortſchleichen und noch heute im
Wirthshauſe nachfragen. — Um Gotteswillen, thu'
das nicht, ſagte das Fräulein erſchrocken, und hielt
ſie ängſtlich am Arme feſt. — Morgen iſt es zu
ſpät. Wenn die Sonne aufgeht, ſind ſie gewiß
längſt wieder über alle Berge. — Ich will ſchlafen
geh'n, ſagte das Fräulein, ganz in Gedanken ver¬
ſunken. Gott weiß, wie es kommt, ich bin heut ſo
müde und doch ſo munter. — Sie ließ ſich darauf
entkleiden und legte ſich nieder. Aber ſie ſchlief
nicht, denn das Fenſter blieb offen und Leontins
verführeriſche Töne ſtiegen die ganze Nacht wie auf
goldenen Leitern in die Schlafkammer des Mädchens
ein und aus.

Siebentes Kapitel.

Stand ein Mädchen an dem Fenſter,

Da es draußen Morgen war,

Kämmte ſich die langen Haare,

Wuſch ſich ihre Aeuglein klar.
[103]
Sangen Vöglein aller Arten,

Sonnenſchein ſpielt' vor dem Haus,

Draußen über'n ſchönen Garten

Flogen Wolken weit hinaus.
Und ſie dehnt' ſich in den Morgen,

Als ob ſie noch ſchläfrig ſey,

Ach, ſie war ſo voller Sorgen,

Flocht ihr Haar und ſang dabey:
Wie ein Vöglein hell und reine,

Ziehet draußen muntre Lieb',

Lockt hinaus zum Sonnenſcheine,

Ach, wer da zu Hauſe blieb'!

Die Morgenſonne traf unſere Reiſende ſchon
wieder draußen zu Pferde, und das Dorf, wo ſie
übernachtet, lag dampfend hinter ihnen. Leontin
hatte bereits im Wirthshauſe erfahren, daß das
ſchöne Fräulein die Tochter eines in der Nähe reich¬
begüterten Edelmannes ſey, welcher, wie er ſich
ſehr wohl erinnerte, mit ſeinem Vater in ganz be¬
ſonders freundſchaftlichen Verhältniſſen geſtanden
hatte. Es wurde daher beſchloſſen, bey ihm einzu¬
ſprechen.


Gegen Abend erblickten ſie das Schloß des Herrn
v. A., das aus einem freundlichreichen Chaos von
Gärten und hohen Bäumen friedlich hervorragte.
Sie ritten langſam zwiſchen hohen Kornfeldern hin.
Die Sonne, die ſich eben zum Untergange neigte,
warf ihre Strahlen ſchief über die Fläche und ſpiel¬
te luſtig in den nickenden Aehren. Ein fröhliches
[104] Singen und Wirren verſchiedener Stimmen lenkte
bald die Augen der beyden Reiter von der ruhigen
Landſchaft vor ihnen ab, und ſie erblickten ſeitwärts
in einiger Entfernung vom Wege ein weites Feld,
wo man ſo eben mit der Erndte begriffen war.
Eine lange Reihe von Arbeitern wimmelte luſtig
durcheinander, der laute Ruf der Merker erſchallte
von Zeit zu Zeit dazwiſchen, und ſchwerbeladene
Wagen zogen langſam und knarrend dem Dorfe zu.
Im Hintergrunde dieſes Gewimmels ſah man eine
bunte Gruppe von vornehmeren Perſonen gelagert,
die den Arbeitern zuſahen und unter denen Leontin
ſogleich das ſchöne Fräulein wieder erkannte. Mit¬
ten unter ihnen ragte eine höchſtſeltſame Figur her¬
vor. Ein hagerer Mann nemlich, in einem langen,
weißen Mantel ſaß auf einem hochbeinigten Schim¬
mel, der den Kopf faſt auf die Erde hängen ließ.
Von dieſer ſeiner Roſinante theilte die abentheuer¬
liche Geſtalt, im Tone einer Predigt, Befehle an
die Bauern aus, worauf jedesmal ein lautes Ge¬
lächter erfolgte.


Leontin und Friedrich zweifelten nicht, daß
jene Zuſchauer die Herrſchaft des Ortes ſeyen,
und da ſie bemerkten, daß bereits alle Augen auf
ſie gerichtet waren, ſo übergaben ſie ihre Pferde an
Erwin und eilten, ſich ſelber der Geſellſchaft vor¬
zuſtellen. Herr v. A. und ſeine Schweſter, die ſich
ſeit dem Tode ihres Mannes beym Bruder auf¬
hielt, erinnerten ſich ſogleich der ehemaligen freund¬
ſchaftlichen Verhältniſſe, zwiſchen den beyden Häu¬
[105] ſern, und drückten ihre Freude, Leontin und ſeinen
Freund bey ſich zu ſehen, mit den aufrichtigſten
Worten aus. Das Fräulein wurde bey ihrer An¬
kunft über und über roth und wagte nicht, die Au¬
gen aufzuſchlagen, denn ſie erkannte beyde recht gut
wieder. Neben ihr ſtand ein ziemlich junger, blei¬
cher Mann, in dem ſie ſogleich dieſelbe Geſtalt wie¬
dererkannten, die geſtern mit ſo einer ironiſchen
Wuth getanzt und muſiziert hatte. Seine auffal¬
lenden Geſichtszüge hatten ſich tief in Leontins Ge¬
dächtniß gedrückt. Aber es war heut gar keine
Spur von Geſtern an ihm, er ſchien ein ganz an¬
derer Menſch. Er ſah ſchlicht, ſtill und traurig und
war verlegen im Geſpräche. Es war ein Theolog,
der, zu arm, ſeine Studien zu vollenden, auf dem
Schloſſe des Herrn v. A. Unterhalt, Freunde und
Heymath gefunden und dafür die Leitung des Schul¬
weſens auf den ſämmtlichen Gütern übernommen
hatte. Der Ritter von der traurigen Geſtalt dage¬
gen ſchaute von ſeinem Schimmel während dem
Empfange und der erſten Unterhaltung ſo unheim¬
lich und komiſch darein, daß Leontin gar nicht von
ihm wegſeh'n konnte. Jeder Bauer, den ſeine Ar¬
beit an ihm vorüberführte, geſegnete die Geſtalt
mit einem tüchtigen Witze, wobey ſich jener immer
heftig vertheidigte. Leontin erhielt ſich nur noch
mit vieler Mühe, ſich mit darein zu miſchen, als
die Tante endlich die Geſellſchaft aufforderte, ſich
nach Hauſe zu begeben, und alles aufbrach. Die
ſonderbare Geſtalt ſezte ſich nun voraus im Galopp.
[106] Er ſchlug dabey mit beyden Füßen unaufhörlich in
die Rippen des Kleppers und ſein weißer Mantel
rauſchte in ſeiner ganzen Länge in den Lüften hin¬
ter ihm drein. Die Bauern riefen ihm ſämmtlich
ein freudiges Hurrah nach. Herr v. A., der die
Verwunderung der beyden Gäſte bemerkte, ſagte
lachend: das iſt ein armer Edelmann, der vom
Stegreif lebt, ein irrender Ritter, der von Schloß
zu Schloß zieht und uns beſonders oft heimſucht,
ein Hofnarr für alle, die ihn ertragen können, halb
närriſch und halb geſcheid.


Als ſie durch's Dorf giengen, wurden ſie von
allen Seiten nicht nur mit dem Hute, ſondern auch
mit freundlichen Worten und Mienen begrüßt, wel¬
ches immer ein gutmüthiges und natürliches Ver¬
hältniß zwiſchen der Herrſchaft und ihren Bauern
verräth. Sie kamen endlich an das Schloß und
überſahen auf einmal einen weiten, freundlichen und
fröhlich wimmelnden Hof. Alles war geſchäftig,
nett und ordentlich und beurkundete eine thätige
Hauswirthin. Friedrich äußerte dieſe Bemerkung,
wodurch ſich die Tante ungemein geſchmeichelt zu
finden ſchien. Sie konnte ihre Freude darüber ſo
wenig verbergen, daß ſie ſogleich anfieng, ſich mit
einer Art von Wohlbehagen über ihre häuslichen
Einrichtung und die Vergnügungen der Landwirth¬
ſchaft auszubreiten. Das Schloß ſelbſt war neu,
ſehr heiter, licht und angenehm, das Hausgeräth
in den gemüthlichen Zimmern ohne beſondere Wahl
[107] gemiſcht und ſämmtlich wie aus einer unlängſt ver¬
gangenen Zeit.


Der Tiſch in dem großen, geräumigen Tafel¬
zimmer wurde gedeckt und man ſezte ſich bald fröh¬
lich zum Abendeſſen. Die Unterhaltung blieb an¬
fangs ziemlich ſtockend, ſteif und gezwungen, wie
dieß jederzeit in ſolchen Häuſern der Fall iſt, wo,
aus Mangel an vielſeitigen, allgemeinen Berüh¬
rungen mit der Auswelt, eine gewiſſe feſte, unge¬
lenke Gewohnheit des Lebens Wurzel geſchlagen
hat, die durch das plötzliche Eindringen wildfrem¬
der Erſcheinungen, auf die ihr ewig gleichförmiger
Gang nicht berechnet iſt, immer eher verſtimmt als
umgeſtimmt wird. Herr v. A., ein langer, ernſter
Mann, in ſeiner Kleidung faſt pedantiſch, ſprach
wenig. Deſto mehr führte ſeine Schweſter das
hohe Wort. Sie war eine lebhafte, regſame Frau,
wie man zu ſagen pflegt, in den beſten Jahren,
eigentlich aber grade in den ſchlimmſten. Denn
ihre Geſtalt und unverkennbar ſchönen Geſichtszüge
fiengen ſo eben an, auf ein vergangenes Reich zu
deuten. In dieſer gefährlichen Sonnenwende ſteigt
die Schönheit mürriſch, launiſch und zankend von
ihrem irdiſchen Throne, wo ſie ein halbes Leben
lang geherrſcht, in die öde, Freudenloſe Zukunft,
wie in's Grab. Wohl denen ſeltenen größeren
Frauen, welche die Zeit nicht verſäumten, ſondern
im ruhigen, geſammelten Gemüthe ſich eine andere
Welt der Religion und Sanftmuth erbauten! Sie
verwechſeln nur die Thronen und werden ewig lie¬
ben und geliebt werden.

[108]

Das Geſpräch fiel während der Tafel auch auf
die Erziehung der Kinder, ein Kapitel, von dem faſt
alle Weiber am liebſten ſprechen und am wenigſten
verſtehen. Die Tante, die nur auf eine Gelegen¬
heit gepaßt hatte, ihren Geiſt vor den beyden
Fremden glänzen zu laſſen, verbreitete ſich darüber
in dem gewöhnlichen Tone von Aufklärung, Bil¬
dung, feiner Sitten u. ſ. w. Zu ihrem Unglück
aber fiel es dem irrenden Ritter, der unterdeß ganz
unten an der Tafel mit Leib und Seele gegeſſen
hatte, ein, ſich mit in das Geſpräch zu miſchen.
Gerade als ſie ſich in ihren Redensarten eben am
wohlſten gefiel, fuhr er höchſtkomiſch mit Wahrhei¬
ten darein, die aber alle ſo ungewöhnlich und aben¬
theuerlich ausgedrückt waren, daß Friedrich und
Leontin nicht wußten, ob ſie mehr über die
Schärfe ſeines Geiſtes oder über ſeine Verrücktheit
erſtaunen ſollten. Beſonders brach Leontin in ein
ſchadenfrohes Gelächter aus. Die Tante, der es
nicht an vielſeitigen Talenten gebrach, um ſeine
Verrücktheiten nicht ohne Salz zu finden, warf ihm
unwillige Blicke zu, worauf ſich jener in einem phi¬
loſophiſchen Bombaſt von Unſinn vertheidigte und
endlich ſelber in ein albernes Lachen ausbrach. Sie
hatte aber doch das Spiel verſpielt; denn beyde
Gäſte, beſonders Leontin, ſpürten bereits eine ge¬
wiſſe Kammeradſchaft mit dem räthſelhaften irrenden
Ritter in ſich.

[109]

Als endlich die Tafel aufgehoben wurde, mu߬
te Fräulein Julie noch ihre Geſchicklichkeit auf dem
Klaviere zeigen, welches ſie ziemlich fertig ſpielte.
Während deß hatte die Tante Friedrich'n bey
Seite genommen, und erzählte ihm, wie ſehr ſie
bedaure, ihre Nichte nicht frühzeitig in die Reſidenz
in irgend ein Erziehungshaus geſchickt zu haben,
wo allein junge Frauenzimmer das gewiſſe Etwas
erlernten, welches zum geſelligen Leben ſo unent¬
behrlich ſey. Ich bin der Meynung, antwortete ihr
Friedrich, daß jungen Fräulein grade das Land¬
leben am beſten fromme. In jenen berühmten
Inſtituten wird durch Eitelkeit und heilloſe Nach¬
ahmungsſucht die kindliche Eigenthümlichkeit jedes
Mädchens nur verallgemeinert und verdorben. Die
arme Seele wird nach einem Modelle, das für alle
paſſen ſoll, ſo lange dreſſirt und gemodelt, bis am
Ende davon nichts übrig bleibt, als das leere Mo¬
dell. Ich verſichere, ich will alle Mädchen aus ſol¬
chen Inſtituten ſogleich an ihrer Wohlerzogenheit er¬
kennen, und wenn ich ſie anrede, weiß ich ſchon
im Voraus, was ſie mir antworten werden, was
für ein Schlag von Witz oder Spaß erfolgen muß,
was ſie für kleine Lieblingslaunen haben u. ſ. w.
Die Tante lachte, ohne jedoch eigentlich zu wiſſen,
was Friedrich mit alle dem meyne.


Unterdeß hatte das Fräulein ein Volkslied an¬
gefangen. Die Tante unterbrach ſie ſchnell und er¬
mahnte ſie, doch lieber etwas vernünftiges und
ſanftes zu ſingen. Leontin aber, den dabey ſeine
[110] Laune überwältigte, ſezte ſich ſtatt des Fräuleins
hin und ſang ſogleich aus dem Stegreif ein zärtli¬
ches Lied ſo übertrieben und ſüßlich, daß Frie¬
drich'n
faſt übel wurde. Fräulein Julie ſah ihn
groß an und war dann wahrend ſeines ganzen Ge¬
ſanges in tiefe Gedanken verſunken. — Erſt ſpät
begab man ſich zur Ruhe.


Das Schlafzimmer der beyden Gäſte war ſehr
nett und ſauber zubereitet, die Fenſter giengen auf
den Garten hinaus. Eine geheimnißvolle Ausſicht
eröffnete ſich dort über den Garten weg in ein wei¬
tes Thal, das in ſtiller, nächtlicher Runde vor
ihnen lag. In einiger Ferne ſchien ein Strom zu
gehen, Nachtigallen ſchlugen überall aus den Thä¬
lern herauf. Das muß hier eine ſchöne Gegend
ſeyn, ſagte Leontin, indem er ſich zum Fenſter hin¬
auslehnte. Sie kommt mir vor, wie die Menſchen
hier im Hauſe, entgegnete Friedrich. Wenn ich
in einen ſolchen abgeſchloſſenen Kreis von fremden
Menſchen hineintrete, iſt es mir immer, als ſähe
ich von einem Berge in ein unbekanntes, weites,
nächtliches Land. Da gehen ſtille breite Ströme,
und tauſend verborgene Wunder liegen ſeltſam zer¬
ſtreut und die fröhliche Seele dichtet bunte, lichte,
glückliche Tage in die verworrene Dämmerung hin¬
ein. Ich habe oft gewünſcht, daß ich die meiſten
Menſchen niemals zum zweytenmale wiederſehen
und näher kennen lernen dürfte, oder daß ich im¬
mer aufgeſchrieben hätte, wie mir jeder zum erſten¬
male vorkam. — Wahrhaftig, fiel ihm Leontin la¬
[111] chend in's Wort, ſprichſt du doch, als wärſt du
von neuem verliebt. Aber du haſt ganz recht, mir
iſt eben ſo zu Muthe, und es iſt nur ſchade um
ein redliches Herz, das durch eine immerwährende
Täuſchung ſo entherzt wird. Denn wenn in jene
ſchöne, ungewiſſe Nacht der erſten Bekanntſchaft
nach und nach der Tag anfängt herüberzuſchielen
und die nüchternen Hähne krähen, da ſchleicht ein
wunderbarer Geiſt nach dem anderen abſeits; was
in der Nacht wie ein dunkler Rieſe daſtand, wird
ein krummer Baum, das Thal, das ausſah wie eine
umgeworfene, uralte römiſche Stadt, wird ein ge¬
meines Ackerfeld und das ganze Mährchen nimmt
ein ſchaales Ende. Ich konnte ſo fromm ſeyn, wie
ein Lämmchen und niemals eine Anwandlung von
Witz verſpüren, wenn nicht alles ſo dumm gienge.
Friedrich ſagte darauf: Nimm dich in Acht
mit deinem Uebermuthe! Es iſt leicht und ange¬
nehm, zu verſpotten, aber mitten in der Täuſchung
den großen, herrlichen Glauben an das Beſſere feſt
zu halten, und die anderen mit feurigen Armen em¬
porzuheben, das gab Gott nur ſeinen liebſten Söh¬
nen. — Ich ſage dir in vollem Ernſt, erwiederte
Leontin ungemein liebenswürdig, du wirſt mich noch
einmal ganz belehren, du ſeltſamer Menſch. Gott
weiß es wohl, mir fehlt noch viel, daß ich gut
wäre. —


Am Morgen ſtrahlte die Gegend in einem zau¬
beriſchen Glanze in ihre Fenſter herauf. Sie eilten
in den Garten hinab, wo ſie nicht wenig über die
[112] Schönheit der Landſchaft erſtaunten. Der Garten
ſelbſt ſtand auf einer Reihe von Hügeln, wie eine
friſche Blumenkrone über der grünen Gegend. Von
jedem Punkte deſſelben hatte man die erheiternde
Ausſicht in das Land, das wie in einem Panorama
ringsherum ausgebreitet lag. Nirgends bemerkte
man weder eine franzöſiſche noch engliſche durchgrei¬
fende Regel, aber das Ganze war ungemein er¬
quicklich, als hätte die Natur aus fröhlichem Ueber¬
muthe ſich ſelber aufſchmücken wollen.


Herr o. A. und ſeine Schweſter, leztere, wie
wir ſpäter ſehen werden, wohl nicht ohne beſondere
Abſicht, baten ihre Gäſte recht herzlich und drin¬
gend, längere Zeit bey ihnen zu verweilen, und
beyde willigten gern in den angenehmen Aufenthalt.
Doch erſt, als die allmählige Gewohnheit des Zu¬
ſammenlebens ihnen das Bürgerrecht des Hauſes er¬
theilt hatte, empfanden ſie die Wohlthat des ſtillen,
gleichförmigen häuslichen Lebens und labten ſich an
dieſem immer neu erfreulichen Schauſpiele, das
über gutgeartete Gemüther eine Ruhe und einen
gewiſſen feſten Frieden verbreitet, den viele ein
Leben lang in der bunten Weltluſt oder in der
Wiſſenſchaft ſelber vergebens ſuchen.


Wenn die Sonne über den Gärten, Bergen
und Thälern aufgieng, flog auch ſchon alles aus
dem Schloſſe nach allen Seiten aus. Herr v. A.
fuhr auf die Felder, ſeine Schweſter und das Fräu¬
lein[113] lein hatten im Hofe zu thun und wurden gewöhnlich
erſt gegen Mittag in reinlichen, weiſſen Kleidern
ſichtbar. Friedrich und Leontin wohnten ei¬
gentlich den ganzen Vormittag drauſſen in dem
ſchönen Garten. Auf Friedrich hatte das ſtille
Leben den wohlthätigſten Einfluß. Seine Seele be¬
fand ſich in einer kräftigen Ruhe, in welcher allein
ſie, gleich dem unbewegten Spiegel eines Sees,
im Stande iſt, den Himmel in ſich aufzunehmen.
Das Rauſchen des Waldes, der Vogelſang rings
um ihn her, dieſe ſeit ſeiner Kindheit entbehrte
grüne Abgeſchiedenheit, alles rief in ſeiner Bruſt
jenes ewige Gefühl wieder hervor, das uns wie in
den Mittelpunkt alles Lebens verſenkt, wo alle die
Farbenſtrahlen, gleich Radien, ausgeh'n und ſich
an der wechſelnden Oberfläche zu dem ſchmerzlich¬
ſchönen Spiele der Erſcheinung geſtalten. Alles
Durchlebte und Vergangene geht noch einmal ern¬
ſter und würdiger an uns vorüber, eine über¬
ſchwengliche Zukunft legt ſich, wie ein Morgenroth,
blühend über die Bilder und ſo entſteht aus Ah¬
nung und Erinnerung eine neue Welt in uns und
wir erkennen wohl alle die Gegenden und Geſtalten
wieder, aber ſie ſind größer, ſchöner und gewalti¬
ger und wandeln in einem anderen, wunderbaren
Lichte. Und ſo dichtete hier Friedrich unzählige
Lieder und wunderbare Geſchichten aus tiefſter Her¬
zensluſt, und es waren faſt die glücklichſten Stun¬
den ſeines Lebens.

8[114]

Oft beſuchte ihn dort Herr v. A. in ſeiner Werk¬
ſtatt, doch immer nur auf kurze Zeit, um ihn nicht
zu ſtören; denn er ſchien eine heilige Scheu vor al¬
lem zu haben, womit es einem Menſchen Ernſt
war, obſchon er, wie Friedrich aus mehreren
Aeuſſerungen bemerkt hatte, insbeſondere von der
Dichtkunſt gar nichts hielt. Er war einer von je¬
nen, die, durch einſeitige Erziehung und eine Reihe
ſchmerzlicher Erfahrungen ermüdet, den lebendigen
Glauben an Poeſie, Liebe, Heldenmuth und alles
Große und Ungewöhnliche im Leben aufgegeben ha¬
ben, weil es ſich ſo ungefüge gebährdet und nir¬
gends mehr in die Zeit hineinpaſſen will. Zu über¬
drüßig, um ſich dieſe Räthſel zu löſen, und doch
zu großmüthig, um ſich in das wichtigthuende Nichts
der anderen einzulaſſen, ziehen ſich ſolche Menſchen
nach und nach kalt in ſich ſelbſt zurück und erklären
zulezt alles für eitel und Affektation. Daher liebte
er die beyden Gäſte, welche ſeine meiſt ſehr genia¬
len Bemerkungen, mit denen er das Erbärmliche
aller Affektation auf die höchſte Spitze des Lächerli¬
chen zu ſtellen pflegte, immer ſogleich verſtanden
und würdigten. Ueberhaupt waren ihm dieſe bey¬
den eine ganz neue Erſcheinung, die ihn oft in ſei¬
ner Apathie irre machte, und er gewann während
ihres Auffenthaltes auf dem Schloſſe eine unge¬
wöhnliche Heiterkeit und Luſt an ſich ſelber. Uebri¬
gens war er bis zur Sonderbarkeit einfach, redlich
und gutmüthig und Friedrich liebte ihn unaus¬
ſprechlich.

[115]

Fräulein Julie fuhr fort, ihre Tante in den
häuslichen Geſchäften mit der ſtrengſten Ordnung
zu unterſtützen. Sonſt war ſie ſtill und wußte ſich
eben ſo wenig wie ihr Vater in die gewöhnliche
Unterhaltung zu finden, worüber ſie oft von der
Tante Vorwürfe anhören mußte. Doch verbreitete
die beſtändige Heiterkeit und Klarheit ihres Gemü¬
thes einen unwiderſtehlichen Frühling über ihr gan¬
zes Weſen. Leontin, den ihre Schönheit vom er¬
ſten Augenblicke an heftig ergriffen hatte, beſchäf¬
tigte ſich viel mit ihr, ſang ihr ſeine phantaſtiſchen
Lieder vor oder zeichnete ihr Landſchaften voll aben¬
theuerlicher Karrikaturen und Bäumen und Felſen,
die immer ausſahen, wie Träume. Aber er fand,
daß ſie gewöhnlich nicht wußte, was ſie mit alle
dem anfangen ſollte, daß ſie grade bey Dingen,
die ihn beſonders erfaßten, faſt kalt blieb. Er be¬
griff nicht, daß das heiligſte Weſen des weiblichen
Gemüthes in der Sitte und dem Anſtande beſtehe,
daß ihm in der Kunſt, wie im Leben, alles Zügel¬
loſe ewig fremd bliebe. Er wurde daher gewöhn¬
lich ungeduldig und brach dann in ſeiner ſeltſamen
Art in Witze und Wortſpiele aus. Da aber das
Fräulein wieder viel zu unbeleſen war, um dieſe
Sprünge ſeines Geiſtes zu verfolgen und zu verſte¬
hen, ſo führte er, ſtatt zu belehren, einen immer¬
währenden Krieg in die Luft mit einem Mädchen,
deſſen Seele war wie das Himmelblau, in dem
jeder fremde Schall verfliegt, das aber in ungeſtör¬
8 *[116] ter Ruhe aus ſich ſelber den reichen Frühling aus¬
brütet.


Deſto beſſer ſchien das Fräulein mit Friedrich
zu ſtehen. Dieſem erzählte ſie zutraulich mit einer
wohlthuenden Beſtimmtheit und Umſicht von ihrem
Hausweſen, ihrer beſchränkten Lebensweiſe, zeigte
ihm ihre bisherige Lektüre aus der Bibliothek ihres
Vaters, die meiſtentheils aus fabelhaften Reiſebe¬
ſchreibungen und alten Romanen aus dem Engli¬
ſchen beſtand, und that dabey unbewußt mit ein¬
zelnen, abgeriſſenen, ihr ganz eignen Worten oft
Aeuſſerungen, die eine ſolche Tiefe und Fülle des
Gemüthes aufdeckten, und ſo ſeltſam weit über den
beſchränkten Kreis ihres Lebens hinausreichten, daß
Friedrich oft erſtaunt vor ihr ſtand und durch
ihre großen, blauen Augen in ein Wunderreich hin¬
unterzublicken glaubte. Leontin ſah ſie oft Stun¬
denlang ſo zuſammen im Garten gehen und war
dann gewöhnlich den ganzen Tag über ausgelaſſen,
welches bey ihm immer ein ſchlimmes Zeichen war.


Der ſchöne Knabe Erwin, der mit einer un¬
beſchreiblichen Treue an Friedrich hieng, behielt
indeß auch hier ſeine Sonderbarkeiten bey. Er hat¬
te ebenfalls ſeinen Wohnplatz in dem Garten aufge¬
ſchlagen und war noch immer nicht dahin zu brin¬
gen, eine Nacht im Hauſe zu ſchlafen. Leontin
hatte für ihn eine eigne phantaſtiſche Tracht ausge¬
ſonnen, ſo viel auch die Tante, die es ſehr unge¬
reimt fand, dagegen hatte. Eine Art von ſpani¬
[117] ſchem Wams nemlich, himmelblau mit goldenen
Kettchen, umſchloß den ſchlanken Körper des Knaben.
Den weißen Hals trug er bloß, ein zierlicher Kra¬
gen umgab den ſchönen Kopf, der mit ſeinen dunk¬
len Locken und ſchwarzen Augen wie eine Blume
über dem bunten Schmucke ruhte. Da Friedrich
hier weniger zerſtreut war, als ſonſt, ſo widmete
er auch dem Knaben eine beſondere Aufmerkſamkeit.
Er entdeckte in wenigen Geſprächen bald an Schär¬
fe und Tiefe eine auffallende Aehnlichkeit ſeines Ge¬
müthes mit Julien. Nur mangelte bey Erwin das
ruhige Gleichgewicht der Kräfte, die alles beleuch¬
tende Klarheit ganz und gar. Im verborgenſten
Grunde der Seele ſchien vielmehr eine geheimni߬
volle Leidenſchaftlichkeit zu ruhen, die alles ver¬
wirrte und am Ende zu zerſtören drohte. Mit Er¬
ſtaunen bemerkte Friedrich zugleich, daß es dem
Knaben durchaus an allem Unterrichte in der Reli¬
gion gebreche. Er ſuchte daher ſeine früheſten Le¬
bensumſtände zu erforſchen, aber der Knabe be¬
harrte mit unbegreiflicher Hartnäckigkeit, ja mit ei¬
ner Art von Todesangſt auf ſeinem Stillſchweigen
über dieſen Punkt. Friedrich ließ es ſich nun
ernſtlich angelegen ſeyn, ihn im Chriſtenthume zu
unterrichten. Alle Morgen, wenn die Natur in
ihrer Pracht vor ihnen ausgebreitet lag, ſaß er mit
ihm im Garten, und machte ihn mit dem großen
Wunderreichen Lebenswandel des Erlöſers bekannt,
und fand, ganz dem Gange der Zeit zuwider, das
Gemüth des Knaben weit empfänglicher für das
[118] Verſtändniß des Wunderbaren als des Alltäglichen
und Gewöhnlichen. Seit dieſer Zeit ſchien Erwin
innerlich ſtiller, ruhiger und ſelbſt geſelliger zu wer¬
den.


In Juliens Weſen war indeß, ſeit die Frem¬
den hier angekommen waren, eine unverkennbare
Veränderung vorgegangen. Sie ſchien ſeitdem ge¬
wachſen und ſichtbar ſchöner geworden zu ſeyn. Auch
fieng ſie an, ſich mehrere Stunden des Tages auf
ihrem Zimmer zu beſchäftigen. Aus dieſem Zimmer
gieng eine Glasthüre auf den Garten hinaus; vor
derſelben ſtanden auf einem Balkon eine Menge
hoher, ausländiſcher Blumen, mitten in dieſem
Wunderreiche von Duft und Glanz ſaß ein bunter
Papagey hinter goldenen Stäben. Hier befand ſich
Julie, wenn alles ausgegangen war, und las oder
ſchrieb, während Erwin, drauſſen vor dem Balkon
ſitzend, auf der Guitarre ſpielte und ſang. So fand
ſie Friedrich einmal, als er ſie zu einem Spa¬
ziergange abholte, eben über einem Gemählde be¬
griffen. Es war, wie er mit dem erſten Blicke flüch¬
tig unterſcheiden konnte, ein halbvollendetes Portrait
eines jungen Mannes. Sie verdeckte es ſchnell, als
er hereintrat, und ſah ihn mit einem durchdringen¬
den, räthſelhaften Blicke an. — Sollte ſie lieben?
dachte Friedrich, und wußte nicht, was er davon
halten ſollte.


[119]

Achtes Kapitel.

Es war feſtgeſezt worden, daß die ganze Fa¬
milie eine kleine Reiſe auf ein Jagdgut des Herrn
v. A. unternehmen ſollte, das einige Meilen von
dem Schloſſe entfernt war. Am Morgen des be¬
ſtimmten Tages wachte Friedrich ſehr zeitig auf.
Er ſtellte ſich an's Fenſter. Der Hof und die gan¬
ze Gegend lag noch ruhig, am fernen Horizonte
fieng bereits an, der Tag zu grauen. Nur zwey
Jäger waren auch ſchon munter und putzten unten
im Hofe die Gewehre. Sie bemerkten den Grafen
nicht und ſchwatzten und lachten miteinander. Frie¬
drich hörte dabey mit Verwunderung mehreremal
Fräulein Julien nennen. Der eine Jäger, ein ſchö¬
ner junger Burſch, ſang darauf mit heller Stimme
ein altes Lied, wovon Friedrich immer nur die letz¬
ten Verſe, womit ſich jede Strophe ſchloß, vorſtand:


Das Fräulein iſt ein ſchönes Kind,

Sie hat ſo munt're Augen,

Die Augen ſo verliebet ſind,

Zu ſonſt ſie gar nichts taugen.

Friedrich erſchrack, denn er zweifelte nicht, daß
das Lied Julien gelten ſollte. Er überdachte das
Benehmen des Fräuleins in der lezten Zeit, das
Verſtecken des Bildes und verſchiedene hingeworfe¬
ne Reden, und konnte ſich ſelbſt der Meynung nicht
[120] erwehren, daß ſie verliebt ſey; aber wen ſie mey¬
ne, blieb ihm noch immer dunkel.


Unterdeß hatte ſich der Tag immer mehr und
mehr erhoben, hin und wieder im Schloſſe giengen
ſchon Thüren auf und zu, bis es endlich nach und
nach lebendig wurde. Wer es weiß, was es heißt,
ein ſo ſchwerfälliges Haus flott zu machen, der
wird ſich von dem Rumpelmorgen einen Begriff ma¬
chen können, der nun begann. Wie auf einem
Schiffe, das ſich zu einer nahen Schlacht bereitet,
verbreitete ſich langſam wachſend ein dunkles Getöſe
von Eile und Geſchäftigkeit durch's ganze Schloß,
Betten, Koffer und Schachteln flogen aus einer Ecke
in die andere, nur noch ſelten hörte man die Kom¬
mando-Trompete der Tante dazwiſchen tönen.
Für Leontin waren dieſe feyerlichen Vorbereitun¬
gen, die Wichtigkeit, mit der jeder ſein Geſchäft be¬
trieb, ein wahres Feſt. Unermüdlich befand er ſich
überall mitten im Gewühle und ſuchte unter dem
Scheine der Hülfleiſtung die Verwirrung immer
größer zu machen, bis er endlich durch ſeine zwey¬
deutigen Mienen den Zorn des geſammten Frauen¬
zimmers dergeſtalt gegen ſich empört hatte, daß er
es für das räthlichſte hielt, Reißaus zu nehmen.


Er ſezte ſich daher mit Friedrich und Viktor,
ſo hieß der Theolog, zu Pferde und ſie ritten auf
das Gut hinaus. Viktor, der nun mit den beyden
ſchon vertrauter und geſprächiger geworden war,
ſchien alle Trübniß dahinten gelaſſen zu haben, als
[121] ſie über die Berge ritten. Er war auf einmal aus¬
gelaſſen luſtig, und ſie konnten nicht umhin, über
den ſonderbar wechſelnden Menſchen zu erſtaunen,
der beſonders ganz nach Leontins Geſchmack war.
Unterweges ſahen ſie den ſeltſamen irrenden Rit¬
ter, der ſchon lange wieder das Schloß verlaſſen
hatte, in der Ferne auf ſeinem Gaule über ein
Ackerfeld hinwegſtolpern. Viktor'n brachte dieſer
Anblick ganz außer ſich vor Freude. Er rief ihm
ſogleich mit geſchwenktem Hute zu. Da aber jener,
ſtatt ſtill zu halten, ſeinen Gaul vielmehr in Trab
ſezte, um ihnen zu entkommen, ſo druckte er ſo¬
gleich die Sporen ein und machte Jagd auf ihn.
Er hatte ihn bald eingeholt und brachte ihn unter
einem heftigen und lauten Wortwechſel mit ſich zu¬
rück. Um dieſe [Eroberung] vermehrt, zogen ſie nun
fröhlich weiter und erblickten nach einigen Stunden
endlich das Gut des Herrn v. A. als ſie auf einer
Anhöhe plötzlich aus dem Walde herauskamen.
Das kleine Schloß mit ſeinem netten Hofe lag mit¬
ten in einem einſamen Thale, rings umher von
Tannenwäldern umſchloſſen. Leontin, den dieſe tie¬
fe Einſamkeit überraſchte, blieb in Gedanken ſtehen
und ſagte: Wie fürchterlich ſchön, hier mit einem
geliebten Weibe ein ganzes Leben lang zu wohnen!
Ich möchte mich um alle Welt nicht verlieben.


Als ſie unten in das Thal hinabzogen, bog auch
ſchon auf der Höhe der Wagen des Herr v. A. mit
ſeinen vier Rappen um die Waldesecke herum und
der Kutſcher knallte luſtig mit der Peitſche, daß es
[122] weit in die Wälder hineinſchallte. Das Fräulein
lehnte ſich zum Wagen hinaus. Da reitet Er! rief
ſie auf einmal haſtig. — Zum Glücke rollte der Wa¬
gen zu ſchnell hinab, und die Tante hatte es nicht
gehört.


Am folgenden Morgen, da die Geſellſchaft zur
Jagd aufbrach, war Leontin ſchon lange drauſſen im
Walde. Er hatte ſich von den Jägern im allge¬
meinen die Gegend bezeichnen laſſen, wo die Jagd
gehalten werden ſollte, und war noch vor Tages¬
anbruch allein vorausgeritten. Denn ihm waren alle
die weitläufigen und ſchulgerechten Zurüſtungen, die
einer ſolchen allgemeinen Jagd immer vorherzugehen
pflegen, in den Tod verhaßt. Er durchſtrich daher
an dem friſchen Morgen allein die einſame Heyde,
wo ihn oft plötzlich durch eine Lichtung des Waldes
die herrlichſten Ausſichten überraſchten und Stunden¬
lang feſtbannten. So folgte er dem luſtigen Jagd¬
gewirre immer von weitem nach. Und wie unter
ihm die Wälder rauchten, hin und wieder Schüße
fielen und zwiſchen dem Gebell der Hunde die Hör¬
ner von Zeit zu Zeit ertönten, da dichtete ſeine fri¬
ſche Seele unaufhörlich ſeltſame Lieder, die er ſo¬
gleich ſang, ohne jemals ein einziges aufzuzeichnen.
Denn was er aufſchrieb, daran verlohr er ſogleich
die freye, unbeſtimmte Luſt. Es war, als bräche
das Wort unter ſeiner Hand die luftigen Schwin¬
gen. Er beherrſchte nicht, wie der beſonnene Dich¬
ter, das gewaltige Element der Poeſie, der Glück¬
liche wurde von ihr beherrſcht.

[123]

Unterdeß war die Sonne ſchon hoch über die
Wipfel des Waldes geſtiegen, nur noch hin und
her gaben die Hunde einzelne Laute, kein Schuß
fiel mehr und der Wald wurde auf einmal wieder
ſtill. Die Jäger durchſtrichen das Revier und rie¬
fen mit ihren Hüfthörnern die zerſtreuten Schützen
von allen Seiten zuſammen. So hatte ſich nach
und nach die Geſellſchaft, auſſer Leontin, zuſammen¬
gefunden und auf einer großen, ſchönen Wieſe ge¬
lagert, die kühl und luftig zwiſchen den Waldber¬
gen ſich hinſtreckte. Mehrere benachbarte Edelleute
waren ſchon frühmorgens mit ihren Söhnen und
Töchtern im Walde zur Jagd geſtoſſen und ver¬
mehrten nun den Trupp anſehnlich. Die Mädchen
ſaßen, wie Blumen in einen Teppich gewirkt, mit
ihren bunten Tüchern luſtig im Grünen, reinlich
gedeckte Tiſche mit Eßwaren und Wein ſtanden
ſchimmernd unter den kühlen Schatten, die Tante
gieng, alles fleißig und mit gutem Sinne ordnend,
umher. Julie hatte, während Friedrichs und Leon¬
tins Aufenthalte auf dem Schloſſe, den benachbar¬
ten Fräulein ſchon manches von den beyden Fremden
geſchrieben, vielerley ſeltſame Dinge hatte der Ruf,
der auf dem Lande alles Fremde um deſto hungriger
ergreift, je ſeltener es ihm kommt, zu ihnen getra¬
gen. Friedrich'n hatten ſie nun kennen gelernt,
aber ſeine ruhige, einfache Sitte befriedigte die jun¬
gen, neugierigen Seelen keineswegs. Und doch
hatte ihnen Julie immer nur von ihm mit ſo vieler
Wärme und Ausführlichkeit geſchrieben, Leontinen
[124] aber bloß mit einigen flüchtigen Worten berührt,
aus denen ſie niemals recht klug werden konnten. —
Auf einmal trat auch dieſer gegenüber auf der Höhe
aus dem Walde, und alle die jungen, ſchönen Au¬
gen flogen der hohen, ſchlanken Geſtalt zu. Er
konnte ſich nicht enthalten, als er unter ſich das
bunte Luſtlager erblickte, ſeinen Hut überm Kopfe
zu ſchwenken. Man erwiederte von unten ſeine
Begrüßung, wobey ſich insbeſondere Viktor wieder
auszeichnete. Er warf ſeinen Hut mit fröhlicher
Wuth hoch in die Luft, ergriff ſchnell ſeine Büchſe
und ſchoß ihn ſo im Fluge, zu nicht geringem
Schreck des ſämmtlichen Frauenzimmers, wieder
herab.


Leontin war indeß hinabgeſtiegen, und alles
rückte ſich nun um die reichbedeckten Tiſche zuſam¬
men. Die Jäger lagen, ihre Weinflaſchen in der
Hand, hin und her zerſtreut, ihre Hunde lechzend
neben ihnen auf den Boden hingeſtreckt. Der freye
Himmel machte alle Herzen weit, der Wein blickte
golden aus den hellgeſchliffenen Gläſern, wie die
Luſt aus den glänzenden Augen, und ein fröhliches
Durcheinanderſprechen erfüllte bald die Luft. Unter
den fremden Fräulein befand ſich auch eine Braut,
ein hübſches, junges, ſehr munteres Mädchen. Ihr
Bräutigam war ein ſchöner, ſchlanker Landjunker
mit einem bedeutenden Geſicht voll Leben, um das
es jammerſchade war, daß es durch einige rohe
Züge entſtellt wurde. Er mußte ſich auf das tu¬
multuariſche Andringen ſämmtlicher Alten feyerlich
[125] neben ſeine Braut ſetzen, welches er auch ohne
weiteres that. Könnte ich's nur ein einzigesmal in
meinem Leben ſo weit bringen, ſagte Leontin zu
Friedrich, ſo einen ſtattlichen, engelrechten Bräuti¬
gam vorzuſtellen! So eine öffentliche Brautſchaft
iſt wie ein Wirthshaus mit einem abgeſchabten Cu¬
pido am Aushängeſchilde, wo jedermann aus- und
eingehen und ſein bischen Witz blicken laſſen darf.


Wehe der Braut, die unter luſtige Trinker ge¬
räth! So wurde auch hier nach rechter deutſcher
Weiſe dem Brautpaare bald von allen Seiten mit
kernigen Anhängen zugetrunken, wofür ſich die jun¬
ge Braut immer zierlich und erröthend bedankte,
indem ſie jedesmal ebenfalls das Glas an den Mund
ſezte. Auch Leontin, der ſich an dem allgemeinen
Getümmel von guten und ſchlechten Einfällen ergöz¬
te, und dem die feinen Lippen der Braut roſiger
vorkamen, wenn ſie ſie in den goldenen Rand des
Weines tauchte, ſezte ihr tapfer zu und trank mehr
als gewöhnlich.


Die alten Herren hatten ſich indeß in einen
weitläufigen Diſkurs über die Begebenheiten und
Heldenthaten der heutigen Jagd verwickelt, und
konnten nicht aufhören zu erzählen, wie jener Haſe
ſo herrlich zu Schuß gekommen, wie jener Hund
angeſchlagen, der andere die Jagd dreymal gewen¬
det u. ſ. w. Leontin, der auch mit in das Geſpräch
hineingezogen wurde, ſagte: ich liebe an der Jagd
nur den friſchen Morgen, den Wald, die luſtigen
[126] Hörner, und das gefährliche, freye, ſoldatiſche Le¬
ben. — Alle nahmen ſogleich Parthey gegen dieſen
kezeriſchen Satz und überſchrieen ihn heftig mit einem
verworrenen Schwall von Widerſprüchen. Die ei¬
gentlichen Jäger von Handwerk, fuhr Leontin lu¬
ſtig fort, ſind die eigentlichen Pfuſcher in der edlen
Jägerey, Narren des Waldes, Pedanten, die den
Waldgeiſt nicht verſtehen; man ſollte ſie gar nicht
zulaſſen, uns anderen gehört das ſchöne Waldre¬
vier! Dieſe offenbare Kriegserklärung brachte nun
vollends alles in Harniſch. Von allen Seiten fiel
man laut über ihn her. Leontin, den der viele
Wein und die allgemeine Fehde erſt recht in ſeine
Luſtigkeit hineingeſetzt hatte, wußte ſich nicht mehr
anders zu retten: er ergriff die Guitarre, die Ju¬
lie mitgebracht, ſprang auf ſeinen Stuhl hinauf
und überſang die Kämpfenden mit folgendem Liede:


Was wollt ihr in dem Walde haben,

Mag ſich die arme Menſchenbruſt

Am Waldesgruße nicht erlaben,

Am Morgenroth und grüner Luſt?
Was tragt ihr Hörner an der Seite,

Wenn ihr des Hornes Sinn vergaßt,

Wenn's euch nicht ſelbſt lockt in die Weite,

Wie ihr vom Berg' frühmorgens blast?
Ihr werd't doch nicht die Luſt erjagen,

Ihr mög't durch alle Wälder geh'n;

Nur müde Füß' und leere Magen —

Mir möcht' die Jägerey vergeh'n!
[127]
O nehmet doch die Schneiderelle,

Guckt in der Küche in den Topf!

Sonntags dann auf des Hauſes Schwelle,

Krau' euch die Ehefrau auf dem Kopf!
Die Thierlein ſelber: Hirſch und Rehen,

Was luſtig haußt im grünen Haus,

Sie flieh'n auf ihre freyen Höhen,

Und lachen arme Wichte aus.
Doch, kommt ein Jäger wohlgebohren,

Das Horn irrt, er blizt roſenroth,

Da iſt das Hirſchlein wohl verlohren,

Stellt ſelber ſich zum luſt'gen Tod.
Vor allen aber die Verliebten,

Die lad' ich ein zur Jägerluſt,

Nur nicht die weinerlich Betrübten,

Die recht von friſch' und ſtarker Bruſt.
Mein Schatz iſt Königinn im Walde,

Ich ſtoß' ins Horn, in's Jägerhorn!

Sie hört mich fern und naht wohl balde,

Und was ich blaſ', iſt nicht verlohr'n! —

Ich glaube, ich blaſe gar ſchon aus des Kna¬
ben Wunderhorn, unterbrach er ſich hier ſelber und
ſprang ſchnell von ſeinem Stuhle. Die ganze Ge¬
ſellſchaft war durch das luſtige Lied wieder mit ihm
ausgeſöhnt, der Streit war vergeſſen und von allen
Seiten wurde auf die Geſundheit des Sängers ge¬
trunken.


Unterdeß zog der ſeltſame Viktor, der ſich
während Leontins Geſang fortgeſchlichen hatte, weil
er kein Lied vertragen konnte, wo er nicht ſelbſt
[128] mitſingen durfte, aller Augen auf ein neues Schau¬
ſpiel. Er warf nemlich im Hintergrunde, um nicht
bemerkt zu werden, zu ſeiner eignen Herzensluſt die
leeren Weinfäßchen in die Luft, während die Jä¬
ger alle nach denſelben ſchießen mußten, welches
nicht ohne daß größte Geſchrey ablief. Die Tante,
welche keinen Rauſch an Männern ertragen konnte,
befürchtete eine allgemeine Anarchie und lud die Ge¬
ſellſchaft, um die erhizten Gemüther zu zerſtreuen,
noch auf einige Stunden zu ſich auf das Jagdſchloß.
Alles brach daher auf und beſtieg den Wagen.
Friedrich, Leontin und Viktor ritten wieder dem
langen Zuge voran, den Ritter von der traurigen
Geſtalt in ihrer Mitte, deſſen baufälliges Pferd
die Jäger mit einem Baldachin von grünen Zwei¬
gen und jungen Bäumchen beſteckt hatten, ſo daß
er, gleich Münchhauſen, wie unter einer Laube
ritt.


Als ſie auf dem Schloſſe angekommen waren,
wurden geſchwind noch einige Muſikanten, ſo gut
ſie hier zu bekommen waren, zuſammengebracht,
und man tanzte bis zur einbrechenden Nacht. Für
Friedrich und Leontin, die, frühzeitig in die Welt
hinausgeſtoſſen, gewohnt waren, das Leben immer
nur in großen, vollendeten Maßen, gleichſam wie
im Fluge, zu berühren, gewährte dieſer kleine
Kreis, wo faſt alle mit einander verwandt nur Eine
Familie bildeten, eine neue Erſcheinung. Die er¬
quickliche Art, wie die jungen Landfräulein immer
mit[129] mit Mund, Händen und den munteren Augen zu¬
gleich erzählten, ihre kleinen Manieren und un¬
ſchuldige Koketterie, die Sorgfalt, mit welcher die
Mütter nach jedem Tanze herumgiengen und ihren
artigen Kätzchen die Haare aus der heißen Stirne
ſtrichen und ſie ermahnten, nicht kalt zu trinken,
das lächelnde Wohlbehagen, mit dem eine jede alle
Mienen Leontins und Friedrichs verfolgten, wenn
ſie ſich mit ihren Töchtern gut zu unterhalten ſchie¬
nen, alles dieß machte auf die beyden Fremden den
ſonderbarſten Eindruck, und ſie hätten mit ihrem
neuen und ungewöhnlichen Weſen heut viele Herzen
erobern können, wenn der eine nicht zu großmü¬
thig, der andere nicht zu wild geweſen wäre.


Leontin walzte mit der niedlichen Braut. Sie
tanzte außerordentlich leicht und ſchön, und, wie er
ſo den ſchlanken, vollen Leib im Arme hatte, ſah
ſie ſo unbeſchreiblich friſch und reizend aus, daß
er ſich nicht enthalten konnte, das ſchöne Kind ei¬
nigemal an ſich zu drücken. Sie blickte heimlich
lächelnd mit liſtigfragenden Augen unter die langen
Wimpern zu ihm herauf. Sie konnten endlich bey¬
de vor Müdigkeit nicht mehr weiter fort und er
tanzte daher mit ihr bis in die nächſte Fenſterni¬
ſche, wo ſie zuſammen auf die Stühle ſanken.


Nach einiger Zeit ſah er ſie an einem anderen
Fenſter neben Fräulein Julien in ruhigem Geſpräche
ſitzen. Er lehnte ſich hinter ihnen an die Wand,
ohne von ihnen bemerkt zu werden. Sie erzählte
9[130] Julien, wann ihre Hochzeit ſeyn werde, wieviel
ſeine Wäſche ſie mitbekomme, wie ſie ihren kleinen
Garten einrichten wollten u. ſ. w. Dort in dem
Schlößchen unten, fuhr ſie fort, werden wir woh¬
nen. Leontin warf einen Blick durch das offene
Fenſter und ſah das Dach des Schlößchens, ſo eben
vom Abendroth beleuchtet, unbeſchreiblich einſam
und verlaſſen aus den Wäldern hervorragen. Eine
große Bangſamkeit überflog da ſein Herz und er
verſank in tiefe Gedanken. Die Braut, die unter¬
deß auf einmal gewahr wurde, daß er alles mit
angehört, ſchämte ſich und verdeckte ihr Geſicht mit
beyden Händchen.


In dieſem Augenblick hörte man ein verworre¬
nes Getöſe auf der Stiege, die Thüre gähnte und
ſpie einen ganzen Knäuel der ſeltſamſten und aben¬
theuerlichſten Zerrbilder und Mißgeſtalten aus, wie
ſie nur eine fürchterlichreiche, dunkel in ſich ſelber
arbeitende Phantaſie erſinnen konnte. Viktor! —
riefen Leontin und Friedrich zugleich, und ſie hat¬
ten es errathen. Dieſer hatte nemlich in möglich¬
ſter Haſt alles Altmodiſche, Lächerliche und Zer¬
lumpte von Kleidungsſtücken, deſſen er habhaft wer¬
den konnte, zuſammengerafft und damit die Bedien¬
ten und Jäger des Herrn v. A. aufgeputzt. Mit
einem unübertrefflich raſchen und glücklichen Witze
hatte er, da er alle genau kannte, jedem zuge¬
theilt, was ihm zukam, und ſo durch eine unge¬
wöhnliche Verbindung des Gewöhnlichſten den Phan¬
taſiereichſten Charakterzug erſchaffen. Da keine Lar¬
[131] ven vorhanden waren, ſo hatte er ſelber in aller
Schnelligkeit die Geſichter gemahlt, und man mu߬
te zugeben, jedes war ein wahrer Triumph der
freyſten und ſchärfſten Laune, denn eines Jeden
verborgenſte, innerſte Narrheit lachte erlöst aus den
Zügen. Beſonders zeichnete ſich eine über alle
Maaßen dünne und Schneiderartige Figur aus mit
einem unbeſchreiblich albern lächelnden Geſichte, dem
er alle Haare rückwärts aus der glatten Stirne ge¬
kämmt hatte. Der Leib des alten Rockes war um
eben ſo viel zu lang, als die knappen Aermel zu
kurz erſchienen. Recht oben auf dem Wirbel ſchweb¬
te ein winziges Hütchen, in der Hand trug er einen
kleinen Sonnenſchirm. Viktor ſelbſt führte in einem
umgekehrten Rocke mit einer verſtimmten Geige den
Zug an, und war recht das Salz und die Seele
des Abentheuers. Mit einer Wuth von Luſt wußte
er einem jeden ſeinen eigenthümlichen Spielraum zu
verſchaffen, und ſelbſt die Eitelſten dahin zu brin¬
gen, daß ſie ſich einmal über ſich ſelbſt erheben und
ihre eigne Narrheit zum Narren hatten. Und ſo ge¬
bährdeten ſich denn auch die Ungeſchickteſten meiſter¬
lich, ſo wie die Plumpheit ſelber komiſch wird, wenn
ſie über ihre eigene Füße fällt. Herr v. A. ſtand
ganz ſtill in einer Ecke und lachte, daß ihm die Au¬
gen übergiengen. Die Tante, die, wie faſt alle
Damen, keinen unmittelbaren Spaß verſtand, lä¬
chelte gezwungen. Manche andere ſchämten ſich zu
lachen, und thaten ſich Gewalt an, ernſthaft auszu¬
ſehen. Den irrenden Ritter aber hatte, ſeltſam ge¬
9 *[132] nug, gleich beym Eintritte des Maſkenzuges eine
ſonderbare Furcht überfallen; er nahm Reißaus und
ließ ſich nicht mehr wiederſehen.


Viktor führte daher, als die Ergötzung an dem
Spektakel anfieng lau zu werden, endlich die Ban¬
de wieder fort, um den flüchtigen Ritter aufzuſu¬
chen. Sie fanden ihn in einem finſteren Winkel des
Hofes verſteckt. Er war äußerſt aufgebracht und
wehrte ſich mit Händen und Füßen, als ſie ihn
aufſpürten. Viktor nahm ihn beym Arme und walz¬
te mit ihm, wie wahnſinnig, im Hofe um den
Brunnen herum. Ein alter, dicker Gerichtsverwal¬
ter, dem ſie unvermerkt die Doſe mit Kienruß ge¬
füllt, und der daher, da er ſich bey jeder Prieſe
das Geſicht bemahlte, wider ſein Wiſſen und Wil¬
len eine Hauptfigur in dem Luſtſpiele abgab, mu߬
te ebenfalls an einer allgemeinen Menuett Theil
nehmen, die ſich jezt in dem Hofe entſpann. Ein
einziges Licht ſtand auf einem Pfahle und warf im
Winde einen flatternden Schein über die ſeltſame
Verwirrung. Leontin, der ſich bald Anfangs mit
Leib und Seele mit hineingemiſcht hatte, ſaß hoch
oben auf dem Gartenzaune und ſtrich die verſtimm¬
te Geige dazu. Den irrenden Ritter, der ſich in¬
deß voll Angſt und Zorn mit Gewalt wieder losge¬
macht hatte, ſah man auf ſeinem Pferde mitten in
der mondhellen Nacht über die Felder entfliehen.


Wie haben Ihnen die Streiche gefallen? frag¬
te die Tante den Grafen Friedrich, von dem ſie
[133] ganz zuverſichtlich erwartete, daß er den Spaß für
unanſtändig hielt. In meinem Leben, ſagte Frie¬
drich, habe ich keine Pantomime geſehen, wo mit
ſo einfachen Mitteln ſo Vollkommenes erreicht wor¬
den wäre. Es wäre zu wünſchen, man könnte die
weltberühmten Mimiker, Grotesktänzer und wie ſie
ſich immer nennen, auf einen Augenblick zu ihrer
Belehrung unter dieſen Trupp verſetzen. Wie arm¬
ſelig, nüchtern und albern würden ſie ſich unter die¬
ſen tüchtigen Geſellen ausnehmen, die nicht bloß
dieſe oder jene einzelne Richtung des Komiſchen
ängſtlich herausheben, ſondern Sprache, Witz und
den ganzen Menſchen in Anſpruch nehmen. Jene
ermatten uns recht mit allgemeinen Späßchen, ohne
alle Individualität, mit hergebrachten, längſtab¬
genuzten Mienen und Sprüngen, und vor lauter
künſtlichen Anſtalten zum Lachen kommen wir nie¬
mals zum Lachen ſelber. Hier erfindet jeder ſelbſt,
wie es ihm die Luſt des Augenblickes eingiebt, und
die Thorheit lacht uns unmittelbar und keck in's
Geſicht, daß uns recht das Herz vor Freyheit auf¬
geht. — Das iſt wahr, ſagte die Tante, über die¬
ſes Urtheil erſtaunt, unſer Viktor iſt ein pudelnärri¬
ſcher, luſtiger Menſch. — Das glaube ich kaum,
erwiederte Friedrich, ein Menſch muß ſehr kalt oder
ſehr unglücklich ſeyn, um ſo zu phantaſiren. Viktor
kommt mir vor, wie jener Prinz in Sicilien, der
in ſeinem Garten und Schloße alles ſchief baute,
ſo daß ſein Herz das einzige Gerade in der phanta¬
ſtiſchen Verkehrung war.

[134]

Es war unterdeß ſchon ſpät geworden, die
fremden Wagen fuhren unten vor und die Geſell¬
ſchaft fieng an Abſchied zu nehmen und aufzuſtei¬
gen. In dem allgemeinen Getümmel der Bekom¬
plimentirungen hatte die niedliche Braut noch ein
Tuch vergeſſen. Sie lief daher mit Julien noch ein¬
mal in das Zimmer zurück. Es war niemand mehr
darin, nur Leontin, der endlich auch die Maſken¬
bande verlaſſen hatte, kam ſo eben von der ande¬
ren Seite herein. Das luſtige Mädchen verſteckte
ſich ſchnell, da ſie ihn erblickte, hinter die lange
Fenſter-Gardine und wickelte ſich ganz darein, ſo
daß nur die munteren Augen lüſtern auffordernd
aus dem Schleyer hervorblitzten. Leontin zog das
ſchöne muthwillige Kind heraus und küßte ſie auf
den rothen Mund. Sie gab ihm ſchnell einen herz¬
haften Kuß wieder und rannte eiligſt zu dem Wa¬
gen zurück, wo man ihrer ſchon harrte. Ade, Ade!
ſagte ſie noch am Schlage zu Julien, eigentlich aber
mehr zu Leontin hingewendet, ihr ſeht mich nun ſo
bald nicht wieder, gewiß nicht. — Und ſie hielt
Wort.


Die Gäſte waren nun fort, Herr v. A. und
ſeine Schweſter ſchlafen gegangen, und alles im
Schloſſe leer und ſtill. Leontin ſaß oben im Vor¬
ſaale im offenen Fenſter. Drauſſen zogen Gewitter,
man ſah es am fernen Horizonte blitzen. Fräulein
Julie gieng ſo eben mit einem Lichte in der Hand
über den Hausflur nach ihrer Schlafkammer. Er
rief ihr eine gute Nacht zu. Sie war unentſchloſ¬
[135] ſen, ob ſie bleiben oder weitergehen ſollte. Endlich
kehrte ſie zögernd um, und trat zu ihm an's Fen¬
ſter. Da bemerkte er Thränen in ihren großen Au¬
gen; ſie war ihm noch nie ſo wunderſchön vorge¬
kommen. Liebe Julie! ſagte er, und faßte ihre klei¬
ne Hand, die ſie gern in der ſeinigen ließ. Der
Wind, der zum Fenſter hereinkam, löſchte ihr plötz¬
lich das Licht aus. Mit abgewendetem Geſicht
ſprach ſie da einige Worte in die Nacht hinaus,
aber ſo leiſe und, wie es ihm ſchien, von verhalte¬
nem Weinen erſtickt, daß er nichts verſtehen konn¬
te. Er wollte ſie fragen, aber ſie zog ihre Hand
weg und gieng ſchnell in ihr Schlafzimmer.


Ohne zu wiſſen, was er davon halten ſollte,
ſchaute er voller Gedanken in den finſteren Hof hin¬
unter. Dort ſah er Viktor'n auf einem großen
Steine ſitzen, den Kopf in beyde Hände geſtützt;
er ſchien eingeſchlafen. Er eilte daher ſelber in den
Hof hinab und nahm die Guitarre mit, die er un¬
ten im Fenſter liegend fand. Wir wollen dieſe
Nacht auf dem Teiche herumfahren, ſagte er zu
Viktor, der indeß aufgewacht war. Dieſer war ſo¬
gleich mit voller Luſt von der Parthie, und ſo zυ¬
gen ſie zuſammen hinaus.


Sie beſtiegen den kleinen Kahn, der unweit
vom Schloſſe im Schilfe angebunden lag, und ru¬
derten bis in die Mitte des Sees. Die ganze
Runde war todtenſtill, nur einige Nachtvögel
pfiffen von Zeit zu Zeit aus dem Walde herüber.
[136] Es ſchien, als wollte das Wetter heraufkommen,
das man von ferne ſah, denn ein kühler Wind
flog über den Teich voran und kräuſelte die ruhige
Fläche. Sie glaubten Fräulein Julie an dem Fen¬
ſter zu bemerken. Da ſang Leontin, der vorn im
Kahne aufrecht ſtand, folgendes Lied zur Guitarre,
während der ewig rege und unruhige Viktor bald
tollkühn mit dem Kahne ſchaukelte, bald wieder in
den Wald hinausrief, daß hin und her die Hunde
an den nächſten Häuſern wach wurden:


Schlafe, Liebchen, weil's auf Erden

Nun ſo ſtill und ſeltſam wird!

Oben geht die goldne Heerde,

Für uns alle wacht der Hirt.
In der Ferne zieh'n Gewitter;

Einſam auf dem Schifflein ſchwank

Greiff' ich drauſſen in die Zitter,

Weil mir gar ſo ſchwül und bang.
Schlingend ſich an Bäum' und Zweigen,

In Dein ſtilles Kämmerlein,

Wie auf goldnen Leitern, ſteigen

Dieſe Töne aus und ein.
Und ein wunderſchöner Knabe

Schifft hoch über Thal und Kluft,

Rührt mit ſeinem goldnen Stabe

Säuſelnd in der lauen Luft.
Und in wunderbaren Weiſen,

Singt er ein uraltes Lied,

Das in linden Zauberkreiſen

Hinter ſeinem Schifflein zieht.
[137]
Ach, den ſüßen Klang verführet

Weit der buhleriſche Wind,

Und durch Schloß und Wand ihn ſpüret

Träumend jedes ſchöne Kind.

Es fieng ſtärker an zu blitzen, das Gewitter
ſtieg herauf. Viktor ſchaukelte heftiger mit dem
Kahne; Leontin ſang:


Es waren zwey junge Grafen

Verliebt bis in den Tod,

Die konnten nicht ruh'n noch ſchlafen

Bis an den Morgen roth.
O trau' den zwey Geſellen,

Mein Liebchen, nimmermehr,

Die geh'n wie Wind und Wellen,

Gott weiß: wohin, woher. —
Wir grüßen Land und Sterne

Mit wunderbarem Klang,

Und wer uns ſpürt von ferne,

Dem wird ſo wohl und bang.
Wir haben wohl hienieden

Kein Haus an keinem Ort,

Es reiſen die Gedanken

Zur Heymath ewig fort.
Wie eines Stromes Dringen

Geht unſer Lebenslauf,

Geſanges Macht und Ringen

Thut helle Augen auf.
Und Ufer, Wolkenflügel,

Die Liebe hoch und mild —

Es wird in dieſem Spiegel

Die ganze Welt zum Bild.
[138]
Dich rührt die friſche Helle,

Das Rauſchen heimlich kühl,

Das lockt Dich zu der Welle,

Weil's drauſſen leer und ſchwül.
Doch wolle nie Dir halten

Der Bilder Wunderfeſt,

Todt wird ihr freyes Walten,

Hältſt Du es weltlich feſt.
Kein Bett darf er hier finden.

Wohl in den Thälern ſchön

Siehſt Du ſein Gold ſich winden,

Dann plötzlich Meerwärts dreh'n.

Viktor, der unterdeß, ohne auf das Lied zu
achten, immerfort das Echo verſuchte, zwang ihn
hier, durch ſein übermäßiges Rufen und Schreyen,
abzubrechen. Julie hatte auch ſchon lange das Fen¬
ſter geſchloſſen und alles im Schloſſe war finſter
und ſtill. Das Gewitter zog indeß grade über ihnen
hin, die Wälder rauſchten von allen Seiten. Leon¬
tin griff ſtärker und frömmer in die Saiten:


Schlag' mit den flamm'gen Flügeln!

Wenn Blitz aus Blitz ſich reißt:

Steht wie in Roßesbügeln

So ritterlich mein Geiſt.
Waldesrauſchen, Wetterblicken

Mach't recht die Seele los,

Da grüß't ſie mit Entzücken,

Was wahrhaft, ernſt und groß.
Es ſchiffen die Gedanken

Fern wie auf weitem Meer,

Wie auch die Wogen ſchwanken:

Die Seegel ſchwellen mehr.
[139]
Herr Gott, es wacht Dein Wille!

Wie Tag und Luſt verweh'n,

Mein Herz wird mir ſo ſtille

Und wird nicht untergeh'n.

Sie bemerkten nun einen rothen Schein, der
über dem Schloßhofe zu ſteh'n ſchien. Sie hielten
es für einen Feuermann; denn die ganze Zeit hin¬
durch hatten ſie rings in der Runde ſolche Erſchei¬
nungen, wie Wachtfeuer lodern geſehen: theils
bläuliche Irrlichter, die im Winde über die Wieſen
ſtreiften, theils gröſſere Feuergeſtalten, mit zweifel¬
haftem Glanze durch die Nacht wandelnd. Als ſie
aber wieder hinblickten, ſahen ſie den Feuermann
über dem Schloſſe ſich langſam dehnen und Rieſen¬
groß wachſen, und ein langer Blitz, der ſo eben
die ganze Gegend beleuchtete, zeigte ihnen, daß der
Schein grade vom Dache ausgieng. Um Gotteswil¬
len, das iſt Feuer im Schloß! rief Viktor erblaſ¬
ſend, und ſie ruderten, ohne ein Wort zu ſprechen,
eiligſt auf das Ufer zu.


Als ſie ans Land kamen, ſahen ſie bereits ei¬
nen röthlichen Qualm zum Dachfenſter hervordringen
und ſich in fürchterlichen Kreiſen in die Nacht hin¬
auswälzen. Alles im Hauſe und im Hofe ſchlief
noch in tiefſter Ruhe. Viktor machte Lärm an al¬
len Thüren und Fenſtern. Leontin eilte in die Kir¬
che und zog die Sturmglocke, deren abgebrochene,
dumpfe Klänge, die weit über die ſtillen Berge
hinzogen, ihn ſelber im Innerſten erſchütterten.
Der Nachtwächter gieng durch die Gaſſen des Dor¬
[140] fes und erfüllte die Luft mit den gräßlichen Jam¬
mertönen ſeines Hornes. Und ſo wurde endlich
nach und nach alles lebendig, und rannte mit blei¬
chen Todtengeſichtern, gleich Geſpenſtern, beſtürzt
und verſtört durcheinander. Die heftige Tante hat¬
te bald der erſte Schreck überwältigt. Sie lag be¬
wußtlos in Krämpfen und vermehrte ſo die allge¬
meine Verwirrung noch mehr.


Schon ſchlug die helle Flamme oben aus dem
Dache, das Hinterhaus ſtand noch ruhig und un¬
verſehrt. Niemanden fiel es in der erſten Beſtür¬
zung ein, daß Fräulein Julie im Hinterhauſe ſchlafe
und ohne Rettung verlohren ſey, wenn die Flamme
die einzige Stiege, die dort hinauf führte, ergrif¬
fe. Leontin dachte daran und ſtürzte ſich ſogleich in
die Gluth.


Als er in ihr Schlafzimmer trat, ſah er das
ſchöne Mädchen, den Kopf auf den vollen, weißen
Arm geſenkt, in ungeſtörtem Schlafe ruhen. Alles
in dem Zimmer lag noch ſtill und friedlich umher,
wie ſie es beym Entkleiden hingelegt; ein aufge¬
ſchlagenes Gebethbuch lag an ihrer Seite. Es war
ihm in dieſem Augenblicke, als ſähe er einen ſchö¬
nen, goldgelockten Engel neben ihrem Bette ſitzen,
der ſchaute mit den ſtillen, himmliſchen Augen in
das wilde Element, das ſich vor Kinderaugen fürch¬
tet. — Das Fräulein ſchlug verwundert fragend die
großen Augen auf, als er zu ihr trat, und erblick¬
te bald die ungewöhnliche, ſchreckliche Helle durch
das ganze Haus. Leontin ſchlug ſchnell das Bett¬
[141] tuch um ſie herum und nahm ſie auf den Arm.
Ohne ein Wort zu ſprechen, umklammerte ſie ihn in
ſtummem Schrecken. Ein heftiger Wind, der aus
dem Brande ſelbſt auszugehen ſchien, faltete indeß
die Flammen-Fahnen immer mehr auseinander,
der ſchreckliche Feuermann griff mit ſeinen Rieſenar¬
men rechts und links in die dunkle Nacht und hat¬
te bereits auch ſchon das Hinterhaus erfaßt. Da
ſah Leontin auf einmal, mitten zwiſchen den Flam¬
men, eine unbekannte weibliche Geſtalt in weißem
Gewande erſcheinen, die ruhig in dem Getümmel
auf- und nieder gieng. Gott ſey Dank! hörte er
zugleich draußen die Bauern rufen, wenn die da
iſt, wird's bald beſſer geh'n. — Wer iſt die weiße
Frau? fragte Leontin, der nicht ohne innerlichen
Schauder auf ſie hinblicken konnte. Julie, die ihr
Geſicht feſt an ihn gedrückt hatte, überhörte in der
Verwirrung die Frage, und ſo trug er ſie hoch
durch das Feuer hindurch, ohne die Augen von der
fremden Geſtalt zu wenden. Kaum hatte er aber
das Fräulein im Hofe niedergeſezt, als er ſelber,
von dem Rauche, der Hitze und Anſtrengung ganz
erſchöpft, bewußtlos auf den Boden hinſank.


Jene ſeltſame Erſcheinung hatte während deß alle
mit friſchem Muthe beſeelt, und ſo war es der ver¬
doppelten Anſtrengung gelungen, die Flammen end¬
lich zu zwingen. Als Leontin die Augen wieder
aufſchlug, ſah er mit Erſtaunen alles ringsumher
ſchon leer und ruhig. Die weiße Frau aber war
mit dem Feuer verſchwunden, wie ſie gekommen
[142] war. Er ſelber lag neben der Brandſtätte auf ei¬
nem Kaſten zwiſchen einer Menge geretteter Ge¬
räthſchaften, die unordentlich übereinander lagen.
Julie ſaß neben ihm und hatte ſeinen Kopf auf
ihrem Schooße. Alle anderen hatten ſich, von der
Arbeit ermattet, nach und nach zerſtreut, Herr
v. A. und ſeine Schweſter noch auf einige Stunden
zur Ruhe begeben. Nur Viktor'n, der während dem
Brande mehreremal bis in die innerſten Zimmer
gedrungen, und immer mitten zwiſchen dem zuſam¬
menſtürzenden Gebälk erſchienen war, ſah er hoch
auf einem halbabgebrannten Pfeiler eingeſchlafen.
Das prächtige Feuerwerk war indeß nun in ſich ſel¬
ber zuſammengeſunken, nur hin und wieder flackerte
noch zuweilen ein Flämmchen auf, während einige
dunkle Wachen an dem verwüſteten Platze auf und
ab giengen, um das Feuer zu hüten. Leontin hat¬
te den einen Arm um Julien geſchlungen, die ſtille
neben ihm ſaß. Ihr Herz war ſo voll, wie noch
niemals in ihrem ganzen Leben. Im Innerſten
aufgeregt von den raſchen Begebenheiten dieſer
Nacht, war es ihr, als hätte ſie in den wenigen
Stunden Jahre überlebt; was lange im Stillen ge¬
glommen, war auf einmal in helle Flammen aus¬
gebrochen. Müde lehnte ſie ihr Geſicht an ſeine
Bruſt und ſagte, ohne aufzuſehen: Sie haben mir
mein Leben gerettet. Ich kann es nicht beſchreiben,
wie mir damals zu Muthe war. Ich möchte Ihnen
nun ſo gern aus ganzer Seele danken, aber ich
könnte es doch nicht ausdrücken, wenn ich es auch
ſagen wollte. Es iſt auch eigentlich nicht das, daß
[143] Sie mich aus dem Feuer getragen haben. — Hier
hielt ſie eine Weile inne, dann fuhr ſie wieder
fort: Die Flamme iſt nun verloſchen. Wenn der
Tag kommt, iſt alles wieder gut und ruhig, wie
ſonſt. Jeder geht wieder gelaſſen an ſeine alte Ar¬
beit und denkt nicht mehr daran. Ich werde dieſe
Nacht niemals vergeſſen.


Sie ſah bey dieſen Worten Gedankenvoll vor
ſich hin. Leontin hielt ſich nicht länger, er zog ſie
an ſich und wollte ſie küſſen. Sie aber wehrte ihn
ab und ſah ihn ſonderbar an. — So ſaßen ſie noch
lange, wenig ſprechend, nebeneinander, bis endlich
Julien die Augen zuſanken. Er fühlte ihr ruhiges,
gleichförmiges Athmen an ſeiner Bruſt. Er hielt ſie
feſt im Arme und ſaß ſo träumeriſch die übrige
Nacht hindurch.


Die Gewitter hatten ſich indeß ringsum verzo¬
gen, ein labender Duft ſtieg aus den erquickten
Feldern, Kräutern und Bäumen. Aurora ſtand
ſchon hoch über den Wäldern. Da weckte der kühle
Morgenwind Julien aus dem Schlummer. Der
Rauſch der Nacht war verflogen; ſie erſchrack über
ihre Stellung in Leontins Armen und bemerkte
nun, da es überall licht war, mit Erröthen, daß
ſie halb bloß war. Leontin hob das ſchöne, ver¬
ſchlafene Kind hoch vor ſich in den friſchen Morgen
hinein, während ſie ihr Geſicht mit beyden Händen
bedeckte. Darauf ſprang ſie fort von ihm und eilte
ins Haus, wo ſo eben alles anfieng, ſich zu er¬
muntern.


[144]

Neuntes Kapitel.

Am Morgen ſaßen alle in der Stube des Jä¬
gers beym Frühſtück verſammelt, die unruhigen
Ereigniſſe dieſer Nacht beſprechend. Julie ſah blaß
aus, und Leontin bemerkte, daß ſie oft heimlich
über die Taße weg nach ihm hinblickte, und ſchnell
wieder wegſah, wenn ſein Auge ihr begegnete.


Alle unterſuchten darauf noch einmal die Brand¬
ſtätte, die noch immer fortrauchte. Man war all¬
gemein der Meynung, daß ein Blitz gezündet ha¬
ben müſſe, ſo viel Mühe ſich auch der dicke Ge¬
richtsverwalter gab, darzuthun, daß es boshafter¬
weiſe angelegt ſey, und daß man daher mit aller
Strenge unterſuchen und verfahren müſſe. Herr
v. A. verſchmerzte den Verluſt ſehr leicht, da er
ohnedieß ſchon lange Willens war, das alte Schlö߬
chen niederreißen zu laſſen, um ein neues, beque¬
meres hinzubauen.


Leontin fragte endlich wieder um die weiße
Frau. Es iſt eine reiche Witwe, ſagte Herr o. A.,
die vor einigen Jahren plötzlich in dieſe Gegend
kam, und mehrere Güther ankaufte. Sie iſt im
Stillen ſehr wohlthätig, und, ſeltſam genug, bey
Tag und bey Nacht, wo immer ein Feuer aus¬
bricht,[145] bricht, ſogleich bey der Hand, wobey ſie dann die
armen Verunglückten mit anſehnlichen Summen un¬
terſtüzt. Die Bauern glauben nun ganz zuverſicht¬
lich, ſobald ſie nur erſcheint, müſſe das Feuer ſich
legen, wie beym Anblick einer Heiligen. Uebrigens
empfängt und erwiedert ſie keine Beſuche, und nie¬
mand weiß eigentlich recht, wie ſie heißt, und wo¬
her ſie gekommen; denn ſie ſelber ſpricht niemals
von ihrem vergangenen Leben. Ja wohl, ſagte der
Gerichtsverwalter, mit einer wichtigen Miene, es
geht dort überaus geheimnißvoll zu. Aber es giebt
auch noch Leute hinter'm Berge. Man weiß wohl,
wie es zugeht in der Welt. Mein Gott! die liebe
Jugend — junges Blut thut nicht gut —. Ich
bitte, mahlen Sie uns keinen Schnurrbart an das
Heiligenbild! unterbrach ihn Leontin, der ſich ſeine
Phantaſie von der wunderbaren Erſcheinung nicht
verderben laſſen wollte.


Es war unterdeß ſchon wieder aufgepackt wor¬
den, um auf das Schloß des Herrn v. A. zurück¬
zukehren. Leontin konnte der Begierde nicht wider¬
ſtehen, die weiße Frau näher kennen zu lernen.
Er beredete daher Friedrich, mit ihm einen Streif¬
zug nach dem nahgelegenen Guthe derſelben zu ma¬
chen. Sie verſprachen, beyde noch vor Abend wie¬
der bey der Geſellſchaft einzutreffen.


Gegen Mittag kamen ſie auf dem Landſitze der
Unbekannten an. Sie fanden ein neu erbautes
Schloß, das, ohne eben groß zu ſeyn, durch ſeine
10[146] große, einfache Erfindung auf das angenehmſte
überraſchte. Eine Reihe hoher, ſchlanker Säulen
bildete oben den Vordertheil des Schloſſes. Eine
ſchöne, ſteinerne Stiege, welche die ganze Breite
des Hauſes einnahm, führte zu dieſem Säulen-
Eingange hinauf. Die Stiege erhob ſich nur all¬
mählig und terraſſenförmig und war mit Orangen,
Citronenbäumen und verſchiedenen hohen Blumen
beſetzt. Vor dieſer blühenden Terraſſe lag ein wei¬
ter, Schattenreicher Garten ausgebreitet.


Alles war ſtill, es ſchien niemand zu Hauſe zu
ſeyn. Auf der Stiege lag ein ſchönes, etwa zehn¬
jähriges Mädchen über einem Tambourin, auf das
ſie das zierliche Köpfchen gelehnt hatte, eingeſchlum¬
mert. Oben hörte man eine Flötenuhr ſpielen.
Das Mädchen wachte auf, als ſie an ſie heranka¬
men, und ſchüttelte erſtaunt die ſchwarzen Locken
aus den munteren Augen. Dann ſprang ſie ſcheu
auf und in den Garten fort, während die Schellen
des Tambourins, das ſie hoch in die Luft hielt,
hell erklangen.


Die beyden Grafen giengen nun in den Garten
hinab, deſſen ganze Anlage ſie nicht weniger anzog,
als das Aeußere des Schloſſes. Wie wahr iſt es,
ſagte Friedrich, daß jede Gegend ſchon von Natur
ihre eigenthümliche Schönheit, ihre eigene Idee
hat, die ſie mit ihren Bächen, Bäumen und Ber¬
gen, wie mit abgebrochenen Worten, auszuſprechen
ſucht. Wen dieſe einzelnen Laute rühren, der ſezt
mit wenigen Mitteln die ganze Rede zuſammen.
[147] Und darin beſteht doch eigentlich die ganze Kunſt
und Luſt, daß wir uns mit dem Garten recht ver¬
ſtehen. Leontin war indeß mehreremal verwundert
ſtehen geblieben. Höchſtſeltſam! ſagte er endlich,
als ſie den Gipfel eines Hügels erreicht hatten,
dieſe Baumgruppen, Wäldchen, Hügel und Ausſich¬
ten, erinnern mich ganz deutlich an gewiſſe Gegen¬
den, die ich in Italien geſehen, und an manchen,
glücklich durchſchwärmten Abend. Es iſt wahrhaftig
mehr als eine zufällige Täuſchung.


Der Abend fieng bereits an einzubrechen, als
ſie wieder bey den Stufen der großen Stiege an¬
langten. Sie wurden beyde von dem herrlichen An¬
blicke überraſcht, der ſich ihnen dort von oben dar¬
bot. Die Gegend lag in der abendrothen Däm¬
merung wie ein verworrenes Zaubermeer von Bäu¬
men, Strömen, Gärten und Bergen, auf dem
Nachtigallenlieder, gleich Syrenen, ſchifften. Wie
glücklich, ſagte Friedrich, iſt eine beruhigte, ſtille
Seele, die im Stande iſt, ſo beſonnen und gleich¬
förmig nach allen Seiten hin zu wirken und zu
ſchaffen, die, von keiner beſonderen Leidenſchaft mehr
geſtört, auf der ſchönen Erde, wie in der Vorhalle
des gröſſeren Tempels, wohnt!


Er wurde hier durch einige Saiten-Akkorde
unterbrochen, die aus dem Garten herauftönten.
Bald darauf hörten ſie einen Geſang. Friedrich
horchte voll Erſtaunen, denn es war daſſelbe ſon¬
derbare Lied aus ſeiner Kindheit, das manchmal
10 *[148] auch Erwin in der Nacht geſungen, und das er
ſonſt nirgends wieder gehört hatte.


Leontin war indeß in das erſte Zimmer hinein¬
getreten, deſſen Thüre halb geöffnet ſtand. Er warf
einen flüchtigen Blick durch das Gemach. Ein al¬
tes, auf Holz gemahltes Ritterbild hing dort an
der Wand, über welche der Abend zuckend die lez¬
ten ungewiſſen Strahlen warf. Leontin trat erſchüt¬
tert zurück, denn er erkannte auf einmal das be¬
leuchtete Geſicht des Bildes. In demſelben Augen¬
blick trat ein alter Bediente von der anderen Sei¬
te in das Zimmer und ſchien heftig zu erſchrecken,
als er Leontin anſah. Um Gotteswillen, rief Leon¬
tin ihm zu, ſagen Sie mir, wer iſt der Ritter
dort? Der Alte entfärbte ſich und ſah ihn lange
ernſthaft und forſchend an. Das Bild iſt vor meh¬
reren hundert Jahren gemahlt, eine zufällige Aehn¬
lichkeit muß Sie täuſchen, ſagte er darauf wieder
geſammelt und ruhig. Wo iſt die Frau vom Hau¬
ſe? fragte Leontin wieder. Sie iſt heut noch vor
Tagesanbruch ſchnell fortgereist und kommt ſo bald
nicht zurück, antwortete der Bediente und entfernte
ſich mit einer eiligen Verbeugung, als wollte er
allen ferneren Fragen ausweichen.


Unruhig kehrte nun Leontin wieder zu Friedrich
zurück, gegen den er von dem ganzen lezten Vor¬
falle nichts erwähnte. Weder der Bediente, noch
auch das zierliche, ſcheue Mädchen, das ſie vorhin
ſchlummernd angetroffen, zeigte ſich mehr, und ſo
[149] ritten beyde endlich Gedankenvoll auf das Schloß
des Herrn v. A. zurück, wo ſie ſpät in der Nacht
anlangten.

Zehntes Kapitel.

Die alte, gleichförmige Ordnung der Lebens¬
weiſe kehrte nun wieder auf dem Schloſſe zurück.
Die beyden Gäſte hatten auf vieles Bitten noch ei¬
nige Zeit zugeben müſſen und lebten jeder auf ſei¬
ne Weiſe fort. Friedrich dichtete wieder fleißig im
Garten oder dem daran ſtoſſenden angenehmen
Wäldchen. Meiſt war dabey irgend ein Buch aus
der Bibliothek des Herrn v. A., wie es ihm grade
in die Hände fiel, ſein Begleiter. Seine Seele
war dort ſo ungeſtört und heiter, daß er die ge¬
wöhnlichſten Romane mit jener Andacht und Friſch¬
heit der Phantaſie ergriff, mit welcher wir in un¬
ſerer Kindheit ſolche Sachen leſen. Wer denkt nicht
mit Vergnügen daran zurück, wie ihm zu Muthe
war, als er den erſten Robinſon oder Ritterroman
las, aus dem ihm das frühſte lüſterne Vorgefühl,
die wunderbare Ahnung des ganzen, künftigen,
reichen Lebens anwehte; wie zauberiſch da alles
ausſah und jeder Buchſtabe auf dem Papiere leben¬
dig wurde? Wenn ihm dann nach vielen Jahren
ein ſolches Buch wieder in die Hand kommt, ſucht
[150] er begierig die alte Freude wieder auf darin, aber
der friſche, kindiſche Glanz, der damals das Buch
und die ganze Erde überſchien, iſt verſchwunden,
die Geſtalten, mit denen er ſo innig vertraut war,
ſind unterdeß fremde und anders geworden und ſe¬
hen ihn an, wie ein ſchlechter Holzſtich, daß er
weinen und lachen möchte zugleich. Mit ſo munte¬
ren, mahleriſchen Kindes-Augen durchflog denn
auch Friedrich dieſe Bücher. Wenn er dazwiſchen
dann vom Blatte aufſah, glänzte von allen Seiten
der ſchöne Kreis der Landſchaft in die Geſchichten
hinein, die Figuren, wie der Wind durch die Blät¬
ter des Buches rührte, erhoben ſich vor ihm in der
gränzenloſen, grünen Stille und traten lebendig in
die ſchimmernde Ferne hinaus; und ſo war eigent¬
lich kein Buch ſo ſchlecht erfunden, daß er es nicht
erquickt und belehrt aus der Hand gelegt hätte.
Und das ſind die rechten Leſer, die mit und über
dem Buche dichten. Denn kein Dichter giebt einen
fertigen Himmel; er ſtellt nur die Himmelsleiter
auf von der ſchönen Erde. Wer, zu träge un¬
luſtig, nicht den Muth verſpürt, die goldenen, lo¬
ſen Sproſſen zu beſteigen, dem bleibt der geheim¬
nißvolle Buchſtabe ewig todt, und er thäte beſſer,
zu graben oder zu pflügen, als ſo mit unnützem
Leſen müſſig zu geh'n.


Leontin dagegen durchſtrich alle Morgen, wenn
er es etwa nicht verſchlief, welches gar oft geſchah,
mit der Flinte auf dem Rücken Felder und Wäl¬
der, ſchwamm einigemal des Tages über die rei¬
[151] ßendſten Stellen des Fluſſes, der im Thale vorbey¬
gieng, und kannte bereits alle Pfade und Geſichter
der Gegend. Auch auf das Schloß der unbekannten
Dame war er ſchon einigemal wieder hinübergerit¬
ten, fand aber immer niemanden zu Hauſe. Alle
Tage beſuchte er gewiſſenhaft ein Paar wunderliche
altkluge Geſellen auf dem Felde, die er auf ſeinen
Streifereyen ausgeſpürt hatte, gab ihnen Tabak zu
ſchnupfen, den er bloß ihrentwillen bey ſich führte,
und führte Stundenlang eine tolle Unterhaltung mit
ihnen. Er las wenig, beſonders von neuen Schrif¬
ten, gegen die er eine Art von Widerwillen hatte.
Demohngeachtet kannte er doch die ganze Literatur
ziemlich vollſtändig. Denn ſein wunderliches Leben
führte ihn von ſelbſt und wider Willen in Berüh¬
rung mit allen ausgezeichneten Männern, und was
er ſo bey Gelegenheit kennen lernte, faßte er ſchnell
und ganz auf.


Sowohl er als Friedrich beſuchten faſt alle
Nachmittage den einſamen Viktor, deſſen kleines
Wohnhaus, von einem noch kleineren Gärtchen um¬
geben, hart am Kirchhofe lag. Dort unter den
hohen Linden, die den ſchönberaſeten Kirchhof be¬
ſchatteten, fanden ſie den ſeltſamen Menſchen ver¬
graben in eine Werkſtatt von Meißeln, Bohrern,
Drehſcheiben und anderem unzähligen Handwerks¬
zeuge, als wollte er ſich ſelber ſein Grab bauen.
Hier arbeitete und künſtelte derſelbe täglich, ſo viel
es ihm ſeine Berufsgeſchäfte zuließen, mit einem
unbegreiflichen Eifer und Fleiße, ohne um die an¬
[152] dere Welt drauſſen zu fragen. Ohne jemals eine
Anleitung genoſſen zu haben, verfertigte er Spiel¬
uhren, künſtliche Schlöſſer, neue, ſonderbare In¬
ſtrumente, und ſein, bey der Stille nach Außen,
ewig unruhiger und reger Geiſt verfiel dabey auf
die ſeltſamſten Erfindungen, die oft alle in Erſtau¬
nen ſetzten. Seine Lieblingsidee war, ein Luftſchiff
zu erfinden, mit dem man dieſes loſe Element eben
ſo bezwingen könnte wie das Waſſer, und er wäre
beynahe ein Gelehrter geworden, ſo hartnäckig und
unermüdlich verfolgte er dieſen Gedanken. Für
Poeſie hatte er, ſonderbar genug, durchaus keinen
Sinn, ſo willig, ja neugierig er auch aufhorchte,
wenn Leontin oder Friedrich darüber ſprachen. Nur
Abraham von St. Clara, jener geniale Schalk,
der mit einer ernſthaften Amtsmiene die Narren
auslacht, denen er zu predigen vorgiebt, war ſeine
einzige und liebſte Unterhaltung, und niemand ver¬
ſtand wohl, die Werke dieſes Schriftſtellers zu
durchdringen und ſich aus Herzensgrunde daran zu
ergötzen, als er. In dieſem unförmlichen „Ge¬
miſch-Gemaſch“ von Spott, Witz und Humor fand
ſein ſehr nahe verwandter Geiſt den rechten Tum¬
melplatz.


Uebrigens hatte ſich Friedrich gleich Anfangs
in ſeinem Urtheile über ihn keineswegs geirrt.
Seine Gemüthsart war wirklich durchaus dunkel
und melankoliſch. Die eine Hälfte ſeines Lebens
hindurch war er bis zum Tode betrübt, mürriſch
und unbehülflich, die andere Hälfte luſtig bis zur
[153] Ausgelaſſenheit, witzig, ſinnreich und geſchickt, ſo
daß die meiſten, die ſich mit einer gewöhnlichen
Betrachtung der menſchlichen Natur begnügen, ihn
für einen zweyfachen Menſchen hielten. Es war
aber eben die Tiefe ſeines Weſens, daß er ſich nie¬
mals zu dem ordentlichen, immer gleichförmigen
Spiele der anderen, an der Oberfläche bequemen
konnte, und ſelbſt ſeine Luſtigkeit, wenn ſie oft
plötzlich losbrach, war durchaus ironiſch und faſt
ſchauerlich. Dabey waren alle Schmeichelkünſte und
alltäglichen Handgriffe, ſich durch die Welt zu hel¬
fen, ſeiner ſpröden Natur ſo zuwider, daß er ſelbſt
die unſchuldigſten, gebräuchlichſten Gunſtbewerbun¬
gen, ja ſogar unter Freunden alle äuſſere Zeichen
der Freundſchaft verſchmähte. Vor allen ſogenann¬
ten klugen, gemachten Leuten war er beſonders ver¬
ſchloſſen, weil ſie niemals weder ſeine Betrübniß
noch ſeine Luſt verſtanden und ihn mit ihrer ange¬
bildeten Afterweisheit von allen Seiten beengten.
Die beyden Grafen waren die erſten in ſeinem Le¬
ben, die bey allen ſeinen Aeuſſerungen wußten,
was er meyne. Denn es iſt das Beſondere aus¬
gezeichneter Menſchen, daß jede Erſcheinung in
ihrer reinen Bruſt ſich in ihrer urſprünglichen Ei¬
genthümlichkeit beſpiegelt, ohne daß ſie dieſelbe
durch einen Beyſchmack ihres eigenen Selbſt ver¬
derben. Er liebte ſie daher auch mit unerſchütterli¬
cher Treue bis zu ſeinem Tode.


So oft ſie Nachmittags zu ihm kamen, warf
er ſogleich alle Inſtrumente und Geräthſchaften
[154] weit von ſich und war aus Herzensgrunde luſtig.
Sie muſizierten dann in ſeiner kleinen Stube ent¬
weder auf alten, halbbeſpannten Inſtrumenten,
oder Friedrich mußte einige wilde Burſchenlieder auf
die Bahn bringen, die Viktor ſchnell auswendig
wußte, und mit gewaltiger Stimme mitſang. Fräu¬
lein Julie, die nebſt ihrem Vater von jeher Vik¬
tors beſte und einzige Freundin im Hauſe war,
ſtand dann gar oft Stundenlang gegenüber am Zau¬
ne des Schloßgartens, ſtrickte und unterhielt ſich
mit ihnen, war aber niemals zu bereden, ſelber zu
ihnen herüberzukommen. Die Tante und die mei¬
ſten anderen konnten gar nicht begreifen, wie die
beyden Grafen einen ſolchen Geſchmack an dem un¬
gebildeten Viktor und ſeinen lärmenden Vergnügun¬
gen finden konnten.


Und Du ſeltſamer, guter, geprüfter Freund,
ich brauche Dich und mich nicht zu nennen; aber
Du wirſt uns beyde in tiefſter Seele erkennen,
wenn Dir dieſe Blätter vielleicht einmal zufällig in
die Hände kommen. Dein Leben iſt mir immer vor¬
gekommen, wie ein uraltes, dunkel verbautes Gemach
mit vielen rauhen Ecken, das unbeſchreiblich einſam
und hoch ſteht über den gewöhnlichen Handthierun¬
gen der Menſchen. Eine alte verſtimmte Laute, die
niemand mehr zu ſpielen verſteht, liegt verſtaubt
auf dem Boden. Aus dem finſteren Erker ſiehſt Du
durch bunt und phantaſtiſch gemahlte Scheiben, über
daß niedere, emſig wimmelnde Land unten weg in
ein anderes, ruhiges, wunderbares, ewig freyes
[155] Land. Alle die wenigen, die Dich kennen und lie¬
ben, ſiehſt Du dort im Sonnenſcheine wandeln und
das Heimweh befällt auch Dich. Aber Dir fehlen
Flügel und Seegel und Du reiſſeſt in verzweifelter
Luſtigkeit an den Saiten der alten Laute, daß es
mir oft das Herz zerreiſſen wollte. Die Leute ge¬
hen unten vorüber und verlachen Dein wildes Ge¬
klimper, aber ich ſage Dir, es iſt mehr göttlicher
Klang darin, als in ihrem ordentlichen, allgeprie¬
ſenen Geleyre.


An einem ſchwülen Nachmittage ſaß Leontin im
Garten an dem Abhange, der in das Land hinaus¬
gieng. Kein Menſch war draußen, alle Vögel hiel¬
ten ſich im dichteſten Laube verſteckt, es war ſo
ſtill und einſam auf den Gängen und in der ganzen
Gegend umher, als ob die Natur ihren Athem an
ſich hielte. Er verſuchte einzuſchlummern. Aber wie
über ihm die Gräſer zwiſchen dem unaufhörlichen,
einförmigen Geſumme der Bienen ſich hin und wie¬
der neigten, und rings am fernen Horizonte ſchwe¬
re Gewitterwolken, gleich phantaſtiſchen Gebirgen
mit großen, einſamen Seen und himmelhohen Fel¬
ſenzacken, die ganze Welt enge und immer enger
einzuſchlieſſen ſchienen, preßte eine ſolche Bangigkeit
ſein Herz zuſammen, daß er ſchnell wieder auf¬
ſprang. Er beſtieg einen hohen, am Abhange ſte¬
henden Baum, in deſſen ſchwankem Wipfel er ſich
in das ſchwüle Thal hinauswiegte, um nur die
fürchterliche Stille in und um ihn los zu werden.

[156]

Er hatte noch nicht lange oben geſeſſen, als er
den Herrn v. A. und ſeine Schweſter aus dem Bo¬
gengange hervorbeugen und langſam auf den Baum
zukommen ſah. Sie waren in einem lauten und
lebhaften Geſpräche begriffen, er hörte, daß von
ihm die Rede war. Du magſt ſprechen, was du
willſt, ſagte die Tante, er iſt bis über die Ohren
verliebt in unſer Mädchen. Da müßt' ich keine
Menſchenkenntniß haben! Und Julie kann keine
beſſere Parthie finden. Ich habe ſchon lange, ohne
dir etwas zu ſagen, nähere Erkundigungen über ihn
eingezogen. Er ſteht ſehr gut. Er verthut zwar
viel Geld auf Reiſen und verſchiedenes unnützes
Zeug, und ſoll zu Hauſe ein etwas unordentliches
und auffallendes Leben führen; aber er iſt noch ein
junger Menſch, und unſer Kind wird ihn ſchon
kirre machen. Glaube mir, mein Schatz, ein kluges
Weib kann durch vernünftiges Zureden ſehr viel be¬
wirken. Sind ſie nur erſt verheyrathet und ſitzen
ruhig auf ihrem Gütchen, ſo wird er ſchon ſein
ſonderbares Weſen und ſeine überſpannten Ideen
fahren laſſen, und werden wie alle andre. Höre,
mein Schatz, fange doch recht bald an, ihn ſo von
weitem näher zu ſondiren. — Das thue ich nicht,
erwiederte Herr v. A. ruhig, ich habe mich um nichts
erkundigt, ich habe nichts bemerkt und nichts erfah¬
ren. Ihr Weiber verlegt euch alle auf's Spionieren
und Heyrathsſtiften und ſehet zu weit. Wirbt er
um ſie, und ſie iſt ihm gut, ſo ſoll er ſie haben;
denn er gefällt mir ſehr. Aber ich menge mich in
[157] nichts. — Mit deiner ewigen Gelaſſenheit, fiel ihm
hier die Schweſter heftig in's Wort, wirſt du noch
alles verderben. Dich rührt das Glück deines eig¬
nen Kindes nicht. Und ich ſage dir, ich ruhe und
raſte nicht, bis ſie ein Paar werden! — Sie wa¬
ren unterdeß ſchon wieder von der anderen Seite
hinter den Bäumen verſchwunden, und er konnte
nichts mehr verſteh'n.


Er ſtieg raſch vom Baume herab. Noch bin ich
frey und ledig! rief er aus und ſchüttelte alle
Glieder. Rückt mir nicht auf den Hals mit eurem
ſoliden, häuslichen, langweiligen Glück, mit eurer
abgeſtandenen Tugend im Schlafrock! Wohl hat
die Liebe zwey Geſichter wie Janus. Mit dem ei¬
nen buhlt dieſe ungetreue, reitzende Fortuna auf
ihrer farbigen Kugel mit der friſchen Jugend um
flüchtige Küſſe; doch willſt du ſie plump haſchen und
feſthalten, kehrt ſie dir plötzlich das andere, alte,
verſchrumpfte Geſicht zu, das dich unbarmherzig zu
Tode ſchmatzt. — Heyrathen und fett werden, mit
der Schlafmütze auf dem Kopfe hinausſehen, wie
drauſſen Aurora ſcheint, Wälder und Ströme noch
immer ohne Ruhe fortrauſchen müſſen, Soldaten
über die Berge zieh'n und raufen, und dann auf
den Bauch ſchlagen und: Gott ſey Dank! rufen
können, das iſt freylich ein Glück! — Und doch
noch tauſendmal widerlicher ſind mir die Faun-
Geſichter von Hageſtolzen, wie ſie ſich um die
Mauern ſtreichen, ein bischen Rammeley und Diebs¬
[158] gelüſt im Herzen, wenn ſie noch eins haben. Pfuy!
Pfuy!


So jagten ſich die Gedanken in ſeinem Kopfe
ärgerlich durcheinander, und er war, ohne daß er
es ſelbſt bemerkte, ins Schloß gekommen. Die
Thüre zu Juliens Zimmer ſtand nur halb ange¬
lehnt, er gieng hinein, fand ſie aber nicht darin.
Sie ſchien es eben verlaſſen zu haben; denn Far¬
ben, Pinſel und andere Mahlergeräthſchaften lagen
noch umher. Auf dem Tiſche ſtand ein Bild auf¬
gerichtet. Er betrachtete es voll Erſtaunen: es war
ſein eignes Portrait, an welchem Julie lange heim¬
lich gearbeitet. Er war in derſelben Jägerkleidung
gemahlt, in der ſie ihn zum erſtenmale geſehen
hatte. Mit Verwunderung glaubte er auch die Ge¬
gend, die den Hintergrund des Bildes ausfüllte,
zu erkennen. Er erinnerte ſich endlich, daß er Ju¬
lien manchmal von ſeinem Schloſſe, ſeinem Gar¬
ten, den Bergen und Wäldern, die es umgeben,
erzählt hatte, und ihr reiches Gemüth hatte ſich
nun aus den wenigen Zügen ein ganz anderes,
wunderbares Zauberland, als ihre neue Heymath,
zuſammengeſezt.


Er ſtand lange voller Gedanken am Fenſter.
Ihre Guitarre lag dort; er nahm ſie und wollte
ſingen, aber es gieng nicht. Er lehnte ſich mit der
Stirn ans Fenſter und wollte ſie durchaus hier er¬
warten, aber ſie kam nicht.


Endlich ſtieg er herab, gieng in den Hof und
ſattelte und zäumte ſich ſelber ſein Pferd. Als er
[159] eben zum Thore hinausritt, kam Julie eilfertig
aus der Gartenthüre. Sie ſchien ein Geſchäft vor¬
zuhaben, ſie grüßte ihn nur flüchtig mit freundli¬
chen Augen und lief ins Schloß. Er gab ſeinem
Pferde die Sporen und ſprengte ins Feld hinaus.


Ohne einen beſtimmten Weg einzuſchlagen, war
er ſchon lange herumgeritten, als er mitten im
Walde auf einen hochgelegenen, ausgehauenen
Fleck kam. Er hörte jemanden luſtig ein Liedchen
pfeiffen und ritt darauf los. Es war zu ſeiner nicht
geringen Freude der bekannte Ritter, den er ſchon
lange einmal auf ſeinen Irrzügen zu erwiſchen, ſich
gewünſcht hatte. Er ſaß auf einem Baumſturze
und ließ ſeinen Klepper neben ſich weiden. Roman¬
tiſche, goldne Zeit des alten, freyen Schweiffens,
wo die ganze ſchöne Erde unſer Luſtrevier, der grü¬
ne Wald unſer Haus und Burg, dich ſchimpft man
närriſch — dachte Leontin bey dieſem Anblick, und
rief dem Ritter aus Herzensgrunde ſein Hurrah zu.
Er ſtieg darauf ſelbſt vom Pferde und ſetzte ſich zu
ihm hin. Der Tag fieng eben an, ſich zum Ende
zu neigen, die Waldvögel zwitſcherten von allen
Wipfeln in der Runde. Von der einen Seite ſah
man in einer Vertiefung unter der Haide ein Schlö߬
chen mit ſtillem Hofe und Garten ganz in die Wald¬
einſamkeit verſenkt. Die Wolken flogen ſo niedrig
über das Dach weg, als ſollte ſich die bedrängte
Seele daran hängen, um jenſeits ins Weite, Freye
zu gelangen. Mit einem innerlichen Schauder von
Bangigkeit erfuhr Leontin von dem Ritter, daß dieß
[160] daſſelbe Schloß ſey, wo jezt die muntere Braut,
die er auf jener Jagd kennen gelernt, ſeit lange
ſchon mit ihrem jungen Manne ruhig wohne, wirth¬
ſchafte und hauſe.


Aber, ſagte er endlich zu dem Ritter, wird
Euch denn niemals bange auf Euren einſamen Zü¬
gen? Was macht und ſinnt Ihr denn den ganzen
langen Tag? — Ich ſuche den Stein der Weiſen,
erwiederte der Ritter ruhig. Leontin mußte über
dieſe fertige, unerwartete Antwort laut auflachen.
Ihr ſeyd irriſch in Eurem Verſtande, daß Ihr ſo
lacht, ſagte der Ritter etwas aufgebracht. Eben
weil die Leute wohl wiſſen, daß ich den Stein der
Weiſen wittere, ſo trachten die Phariſäer und
Schriftgelehrten darnach, mir durch Reden und Bli¬
cke meine Majeſtät von allen Seiten auszuſaugen,
auszuwalzen und auszudreſchen. Aber ich halte mich
an das Prinzipium: an Eſſen und Trinken; denn
wer nicht ißt, der lebt nicht, wer nicht lebt, der
ſtudiert nicht, und wer nicht ſtudiert, der wird kein
Weltweiſer, und das iſt das Fundament der Phi¬
loſophie. — So ſprach der tolle Ritter eifrig fort
und gab durch Mienen und Hände ſeinen Worten
den Nachdruck der ernſthafteſten Ueberzeugung.
Leontin, den ſeine heutige Stimmung beſonders auf¬
gelegt machte zu ausſchweifenden Reden, ſtimmte
nach ſeiner Art in denſelben Ton mit ein, und ſo
führten die beyden dort über die ganze Welt das
allerſeltſamſte und unförmlichſte Geſpräch, das je¬
mals[161] mals gehört wurde, während es ringsumher ſchon
lange finſter geworden war. Der Ritter, dem ein
ſo aufmerkſamer Zuhörer etwas Seltenes war, hielt
tapfer Stich, und focht nach allen Seiten in einem
wunderlichen Chaos von Sinn und Unſinn, das
oft die herrlichſten Gedanken durchblizten. Leontin
erſtaunte über die ſcharfen, ganz ſelbſterſchaffenen
Ausdrücke und die entſchiedene Anlage zum Tiefſinn.
Aber alles ſchien, wie eine üppige Wildniß, durch
den lebenslangen Müßiggang zerrüttet und faſt bis
zum Wahnwitz verworren.


Zuletzt ſprach der Ritter noch von einem Phi¬
loſophen, den er jährlich einmal beſuche. Leontin
war mit ganzer Seele geſpannt, denn die Beſchrei¬
bung von demſelben ſtimmte auffallend mit dem al¬
ten Ritterbilde überein, deſſen Anblick ihn auf dem
Schloſſe der weißen Frau ſo ſehr erſchüttert hatte.
Er fragte näher nach, aber der Ritter antwortete
jedesmal ſo toll und abſchweifend, daß er alle wei¬
tere Erkundigungen aufgeben mußte.


Endlich brach der Ritter auf, da er heute noch
auf dem Schloſſe der niedlichen Braut Herberg
ſuchen wollte. Leontin trug ihm an dieſelbe ſeine
ſchönſten Grüße auf. Der Ritter ſtolperte nun auf
ſeinem Roſinante langſam über die Haide hinab und
unterhielt ſich noch immerfort mit Leontin mit gro¬
ßem Geſchrey über die Philoſophie, während er
ſchon längſt in der Nacht verſchwunden war.

11[162]

Leontin ſah ſich, nun allein, nach allen Seiten
um. Alle Wälder und Berge lagen ſtill und dun¬
kel ringsumher. Unten in der Tiefe ſchimmerten
Lichter hin und her aus den zerſtreuten Dörfern,
Hunde bellten ferne in den einſamen Höfen. Auch
in dem Schloſſe des Herrn v. A. ſah er noch meh¬
rere Fenſter erleuchtet. So blieb er noch lange oben
auf der Haide ſtehen.


Am folgenden Morgen frühzeitig erhielt Frie¬
drich einen Brief. Er erkannte ſogleich die Züge
wieder: er war von Roſa. So lange ſchon hatte
er ſich von Tag zu Tag vergebens darauf gefreut,
und erbrach ihn nun mit haſtiger Ungeduld. Der
Brief war folgenden Inhalts:


Wo bleibſt Du ſo lange, mein innig ge¬
liebter Freund? Haſt Du denn gar kein Mit¬
leid mehr mit Deiner armen Roſa, die ſich ſo
ſehr nach Dir ſehnt?


Als ich auf der Höhe im Gebirge von
Euch entführt wurde, hatte ich mir feſt vorge¬
nommen, gleich nach meiner Ankunft in der
Reſidenz an Dich zu ſchreiben. Aber Du weißt
ſelbſt, wieviel man die erſte Zeit an einem ſol¬
chen Orte mit Einrichtungen, Beſuchen und
Gegenbeſuchen zu thun hat. Ich konnte da¬
mals durchaus nicht dazu kommen, obſchon ich
immer und überall an Dich gedacht habe. Und
ſo vergieng die erſte Woche, und ich wußte
dann nicht mehr, wohin ich meinen Brief ad¬
[163] dreſſiren ſollte. Vor einigen Tagen endlich kam
hier der junge Marquis von P. an, der woll¬
te beſtimmt wiſſen, daß ſich mein Bruder mit
einem fremden Herrn auf dem Guthe des Hrn.
v. A. aufhalte. Ich eilte alſo, ſogleich an Dich
dorthin zu ſchreiben. Der Marquis verwun¬
derte ſich zugleich, wie ihr es dort ſo lange
aushalten könntet. Er ſagte, es wäre ein
Séjour zum melancholiſchwerden. Mit der gan¬
zen Familie wäre in der Welt nichts anzufan¬
gen. Der Baron ſey wie ein Holzſtich in den
alten Rittergeſchichten: gedruckt in dieſem Jahr,
die Tante wiſſe von nichts zu ſprechen, als
von ihrer Wirthſchaft, und das Fräulein vom
Haus ſey ein halbreifes Gänſeblümchen, ein
rechtes Bild ohne Gnaden. Sind das nicht
recht närriſche Einfälle? Wahrhaftig, man
muß dem Marquis gut ſeyn mit ſeinem loſen
Maule. Siehſt Du, es iſt Dein Glück, denn
ich hatte ſchon große Luſt eiferſüchtig zu wer¬
den. Aber ich kenne ſchon meinen Bruder, ſol¬
che Bekanntſchaften ſind ihm immer die liebſten;
er läßt ſich nichts einreden. Ich bitte Dich
aber, ſage ihm nichts von alle dieſem. Denn
er kann ſich ohnedieß von jeher mit dem Mar¬
quis nicht vertragen. Er hat ſich ſchon einige¬
mal mit ihm geſchlagen und der Marquis hat
über der lezten Wunde über ein Vierteljahr
zubringen müſſen. Er fängt immer ſelber ohne
allen Anlaß Händel mit ihm an. Ich weiß gar
11 *[164] nicht, was er wider ihn hat. Der Marquis
iſt hier in allen gebildeten Geſellſchaften beliebt
und ein geiſtreicher Mann. Ich weiß gewiß,
Du und der Marquis werdet die beſten Freun¬
de werden. Denn er macht auch Verſe, und
von der Muſik iſt er ein großer Kenner. Ue¬
brigens lebe ich hier recht glücklich, ſo gut es
Deine Roſa ohne Dich ſeyn kann. Ich bekom¬
me und erwiedere Beſuche, mache Landparthien
u. ſ. w. Dabey fällt mir immer ein, wie ganz
anders Du doch eigentlich biſt, als alle dieſe
Leute, und dann wird mir mitten in dem
Schwarme ſo bange, daß ich mich oft heimlich
wegſchleichen muß, um mich recht auszuweinen.
— Die junge, ſchöne Gräfin Romana, die mich
alle Morgen an der Toilette beſucht, ſagt mir
immer, wenn ich mich anziehe, daß meine Au¬
gen ſo ſchön wären, und wickelt ſich meine
Haare um ihren Arm und küßt mich. — Ich
denke dann immer an Dich. Du haſt das auch
geſagt und gethan, und nun bleibſt Du auf
einmal ſo lange aus. Ich bitte Dich, wenn
Du mir gut biſt, laß mich nicht ſo allein; es
iſt nicht gut ſo. —


Ich hatte mich geſtern ſo eben erſt recht
eingeſchrieben und hatte Dir noch ſo viel zu ſa¬
gen, da wurde ich zu meinem Verdruße durch
einen Beſuch unterbrochen. Jezt iſt es ſchon
zu ſpät, da die Poſt ſogleich abgeh'n wird.
Ich ſchließe alſo ſchnell in der Hoffnung, Dich
bald an mein liebendes Herz zu drücken.
[165] Dieſen Winter wird es hier beſonders
brillant werden. Wie ſchön wäre es, wenn
wir ihn hier zuſammen zubrächten! Komm,
komm, gewiß!

Friedrich legte den Brief ſtill wieder zuſammen.
Unwillkührlich ſummte ihm der Gaſſenhauer: „Freut
euch des Lebens u. ſ. w.“, den Leontin gewöhn¬
lich abzuleyern pflegte, wenn ſeine Schweſter et¬
was nach ihrer Art Wichtiges vorbrachte, durch den
Kopf. Der ganze Brief, wie von einem von Luſt¬
barkeiten Athemloſen im Fluge abgeworfen, war
wie eine Lücke in ſeinem Leben, durch die ihn ein
fremdartiger, ſtaubiger Wind anblies. Hab' ich's
oben auf der Höhe nicht geſagt, daß Du in Dein
Grab hinabſteigſt? Wenn die Schönheit mit ihren
friſchen Augen, mit den jugendlichen Gedanken und
Wünſchen unter euch tritt, und, wie ſie, die eigene,
größere Lebensluſt treibt, ſorglos und lüſtern in
das liebewarme Leben hinauslangt und ſproßt, ſich
an die feinen Spitzen, die zum Himmel ſtreben,
giftig anzuſaugen und zur Erde hinabzuzerren, bis
die ganze, prächtige Schönheit, fahl und ihres
himmliſchen Schmuckes beraubt, unter euch daſteht,
wie eueres Gleichen — die Hallunken!


Er öffnete das Fenſter. Der herrliche Morgen
lag drauſſen wie eine Verklärung über dem Lande,
und wußte nichts von den menſchlichen Wirrungen,
nur von rüſtigem Thun, Freudigkeit und Frieden.
Friedrich ſpürte ſich durch den Anblick innerlichſt ge¬
[166] neſen, und der Glaube an die ewige Gewalt der
Wahrheit und des feſten religiöſen Willens wurde
wieder ſtark in ihm. Der Gedanke, zu retten, was
noch zu retten war, erhob ſeine Seele, und er be¬
ſchloß, nach der Reſidenz abzureiſen.


Er gieng mit dieſer Nachricht zu Leontin, aber
er fand ſeine Schlafſtube leer und das Bett noch
von Geſtern in Ordnung. Er gieng daher zu Ju¬
lien hinüber, da er hörte, daß ſie ſchon auf war.
Das ſchöne Mädchen ſtand in ihrer weiſſen Mor¬
genkleidung eben am Fenſter. Sie kehrte ſich ſchnell
zu ihm herum, als er hereintrat. Er iſt fort! ſag¬
te ſie leiſe mit unterdrückter Stimme, zeigte mit
dem Finger auf das Fenſter und ſtellte ſich wieder
mit abgewendetem Geſicht abſeits an das andere.
Der erſtaunte Friedrich erkannte Leontins Schrift
auf der Scheibe, die er wahrſcheinlich geſtern, als
er hier allein war, mit ſeinem Ringe aufgezeichnet
hatte. Er las:


Der fleiſſigen Wirthin von dem Haus

Dank' ich von Herzen für Trank und Schmauß,

Und was beym Mahl den Gaſt erfreut:

Für heitre Mien' und Freundlichkeit.
Dem Herrn von Haus ſey Lob und Preiß!

Seinen Segen wünſch' ich mir auf die Reiſ',

Nach ſeiner Lieb' mich ſehr begehrt,

Wie ich ihn halte Ehrenwerth.
Herr Viktor ſoll bethen und fleiſſig ſeyn,

Denn der Teufel lauert, wo Einer allein

Soll luſtig auf dem Kopfe ſteh'n,

Wenn alle ſo dumm auf den Beinen geh'n.
[167]
Und wenn mein Weg über Berge hoch geht,

Aurora ſich aufthut, das Poſthorn weht,

Da will ich Ihm rufen von Herzen voll,

Daß er's in der Ferne ſpüren ſoll.
Ade! Schloß, heiter über'm Thal,

Ihr ſchwülen Thäler allzumal,

Du blauer Fluß ums Schloß herum,

Ihr Dörfer, Wälder um und um!
Wohl ſah ich dort eine Zaub'rinn geh'n,

Nach Ihr nur alle Blumen und Wälder ſeh'n,

Mit hellen Augen Ströme und Seen,

In ſtillem Schau'n, wie verzaubert, ſteh'n.
Ein jeder Strom wohl find't ſein Meer,

Ein jeglich Schiff kehrt endlich her,

Nur ich treibe und ſehne mich immerzu,

O wilder Trieb! wann läßſt du einmal Ruh?

Darunter ſtand, kaum leſerlich, gekrizzelt:


Herr Friedrich, der ſchläft in der Ruhe Schooß,

Ich wünſch' ihm viel Unglück, daß er ſich erboſ',

In's Horn, zum Schwerdt, friſch dran und drauf!

Philiſter über Dir, wach', Simſon, wach' auf!

Friedrich ſtutzte über dieſe lezten Zeilen, die
ihn unerwartet trafen. Er erkannte tief das
Schwerfällige ſeiner Natur und verſank auf einen
Augenblick ſinnend in ſich ſelbſt.


Julie ſtand noch immerfort am Fenſter, ſah
durch die Scheiben und weinte heimlich. Er faßte
ihre Hand. Da hielt ſie ſich nicht länger, ſie ſez¬
te ſich auf ihr Bett und ſchluchzte laut. Friedrich
wußte wohl, wie untröſtlich ein liebendes Mädchen
[168] iſt. Er verabſcheute alle jene erbärmlichen Spital¬
tröſter voll Wiederſehens, unverhofften Windungen
des Schickſals u. ſ. w. Lieb' ihn nur recht, ſagte
er zu Julien, ſo iſt er ewig Dein, und wenn die
ganze Welt dazwiſchen läge. Glaube nur niemals
den falſchen Verführern: daß die Männer eurer
Liebe nicht werth ſind. Die Schufte freylich nicht,
die das ſagen; aber es giebt nichts Herrlicheres auf
Erden, als der Mann, und nichts Schöneres, als
das Weib, das ihm treu ergeben bis zum Tode. —
Er küßte das weinende Mädchen und gieng darauf
zu ihren Aeltern, um ihnen ſeine eigene, baldige
Abreiſe anzukündigen.


Er fand die Tante höchſtbeſtürzt über Leontins
unerklärliche Flucht, die ſie auf einmal ganz irre an
ihm und allen ihren Planen machte. Sie war an¬
fangs böſe, dann ſtill und wie vernichtet. Herr
v. A. äußerte weniger mit Worten, als durch ein
ungewöhnlich haſtiges und zerſtreutes Thun und Laſ¬
ſen, das Friedrich'n unbeſchreiblich rührte, wir
ſchwer es ihm falle, ſich von Leontin getrennt zu
ſehen, und die Thränen traten ihm in die Augen,
als nun auch Friedrich erklärte, ſchon morgen ab¬
reiſen zu müſſen. So vergieng dieſer noch übrige
Tag zerſtreut, geſtört und Freudenlos.


Am anderen Morgen hatte Erwin frühzeitig
die Reiſebündel geſchnürt, die Pferde ſtanden be¬
reit und ſcharrten ungeduldig unten im Hofe. Frie¬
drich machte noch eilig einen Streifzug durch den
[169] Garten und ſah noch einmal von dem Berge in die
herrlichen Thäler hinaus. Auch das ſtille, kühle
Plätzchen, wo er ſo oft gedichtet und glücklich ge¬
weſen, beſuchte er. Wie im Fluge ſchrieb er dort
folgende Verse in ſeine Schreibtafel:


O Thäler weit, o Höhen,

O ſchöner, grüner Wald,

Du meiner Luſt und Wehen

Andächt'ger Aufenthalt!

Da drauſſen, ſtets betrogen,

Saust die geſchäft'ge Welt,

Schlag' noch einmal die Bogen

Um mich, du grünes Zelt!
Wann es beginnt zu tagen,

Die Erde dampft und blinkt,

Die Vögel luſtig ſchlagen,

Daß dir dein Herz erklingt:

Da mag vergeh'n, verwehen

Das trübe Erdenleid

Da ſollſt du auferſtehen

In junger Herrlichkeit.
Da ſteht im Wald geſchrieben

Ein ſtilles, ernſtes Wort,

Von rechtem Thun und Lieben,

Und was des Menſchen Hort.

Ich habe treu geleſen

Die Worte ſchlicht und wahr,

Und durch mein ganzes Weſen

Ward's unausſprechlich klar.
[170]
Bald werd' ich dich verlaſſen,

Fremd, in der Fremde geh'n,

Auf buntbewegten Gaſſen,

Des Lebens Schauſpiel ſeh'n,

Und mitten in dem Leben

Wird deines Ernſt's Gewalt,

Mich Einſamen erheben,

So wird mein Herz nicht alt.

Als der junge Tag ſich aus den Morgenwolken
hervorgearbeitet hatte, war Friedrich ſchon drauſſen
zu Pferde. Julie winkte noch weit mit ihrem wei¬
ßen Tuche aus dem Fenſter nach.

[]

Zweytes Buch.

[][]

Eilftes Kapitel.

Es war ſchon Abend, als Friedrich in der Reſi¬
denz ankam. Er war ſehr ſchnell geritten, ſo daß
Erwin faſt nicht mehr nach konnte. Je einſamer
drauſſen der Kreis der Felder ins Dunkel verſank,
je höher nach und nach die Thürme der Stadt, wie
Rieſen, ſich aus der Finſterniß auflichteten, deſto
lichter war es in ſeiner Seele geworden vor Freude
und Erwartung. Er ſtieg im Wirthshauſe ab und
eilte ſogleich zu Roſa's Wohnung. Wie ſchlug ſein
Herz, als er durch die dunklen Straſſen ſchritt,
als er endlich die hellbeleuchtete Treppe in ihrem
Hauſe hinaufſtieg. Er mochte keinen Bedienten
fragen, er öffnete haſtig die erſte Thür. Das gro¬
ße, getäfelte Zimmer war leer, nur im Hintergrun¬
de ſaß eine weibliche Geſtalt in vornehmer Klei¬
dung. Er glaubte ſich verirrt zu haben und wollte
ſich entſchuldigen. Aber das Mädchen vom Fenſter
kam ſogleich auf ihn zu, führte ſich ſelbſt als Ro¬
ſa's Kammermädchen auf und verſicherte ſehr gleich¬
gültig, die Gräfin ſey auf den Maſkenball gefah¬
ren. Dieſe Nachricht fiel wie ein Mayfroſt in ſeine
Luſt. Es war ihm vor Freude gar nicht eingefal¬
len, daß er ſie verfehlen könnte, und er hatte bey¬
[174] nahe Luſt zu zürnen, daß ſie ihn nicht zu Hauſe er¬
wartet habe. Wo iſt denn die kleine Marie? frug
er nach einer Weile wieder. O, die iſt lange aus
den Dienſten der Gräfin, ſagte das Mädchen mit
gerümpftem Näschen und betrachtete ihn von oben
bis unten mit einer ſchnippiſchen Miene. Friedrich
glaubte, es gälte ſeine ſtaubige Reiſekleidung; alles
ärgerte ihn, er ließ den Affen ſteh'n und gieng,
ohne ſeinen Nahmen zu hinterlaſſen, wieder fort.


Verdrüßlich nahm er den Weg zu den Redou¬
tenſälen. Die Muſik ſchallte lockend aus den hohen
Bogenfenſtern, die ihre Scheine weit unten über
den einſamen Platz warfen. Ein alter Springbrun¬
nen ſtand in der Mitte des Platzes, über den nur
noch einzelne dunkle Geſtalten hin und her irrten.
Friedrich blieb lange an dem Brunnen ſtehen, der
ſeltſam zwiſchen den Tönen von oben fortrauſchte.
Aber ein Polizeydiener, der, in ſeinen Mantel ge¬
hüllt, an der Ecke lauerte, verjagte ihn endlich
durch die Aufmerkſamkeit, mit der er ihn zu beob¬
achten ſchien.


Er gieng in's Haus hinein, verſah ſich mit ei¬
nem Domino und einer Larve, und hoffte ſeine Roſa
noch heute in dem Getümmel herauszufinden. Ge¬
blendet trat er aus der ſtillen Nacht in den plötz¬
lichen Schwall von Tönen, Lichtern und Stimmen,
der wie ein Zaubermeer mit raſtlos beweglichen,
klingenden Wogen über ihm zuſammenſchlug. Zwey
große, hohe Säle, nur leicht von einander geſchie¬
den, eröffneten die unermeßlichſte Ausſicht. Er ſtell¬
[175] te ſich in das Bogenthor zwiſchen beyde, wo die
doppelten Muſikchöre aus beyden Sälen verworren
ineinander klangen. Zu beyden Seiten toſte der
ſeltſame, luſtige Markt, fröhliche, reitzende und
ernſte Bilder des Lebens zogen wechſelnd vorüber,
Guirlanden von Lampen ſchmückten die Wände,
unzählige Spiegel dazwiſchen ſpielten das Leben ins
Unendliche, ſo daß man die Geſtalten mit ihrem
Wiederſpiel verwechſelte, und das Auge verwirrt in
der gränzenloſen Ferne dieſer Ausſicht ſich verlohr.
Ihn ſchauderte mitten unter dieſen Larven. Er
ſtürzte ſich ſelber mit in das Gewimmel, wo es am
dichteſten war.


Gewöhnliches Volk, Karaktermaſken ohne Ka¬
rakter, vertraten auch hier, wie drauſſen im Le¬
ben, überall den Weg: geſpreitzte Spanier, pa¬
pierne Ritter, Taminos, die über ihre Flöte ſtol¬
perten, hin und wieder ein behender Harlekin, der
ſich durch die unbehülflichen Züge hindurchwand und
nach allen Seiten peitſchte. Eine höchſtſeltſame
Maſke zog indeß ſeine Aufmerkſamkeit auf ſich. Es
war ein Ritter in ſchwarzer, altdeutſcher Tracht,
die ſo genau und ſtreng gehalten war, daß man
glaubte, irgend ein altes Bild ſey aus ſeinem Rah¬
men ins Leben hinausgetreten. Die Geſtalt war
hoch und ſchlank, ſein Wams reich mit Gold, der
Hut mit hohen Federn geſchmückt, die ganze Pracht
doch ſo uralt, fremd und faſt geſpenſtiſch, daß je¬
dem unheimlich zu Muthe ward, an dem er vor¬
überſtreifte. Er war übrigens galant und wußte zu
[176] leben. Friedrich ſah ihn faſt mit allen Schönen
buhlen. Doch alle machten ſich gleich nach den er¬
ſten Worten ſchnell wieder von ihm los, denn unter
den Spitzen der Ritterärmel langten die Knochen¬
hände eines Todtengerippes hervor.


Friedrich wollte eben den ſonderbaren Gaſt wei¬
ter verfolgen, als ſich die Bahn mit einem Janha¬
gel junger Männer verſtopfte, die auf einer Jagd
begriffen ſchienen. Bald erblickte er auch das flüch¬
tige Reh. Es war eine kleine, junge Zigeunerin,
ſehr nachläſſig verhüllt, das ſchöne ſchwarze Haar
mit bunten Bändern in lange Zöpfe geflochten.
Sie hatte ein Tambourin, mit dem ſie die Zu¬
dringlichſten ſo ſchalkiſch abzuwehren wußte, daß ihr
alles nur um deſto lieber nachfolgte. Jede ihrer
Bewegungen war zierlich, es war das niedlichſte
Figürchen, daß Friedrich jemals geſehen.


In dieſem Augenblicke ſtreiften zwey ſchöne,
hohe weibliche Geſtalten an ihm vorbey. Zwey
männliche Maſken drängten ſich nach. Es iſt ganz
ſicher die Gräfin Roſa, ſagte die eine Maſke mit
düſterer Stimme. Friedrich traute ſeinen Ohren
kaum. Er drängte ſich ihnen ſchnell nach, aber das
Gewimmel war zu groß, und ſie blieben ihm im¬
mer eine Strecke voraus. Er ſah, daß der ſchwar¬
ze Ritter den beyden weiblichen Maſken begegnete,
und der einen im Vorbeygehen etwas ins Ohr
raunte, worüber ſie höchſtbeſtürzt ſchien, und ihm
eine Weile nachſah, während er längſt ſchon wie¬
der[177] der im Gedränge verſchwunden war. Mehrere Par¬
theyen durchkreuzten ſich unterdeß von neuem, und
Friedrich hatte Roſa aus dem Geſichte verlohren.


Ermüdet flüchtete er ſich endlich an ein abgele¬
genes Fenſter, um auszuruhen. Er hatte noch nicht
lange dort geſtanden, als die eine von den weibli¬
chen Maſken eiligſt ebenfalls auf das Fenſter zukam.
Er erkannte ſogleich ſeine Roſa an der Geſtalt.
Die eine männliche Maſke folgte ihr auf dem Fuße
nach, ſie ſchienen beyde den Grafen nicht zu bemer¬
ken. Nur einen einzigen Blick! bat die Maſke
dringend. Roſa zog ihre Larve weg und ſah den
Bittenden mit den wunderſchönen Augen lächelnd
an. Sie ſchien unruhig. Ihre Blicke durchſchweif¬
ten den ganzen Saal und begegneten ſchon wieder
dem ſchwarzen Ritter, der wie eine Todtenfahne
durch die bunten Reihen drang. Ich will nach Hau¬
ſe — ſagte ſie darauf ängſtlich bittend, und Frie¬
drich glaubte Thränen in ihren Augen zu bemerken.
Sie bedeckte ihr Geſicht ſchnell wieder mit der Lar¬
ve. Ihr unbekannter Begleiter bot ihr ſeinen Arm,
drängte Friedrich, der gerade vor ihr ſtand, ſtolz
aus dem Wege und bald hatten ſich beyde in dem
Gewirre verlohren.


Der ſchwarze Ritter war indeß bey dem Fen¬
ſter angelangt. Er blieb vor Friedrich ſtehen und
ſah ihm ſcharf in's Geſicht. Dem Grafen graußte,
ſo allein mit der wunderbaren Erſcheinung zu ſteh'n,
denn hinter der Larve des Ritters ſchien alles hohl
12[178] und dunkel, man ſah keine Augen. Wer biſt Du?
fragte ihn Friedrich. Der Tod von Baſel, antwor¬
tete der Ritter und wandte ſich ſchnell fort. Die
Stimme hatte etwas ſo altbekanntes und anklin¬
gendes aus längſtvergangener Zeit, daß Friedrich
lange ſinnend ſteh'n blieb. Er wollte ihm endlich
nach, aber er ſah ihn ſchon wieder im dickſten Hau¬
fen mit einer Schönen wie toll herumwalzen.


Ein Getümmel von Lichtern drauſſen unter den
Fenſtern lenkte ſeine Aufmerkſamkeit ab. Er blick¬
te hinaus und ſah bey dem Scheine einer Fackel,
wie die männliche Maſke Roſa'n nebſt noch einer
anderen Dame in den Wagen hob. Der Wagen
rollte darauf ſchnell fort, die Lichter verſchwanden,
und der Platz unten war auf einmal wieder ſtill und
finſter.


Er warf das Fenſter zu und wandte ſich in den
glänzenden Saal zurück, um ſich ebenfalls fortzu¬
begeben. Der ſchwarze Ritter war nirgends mehr
zu ſehen. Nach einigem Herumſchweifen traf er in
der mit Blumen geſchmückten Kredenz noch einmal
auf die nur allzugefällige Zigeunerin. Sie hatte
die Larve abgenommen, trank Wein und blickte
mit den munteren Augen reitzend über das Glas
weg. Friedrich erſchrack, denn es war die kleine
Marie. Er drückte ſeine Larve feſter ins Geſicht
und faßte das niedliche Mädchen bey der Hand.
Sie zog ſie verwundert zurück und zeichnete mit
ihrem Finger rathend eine Menge Buchſtaben in
[179] ſeine flache Hand, aber keiner paßte auf ſeinen
Nahmen.


Er zog ſie an ein Tiſchchen und kaufte ihr Zu¬
cker und Naſchwerk. Mit ungemeiner Zierlichkeit
wußte das liebliche Kind alles mit ihm zu theilen
und blinzelte ihm dazwiſchen oft neugierig in die
Augen. Unbeſorgt um die Reize, die ſie dabey
enthüllte, riß ſie einen Blumenſtrauß von ihrem Bu¬
ſen und überreichte ihn lächelnd ihrem unbekannten,
ſonderbaren Wirth, der immerfort ſo ſtumm und
kalt neben ihr ſaß. Die Blumen ſind ja alle ſchon
verwelkt, ſagte Friedrich, zerzupfte den Strauß und
warf die Stücke auf die Erde. Mario ſchlug ihn
lachend auf die Hand und riß ihm die noch übrigen
Blumen aus. Er bat endlich um die Erlaubniß,
ſie nach Hauſe begleiten zu dürfen, und ſie willig¬
te mit einem freudigen Händedruck ein.


Als er ſie nun durch den Saal fortführte, war
unterdeß alles leer geworden. Die Lampen waren
größtentheils verlöſcht und warfen nur noch zucken¬
de, falbe Scheine durch den Qualm und Staub, in
welchen das ganze bunte Leben verraucht ſchien.
Die Muſikanten ſpielten wohl fort aber nur noch
einzelne Geſtalten wankten auf und ab, demaſkirt,
nüchtern und überſatt. Mitten in dieſer Zerſtörung
glaubte Friedrich mit einem flüchtigen Blicke Leon¬
tin todtenblaß und mit verwirrtem Haar in einem
fernen Winkel ſchlafen zu ſehen. Er blieb erſtaunt
ſtehen, alles kam ihm wie ein Traum vor. Aber
12 *[180] Marie drängte ihn ſchnell und ängſtlich fort, als
wäre es unheimlich, länger an dem Orte zu hau¬
ſen.


Als ſie unten zuſammen im Wagen ſaßen, ſag¬
te Marie zu Friedrich: Ihre Stimme hat eine ſon¬
derbare Aehnlichkeit mit der eines Herrn, den ich
ſonſt gekannt habe. Friedrich antwortete nichts dar¬
auf. Ach Gott! ſagte ſie bald nachher, die Nacht
iſt heut gar ſo ſchwül und finſter! Sie öffnete das
Kutſchenfenſter, und er ſah bey dem matten Schim¬
mer einer Laterne, an der ſie vorüberflogen, daß ſie
ernſthaft und in Gedanken verſunken war. Sie
fuhren lange durch eine Menge enger und finſterer
Gäßchen, endlich rief Marie dem Kutſcher zu, und
ſie hielten vor einem abgelegenen, kleinen Hauſe.
Sie ſprang ſchnell aus dem Wagen und in das Haus
hinein. Ein Mädchen, das in Mariens Dienſten zu
ſeyn ſchien, empfieng ſie an der Hausthüre. Er iſt
mein, er iſt mein! rief Marie kaum hörbar, aber
aus Herzensgrunde, dem Mädchen im Vorübergehen
zu und ſchlüpfte in ein Zimmer.


Das Mädchen führte den Grafen mit prüfen¬
den Blicken über ein kleines Treppchen zu einer an¬
deren Thüre. Warum, ſagte ſie, ſind Sie geſtern
Abends nicht ſchon zu uns gekommen, da ſie vor¬
beyritten, und ſo freundlich heraufgrüßten? Ich
ſollte wohl nichts ſagen, aber ſeit acht Tagen ſpricht
und träumt die arme Marie von nichts, als von
Ihnen, und wenn es länger gedauert hätte, wäre
ſie gewiß bald geſtorben. Friedrich wollte fragen,
[181] aber ſie ſchob die Thüre hinter ihm zu und war
verſchwunden.


Er trat in eine fortlaufende Reihe ſchöner, ge¬
ſchmackvoller Zimmer. Ein prächtiges Ruhebett
ſtand im Hintergrunde, der Fußboden war mit rei¬
chen Teppichen geſchmückt, eine alabaſterne Lampe
erleuchtete das Ganze nur dämmernd. In dem
letzten Zimmer ſah er die niedliche Zigeunerin vor
einem großen Wandſpiegel ſtehen und ihre Haare
flüchtig in Ordnung bringen. Als ſie ihn in dem
vorderen Zimmer erblickte, kam ſie ſogleich herbey¬
geſprungen und ſtürzte mit einer Hingebung in ſeine
Arme, die keine Verſtellung mit ihren gemeinen
Künſten jemals erreicht. Der erſtaunte Friedrich riß
in dieſem Augenblicke ſeinen Mantel und die Larve
von ſich. Wie vom Blitze berührt, ſprang Marie
bey dieſem Anblicke auf, ſtürzte mit einem lauten
Schrey auf das Ruhebett und drückte ihr, mit bey¬
den Händen bedecktes, Geſicht tief in die Kißen.


Was iſt das! ſagte Friedrich, ſind deine Freun¬
de Geſpenſter geworden? Warum haſt du mich ge¬
liebt, eh' du mich kannteſt, und fürchteſt dich nun
vor mir? Marie blieb in ihrer Stellung und ließ
die eine Hand, die er gefaßt hatte, matt in der
ſeinigen; ſie ſchien ganz vernichtet. Mit noch im¬
mer verſtecktem Geſichte ſagte ſie leiſe und gepreßt:
Er war auf dem Balle — dieſelbe Geſtalt — die¬
ſelbe Maſke —. Du haſt dich in mir geirrt, ſag¬
te Friedrich, und ſetzte ſich neben ihr auf das Bett,
viel ſchwerer und furchtbarer irrſt du dich am Le¬
[182] ben, leichtſinniges Mädchen! Wie der ſchwarze
Ritter heute auf dem Balle, tritt überall ein
freyer, wilder Gaſt ungeladen in das Feſt. Er iſt
ſo luſtig aufgeſchmückt und ein rüſtiger Tänzer, aber
ſeine Augen ſind leer und hohl und ſeine Hände
todtenkalt, und du mußt ſterben, wenn er dich in
die Arme nimmt, denn dein Buhle iſt der Teufel.
— Marie, ſeltſam erſchüttert von dieſen Worten,
die ſie nur halb vernahm, richtete ſich auf. Er
hob ſie auf ſeinen Schooß, wo ſie ſtill ſitzen blieb
während er ſprach. Ihre Augen und Mienen ka¬
men ihm in dieſem Augenblicke wieder ſo unſchuldig
und kindiſch vor, wie ehemals. Was iſt aus dir
geworden, arme Marie! fuhr er gerührt fort.
Als ich das erſtemal auf die ſchöne grüne Waldes¬
wieſe hinunterkam, wo dein ſtilles Jägerhaus ſtand,
wie du fröhlich auf dem Rehe ſaſſeſt und ſangſt —
der Himmel war ſo heiter, der Wald ſtand friſch
und rauſchte im Winde, von allen Bergen blieſen
die Jäger auf ihren Hörnern — das war eine ſchö¬
ne Zeit! Ich habe einmal an einem kalten,
ſtürmiſchen Herbſttage ein Frauenzimmer drauſſen im
Felde ſitzen geſehen, die war verrückt geworden,
weil ſie ihr Liebhaber, der ſich lange mit ihr her¬
umgeherzt, verlaſſen hatte. Er hatte ihr verſpro¬
chen, noch an demſelben Tage wiederzukommen.
Sie gieng nun ſeit vielen Jahren alle Tage auf das
Feld und ſah immerfort auf die Landſtraſſe hinaus.
Sie hatte noch immer das Kleid an, das ſie da¬
mals getragen hatte, das war ſchon zerriſſen und
[183] ſeitdem ganz altmodiſch geworden. Sie zupfte im¬
mer an dem Aermel und ſang ein altes Lied zum
raſend werden. — Marie ſtand bey dieſen Worten
ſchnell auf und gieng an den Tiſch. Friedrich ſah
auf einmal Blut über ihre Hand hervorrinnen. Al¬
les dieſes geſchah in Einem Augenblick.


Was haſt du vor? rief Friedrich, der unter¬
deß herbeygeſprungen war. Was ſoll mir das Le¬
ben! antwortete ſie mit verhaltener, troſtloſer Stim¬
me. Er ſah, daß ſie ſich mit einem Federmeſſer
grade am gefährlichſten Fleck unterhalb der Hand
verwundet hatte. Pfuy, ſagte Friedrich, wie biſt
du ſeitdem unbändig geworden! Das Mädchen
wurde blaß, als ſie das Blut erblickte, das häufig
über den weißen Arm floß. Er zog ſie an das
Bett hin und riß ſchnell ein Band aus ihren Haa¬
ren. Sie kniete vor ihm hin und ließ ſich gutwillig
von ihm das Blut ſtillen und die Wunde verbin¬
den. Das heftige Mädchen war während deß ruhi¬
ger geworden. Sie lehnte den Kopf an ſeine Kniee
und brach in einen Strom von Thränen aus.


Da wurden ſie durch Marie's Kammermädchen
unterbrochen, die plötzlich in die Stube ſtürzte und
mit Verwirrung vorbrachte, daß ſo eben der Herr
auf dem Wege hieher ſey. O Gott! rief Marie
ſich aufraffend, wie unglücklich bin ich! Das Mäd¬
chen aber ſchob den Grafen, ohne ſich weiter auf
Erklärungen einzulaſſen, eiligſt aus dem Zimmer
und dem Hauſe, und ſchloß die Thüre hinter ihm
ab.

[184]

Drauſſen auf der Straſſe, die leer und öde
war, begegnete er bald zwey männlichen, in dunk¬
le Mäntel dichtverhüllten Geſtalten, die durch die
neblichte Nacht an den Häuſern vorbeyſtrichen.
Der eine von ihnen zog einen Schlüſſel hervor, er¬
öffnete leiſe Marie's Hausthüre und ſchlüpfte hin¬
ein. Deſſelben Stimme, die er jezt im Vorbeyge¬
hen flüchtig gehört hatte, glaubte er vom heutigen
Maſkenballe auffallend wieder zu erkennen.


Da hierauf alles auf der Gaſſe ruhig wurde,
eilte er endlich voller Gedanken ſeiner Wohnung zu.
Oben in ſeiner Stube fand er Erwin, den Kopf
auf den Arm geſtützt, eingeſchlummert. Die Lampe
auf dem Tiſche war faſt ausgebrannt und dämmer¬
te nur noch ſchwach über das Zimmer. Der gute
Junge hatte durchaus ſeinen Herrn erwarten wol¬
len, und ſprang verwirrt auf, als Friedrich herein¬
trat. Drauſſen raſſelten die Wagen noch immer¬
fort, Läufer ſchweiften mit ihren Windlichtern an
den dunklen Häuſern vorüber, in Oſten ſtanden
ſchon Morgenſtreifen am Himmel. Erwin ſagte,
daß er ſich in der großen Stadt fürchte; das Ge¬
raſſel der Wagen wäre ihm vorgekommen, wie ein
unaufhörlicher Sturmwind, die nächtliche Stadt, wie
ein dunkler eingeſchlafener Rieſe. Er hat wohl
recht, es iſt manchmal fürchterlich, dachte Friedrich,
denn ihm war bey dieſen Worten, als hätte dieſer
Rieſe Marie und ſeine Roſa erdrückt, und der
Sturmwind gienge über ihre Gräber. Bete, ſagte
er zu dem Knaben, und lege dich ruhig ſchlafen!
[185] Erwin gehorchte, Friedrich aber blieb noch auf.
Seine Seele war von den buntwechſelnden Erſchei¬
nungen dieſer Nacht mit einer unbeſchreiblichen
Wehmuth erfüllt, und er ſchrieb heute noch folgen¬
des Gedicht auf:


Der armen Schönheit Lebenslauf.

Die arme Schönheit irrt auf Erden,

So lieblich Wetter drauſſen iſt,

Möcht' gern recht viel geſehen werden,

Weil jeder ſie ſo freundlich grüßt.
Und wer die arme Schönheit ſchauet,

Sich wie auf großes Glück beſinnt,

Die Seele fühlt ſich recht erbauet,

Wie wenn der Frühling neu beginnt.
Da ſieht ſie viele ſchöne Knaben,

Die reiten unten durch den Wind,

Möcht' manchen gern im Arme haben,

Hüt' dich, hüt' dich, du armes Kind!
Da zieh'n manch' redliche Geſellen,

Die ſagen: Haſt nicht Geld noch Haus,

Wir fürchten deine Augen helle,

Wir haben nichts zum Hochzeitsſchmauß.
Von andern thut ſie ſich wegdrehen,

Weil keiner ihr ſo wohlgefällt,

Die müſſen traurig weiter gehen,

Und zögen gern an's End der Welt.
Da ſagt ſie: Was hilft mir mein Sehen,

Ich wünſcht', ich wäre lieber blind,

Da alle furchtſam von mir gehen,

Weil gar ſo ſchön mein' Augen ſind. —
[186]
Nun ſitzt ſie hoch auf lichtem Schloſſe,

In ſchöne Kleider putzt ſie ſich,

Die Fenſter glüh'n, ſie winkt vom Schloſſe,

Die Sonne blinkt, das blendet dich.
Die Augen, die ſo furchtſam waren,

Die haben jezt ſo freyen Lauf,

Fort iſt das Kränzlein aus den Haaren,

Und hohe Federn ſteh'n darauf.
Das Kränzlein iſt herausgeriſſen,

Ganz ohne Scheu ſie mich anlacht;

Geh' Du vorbey: ſie wird Dich grüſſen,

Winkt Dir zu einer ſchönen Nacht. —
Da ſieht ſie die Geſellen wieder,

Die fahren unten auf dem Fluß,

Es ſingen laut die luſt'gen Brüder,

So furchtbar ſchallt des Einen Gruß:
„Was biſt du für'ne ſchöne Leiche!

So wüſte iſt mir meine Bruſt,

Wie biſt du nun ſo arm, du Reiche,

Ich hab' an dir nicht weiter Luſt!“
Der wilde hat ihr ſo gefallen,

Laut ſchrie ſie auf bey ſeinem Gruß,

Vom Schloß möcht' ſie hinunterfallen,

Und unten ruh'n im kühlen Fluß. —
Sie blieb nicht länger mehr da oben,

Weil alles anders worden war,

Vor Schmerz iſt ihr das Herz erhoben,

Da ward's ſo kalt, doch himmliſchklar.
Da legt ſie ab die goldnen Spangen,

Den falſchen Putz und Ziererey,

Aus dem verſtockten Herzen drangen

Die alten Thränen wieder frey.
[187]
Kein Stern wollt' nicht die Nacht erhellen,

Da mußte die Verliebte geh'n,

Wie rauſcht der Fluß! die Hunde bellen,

Die Fenſter fern erleuchtet ſteh'n.
Nun biſt du frey von deinen Sünden,

Die Lieb zog triumphirend ein,

Du wirſt noch hohe Gnade finden,

Die Seele geht in Hafen ein. —
Der Liebſte war ein Jäger worden,

Der Morgen ſchien ſo roſenroth,

Da bließ er luſtig auf dem Horne,

Bließ immerfort in ſeiner Noth.

Zwoͤlftes Kapitel.

Roſa ſaß des Morgens an der Toilette; ihr
Kammermädchen mußte ihr weitläufig von dem frem¬
den Herrn erzählen, der geſtern nach ihr gefragt
hatte. Sie zerbrach ſich vergebens den Kopf, wer
es wohl geweſen ſeyn möchte, denn Friedrich'n er¬
wartete ſie nicht ſo ſchnell. Vielmehr glaubte ſie,
er werde darauf beſtehen, daß ſie die Reſidenz ver¬
laſſe, und das machte ihr manchen Kummer. Die
junge Gräfin Romana, eine Verwandte von ihr,
in deren Hauſe ſie wohnte, ſaß neben ihr am Flü¬
gel und ſchwelgte toſend in den Tänzen von der ge¬
ſtrigen Redoute. Wie ihr anderen nur, ſagte ſie,
alle Luſt ſo gelaſſen ertragen und aus dem Tanz
[188] ſchnurſtracks ins Bett ſpringen könnt und der ſchö¬
nen Welt ſo auf einmal ein Ende machen! Ich bin
immer ſo ganz durchklungen, als ſollte die Muſik
niemals aufhören.


Bald darauf fand ſie Roſa's Augen ſo ſüß ver¬
ſchlafen, daß ſie ſchnell zu ihr hinſprang und ſie
küß[t]e. Sie ſezte ſich neben ihr hin und half ſie von
allen Seiten ſchmücken, ſetzte ihr bald einen Hut,
bald Blumen auf und riß eben ſo oft alles wieder
herunter, wie ein verliebter Knabe, der nicht weiß,
wie er ſich ſein Liebchen würdig genug aufputzen
ſoll. Ich weiß gar nicht, was wir uns putzen,
ſagte das ſchöne Weib endlich und lehnte den
ſchwarzgelockten Kopf ſchwermüthig auf den blen¬
dendweißen Arm, was wir uns kümmern und noch
Herzweh haben nach den Männern: ſolches ſchmu¬
tziges, abgearbeitetes, unverſchämtes Volk, ſteiflei¬
nene Helden, die ſich ſpreitzen und in allem Ernſte
glauben, daß ſie uns beherrſchen, während wir ſie
auslachen, fleiſſige Staatsbürger und eheliche Ehe¬
ſtandskandidaten, die, ganz beſchwitzt von der Be¬
rufsarbeit und das Schurzfell noch um den Leib, mit
aller Wuth ihrer Inbrunſt von der Werkſtatt zum Gar¬
ten der Liebe ſpringen, und denen die Liebe anſteht,
wie eine umgekehrt aufgeſetzte Perücke. — Roſa
beſah ſich im Spiegel und lachte. — Wenn ich mir
bedenke, fuhr die Gräfin fort, wie ich mir ſonſt als
kleines Mädchen einen Liebhaber vorgeſtellt habe:
wunderſchön, ſtark, voll Tapferkeit, wild, und doch
wieder ſo milde, wenn er bey mir war.

[189]

Ich weiß noch, unſer Schloß lag ſehr hoch
zwiſchen einſamen Wäldern, ein ſchöner Garten
war daneben, unten gieng ein Strom vorüber. Alle
Morgen, wenn ich in den Garten kam, hörte ich
drauſſen in den Bergen ein Waldhorn blaſen, bald
nahe, bald weit, dazwiſchen ſah ich oft einen Rei¬
ter plötzlich fern zwiſchen den Bäumen erſcheinen
und ſchnell wieder verſchwinden. Gott! mit welchen
Augen ſchaute ich da in die Wälder und den blauen
weiten Himmel hinaus! Aber ich durfte, ſo lange
meine Mutter lebte, niemals allein aus dem Gar¬
ten. Ein einzigesmal, an einem prächtigen Abende,
da der Jäger drauſſen wieder bließ, wagte ich es
und ſchlich unbemerkt in den Wald hinaus. Ich
gieng nun zum erſtenmale allein durch die dunkel¬
grünen Gänge, zwiſchen Felſen und über eingeſchloſ¬
ſene Wieſen voll bunter Blumen, alte, ſeltſame Ge¬
ſchichten, die mir die Amme oft erzählte, fielen mir
dabey ein; viele Vögel ſangen ringsumher, das
Waldhorn rufte immerfort, noch niemals hatte ich
ſo große Luſt empfunden. Doch, wie ich im Be¬
ſchauen ſo verſunken, gieng und ſtaunte, hatt' ich
den rechten Weg verlohren, auch wurde es ſchon
dunkel. Ich irrt und rief, doch niemand gab mir
Antwort. Die Nacht bedeckte indeß Wälder und
Berge, die nun wie dunkle Rieſen auf mich ſahen,
nur die Bäume rührten ſich ſo ſchaurig, ſonſt war
es ſtill im großen Walde. — Iſt das nicht recht
romantiſch? unterbrach ſich hier die Gräfin ſelbſt
laut auflachend. — Ermüdet, fuhr ſie wieder weiter
[190] fort, ſetzte ich mich endlich auf die Erde nieder und
weinte bitterlich. Da hör' ich plötzlich hinter mir
ein Geräuſch, ein Reh bricht aus dem Dickicht her¬
vor und hinterdrein der Reiter. — Es war ein
wilder Knabe, der Mond ſchien ihm hell ins Ge¬
ſicht; wie ſchön und herrlich er anzuſehen war, kann
ich mit Worten nicht beſchreiben. Er ſtutzte, als er
mich erblickte, und ſtaunend ſtanden wir ſo vorein¬
ander. Erſt lange darauf frug er mich, wie ich
hieher gekommen und wohin ich wollte? Ich konn¬
te vor Verwirrung nicht antworten, ſondern ſtand
ſtill vor ihm und ſah ihn an. Da hob er mich ſchnell
vor ſich auf ſein Roß, umſchlang mich feſt mit ei¬
nem Arme, und ritt ſo mit mir davon. Ich fragte
nicht: wohin? denn Luſt und Furcht war ſo ge¬
miſcht in ſeinem wunderbaren Anblick, daß ich we¬
der wünſchte noch wagte, von ihm zu ſcheiden. Un¬
terweges bat er mich freundlich um ein Andenken.
Ich zog ſtillſchweigend meinen Ring vom Finger
und gab ihn ihm. So waren wir nach kurzem Rei¬
ten auf unbekannten Wegen, zu meiner Verwun¬
derung, auf einmal vor unſer Schloß gekommen.
Der Jäger ſetzte mich hier ab, küßte mich und kehr¬
te ſchnell wieder in den Wald zurück.


Aber mir ſcheint gar, Du glaubſt mir wirklich
alles das Zeug da, ſagte hier die Gräfin, da ſie
Roſa'n über der Erzählung ihren ganzen Putz ver¬
geſſen und mit großen Augen zuhorchen ſah. — Und
iſt es denn nicht wahr? fragte Roſa. — So, ſo,
erwiederte die Gräfin, es iſt eigentlich mein Lebens¬
[191] lauf in der Knoſpe. Willſt Du weiter hören, mein
Püppchen?


Der Sommer, die bunten Vögel und die
Waldhornsklänge zogen nun fort, aber das Bild
des ſchönen Jägers blieb heimlich bey mir den lan¬
gen Winter hindurch. — Es war an einem von je¬
nen wundervollen Vorfrühlingstagen, wo die erſten
Lerchen wieder in der lauen Luft ſchwirren, ich ſtand
mit meiner Mutter an dem Abhange des Gartens,
der Fluß unten war von dem geſchmolzenen Schnee
ausgetreten und die Gegend weit und breit wie ein
großer See zu ſehen. Da erblickte ich plötzlich mei¬
nen Jäger wieder gegenüber auf der Höhe. Ich
erſchrack vor Freude, daß ich am ganzen Leibe zit¬
terte. Er bemerkte mich und hielt meinen Ring an
ſeiner Hand grade auf mich zu, daß der Stein, im
Sonnenſcheine funkelnd, wunderbar über das Thal
herüberblizte. — Er ſchien zu uns herüber zu wol¬
len, aber das Waſſer hinderte ihn. So ritt er
auf verſchiedenen Umwegen und kam auf einen tie¬
fen Schlund, vor dem das Pferd ſich zögernd
bäumte. Endlich wagte es den Sprung, ſprang zu
kurz und er ſtürzte in den Abgrund. Als ich das
ſahe, ſprang ich, ohne mich zu beſinnen, mit einem
Schrey vom Abhange aus dem Garten hinunter.
Man trug mich ohnmächtig ins Schloß, und ich ſah
ihn niemals mehr wieder; aber der Ring blitzt
wohl noch jeden Frühling aus der Grüne farbig¬
flammend in mein Herz, und ich werde die Zaube¬
rey nicht los. — Was ſagte denn aber die Mutter
[192] dazu? fragte Roſa. — Sie erinnerte ſich ſehr oft
daran. Noch den letzten Tag vor ihrem Tode, da
ſie ſchon zuweilen irre ſprach, fiel es ihr ein und ſie
ſagte in einer Art von Verzuckung zu mir: Sprin¬
ge nicht aus dem Garten! Er iſt ſo fromm und
zierlich umzäunt mit Roſen, Lilien und Roſmarin.
Die Sonne ſcheint gar lieblich darauf und lichtglän¬
zende Kinder ſehen Dir von ferne zu und wollen
dort zwiſchen den Blumenbeeten mit Dir ſpazieren¬
gehen. Denn Du ſollſt mehr Gnade erfahren und
mehr göttliche Pracht überſchauen, als andere. Und
eben, weil Du oft fröhlich und kühn ſeyn wirſt und
Flügel haben, ſo bitte ich Dich: ſpringe niemals
aus dem ſtillen Garten! — Was wollte ſie denn
aber damit ſagen? fiel ihr Roſa ins Wort, ver¬
ſtehſt Du's? — Manchmal, erwiederte die Gräfin,
an nebligen Herbſttagen. — Sie nahm die Guitar¬
te, trat an das offene Fenſter und ſang:


Laue Luft kommt blau gefloſſen,

Frühling, Frühling ſoll es ſeyn!

Waldwärts Hörnerklang geſchoſſen,

Muth'ger Augen lichter Schein,

Und das Wirren bunt und bunter

Wird ein magiſch wilder Fluß,

In die ſchöne Welt hinunter

Lockt dich dieſes Stromes Gruß.
Und ich mag mich nicht bewahren!

Weit von Euch treibt mich der Wind,

Auf dem Strome will ich fahren,

Von dem Glanze ſelig blind!

Tauſend[193]
Tauſend Stimmen lockend ſchlagen,

Hoch Aurora flammend weht,

Fahre zu! ich mag nicht fragen,

Wo die Farth zu Ende geht!

Was macht dein Bruder Leontin? fragte ſie
ſchnellabbrechend und legte die Guitarre, in Gedan¬
ken verſunken, hin. Wie kommſt du jetzt auf den?
fragte Roſa verwundert. Er ſagt von mir, antwor¬
tete die Gräfin, ich ſey wie eine Flöte, in der viel
himmliſcher Klang, aber das friſche Holz habe ſich
geworfen, habe einen genialiſchen Sprung, und ſo
tauge doch am Ende das ganze Inſtrument nichts.
Das fiel mir eben jezt ein.


Roſa war froh, daß grade der Bediente her¬
eintrat und meldete, daß die Pferde zum Spa¬
zierritte bereit ſeyen. Denn die Reden der Grä¬
fin hatten ſie heute mehr gepreßt und beängſtigt,
als ſie zeigte, und wäre Friedrich, nach deſſen
immer beruhigenden Geſprächen ſie hier gar oft
eine aufrichtige Sehnſucht fühlte, in dieſem Augen¬
blicke hereingetreten, ſie wäre ihm gewiß mit einer
Leidenſchaft um den Hals gefallen, die ihn in Ver¬
wunderung geſezt hätte.


Friedrich hatte bis weit in den Tag hineinge¬
ſchlafen oder vielmehr geträumt und ſtand unerquickt
und nüchtern auf. Die alte, ſchöne Gewohnheit,
beym erſten Erwachen in die rüſtige, freye Morgen¬
pracht hinauszutreten, und auf hohem Berge oder
im Walde die Weihe großer Gedanken für den Tag
13[194] zu emfangen, mußte er nun ablegen. Troſtlos
blickte er aus dem Fenſter in das verwirrende Trei¬
ben der mühſeligdrängenden, ſchwankenden Menge,
und es war ihm, als könnte er hier nicht beten.
In ſolchen verlaſſenen Stunden wenden wir uns mit
doppelter Liebe nach den Augen der Geliebten, aus
denen uns die Natur wieder wunderbar begrüßt,
wo wir Ruhe, Troſt und Freude wieder zu finden
wähnen. Auch Friedrich eilte, ſeine Roſa endlich
wieder zu ſehen. Aber ſeine Erwartung ſollte noch
einmal getäuſcht werden. Sie war, wie wir ge¬
hört haben, eben fortgeritten, als er hinkam.


Ungeduldig verließ er von neuem das Haus,
und es fehlte wenig, daß er in einer Aufwallung
nicht ſogleich gar wieder fortreiste. Müßig und
unluſtig ſchlenderte er durch die Gaſſen zwiſchen den
fremden Menſchengeſichtern, ohne zu wiſſen, wohin.
Die erſten Stunden und Tage, die wir in einer
großen, unbekannten Stadt verbringen, gehören
meiſtens unter die verdrießlichſten unſeres Lebens.
Ueberall von aller organiſchen Theilnahme ausge¬
ſchloſſen, ſind wir wie ein überflüſſiges, ſtillſtehendes
Rad an dem großen Uhrwerke des allgemeinen Trei¬
bens. Neutral hängen wir gleichſam unſer ganzes
Weſen ſchlaff zu Boden und haſchen, da wir inner¬
lich nicht zu Hauſe ſind, auswärts nach einem fe¬
ſten, ſicheren Halt. Solche Augenblicke ſind es, wo
wir darauf verfallen, Viſiten zu machen und nach
Bekanntſchaften zu jagen, da uns ſonſt der un¬
geſtörte Zug eines friſchen, bewegten Lebens in
[195] Liebe und Haß mit Gleichen und Widrigen von ſelbſt
kräftiger und ſicherer zuſammenführt.


So erinnerte ſich auch Friedrich, daß er ein
Empfehlungsſchreiben an den hieſigen Miniſter P.,
den er von einſichtsvollen Männern als ein Wunder
von tüchtiger Thätigkeit rühmen gehört, bey ſich ha¬
be. Er zog es hervor und überlas bey dieſer Ge¬
legenheit wieder einmal den weitläufigen Reiſeplan,
den er bey ſeinem Auszuge von der Univerſität ſorg¬
fältig in ſeine Schreibtafel aufgezeichnet hatte. Es
rührte ihn, wie da alle Wege ſo genau vorausbe¬
ſtimmt waren, und wie nachher alles anders ge¬
kommen war, wie das innere Leben überall durch¬
dringt und, ſich an keine vorberechneten Pläne keh¬
rend, gleich einem Baume aus freyer, geheimni߬
voller Werkſtatt ſeine Aeſte nach allen Richtungen
hinſtreckt und treibt und erſt als Ganzes einen Plan
und Ordnung erweißt.


Unter ſolchen Gedanken erreichte er des Mini¬
ſters Haus. Ein Kammerdiener meldete ihn an und
führte ihn bald darauf durch eine lange Reihe von
Zimmern, die alle faſt bis zur Einförmigkeit einfach
und ſchmucklos waren. Erſtaunt blieb er ſtehen,
als ihm endlich an der letzten Thüre der Miniſter
ſelbſt entgegenkam. Er hatte ſich nach alle dem Er¬
hebenden, was er von ſeinem großen Streben ge¬
hört, einen lebenskräftigen, heldenähnlichen, freudi¬
gen Mann vorgeſtellt, und fand eine lange, hage¬
re, ſchwarzgekleidete Geſtalt, die ihn mit unhöflicher
13 *[196] Höflichkeit empfieng. Denn ſo möchte man jene
Höflichkeit nennen, die nichts weiter bedeuten will,
und keinen Zug mehr ihres Urſprungs, der wohl¬
wollenden Güte, an ſich hat. Der Miniſter las
das Schreiben ſchnell durch und erkundigte ſich um
die Familienverhältniſſe des Grafen mit wenigen
ſonderbaren Fragen, aus denen Friedrich zu ſeiner
höchſten Verwunderung erſah, daß der Miniſter in
die Geheimniſſe ſeiner Familie eingeweihter ſeyn
müſſe, als er ſelber, und er betrachtete den kalten
Mann einige Augenblicke mit einer Art von heiliger
Scheu.


Während dieſer Unterredung kam unten ein
junger Mann in ſoldatiſcher Kleidung die Straſſe
herabgeritten. Wie wenn ein Ritter, noch ein hei¬
liges Bild voriger rechter Jugend, deſſen Anblick
unſer Auge längſt entwöhnt iſt, uns plötzlich begeg¬
nete, ſo ragte der herrliche Reiter über die verwor¬
rene, falbe Menge, die ſein wildes Roß auseinan¬
derſprengte. Alles zog ehrerbietig den Hut, er
nickte freundlich in das Fenſter hinauf, der Miniſter
verneigte ſich tief; es war der Erbprinz.


Auf Friedrich'n hatte die wahrhaft fürſtliche
Schönheit des Reiters einen wunderbaren Eindruck
gemacht, den er, ſo lange er lebte, nie wieder aus¬
zulöſchen vermochte. Er ſagte es dem Miniſter.
Der Miniſter lächelte. Friedrich n ärgerte das brit¬
tiſirende, eingefrorene Weſen, das er aus Jean
Pauls Romanen bis zum Eckel kannte, und jeder¬
zeit für die allerſchändlichſte Prahlerey hielt. Auf
[197] die Wahrhaftigkeit ſeines Herzens vertrauend,
ſprach er daher, als ſich bald nachher die Unter¬
haltung zu den neueſten Zeitbegebenheiten wandte,
über Staat, öffentliche Verhandlungen und Patrio¬
tiſmus mit einer ſorgloſen, ſieghaften Ergreiffung,
die vielleicht manchmal um deſto eher an Uebertrei¬
bung gränzte, je mehr ihn der unüberwindlich kal¬
te Gegenſatz des Miniſters erhitzte. Der Miniſter
hörte ihn ſtillſchweigend an. Als er geendigt hatte,
ſagte er ruhig: Ich bitte Sie, verlegen Sie ſich
doch einige Zeit mit ausſchließlichem Fleiße auf das
Studium der Jurisprudenz und der kammeraliſtiſchen
Wiſſenſchaften. Friedrich griff ſchnell nach ſeinem
Hute. Der Miniſter überreichte ihm eine Einla¬
dungskarte zu einem ſogenannten Tableau, welches
heute Abend bey einer Dame, die durch gelehrte
Zirkel berüchtigt war, von mehreren jungen Da¬
men aufgeführt werden ſollte, und Friedrich eilte
aus dem Hauſe fort. Er hatte ſich oben in der Ge¬
genwart des Miniſters wie von einer unſichtbaren
Uebermacht bedrückt gefühlt, es kam ihm vor, als
gienge alles anders auf der Welt, als er es ſich in
guten Tagen vorgeſtellt.


Es war ſchon Abend geworden, als ſich Frie¬
drich endlich entſchloß, von der Einladungskarte, die
er vom Miniſter bekommen hatte, Gebrauch zu ma¬
chen. Er machte ſich ſchnell auf den Weg; aber
das Haus der Dame, wohin die Addreſſe gerichtet
war, lag weit in dem anderen Theile der Stadt,
und ſo langte er ziemlich ſpät dort an.

[198]

Er wurde bey Vorweiſung der Karte in einen
Saal gewieſen, der, wie es ſchien, mit Fleiß, nur
durch einen einzigen Kronleuchter ſehr matt beleuch¬
tet wurde. In dieſer ſonderbaren Dämmerung fand
er eine zahlreiche Geſellſchaft, die lebhaft durchein¬
anderſprechend in einzelne Parthieen zerſtreut umher¬
ſaß. Er kannte niemand und wurde auch nicht be¬
merkt; er blieb daher im Hintergrunde und erwar¬
tete, an einen Pfeiler gelehnt, den Ausgang der
Sache.


Bald darauf wurde zu ſeinem Erſtaunen auch
der einzige Kronleuchter hinaufgezogen. Eine un¬
durchdringliche Finſterniß erfüllte nun plötzlich den
Raum und er horte ein quickerndes, leichtfertiges
Gelächter unter den jungen Frauenzimmern über
den ganzen Saal. Wie ſehr aber fühlte er ſich
überraſcht, als auf einmal ein Vorhang im Vor¬
dergrunde niederſank und eine unerwartete Erſchei¬
nung von der ſeltſamſten Erfindung ſich den Augen
darbot.


Man ſah nemlich ſehr überraſchend ins Freye,
überſchaute ſtatt eines Theaters die große, wunder¬
bare Bühne der Nacht ſelber, die vom Monde be¬
leuchtet drauſſen ruhte. Schräge über die Gegend
hin ſtreckte ſich ein ungeheurer Rieſenſchatten weit
hinaus, auf deſſen Rücken eine hohe weibliche Ge¬
ſtalt erhoben ſtand. Ihr langes weites Gewand
war durchaus blendendweiß, die eine Hand hatte
ſie ans Herz gelegt, mit der anderen hielt ſie ein
Kreutz zum Himmel empor. Das Gewand ſchien
[199] ganz und gar von Licht durchdrungen und ſtrömte
von allen Seiten einen milden Glanz aus, der eine
himmliſche Glorie um die ganze Geſtalt bildete und
ſich ins Firmament zu verloren ſchien, wo oben an
ſeinem Ausgange einzelne wirkliche Sterne hindurch¬
ſchimmerten. Rings unter dieſer Geſtalt war ein
dunkler Kreis hoher, traumhafter, phantaſtiſch in¬
einanderverſchlungener Pflanzen, unter denen, un¬
kenntlich verworrene Geſtalten zerſtreut lagen und
ſchliefen, als wäre ihr wunderbarer Traum über
ihnen abgebildet. Nur hin und her endigten ſich
die höchſten dieſer Pflanzengewinde in einzelne Li¬
lien und Roſen, die von der Glorie, der ſie ſich
zuwandten, berührt, und verklärt wurden und in de¬
ren Kelchen goldene Kanarienvögel ſaſſen und in dem
Glanze mit den Flügeln ſchlugen. Unter den dunk¬
len Geſtalten des unteren Kreiſes war nur eine
kenntlich. Es war ein Ritter, der ſich, der glän¬
zenden Erſcheinung zugekehrt, auf beyde Kniee
aufgerichtet hatte und auf ein Schwert ſtützte, und
deſſen goldene Rüſtung von der Glorie hell beleuch¬
tet wurde. Von der anderen Seite ſtand eine ſchö¬
ne weibliche Geſtalt in griechiſcher Kleidung, wie
die Alten ihre Göttinnen abbildeten. Sie war mit
bunten, vollen Blumengewinden umhangen und
hielt mit beyden aufgehobenen Armen eine Zymbel,
wie zum Tanze, hoch in die Höh', ſo daß die
ganze regelmäſſige Fülle und Pracht der Glieder
ſichtbar wurde. Das Geſicht erſchrocken von der
Glorie abgewendet, war ſie nur zur Hälfte erleuch¬
[200] tet; aber es war die deutlichſte und vollendetſte
Figur. Es ſchien, als wäre die irdiſche, lebens¬
luſtige Schönheit, von dem Glanze jener himmli¬
ſchen berührt, in ihrer bachantiſchen Stellung plötz¬
lich ſo erſtarrt. Je länger man das Ganze betrach¬
tete, je mehr und mehr wurde das Zauberbild von
allen Seiten lebendig. Die Glorie der mittelſten
Figur ſpielte in den Pflanzengewinden und den
zitternden Blätterſpitzen der nächſtſtehenden Bäume.
Im Hintergrunde ſah man noch einige Streifen des
Abendroths am Himmel ſtehen, fernes dunkel¬
blaues Gebirg und hin und wieder den Strom aus
der weiten Tiefe wie Silber aufblickend. Die gan¬
ze Gegend ſchien in erwartungsvoller Stille zu
feyern, wie vor einem großen Morgen, der das
geheimnißvoll gebundene Leben in herrlicher Pracht
löſen ſoll.


Friedrich war freudig zuſammengefahren, als
der Vorhang ſich plötzlich eröffnete, denn er hatte
in der mittelſten Figur mit dem Kreutze ſogleich ſei¬
ne Roſa erkannt. Wie wir einen geliebten köſtli¬
chen Stein mit dem Koſtbarſten ſorgfältig umfaſ¬
ſen, ſo ſchien auch ihm der herrliche Kreis der ge¬
ſtirnten Nacht drauſſen nur eine Folie um das ſchö¬
ne Bild der Geliebten, zu welcher Aller Augen un¬
widerſtehlich hingezogen wurden. An ihren großen,
ſinnigen Augen entzündete ſich in ſeiner Bruſt die
Macht hoher, freudiger Entſchlüſſe und Gedanken,
das Abendroth drauſſen war ihm die Aurora eines
künftigen, weiten, herrlichen Lebens und ſeine ganze
[201] Seele flog wie mit großen Flügeln in die wunder¬
bare Ausſicht hinein.


Mitten in dieſer Entzückung fiel der Vorhang
plötzlich wieder, das Ganze verdeckend, herab, der
Kronleuchter wurde heruntergelaſſen und ein ſchnat¬
terndes Gewühle und Lachen erfüllte auf einmal
wieder den Saal. Der größte Theil der Geſellſchaft
brach nun von allen Sitzen auf und verlohr ſich.
Nur ein kleiner Theil von Auserwählten, wie es
ſchien, blieb im Saale zurück. Friedrich wurde
während deß vom Miniſter, der auch zugegen war,
bemerkt und ſogleich der Frau vom Hauſe vorge¬
ſtellt. Es war eine faſt durchſichtigſchlanke, ſchmäch¬
tige Geſtalt, gleichſam im Nachſommer ihrer Blü¬
the und Schönheit. Sie bat ihn mit ſo überaus
ſanften, leiſen, liſpelnden Worten, daß er Mühe
hatte ſie zu verſtehen, ihre künſtleriſchen Abendan¬
dachten, wie ſie ſich ausdrückte, mit ſeiner Gegen¬
wart zu beehren, und ſah ihn dabey mit blinzeln¬
den, faſt zugedrückten Augen an, von denen er
zweifelhaft war, ob ſie ausforſchend, gelehrt,
ſanft, verliebt oder nur intereſſant ſeyn ſollten.


Die Geſellſchaft zog ſich indeß in eine kleinere
Stube zuſammen. Die Zimmer waren durchaus
prachtvoll und im neueſten Geſchmack dekorirt; nur
hin und wieder bemerkte man einige auffallende Be¬
ſonderheiten und Nachläſſigkeiten, unſymetriſche
Spiegel, Guitarren, aufgeſchlagene Muſikalien und
Bücher, die auf den Ottomanen zerſtreut umherla¬
gen. Friedrich'n kam es vor, als hätte es der
[202] Frau vom Hauſe vorher einige Stunden mühſamen
Studiums gekoſtet, um in das Ganze eine gewiſſe
unordentliche Genialität hineinzubringen.


Endlich erſchien auch Roſa mit der jungen
Gräfin Romana, welche in dem Tableau die grie¬
chiſche Figur, die lebensluſtige, vor dem Glanz des
Chriſtenthums zu Stein gewordene Religion der
Phantaſie ſo meiſterhaft dargeſtellt hatte. Roſa's
erſter Blick traf grade auf Friedrich. Erſtaunt und
mit innigſter Herzensfreude rief ſie laut ſeinen Nah¬
men. Er wäre ihr um den Hals gefallen, aber der
Miniſter ſtand eben wie eine Statue neben ihm,
und manche Augen hatte ihr unvorſichtiger Ausruf
auf ihn gerichtet. Er hätte ſich vor dieſen Leuten
eben ſo gern wie Don Quixote in der Wildniß vor
ſeinem Sancho Panſa in Burzelbäumen produzieren
wollen, als ſeine Liebe ihren Augen Preis geben.
Aber ſo nahe als möglich hielt er ſich zu ihr, es
war ihm eine unbeſchreibliche Luſt, ſie anzurühren,
er ſprach wieder mit ihr, als wäre er nie von ihr
entfernt geweſen und hielt oft Minutenlang ihre
Hand in der ſeinigen. Raſa'n that dieſe langent¬
behrte, ungekünſtelte, unwiderſtehliche Freude an ihr
im Innerſten wohl.


Es hatte ſich unterdeß ein niedliches, etwa
zehnjähriges Mädchen eingefunden, die in einer rei¬
tzenden Kleidung mit langen Beinkleidern und kurzem
ſchleyernen Röckchen darüber keck im Zimmer herum¬
ſprang. Es war die Tochter vom Hauſe. Ein Herr
aus der Geſellſchaft reichte ihr ein Tambourin, das
[203] in einer Ecke auf dem Fußboden gelegen hatte. Alle
ſchloſſen bald einen Kreis um ſie und das zierliche
Mädchen tanzte mit einer wirklich bewunderungs¬
würdigen Anmuth und Geſchicklichkeit, während ſie
das Tambourin auf mannigfache Weiſe ſchwang und
berührte und ein niedliches italiäniſches Liedchen da¬
zu ſang. Jeder war begeiſtert, erſchöpfte ſich in
Lobſprüchen und wünſchte der Mutter Glück, die
ſehr zufrieden lächelte. Nur Friedrich ſchwieg ſtill.
Denn einmal war ihm ſchon die moderne Jungen¬
tracht bey Mädchen zuwider, ganz abſcheulich aber
war ihm dieſe gottloſe Art, unſchuldige Kinder
durch Eitelkeit zu dreſſiren. Er fühlte vielmehr ein
tiefes Mitleid mit der ſchönen kleinen Bajadere.
Sein Aerger und das Lobpreiſen der anderen ſtieg,
als nachher das Wunderkind ſich unter die Geſell¬
ſchaft miſchte, nach allen Seiten hin in fertigem
Franzöſiſch ſchnippiſche Antworten ertheilte, die eine
Klugheit weit über ihr Alter zeigten, und über¬
haupt jede Ungezogenheit als genial genommen
wurde.


Die Damen, welche ſämmtlich ſehr äſthetiſche
Mienen machten, ſetzten ſich darauf nebſt mehreren
Herren unter dem Vorſitze der Frau vom Haus,
die mit vieler Grazie den Thee einzuſchenken wu߬
te, förmlich in Schlachtordnung und fiengen an von
Ohrenſchmäußen zu reden. Der Miniſter entfernte
ſich in die Nebenſtube, um zu ſpielen. — Friedrich
erſtaunte, wie dieſe Weiber geläufig mit den neue¬
ſten Erſcheinungen der Literatur umzuſpringen wu߬
[204] ten, von denen er ſelber manche kaum dem Nahmen
nach kannte, wie leicht ſie mit Nahmen herumwar¬
fen, die er nie ohne heilige, tiefe Ehrfurcht auszu¬
ſprechen gewohnt war. Unter ihnen ſchien beſonders
ein junger Mann mit einer verachtenden Miene in
einem gewiſſen Glauben und Anſeh'n zu ſtehen.
Die Frauenzimmer ſahen ihn beſtändig an, wenn
es darauf ankam, ein Urtheil zu ſagen, und ſuch¬
ten in ſeinem Geſichte ſeinen Beyfall oder Tadel im
voraus herauszuleſen, um ſich nicht etwa mit etwas
Abgeſchmacktem zu proſtituiren. Er hatte viele ge¬
nialiſche Reiſen gemacht, in den meiſten Hauptſtäd¬
ten auf öffentlicher Straſſe auf ſeine eigne Fauſt
Ball geſpielt, Kotzebue'n einmal in einer Geſell¬
ſchaft in den Sack geſprochen, faſt mit allen be¬
rühmten Schriftſtellern zu Mittag geſpeißt oder klei¬
ne Fußreiſen gemacht. Uebrigens gehörte er eigent¬
lich zu keiner Parthey; er überſah alle weit und
belächelte die entgegengeſetzten Geſinnungen und
Beſtrebungen, den eifrigen Streit unter den Phi¬
loſophen oder Dichtern: Er war ſich der Lichtpunkt
dieſer verſchiedenen Reflexe. Seine Urtheile waren
alle nur wie zum Spiele flüchtig hingeworfen mit
einem nachläſſig myſtiſchen Anſtrich, und die Frauen¬
zimmer erſtaunten nicht über das, was er ſagte,
ſondern was er, in der Ueberzeugung nicht verſtan¬
den zu werden, zu verſchweigen ſchien.


Wenn dieſer heimlich die Meynung zu regieren
ſchien, ſo führte dagegen ein anderer faſt einzig
das hohe Wort. Es war ein junger, voller Menſch
[205] mit ſtrotzender Geſundheit, ein Antlitz, das vor
wohlbehaglicher Selbſtgefälligkeit glänzte und ſtrahl¬
te. Er wußte für jedes Ding ein hohes Schwung¬
wort, lobte und tadelte ohne Maaß und ſprach ha¬
ſtig mit einer durchdringenden, gellenden Stimme.
Er ſchien ein wüthendbegeiſterter von Profeſſion
und ließ ſich von den Frauenzimmern, denen er
ſehr gewogen ſchien, gern den heiligen Thyrſus¬
ſchwinger nennen. Es fehlte ihm dabey nicht an ei¬
ner gewiſſen ſchlauen Miene, womit er niederern,
nicht ſo ſaftige Naturen ſeiner Ironie Preis zu ge¬
ben pflegte. Friedrich wußte gar nicht, wohin die¬
ſer während ſeiner Deklamationen ſo viel Liebesblicke
verſchwende, bis er endlich ihm gerade gegenüber
einen großen Spiegel entdeckte.


Der Begeiſterte ließ ſich nicht lange bitten, et¬
was von ſeinen Poeſien mitzutheilen. Er las eine
lange Dythirambe von Gott, Himmel, Hölle, Er¬
de und dem Karfunkelſtein mit angeſtrengteſter Hef¬
tigkeit vor, und ſchloß mit ſolchem Schrey und
Nachdruck, daß er ganz blau im Geſichte wurde.
Die Damen waren ganz auſſer ſich über die heroi¬
ſche Kraft des Gedichts, ſo wie des Vortrages.


Ein anderer junger Dichter von mehr ſchmach¬
tendem Anſeh'n, der neben der Frau vom Hauſe
ſeinen Wohnſitz aufgeſchlagen hatte, lobte zwar
auch mit, warf aber dabey einige durchbohrende
neidiſche Blicke auf den Begeiſterten, vom Leſen
ganz erſchöpften. Ueberhaupt war dieſer Friedrich'n
ſchon von Anfang durch ſeinen großen Unterſchied
[206] von jenen beyden Flauſenmachern aufgefallen. Er
hatte ſich während der ganzen Zeit, ohne ſich um
die Verhandlungen der anderen zu bekümmern, aus¬
ſchließlich mit der Frau vom Haus unterhalten, mit
der er Eine Seele zu ſeyn ſchien. Ihre Unterhal¬
tung mußte ſehr zart ſeyn, wie man von dem ſü¬
ßen, zugeſpitzten Munde beyder abnehmen konnte,
und Friedrich hörte nur manchmal einzelne Laute,
wie: „mein ganzes Leben wird zum Roman“ —
„überſchwenglichreiches Gemüth“ „Prieſterle¬
ben“ — herüberſchallen. Endlich zog auch dieſer
ein ungeheueres Paket Papiere aus der Taſche und
begann vorzuleſen, unter anderen folgendes Aſſo¬
nanzenlied :


Hat nun Lenz die ſilbern'n Brounen

Losgebunden:

Knie' ich nieder, ſüßbeklommen,

In die Wunder.
Himmelreich, ſo kommt geſchwommen

Auf die Wunden!

Haſt Du einzig mich erkohren

Zu den Wundern?
In die Ferne ſüß verlohren,

Lieder fluthen,

Daß ſie, rückwärts ſanft erſchollen,

Bringen Kunde.
Was die andern ſorgen wollen,

Iſt mir dunkel,

Mir will ew'ger Durſt nur frommen

Nach dem Durſte.
[207]
Was ich liebte und vernommen,

Was geklungen,

Iſt den eignen, tiefen Wonnen

Selig Wunder!

Weiter folgendes Sonett:


Ein Wunderland iſt oben aufgeſchlagen,

Wo goldne Ströme geh'n und dunkel ſchallen

Und durch ihr Rauſchen tief' Geſänge hallen,

Die möchten gern ein hohes Wort uns ſagen.
Viel goldne Brücken ſind dort kühn geſchlagen,

Darüber alte Brüder ſinnend wallen

Und ſeltſam' Töne oft herunterfallen —

Da will tief Sehnen uns von hinnen tragen.
Wen einmal ſo berührt die heil'gen Lieder:

Sein Leben taucht in die Muſik der Sterne,

Ein ewig Zieh'n in wunderbare Ferne.
Wie bald liegt da tief unten alles Trübe!

Er kniet ewig bethend einſam nieder,

Verklärt im heil'gen Morgenroth der Liebe.

Er las noch einen Haufen Sonette mit einer
Art von prieſterlicher Feyerlichkeit. Keinem derſel¬
ben fehlte es an irgend einem wirklich aufrichtigen
kleinen Gefühlchen, an großen Ausdrücken und
lieblichen Bildern. Alle hatten einen einzigen, bis
ins Unendliche breit auseinandergeſchlagenen Gedan¬
ken, ſie bezogen ſich alle auf den Beruf des Dich¬
ters und die Göttlichkeit der Poeſie, aber die Poe¬
ſie ſelber, das urſprüngliche, freye, tüchtige Leben,
das uns ergreift, ehe wir darüber ſprachen, kam
nicht zum Vorſchein vor lauter Komplimenten davor
[208] und Anſtalten dazu. Friedrich'n kamen dieſe Poe¬
ſierer in ihrer durchaus polirten, glänzenden, wohl¬
erzogenen Weichlichkeit wie der fade, unerquickliche
Theedampf, die zierliche Theekanne mit ihrem lo¬
dernden Spiritus auf dem Tiſche wie der Opferal¬
tar dieſer Muſen vor. Er erinnerte ſich bey dieſem
eßtheetiſchen Geſchwätz der ſchönen Abende im Wal¬
de bey Leontins Schloß, wie da Leontin manchmal
ſo ſeltſame Geſpräche über Poeſie und Kunſt hielt,
wie ſeine Worte, je finſterer es nach und nach
ringsumher wurde, zulezt Eins wurden mit dem
Rauſchen des Waldes und der Ströme und dem
großen Geheimniſſe des Lebens und weniger belehr¬
ten als erquickten, ſtärkten und erhoben.


Er erholte ſich recht an der erfriſchenden Schön¬
heit Roſa's, in deren Geſicht und Geſtalt unver¬
kennbar der herrliche, wilde, oft ungenießbare
Berg- und Waldgeiſt ihres Bruders zur ruhige¬
ren, großen, ſchönen Form geworden war. Sie
kam ihm dieſen Abend viel ſchöner und unſchuldiger
vor, da ſie ſich faſt gar nicht in die gelehrten Un¬
terhaltungen mit einmiſchte. Höchſtanziehend und
zurückſtoßend zugleich erſchien ihm dagegen ihre
Nachbarinn, die junge Gräfin Romana, welche er
ſogleich für die griechiſche Figur in dem Tableau
erkannte, und die daher heute allgemein die ſchöne
Heydinn genannt wurde. Ihre Schönheit war
durchaus verſchwenderiſchreich, ſüdlich und blendend
und überſtrahlte Roſa's mehr deutſche Bildung
weit,[209] weit, ohne eigentlich vollendeter zu ſeyn. Ihre
Bewegungen waren feurig, ihre großen, brennen¬
den, durchdringenden Augen, denen es nicht an
Strenge fehlte, beſtrichen Friedrich'n wie ein Mag¬
net. Als endlich der Schmachtende ſeine Vorleſung
geendigt hatte, wurde ſie ziemlich unerwartet um
ihr Urtheil darüber befragt. Sie antwortete ſehr
kurz und verworren, denn ſie wußte faſt kein Wort
davon; ſie hatte während deß heimlich ein ausfallend
getroffenes Portrait Friedrichs geſchnitzt, das ſie
ſchnell Roſa'n zuſteckte. — Bald darauf wurde auch
ſie aufgefordert, etwas von ihren Poeſieen zum
Beſten zu geben. Sie verſicherte vergebens, daß
ſie nichts bey ſich habe, man drang von allen Sei¬
ten, beſonders die Weiber mit wahren Judasge¬
ſichtern, in ſie, und ſo begann ſie, ohne ſich lange
zu beſinnen, folgende Verſe, die ſie zum Theil aus
der Erinnerung herſagte, größtentheils im Augen¬
blick erfand und durch ihre muſikaliſchen Mienen
wunderbar belebte:


Weit in einem Walde droben

Zwiſchen hoher Felſen Zinnen,

Steht ein altes Schloß erhoben,

Wohnet eine Zaub'rin drinne.

Von dem Schloß, der Zaub'rin Schöne

Gehen wunderbare Sagen,

Lockend ſchweifen fremde Töne

Plötzlich her oft aus dem Walde.

Wem ſie recht das Herz getroffen,

Der muß nach dem Walde gehen,

14[210]
Ewig dieſen Klängen folgend,

Und wird nimmer mehr geſehen.

Tief in wunderſamer Grüne

Steht das Schloß, ſchon halbverfallen,

Hell die goldnen Zinnen glühen,

Einſam ſind die weiten Hallen.

Auf des Hofes ſtein'gem Raſen

Sitzen von der Tafelrunde

All' die Helden dort gelagert,

Ueberdeckt mit Staub und Wunden.

Heinrich liegt auf ſeinem Löwen,

Gottfried auch, Siegfried der Scharfe,

König Alfred, eingeſchlafen

Ueber ſeiner goldnen Harfe.

Don Quixot hoch auf der Mauer

Sinnend tief in nächt'ger Stunde,

Steht gerüſtet auf der Lauer

Und bewacht die heil'ge Runde.

Unter fremdes Volk verſchlagen,

Arm und ausgehöhnt, verrathen,

Hat er treu ſich durchgeſchlagen,

Eingedenk der Heldenthaten

Und der großen alten Zeiten,

Bis er, ganz von Wahnſinn trunken,

Endlich ſo nach langem Streiten

Seine Brüder hat gefunden.
Einen wunderbaren Hofſtaat

Die Prinzeſſin dorthin führet,

Hat ein'n wunderlichen Alten,

Der das ganze Haus regieret.

Einen Mantel trägt der Alte,

Schillernd bunt in allen Farben

Mit unzähligen Zierrathen,

Spielzeug hat er in den Falten.

[211]
Scheint der Monden helle drauſſen,

Wolken fliegen über'm Grunde:

Fängt er drauſſen an zu hauſen,

Kramt ſein Spielzeug aus zur Stunde.

Und das Spielzeug um den Alten

Rührt ſich bald beym Mondenſcheine,

Zupfet ihn beym langen Barte,

Schlingt um ihn die bunten Kreiſe

Auch die Blümlein nach ihm langen,

Möchten doch ſich ſittſam zeigen,

Zieh'n verſtohlen ihn beym Mantel,

Lachen dann in ſich gar heimlich.

Und ringsum die ganze Runde

Zieht Geſichter ihm und rauſchet,

Unterhält aus dunklem Grunde

Sich mit ihm als wie im Traume.

Und er ſpricht und ſinnt und ſinnet,

Bunt verwirrend alle Zeiten,

Weinet bitterlich und lachet,

Seine Seele iſt ſo heiter.
Bey ihm ſitzt dann die Prinzeſſin,

Spielt mit ſeinen Seltſamkeiten,

Immer neue Wunder blinkend

Muß er aus dem Mantel breiten.

Und der wunderliche Alte

Hielt ſie ſich bey ſeinen Bildern

Neidiſch immerfort gefangen,

Weit von aller Welt geſchieden.

Aber der Prinzeſſin wurde

Mitten in dem Spiele bange

Unter dieſen Zauberblumen,

Zwiſchen dieſer Quellen Rauſchen.

14 *[212]
Friſches Morgenroth im Herzen

Und voll freudiger Gedanken,

Sind die Augen wie zwey Kerzen,

Schön die Welt dran zu entflammen.

Und die wunderſchöne Erde,

Wie Aurora ſie berühret,

Will mit ird'ſcher Luſt und Schmerzen

Ewig neu ſie ſtets verführen.

Denn aus dem bewegten Leben

Spüret ſie ein Hochzeitsgrüßen,

Mitten zwiſchen ihren Spielen

Muß ſie ſich bezwungen fühlen.
Und es hebt die ewig Schöne,

Da der Morgen herrlich ſchiene,

In den Augen große Thränen,

Hell die jugendlichen Glieder.

„Wie ſo anders war es damals,

Da mich, bräutlich Ausgeſchmückte,

Aus dem heymathlichen Garten

Hier herab der Vater ſchickte!

Wie die Erde friſch und jung noch

Von Geſängen rings erklingend,

Schauernd in Erinnerungen,

Helle in das Herz mir blickte,

Daß ich, ſchamhaft mich verhüllend,

Meinen Ring, von Glanz geblendet,

Schleudert' in die prächt'ge Fülle,

Als die ew'ge Braut der Erde.

Wo iſt nun die Pracht geblieben,

Treuer Ernſt im rüſt'gen Treiben,

Rechtes Thun und rechtes Lieben

Und die Schönheit und die Freude?

Ach! ringsum die Helden alle,

Die ſonſt ſchön und helle ſchauten,

[213]
Um mich in den lichten Tagen

Durch die Welt ſich fröhlich hauten,

Strecken ſteinern nun die Glieder,

Eingehüllt in ihre Fahnen,

Sind ſeitdem ſo alt geworden,

Nur ich bin ſo jung wie damals. —

Von der Welt kann ich nicht laſſen,

Liebeln nicht von fern mit Reden,

In den Arm lebendig faſſen! —

Laß mich lieben, laß mich leben!“
Nun verliebt die Augen gehen

Ueber ihres Gartens Mauer,

War ſo einſam dort zu ſehen

Schimmernd Land und Ström' und Auen.

Und wo ihre Augen giengen:

Quellen aus der Grüne ſprangen,

Berg und Wald verzaubert ſtanden

Tauſend Vögel ſchwirrend ſangen.

Golden blitzt es über'm Grunde,

Seltne Farben irrend ſchweiffen,

Wie zu lang entbehrtem Feſte

Will die Erde ſich bereiten.

Und nun kamen angezogen

Freyer bald von allen Seiten,

Federn bunt im Winde flogen,

Jäger ſchmuck im Walde reiten.

Hörner munter drein erſchallen

Auf und munter durch das Grüne,

Pilger fromm dazwiſchen wallen,

Die das Heymathsfieber ſpüren.

Auf vielſonn'gen Wieſen flöten

Schäfer bey Schneeflock'gen Schafen,

Ritter in der Abendröthe

Knien auf des Berges Hange,

[214]
Und die Nächte von Guitarren

Und Geſängen weich erſchallen,

Daß der wunderliche Alte

Wie verrückt beginnt zu tanzen.

Die Prinzeſſin ſchmückt mit Kränzen

Wieder ſich die ſchönen Haare,

Und die vollen Kränze glänzen

Und ſie blickt verlangend nieder.
Doch die alten Helden alle,

Drauſſen vor der Burg gelagert,

Saßen dort im Morgenglanze,

Die das ſchöne Kind bewachten.

An das Thor die Freyer kamen

Nun geſprengt, gehüpft, gelaufen,

Ritter, Jäger, Provenzalen,

Bunte, helle, lichte Haufen.

Und vor allen junge Recken

Stolzen Blicks den Berg berannten,

Die die alten Helden weckten,

Sie vertraulich Brüder nannten.

Doch wie dieſe uralt blicken,

An die Eiſenbruſt geſchloſſen,

Brüderlich die Jungen drücken,

Fallen die erdrückt zu Boden.

Andre lagern ſich zum Alten,

Graust ihn'n gleich bey ſeinen Mienen,

Ordnen ſein verworrenes Walten,

Daß es jedem wohlgefiele;

Doch ſie fühlen ſchauernd balde,

Daß ſie ihn nicht können zwingen,

Selbſt zu Spielzeug ſich verwandelt,

Und der Alte ſpielt mit ihnen.

Und ſie müſſen thöricht tanzen,

Manche mit der Kron' geſchmücket

[215]
Und im purpurnem Talare

Feyerlich den Reigen führen.

Andre ſchweben liſpelnd loſe,

Andre müſſen männlich lärmen,

Rittern reiſſen aus die Roße

Und die ſchreyen gar erbärmlich.

Bis ſie endlich alle müde

Wieder kommen zu Verſtande,

Mit der ganzen Welt im Frieden,

Legen ab die Maſkerade.

„Jäger ſind wir nicht, noch Ritter,“

Hört man ſie von fern noch ſummen,

„Spiel nur war das — wir ſind Dichter!“ —

So vertoſt der ganze Plunder,

Nüchtern liegt die Welt wie ehe,

Und die Zaub'rin bey dem Alten

Spielt die vor'gen Spiele wieder

Einſam wohl noch lange Jahre. —

Die Gräfin, die zuletzt mit ihrem ſchönen, be¬
geiſterten Geſicht einer welſchen Improviſatorin glich,
unterbrach ſich hier plötzlich ſelber, indem ſie laut
auflachte, ohne daß jemand wußte, warum? Ver¬
wundert fragte alles durcheinander: Was lachen
Sie? Iſt die Allegorie ſchon geſchloſſen? Iſt das
nicht die Poeſie? — Ich weiß nicht, ich weiß nicht,
ich weiß nicht, ſagte die Gräfin luſtig und ſprang
auf.


Von allen Seiten wurden nun die flüchtigen
Verſe beſprochen. Einige hielten die Prinzeſſin im
Gedicht für die Venus, andere nannten ſie die
Schönheit, andere nannten ſie die Poeſie des Le¬
bens. — Es mag wohl die Gräfin ſelber ſeyn,
[216] dachte Friedrich. — Es iſt die Jungfrau Maria,
als die große Welt-Liebe, ſagte der genialiſche
Reiſende, der wenig Acht gegeben hatte, mit vor¬
nehmer Nachläſſigkeit. Ey, daß Gott behüte! brach
Friedrich, dem das Gedicht der Gräfin heydniſch
und übermüthig vorgekommen war wie ihre ganze
Schönheit, halb lachend und halb unwillig aus:
Sind wir doch kaum des Vernünftelns in der Re¬
ligion los, und fangen dagegen ſchon wieder an,
ihre feſten Glaubensſätze, Wunder und Wahrheiten
zu verpoetiſiren und zu verflüchtigen. In wem die
Religion zum Leben gelangt, wer in allem Thun
und Laſſen von der Gnade wahrhaft durchdrungen
iſt, deſſen Seele mag ſich auch in Liedern ihrer
Entzückung und des himmliſchen Glanzes erfreuen.
Wer aber hochmüthig und ſchlau dieſe Geheimniſſe
und einfältigen Wahrheiten als beliebigen Dich¬
tungsſtoff zu überſchauen glaubt, wer die Religion,
die nicht dem Glauben, dem Verſtande oder der
Poeſie allein, ſondern allen dreyen, dem ganzen
Menſchen, angehört, bloß mit der Phantaſie in
ihren einzelnen Schönheiten willkührlich zuſammen¬
rafft, der wird eben ſo gern an den griechiſchen
Olymp glauben, als an das Chriſtenthum, und
eins mit dem andern verwechſeln und verſetzen, bis
der ganze Himmel furchtbar öde und leer wird. —
Friedrich bemerkte, daß er von mehreren ſehr weiſe
belächelt wurde, als könne er ſie nicht zu ihrer
freyen Anſicht erheben.

[217]

Man hatte indeß an dem Tiſche die Geſchichte
der Gräfin Dolores aufgeſchlagen und blätterte
darin hin und her. Die mannigfaltigſten Urtheile
darüber durchkreuzten ſich bald. Die Frau vom Haus
und ihr Nachbar, der Schmachtende, ſprachen vor
allen anderen bitter und mit einer auffallend gekränk¬
ten Empfindlichkeit und Heftigkeit darüber. Sie
ſchienen das Buch aus tiefſter Seele zu haſſen.
Friedrich errieth wohl die Urſache und ſchwieg. —
Ich muß geſtehen, ſagte eine junge Dame, ich
kann mich darein nicht verſtehen, ich wußte niemals,
was ich aus dieſer Geſchichte mit den tauſend Ge¬
ſchichten machen ſoll. Sie haben ſehr recht, fiel
ihr einer von den Männern, der ſonſt unter allen
immer am richtigſten geurtheilet hatte, ins Wort,
es iſt mir immer vorgekommen, als ſollte dieſer
Dichter noch einige Jahre pauſiren, um dichten zu
lernen. Welche Sonderbarkeiten, Verrenkungen und
ſchreyende Uebertreibungen! — Grade das Gegen¬
theil, unterbrach ihn ein anderer, ich finde das
Ganze nur allzu proſaiſch, ohne die himmliſche Ue¬
berſchwenglichkeit der Phantaſie. Wenn wir noch
viele ſolche Romane erhalten, ſo wird unſere Poe¬
ſie wieder eine bloße allegoriſche Perſon der Moral.


Hier hielt ſich Friedrich, der dieſes Buch hoch
in Ehren hielt, nicht länger. Alles ringsumher,
ſagte er, iſt proſaiſch und gemein, oder groß und
herrlich, wie wir es verdroſſen und träge oder be¬
geiſtert ergreifen. Die größte Sünde aber unſerer
jetzigen Poeſie iſt meines Wiſſens die gänzliche Ab¬
[218] ſtraktion, das abgeſtandene Leben, die leere, will¬
kührliche, ſich ſelbſt zerſtörende Schwelgerey in Bil¬
dern. Die Poeſie liegt vielmehr in einer fortwäh¬
rend begeiſterten Anſchauung und Betrachtung der
Welt und der menſchlichen Dinge, ſie liegt eben ſo
ſehr in der Geſinnung, als in den lieblichen Ta¬
lenten, die erſt durch die Art ihres Gebrauches
groß werden. Wenn in einem ſinnreichen, einfach¬
ſtrengen, männlichen Gemüth auf ſolche Weiſe die
Poeſie wahrhaft lebendig wird, da verſchwindet al¬
ler Zwieſpalt: Moral, Schönheit, Tugend und
Poeſie wird alles Eins in den adelichen Gedanken,
in der göttlichen ſinnigen Luſt und Freude und dann
mag freylich das Gedicht erſcheinen, wie ein in der
Erde wohlgegründeter, tüchtiger, ſchlanker, hoher
Baum, wo Grob und Fein erquicklich durcheinan¬
derwächſt und rauſcht und ſich rührt zu Gottes
Lobe. Und ſo iſt mir auch dieſes Buch jedesmal
vorgekommen, obgleich ich gern zugebe, daß der
Autor in ſtolzer Sorgloſigkeit ſehr unbekümmert mit
den Worten ſchaltet, und ſich nur zu oft daran er¬
götzt, die kleinen Zauberdinger kurios auf den Kopf
zu ſtellen.


Die Frauenzimmer machten große Augen, als
Friedrich unerwartet ſo ſprach. Was er geſagt,
hatte wenigſtens den gewiſſen guten Klang, der
ihnen bey allen ſolchen Dingen die Hauptſache war.
Romana, die es von weitem flüchtig mit angehört,
fieng an, ihn mit ihren dunkelglühenden Augen be¬
deutender anzuſehen. Friedrich aber dachte: in Euch
[219] wird doch alles Wort nur wieder Wort, und wand¬
te ſich zu einem ſchlichten Manne, der vom Lande
war, und weniger mit der Literatur als mit dieſer
Art ſie zu behandeln unbekannt zu ſeyn ſchien.


Dieſer erzählte ihm, wie er jenem Romane
eine ſeltſame Verwandlung ſeines ganzen Lebens zu
verdanken habe. Auf dem Lande ausſchließlich zur
Oekonomie erzogen, hatte er nemlich, von früheſter
Kindheit an nie Neigung zum Leſen und beſonders
einen gewiſſen Widerwillen gegen alle Poeſie, als
einem unnützen Zeitvertreib. Seine Kinder dagegen
ließen ſeit ihrem zarteſten Alter einen unüberwind¬
lichen Hang und Geſchicklichkeit zum Dichten und
zur Kunſt verſpüren, und alle Mittel, die er an¬
wandte, waren nicht im Stande, ſie davon abzu¬
bringen und ſie zu thätigen, ordentlichen Landwir¬
then zu machen. Vielmehr lief ihm der älteſte
Sohn fort und wurde wider ſeinen Willen Mahler.
Dadurch wurde er immer verſchloſſener und ſeine
Abneigung gegen die Kunſt verwandelte ſich immer
bitterer in entſchiedenen Haß gegen alles, was ihr
nur anhieng. Der Mahler hatte indeß eine unglück¬
ſelige Liebe zu einem jungen, ſeltſamen Mädchen
gefaßt. Es war gewiß das talentvollſte, heftigſte,
beſte und ſchlechteſte Mädchen zugleich, das man
nur finden konnte. Eine Menge unordentlicher Lieb¬
ſchaften, in die ſie ſich auch jezt noch immerfort
einließ, brachte den Mahler oft auf das äuſſerſte,
ſo daß es in Anfällen von Wuth oft zwiſchen bey¬
den zu Auftritten kam, die eben ſo furchtbar als
[220] komiſch waren. Ihre unbeſchreibliche Schönheit zog
ihn aber immer wieder unbezwinglich zu ihr hin,
und ſo theilte er ſein unruhvolles Leben zwiſchen
Haß und Liebe und allen den heftigſten Leidenſchaf¬
ten, während er immerfort in den übrigen Stun¬
den unermüdet und nur um deſto eifriger an ſeinen
großen Gemälden fortarbeitete. — Ich machte mich
endlich einmal nach der weitentlegenen Stadt auf
den Weg, fuhr der Mann in ſeiner Erzählung
fort, um die ſeltſame Wirthſchaft meines Sohnes,
von der ich ſchon ſo viel gehört hatte, mit eignen
Augen anzuſeh'n. Schon unterweges hörte ich von
einem ſeiner beſten Freunde, daß ſich manches ver¬
ändert habe. Das Mädchen oder Weib meines
Sohnes habe nemlich von Ohngefähr ein Buch in
die Hände bekommen, worin ſie mehrere Tage
unausgeſetzt und tiefſinnig geleſen. Keiner ihrer
Liebhaber habe ſie ſeitdem zu ſehen bekommen und
ſie ſey endlich darüber in eine ſchwere Krankheit
verfallen. Das Buch war kein anderes, als eben
dieſe Geſchichte von der Gräfin Dolores. Als ich in
die Stadt ankomme, eile ich ſogleich nach der
Wohnung meines Sohnes. Ich finde niemanden im
ganzen Hauſe, die Thüren offen, alles öde. Ich
trete in die Stube: das Mädchen lag auf einem
Bette blaß und wie vor Mattigkeit eingeſchlafen.
Ich habe niemals etwas Schöneres geſehen. In
dem Zimmer ſtanden fertige und halbvollendete Ge¬
mälde auf Staffeleyen umher, Mahlergeräthſchaf¬
ten, Bücher, Kleider, halbbezogene Guitarren,
[221] alles ſehr unordentlich durcheinander. Durch das
Fenſter, welches offen ſtand, hatte man über die
Stadt weg eine entzückende Ausſicht auf den weit¬
gewundenen Strom und die Gebirge. In der Stu¬
be fand ich auf einem Tiſche ein Buch aufgeſchla¬
gen, es war die Dolores. Ich wollte die Kranke
nicht wecken, ſetzte mich hin und fieng an in dem
Buche zu leſen. Ich las und las, vieles Dunkle
zog mich immer mehr an, vieles kam mir ſo wahr¬
haft vor wie meine verborgene innerſte Meynung
oder wie alte, lange wieder verlohrne und unter¬
gegangene Gedanken, und ich vertiefte mich immer
mehr. Ich las bis es finſter wurde. Die Sonne
war drauſſen untergegangen und nur noch einzelne
Scheine des Abendrothes fielen ſeltſam auf die Ge¬
mälde, die ſo ſtill auf ihren Staffeleyen umherſtan¬
den. Ich betrachtete ſie aufmerkſamer, es war als
fiengen ſie an lebendig zu werden, und mir kam in
dieſem Augenblick die Kunſt, der unüberwindliche
Hang und das Leben meines Sohnes begreiflich
vor. Ich kann überhaupt nicht beſchreiben, wie mir
damals zu Muthe war; es war das erſtemal in
meinem Leben, daß ich die wunderbare Gewalt der
Poeſie im Innerſten fühlte, und ich erſchrack ordent¬
lich vor mir ſelber. — Es wär mir unterdeß aufge¬
fallen, daß ſich das Mädchen auf dem Bette noch
immer nicht rühre, ich trat zu ihr, ſchüttelte ſie
und rief. Sie gab keine Antwort mehr, ſie war
todt. — Ich hörte nachher, daß mein Sohn heute,
ſo wie ſie geſtorben war, fortgereist ſey, und alles
in ſeiner Stube ſo ſteh'n gelaſſen habe.

[222]

Hier hielt der Mann ernſthaft inne. Ich leſe
ſeitdem fleiſſig, fuhr er nach einer kleinen Pauſe
geſammelt fort; vieles in den Dichtern bleibt mir
durchaus unverſtändlich, aber ich lerne täglich in
mir und in den Menſchen und Dingen um mich vie¬
les einſeh'n und löſen, was mir ſonſt wohl unbe¬
greiflich war und mich unbeſchreiblich bedrückte. Ich
befinde mich jezt viel wohler.


Friedrich'n hatte dieſe einfache Erzählung ge¬
rührt. Er ſah den Mann aufmerkſam an und be¬
merkte in ſeinem ſtarkgezeichneten Geſicht einen ein¬
zigen ſonderbar dunklen Zug, der ausſah wie Un¬
glück und vor dem ihn ſchauderte. Er wollte ihn
eben noch um einiges fragen, das in der Geſchichte
beſonders ſeine Aufmerkſamkeit erregt hatte, aber
der dythirambiſche Thyrſusſchwinger, der unterdeß
bey den Damen ſeinen Witz unermüdet hatte leuch¬
ten laſſen, lenkte ihn davon ab, indem er ſich plötz¬
lich mit ſehr heftigen Bitten zu dem guten Schmach¬
tenden wandte, ihnen noch einige ſeiner vortreffli¬
chen Sonette vorzuleſen, obſchon er, wie Friedrich
gar wohl gehört, die ganze Zeit über grade dieſe
Gedichte vor den Damen zum Stichpunkt ſeines
Witzes und Spottes gemacht hatte. Friedrich'n
empörte dieſe herzloſe, doppelzüngige Teufeley; er
kehrte ſich ſchnell zu dem Schmachtenden, der neben
ihm ſtand, und ſagte: Ihre Gedichte gefallen mir
ganz und gar nicht. Der Schmachtende machte gro¬
ße Augen, und niemand von der Geſellſchaft ver¬
ſtand Friedrichs großmüthige Meynung. Der Dy¬
[223] thirambiſt aber fühlte die Schwere der Beſchämung
wohl, er wagte nicht weiter mit ſeinen Bitten in
den Schmachtenden zu dringen und fürchtete Frie¬
drich'n ſeitdem wie ein richtendes Gewiſſen. Frie¬
drich wandte ſich darauf wieder zu dem Landmanne
und ſagte zu ihm laut genug, daß es der Thyrſus¬
ſchwinger hören konnte: Fahren Sie nur fort, ſich
ruhig an den Werken der Dichter zu ergötzen, mit
ſchlichtem Sinne und redlichen Willen wird Ihnen
nach und nach alles in denſelben klar werden. Es
iſt in unſeren Tagen das größte Hinderniß für das
wahrhafte Verſtändniß aller Dichterwerke, daß je¬
der, ſtatt ſich recht und auf ſein ganzes Leben da¬
von durchdringen zu laſſen, ſogleich ein unruhiges,
krankenartiges Jucken verſpürt, ſelber zu dichten
und etwas Dergleichen zu liefern. Adler werden
ſogleich hochgebohren und ſchwingen ſich ſchon vom
Neſte in die Luft, der Strauß aber wird oft als
König der Vögel geſprieſen, weil er mit großem
Getös ſeinen Anlauf nimmt, aber er kann nicht
fliegen.


Es iſt nichts künſtlicher und luſtiger, als die
Unterhaltung einer ſolchen Geſellſchaft. Was das
Ganze noch ſo leidlich zuſammenhält, ſind tauſend
feine, faſt unſichtbare Fäden von Eitelkeit, Lob und
Gegenlob u. ſ. w., und ſie nennen es denn gar zu
gern ein goldenes Liebesnetz. Arbeitet dann unver¬
hofft einmal einer, der davon nichts weiß, tüchtig
darin herum, geht die ganze Spinnwebe von ewi¬
ger Freundſchaft und heiligem Bunde auseinander.

[224]

So hatte auch heute Friedrich den ganzen Thee
verſalzen. Keiner konnte das künſtleriſche Weber¬
ſchiffchen, das ſonſt, fein im Takte, ſo zarte äſthe¬
tiſche Abende wob, wieder in Gang bringen. Die
meiſten wurden mißlauniſch, keiner konnte oder
mochte, wie beym babyloniſchen Baue, des ande¬
ren Wortgepräng verſtehen, und ſo beleidigte ei¬
ner den andern in der gänzlichen Verwirrung.
Mehrere Herren nahmen endlich unwillig Abſchied,
die Geſellſchaft wurde kleiner und vereinzelter. Die
Damen gruppirten ſich hin und wieder auf den Ot¬
tomannen in maleriſchen und ziemlich unanſtändigen
Stellungen. Friedrich bemerkte bald ein heimliches
Verſtändniß zwiſchen der Frau vom Haus und dem
Schmachtenden. Doch glaubte er zugleich an ihr
ein feines Liebäugeln zu entdecken, d[a]s ihn ſelber
zu gelten ſchien. Er fand ſie überhaupt viel ſchlauer,
als man anfänglich ihrer liſpelnden Sanftmuth hät¬
te zutrauen mögen; ſie ſchien ihren ſchmachtenden
Liebhaber bey weitem zu überſehen, und, ſehr auf¬
geklärt, ſelber nicht ſo viel von ihm zu halten, als
ſie vorgab und er aus ganzer Seele glaubte.


Wie ein rüſtiger Jäger in friſcher Morgen¬
ſchönheit ſtand Friedrich unter dieſen verwiſchten Le¬
bensbildern. Nur die einzige Gräfin Romana zog
ihn an. Schon das Gedicht, das ſie rezitirt, hat¬
te ihn auf ſie aufmerkſam gemacht und auf die ei¬
genthümliche, von allen den andern verſchiedene
Richtung ihres Geiſtes. Er glaubte ſchon damals
eine[225] eine tiefe Verachtung und ein ſcharfes Ueberſchauen
der ganzen Theegeſellſchaft in demſelben zu bemer¬
ken, und ſeine jetzigen Geſpräche mit ihr beſtättig¬
ten ſeine Meynung. Er erſtaunte über die Freyheit
ihres Blicks, und die Keckheit, womit ſie alle
Menſchen aufzufaſſen und zu behandeln wußte. Sie
hatte ſich im Augenblick in alle Ideen, die Friedrich
in ſeinen vorigen Aeuſſerungen berührt, mit einer
unbegreiflichen Lebhaftigkeit hineinverſtanden und
kam ihm nun in allen ſeinen Gedanken entgegen.
Es war in ihrem Geiſte, wie in ihrem ſchönen Kör¬
per, ein zauberiſcher Reichthum; nichts ſchien zu
groß in der Welt für ihr Herz, ſie zeigte eine tie¬
fe, begeiſterte Einſicht ins Leben wie in alle Kün¬
ſte, und Friedrich unterhielt ſich daher lange Zeit
ausſchließlich mit ihr, die übrige Geſellſchaft ver¬
geſſend. Die Damen fiengen unterdeß ſchon an zu
flüſtern und über die neue Eroberung der Gräfin
die Naſen zu rümpfen.


Das Geſpräch der beyden wurde endlich durch
Roſa unterbrochen, die zu der Gräfin trat und ver¬
drüßlich nach Hauſe zu fahren begehrte. Friedrich,
der eine große Betrübniß in ihrem Geſichte bemerk¬
te, faßte ihre Hand. Sie wandte ſich aber ſchnell
weg und eilte in ein abgelegenes Fenſter. Er gieng
ihr nach. Sie ſah mit abgewendetem Geſicht in den
ſtillen Garten hinaus, er hörte, daß ſie ſchluchzte.
Eiferſucht vielleicht und daß ſchmerzlichſte Gefühl
ihres Unvermögens, in allen dieſen Dingen mit
15[226] der Gräfin zu wetteifern, arbeitete in ihrer Seele.
Friedrich drückte das ſchöne troſtloſe Mädchen an
ſich. Da fiel ſie ihm ſchnell und heftig um den
Hals und ſagte aus Grund der Seele: mein lieber
Mann! Es war das erſtemal in ſeinem Leben, daß
ſie ihn ſo genannt hatte.


Es kamen ſo eben mehrere andere hinzu und
alles fieng an Abſchied zu nehmen und auseinander
zu geh'n; er konnte nichts mehr mit ihr ſprechen.
Noch im Weggeh'n trat der Miniſter zu ihm und
fragte ihn, wie es ihm hier gefallen habe? Er
antwortete mit einer zweydeutigen Höflichkeit. Der
Miniſter ſah ihn ernſthaft und ausforſchend an und
gieng fort. Friedrich aber eilte durch die nächtliche
Stadt ſeiner Wohnung zu. Ein rauher Wind gieng
durch die Straſſen. Er hatte ſich noch nie ſo unbe¬
haglich, leer und müde gefühlt.

Dreyzehntes Kapitel.

Es war ein ſchöner Herbſtmorgen, da ritt Frie¬
drich eine von den langen Straſſen-Alleen hinun¬
ter, die von der Reſidenz ins Land hinausführten.
Er hatte es ſchon längſt der ſchönen Gräfin Roma¬
na verſprechen müſſen, ſie auf ihrem Landguthe,
das einige Meilen von der Stadt entfernt lag, zu
beſuchen, und der blaue Himmel hatte ihn heute
[227] hinausgelockt. Sie war ſeit ſeiner Trennung von
Leontinen die einzige, zu der er von allem reden
konnte, was er dachte, wußte und wollte, die Un¬
terhaltung mit ihr war ihm faſt ſchon zum Bedürf¬
niß geworden.


Der Weg war eben ſo anmuthig als der Mor¬
gen. Er kam bald an einen, von beyden Seiten
eng von Bergen eingeſchloſſenen, Fluß, an dem
die Straſſe hinablief. Die Wälder, welche die
ſchönen Berge bedeckten, waren ſchon überall mit
gelben und rothen Blättern bunt geſchmückt, Vögel
reisten hoch über ihn weg dem Strome nach und
erfüllten die Luft mit ihren abgebrochenen Abſchieds¬
tönen, die Friedrich' n jedesmal wunderbar an ſeine
Kindheit erinnerten, wo er, der Natur noch nicht
entwachſen, einzig von ihren Blicken und Gaben
lebte.


Einige Stunden war er ſo zwiſchen den einſa¬
men Bergſchluchten hingeritten, als er am jenſeiti¬
gen Ufer eine Stimme rufen hörte, die ihn immer¬
fort zu begleiten ſchien, und vom Echo in den grü¬
nen Windungen unaufhörlich wiederholt wurde. Je
länger er nachhorchte, je mehr kam es ihm vor,
als kenne er die Stimme. Plötzlich hörte das Ru¬
fen wieder auf und Friedrich fieng nun an zu be¬
merken, daß er einen unrechten Weg eingeſchlagen
haben müſſe, denn die grünen Bergesgänge wollten
kein Ende nehmen. Er verdoppelte daher ſeine Eile
und kam bald darauf an den Ausgang des Gebir¬
15 *[228] ges an ein Dorf, das auf einmal ſehr reitzend im
Freyen vor ihm lag.


Das erſte, was ihm in die Augen fiel, war
ein Wirthshaus, vor welchem ſich ein ſchöner grü¬
ner Platz bis an den Fluß ausbreitete. Auf dem
Platze ſah er einen, mit ungewöhnlichem und räth¬
ſelhaften Geräth ſchwerbepackten Wagen ſtehen und
mehrere ſonderbare Geſtalten, die wunderlich mit
der Luft zu fechten ſchienen. Wie erſtaunte er
aber, als er näher kam, und mitten unter ihnen
Leontin und Fabern erkannte. — Leontin, der ihn
ſchon von weitem über den Hügel kommen ſah, rief
ihm ſogleich entgegen: Kommſt du auch angezogen,
neumodiſcher Don Quixote, Lamm Gottes, du ſanf¬
ter Vogel, der immer voll ſchöner Weiſen iſt, ha¬
ben ſie dir noch nicht die Flügel gebrochen? Mir
war ſchon lange zum ſterben bange nach dir! Frie¬
drich ſprang ſchnell vom Pferde und fiel ihm um
den Hals. Er hielt Leontins Hand mit ſeinen bey¬
den Händen und ſah ihm mit gränzenloſer Freude
in das lebhafte Geſicht; es war, als entzünde ſich
ſein innerſtes Leben jedesmal neu an ſeinen ſchwar¬
zen Augen.


Er bemerkte indeß, daß die Menſchen ringsum,
die ihm ſchon von weitem aufgefallen waren, auf
das abentheuerlichſte in lange ſpaniſche Mäntel ge¬
hüllt waren und ſich immerfort, ohne ſich von ihm
ſtören zu laſſen, wie Verrückte mit einander unter¬
hielten. Ha, verzweifelte Sonne! rief einer von
ihnen, der eine Art von Turban auf dem Kopfe
[229] und ein gewiſſes tyranniſches Anſeh'n hatte, willſt
du mich ewig beſcheinen? Die Fliegen ſpielen in
deinem Licht, die Käfer im — ruhen ſelig in dei¬
nem Schooße, Natur! Und ich — und ich —,
warum bin ich nicht ein Käfer geworden, uner¬
forſchlich waltendes Schickſal? — Was iſt der
Menſch? — Ein Schaum. Was iſt das Leben? —
Ein nichtswürdiger Wurm. — Umgekehrt, grade
umgekehrt, wollen Sie wohl ſagen, rief eine ande¬
re Stimme. — Was iſt die Welt? fuhr jener fort,
ohne ſich ſtören zu laſſen, was iſt die Welt? —
Hier hielt er inne und lachte grinſend und Weltver¬
achtend wie Abellino unter ſeinem Mantel hervor,
wendete ſich darauf ſchnell um und faßte unvermu¬
thet Herrn Faber, der eben neben ihm ſtand, bey
der Bruſt. Ich verbitte mir das, ſagte Faber är¬
gerlich, wie oft ſoll ich noch erklären, daß ich
durchaus nicht mit in den Plan gehöre! — Laß
dich's nicht wundern, ſagte endlich Leontin zu Frie¬
drich, der aus dem allen nicht geſcheid werden
konnte, das iſt eine Bande Schauſpieler, mit de¬
nen ich auf der Straſſe zuſammengetroffen, und ſeit
geſtern reiſe. Wir probieren ſo eben eine Komödie
aus dem Stegreif, zu der ich die Lineamente un¬
terwegs entworfen habe. Sie heißt: „Bürgerlicher
Seelenadel und Menſchheitsgröße, oder der tugend¬
hafte Böſewicht, ein pſychologiſches Trauerſpiel in
fünf Verwirrungen der menſchlichen Leidenſchaften,“
und wird heute Abend in dem nächſten Städtchen
gegeben werden, wo der gebildete Magiſtrat zum
[230] Anfang durchaus ein ſchillerndes Stück verlangt hat.
Ich werde der Vorſtellung mit beywohnen und ha¬
be alle Folgen über mich genommen.


Ja, wahrhaftig, ſagte Faber, wenn das noch
lange ſo fortgeht, ſo ſage ich aller gebildeten Welt
Lebewohl und fange an auf dem Seile zu tanzen
oder die Zigeunerſprache zu ſtudieren. Ich bin des
Herumziehens in der That von Herzen ſatt. —
Verſtellen Sie ſich nur nicht immer ſo, fiel ihm
Leontin ins Wort, Sie können doch am Ende nicht
weg von mir. Wir zanken uns immer, und tref¬
fen doch immer wieder auf einerley Wegen zuſam¬
men. Uebrigens ſind dieſe Schauſpieler ein gar vor¬
trefflicher Künſtlerverein; ſie wollen nicht geprieſen,
ſondern geſpeißt ſeyn, und geh'n daher in der Ver¬
zweiflung der Natur noch keck und beherzt auf den
Leib.


Es war unterdeß an einen jungen Menſchen
von der Truppe, der auch eine Rolle in dem Stü¬
cke übernommen hatte, die Reihe gekommen, eben¬
falls ſeinen Theil vorzuſtellen. Er benahm ſich aber
ſehr ungeſchickt und war durchaus nicht im Stande,
etwas zu erfinden und vorzubringen. Ein ſchönes
Mädchen, mit welcher er eben die Szene ſpielen
ſollte, wurde ungeduldig, erklärte, ſie wolle hier nicht
länger einen Narren abgeben, und ſprang lachend
fort. Der andere, ältere Schauſpieler lief ihr nach,
um ſie zurückzuholen, und ſo war die ganze Probe
geſtört.

[231]

Der junge Mann war indeß näher getreten.
Friedrich ſah ihm genauer ins Geſicht, er traute
ſeinen Augen kaum, es war einer von den Stu¬
denten, die ihm bey ſeinem Abzuge von der Univer¬
ſität das Geleit gegeben hatten. — Mein Gott!
wie kommſt du unter dieſe Leute? rief Friedrich voll
Erſtaunen, denn er hatte ihn damals als einen ſtil¬
len und fleiſſigen Menſchen gekannt, der vor den
Ausgelaſſenheiten der anderen jederzeit einen heim¬
lichen Widerwillen hegte. Der Student geſtand,
daß er den Grafen ſogleich wieder erkannte, aber
gehofft habe, von ihm überſehen zu werden. Er
ſchien ſehr verlegen.


Friedrich, der ſich an ſeinem Geſichte aller alten
Freuden und Leiden erinnerte, zog ihn erfreut und
vertraulich an den Tiſch und der Student erzählte
ihnen endlich den ganzen Hergang ſeiner Geſchichte.
Nicht lange nach Friedrichs Abreiſe hatte ſich nem¬
lich auf der Univerſität eine reiſende Geſellſchaft von
Seiltänzern eingefunden, worunter beſonders eine
Springerin durch ihre Schönheit alle Augen auf
ſich zog. Viele Studenten verſuchten und fanden
ihr Glück. Er aber mit ſeiner ſtillen und tieferen
Gemüthsart verliebte ſich im Ernſte in das Mäd¬
chen, und wie ihr Herz bisher in ihrer tollen Le¬
bensweiſe von der Gewalt der Liebe ungerührt ge¬
blieben war, wurde ſie von ſeiner zarten, unge¬
wohnten Art, ſie zu behandeln und zu gewinnen,
überraſcht und gefangen. Sie beredeten ſich, ein¬
ander zu heyrathen, ſie verließ die Bande und er
[232] arbeitete von nun an Tag und Nacht, um ſeine Stu¬
dien zu vollenden und ſich ein Einkommen zu er¬
werben. Es vergieng indeß längere Zeit, als er
geglaubt hatte, das Mädchen fieng an, von Zeit
zu Zeit launiſch zu werden, bekam häufige Anfälle
von Langerweile und — eh' er ſich's verſah, war
ſie verſchwunden. Mein mühſam erſpartes Geld,
fuhr der Student weiter fort, hatte ich indeß im¬
mer wieder auf verſchiedene Einfälle und Launen des
Mädchens zerſplittert, meine Aeltern wollten nichts
von mir wiſſen, mein innerſtes Leben hatte mich
auf einmal betrogen, die Studenten lachten entſetz¬
lich, es war der ſchmerzlichſte und unglücklichſte Au¬
genblick meines Lebens. Ich ließ alles und reiste
dem Mädchen nach. Nach langem Irren fand ich
ſie endlich bey dieſen Komödianten wieder, denn
es iſt dieſelbe, die vorhin hier weggegangen. Sie
kam ſehr freudig auf mich zugeſprungen, als ſie
mich erblickte, doch ohne ihre Flucht zu entſchuldi¬
gen oder im geringſten unnatürlich zu finden. —
Meine Mutter iſt ſeitdem aus Gram geſtorben.
Ich weiß, daß ich ein Narr bin und kann doch nicht
anders.


Die Thränen ſtanden ihm in den Augen, als
er das ſagte. Friedrich, der wohl einſah, daß der
gute Menſch ſein Herz und ſein Leben nur weg¬
werfe, rieth ihm mit Wärme, ſich ernſtlich zuſam¬
menzunehmen und das Mädchen zu verlaſſen, er
wolle für ſein Auskommen ſorgen. — Der Verlieb¬
te ſchwieg ſtill. — Laß doch die Jugend fahren!
[233] ſagte Leontin, jeder Schiffmann hat ſeine Sterne
und das Alter treibt uns zeitig genug auf den
Sand. Du brichſt dem tollen Nachtwandler doch
den Hals, wenn du ihn bey ſeinem proſaiſchen,
bürgerlichen Nahmen rufſt. Aber härter müſſen
Sie ſeyn, ſagte er zu dem Studenten, denn die
Welt iſt hart und drückt Sie ſonſt zu Schanden.


Das Mädchen kam unterdeß wieder und trel¬
lerte ein Liedchen. Ihre Geſtalt war herrlich, aber
ihr ſchönes Geſicht hatte etwas Verwildertes. Sie
antwortete auf alle Fragen ſehr unterwürfig und
keck zugleich, und ſchien nicht üble Luſt zu haben,
noch länger bey den beyden Grafen zurückzubleiben,
als der Theaterprinzipal kam und ankündigte, daß
alles zur Abreiſe fertig ſey.


Der Student drückte Friedrich'n herzlich die
Hand und eilte zu dem aufbrechenden Haufen. Der
mit allerhand Decorationen ſchwerbepackte Wagen,
von deſſen ſchwankender Höhe der Prinzipal noch
immerfort aus der Ferne ſeine unterthänigſte Bitte
an Leontin wiederholte, heut Abend mit ſeiner
höchſtnöthigen Protektion nicht auszubleiben, wa¬
ckelte indeß langſam fort, nebenher gieng die ganze
übrige Geſellſchaft bunt zerſtreut und luſtig einher,
der Student war zu Pferde, neben ihm ritt ſein
Mädchen auch auf einem Klepper und warf Leonti¬
nen noch einige Blicke zu, die ziemlich vertraulich
ausſahen, und ſo zog die bunte Karawane wie ein
Schattenſpiel in die grüne Schluft hinein. Wie
[234] glücklich, ſagte Leontin, als alles verſchwunden
war, könnte der Student ſeyn, ſo frank und frey
mit ſeiner Liebſten durch die Welt zu zieh'n! wenn
er nur Talent fürs Glück hätte, aber er hat eine
einförmige Niedergeſchlagenheit in ſich, die er nicht
niederſchlagen kann, und die ihn durchs Leben nur
ſo hinſchleppt.


Sie ſetzten ſich nun auf dem ſchönen grünen
Platz um einen Tiſch zuſammen, der Fluß flog lu¬
ſtig an ihnen vorüber, die Herbſtſonne wärmte ſehr
angenehm. Leontin erzählte, wie er den Morgen
nach ſeiner Flucht vom Schloſſe des Herrn v. A. bey
Anbruch des Tages auf den Gipfel eines hohen
Berges gekommen ſey, von dem er von der einen
Seite die fernen Thürme der Reſidenz, von der
anderen die friedlichreiche Gegend des Herrn v. A.
überſah, über welcher ſo eben die Sonne aufgieng.
Lange habe er vor dieſer gränzenloſen Ausſicht nicht
gewußt, wohin er ſich wenden ſolle, als er auf
einmal unten im Thale Fabern die Straſſe herauf¬
wandern ſah, den, wie er wohl wußte, wieder ein¬
mal die Albernheiten der Stadt auf einige Zeit in
alle Welt getrieben hatten. Wie die Stimme in
der Wüſte habe er ihn daher, da er grade eben in
einem ziemlich ähnlichen Humor geweſen, mit einer
langen Anrede über die Vergänglichkeit aller irdi¬
ſchen Dinge empfangen, ohne von ihm geſehen
werden zu können, und ſo zu ſich hinaufgelockt. —
Leontin verſank dabey in Gedanken. Wahrhaftig,
ſagte er, wenn ich mich in jenen Sonnenaufgang
[235] auf dem Berge recht hineindenke, iſt mir zu Muthe,
als könnt' es mir manchmal auch ſo geh'n, wie dem
Studenten. —


Faber war unterdeß fortgegangen, um etwas
zu eſſen und zu trinken zu beſtellen, und Friedrich
bemerkte dabey mit Verwunderung, daß die Leute,
wenn er mit ihnen ſprach oder etwas forderte, ihm
ins Geſicht lachten oder einander heimlich zuwinkten
und die neugierigen Kinder furchtſam zurückzogen,
wenn er ſich ihnen näherte. Leontin geſtand, daß
er manchmal, wenn ſie in einem Dorfe einkehrten,
vorauszueilen pflege und die Wirthsleute überrede,
daß der gute Mann, den er bey ſich habe, nicht
recht bey Verſtande ſey, ſie ſollten nur recht auf
ſeine Worte und Bewegungen Acht haben, wenn er
nachkäme. Dieß gebe dann zu vielerley Luſt und
Mißverſtändniſſe Anlaß, denn wenn ſich Faber ei¬
nige Zeit mit den Geſichtern abgebe, die ihn alle ſo
heimlich, furchtſam und bedauernd anſähen, hielten
ſie ſich am Ende wechſelſeitig alle für verrückt. —
Leontin brach ſchnell ab, denn Faber kam eben zu
ihnen zurück und ſchimpfte über die Dummheit des
Landvolks.


Friedrich mußte nun von ſeinem Abſchiede auf
dem Schloſſe des Herrn v. A. und ſeinen Aben¬
theuern in der Reſidenz erzählen. Er kam bald
auch auf die äſthetiſche Theegeſellſchaft und verſicher¬
te, er habe ſich dabey recht ohne alle Männlichkeit
gefühlt, etwa wie bey einem Spaziergange durch
die Lüneburger Ebne mit Ausſicht auf Heydekraut.
[236] Leontin lachte helllaut, Du nimmſt ſolche Sachen
viel zu ernſthaft und wichtiger als ſie ſind, ſagte
er. Alle Figuren dieſes Schauſpiels ſind übrigens
auch von meiner Bekanntſchaft, ich möchte aber nur
wiſſen, was ſie ſeit der Zeit, daß ich ſie nicht ge¬
ſehen, angefangen haben, denn wie ich ſo eben hö¬
re, hat ſich ſeitdem, auch nicht das mindeſte in ihnen
verändert. Dieſe Leute ſchreiten fleiſſig von einem
Meßkatalog zum andern mit der Zeit fort, aber
man ſpürt nicht, daß die Zeit auch nur um einen
Zoll durch ſie weiter fortrückte. Ich kann dir jedoch
im Gegentheil verſichern, daß ich nicht bald ſo luſtig
war, als an jenem Abend, da ich zum erſtenmale
in dieſe Theetaufe oder Traufe gerieth. Aller Au¬
gen waren prüfend und in erwartungsvoller Stille
auf mich neuen Jünger gerichtet. Da ich die ganze
heilige Synode gleich den Freymaurern mit Schurz
und Kelle, ſo feyerlich mit poetiſchem Ornate ange¬
than daſitzen ſah, konnt' ich mich nicht enthalten,
deſpektirlich von der Poeſie zu ſprechen und mit un¬
ermüdlichem Eifer ein Geſpräch von der Landwirth¬
ſchaft, von den Runkelrüben u. ſ. w. anzuſpinnen,
ſo daß die Damen wie über den Dampf von Kuh¬
miſt die Naſen rümpften und mich bald für verloh¬
ren hielten. Mit dem Schmachtenden unterhielt ich
mich beſonders viel. Er iſt ein guter Kerl, aber er
hat keine Mannsmuſkel im Leibe. Ich weiß nicht,
was er grade damals für eine fixe Idee von der
Dichtkunſt im Kopfe hatte, aber er las ein Gedicht
vor, wovon ich trotz der größten Anſtrengung nichts
[237] verſtand und wobey mir unaufhörlich des ſimplicia¬
niſch-teutſchen Michels verſtümmeltes Sprach-Ge¬
präng im Sinne lag. Denn es waren deutſche
Worte, ſpaniſche Konſtrukzionen, wälſche Bilder,
altdeutſche Redensarten, doch alles mit überaus
feinem Firniß von Sanftmuth verſchmiert. Ich gab
ihm ernſthaft den Rath, alle Morgen gepfefferten
Schnapps zu nehmen, denn der ewige Necktar er¬
ſchlaffe nur den Magen, worüber er ſich entrüſtet
von mir wandte. — Mit dem vom Hochmuthsteufel
beſeſſenen Dythirambiſten aber beſtand ich den ſchön¬
ſten Strauß. Er hatte mit pfiffiger Miene alle
Seegel ſeines Witzes aufgeſpannt und kam mit vol¬
lem Winde der Eitelkeit auf mich losgefahren, um
mich Unpoetiſchen vor den Augen der Damen in den
Grund zu bugſiren. Um mich zu retten, fieng ich
zum Beweiſe meiner poetiſchen Beleſenheit an, aus
Shackſpears: „Was ihr wollt,“ wo Junker To¬
bias den Malvolio peinigt, zu rezitiren: „Und be¬
ſäſſe ihn eine Legion ſelbſt, ſo will ich ihn doch an¬
reden.“ Er ſtutzte und fragte mich mit herablaſ¬
ſender Genügſamkeit und kniffigem Geſichte, ob viel¬
leicht gar Shakſpear mein Lieblingsautor ſey? —
Ich ließ mich aber nicht ſtören, ſondern fuhr mit
Junker Tobias fort: „Ey, Freund, leiſtet dem Teu¬
fel Widerſtand, er iſt der Erbfeind der Menſchen¬
kinder.“ Er fieng nun an ſehr ſalbungsvolle, ge¬
nialiſche Worte über Shakeſpeare ergehen zu laſſen,
ich aber, da ich ihn ſich ſo aufblaſen ſah, ſagte wei¬
ter: „Sanftmüthig, ſanftmüthig! Ey, was machſt
[238] du, mein Täubchen? Wie geht's, mein Puthühn¬
chen? Ey, ſieh doch, komm, tucktuck! — Er ſchien
nun mit Malvolio zu bemerken, daß er nicht in
meine Sphäre gehöre, und kehrte ſich mit einem
unſäglichſtolzen Blick, wie von einem unerhört
Tollen, von mir. O Jemine! fiel die Gräfin Ro¬
mana hier mit ein. Sie ſagte dieß ſo richtig und
ſchön, daß ich ſie dafür hätte küſſen mögen Das
Schlimmſte war aber nun, daß ich dadurch demaſkirt
war, ich konnte nicht länger für einen Ignoranten
gelten; und die Frauenzimmer merkten dieß nicht ſo
bald, als ſie mit allerhand Phraſen, die ſie hin
und wieder ernaſcht, über mich herfielen. In der
Angſt fieng ich daher nun an, wüthend mit gelehr¬
ten Redensarten und poetiſchen Paradoxen nach al¬
len Seiten um mich herumzuwerfen, bis ſie mich,
ich ſie, und ich mich ſelber nicht mehr verſtand und
alles verwirrt wurde. Seit dieſer Zeit haßt mich
der ganze Zirkel und hat mich als eine Peſt der Poe¬
ſie förmlich exkommunizirt.


Friedrich, der Leontin ruhig und mit Vergnü¬
gen angehört hatte, ſagte: So habe ich dich am
liebſten, ſo biſt du in deinem eigentlichen Leben.
Du ſiehſt ſo friſch in die Welt hinein, daß alles un¬
ter deinen Augen bunt und lebendig wird. Ja
wohl, antwortete Leontin, ſo buntſchäckig, daß ich
manchmal ſelber zum Narren darüber werden
könnte.


Die Sonne fieng indeß ſchon an, ſich zu ſenken,
und ſowohl Friedrich als Leontin gedachten ihrer
[239] Weiterreiſe und verſprachen einander nächſtens in
der Reſidenz wieder zu treffen. Herr Faber bat
Friedrich'n, ihn der Gräfin Romana beſtens zu
empfehlen. Die Gräfin, ſagte er, hat ſchöne Ta¬
lente und ſich durch mehrere Arbeiten, die ich ken¬
ne, als Dichterin erwieſen. Nur macht ſie ſich
freylich alles etwas gar zu leicht. Leontin, den im¬
mer ſogleich ein ſeltſamer Humor befiel, wenn er die
Gräfin nennen hörte, ſang luſtig:


Luſtig auf den Kopf, mein Liebchen,

Stell' dich, in die Luft die Bein'!

Heißa! ich will ſeyn dein Bübchen,

Heute Nacht ſoll Hochzeit ſeyn!
Wenn du Shakeſpear kannſt vertragen,

O du liebe Unſchuld du!

Wirſt du mich wohl auch ertragen

Und noch Jedermann dazu. —

Er ſprach noch allerhand wild und unzüchtig
von der Gräfin und trug Friedrich'n noch einen zü¬
gelloſen Gruß an Sie auf, als ſie endlich von ent¬
gegengeſetzten Seiten auseinanderritten. Friedrich
wußte nicht, was er aus dieſen wilden Reden ma¬
chen ſollte. Sie ärgerten ihn, denn er hielt die
Gräfin hoch, und er konnte ſich dabey der Beſorg¬
niß nicht enthalten, daß Leontins lebhafter Geiſt in
ſolcher Art von Renommiſterey am Ende ſich ſelber
aufreiben werde.


In ſolchen Gedanken war er einige Zeit fort¬
geritten, als er bey einer Beugung um eine Feldecke
plötzlich das Schloß der Gräfin vor ſich ſah. Es
[240] ſtand wie eine Zauberey hoch über einem weiten,
unbeſchreiblichen Chaos von Gärten, Weinbergen,
Bäumen und Flüſſen, der Schloßberg ſelber war
Ein großer Garten, wo unzählige Waſſerkünſte aus
dem Grün hervorſprangen. Die Sonne gieng eben
hinter dem Berge unter und bedeckte das prächtige
Bild mit Glanz und Schimmer, ſo daß man nichts
deutlich unterſcheiden konnte.


Ueberraſcht und geblendet gab Friedrich ſeinem
Pferde die Sporen und ritt die Höhe hinan. Er
erſtaunte über die ſeltſame Bauart des Schloſſes,
das durch eine faſt barocke Pracht auffiel. Es war
niemand zu ſehen. Er trat in die weite, mit bun¬
tem Marmor getäfelte Vorhalle, durch deren Säu¬
lenreihen man von der anderen Seite in den Gar¬
ten hinausſah. Dort ſtanden die ſeltſamſten aus¬
ländiſchen Bäume und Pflanzen, wie halbausgeſpro¬
chene, verzauberte Gedanken, ſchimmernde Waſſer¬
ſtrahlen durchkreuzten ſich in kryſtallenen Bogen hoch
über ihnen, ausländiſche Vögel ſaßen ſinnend und
traumhaft zwiſchen den dunkelgrünen Schatten um¬
her.


Ein wunderſchöner Knabe ſprang indeß ſo eben
drauſſen im Hofe vom Pferde, ſtutzte, als er im
Vorbeylaufen Friedrich'n erblickte, ſah ihn einen
Augenblick mit den großen, ſchönen Augen trotzig
an, eilte ſogleich wieder durch die Vorhalle weiter
in den Garten hinaus. Friedrich ſah, wie er dort
mit bewunderungswürdiger Fertigkeit eine hohe, am
Abhange[241] Abhange des Gartens ſtehende Tanne beſtieg, und
aus dem höchſten Gipfel ſich in die Gegend hinaus¬
legte, als ſuche er fern etwas mit den Augen.


Da immer noch niemand kam, ſtellte ſich Frie¬
drich an ein hohes Bogenfenſter, aus dem man die
prächtigſte Ausſicht auf das Thal und die Gebirge
hatte. Noch niemals hatte er eine ſo üppige Na¬
tur geſehen. Mehrere Ströme blickten wie Silber
hin und her aus dem Grunde, freundliche Land¬
ſtraſſen, von hohen Nußbäumen reich beſchattet,
zogen ſich bis in die weiteſte Ferne nach allen Rich¬
tungen hin, der Abend lag warm und ſchallend über
der Gegend, weit über die Gärten und Hügel hin
hörte man ringsum das Jauchzen der Winzer.
Friedrich'n wurde bey dieſer Ausſicht unſäglich ban¬
ge in dem einſamen Schloſſe, es war ihm, als
wäre alles zu einem großen Feſte hinausgezogen,
und er konnte kaum mehr widerſtehen, ſelber wie¬
der hinunter zu reiten, als er auf einmal die Grä¬
fin erblickte, die in einem langen grünen Jagdkleide
in dem erquickenden Hauche des Abends auf der
glänzenden Landſtraſſe aus dem Thale heraufgerit¬
ten kam. Sie war allein, er erkannte ſie ſogleich
an ihrer hohen, ſchönen Geſtalt.


Als ſie vor dem Schloſſe vom Pferde ſtieg,
kam der ſchöne Knabe, der vorhin auf der Tanne
gelauert hatte, ſchnell herbeygeſprungen, fiel ihr
ſtürmiſch um den Hals und küßte ſie. Kleiner Un¬
geſtümm! ſagte ſie halb böſe und wiſchte ſich den
16[242] Mund. Sie ſchien einen Augenblick verlegen, als
ſie ſo unvermuthet Friedrich'n erblickte, und bemerk¬
te, daß er dieſen ſonderbaren Empfang geſehen
hatte. Sie ſchüttelte aber die flüchtige Scham bald
wieder von ſich und bewillkommte Friedrich'n mit ei¬
ner Heftigkeit, die ihm auffiel. Ich bedauere nur,
ſagte ſie, daß ich Sie nicht ſo bewirthen kann, wie
ich wünſchte, alle meine Leute ſchwärmen ſchon den
ganzen Tag bey der Weinleſe, ich ſelbſt bin ſeit
frühem Morgen in der Gegend herumgeritten.


Sie nahm ihn bey der Hand und führte ihn in
das Innere des Schloſſes. Friedrich verwunderte
ſich, denn faſt in allen Zimmern ſtanden Thüren
und Fenſter offen. Die hochgewölbten Zimmer ſelbſt
waren ein ſeltſames Gemiſch von alter und neuer
Zeit, einige ſtanden leer und wüſte, wie ausge¬
plündert, in anderen ſah er alte Gemählde an der
Wand herumhängen, die wie aus ſchändlichem
Muthwillen mit Säbelhieben zerhauen ſchienen.
Sie kamen in der Gräfin Schlafgemach. Das gro¬
ße Himmelbett war noch unzugerichtet, wie ſie es
frühmorgens verlaſſen, Strümpfe, Halstücher und
allerley Geräth lag bunt auf allen Stühlen umher.
In dem einen Winkel hieng ein Portrait, und er
glaubte, ſoviel es die Dämmerung zuließ, zu ſei¬
nem Erſtaunen die Züge des Erbprinzen zu erken¬
nen, deſſen Schönheit in der Reſidenz einen ſo tie¬
fen Eindruck auf ihn gemacht hatte.


Die Gräfin nahm den ſchönen Knaben, der
ihnen immerfort gefolgt war, bey Seite und trug
[243] ihm heimlich etwas auf. Der Knabe ſchien durch¬
aus nicht gehorchen zu wollen, er wurde immer
lauter und ungebährdiger, ſtampfte endlich zornig
mit dem Fuße, rannte hinaus und warf die Thüre
hinter ſich zu, daß es durch das weite Haus er¬
ſchallte. Er iſt doch in einer Stunde wieder da,
ſagte Romana ihm nachſehend, nahm die Guitarre,
die in einer Ecke auf der Erde lag, während ſie
Friedrich'n ein Körbchen mit Obſt und Wein über¬
gab, und führte ihn wieder weiter eine Stiege auf¬
wärts.


Wie einem Nachtwandler, der plötzlich auf un¬
gewohntem Ort aus ſchweren, unglaublichen Träu¬
men erwacht, war Friedrich'n zu Muthe, als er mit
ihr die letzten Stufen erreichte, und ſich auf einmal
unter der weiten, freyen, geſtirnten Wölbung des
Himmels erblickte. Es war nemlich eine große Ter¬
raſſe, die nach italiäniſcher Art über das Dach des
Schloſſes gieng. Ringsum an der Gallerie ſtanden
Orangenbäume und hohe ausländiſche Blumen,
welche den himmliſchen Platz mit Düften erfüllten.


Hier auf dem Dache, ſagte Romana, iſt mein
liebſter Aufenthalt. In den warmen Sommernäch¬
ten ſchlafe ich oft hier oben. Sie ſetzte ſich zu ihm,
reichte ihm die Früchte und trank ihm von dem mit¬
genommenen Weine ſelber zu. Sie wohnen hier ſo
ſchwindlich hoch, ſagte Friedrich, daß Sie die ganze
Welt mit Füßen treten. — Romana, die ſogleich
begriff, was er meynte, antwortete ſtolz und keck:
16 *[244] die Welt, der große Tölpel, der niemals geſcheider
wird, wäre freylich der Mühe werth, daß man ihm
höflich und voll Ehrfurcht das Geſicht ſtreichelte,
damit er einen wohlwollend und voll Applaus an¬
lächle. Es iſt ja doch nichts, als Magen und
Kopf, und noch dazu ein recht breiter, übermüthi¬
ger, ſelbſtgefälliger, eitler, unerträglicher, den es
eine rechte Götterluſt iſt aufs Maul zu ſchlagen. —
Sie brach hierbey ſchnell ab und lenkte das Ge¬
ſpräch auf andere Gegenſtände.


Friedrich mußte dabey mehr als einmal die faſt
unweidliche Kühnheit ihrer Gedanken bewundern,
ihr Geiſt ſchien heut von allen Banden los. Sie
ergriff endlich die Guitarre und ſang einige Lieder,
die ſie ſelbſt gedichtet und komponirt hatte. Die
Muſik war durchaus wunderbar, unbegreiflich und
oft beynahe wild, aber es war eine unwiderſtehli¬
che Gewalt in ihrem Zuſammenklange. Der weite,
ſtille Kreis von Strömen, Seen, Wäldern und Ber¬
gen, die in großen, halbkenntlichen Maßen über¬
einander ruhten, rauſchten dabey feenhaft zwiſchen
die hinausſchiffenden Töne hinein. Die Zauberey
dieſes Abende ergriff auch Friedrichs Herz, und in
dieſem ſinnenverwirrenden Rauſche fand er das
ſchöne Weib an ſeiner Seite zum erſtenmale ver¬
führeriſch. Wahrhaftig, ſagte ſie endlich aus tief¬
ſter Seele, wenn ich mich einmal recht verliebte, es
würde mich gewiß das Leben koſten! — Es reiste
einmal, fuhr ſie fort, ein Student hier in der Nacht
beym Schloſſe vorbey, als ich eben auf dem Dache
eingeſchlummert war, der ſang:


[245]
Wenn die Sonne lieblich ſchiene

Wie in Wälſchland lau und blau,

Gieng' ich mit der Mandoline

Durch die überglänzte Au.
In der Nacht dann Liebchen lauſchte

An dem Fenſter ſüßverwacht,

Wünſchte mir und ihr — uns beyden.

Heimlich eine ſchöne Nacht.
Wenn die Sonne lieblich ſchiene

Wie in Wälſchland lau und blau,

Gieng' ich mit der Mandoline

Durch die überglänzte Au.

Aber die Sonne ſcheint nicht wie in Wälſchland
und der Student zog weiter und es iſt eben alles
nichts. — Geh'n wir ſchlafen, geh'n wir ſchlafen,
ſetzte ſie langweiliggähnend hinzu, nahm Friedrich'n
bey der Hand und führte ihn wieder die Stiege
hinab.


Er bemerkte, als ſie wieder in den Zimmern
angekommen waren, eine ungewöhnliche Unruhe an
ihr, ſie hieng bewegt an ſeinem Arme. Sie ſchien
ihm bey dem Mondenſchimmer, der durch das offe¬
ne Fenſter auf ihr Geſicht fiel, todtenblaß, eine
Art von ſeltſamer Furcht befiel ihn da auf einmal
vor Ihr und dem ganzen Feenſchloſſe, er gab ihr
ſchnell eine gute Nacht und eilte in das ihm ange¬
wieſene Zimmer, wo er ſich angekleidet auf das
Bett hinwarf.


Das Gemach war nur um einige Zimmer von
dem Schlafgemach der Gräfin entfernt. Die Thü¬
[246] ren dazwiſchen fehlten ganz und gar. Eine Lampe,
die der Gräfin Zimmer matt erhellte, warf durch
die offenen Thüren ihren Schein grade auf einen
großen, altmodiſchen Spiegel, der vor Friedrichs
Bett an der Wand hieng, ſo daß er in demſelben
faſt ihr ganzes Schlafzimmer überſehen konnte. Er
ſah, wie der ſchöne Knabe, der ſich unterdeß wie¬
der eingeſchlichen haben mußte, quer über einigen
Stühlen vor ihrem Bette eingeſchlafen lag. Die
Gräfin entkleidete ſich nach und nach und ſtieg ſo
über den Knaben weg ins Bett. Alles im Schloſſe
wurde nun todtenſtill und er wendete das Geſicht
auf die andere Seite dem offenen Fenſter zu. Die
Bäume rauſchten vor demſelben, aus dem Thale
kam von Zeit zu Zeit ein fröhliches Jauchzen, bald
näher, bald wieder in weiter Ferne, dazwiſchen
hörte er ausländiſche Vögel drauſſen im Garten in
wunderlichen Tönen immerfort wie im Traume ſpre¬
chen, das ſeltſame bleiche Geſicht der Gräfin, wie
ſie ihm zuletzt vorgekommen, ſtellte ſich ihm dabey
unaufhörlich vor die Augen, und ſo ſchlummerte er
erſt ſpät unter verworrenen Phantaſieen ein.


Mitten in der Nacht wachte er plötzlich auf,
es war ihm, als hätte er Geſang gehört. Der
Mond ſchien hell drauſſen über der Gegend und
durch das Fenſter herein. Mit Erſtaunen hörte er
neben ſich athmen. Er ſah umher und erblickte Ro¬
mana, unangekleidet wie ſie war, an dem Fuße
ſeines Bettes eingeſchlafen. Sie ruhte auf dem
Boden, mit dem einen Arme und dem halben Leibe
[247] auf das Bett gelehnt. Die langen ſchwarzen Haa¬
re hiengen aufgelöſt über den weißen Nacken und
Buſen herab. Er betrachtete die wunderſchöne Ge¬
ſtalt lange voll Verwunderung halbaufgerichtet.
Da hörte er auf einmal die Töne wieder, die er
ſchon im Schlummer vernommen hatte. Er horchte
hinaus; das Singen kam jenſeits von den Bergen
über die ſtille Gegend herüber, er konnte folgende
Worte verſtehen:


Vergangen iſt der lichte Tag,

Von ferne kommt der Glocken Schlag

So reist die Zeit die ganze Nacht,

Nimmt manchen mit, der's nicht gedacht.
Wo iſt nun hin die bunte Luſt,

Des Freundes Troſt und treue Bruſt,

Des Weibes ſüßer Augenſchein?

Will keiner mit mir munter ſeyn?
Da's nun ſo ſtille auf der Welt,

Zieh'n Wolken einſam übers Feld,

Und Feld und Baum beſprechen ſich, —

O Menſchenkind! was ſchauert dich?
Wie weit die falſche Welt auch ſey,

Bleibt mir doch Einer nur getreu,

Der mit mir weint, der mit mir wacht,

Wenn ich nur recht an Ihn gedacht.
Friſchauf denn, liebe Nachtigall,

Du Waſſerfall mit hellem Schall!

Gott loben wollen wir vereint,

Bis daß der lichte Morgen ſcheint!
[248]

Friedrich erkannte die Weiſe, es war Leontins
Stimme. — Ich komme, herrlicher Geſell! rief er
bewegt in ſich und raffte ſich ſchnell auf, ohne die
Gräfin zu wecken. Nicht ohne Schauer gieng er
durch die todtenſtillen, weitöden Gemächer, zäum¬
te ſich im Hofe ſelber ſein Pferd und ſprengte den
Schloßberg hinab.


Er athmete tief auf, als er drauſſen in die
herrliche Nacht hineinritt, ſeine Seele war wie von
tauſend Ketten frey. Es war ihm, als ob er aus
fieberhaften Träumen oder aus einem langen, wü¬
ſten, lüderlichen Luſtleben zurückkehre. Das hohe
Bild der Gräfin, das er mit hergebracht, war in
ſeiner Seele durch dieſe ſonderbare Nacht phanta¬
ſtiſch verzerrt und zerriſſen, und er verſtand nun
Leontins wilde Reden an dem Wirthshauſe.


Leontins Geſang war indeß verſchollen, er hat¬
te nichts mehr gehört und ſchlug voller Gedanken
den Weg nach der Reſidenz ein. Das Feenſchloß
hinter ihm war lange verſunken, die Bäume an
der Straſſe fiengen ſchon an lange Schatten über das
glänzende Feld zu werfen, Vögel wirbelten ſchon
hin und her hoch in der Luft, die Reſidenz lag mit
ihren Feuerſäulen wie ein brennender Wald im
Morgenglanze vor ihm.


[249]

Vierzehntes Kapitel.

Drauſſen über das Land jagten zerriſſene Wol¬
ken, die Meluſina ſang an ſeufzenden Wäldern,
Gärten und Zäunen ihr unergründlich einförmiges
Lied, die Dörfer lagen ſelig verſchneyt. In der
Reſidenz zog der Winter prächtig ein mit Schellenge¬
klingel, friſchen Mädchengeſichtern, die vom Lande
flüchteten, mit Bällen, Opern und Conzerten, wie
eine luſtige Hochzeit. Friedrich ſtand gegen Abend
einſam an ſeinem Fenſter, Leontin und Faber ließen
noch immer nichts von ſich hören, Roſa hatte ihn
letzthin ausgelacht, als er voller Freuden zu ihr
lief, um ihr eine politiſche Neuigkeit zu erzählen,
die ihn ganz ergriffen hatte, an der Gräfin Roma¬
na hatte er ſeit jener Nacht keine Luſt weiter, er
hatte beyde ſeitdem nicht wiedergeſehen; vor den
Fenſtern fiel der Schnee langſam und bedächtig in
großen Flocken, als wollte der graue Himmel die
Welt verſchütten. Da ſah er unten zwey Reiter in
langen Mänteln langſam die Straſſe zieh'n. Der
eine ſah ſich um, Friedrich rief: Viktoria! es war
Leontin und Faber, die ſo eben einzogen.


Friedrich ſprang, ohne ſich zu beſinnen, zur
Thüre hinaus und die Stiege hinunter. Als er aber
auf die Straſſe kam, waren ſie ſchon verſchwunden.
[250] Er ſchlenderte einige Gaſſen in dem Schneegeſtöber
auf und ab. Da ſtieß der Marquis, den wir ſchon
aus Roſa's Briefe kennen, die hervorragenden Stei¬
ne mit den Zehen zierlich ſuchend, auf ihn. Er
hieng ſich ihm ſogleich, wie ein guter Bruder, in
den Arm, und erzählte ihm in Einem Redeſtrome
tauſend Späße zum Todtlachen, wie er meynte, die
ſich heut und geſtern in der Stadt zugetragen, wel¬
che Damen heut vom Lande angekommen, wer ver¬
liebt ſey und nicht wieder geliebt werde u. ſ. w.
Friedrich'n war die flache Luſtigkeit des Wichtes heut
entſetzlich, und er ließ ſich daher, da ihm dieſer nur
die Wahl ließ, ihn entweder zu ſich nach Hauſe,
oder in die Geſellſchaft zum Miniſter zu begleiten,
gern zu dem letzteren mit fortſchleppen. Denn beſ¬
ſer mit einem Haufen Narren, dachte er übellauniſch,
als mit einem allein.


Er fand einen zahlreichen und glänzenden Zir¬
kel. Die vielen Lichter, die prächtigen Kleider, der
glatte Fußboden, die zierlichen Reden, die hin und
wieder flogen, alles glänzte. Er wäre faſt wieder
umgekehrt, ſo ganz ohne Schein kam er ſich da auf
einmal vor. Vor allen erblickte er ſeine Roſa. Sie
hatte ein Roſa-ſammtenes Kleid, ihre ſchwarzen
Locken ringelten ſich in den weißen Buſen hinab.
Der Erbprinz unterhielt ſich lebhaft mit ihr. Sie
ſah inzwiſchen mehreremal mit einer Art von trium¬
phirenden Blicken ſeitwärts auf Friedrich; ſie wußte
wohl, wie ſchön ſie war. Friedrich unterhielt ſich
Gedankenvoll zerſtreut rechts und links. Jene Frau
[251] vom Haus, bey der er die Theegeſellſchaft verlebt,
war auch da und ſchien wieder an ihren äſthetiſchen
Krämpfen zu leiden. Sie unterhielt ſich ſehr leben¬
dig mit mehreren hübſchen jungen Männern über die
Kunſt, und Friedrich verſtand nur, wie ſie zuletzt
ausrief: O, ich möchte Millionen glücklich machen!
— Da hörte man plötzlich ein lautes Lachen aus ei¬
nem anderen abgelegenen Winkel des Zimmers er¬
ſchallen. Friedrich erkannte mit Erſtaunen ſogleich
Leontins Stimme. Die Männer biſſen ſich heimlich
in die Lippen über dieſes Lachen zu rechter Zeit,
obſchon keiner vermuthete, daß es wirklich jenem
Ausruf gelten ſollte, da der Lacher fern in eine
ganz andere Unterhaltung vertieft ſchien. Friedrich
aber wußte gar wohl, wie es Leontin meynte. Er
eilte ſogleich auf ihn los und fand ihn zwiſchen zwey
alten Herren mit Perücken und altfränkiſchen Ge¬
ſichtern, mit denen ſich niemand abgeben mochte,
mit denen er ſich aber kindlich beſprach und gut zu
vertragen ſchien. Er erzählte ihnen von ſeiner Ge¬
birgsreiſe die wunderbarſten Geſchichten vor, und
lachte herzlich mit den beyden guten Alten, wenn
ſie ihn dabey über offenbaren, gar zu tollen Lügen
ertappten. Er freute ſich ſehr, Friedrich'n noch heut
zu ſeh'n, und ſagte, wie es ihm eine gar wunder¬
lichſchauerliche Luſt ſey, ſo aus der Grabesſtille der
verſchneyten Felder mitten in die glänzendſten Stadt¬
zirkel hineinzureiten und umgekehrt.


Sie ſprachen noch manches zuſammen, als der
Prinz hinzutrat und Friedrich'n in ein Fenſter führ¬
[252] te. Der Miniſter, ſagte er zu ihm als ſie allein
waren, hat Sie mir ſehr warm, ja ich kann wohl
ſagen, mit Leidenſchaft empfohlen. Es iſt etwas
auſſerordentliches, denn er empfiehlt ſonſt keinen
Menſchen auf dieſe Art. Friedrich äuſſerte darüber
ſeine große Verwunderung, da er von dem Miniſter
grade das Gegentheil erwartete. Der Miniſter,
fuhr der Prinz fort, läßt ſein Urtheil nicht fangen
und ich vertraue Ihnen daher. Unſere Zeit iſt ſo
gewaltig, daß die Tugend nichts gilt ohne Stärke.
Die wenigen Muthigen aus aller Welt ſollten ſich
daher treu zuſammenhalten, als ein rechter Damm
gegen das Böſe. Es wäre nicht ſchön, lieber Graf,
wenn Sie ſich von der gemeinen Noth abſonderten.
Gott behüte mich vor ſolcher Schande! erwiederte
Friedrich halb betroffen, mein Leben gehört Gott
und meinem rechtmäßigen Herrn. Es iſt groß, ſich
ſelber, von aller Welt losgeſagt, fromm und fleiſ¬
ſig auszubilden, ſagte darauf der Prinz begeiſtert,
aber es iſt größer, alle Freuden, alle eignen Wün¬
ſche und Beſtrebungen wegzuwerfen für das Recht,
alles — hier ſtrich ſo eben die Gräfin Romana an
ihnen vorüber. Der Prinz ergriff ihre Hand und
ſagte: So lange von uns wegzubleiben! — Sie
zog langſam ihre Hand aus der ſeinigen und ſah
nur Friedrich'n groß an, als ſähe ſie ihn wieder
zum erſtenmale. Der Prinz lachte unerklärlich,
drückte Friedrich'n flüchtig die Hand und wandte ſich
wieder in den Saal zurück.

[253]

Friedrich folgte der Gräfin mit ihren heraus¬
fordernden Augen. Sie war ſchwarz angezogen
und faſt furchtbarſchön anzuſehen. Von der Nacht
auf dem Schloſſe erwähnte ſie kein Wort.


Leontin kam auf ſie zu und erzählte ihr, wie
er erſt geſtern bey ihrem Schloſſe vorbeygezogen.
Es war ſchon Nacht, ſagte er, ich war ſo frey,
mit Fabern und einer Flaſche ächten Rheinweins,
die wir bey uns hatten‚ das oberſte Dach des
Schloſſes zu beſteigen. Der Garten, die Gegend
und die Gallerie oben war tief verſchneyt, eine
Thüre im Hauſe mußte offen ſteh'n, denn der Wind
warf ſie immerfort einförmig auf und zu, über der
verſtarrten Verwüſtung hielt die Windsbraut einen
luſtigen Hexentanz, daß uns der Schnee ins Geſicht
wirbelte, es war eine wahre Brockennacht. Ich
trank dabey dem Dauernden im Wechſel ein Glas
nach dem andern zu und rezitirte mehrere Stellen
aus Göthe's Fauſt, die mir mit den Schneewirbeln
alle auf einmal eiskalt auf Kopf und Herz zuflogen.
Verfluchte Verſe! rief Faber, ſchweig, oder ich wer¬
fe dich wahrhaftig über die Gallerie hinunter! Ich
habe ihn niemals ſo entrüſtet geſeh'n. Ich warf
die Flaſche ins Thal hinaus, denn mich fror, daß
mir die Zähne klapperten. — Romana antwortete
nichts, ſondern ſetzte ſich an den Flügel und ſang ein
wildes Lied, das nur aus dem tiefſten Jammer einer
zerriſſenen Seele kommen konnte. Iſt das nicht
ſchön? fragte ſie einigemal dazwiſchen, ſich mit
Thränen in den Augen zu Friedrich'n herumwen¬
[254] dend, und lachte abſcheulich dabey. — Ah Pah!
rief Leontin zornig, das iſt nichts, es muß noch
beſſer kommen! Er ſetzte ſich hin und ſang ein al¬
tes Lied aus dem dreyßigjährigen Kriege, deſſen
fürchterliche Klänge wie blutige Schwerter durch
Mark und Bein giengen. Friedrich bemerkte, daß
Romana zitterte. Leontin war indeß wieder aufge¬
ſtanden und hatte ſich aus der Geſellſchaft fortge¬
ſchlichen, wie immer wenn er gerührt war.


Wir aber wenden uns ebenfalls von dieſen
Blaſen der Phantaſie, die, wie die Blaſen auf dem
Rheine, nahes Gewitter bedeuten, zu der Einſamkeit
Friedrichs, wie er nun oft Nächtelang voller Ge¬
danken unter Büchern ſaß und arbeitete. Wohl iſt
der Weltmarkt großer Städte eine rechte Schule des
Ernſtes für beſſere, beſchauliche Gemüther, als der
getreueſte Spiegel ihrer Zeit. Da haben ſie den
alten gewaltigen Strom in ihre Maſchienen und
Räder aufgefangen, daß er nur immer ſchneller und
ſchneller fließe, bis er gar abfließt, da ſpreitet denn
das arme Fabrikenleben in dem ausgetrockneten Bett
ſeine hochmüthigen Teppiche aus, deren inwendige
Kehrſeite eckle, kahle, farbloſe Fäden ſind, ver¬
ſchämt hängen dazwiſchen wenige Bilder in uralter
Schönheit verſtaubt, die niemand betrachtet, das
Gemeinſte und das Größte, heftig aneinander ge¬
worfen, wird hier zu Wort und Schlag, die
Schwäche wird dreiſt durch den Haufen, das Hohe
ficht allein. Friedrich ſah zum erſtenmale ſo recht
in den großen Spiegel, da ſchnitt ihm ein unbe¬
[255] ſchreiblicher Jammer durch die Bruſt, und die Schön¬
heit und Hohheit und das heilige Recht, daß ſie ſo
allein waren, und wie er ſich ſelber in dem Spie¬
gel ſo winzig und verloren in dem Ganzen erblickte,
ſchien es ihm herrlich, ſich ſelber vergeſſend, dem
Ganzen treulich zu helfen mit Geiſt, Mund und
Arm. Er erſtaunte, wie er noch ſo gar nichts ge¬
than, wie es ihn noch niemals lebendig erbarmet
um die Welt. So ſchien das große Schauſpiel des
Lebens, manche beſondere äuſſere Anregung, vor al¬
lem aber der furchtbare Gang der Zeit, der wohl
keines der beſſeren Gemüther unberührt ließ, auf
einmal alle die hellen Quellen in ſeinem Inneren,
die ſonſt zum Zeitvertreibe wir luſtige Springbrun¬
nen ſpielten, in Einen großen Strom vereinigt zu
haben. Ihn eckelten die falſchen Dichter an mit
ihren Taubenherzen, die, uneingedenk der Himmel¬
ſchreyenden Mahnung der Zeit, ihre Nationalkraft
in müſſigem Spiele verliederten. Die unbeſtimmte
Knaben-Sehnſucht, jener wunderbare Spielmann
vom Venusberge, verwandelte ſich in eine heilige
Liebe und Begeiſterung für den beſtimmten und fe¬
ſten Zweck. Gar vieles, was ihn ſonſt beängſtigte,
wurde zu Schanden, er wurde reifer, klar, ſelbſt¬
ſtändig und ruhig über das Urtheil der Welt. Es
genügte ihm nicht mehr, ſich an ſich allein zu er¬
götzen, er wollte lebendig eindringen. Deſto tiefer
und ſchmerzlicher mußte er ſich überzeugen, wie
ſchwer es ſey, nützlich zu ſeyn. Mit gränzenloſer
Aufopferung warf er ſich daher auf das Studium
[256] der Staaten, ein neuer Welttheil für ihn, oder
vielmehr die ganze Welt und was der ewige Geiſt
des Menſchen ſtrebte, dachte und wollte, in weni¬
gen großen Umriſſen, vor deſſen unermeßner Aus¬
ſicht ſein Innerſtes aufjauchzte.


Ihm träumte einmal, als er in der Nacht einſt
ſo über ſeinen alten Büchern eingeſchlummert, als
weckte ihn ein glänzendes Kind aus langen lieblichen
Träumen. Er konnte kaum die Augen aufthun vor
Licht, von ſo wunderbarer Hohheit und Schönheit
war des Kindes Angeſicht. Es wieß mit ſeinem klei¬
nen Roſenfinger von dem hohen Berge in die Ge¬
gend hinaus, da ſah er ringsum eine unbegränzte
Runde, Meer, Ströme und Länder, ungeheuere,
umgeworfene Städte mit zerbrochenen Rieſenſäulen,
das alte Schloß ſeiner Kinderjahre ſeltſam verfallen,
einige Schiffe zogen hinten nach dem Meere, auf
dem einen ſtand ſein verſtorbener Vater, wie er ihn
oft auf Bildern geſehen, und ſah ungewöhnlich
ernſthaft, — alles doch wie in Dämmerung aufar¬
beitend, zweifelhaft und unkenntlich, wie ein ver¬
wiſchtes großes Bild, denn ein dunkler Sturm
gieng über die ganze Ausſicht, als wäre die Welt
verbrannt, und der ungeheure Rauch davon lege ſich
nun über die Verwüſtung. Dort, wo des Vaters
Schiff hinzog, brach darauf plötzlich ein Abendroth
durch den Qualm hervor, die Sonne ſenkte ſich fern
nach dem Meere hinab. Als er ihr ſo nachſah, ſah
er daſſelbe wunderſchöne Kind, das vorhin neben ihm
geweſen,[257] geweſen, recht mitten in der Sonne zwiſchen den
ſpielenden Farbenlichtern traurig an ein großes
Kreutz gelehnt, ſtehen. Eine unbeſchreibliche Sehn¬
ſucht befiel ihn da, und Angſt zugleich, daß die
Sonne für immer in das Meer verſinken werde.
Da war ihm, als ſagte das wunderſchöne Kind,
doch ohne den Mund zu bewegen oder aus ſeiner
traurigen Stellung aufzublicken: Liebſt du mich
recht, ſo gehe mit mir unter, als Sonne wirſt du
dann wieder aufgeh'n, und die Welt iſt frey! —
Vor Luſt und Schwindel wachte er auf. Drauſſen
funkelte der heitere Wintermorgen ſchon über die
Dächer, das Licht war herabgebrannt, Erwin ſaß
bereits angekleidet ihm gegenüber und ſah ihn mit
den großen, ſchönen Augen ſtill und ernſthaft an.


Zu ſolcher Lebensweiſe kam ein ſchöner Kreis
neuer, rüſtiger Freunde, die auf Reiſen, an gleicher
Geſinnung ſich erkennend, aus verſchiedenen deut¬
ſchen Zonen ſich nach und nach hier zuſammengefun¬
den hatten. Der Erbprinz, der mit einer faſt grän¬
zenloſen Leidenſchaft an Friedrich'n hieng, wußte
den Bund durch ſeine hinreiſſende Gluth und Be¬
redſamkeit immer friſch zu ſtärken, ſo auch, obgleich
auf ganz verſchiedene Weiſe, der ältere, beſonnene
Miniſter, der nach einer herumſchweifenden und
wüſt durchlebten Jugend, ſpäter, ſeiner gröſſeren
Entwürfe und ſeiner Kraft und Berufes vor allen
andern, ſie auszuführen, ſich klar bewußt, auf
einmal mehrere brave aber ſchwächere Männer ge¬
17[258] waltſam unterdrückt, ja, ſelbſt ſeinen eigenſten
Wunſch, eine Liebe aus früherer Zeit aufgegeben
und dafür eine freudenloſe Ehe mit einem der vor¬
nehmſten Mädchen gewählt hatte, einzig um das
Steuer des Staates in ſeine feſtere und ſichere
Hand zu erhalten. — Eine gleiche Geſinnung ſchien
alle Glieder dieſes Kreiſes zu verbrüdern. Sie ar¬
beiteten fleiſſig, hoffend und glaubend, dem alten
Recht in der engen Zeit Luft zu machen, auf Tod
und Leben bereit.


Ganz anders, abgeſondert und ohne alle Be¬
rührung mit dieſem Kreiſe lebte Leontin in einem
abgelegenen Quartiere der Reſidenz mit der Aus¬
ſicht auf die beſchneyten Berge über die weiten
Vorſtädte weg, wo er, mit Fabern zuſammenwoh¬
nend, einen wunderlichen Haushalt fuhrte. Alle
die Begeiſterungen, Freuden und Schmerzen, die
ſich Friedrich'n, deſſen Bildung langſam aber ſiche¬
rer fortſchritt, erſt jezt neu aufdeckten, hatte er
längſt im Innerſten empfunden. Ihn jammerte ſei¬
ne Zeit vielleicht wie keinen, aber er haßte es, da¬
von zu ſprechen. Mit der größten Geiſteskraft hat¬
te er ſchon oft redlich alles verſucht, wo es etwas
nützen konnte, aber immer überwieſen, wie die
Menge reich an Wünſchen, aber innerlich dumpf
und gleichgültig ſey, wo es gilt, und wie ſeine
Gedanken jederzeit weiter reichten als die Kräfte der
Zeit, warf er ſich in einer Art von Verzweiflung
immer wieder auf die Poeſie zurück und dichtete oft
Nächtelang ein wunderbares Leben, meiſt Tragö¬
[259] dien, die er am Morgen wieder verbrannte. Seine
alles verſpottende Luſtigkeit war im Grunde nichts,
als dieſe Verzweiflung, wie ſie ſich an den bunten
Bildern der Erde in tauſend Farben brach und be¬
ſpiegelte.


Friedrich beſuchte ihn täglich, ſie blieben ein¬
ander wechſelſeitig noch immer durchaus unentbehr¬
liche Freunde, wenn gleich Leontin auf keine Weiſe
zu bereden war, an den Beſtrebungen jenes Krei¬
ſes Antheil zu nehmen. Er nannte unverholen das
Ganze eine leidliche Komödie, und den Miniſter
den unleidlichen Theaterprinzipal, der gewiß noch
am Ende des Stückes herausgerufen werden würde,
wenn nur darin das Wort: deutſch recht fleißig
vorkäme, denn das mache in der undeutſchen Zeit
den beſten Effekt. Beſonders aber war er ein rech¬
ter Feind des Erbprinzen. Er ſagte oft, er wünſch¬
te ihn mit einem großen Schwerte ſeiner Ahnherren
aus Barmherzigkeit recht in der Mitte entzweyhauen
zu können, damit die eine ordinäre Hälfte vor der
anderen närriſchen, begeiſterten einmal Ruhe hätte.
— Dergleichen Reden verſtand Friedrich zwar da¬
mals nicht recht, denn ſeine beſte Natur ſträubte
ſich gegen ihr Verſtändniß, aber ſie machten ihn
ſtutzig. Faber dagegen, welcher, der Dichtkunſt treu
ergeben, immer fleiſſig fortarbeitete, empfieng ihn
alle Tage gelaſſen mit derſelben Frage: ob er noch
immer weltbürgerlich ſey? — Gott ſey Dank, ant¬
wortete Friedrich ärgerlich, ich verkaufte mein Le¬
17 *[260] ben an den erſten beſten Buchhändler, wenn es eng
genug wäre, ſich in einigen hundert Verſen ausfin¬
gern zu laſſen. Sehr gut, erwiederte Faber mit
jener Ruhe, welche das Bewußtſeyn eines redli¬
chen, ernſthaften Strebens giebt, wir alle ſollen
nach allgemeiner Ausbildung und Thätigkeit, nach
dem Verein aller Dinge mit Gott ſtreben; aber wer
von ſeinem Einzelnen, wenn es überhaupt ein ſol¬
ches giebt, es ſey Staats- Dicht- oder Kriegs-
Kunſt, recht wahrhaft und innig, d. h. chriſtlich
durchdrungen ward, der iſt ja eben dadurch allge¬
mein. Denn nimm du einen einzelnen Ring aus
der Kette, ſo iſt es die Kette nicht mehr, folglich iſt
eben der Ring auch die Kette. Friedrich ſagte: Um
aber ein Ring in der Kette zu ſeyn, mußt du eben¬
falls tüchtig von Eiſen und aus Einem Guſſe mit
dem Ganzen ſeyn, und das meynte ich. Leontin
verwickelte ſie hier durch ein vielfaches Wortſpiel der¬
geſtalt in ihre Kette, daß ſie beyde nicht weiter
konnten.


Dieſe ſtrebende webende Lebensart ſchien Frie¬
drich'n einigermaſſen von Roſa zu entfernen, denn
jede große innerliche Thätigkeit macht äuſſerlich ſtill.
Es ſchien aber auch nur ſo, denn eigentlich hatte
ſeine Liebe zu Roſa, ohne daß er ſelbſt es wußte,
einen großen Antheil an ſeinem Ringen nach dem
Höchſten. So wie die Erde in tauſend Stämmen,
Strömen und Blüthen treibt und ſingt, wenn ſie
der alles belebenden Sonne zugewendet, ſo iſt auch
das menſchliche Gemüth zu allem Großen freudig in
[261] der Sonnenſeite der Liebe. Roſa nahm Friedrichs
nur ſeltenen Beſuche nicht in dieſem Sinne, denn
wenige Weiber begreifen der Männer Liebe in
ihrem Umfange, ſondern meſſen ungeſchickt das Un¬
ermeßliche nach Küſſen und eitlen Verſicherungen.
Es iſt, als wären ihre Augen zu blöde, frey in
die göttliche Flamme zu ſchauen, ſie ſpielen nur mit
ihrem ſpielenden Widerſcheine. Friedrich fand ſie
überhaupt ſeit einiger Zeit etwas verändert. Sie
war oft einſylbig, oft wieder bis zur Leichtfertig¬
keit munter, beydes ſchien Manier. Sie miſchte oft
in ihre beſten Unterhaltungen ſo Fremdartiges, als
hätte ihr innerſtes Leben ſein altes Gleichgewicht
verloren. Ueber ſeine ſeltenen Beſuche machte ſie
ihm nie den kleinſten Vorwurf. Er war weit ent¬
fernt, den wahren Grund von allem dieſen auch
nur zu ahnden. Denn die rechte Liebe iſt einfältig
und ſorglos.


Eines Tages kam er gegen Abend zu ihr. Das
Zimmer war ſchon dunkel, ſie war allein. Sie
ſchien ganz athemlos vor Verlegenheit, als er ſo
plötzlich in das Zimmer trat, und ſah ſich ängſtlich
einigemal nach der anderen Thüre um. Friedrich be¬
merkte ihre Unruhe nicht, oder mochte ſie nicht be¬
merken. Er hatte heute den ganzen Tag gearbei¬
tet, geſchrieben und geſonnen. Auf ſeiner unbeküm¬
mert unordentlichen Kleidung, auf dem verwachten,
etwas bleichen Geſichte und den ſinnigen Augen ruh¬
te noch der Nachſommer der Begeiſterung. Er bat
ſie, kein Licht zu machen, ſetzte ſich, nach ſeiner
[262] Gewohnheit, mit der Guitarre ans Fenſter und
ſang fröhlich ein altes Lied, das er Roſa'n oft im
Garten bey ihrem Schloſſe geſungen. Roſa ſaß
dicht vor ihm, voll Gedanken, es war, je länger
er ſang, als müßte ſie ihm etwas vertrauen und
könne ſich nicht dazu entſchlieſſen. Sie ſah ihn im¬
merfort an. Nein, es iſt mir nicht möglich! rief
ſie endlich und ſprang auf. Er legte die Laute weg;
ſie war ſchnell durch die andere Thüre verſchwunden.
Er ſtand noch einige Zeit nachdenkend, da aber nie¬
mand kam, gieng er verwundert fort.


Es war ihm von jeher eine eigne Freude, wenn
er ſo Abends durch die Gaſſen ſtrich, in die unte¬
ren erleuchteten Fenſter hineinzublicken, wie da al¬
les, während es drauſſen ſtob und ſtürmte, ge¬
müthlich um den warmen Ofen ſaß, oder an reinlich¬
gedeckten Tiſchen ſchmaußte, des Tages Arbeit und
Mühen vergeſſend, wie eine bunte Gallerie von
Weihnachtsbildern. Er ſchlug heute einen anderen,
ungewohnten Weg ein, durch kleine, unbeſuchte
Gäßchen, da glaubte er auf einmal in dem einen
Fenſter den Prinzen zu ſehen. Er blieb erſtaunt
ſtehen. Er war es wirklich. Er ſaß in einem ſchlech¬
ten Ueberrocke, den er noch niemals bey ihm geſe¬
hen, im Hintergrunde auf einem hölzernen Stuhle.
Vor ihm ſaß ein junges Mädchen in bürgerlicher
Kleidung auf einem Schämel, beyde Arme auf ſei¬
ne Kniee geſtützt, und ſah zu ihm herauf, während
er etwas zu erzählen ſchien und ihr die Haare von
beyden Seiten aus der heiteren Stirn ſtrich. Ein
[263] flackerndes Heerdfeuer, an welchem eine alte Frau
etwas zubereitete, warf ſeine gemüthlichen Scheine
über die Stube. Teller und Schüſſeln waren in
ihren Geländern ringsum an den Wänden blank und
in zierlicher Ordnung aufgeſtellt, ein Kätzchen ſaß
auf einem Großvaterſtuhle am Ofen und putzte ſich,
im Hintergrunde hieng ein Muttergottesbild, vom
Kamine hellbeleuchtet. Es ſchien ein ſtilles, ordent¬
liches Haus. Das Mädchen ſprang fröhlich von
ihrem Sitze auf, kam ans Fenſter und ſah einen
Augenblick durch die Scheiben. Friedrich erſtaunte
über ihre Schönheit. Sie ſchüttelte ſich darauf mun¬
ter und ungemein lieblich, als fröre ſie bey dem
flüchtigen Blick in die ſtürmiſche Nacht drauſſen,
ſtieg auf einen Stuhl und ſchloß die Fenſterladen
zu.


Den folgenden Morgen, als Friedrich mit dem
Prinzen zuſammenkam, ſagte er ihm ſogleich, was
er geſtern geſehen. Der Prinz ſchien betroffen, be¬
ſann ſich darauf einen Augenblick, und bat Frie¬
drich'n, die ganze Begebenheit zu verſchweigen.
Er beſuche, ſagte er, das Mädchen ſchon ſeit langer
Zeit und gebe ſich für einen armen Studenten aus.
Die Mutter und die Tochter, die wenig auskämen,
hielten ihn wirklich dafür. Friedrich ſagte ihm offen
und ernſthaft, wie dieß ein gefährliches Spiel ſey,
wobey das Mädchen verſpielen müſſe, er ſolle lie¬
ber alles aufgeben, ehe es zu weit käme, vor allem
großmüthig das Mädchen ſchonen, das ihm noch
unſchuldig ſchiene. Der Prinz war gerührt, drückte
[264] Friedrich'n die Hand und ſchwur, daß er das Mäd¬
chen zu ſehr liebe, um ſie unglücklich zu machen.
Er nannte ſie nur ſein hohes Mädchen.


Später, an einem von jenen wunderbaren Ta¬
gen, wo die Bäche wieder ihre klaren Augen auf¬
ſchlagen und einzelne Lerchen ſchon hoch in dem
blauen Himmel ſingen, hatte Friedrich alle ſeine
Fenſter offen, die auf einen einſamen Spaziergang
hinausgiengen, den zu dieſer Jahreszeit faſt nie¬
mand beſuchte. Es war ein Sonntag, unzählige
Glocken ſchallten durch die ſtille, heitre Luft. Da
ſah er den Prinzen, wieder verkleidet, in der
Ferne vorübergeh'n, neben ihm ſein Bürgermäd¬
chen, im ſonntäglichen Putze zierlich ausgeſchmückt.
Sie ſchien ſehr zufrieden und glücklich und drückte
ſich oft fröhlich an ſeinen Arm. Friedlich nahm die
Guitarre, ſetzte ſich auf das Fenſter und ſang:


Wann der kalte Schnee zergangen,

Stehſt du drauſſen in der Thür,

Kommt ein Knabe ſchön gegangen,

Stellt ſich freundlich da zu dir,

Lobet deine friſchen Wangen,

Dunkle Locken, Augen licht,

Wann der kalte Schnee zergangen,

Glaub' dem falſchen Herzen nicht!
Wann die lauen Winde wehen,

Scheint die Sonne lieblich warm:

Wirſt du wohl ſpazieren gehen,

Und Er führet dich am Arm,

[265]
Thränen dir im Auge ſtehen,

Denn ſo ſchön klingt, was er ſpricht,

Wann die lauen Winde wehen,

Glaub' dem falſchen Herzen nicht!
Wann die Lerchen wieder ſchwirren,

Trittſt du drauſſen vor das Haus,

Doch Er mag nicht mit dir irren,

Zog weit in das Land hinaus;

Die Gedanken ſich verwirren,

Wie du ſiehſt den Morgen roth,

Wann die Lerchen wieder ſchwirren,

Armes Kind, ach, wärſt du todt!

Das Lied rührte Friedrich'n ſelbſt mit einer un¬
beſchreiblichen Gewalt. Die Glücklichen hatten ihn
nicht bemerkt, er hörte das Mädchen noch munter
lachen, als ſie ſchon beyde wieder verſchwunden wa¬
ren.


Der Winter neckte bald darauf noch einmal
durch ſeine ſpäten Züge. Es war ein unfreundlicher
Abend, der Wind jagte den Schnee durch die Gaſ¬
ſen, da gieng Friedrich, in ſeinem Mantel feſt ein¬
gewickelt, zu Roſa. Sie hatte ihm, da ſie über¬
haupt jetzt mehr als ſonſt ſich in Geſellſchaften ein¬
ließ, feyerlich verſprochen, ihn heute zu Hauſe zu
erwarten. Er hatte eine Sammlung alter Bilder
unter dem Mantel, die er erſt unlängſt aufgekauft,
und an denen ſie ſich heute ergötzen wollten. Er
freute ſich unbeſchreiblich darauf, ihr die Bedeutung
und die alten Geſchichten dazu zu erzählen. Wie
groß war aber ſein Erſtaunen, als er alles im
Hauſe ſtill fand. Er konnte es noch nicht glauben,
[266] er ſtieg hinauf. Ihr Wohnzimmer war auch leer
und kein Menſch zur Auskunft. Der Spiegel auf
der Toilette ſtand noch aufgeſtellt, künſtliche Blu¬
men, goldene Kämme und Kleider lagen auf den
Stühlen umher; ſie mußte das Zimmer unlängſt
verlaſſen haben. Er ſetzte ſich an den Tiſch und
ſchlug einſam ſeine Bilder auf. Die treue Farben¬
pracht, die noch ſo friſch aus den alten Bildern
ſchaute, als wären ſie heut gemahlt, rührte ihn;
wie da die Genovefa arm und bloß im Walde ſtand,
das Reh vor ihr niederſtürzt und hinterdrein der
Landgraf mit Roſſen, Jägern und Hörnern, wie
da ſo bunte Blumen ſtehen, unzählige Vögel in
den Zweigen mit den glänzenden Flügeln ſchlagen,
wie die Genovefa ſo ſchön iſt und die Sonne präch¬
tig ſcheint, alles grün und golden muſizierend, und
Himmel und Erde voller Freude und Entzückung. —
Mein Gott, mein Gott, ſagte Friedrich, warum iſt
alles auf der Welt ſo anders geworden! — Er
fand ein Blatt auf dem Tiſche, worauf Roſa die
Zeichnung einer Roſe angefangen. Er ſchrieb, ohne
ſelbſt recht zu wiſſen, was er that: „Lebe wohl“
auf das Blatt. Darauf gieng er fort.


Drauſſen auf der Straſſe fiel ihm ein, daß heu¬
te Ball beym Miniſter ſey. Nun überſah er den
ganzen Zuſammenhang, und gieng ſogleich hin, um
ſich näher zu überzeugen. Dicht und unkenntlich in
ſeinen Mantel gehüllt, ſtellte er ſich in die Thüre
unter die zuſehenden Bedienten. Er mußte lachen,
wie der Marquis ſo eben in feſtlichem Staate einzog
[267] und mit einer vornehmen Geckenhaftigkeit ihn mit
den anderen Leuten auf die Seite ſchob. Er be¬
merkte wohl, wie die Bedienten heimlich lachten.
Gott ſteh' dem Adel bey, dachte er dabey, wenn
dieß noch ſeine einzige Unterſcheidung und Halt ſeyn
ſoll in der gewaltſam drängenden Zeit, wo unterge¬
hen muß, was ſich nicht ernſtlich rafft!


Die Tanzmuſik ſchallte luſtig über den Saal,
wie ein wogendes Meer, wo unzählige Sterne
glänzend auf- und untergiengen. Da ſah er Roſa
mit dem Prinzen walzen. Alle ſahen hin und
machten willig Platz, ſo ſchön war das Paar. Sie
langte im Fluge ohnweit der Thüre an und warf
ſich athemlos in ein Sopha. Ihre Wangen glüh¬
ten, ihr Buſen, deſſen Weiſſe die ſchwarz herabge¬
ringelten Locken noch blendender machten, hob ſich
heftig auf und nieder; ſie war überaus reitzend.
Er konnte ſehen, wie ſie dem Prinzen, der lange
mit Bitten in ſie zu dringen ſchien, tändelnd etwas
reichte, das er ſchnell zu ſich ſteckte. Der Prinz
ſagte ihr darauf etwas ins Ohr, worauf ſie ſo leicht¬
fertig lachte, daß es Friedrich'n durch die Seele
ſchnitt.


Höchſtſonderbar, erſt hier, in dieſem Taumel,
in dieſer Umgebung glaubte Friedrich auf einmal in
des Prinzen Reden dieſelbe Stimme wiederzuerken¬
nen, die er auf dem Maſkenballe, da er Roſa zum
erſtenmale wiedergeſehen, bey ihrem Begleiter, und
dann in dem dunklen Gäßchen, als er von der klei¬
nen Marie herauskam, bey dem einen von den
[268] zwey verhüllten Männern gehört hatte. — Er er¬
ſchrack innerlichſt über dieſe Entdeckung. Er dachte
an das arme Bürgermädchen, an Leontins Haß
gegen den Prinzen, an die verlorene Marie, an
alle die ſchönen auf immer vergangenen Zeiten und
ſtürzte ſich wieder hinunter in das luſtige Schneege¬
ſtöber.


Als er nach Hauſe kam, fand er Erwin auf
dem Sopha eingeſchlummert. Schreibzeug lag um¬
her, er ſchien geſchrieben zu haben. Er lag auf dem
Rücken, in der rechten Hand, die auf dem Herzen
ruhte, hielt er ein zuſammengelegtes Papier loſe
zwiſchen den Fingern. Friedrich hielt es für einen
Brief, da es immer Erwins liebſtes Geſchäft war,
ihn mit den neuangekommenen Briefen bey ſeiner
Nachhauſekunft ſelbſt zu überraſchen. Er zog es dem
Knaben leiſe aus der Hand und machte es, ohne
es näher zu betrachten, ſchnell auf.


Er las: „Die Wolken zieh'n immerfort, die
Nacht iſt ſo finſter. Wo führſt du mich hin, wun¬
derbarer Schiffer? Die Wolken und das Meer ha¬
ben kein Ende, die Welt iſt ſo groß und ſtill, es
iſt entſetzlich, allein zu ſeyn. —“ Weiter unten
ſtand: „Liebe Julie, denkſt du noch daran, wie wir
im Garten unter den hohen Blumen ſaſſen und
ſpielten und ſangen, die Sonne ſchien warm, Du
warſt ſo gut. Seitdem hat niemand mehr Mitleid
mit mir.“ — Wieder weiter: „Ich kann nicht
länger ſchweigen, der Neid drückt mir das Herz
ab.“ — Friedrich bemerkte erſt jezt, daß das Pa¬
[269] pier nur wie ein Brief zuſammengelegt und ohne
alle Aufſchrift war. Voll Erſtaunen legte er es
wieder neben Erwin hin und ſah den lieblichathmen¬
den Knaben nachdenklich an.


Da wachte Erwin auf, verwunderte ſich, Frie¬
drich'n und den Brief neben ſich zu ſehen, ſteckte
das Papier haſtig zu ſich und ſprang auf. Friedrich
faßte ſeine beyden Hände und zog ihn vor ſich hin.
Was fehlt Dir? fragte er ihn unwiderſtehlich gut¬
müthig. Erwin ſah ihn mit den großen, ſchönen
Augen lange an, ohne zu antworten, dann ſagte
er auf einmal ſchnell, und eine lebhafte Fröhlich¬
keit flog dabey über ſein ſeelenvolles Geſicht: Reiſen
wir aus der Stadt und weit fort von den Men¬
ſchen, ich führ' Dich in den großen Wald. — Von
einem großen Walde darauf und einem kühlen
Strome und einem Thurm darüber, wo ein Ver¬
ſtorbener wohne, ſprach er wunderbar wie aus
dunklen, verworrenen Erinnerungen, oft alte Aus¬
ſichten aus Friedrichs eigner Kindheit plötzlich auf¬
deckend. Friedrich küßte den begeiſterten Knaben
auf die Stirn. Da fiel er ihm um den Hals und
küßte ihn heftig, mit beyden Armen feſt umklam¬
mernd. Voll Erſtaunen machte ſich Friedrich nur
mit Mühe aus ſeinen Armen los, es war etwas
ungewöhnlich Verändertes in ſeinem Geſicht, eine
ſeltſame Luſt in ſeinen Küſſen, ſeine Lippen brann¬
ten, das Herz ſchlug faſt hörbar, er hatte ihn noch
niemals ſo geſehen.

[270]

Der Bediente trat eben ein, um Friedrich'n
auszukleiden. Erwin war verſchwunden. Friedrich
hörte, wie er darauf in ſeiner Stube ſang:


Es weiß und räth es doch keiner,

Wie mir ſo wohl iſt, ſo wohl!

Ach, wüßt' es nur Einer, nur Einer,

Kein Menſch ſonſt es wiſſen ſollt'!
So ſtill iſt's nicht drauſſen im Schnee,

So ſtumm und verſchwiegen ſind

Die Sterne nicht in der Höhe,

Als meine Gedanken ſind.
Ich wünſcht', es wäre ſchon Morgen,

Da fliegen zwey Lerchen auf,

Die überfliegen einander,

Mein Herze folgt ihrem Lauf.
Ich wünſcht', ich wäre ein Vöglein

Und zöge über das Meer,

Wohl über das Meer und weiter,

Bis daß ich im Himmel wär'!

Fuͤnfzehntes Kapitel.

Schwül und erwartungsvoll ſchauen wir in den
dunkelblauen Himmel, ſchwere Gewitter ſteigen
ringsum herauf, die über manche liebe Gegend und
Freunde ergehen ſollen, der Strom ſchießt dunkel¬
glatt und ſchneller vorbey, als wollte er ſeinem
Geſchick entfliehen, die ganze Gegend verwandelt
[271] plötzlich ſeltſam ihre Miene. Keine Glockenklänge
wehen mehr fromm über die Felder, die Wolken zu
zertheilen, der Glaube iſt todt, die Welt liegt
ſtumm und viel Theures wird untergehen, eh' die
Bruſt wieder frey aufathmet.


Friedrich fühlte dieſen gewitternden Druck der
Luft und waffnete ſich nur deſto frömmer mit jenem
Ernſt und Muthe, den ein großer Zweck der Seele
giebt. Er warf ſich mit doppeltem Eifer wieder auf
ſeine Studien, ſein ganzes Sinnen und Trachten
war endlich auf ſein Vaterland gerichtet. Dieß
mochte ihn abhalten, Erwin damals genauer zu be¬
obachten, der ſeit jenem Abend ſtiller als je gewor¬
den und ſich an einem wunderbaren Triebe nach
freyer Luft und Freyheit langſam zu verzehren
ſchien. Roſa'n mochte er ſeitdem nicht wieder beſu¬
chen. Romana hatte ſich ſeit einiger Zeit ſeltſam
von allen gröſſeren Geſellſchaften entfernt. — Wir
aber ſtürzen uns lieber in die Wirbel der Geſchich¬
te, denn es wird der Seele wohler und weiter im
Sturm und Blitzen, als in dieſer feindlichlauern¬
den Stille.


Es war ein Feyertag im März, da ritt Frie¬
drich mit dem Prinzen auf einem der beſuchteſten
Spaziergänge. Nach allen Richtungen hin zogen
unzählige bunte Schwärme zu den dunklen Thoren
aus und zerſtreuten ſich luſtig in die neue, warme,
ſchallende Welt. Schaukeln und Ringelſpiele dreh¬
ten ſich auf den offenen Raſenplätzen, Muſiken
klangen von allen Seiten ineinander, eine unüber¬
[272] ſehbare Reihe prächtiger Wagen bewegte ſich ſchim¬
mernd die Allee hinunter. Romana theilte die
Menge raſch zu Pferde wie eine Amazone. Frie¬
drich hatte ſie nie ſo ſchön und wild geſehen. Roſa
war nirgends zu ſehen. Als ſie an das Ende der
Allee kamen, hörten ſie plötzlich einen Schrey. Sie
ſahen ſich um und erblickten mehrere Menſchen, die
bemüht ſchienen, jemanden Hülfe zu leiſten. Der
Prinz ritt ſogleich hinzu; alles machte ehrerbietig
Platz und er erblickte ſein Bürgermädchen, die ohn¬
mächtig in den Armen ihrer Mutter lag. Wie ver¬
ſteinert ſchaute er in das todtenbleiche Geſicht des
Mädchens. Er bat Friedrich'n, für ſie Sorge zu
tragen, wandte ſein Pferd und ſprengte davon. Er
hatte ſie zum letztenmale geſehen.


Die Mutter, welche ſich ſelbſt von Staunen
und Schreck nicht erholen konnte, erzählte Frie¬
drich'n, nachdem er alle unnöthige Gaffer zu entfer¬
nen gewußt, wie ſie heut mit ihrer Tochter hieher
ſpazieren gegangen, um einmal den Hof zu ſehen,
der, wie ſie gehört, an dieſem Tage gewöhnlich hier
zu erſcheinen pflege. Ihr Kind ſey beſonders fröh¬
lich geweſen und habe noch oft geſagt: Wenn Er
doch mit uns wäre, ſo könnte er uns alle die
Herrſchaften nennen! Auf einmal hörten ſie hinter
ſich: der Prinz! der Prinz! Alles blieb ſtehen und
zog den Hut. So wie ihre Tochter den Prinzen
nur erblickte, ſey ſie ſogleich umgefallen. — Frie¬
drich'n rührte die ſtille Schönheit des Mädchens mit
ihren[273] ihren geſchloſſenen Augen tief. Er ließ ſie ſicher
nach Hauſe bringen; er ſelbſt wollte ſie nicht be¬
gleiten, um alles Aufſeh'n zu vermeiden.


Noch denſelben Abend ſpät ſprach er den Prin¬
zen über dieſe Begebenheit. Dieſer war ſehr be¬
wegt. Er hatte das Mädchen des Abends beſucht.
Sie aber wollte ihn durchaus nicht wiederſehen, und
hatte eben ſo hartnäckig ein fürſtliches Geſchenk,
das er ihr anbot, ausgeſchlagen. Uebrigens ſchiene
ſie, wie er hörte, ganz geſund.


Erwin fieng um dieſe Zeit an zu kränkeln, es
war als erdrückte ihn die Stadtluft. Seine ſeltſa¬
me Gewohnheit, die Nächte im Freyen zuzubrin¬
gen, hatte er hier ablegen müſſen. Es ſchien ſeit
früheſter Kindheit eine wunderbare Freundſchaft zwi¬
ſchen ihm und der Natur mit ihren Wäldern, Strö¬
men und Felſen. Jetzt, da dieſer Bund durch das
beengte Leben zerſtört war, ſchien er, wie ein er¬
wachter Nachtwandler, auf einmal allein in der
Welt.


So verſank er mitten in der Stadt immer tie¬
fer in Einſamkeit. Nur um Roſa bekümmerte er
ſich viel und mit einer auffallenden Leidenſchaftlich¬
keit. Uebrigens erlernte er noch immer nichts, ob¬
ſchon es nicht an gutem Willen fehlte. Eben ſo las
er auch ſehr wenig und ungern, deſto mehr, ja faſt
unaufhörlich, ſchrieb er, ſeit er es beym Grafen
gelernt, ſo oft er allein geweſen. Friedrich fand
18[274] manchmal dergleichen Zettel. Es waren einzelne
Gedanken, ſo ſeltſam weit abſchweifend von der
Sinnes- und Ausdrucksart unſerer Zeit, daß ſie
oft unverſtändlich wurden, abgebrochene Bemerkun¬
gen über ſeine Umgebungen und das Leben, wie
fahrende Blitze auf durchaus nächtlichem, melankoli¬
ſchen Grunde, wunderſchöne Bilder aus der Erin¬
nerung an eine früher verlebte Zeit und Anreden
an Perſonen, die Friedrich gar nicht kannte, da¬
zwiſchen Gebethe wie aus der tiefſten Seelenverwir¬
rung eines geängſtigten Verbrechers, immerwäh¬
rende Beziehung auf eine unſelige verdeckte Leiden¬
ſchaft, die ſich ſelber nie deutlich ſchien, kein einzi¬
ger Vers, keine Ruhe, keine Klarheit überall.


Friedrich verſuchte unermüdlich ſeine frühere Le¬
bensgeſchichte auszuſpüren, um nach ſo erkannter
Wurzel des Uebels vielleicht das aufrühreriſche Ge¬
müth des Knaben ſicherer zu beruhigen und ins
Gleichgewicht zu bringen. Aber vergebens. Wir
wiſſen, mit welcher Furcht er das Geheimniß ſeiner
Kindheit hüthete. Ich muß ſterben, wenn es je¬
mand erfährt, war dann jedesmal ſeine Antwort.
Eine eben ſo unbegreifliche Angſt hatte er auch vor
allen Aerzten.


Sein Zuſtand wurde indeß immer bedenklicher.
Friedrich hatte daher alles einem verſtändigen Arzte
von ſeiner Bekanntſchaft anvertraut und bat denſel¬
ben, ihn, ohne ſeine Abſicht merken zu laſſen, des
Abends zu beſuchen, wann Erwin bey ihm wäre.

[275]

Als Friedrich des Abends an Erwins Thüre
kam, hörte er ihn d'rinn nach einer rührenden Me¬
lodie ohne alle Begleitung eines Inſtruments fol¬
gende Worte ſingen:


Ich kann wohl manchmal ſingen,

Als ob ich fröhlich ſey,

Doch heimlich Thränen dringen,

Da wird das Herz mir frey.
So laſſen Nachtigallen,

Spielt drauſſen Frühlingsluft,

Der Sehnſucht Lied erſchallen,

Aus ihres Käfigts Gruft.
Da lauſchen alle Herzen,

Und alles iſt erfreut,

Doch keiner fühlt die Schmerzen,

Im Lied das tiefe Leid.

Friedrich trat während der letzten Strophe un¬
bemerkt in die Stube. Der Knabe ruhte auf dem
Bett und ſang ſo liegend mit geſchloſſenen Augen.


Er richtete ſich ſchnell auf, als er Friedrich'n
erblickte. Ich bin nicht krank, ſagte er, gewiß
nicht! — damit ſprang er auf. Er war ſehr blaß.
Er zwang ſich, munter zu ſcheinen, lachte und
ſprach mehr und luſtiger als gewöhnlich. Dann
klagte er über Kopfweh. — Friedrich ſtrich ihm die
nußbraunen Locken aus den Augen. Thu' mir nicht
ſchön, ich bitte Dich! — ſagte der Knabe da ſon¬
derbar und wie mit verhaltenen Thränen.

18 *[276]

Der Arzt trat eben in das Zimmer. Erwin
ſprang auf. Er errieth ahnend ſogleich, was der
fremde Mann wolle, und machte Miene zu entſprin¬
gen. Er wollte ſich durchaus nicht von ihm berüh¬
ren laſſen und zitterte am ganzen Leibe. Der Arzt
ſchüttelte den Kopf. Hier wird meine Kunſt nicht
ausreichen, ſagte er zu Friedrich'n, und verließ das
Zimmer bald wieder, um den Knaben in dieſem
Augenblick zu ſchonen. Da ſank Erwin ermattet zu
Friedrichs Füßen. Friedrich hob ihn freundlich auf
ſeine Knie und küßte ihn. Er aber küßte und um¬
armte ihn nicht wieder wie damals, ſondern ſaß
ſtill und ſah, in Gedanken verloren, vor ſich hin.


Schon ſpannen wärmere Sommernächte drauſ¬
ſen ihre Zaubereyen über Berge und Thäler, da
war es Friedrich'n einmal mitten in der Nacht, als
riefe ihn ein Freund, auf den er ſich nicht beſinnen
könnte, wie aus weiter Ferne. Er wachte auf, da
ſtand eine lange Geſtalt mitten in dem finſteren
Zimmer. Er erkannte Leontinen an der Stimme.
Friſch auf, Herzbruder! ſagte dieſer, die eine
Halbkugel rührt ſich hellbeleuchtet, die andere
träumt; mir war nicht wohl, ich will den Rhein
einmal wiederſehen, komm' mit! Er hatte die Fen¬
ſter aufgemacht, einzelne graue Streifen langten
ſchon über den Himmel, unten auf der Gaſſe blies
der Poſtillon luſtig auf dem Horne.


Da galt kein Staunen und kein Zögern, Frie¬
drich mußte mit ihm hinunter in den Wagen. Auch
[277] Erwin war mit unbegreiflicher Schnelligkeit reiſefer¬
tig. Friedrich erſtaunte, ihn auf einmal ganz mun¬
ter und geſund zu ſehen. Mit funkelnden Augen
ſprang er mit in den Wagen, und ſo raſſelten ſie
durch das ſtille Thor ins Freye hinaus.


Sie fuhren ſchnell, durch unüberſehbar ſtille
Felder, durch einen dunkeldichten Wald, ſpäter zwi¬
ſchen engen hohen Bergen, an deren Fuß manch
Städtlein zu liegen ſchien, ein Fluß, den ſie nicht
ſahen, rauſchte immerfort ſeitwärts unter der Stra¬
ße, alles feenhaft verworren. Leontin erzählte ein
Mährchen, mit den wechſelnden Wundern der Nacht,
wie ſie ſich die Seele ausmahlte, in Worten kühle
ſpielend. Friedrich ſchaute ſtill in die Nacht, Erwin
ihm gegenüber hatte die Augen weit offen, die un¬
ausgeſetzt, ſo lange es dunkel war, auf ihn gehef¬
tet ſchienen, der Poſtillon blies oft dazwiſchen.
Der Tag fieng indeß an von der einen Seite zu
hellen, ſie erkannten nach und nach ihre Geſichter
wieder, einzelne zu früh erwachte Lerchen ſchwirr¬
ten ſchon, wie halb im Schlafe, hoch in den Lüf¬
ten ihr endloſes Lied, es wurde herrlich kühl.


Bald darauf langten ſie an dem Gebirgsſtädt¬
chen an, wohin ſie wollten. Das Thor war noch
geſchloſſen. Der Thorwächter trat ſchlaftrunken her¬
aus, wünſchte ihnen einen guten Morgen und prieß
die Reiſenden glückſelig und beneidenswerth in die¬
ſer Jahrszeit. In dem Städtchen war noch alles
leer und ſtill. Nur einzelne Nachtigallen von den
Fenſtern und unzählige von den Bergen über dem
[278] Städtchen ſchlugen um die Wette. Mehrere alte
Brunnen mit zierlichem Gitterwerk rauſchten einför¬
mig auf den Gaſſen. In dem Wirthshauſe, wo ſie
abſtiegen, war auch noch niemand auf. Der Poſtil¬
lon blies daher, um ſie zu wecken, mehrere Stücke,
daß es über die ſtillen Straſſen weg in die Berge
hineinſchallte. Erwin ſaß indeß auf einem Spring¬
brunnen auf dem Platze und wuſch ſich die Augen
klar.


Friedrich und Leontin ließen Erwin bey dem
Wagen zurück und giengen von der anderen Seite
ins Gebirge. Als ſie aus dem Walde auf einen
hervorragenden Felſen heraustraten, ſahen ſie auf
einmal aus wunderreicher Ferne von alten Burgen
und ewigen Wäldern kommend den Strom vergan¬
gener Zeiten und unvergänglicher Begeiſterung, den
königlichen Rhein. Leontin ſah lange ſtill in Ge¬
danken in die grüne Kühle hinunter, dann fieng er
ſich ſchnell an auszukleiden. Einige Fiſcher fuhren
auf dem Rheine vorüber und ſangen ihr Morgen¬
lied, die Sonne gieng eben prächtig auf, da ſprang
er mit ausgebreiteten Armen in die kühlen Flam¬
men hinab. Friedrich folgte ſeinem [Beiſpiel] und,
beyde rüſtige Schwimmer, rangen ſich lange jubelnd
mit den vom Morgenglanze trunkenen, eiſigen Wo¬
gen. Unbeſchreiblich leicht und heiter kehrten ſie nach
dem Morgenbade wieder in das Städtchen zurück,
wo unterdeß alles ſchon munter geworden. Es war
die Weihe der Kraft für lange Kämpfe, die ihrer
harrten.

[279]

Als die Sonne ſchon hoch war, beſtiegen ſie
die alte wohlerhaltene Burg, die wie eine Ehren¬
krone über der altdeutſchen Gegend ſtand. Des
Wirths Tochter gieng ihnen mit einigen Flaſchen
Wein luſtig die dunklen, mit Epheu überwachſenen
Mauerpfade voran, ihr junges, blühendes Geſicht
nahm ſich gar zierlich zwiſchen dem alten Gemäuer
und Bilderwerk aus. Sie legte vor der Sonne die
Hand über die Augen und nannte ihnen die zer¬
ſtreuten Städte und Flüſſe in der unermeßlichen
Ausſicht, die ſich unten aufthat. Leontin ſchenkte
Wein ein, ſie that ihnen Beſcheid und gab jedem
willig zum Abſchiede einen Kuß.


Sie ſtieg nun wieder den Berg hinab, die bey¬
den ſchauten fröhlich in das Land hinaus. Da ſa¬
hen ſie, wie jenſeits des Rheins zwey Jägerbur¬
ſchen aus dem Walde kamen und einen Kahn be¬
ſtiegen, der am Ufer lag. Sie kamen quer über den
Rhein auf das Städtchen zugefahren. Der eine ſaß
tiefſinnig im Kahne, der andere that mehrere
Schüſſe, die vielfach in den Bergen wiederhallten.
Erwin hatte ſich in ein ausgebrochenes Bogenfenſter
der Burg geſetzt, das unmittelbar über dem Ab¬
grunde ſtand. Ohne allen Schwindel ſaß er dort
oben, ſeine ganze Seele ſchien aus den ſinnigen
Augen in die wunderbare Ausſicht hinauszuſehen.
Er ſagte voller Freuden, er erblicke ganz im Hin¬
tergrunde einen Berg und einen hervorragenden
Wald, den er gar wohl kenne. Leontin ließ ſich
die Gegend zeigen und ſchien ſie ebenfalls zu erken¬
[280] nen. Er ſah darauf den Knaben ernſthaft und ver¬
wundert an, der es nicht bemerkte.


Erwin blieb in dem Fenſterbogen ſitzen, ſie aber
durchzogen das Schloß und den Berg in die Run¬
de. Junge grüne Zweige und wildbunte Blumen
beugten ſich überall über die dunklen Trümmer der
Burg, der Wald rauſchte kühl, Quellen ſprangen
in hellen, friſchlichen Bogen von den Steinen, un¬
zählige Vögel ſangen, von allen Seiten die uner¬
meßliche Ausſicht, die Sonne ſchien warm über der
Fläche in tauſend Strömen ſich ſpiegelnd, es war,
als ſey die Natur hier rüſtiger und lebendiger vor
Erinnerung im Angeſicht des Rheins und der alten
Zeit. Wo ein Begeiſterter ſteht, iſt der Gipfel der
Welt, rief Leontin fröhlich aus.


Willkommen, Freund, Bruder! ſagte da auf
einmal eine Stimme mit Pathos, und ein fremder
junger Mann, den ſie vorher nicht bemerkt hatten,
faßte Leontin'n feſt bey der Hand. Ach, was Bru¬
der! fuhr Leontin heraus ärgerlich über die uner¬
wartete Störung. Der Fremde ließ ſich nicht ab¬
ſchrecken, ſondern ſagte: Jene Worte logen nicht,
Sie ſind ein Verehrer der Natur, ich bin auch ſtolz
auf dieſen Nahmen. Wahrhaftig, mein Herr, er¬
wiederte Leontin geſchwind ſich komiſch erwehrend,
Sie irren ſich entſetzlich, ich bin weder biederher¬
zig, wie Sie ſich vorſtellen, noch begeiſtert, noch
ein Verehrer der Natur, noch —. Der Fremde
fuhr ganz blinderpicht fort: Laſſen Sie die Gewöhn¬
lichen ſich ewig ſuchen und verfehlen, die Seltenen
[281] wirft ein magnetiſcher Zug einander an die männ¬
liche Bruſt, und der ewige Bund iſt ohne Wort
geſchloſſen in des Eichwalds heiligen Schatten, wenn
die Orgel des Weltbaues gewaltig dahinbraust. —
Bey dieſen Worten fiel ihm ein Buch aus der
Taſche. Sie verlieren ihre Noten, ſagte Leontin,
Schillers Don Karlos erkennend. Warum Noten?
fragte der Fremde. Darum, ſagte Leontin, weil
euch die ganze Natur nur der Text dazu iſt, den ihr
nach den Dingern da aborgelt, und je ſchwieriger
und würgender die Koleraturen ſind, daß ihr davon
ganz roth und blau im Geſicht werdet, und die
Thränen ſammt den Augen heraustreten, je begei¬
ſterter und gerührter ſeyd ihr. Macht doch die Au¬
gen feſt zu in der Muſik und im Sauſen des Wal¬
des, daß ihr die ganze Welt vergeßt und Euch vor
allem!


Der Fremde wußte nicht recht, was er darauf
antworten ſollte. Leontin fand ihn zuletzt gar poſ¬
ſierlich; ſie giengen und ſprachen noch viel zuſammen
und es fand ſich am Ende, daß er ein abgedankter
Liebhaber der Schmachtenden in der Reſidenz ſey,
den er früher manchmal bey ihr geſehen. Der Ein¬
klang der Seelen hatte ſie zuſammen, und ich weiß
nicht was wieder auseinander geführt. Er rühmte
viel, wie dieſes Seelenvolle Weib mit Geſchmack, treu
und tugendhaft liebe. Treu? — ſie iſt ja verhey¬
rathet, ſagte Friedrich unſchuldig. Ey, was! fiel
ihm Leontin ins Wort, dieſe Alwina's, dieſe neuen
Heloiſen, dieſe Erbſchleicherinnen der Tugend ſind
[282] pfiffiger als Gottes Wort. Nicht wahr, der Teufel
ſtinkt nicht und hat keine Hörner, und Ehebrechen
und Ehebrechen iſt zweyerley? — Der Fremde war
verlegen wie ein Schulknabe.


Es neigte ſich indeß zum Abend, aber die Luft
war ſchwül geworden und man hörte von ferne
donnern. Das letztere war dem Fremden eben
recht; der Donner, den er nicht anders als rollend
nannte, ſchien ihn mit einem neuen Anfalle von
Genialität aufzublähen. Er verſicherte, er müſſe im
Gewitter einſam und im Freyen ſeyn, das wäre von
jeher ſo ſeine Art, und nahm Abſchied von ihnen.
Leontin klopfte ihn beym Weggeh'n tüchtig auf die
Achſel: beten und faſten Sie fleiſſig und dann
ſchauen Sie wieder in Gottes Welt hinaus, wie da
der Herr genialiſch iſt. Es iſt doch nichts lächerli¬
cher, ſagte er, als jener fort war, als eine aus der
Mode gekommene Genialität. Man weiß dann gar
nicht, was die Kerls eigentlich haben wollen.


Es gewitterte indeß immer ſtärker und näher.
Leontin beſtieg ſchnell eine hohe Tanne, die am
Abhange ſtand, um das Wetter zu beſchauen. Der
Wind, der dem Gewitter vorausflog, rauſchte durch
die dunklen Aeſte des Baumes und neigte den Wi¬
pfel über den Abgrund hinaus. Ich ſehe das
Städtchen in alle Straſſen hinab, rief Leontin von
oben, wie die Leute eilig hin und her laufen und
die Fenſter und Thüren ſchließen und mit den Laden
klappern vor dem heranziehenden Wetter, es achtet
ihrer doch nicht und zieht über ſie weg. Unſeren
[283] Don Karlos ſehe ich auf einer Felſenſpitze den Bat¬
terien des Gewitters gegenüber, er ſteht die Arme
über der Bruſt verſchränkt, den Hut tief in die Au¬
gen gedrückt, den einen Fuß trotzig vorwärts, pfuy,
pfuy, über den Hochmuth! Den Rhein ſeh' ich kom¬
men, zu dem alle Flüſſe des Landes flüchten, lang¬
ſam und dunkelgrün, Schiffe rudern eilig ans Ufer,
eines ſeh' ich mit Gott gradaus fahren, fahre, herr¬
licher Strom! Wie Gottes Flügel rauſchen und die
Wälder ſich neigen, und die Welt ſtill wird, wenn
der Herr mit ihr ſpricht. Wo iſt dein Witz, deine
Pracht, deine Genialität? Warum wird unten auf
den Flächen alles Eins und unkenntlich wie ein
Meer, und nur die Burgen ſtehen einzeln und un¬
terſchieden zwiſchen den wehenden Glockenklängen
und ſchweifenden Blitzen. Du könnteſt mich wahn¬
witzig machen unten erſchreckliches Bild meiner Zeit,
wo das zertrümmerte Alte in einſamer Höhe ſteht,
wo nur das Einzelne gilt und ſich, ſchroff und
ſcharf im Sonnenlichte abgezeichnet, hervorhebt,
während das Ganze in farbloſen Maſſen Geſtaltlos
liegt, wie ein ungeheuerer, grauer Vorhang, an
dem unſere Gedanken, gleich Rieſenſchatten aus ei¬
ner anderen Welt, ſich abarbeiten. — Der Wind
verwehte ſeine Worte in die gränzenloſe Luft. Es
regnete ſchon lange. Der Regen und der Sturm
wurden endlich ſo heftig, daß er ſich nicht mehr auf
dem Baume erhalten konnte. Er ſtieg herab und
ſie kehrten zu der Burg zurück.

[284]

Als das Wetter ſich nach einiger Zeit wieder
verzogen hatte, brachen ſie aus ihrem Schlupfwin¬
kel auf, um ſich in das Städtchen hinunterzubege¬
ben. Da trafen ſie an dem Ausgange der Burg
mit den zwey Jägern zuſammen, die ſie frühmor¬
gens über den Rhein fahren geſehen, und die eben¬
falls das Gewitter in der Burg belagert gehalten
hatte. Es war ſchon dunkel geworden, ſo daß ſie
einander nicht wohl erkennen konnten. Die Bäume
hiengen voll heller Tropfen, der enge Fußſteig war
durch den Regen äuſſerſt glatt geworden. Die bey¬
den Jäger, giengen ſehr, vorſichtig und furchtſam,
hielten ſich an alle Sträucher und glitten mehrere¬
mal bald Friedrich'n, bald Leontin in die Arme,
woruber ſie vom letzteren viel Gelächter ausſteh'n
mußten, der ihnen durchaus nicht helfen wollte.
Erwin ſprang mit einer ihm ſonſt nie gewöhnlichen
Wildheit allen weit voraus wie ein Gems den Berg
hinab.


Allen wurde wohl, als ſie nach der langen
Einſamkeit in das Städtchen hinunterkamen, wo es
recht patriarchaliſch ausſah. Auf den Gaſſen gieng
Jung und Alt ſprechend und lachend nach dem Re¬
gen ſpazieren, die Mädchen des Städtchens ſaſſen
drauſſen vor ihren Thüren unter den Weinlauben.
Der Abend war herrlich, alles erquickt nach dem
Gewitter, das nur noch von ferne nachhallte, Nach¬
tigallen ſchlugen wieder von den Bergen, vor
ihren Augen rauſchte der Rhein an dem Städtchen
vorüber. Leontin zog mit ſeiner Guitarre wie ein
[285] reiſender Spielmann aus alter Zeit von Haus zu
Haus und erzählte den Mädchen Mährchen, oder
ſang ihnen neue Melodieen auf ihre alten Lieder,
wobey ſie ſtill mit ihren ſinnigen Augen um ihn
herumſaſſen. Friedrich ſaß neben ihm auf der Bank,
den Kopf in beyde Arme auf die Kniee geſtützt,
und erholte ſich recht an den altfränkiſchen Klängen.


Die zwey Jäger hatten ſich nicht weit von ihnen
um einen Tiſch gelagert, der auf dem grünen Pla¬
tze zwiſchen den Häuſern und dem Rheine aufge¬
ſchlagen war, und ſchäkerten mit den Mädchen,
denen ſie gar wohl zu gefallen ſchienen. Die Mäd¬
chen verfertigten ſchnell einen fröhlichen, übervollen
Kranz von hellrothen Roſen, den ſie dem einen,
welcher der luſtigſte ſchien, auf die Stirn drückten.
Leontin, der wenig darauf Acht gab, begann fol¬
gendes Lied über ein am Rheine bekanntes Mähr¬
chen:


Es iſt ſchon ſpät, es wird ſchon kalt,

Was reit'ſt Du einſam durch den Wald?

Der Wald iſt lang, Du biſt allein,

Du ſchöne Braut! ich führ' Dich heim!

Da antwortete der Bekränzte drüben vom an¬
deren Tiſche mit der folgenden Strophe des Lie¬
des:


„Groß iſt der Männer Trug und Liſt,

Vor Schmerz mein Herz gebrochen iſt,

Wohl irrt das Waldhorn her und hin,

O flieh'! Du weißt nicht, wer ich bin.“
[286]

Leontin ſtutzte und ſang weiter:


So reich geſchmückt iſt Roß und Weib,

So [wunderſchön] der junge Leib,

Jetzt kenn' ich Dich — Gott ſteh' mil bey!

Du biſt die Hexe Lorelay.

Der Jäger antwortete wieder:


„Du kennſt mich wohl — von hohem Stein,

Schaut ſtill mein Schloß tief in den Rhein.

Es iſt ſchon ſpät, es wird ſchon kalt,

Kommſt nimmermehr aus dieſem Wald!“

Der Jäger nahm nun ein Glas, kam auf ſie
los und trank Friedrich'n keck zu: Unſere Schönen
ſollen leben! Friedrich ſtieß mit an. Da zerſprang
der Römer des Jägers klingend an dem ſeinigen.
Der Jäger erblaßte und ſchleuderte das Glas in
den Rhein. —


Es war unterdeß ſchon ſpät geworden, die
Mädchen fiengen an einzunicken, die Alten trieben
ihre Kinder zu Bett und ſo verlohr ſich nach und
nach eines nach dem andern, bis ſich unſere Rei¬
ſende allein auf dem Platze ſahen. Die Nacht war
ſehr warm, Leontin ſchlug daher vor, die ganze
Nacht über auf dem Rheine nach der Reſidenz hin¬
unterzufahren, er ſey ein guter Steuermann und.
kenne jede Klippe auswendig. Alle willigten ſogleich
ein, der eine Jäger nur mit Zaudern, und ſo be¬
ſtiegen ſie einen Kahn, der am Ufer angebunden
war. Den Knaben Erwin, der während Leontins
Liedern zu Friedrichs Füſſen eingeſchlafen, hatten
[287] ſie, da er durchaus nicht zu ermuntern war, in den
Kahn hineintragen müſſen, wo er auch nach einem
kurzen, halbwachen Taumel ſogleich wieder in
Schlaf verſank. Friedrich ſaß vorn, die beyden Jä¬
ger in der Mitte, Leontin am Steuerruder lenkte
keck grade auf die Mitte los, die Gewalt des Stro¬
mes faßte recht das Schiffchen, zu beyden Seiten
flogen Weingärten, einſame Schlünde und Felſen¬
rieſen mit ausgeſpreiteten Eichen-Armen, wechſelnd
vorüber, als giengen die alten Helden unſichtbar
durch den Himmel und würfen ſo ihre ſtreiffenden
Schatten über die ſtille Erde.


Der Himmel hatte ſich indeß von neuem über¬
zogen, die Gewitter ſchienen wieder näher zu kom¬
men. Der eine von den Jägern, der überhaupt
faſt noch gar nicht geſprochen, blieb fortwährend
ſtill. Der andere mit dem Roſenkranze dagegen ſaß
ſchaukelnd und gefährlich auf dem Rande des Kah¬
nes und hatte beyde Beine darüber heruntergehan¬
gen, die bey jeder Schwankung die Wellen berühr¬
ten. Er ſah in das Waſſer hinab, wie die flüchti¬
gen Wirbel kühle aufrauſchend, dann wieder ſtill,
wunderbar hinunterlockten. Leontin hieß ihn die
Beine einſtecken. Was ſchadt's, ſagte der Jäger
innerlich heftig, ich tauge doch nichts auf der Welt,
ich bin ſchlecht, wär' ich da unten, wäre auf ein¬
mal alles ſtill. — Oho! rief Leontin, ihr ſeyd
verliebt, das ſind verliebte Sprüche. Sag' an, wie
ſieht Dein Liebchen aus? Iſt's ſchlank, ſtolz, kühn,
voll hohem Graus, iſt's Hirſch, Pfau, oder eine
[288] kleine ſüſſe Maus? — Der Jäger ſagte: Mein
Schatz iſt ein Hirſch, der wandelt in einer prächti¬
gen Wildniß, die liegt ſo unbeſchreiblich hoch und
einſam und die ganze Welt überſieht man von dort,
wie ſich die Sonne ringsum in Seen und Flüſſen
und allen Kreaturen wunderbar beſpiegelt. Es iſt
des Jägers dunkelwüſte Luſt, das Schönſte, was
ihn rührt, zu verderben. So nahm er Abſchied
von ſeinem alten Leben und folgte dem Hirſche im¬
mer höher mühſam hinauf. Als die Sonne auf¬
gieng, legte er oben in der klaren Stille lauernd
an. Da wandte ſich der Hirſch plötzlich und ſah
ihn keck und fromm an wie den Herzog Hubertus.
Da verließen den Jäger auf einmal ſeine Künſte
und ſeine ganze Welt, aber er konnte nicht nieder¬
knieen wie jener, denn ihm ſchwindelte vor dem
Blick und der Höhe und es faßte ihn ein ſeltſamer
Geluſt, die dunkle Mündung auf ſeine eigne ausge¬
ſtorbene Bruſt zu kehren. —


Die beyden Grafen überhörten bey dem Win¬
de der ſich nach und nach zu erheben anfieng, dieſe
ſonderbaren Worte des Verliebten. Fahrende Bli¬
tze erhellten inzwiſchen von Zeit zu Zeit die Gegend
und ihr Schein fiel auf die Geſichter der beyden
Jäger. Sie waren gar lieblich anzuſehen, ſchienen
beyde noch Knaben. Der eine hatte ein ſilbernes
Horn an der Seite hängen. Leontin ſagte, er ſolle
eins blaſen; er verſicherte aber, daß er es nicht
könne. Leontin lachte ihn aus, was ſie für Jäger
wären,[289] wären, nahm das Horn und blies ſehr geſchickt ein
altes ſchönes Lied. Der eine geſprächige Jäger ſag¬
te, es fiele ihm dabey eben ein Lied ein, und ſang
zu den beyden Grafen mit einer angenehmen
Stimme:


Wir ſind ſo tief betrübt, wenn wir auch ſcherzen,

Die armen Menſchen müh'n ſich ab und reiſen,

Die Welt zieht ernſt und ſtreng in ihren Gleiſen,

Ein feuchter Wind verlöſcht die luſt'gen Kerzen. —
Du haſt ſo ſchöne Worte tief im Herzen,

Du weiſt ſo wunderbare alte Weiſen,

Und wie die Stern' am Firmamente kreiſen,

Zieh'n durch die Bruſt Dir ewig Luſt und Schmerzen.
So laſſ' Dein' Stimme hell im Wald erſcheinen!

Das Waldhorn fromm wird auf und nieder wehen,

Die Waſſer geh'n und Rehe einſam weiden.
Wir wollen ſtille ſitzen und nicht weinen,

Wir wollen in den Rhein hinunterſehen,

Und, wird es finſter auf der Welt, nicht ſcheiden.

Kaum hatte er die letzten Worte ausgeſungen,
als Erwin, der durch den Geſang aufgewacht war,
und bey einem langen Blitze das Geſicht des ande¬
ren ſtillen Jägers plötzlich dicht vor ſich erblickte,
mit einem lauten Schrey aufſprang und ſich in dem¬
ſelben Augenblicke über den Kahn in den Rhein
ſtürzte. Die beyden Jäger ſchrieen entſetzlich, der
Knabe aber ſchwamm wie ein Fiſch durch den Strom
und war ſchnell hinter dem Geſträuch am Ufer ver¬
ſchwunden. Leontin lenkte ſogleich ihm nach an's
19[290] Ufer und alle eilten verwundert und beſtürzt an's
Land. Sie fanden ſein Tuch zerriſſen an den Sträu¬
chen hängen; es war faſt unbegreiflich, wie er
durch dieſes Dickicht ſich hindurchgearbeitet.


Friedrich und Leontin begaben ſich in verſchie¬
denen Richtungen ins Gebirge, ſie durchkletterten
alle Felſen und Schluften und riefen nach allen
Seiten hin. Aber alles blieb nächtlich ſtill, nur
der Wald rauſchte einförmig fort. Nach langem
Suchen kamen ſie endlich müde beyde wie der auf der
Höhe über ihrem Landungsplätze zuſammen. Der
Kahn ſtand noch am Ufer, die beyden Jäger aber
unten waren verſchwunden. Der Rhein rauſchte
prächtig funkelnd in der Morgenſonne zwiſchen den
Bergen hin. Erwin kehrte nicht mehr zurück.

Sechszehntes Kapitel.

Die heftige Romana liebte Friedrich'n vom er¬
ſten Blicke an mit der ihr eigenthümlichen Gewalt.
Seitdem er aber in jener Nacht auf dem Schloſſe
von ihr fortgeritten, als ſie bemerkte, wie ihre
Schönheit, ihre vielſeitigen Talente, die ganze
Phantaſterey ihres künſtlich geſteigerten Lebens alle
Bedeutung verlohr und zu Schanden wurde an ſei¬
ner höheren Ruhe, da fühlte ſie zum erſtenmale
die entſetzliche Lücke in ihrem Leben und daß alle
[291] Talente Tugend werden müſſen oder nichts ſind und
ſchauderte vor der Lügenhaftigkeit ihres ganzen We¬
ſens. Friedrich's Verachtung war ihr durchaus un¬
erträglich, obgleich ſie ſonſt die Männer verachtete.
Da raffte ſie ſich innerlichſt zuſammen, zerriß alle
ihre alten Verbindungen und begrub ſich in die Ein¬
ſamkeit ihres Schloſſes. Daher ihr plötzliches Ver¬
ſchwinden aus der Reſidenz.


Sie mochte ſich nicht Stückweis beſſern, ein
ganz neues Leben der Wahrheit wollte ſie anfan¬
gen. Vor allem beſtrebte ſie ſich mit ehrlichem Ei¬
fer, den ſchönen verwilderten Knaben, den wir dort
kennen gelernt, zu Gott zurückzuführen, und er
übertraf mit ſeiner Kraft eines unabgenüzten Ge¬
müthes gar bald ſeine Lehrerin. Sie knüpfte Be¬
kanntſchaften an mit einigen häuslichen Frauen der
Nachbarſchaft, die ſie ſonſt unſäglich verachtet, und
mußte beſchämt vor mancher Trefflichkeit ſtehen, von
der ſie ſich ehedem nichts träumen ließ. Die Fen¬
ſter und Thüren ihres Schloſſes, die ſonſt Tag und
Nacht offen ſtanden, wurden nun geſchloſſen, ſie
wirkte ſtill und fleiſſig nach allen Seiten und führte
eine ſtrenge Hauszucht. Friedrich ſollte Ihrentwe¬
gen von alle dem nichts wiſſen, das war ihr, wie
ſie meynte, einerley. —


Es war ihr redlicher Ernſt, anders zu werden,
und noch nie hatte ſich ihre Seele ſo reintriumphie¬
rend und frey gefühlt, als in dieſer Zeit. Aber es
war auch nur ein Rauſch, obgleich der ſchönſte in
19 *[292] ihrem Leben. Es giebt nichts erbarmungswürdige¬
res, als ein reiches, verwildertes Gemüth, das in
verzweifelter Erinnerung an ſeine urſprüngliche alte
Güte, ſich lüderlich an dem Beßten und Schlechte¬
ſten berauſcht, um nur jenes Andenkens los zu
werden, bis es, ſo ausgehölt, zu Grunde geht.
Wenn uns der Wandel tugendhafter Frauen wie
die Sonne erſcheint, die in gleichverbreiteter Klar¬
heit, ſtill und erwärmend, täglich die vorgeſchriebe¬
nen Kreiſe beſchreibt, ſo möchten wir dagegen Ro¬
mana's raſches Leben einer Rackete vergleichen, die
ſich mit ſchimmerndem Gepraſſel zum Himmel auf¬
reißt und oben unter dem Beyfallsgeklatſch der ſtau¬
nenden Menge in tauſend funkelnde Sterne ohne
Licht und Wärme prächtig zerplatzt.


Sie hatte die Einfalt, dieſe Grundkraft aller
Tugend, leichtſinnig verſpielt; ſie kannte gleichſam
alle Schliche und Kniffe der Beſſerung. Sie moch¬
te ſich ſtellen, wie ſie wollte, ſie konnte, gleich ei¬
nem Somnambuliſten, ihre ganze Bekehrungsge¬
ſchichte wie ein wohlgeſchriebenes Gedicht Vers vor
Vers inwendig vorausleſen und der Teufel ſaß ge¬
genüber und lachte ihr dabey immerfort ins Geſicht.
In ſolcher Seelenangſt dichtete ſie oft die herrlich¬
ſten Sachen, aber mitten im Schreiben fiel es ihr
ein, wie doch das alles eigentlich nicht wahr ſey —
wenn ſie bethete, kreutzten ihr häufig unkeuſche Ge¬
danken durch den Sinn, daß ſie erſchrocken auf¬
ſprang.

[293]

Ein alter frommer Geiſtlicher vom Dorfe be¬
ſuchte die ſchöne Büßerin fleiſſig. Sie erſtaunte,
wie der Mann ſo eigentlich ohne alle Bildung und
doch ſo hochgebildet war. Er ſprach ihr oft Stun¬
denlang von den tiefſinnigſten Wahrheiten ſeiner
Religion und war dabey immer ſo herzlich heiter,
ja, oft voll luſtiger Schwänke, während Sie dabey
jedesmal in eine peinliche, gedankenvolle Traurig¬
keit verſank. Er fand manchmal geiſtliche Lieder und
Legenden bey ihr, die ſie ſo eben gedichtet. Nichts
glich dann ſeiner Freude darüber; er nannte ſie
ſein liebes Lämmchen, las die Lieder viermal ſehr
aufmerkſam und legte ſie in ſein Gebethbuch. Mein
Gott! ſagte da Romana, in Gedanken verlohren,
oft zu ſich ſelbſt, wie iſt der gute Mann doch un¬
ſchuldig! —


In dieſer Zeit ſchrieb ſie, weniger aus Freund¬
ſchaft als aus Laune und Bedürfniß ſich auszu¬
ſprechen, mehrere Briefe an die Schmachtende in
der Reſidenz, im tiefſten Jammer ihrer Seele ver¬
faßt. Sie erſtaunte über ſich ſelbſt, wie moraliſch
ſie zu ſchreiben wußte, wie ganz klar ihr ihr Zu¬
ſtand vor Augen lag, und ſie es doch nicht ändern
konnte. Die Schmachtende konnte ſich nicht enthal¬
ten, dieſe intereſſanten Briefe ihrem Abendzirkel
mitzutheilen. Man nahm dieſelben dort für Grund¬
riſſe zu einem Romane, und bewunderte die feine
Anlage und den Geiſt der Gräfin.


Romana hielt es endlich nicht länger aus, ſie
mußte ihren hohen Feind und Freund, den Grafen
[294] Friedrich, wiederſehen. Kaum hatte ſie ſich dieſen
Wunſch einmal erlaubt, als ſie auch ſchon auf dem
Pferde ſaß und der Reſidenz zuflog. Dieß war da¬
mals, als ſie Friedrich an dem warmen Märzfeſte
ſo wild die Menge theilend vorüberreiten ſah. Als
ſie nun ihren Geliebten wieder vor ſich ſah, noch
immer unverändert ruhig und ſtreng wie vorher,
während eine ganz neue Welt in ihr auf- und
untergegangen war, da ſchien es ihr unmöglich,
ſeine Tugend und Größe zu erreichen. Die beyden
vor ihr Leben geſpannten, unbändigen Roſſe, das
ſchwarze und das weiße, giengen bey dem Anblick
von neuem durch mit ihr, alle ihre ſchönen Pläne
lagen unter den heißen Rädern des Wagens zer¬
ſchlagen, ſie ließ die Zügel ſchießen und gab ſich
ſelber auf.


Friedrich war indeß noch mehrere Tage lang
mit Leontin in dem Gebirge herumgeſtrichen, um
Erwin wiederzufinden. Aber alle Nachforſchungen
blieben vergebens. Es blieb ihm nichts übrig, als
auf immer Abſchied zu nehmen von dem lieben We¬
ſen, deſſen wunderbare Nähe ihm durch die lange
Gewohnheit faſt unentbehrlich geworden war.


Rüſtig und neugeſtärkt durch die kühle Wald-
und Bergluft, die wieder einmal ſein ganzes Leben
angeweht, kehrte er in die Reſidenz zurück und
gieng freudiger als jemals wieder an ſeine Studien,
Hoffnungen und Pläne. Aber wie vieles hatte ſich
gar bald verändert. Die braven Geſellen, welche
der Winter tüchtig zuſammengehalten, zerſtreute
[295] und erſchlaffte die warme Jahrszeit. Der eine
hatte eine ſchöne reiche Braut gefunden und rechne¬
te die gemeinſame Noth ſeiner Zeit gegen ſein eig¬
nes einzelnes Glück zufrieden ab, ſeine Rolle war
ausgeſpielt. Andere fiengen an auf öffentlichen
Promenaden zu paradiren, zu ſpielen und zu lie¬
beln und wurden nach und nach kalt und beynahe
ganz Geiſtlos. Mehrere rief der Sommer in ihre
Heimath zurück. Aller Ernſt war verwittert, und
Friedrich ſtand faſt allein. Mehr jedoch als dieſe
Treuloſigkeit Einzelner, auf die er doch nie gebaut,
kränkte ihn die allgemeine Willenloſigkeit, von
der er ſich immer deutlicher überzeugen mußte. So
bemerkte er, unter vielen anderen Zeichen der Zeit,
oft an Einem Abend und in Einer Geſellſchaft zwey
Arten von Religionsnarren. Die einen prahlten
da, daß ſie das ganze Jahr nicht in die Kirche
giengen, verſpotteten freygeiſteriſch alles Heilige und
hiengen auf alle Weiſe, die, Gott ſey Dank, be¬
reits abgenutzte und ſchäbigte Paradedecke der Auf¬
klärung aus. Aber es war nicht wahr, denn ſie
ſchlichen heimlich vor Tagesanbruch, wenn der Kü¬
ſter aufſchloß, zum Hinterpförtchen in die Kirchen
hinein und betheten fleiſſig. Die anderen fielen da¬
gegen gar waidlich über dieſe her, verfochten die
Religion und begeiſterten ſich durch ihre eignen
ſchönen Redensarten. Aber es war auch nicht
wahr, denn ſie giengen in keine Kirche und glaub¬
ten heimlich ſelber nicht, was ſie ſagten. Das war
es, was Friedrich'n empörte, die überhandnehmen¬
[296] de Desorganiſation grade unter den Beſſeren, daß
niemand mehr wußte, wo er iſt, die landesübliche
Abgötterey unmoraliſcher Exaltation, die eine allge¬
meine Auflöſung nach ſich führen mußte.


Um dieſe Zeit erhielt Friedrich nach ſo vielen
Monathen unerwartet einen Brief von dem Guthe
des Herrn v. A. An den langen Drudenfüßen ſo¬
wohl, als an dem faſt komiſch falſch geſetzten Titel
erkannte er ſogleich den halbvergeſſenen Viktor. Er
erbrach ſchnell und voll Freude das Siegel. Der
Brief war folgenden Inhalts:


„Es wird uns alle ſehr freuen, wenn wir
hören, daß Sie und der Herr Graf Leontin
ſich wohl befinden, wir ſind hier alle, Gott
ſey Dank, geſund. Als Sie beyde weggereist
ſind, war's hier ſo ſtill, als wenn ein Kriegs¬
lager aufgebrochen wäre und die Felder nun
einſam und verlaſſen ſtünden, im ganzen Schloſ¬
ſe ſieht's aus, wie in einer alten Rumpelkam¬
mer. Ich mußte Anfangs an den langen Aben¬
den auf dem Schloſſe aus dem Abraham a St.
Klara vorleſen. Aber es gieng gar nicht recht.
Der Herr v. A. ſagte: Ja, wenn der Leontin
dabey wäre! Die gnädige Frau ſagte: es wä¬
re doch alles gar zu dummes Gewäſch durch¬
einander, und Fräulein Julie dachte Gott weiß
an was, und paßte gar nicht auf. Es iſt gar
nichts mehr auf der Welt anzufangen. Ich
kann das verdammte traurige Weſen nicht lei¬
den! Ich bin daher ſchon über einen Monath
[297] weder auf's Schloß noch ſonſt wohin ausgekom¬
men. Sie ſind doch recht glücklich! Sie ſehen
immer neue Gegenden und neue Menſchen.
Ich weiß die vier Wände in meiner Kammer
ſchon auswendig. Ich habe meine zwey klei¬
nen Fenſter mit Stroh verhangen, denn der
Wind bläſt ſchon infam kalt durch die Löcher
herein, auch alle meine Wanduhren habe ich
ablaufen laſſen, denn daß ewige Picken möcht'
einen toll machen, wenn man ſo allein iſt.
Ich denke mir dann gar oft, wie Sie jetzt auf
einem Balle mit ſchönen, vornehmen Damen
tanzen oder weit von hier am Rheine fahren
und reiten, und rauche Tabak, daß das Licht
auf dem Tiſche oft ausliſcht. Geſtern hat es zum
erſtenmale den ganzen Tag wie aus einem Sa¬
cke geſchneyt. Das iſt meine größte Luſt. Ich
gieng noch ſpät Abends, in Mantel gehüllt,
auf den Berg hinaus, wo wir immer Nach¬
mittags im Sommer zuſammen gelegen haben.
Das Rauchthal und die ganze ſchöne Gegend
war verſchneyt und ſah kurios aus. Es ſchney¬
te immerfort tapfer zu. Ich tanzte, um mich zu
erwärmen, über eine Stunde in dem Schneege¬
ſtöber herum.“


„Dieß hab' ich ſchon vor einigen Mona¬
then geſchrieben. Gleich nach jener Nacht, da
ich drauſſen getanzt, verfiel ich in eine lang¬
wierige Krankheit. Alle Leute fürchteten ſich
vor mir, weil es ein hitziges Fieber war, und
[298] ich hatte wie ein Hund umkommen müſſen; aber
Fräulein Julie beſuchte mich alle Tage und ſorg¬
te für Medizin und alles, wofür ſie Gott be¬
lohnen wird. Ich wußte nichts von mir. Sie
ſagt mir aber, ich hätte immerfort von Ihnen
beyden phantaſiert und oft auch gar in Reimen
geſprochen. Ich muß mir, das Zeug durch die
Erkältung zugezogen haben. — Jetzt bin ich,
Gott ſey Dank, wieder hergeſtellt und mache
wieder fleißig Uhren. — Neues weiß ich weiter
nichte, als daß ſeit mehreren Wochen ein frem¬
der Kavalier, der in der Nachbarſchaft große
Herrſchaften gekauft, zu uns auf das Schloß
kommt. Er ſoll viele Sprachen kennen und, ſehr
gelehrt und bereist ſeyn und will unſer Fräu¬
lein Julie haben. Die gnädige Frau möchte es
gern ſehen, aber dem Fräulein gefällt er gar
nicht. Wenn ſie Nachmittags oben im Garten
beym Luſthauſe ſitzt und ihn von weitem unten
um die Ecke heran reiten ſieht, klettert ſie ge¬
ſchwinde über den Gartenzaun und kommt zu
mir. Was will ich thun? Ich muß ſie in mei¬
ner Kammer einſperren und gehe unterdeß
ſpazieren. Neulich, als ich ſchon ziemlich ſpät
wieder zurückkam und meine Thüre aufſchloß,
fand ich ſie ganz blaß und am ganzen Leibe
zitternd. Sie war noch völlig athemlos vor
Schreck und fragte mich ſchnell, ob ich Ihn
nicht geſehen? Dann erzählte ſie mir: Als es
angefangen finſter zu werden, habe ſie auf
[299] meinem Bett in Gedanken geſeſſen, da habe
auf einmal etwas an das Fenſter geklopft.
Sie hätte den Athem eingehalten und unbeweg¬
lich geſeſſen, da wäre plötzlich das Fenſter
aufgegangen und Ihr leibhaftiger Page, der
Erwin, habe mit todtenblaſſem Geſicht und ver¬
wirrten Haaren in die Stube hineingeguckt.
Als er ſich überall umgeſehen, und ſie auf dem
Bette erblickt, habe er ihr mit dem Finger ge¬
droht und ſey wieder verſchwunden. Ich ſagte
ihr, ſie ſollte ſich ſolches dummes Zeug nicht
in den Kopf ſetzen. Sie aber hat es ſich ſehr
zu Herzen genommen, und iſt ſeitdem etwas
traurig. Die Tante ſoll nichts davon wiſſen.
Was giebt's denn mit dem guten Jungen, iſt
er nicht mehr bey Ihnen? — So eben wie ich
dieß ſchreibe, ſieht Fräulein Julie drüben
über'n Gartenzaun. — Wie ich ſagte, daß ich
an Sie ſchriebe, kam ſie ſchnell aus dem Gar¬
ten zu mir herüber und ich mußte ihr eine Fe¬
der ſchneiden; ſie wollte ſelber etwas dazu¬
ſchreiben. Dann wollte ſie wieder nicht und
lief davon. Sie ſagte mir, ich ſoll Sie von
ihr grüßen und bitten, Sie möchten auch den
Herrn Grafen Leontin von ihr grüßen, wenn
er bey Ihnen wäre. Kommen Sie beyde doch
bald wieder einmal zu uns! Es iſt jetzt wie¬
der ſehr ſchön im Garten und auf den Feldern.
Ich gehe wieder, wie damals, alle Morgen
vor Tagesanbruch auf den Berg, wo Sie und
[300] Leontin mich immer auf meinem Sitze beſucht
haben. Die Sonne geht grade in der Gegend
auf, wo Sie mir immer an den ſchwülen Nach¬
mittagen beſchrieben haben, daß die Reſidenz
liegt und der Rhein geht. Ich rufe dann mein
Hurrah und werfe meinen Hut und Pfeiffe
hoch in die Luft.“


P. S. Die niedliche Braut, auf die Sie
ſich vielleicht noch von dem Tanze auf dem
Jagdschloſſe erinnern, beſucht uns jetzt oft und
empfiehlt ſich. Sie leben recht gut in ihrer
Wildniß, ſie hat ſchon ein Kind und iſt noch
ſchöner geworden und ſehr luſtig. Adieu!“


Friedrich legte das Papier ſtillſchweigend zu¬
ſammen. Ihn befiel eine unbeſchreibliche Wehmuth
bey der lebhaften Erinnerung an jene Zeiten.
Er dachte ſich, wie ſie alle dort noch immer wie
damals, ſeit hundert Jahren und immerfort, zwi¬
ſchen ihren Bergen und Wäldern friedlich wohnen,
im ewiggleichen Wechſel einförmiger Tage friſch und
arbeitſam Gott loben und glücklich ſind und nichts
wiſſen von der anderen Welt, die ſeitdem mit tau¬
ſend Freuden und Schmerzen durch ſeine Seele ge¬
gangen. Warum konnte er, und, wie er wohl be¬
merkte, auch Viktor nicht eben ſo glücklich und ru¬
hig ſeyn? —


Dabey hatte ihn die Nachricht von Erwins un¬
erklärlicher, flüchtiger Erſcheinung heftig bewegt.
Er gieng ſogleich mit dem Briefe zu Leontin. Aber
[301] er fand weder ihn noch Fabern zu Hauſe. Er ſah
durch das offene Fenſter, der reine Himmel lag blau
und unbegränzt über den fernen Dächern und Kup¬
peln bis in die neblige Weite. Er konnt' es nicht
aushalten; er nahm Hut und Stock und wanderte
durch die Vorſtädte ins Freye hinaus. Unzählige
Lerchen ſchwirrten hoch in der warmen Luft, die
neugeſchmückte Frühlingsbühne ſah ihn wie eine alte
Geliebte an, als wollte ihn alles fragen: Wo biſt
du ſo lange geweſen? Haſt du uns vergeſſen? —
Ihm war ſo wohl zum Weinen. Da blies neben
ihm ein Poſtillon luſtig auf dem Horne. Eine
ſchöne Reiſekutſche mit einem Herrn und einem jun¬
gen Frauenzimmer fuhr ſchnell an ihm vorüber.
Das Frauenzimmer ſah lachend aus dem Wagen nach
ihm zurück. Er täuſchte ſich nicht, es war Marie.
Verwundert ſah Friedrich dem Wagen nach, bis er
weit in der heiteren Luft verſchwunden war. Die
Straße gieng nach Italien hinunter.


Da es ſich zum Abend neigte, wandte er ſich
wieder heimwärts. In den Vorſtädten war überall
ein ſommerabendliches Leben und Weben, wie in
den kleinen Landſtädtchen. Die Kinder ſpielten mit
wirrendem Geſchrey vor den Häuſern, junge Bur¬
ſche und Mädchen giengen ſpazieren, der Abend
wehte von drauſſen fröhlich durch alle Gaſſen. Da
bemerkte Friedrich ſeitwärts eine alte abgelegene
Kirche, die er ſonſt noch niemals geſehen hatte. Er
fand ſie offen und gieng hinein.

[302]

Es ſchauderte ihn, wie er aus der warmen,
fröhlichbunten Wirrung ſo auf einmal in dieſe ewig¬
ſtille Kühle hineintrat. Es war alles leer und
dunkel drinnen, nur die ewige Lampe brannte wie
ein farbiger Stern in der Mitte vor dem Hochal¬
tare; die Abendſonne ſchimmerte durch die gemahl¬
ten gothiſchen Fenſter. Er kniete in eine Bank hin.
Bald darauf bemerkte er in einem Winkel eine
weibliche Geſtalt, die vor einem Seitenaltare, im
Gebeth verſunken, auf den Knieen lag. Sie erhob
ſich nach einer Weile und ſah ihn an. Da kam es
ihm vor, als wäre es das Bürgermädchen, die un¬
glückliche Geliebte des Prinzen. Doch konnte er
ſich gar nicht recht in die Geſtalt finden; ſie ſchien
ihm weit größer und ganz verändert ſeitdem. Sie
war ganz weiß angezogen und ſah ſehr blaß und
ſeltſam. Sie ſchien weder erfreut noch verwundert
über ſeinen Anblick, ſondern gieng, ohne ein Wort
zu ſprechen, tief in einen dunklen Seitengang hin¬
ein auf den Ausgang der Kirche zu. Friedrich gieng
ihr nach, er wollte mit ihr ſprechen. Aber drauſ¬
ſen fuhren und giengen die Menſchen bunt durchein¬
ander, und er hatte ſie verlohren.


Als er nach Hauſe kam, fand er den Prinzen
bey ſich, der, den Kopf in die Hand geſtützt, am
Fenſter ſaß und ihn erwartete. Mein hohes Mäd¬
chen iſt todt! rief er aufſpringend, als Friedrich
hereintrat. Friedrich fuhr zuſammen: Wann iſt ſie
geſtorben? — Vorgeſtern. — Friedrich ſtand in tie¬
fen Gedanken und hörte kaum, wie der Prinz er¬
[303] zählte, was er von der alten Mutter der Verſchie¬
denen gehört: wie das Mädchen anfangs nach der
Ohnmacht in allen Kirchen herumgezogen und Gott
innbrünſtig gebeten, daß Er ſie doch noch einmal
glücklich in der Welt machen möchte. — Nach und
nach aber fieng ſie an zu kränkeln und wurde me¬
lankoliſch. Sie ſprach ſehr zuverſichtlich, daß ſie
bald ſterben würde, und von einer großen Sünde,
die ſie abzubüßen hätte, und fragte die Mutter oft
ängſtlich, ob ſie denn noch in den Himmel kommen
könnte? Den Prinzen wollte ſie noch immer nicht
wiederſehen. Die letzten Tage vor ihrem Tode wur¬
de ſie merklich beſſer und heiter. Noch den letzten
Tag kam ſie ſehr fröhlich nach Hauſe und ſagte mit
leuchtenden Augen, ſie habe den Prinzen wiederge¬
ſehen; er ſey, ohne ſie zu bemerken, an ihr vor¬
beygeritten. Den Abend darauf ſtarb ſie. — Der
Prinz zog hiebey ein Papier heraus und las Frie¬
drich'n ein Todtenopfer vor, welches er heute in ei¬
ner Reihe von Sonetten auf den Tod des Mäd¬
chens gedichtet hatte. Die erſten Sonetten enthielten
eine wunderfeine Beſchreibung, wie der Prinz das
Mädchen verführt. Friedrich'n graute, wie ſchön
ſich da die Sünde ausnahm. Das letzte Sonett
ſchloß:


Einſiedler will ich ſeyn und einſam ſtehen,

Nicht klagen, weinen, ſondern büßend beten,

Du bitt' für mich dort, daß ich beſſer werde!
Nur einmal, ſchönes Bild, laß Dich mir ſehen,

Nachts, wenn all' Bilder weit zurücketreten,

Und nimm' mich mit Dir von der dunklen Erde!“
[304]

Wie gefällt Ihnen das Gedicht? — Geh'n Sie
in jene Kirche, die dort ſo dunkel herſieht, ſagte
Friedrich erſchüttert, und wenn der Teufel mit
meinen geſunden Augen nicht ſein Spiel treibt, ſo
werden Sie Sie dort wiederſehen. — Dort iſt ſie
begraben, antwortete der Prinz und wurde blaß und
immer bläſſer, als ihm Friedrich erzählte, was ihm
begegnet. Warum fürchten Sie ſich? ſagte Friedrich
haſtig, denn ihm war, als ſähe ihn das ſtille weiße
Bild wie in der Kirche wieder an, wenn Sie den
Muth hatten, das hinzuſchreiben, warum erſchrecken
Sie, wenn es auf einmal Ernſt wird und die Wor¬
te ſich rühren und lebendig werden? Ich möchte
nicht dichten, wenn es nur Spaß wäre, denn wo
dürfen wir jetzt noch redlich und wahrhaft ſeyn,
wenn es nicht im Gedichte iſt? Haben Sie den
rechten Muth, beſſer zu werden, ſo geh'n Sie in die
Kirche und bitten Sie Gott inbrünſtig um ſeine
Kraft und Gnade. Iſt aber das Beten und alle
unſere ſchönen Gedanken um des Reimes Willen
auf dem Papiere, ſo hol' der Teufel auf ewig den
Reim ſammt den Gedanken! —


Hier fiel der Prinz Friedrich'n ungeſtümm um
den Hals. Ich bin durch und durch ſchlecht, rief
er, Sie wiſſen gar nicht und niemand weiß es, wie
ſchlecht ich bin! Die Gräfin Romana hat mich zu¬
erſt verdorben vor langer Zeit, das verſtorbene
Mädchen habe ich ſehr künſtlich verführt, der da¬
mals in der Nacht zu Marien bey Ihnen vorbey¬
ſchlich,[305] ſchlich, das war ich, der auf jener Redoute — hier
hielt er inne. — Betrügeriſch, verbuhlt, falſch und
erbärmlich bin ich ganz, fuhr er weiter fort. Der
Mäßigung, der Gerechtigkeit, der großen, ſchönen
Entwürfe und was wir da zuſammen beſchloſſen,
geſchrieben und beſprochen, dem bin ich nicht ge¬
wachſen, ſondern im Innerſten voller Neid, daß
ich's nicht bin. Es war mir nie Ernſt damit und
mit nichts in der Welt. — Ach, daß Gott ſich mei¬
ner erbarme! — Hiebey zerriß er ſein Gedicht in
kleine Stückchen wie ein Kind, und weinte faſt.
Friedrich, wie aus den Wolken gefallen, ſprach kein
einziges Wort der Liebe und Tröſtung, ſondern,
die Bruſt voll Schmerzen und kalt wandte er ſich
zum offenen Fenſter von dem gefallenen Fürſten,
der nicht einmal ein Mann ſeyn konnte.

Siebenzehntes Kapitel.

Roſa ſaß frühmorgens am Putztiſche und er¬
zählte ihrem Kammermädchen folgenden Traum, den
ſie heut Nacht gehabt: Ich ſtand zu Hauſe in mei¬
ner Heymath im Garten. Der Garten war noch
ganz ſo, wie er ehedem geweſen, ich erinnere mich
wohl, mit allen den Alleen, Gängen und Figuren
aus Buxbaum. Ich ſelber war klein wie damals,
20[306] da ich als Kind in dem Garten geſpielt. Ich ver¬
wunderte mich ſehr darüber, und mußte auch wie¬
der lachen, wenn ich mich ſo anſah, und fürchtete
mich vor den ſeltſamen Baumfiguren. Dabey war
es mir, als wäre mein vergangenes Leben, und,
daß ich ſchon einmal groß geweſen, nur ein Traum.
Ich ſang immerfort ein altes Lied, das ich damals
als Kind alle Tage geſungen, und ſeitdem wieder
vergeſſen habe. Es iſt doch ſeltſam, wie ich es in
der Nacht ganz auswendig wußte! Ich habe heut
ſchon viel nachgeſonnen, aber es fällt mir nicht
wieder ein. Meine Mutter lebte auch noch. Sie
ſtand ſeitwärts vom Garten an einem Teiche. Ich
rief ihr zu, Sie ſollte herüberkommen. Aber ſie
antwortete mir nicht, ſondern ſtand ſtill und unbe¬
weglich, vom Kopf bis zu den Füßen in ein langes,
weißes Tuch gehüllt. Da trat auf einmal Graf
Friedrich zu mir. Es war mir, als ſähe ich ihn
zum erſtenmale, und doch war er mir wie längſt
bekannt. Wir waren wieder gute Freunde wie ſonſt
— ich habe ihn niemals ſo gut und freundlich geſe¬
hen. Ein ſchöner Vogel ſaß mitten im Garten auf
einer hohen Blume und ſang, daß es mir durch die
Seele gieng, meinen Bruder ſah ich unten über das
glänzende Land reiten, er hatte die kleine Marie
vor ſich auf dein Roß, die eine Zymbel hoch in die
Luft hielt, die Sonne ſchien prächtig. Reiſen wir
nach Italien! ſagte da Friedrich zu mir. — Ich
folgte ihm gleich und wir giengen ſehr ſchnell durch
viele ſchöne Gegenden immer nebeneinander fort.
[307] So oft ich mich rückwärts umſah, ſah ich hinten
nichts als ein gränzenloſes Abendroth und in dem
Abendroth meiner Mutter Bild, die unterdeß ſehr
groß geworden war, in der Ferne wie eine Statue
ſtehen, immerfort ſo ſtill nach uns zugewendet, daß
ich vor Grauen davon wegſehen mußte. Es war
unterdeß Nacht geworden und ich ſah vor uns un¬
zählige Schlöſſer auf den Bergen brennen. Jenſeits
wanderten in dem Scheine, der von den brennenden
Schlöſſern kam, viele Leute mit Weib und Kindern
wie Vertriebene, ſie waren alle in ſeltſamer, uralter
Tracht; es kam mir vor, als ſäh' ich auch meinen
Vater und meine Mutter unter ihnen, und mir
war unbeſchreiblich bange. Wie wir ſo fortgien¬
gen, ſchien es mir, als würde Friedrich ſelbſt nach
und nach immer größer und größer. Er war ſtill
und ſeine Mienen veränderten ſich ſeltſam, ſo daß
ich mich vor ihm fürchtete. Er hatte ein langes,
blankes Schwert in der Hand, mit dem er vor uns
her den Weg aushaute; ſo oft er es ſchwang, warf
es einen weitblitzenden Schein über den Himmel
und über die Gegend unten. Vor ihm gieng ſein
langer Schatten, wie ein Rieſe, weit über alle
Thäler geſtreckt. Die Gegend wurde indeß immer
ſeltſamer und wilder, wir giengen zwiſchen himmel¬
hohen, zackigen Gebirgen. Wenn wir an einen
Strom kamen, giengen wir auf unſeren eigenen
Schatten, wie auf einer Brücke, darüber. Wir ka¬
men ſo auf eine weite Haide, wo ungeheuere Stei¬
20 *[308] ne zerſtreut umherlagen. Mich befiel eine niegefühl¬
te Angſt, denn je mehr ich die zerſtreuten Steine
betrachtete, je mehr kamen ſie mir wie eingeſchlafe¬
ne Männer vor. Die Gegend lag unbeſchreiblich
hoch die Luft war kalt und ſcharf. Da ſagte Frie¬
drich: Wir ſind zu Hauſe! Ich ſah ihn erſchrocken
an und erkannte ihn nicht wieder, er war völlig ge¬
harniſcht, wie ein Ritter. Sonderbar! es hieng
ein altes Ritterbild ſonſt in einem Zimmer unſeres
Schloſſes, vor dem ich oft als Kind geſtanden. Ich
hatte längſt alle Züge davon vergeſſen, und grade
ſo ſah jetzt Friedrich auf einmal aus. — Ich fror
entſetzlich. Da gieng die Sonne plötzlich auf und
Friedrich nahm mich in beyde Arme und preßte mich
ſo feſt an ſeine Bruſt, daß ich vor Schmerz mit ei¬
nem lauten Schrey erwachte. —


Glaubſt du an Träume? ſagte Roſa nach einer
Weile in Gedanken zu dem Kammermädchen. Das
Mädchen antwortete nicht. Wo mag nun wohl
Marie ſeyn, die ärmſte? ſagte Roſa unruhig wie¬
der. — Dann ſtand ſie auf und trat ans Fenſter.
Es war ein Gartenhaus der Gräfin Romana, das
ſie bewohnte; der Morgen blitzte unten über den
kühlen Garten, weiterhin überſah man die Stadt
mit ihren duftigen Kuppeln, die Luft war friſch und
klar. Da warf ſie plötzlich alle Schminkbüchschen,
die auf dem Fenſter ſtanden, heimlich hinaus und
zwang ſich, zu lächeln, als es das Mädchen be¬
merkte. —

[309]

Denſelben Tag Abends erhielt ſie einen Brief
von Romana, die wieder ſeit einiger Zeit auf einem
ihrer entfernteſten Landgüther im Gebirge ſich auf¬
hielt. Es war eine ſehr dringende Einladung zu ei¬
ner Gemſenjagd, die in wenigen Tagen dort gehal¬
ten werden ſollte. Der Brief beſtand nur in eini¬
gen Zeilen und war auffallend verwirrt und ſelt¬
ſam geſchrieben, ſelbſt Züge ſchienen verändert
und hatten etwas Fremdes und Verwildertes.
Ganz unten ſtand noch: „Letzthin, als Du auf dem
Balle beym Miniſter warſt, war Friedrich unbe¬
merkt auch dort und hat Dich geſehen.“ —


Roſa verſank über dieſer Stelle tief in Gedan¬
ken. Sie erinnerte ſich aller Umſtände jenes Abends
auf einmal ſehr deutlich, wie ſie Friedrich'n ver¬
ſprochen hatte, ihn zu Hauſe zu erwarten, und
wie er ſeitdem nicht wieder bey ihr geweſen. Ein
Schmerz, wie ſie ihn noch nie gefühlt, durchdrang
ihre Seele. Sie gieng unruhig im Zimmer auf und
ab. Sie konnte es endlich nicht länger aushalten,
ſie wollte alle Mädchenſcheu abwerfen, ſie wollte
Friedrich'n, auf welche Art es immer ſey, noch
heute ſeh'n und ſprechen. Sie war eben allein,
drauſſen war es ſchon finſter. Mehreremal nahm ſie
ihren Mantel um, und legte ihn zaudernd wieder
hin. Endlich faßte ſie ein Herz, ſchlich unbemerkt
aus dem Hauſe und über die dunklen Gaſſen fort zu
Friedrichs Wohnung. Athemlos und mit klopfendem
Herzen flog ſie die Stiegen hinauf, um, ſo ganz ſein
und um alle Welt nichts fragend, an ſeine Bruſt
[310] zu fallen. Aber das Unglück wollte, daß er eben
nicht zu Hauſe war. Da ſtand ſie im Vorhaus und
weinte bitterlich. Mehrere Thüren giengen indeß
im Hauſe auf und zu, Bediente eilten hin und her
über die Gänge. Sie konnte nicht länger weilen,
ohne verrathen zu werden.


Die Furcht, ſo allein und zu dieſer Zeit auf
der Gaſſe erkannt zu werden, trieb ſie ſchnell durch
die Gaſſen zurück, das Geſicht tief in den ſeidenen
Mantel gehüllt. Aber das Geſchick war in ſeiner
teufliſchen Laune. Als ſie eben um eine Ecke bog,
ſtand der Prinz plötzlich vor ihr. Eine Laterne
ſchien ihr grade ins Geſicht, er hatte ſie erkannt.
Ohne irgend ein Erſtaunen zu äuſſern, bot er ihr
den Arm, um ſie nach Hauſe zu begleiten. Sie
ſagte nichts, ſondern hieng kraftlos und vernichtet
vor Schaam an ſeinem Arm. Er wunderte ſich
nicht, er lächelte nicht, er fragte um nichts, ſon¬
dern ſprach artig von gewöhnlichen Dingen. — Als
ſie an ihr Haus kamen, bat er ſie ſcherzend um ei¬
nen Kuß. Sie willigte verwirrt ein, er umſchlang
ſie heftig und küßte ſie zum erſtenmal. Eine lange
Geſtalt ſtand indeß unbemerkt gegenüber an der
Mauer und kam plötzlich auf den Prinzen los. Der
Prinz, der ſich nichts Gutes verſah, ſprang ſchnell
in ein Nebenhaus und ſchloß die Thüre hinter ſich
zu. Es war Friedrich, den der Zufall eben hier
vorbeygeführt hatte. Sie hatten beyde einander
nicht erkannt. Er ſaß noch die halbe Nacht dort
auf der Schwelle des Hauſes und lauerte auf den
[311] unbekannten Gaſt. Die wildeſten Gedanken, wie
er ſie ſein Lebelang nicht gehabt, durchkreuzten ſei¬
ne Seele. Aber der Prinz kam nicht wieder her¬
aus. — Roſa hatte von der ganzen letzten Bege¬
benheit nichts mehr geſehen. — Der Prinz hatte ſie
überraſcht. Noch niemals war er ihr ſo beſcheiden,
ſo gut, ſo ſchön und liebenswürdig vorgekommen,
und ſein Kuß brannte die ganze Nacht verführeriſch
auf ihren ſchönen Lippen fort.


Es war ein herrlicher Morgen, als Friedrich
und Leontin in den ewigen Zwinger der Alpen ein¬
ritten, wohin auch ſie von der Gräfin Romana zur
Jagd geladen waren. Als ſie um die letzte Ber¬
gesecke herumkamen, fanden ſie ſchon die Geſellſchaft
auf einer ſchönen Wieſe zwiſchen grünen Bergen
bunt und ſchallend zerſtreut. Einzelne Gruppen von
Pferden und gekoppelten Hunden ſtanden rings in
der ſchönen Wildniß umher, im Hintergrunde erhob
ſich luſtig ein farbiges Zelt. Mitten auf der glän¬
zenden Wieſe ſtand die zauberiſche Romana in einer
grünen Jagdkleidung, ſehr geſchmückt, faſt phanta¬
ſtiſch, wie eine Waldfee anzuſeh'n. Neben ihr auf
ihre Achſel gelehnt ſtand Roſa in männlichen Jä¬
gerkleidern und verſteckte ihr Geſicht an der Gräfin,
da der Prinz eben zu ihr ſprach, als ſie Friedrich'n
mit ihrem Bruder von der anderen Seite ankommen
ſah. Von allen Seiten vom Gebirge herab blieſen
die Jäger auf ihren Hörnern, als bewillkommten
ſie die beyden neuangekommenen Gäſte. Friedrich
hatte Roſa'n noch nie in dieſer Verkleidung geſehen
[312] und betrachtete lange ernſthaft das wunderſchöne
Mädchen.


Romana kam auf die beyden los und empfieng
ſie mit einer auffallenden Heftigkeit. Nun entlud
ſich auch das Zelt auf einmal eines ganzen Haufens
von Gäſten und Leontin war in dem Gewirre gar
bald in ſeine launigſte Ausgelaſſenheit hineingeär¬
gert, und ſpielte in kecken, barocken Worten, die
ihm wie von den hellen Schneehäuptern der Alpen
zuzufliegen ſchienen, mit dieſem Jagdgeſindel, das
Ein einziger Auerochs verjagt hätte. Auch hier
war die innerliche Antipathie zwiſchen ihm und dem
Prinzen bemerkbar. Der Prinz wurde ſtill und
vermied ihn, wo er konnte, wie ein Feuer, das
überall mit ſeinen Flammenſpitzen nach ihm griff
und ihn im Innerſten verſengte. Nur Romana war
heute auf keine Weiſe aus dem Felde zu ſchlagen,
ſie ſchien ſich vielmehr an ſeiner eignen Weiſe nur
immer mehr zu berauſchen. Er konnte ſich, wie
immer, wenn er ſie ſah, nicht enthalten, mit zwey¬
deutigen Witzen und Wortſpielen ihre innerſte Na¬
tur herauszukitzeln, und ſie hielt ihm heute tapfer
Stich, ſo daß Roſa mehreremal roth wurde und
endlich fortgeh'n mußte. Gott ſegne uns alle,
ſagte er zuletzt zu einem vornehmen Männlein, das
eben ſehr komiſch bey ihm ſtand, daß wir heute
dort oben an einem ſchmalen Felſenabhange nicht
etwa einem von unſeren Ahnherren begegnen, denn
die verſteh'n keinen Spaß, und wir ſind ſchwindli¬
che Leute. —

[313]

Hier wurde er durch das Jagdgeſchrey unter¬
brochen, das nun plötzlich von allen Seiten los¬
brach. Die Hörner forderten wie zum Kriege, die
Hunde wurden losgelaſſen und alles griff nach den
Gewehren. Leontin war bey dem erſten Signal
mitten in ſeiner Rede fortgeſprungen, er war der
erſte unter dem Haufen der anführenden Jäger.
Mit einer ſchwindelerregenden Kühnheit ſah man
ihn ſich, an die Sträucher haltend, geſchickt von Fels
zu Fels über die Abgründe immer höher hinauf¬
ſchwingen; er hatte bald alle Jäger weit unter ſich
und verſchwand in der Wildniß. Mehrere von der
Geſellſchaft ſchrieen dabey ängſtlich auf. Romana
ſah ihm furchtlos mit unverwandten Blicken nach;
wie ſind die Männer beneidenswerth! ſagte ſie, als
er ſich verlohren hatte.


Die Geſellſchaft hatte ſich unterdeß nach allen
Richtungen hin zerſtreut und die Jagd gieng wie
ein Krieg durch das Gebirge. In tiefſter Abge¬
ſchiedenheit, wo Bäche in hellen Bogen von den
Höhen ſprangen, ſah man die Gemſen ſchwindlich
von Spitze zu Spitze hüpfen, einſame Jäger da¬
zwiſchen auf den Klippen erſcheinen und wieder ver¬
ſchwinden, einzelne Schüße fielen hin und her, das
Hüfthorn verkündigte von Zeit zu Zeit den Tod
eines jeden Thieres. Da ſah Friedrich auf einem
einſamen Fleck nach mehreren Stunden ſeinen Leon¬
tin waghalſig auf der höchſten von allen den Fel¬
ſenſpitzen ſtehen, daß das Auge den Anblick kaum
ertragen konnte. Er erblickte Friedrich'n und rief
[314] zu ihm hinab: Das Pack da unten iſt mir uner¬
träglich; wie ſie hinter mir drein quickerten, als
ich vorher hinaufſtieg! Ich bleibe in den Bergen
oben, lebe wohl, Bruder! Hierauf wandte er ſich
wieder weiter und kam nicht mehr zum Vorſchein.


Der Abend rückte heran, in den Thälern wur¬
de es ſchon dunkel. Die Jagd ſchien geendigt, nur
einzelne kühne Schützen ſah man noch hin und wieder
an den Klippen hängen, von den letzten Wider¬
ſcheinen der Abendſonne ſcharf beleuchtet. Friedrich
ſtand eben in höchſter Einſamkeit an ſeine Flinte ge¬
lehnt, als er in einiger Entfernung im Walde ſin¬
gen hörte:


Dämm'rung will die Flügel ſpreiten,

Schaurig rühren ſich die Bäume,

Wolken zieh'n wie ſchwere Träume —

Was will dieſes Grau'n bedeuten?
Haſt ein Reh Du, lieb vor andern,

Laß es nicht alleine graſen,

Jäger zieh'n im Wald' und blaſen,

Stimmen hin und wieder wandern.
Haſt Du einen Freund hienieden,

Trau' ihm nicht zu dieſer Stunde,

Freundlich wohl mit Aug' und Munde,

Sinnt er Krieg im tück'ſchen Frieden.
Was heut müde gehet unter,

Hebt ſich morgen neugebohren.

Manches bleibt in Nacht verlohren —

Hüte Dich, bleib' wach und munter!
[315]

Es wurde wieder ſtill. Friedrich erſchrack, denn
es kam ihm nicht anders vor, als ſey er ſelber mit
dem Liede gemeynt. Die Stimme war ihm durch¬
aus unbekannt. Er eilte auf den Ort zu, woher der
Geſang gekommen war, aber kein Laut ließ ſich
weiter vernehmen.


Als er eben ſo um eine Felſenecke bog, ſtand
plötzlich Roſa in ihrer Jägertracht vor ihm. Sie
konnte der Sänger nicht geweſen ſeyn, denn der
Geſang hatte ſich nach einer ganz anderen Richtung
hin verlohren. Sie ſchien heftig erſchrocken über
den unerwarteten Anblick Friedrichs. Hochroth im
Geſicht, ängſtlich und verwirrt, wandte ſie ſich
ſchnell und ſprang wie ein aufgeſcheuchtes Reh,
ohne der Gefahr zu achten, von Klippe zu Klippe
die Höhe hinab, bis ſie ſich unten im Walde ver¬
lohr. Friedrich ſah ihr lange verwundert nach.
Später ſtieg auch er in's Thal hinab.


Dort fand er die Geſellſchaft auf der ſchönen
Wieſe ſchon größtentheils verſammelt. Das Zelt in
der Mitte derſelben ſchien von den vielen Lichtern
wie in farbigen Flammen zu ſteh'n, eine Tafel mit
Wein und allerhand Erfriſchungen ſchimmerte lü¬
ſternlockend zwiſchen den buntgewirkten Teppichen
hervor, Männer und Frauen waren in freyen
Scherzen ringsumher gelagert. Die vielen wan¬
delnden Windlichter der Jäger, deren Scheine an
den Felſenwänden und dem Walde auf und nieder
ſchweiften, gewährten einen zauberiſchen Anblick.
Mitten unter den Fröhlichgelagerten und den magi¬
[316] ſchen Lichtern gieng Romana für ſich allein, eine
Guitarre im Arme, auf der Wieſe auf und ab.
Friedrich glaubte eine auffallende Spannung in
ihrem Geſichte und ganzem Weſen zu bemerken.
Sie ſang:


In goldner Morgenſtunde,

Weil alles freudig ſtand,

Da ritt im heitern Grunde

Ein Ritter über Land.
Rings ſangen auf das Beſte

Die Vöglein mannigfalt,

Es ſchüttelte die Aeſte,

Vor Luſt der grüne Wald.
Den Nacken ſtolz gebogen,

Klopft er dem Rößelein —

So iſt er hingezogen

Tief in den Wald hinein.
Sein Roß hat er getrieben,

Ihn trieb der friſche Muth:

„Iſt alles fern geblieben,

So iſt mir wohl und gut!“

Sie gieng während dem Liede immerfort unru¬
hig auf und ab und ſah mehreremal ſeitwärts in
den Wald hinein, als erwartete ſie jemanden.
Auch ſprach ſie einmal heimlich mit einem Jäger,
worauf dieſer ſogleich forteilte. Friedrich glaubte
manchmal eine plötzliche, aber eben ſo ſchnell wie¬
der verſchwindende Aehnlichkeit ihres Geſanges mit
jener Stimme auf dem Berge zu bemerken, da ſie
wieder weiter ſang:


[317]
Mit Freuden mußt' er ſehen

Im Wald' ein' grüne Au,

Wo Brünnlein kühle gehen,

Von Blumen roth und blau.
Vom Roß iſt er geſprungen,

Legt ſich zum kühlen Bach,

Die Wellen lieblich klungen,

Das ganze Herz zog nach.
So grüne war der Raſen,

Es rauſchte Bach und Baum,

Sein Roß thät ſtille graſen

Und alles wie ein Traum.
Die Wolken ſah er gehen,

Die ſchifften immerzu,

Er konnt' nicht widerſtehen, —

Die Augen ſank'n ihm zu.
Nun hört' er Stimmen rinnen,

Als wie der Liebſten Gruß,

Er konnt' ſich nicht beſinnen —

Bis ihn erweckt ein Kuß.
Wie prächtig glänzt die Aue!

Wie Gold der Quell nun floß,

Und einer ſüſſen Fraue,

Lag er im weichen Schooß.
„Herr Ritter! wollt Ihr wohnen

Bey mir im grünen Haus:

Aus allen Blumenkronen

Wind' ich Euch einen Strauß!
[318]
Der Wald ringsum wird wachen,

Wie wir beyſammen ſeyn,

Der Kukuk ſchelmiſch lachen,

Und alles fröhlich ſeyn.“
Es bog ihr Angeſichte

Auf ihn den ſüſſen Leib,

Schaut mit den Augen lichte

Das wunderſchöne Weib.
Sie nahm ſein'n Helm herunter,

Löſt' Krauſe ihm und Bund,

Spielt' mit den Locken munter,

Küßt ihm den rothen Mund.
Und ſpielt' viel' ſüſſe Spiele

Wohl in geheimer Luſt,

Es flog ſo kühl und ſchwüle

Ihm um die offne Bruſt.

Friedrichs Jäger trat hier eiligſt zu ſeinem
Herrn und zog ihn abſeits in den Wald, wo er
ſehr bewegt mit ihm zu ſprechen ſchien. Romana
hatte es bemerkt. Sie verwandte geſpannt kein
Auge von Friedrich und folgte ihm in einiger Ent¬
fernung langſam in den Wald nach, während ſie
dabey weiter ſang:


Um ihn nun thät ſie ſchlagen

Die Arme weich und bloß,

Er konnte nichts mehr ſagen,

Sie ließ ihn nicht mehr los.
[319]
Und dieſe Au' zur Stunde

Ward ein kryſtallnes Schloß,

Der Bach: ein Strom gewunden

Ringsum gewaltig floß.
Auf dieſem Strome giengen

Viel' Schiffe wohl vorbey,

Es konnt' ihn keines bringen

Aus böſer Zauberey.

Sie hatte kaum noch die letzten Worte ausge¬
ſungen, als Friedrich plötzlich auf ſie zukam, daß
ſie innerlichſt zuſammenfuhr. Wo iſt Roſa? fragte
er raſch und ſtreng. Ich weiß es nicht, antwortete
Romana ſchnell wieder gefaßt, und ſuchte mit er¬
zwungener Gleichgültigkeit auf ihrer Guitarre die
alte Melodie wiederzufinden. Friedrich wiederholte
die Frage noch einmal dringender. Da hielt ſie ſich
nicht länger. Als wäre ihr innerſtes Weſen auf
einmal losgebunden, brach ſie ſchnell und mit faſt
ſchreckhaften Mienen aus: Du kennſt mich noch nicht
und jene unbezwingliche Gewalt der Liebe, die wie
ein Feuer alles verzehrt, um ſich an dem freyen
Spiel der eigenen Flammen zu weiden und ſelber
zu verzehren, wo Luſt und Entſetzen in wildem
Wahnſinn einander berühren. Auch die grünblitzen¬
den Augen des buntſchillernden, blutleckenden Dra¬
chen im Liebeszauber ſind keine Fabel, ich kenne
ſie wohl und ſie machen mich noch raſend. O, hät¬
te ich Helm und Schwert wie Armida! — Roſa
kann mich nicht hindern, denn ihre Schönheit iſt
[] blöde und Dein nicht werth. Ja, gegen Dich ſel¬
ber will ich um Dich kämpfen. Ich liebe Dich un¬
ausſprechlich, bleibe bey mir, wie ich nicht mehr
von Dir fort kann! – Sie hatte ihn bey den letz¬
ten Worten feſt umſchlungen. Friedrich fuhr auf
einmal aus tiefen Gedanken auf, ſtreifte ſchnell die
blanken Arme von ſich ab, und eilte, ohne ein Wort
zu ſagen, tief in den Wald, wo er ſein Pferd be¬
ſtieg, mit dem ihn der Jäger ſchon erwartete, und
fort hinausſprengte.


Romana war auf den Boden niedergeſunken,
das Geſicht mit beyden Händen verdeckt. Das
fröhliche Lachen, Singen und Gläſerklirren von der
Wieſe her ſchallte ihr wie ein hölliſches Hohnge¬
lächter.


Roſa war, als ſich Tag und Jagd zu Ende
neigten, von Romana und aller Begleitung, wie
durch Zufall, verlaſſen worden. Der Prinz hatte
ſie den ganzen Tag über beobachtet, war ihr über¬
all im Grünen begegnet und wieder verſchwunden.
Sie hatte ſich endlich halbzögernd entſchloſſen, ihn
zu fliehen und höher in's Gebirge hinaufzuſteigen.
Sein blühendes Bild heimlich im Herzen, das die
Waldhornsklänge immer wieder von neuem weckten,
unſchlüſſig, träumend und halbverirrt, zuletzt noch
von dem Liede des Unbekannten, das auch ſie hörte,
ſeltſam getroffen und verwirrt, ſo war ſie damals
bis zu dem Flecke hinaufgekommen, wo ſie ſo auf
einmal[321] einmal Friedrich'n vor ſich ſah. Der Ort lag ſehr
hoch und wie von aller Welt geſchieden, ſie dachte
an ihren neulichen Traum und eine unbeſchreibliche
Furcht befiel ſie vor dem Grafen, die ſie ſchnell
von dem Berge herabtrieb.


Unten, fern von der Jagd, ſaß der Prinz auf
einem ungeheueren Baume. Da hörte er das Ge¬
räuſch hinter ſich durch das Dickicht brechen. Er
ſprang auf und Roſa fiel athemlos in ſeine ausge¬
ſpreiteten Arme. Ihr geſtörtes Verhältniß zu Frie¬
drich, das Lied oben und tauſend alte Erinnerun¬
gen, die in der grünen Einſamkeit wieder wach ge¬
worden, hatten das reizende Mädchen heftig be¬
wegt. Ihr Schmerz machte ſich hier endlich in ei¬
nem Strom von Thränen Luft. Ich Herz war zu
voll, ſie konnte nicht ſchweigen. Sie erzählte dem
Prinzen alles aus tiefſter, gerührter Seele.


Es iſt gefährlich für ein junges Mädchen, ei¬
nen ſchönen Vertrauten zu haben. Der Prinz ſetz¬
te ſich neben ihr auf den Raſen hin. Sie ließ ſich
willig von ihm in den Arm nehmen und lehnte ihr
Geſicht müde an ſeine Bruſt. Die Abendſcheine
ſpielten ſchon zuckend durch die Wipfel, unzählige
Vögel ſangen von allen Seiten, die Waldhörner
klangen wollüſtig durch den warmen Abend aus der
Ferne herüber. Der Prinz hatte ihre langen Haa¬
re, die aufgegangen waren, um ſeinen Arm ge¬
wickelt und ſprach in einemfort ſo wunderliebliche,
zauberiſche Worte, gleich ſanfter Quellen Rauſchen
21[322] kühlelockend und Sinnenverwirrend, wie Töne alter
Lieder aus der Ferne verführend herüberſpielen.
Roſa bemerkte endlich mit Schrecken, daß es indeß
ſchon finſter geworden war, und drang ängſtlich in
den Prinzen, ſie zu der Geſellſchaft zurückzuführen.
Der Prinz ſprang ſogleich ſeitwärts in den Wald
und brachte zu ihrem Erſtaunen zwey geſattelte
Pferde mit hervor. Er hob ſie ſchnell auf das eine
hinauf, und ſie ritten nun, ſo geſchwind als es
die Dunkelheit zuließ, durch den Wald fort.


Sie waren ſchon weit auf verſchiedenen ſich
durchkreuzenden Wegen fortgetrabt, aber die Wieſe
mit dem Zelte wollte noch immer nicht erſcheinen.
Die Waldhornsklänge, die ſie vorher gehört hat¬
ten, waren ſchon lange verſtummt, der Mond trat
ſchon zwiſchen den Wolken hervor. Roſa wurde im¬
mer ängſtlicher, aber der Prinz wußte ſie jedesmal
wieder zu beruhigen.


Endlich hörten ſie die Hörner von neuem aus
der Ferne vor ſich. Sie verdoppelten ihre Eile,
die Klänge kamen immer näher. Doch wie groß
war Roſa's Schreck, als ſie auf einmal aus dem
Walde herauskam, und ein ganz fremdes, unbe¬
kanntes Schloß vor ſich auf dem Berge liegen ſah.
Entrüſtet wollte ſie umkehren und machte dem Prin¬
zen weinend die bitterſten Vorwürfe. Nun legte
der Prinz die Maſke ab. Er entſchuldigte ſeine
Kühnheit mit der unwiderſtehlichen Gewalt ſeiner
lange heimlich genährten Sehnſucht, umſchlang und
[323] küßte die Weinende und beſchwor alle Teufel ſeiner
Liebe herauf. Die Hörner klangen lockend immer¬
fort, und zitternd, halb gezwungen und halb ver¬
führt, folgte ſie ihm endlich den Berg hinauf. Es
war ein abgelegenes Jagdſchloß des Prinzen. Nur
wenige verſchwiegene Diener hatten dort alles zu
ihrem Empfange bereitet.


Friedrich ritt indeß zwiſchen den Bergen fort.
Sein Jäger, der gegen Abend weit von der Jagd
abgekommen war, hatte zufällig Roſa mit dem
Prinzen auf ihrer Flucht durch den Wald fortjagen
geſehen, und war ſogleich zu ſeinem Herrn zurück¬
geeilt, um ihm dieſe Entdeckung mitzutheilen.
Dieß war es, was Friedrich'n ſo ſchnell auf ſein
Pferd getrieben hatte.


Als er eben nach manchem Umwege an die
letzten Felſen kam, welche die Wieſe umſchloſſen,
erblickte er plötzlich ſeitwärts im Walde eine weiße
Figur, die, eine Flinte im Arm, grade auf ſeine
Bruſt zielte. Ein flüchtiger Mondesblick beleuchtete
die unbewegliche Geſtalt und Friedrich glaubte mit
Entſetzen Romana zu erkennen. Sie ließ erſchro¬
cken die Flinte ſinken, als er ſich nach ihr umwand¬
te, und war im Augenblicke im Walde verſchwun¬
den. Ein ſeltſames Grau'n befiel dabey den Gra¬
fen. Er ſetzte die Sporen ein, bis er das ganze
furchtbare Jagdrevier weit hinter ſich hatte.

21 *[324]

Unermüdet durchſtreifte er nun den Wald nach
allen Richtungen, denn jede Minute ſchien ihm
koſtbar, um der Ausführung dieſer Verrätherey zu¬
vorzukommen. Aber kein Laut und kein Licht rühr¬
te ſich weit und breit. So ritt er ohne Bahn fort
und immerfort, und der Wald und die Nacht nah¬
men kein Ende.

[]

Drittes Buch.

[][]

Achtzehntes Kapitel.

Wir finden Friedrich'n fern von dem wirrenden
Leben, das ihn gereizt und betrogen, in der tief¬
ſten Einſamkeit eines Gebirges wieder. Ein unauf¬
hörlicher Regen war lange wie eine Sundfluth her¬
abgeſtürzt, die Wälder wogten wie Aehrenfelder im
feuchten Sturme. Als er endlich eines Abends auf
die letzte Ringmauer von Deutſchland kam, wo
man nach Wälſchland hinunterſieht, fieng das Wet¬
ter auf einmal an ſich auszuklären und die Sonne
brach warm durch den Qualm. Die Bäume trö¬
pfelten in tauſend Farben blitzend, unzählige Vö¬
gel begannen zu ſingen, das liebreizende, vielge¬
prieſene Land unten ſchlug die Schleyer zurück und
blickte ihm wie eine Geliebte in's Herz.


Da er eben in die weite Tiefe zu den aufge¬
henden Gärten hinablenken wollte, ſah er auf einer
der Klippen einen jungen, ſchlanken Gemſenjäger
keck und trotzig ihm gegenüber ſteh'n und ſeinen
Stutz auf ihn anlegen. Er wandte ſchnell um und
ritt auf den Jäger los. Das ſchien dieſem zu ge¬
fallen, er kam ſchnell zu Friedrich'n herabgeſprun¬
gen und ſah ihn von Kopf bis Fuß groß an,
während er dem Pferde deſſelben, das ungeduldig
[328] ſtampfte, mit vieler Freude den gebogenen Hals
ſtreichelte. Wer giebt Dir das Recht Reiſende auf¬
zuhalten? fuhr ihn Friedrich an. Du ſprichſt ja
deutſch, ſagte der Jäger ihn ruhig auslachend, du
könnteſt jetzt auch was beſſeres thun als reiſen!
Komm nur mit mir! Friedrich'n erfriſchte recht das
kecke, freye Weſen, daß feine Geſicht voll Ehre,
die gelenke, tapfere Geſtalt; er hatte nie einen
ſchöneren Jäger geſehen. Er zweifelte nicht, daß
er einer von jenen ſey, um derentwillen er ſchon
ſeit mehreren Tagen das verlaſſene Gebirge verge¬
bens durchſchweift hatte, und trug daher keinen
Augenblick Bedenken, dem Abentheuer zu folgen.
Der Jäger gieng ſingend voraus, Friedrich ritt in
einiger Entfernung nach.


So zogen ſie immer tiefer in das Gebirge hin¬
ein. Die Sonne war lange untergegangen, der
Mond ſchien hell über die Wälder. Als ſie ohnge¬
fähr eine halbe Stunde ſo gewandert waren, blieb
der Jäger in einiger Entfernung plötzlich ſtehen,
nahm ſein Hüfthorn und ſtieß dreymal darein. So¬
gleich gaben unzählige Hörner nacheinander weit in
das Gebirge hinein Antwort. Friedrich ſtutzte und
wurde einen Augenblick an dem ehrlichen Geſichte
irre. Er hielt ſein Pferd an, zog ſein Piſtol her¬
aus und hielt es, gefaßt gegen alles, was daraus
werden dürfte, auf ſeinen Führer. Der Jäger
bemerkte es. Lauter Landsleute! rief er lachend,
und ſchritt ruhig weiter. Aller Argwohn war ver¬
ſchwunden, und Friedrich ritt wieder nach.

[329]

So kamen ſie endlich ſchon bey finſterer Nacht
auf einem hochgelegenen, freyen Platze an. Ein
Kreis bärtiger Schützen war dort um ein Wacht¬
feuer gelagert, grüne Reiſer auf den Hüten und
ihre Gewehre neben ſich auf dem Boden. Friedrichs
Führer war ſchon voraus mitten unter ihnen und
hatte den Fremden angemeldet. Mehrere von den
Schützen ſprangen ſogleich auf, umringten Frie¬
drich'n bey ſeiner Ankunft und fragten ihn um
Neuigkeiten aus dem flachen Lande. Friedrich wu߬
te ſie wenig zu befriedigen, aber ſeine Freude war
unbeſchreiblich, ſich endlich am Ziele ſeiner Irrfarth
zu ſehen. Denn dieſer Trupp war, wie er gleich
beym erſten Anblick vermuthet, wirklich eine Par¬
they des Landſturmes, den das Gebirgsvolk bey
dem unlängſt ausgebrochenen Kriege gebildet hatte.


Die Flamme warf einen ſeltſamen Schein über
den ſoldatiſchen Kreis von Geſtalten, die ringsum¬
her lagen. Die Nacht war ſtill und ſternhell. Ei¬
ner von den Jägern, die drauſſen auf den Felſen
auf der Lauer lagen, kam und meldete, wie in
dem Thale nach Deutſchland zu ein großes Feuer
zu ſehen ſey. Alles richtete ſich auf und lief wei¬
ter an den Bergesrand. Man ſah unten die Flam¬
men aus der ſtillen Nacht ſich erheben, und konnte
ungeachtet der Entfernung die ſtürzenden Gebälke
der Häuſer deutlich unterſcheiden. Die meiſten
kannten die Gegend, einige nannten ſogar die Dör¬
fer, welche brennen müßten. Alle aber waren ſehr
verwundert über die unerwartete Nähe des Fein¬
[330] des, denn dieſem ſchrieben ſie den Brand zu.
Man erwartete mit Ungeduld die Zurückkunft eines
Trupps, der ſchon geſtern in die Thäler auf Kund¬
ſchaft ausgezogen war.


Einige Stunden nach Mitternacht ohngefähr
hörte man in einiger Entfernung im Walde von
mehreren Wachen das Loſungswort erſchallen; bald
darauf erſchienen einige Männer, die man ſogleich
für die auf Kundſchaft ausgeſchickten erkannte und
begrüßte. Sie hatten einen jungen fremden Mann
bey ſich, der aber über der üblen Zeitung, welche
die Kundſchafter mitbrachten, anfangs von allen
überſehen wurde. Sie ſagten nemlich aus: Eine
anſehnliche feindliche Abtheilung habe ihre heimli¬
chen Schlupfwinkel entdeckt und ſie durch einen raſt¬
loſen mühſamen Marſch umgangen. Der Feind
ſtehe nun auf dem Gebirge ſelbſt mitten zwiſchen
ihren einzelnen auf den Höhen zerſtreuten Haufen,
um ſie mit Tagesanbruch ſo einzeln aufzureiben. —
Ein allgemeines Gelächter erſcholl bey den letzten
Worten im ganzen Trupp. Wir wollen ſeh'n, wer
härter iſt, ſagte einer von den Jägern, unſere Stei¬
ne oder ihre Köpfe! Die Jüngſten warfen ihre
Hüte in die Luft, alles freute ſich, daß es endlich
zum Schlagen kommen ſollte.


Man berathſchlagte nun eifrig, was unter die¬
ſen Umſtänden das Klügſte ſey. Zum Ueberlegen
war indeß nicht lange Zeit, es mußte für den im¬
mer mehr herannahenden Morgen ein raſcher Ent¬
ſchluß gefaßt werden. Friedrich, der allen wohlbe¬
[331] hagte, gab den Rath: ſie ſollten ſich heimlich auf
Umwegen neben den feindlichen Poſten hin vor Ta¬
gesanbruch mit allen den anderen zerſtreuten Hau¬
fen auf Einem feſten Fleck zu vereinigen ſuchen.
Dieß wurde einmüthig angenommen und der älteſte
unter ihnen theilte hiemit alſogleich den ganzen
Haufen in viele kleine Truppe und gab jedem einen
jungen, rüſtigen Führer zu, der alle Stege des
Gebirges am beſten kannte, lieber die einſamſten
und gefährlichſten Felſenpfade wollten ſie heimlich
mitten durch ihre Feinde gehen, alle ihre anderen
Haufen, auf die ſie unterwegs ſtoſſen mußten, an
ſich zieh'n und auf dem höchſten Gipfel, wo ſie
wußten, daß ihr Hauptſtamm ſich befände, wieder
zuſammenkommen, um ſich bey Anbruch des Tages
von dort mit der Sonne auf den Feind zu ſtürzen.


Das Unternehmen war gefährlich und gewagt,
doch nahmen ſie ſehr vergnügt Abſchied von einan¬
der. Friedrich hatte ſich auch ein grünes Reis auf
den Hut geſteckt und auf das beſte bewaffnet. Ihm
war der junge Jäger, den er zuerſt auf der Straſ¬
ſe nach Italien getroffen, zum Führer beſtimmt
worden, zu ſeinen Begleitern hatte er noch zwey
Schützen und den jungen Menſchen, den die Kund¬
ſchafter vorhin mitgebracht. Dieſer hatte die ganze
Zeit über, ohne einigen Antheil an der Begeben¬
heit verſpüren zu laſſen, ſeitwärts auf einem Baum¬
ſturz geſeſſen, den Kopf in beyde Hände geſtützt,
als ſchliefe er. Sie rüttelten ihn nun auf. Wie
erſtaunte da Friedrich, als er ſich aufrichtete, und
[332] er in ihm denſelben Studenten wiedererkannte, den
er damals auf der Wieſe unter den herumziehenden
Komödianten getroffen hatte, als er auf Romanas
Schloß zum Beſuche ritt. Doch hatte er ſich ſeitdem
ſehr verändert, er ſah blaß aus, ſeine Kleidung
war abgeriſſen, er ſchien ganz herunter. Sie ſetz¬
ten ſich ſogleich in Marſch, und da es zum Geſetz
gemacht worden war, den ganzen Weg nichts mit¬
einander zu ſprechen, ſo konnte Friedrich nicht er¬
fahren, wie derſelbe aufs Gebirge und in dieſen
Zuſtand gerathen war.


Sie giengen nun zwiſchen Wäldern, Felſen¬
wänden und unabſehbaren Abgründen immerfort;
der ganze Kreis der Berge lag ſtill, nur die Wäl¬
der rauſchten von unten herauf, ein ſcharfer Wind
gieng auf der Höhe. Der Gemſenjäger ſchritt friſch
voran, ſie ſprachen kein Wort. Als ſie einige Zeit
ſo fortgezogen waren, hörten ſie plötzlich über ſich
mehrere Stimmen in ausländiſcher Sprache. Sie
blieben ſtehen und drückten ſich alle hart an die
Felſenwand an. Die Stimmen kamen auf ſie los
und ſchienen auf einmal dicht bey ihnen; dann lenk¬
ten ſie wieder ſeitwärts und verlohren ſich ſchnell.
Dieß bewog den Führer, einen anderen mehr thal¬
wärts führenden Umweg einzuſchlagen, wo ſie ſiche¬
rer zu ſeyn hofften.


Sie hatten aber kaum die untere Region er¬
langt, als ihnen ein Gewirre von Reden, Lachen
und Singen durcheinander entgegenſcholl. Zum
Umkehren war keine Zeit mehr, ſeitwärts von dem
[333] Platze, wo das Schallen ſich verbreitet, führte nur
ein einziger Steg über den Strom, der dort in das
Thal hinauskam. Als ſie an den Bach kamen, ſa¬
hen ſie zwey feindliche Reiter auf dem Stege, die
beſchäftigt waren, Waſſer zu ſchöpfen. Sie ſtreck¬
ten ſich daher ſchnell unter die Sträucher auf den
Boden nieder, um nicht bemerkt zu werden. Da
konnten ſie zwiſchen den Zweigen hindurch die vom
Monde hell beleuchtete Wieſe überſehen. Ringsum
an dem Rande des Waldes ſtand dort ein Kreis
von Pferden angebunden, eine Schaar von Reitern
war luſtig über die Aue verbreitet. Einige putzten
ſingend ihre Gewehre, andere lagen auf dem Ra¬
ſen und würfelten auf ihren ausgebreiteten Män¬
teln, mehrere Offiziere ſaſſen vorn um ein Feld¬
tiſchchen und tranken. Der eine von ihnen hatte ein
Mädchen auf dem Schooß, das ihn mit dem einen
Arme umſchlungen hielt. Friedrich erſchrack im In¬
nerſten, denn der Offizier war einer ſeiner Bekann¬
ten aus der Reſidenz, das Mädchen die verlorene
Marie. Es war einer von jenen leichten, halbbär¬
tigen Brüdern, die im Winter zu ſeinem Kreiſe ge¬
hört, und bey anbrechendem Frühling Ernſt, Ehr¬
lichkeit und ihre gemeinſchaftlichen Beſtrebungen mit
den Bällen und anderen Winterunterhaltungen ver¬
gaſſen.


Ihn empörte dieſes Elend ohne Treue und Ge¬
ſinnung, wie er mit vornehmer Zufriedenheit ſeinen
Schnautzbart ſtrich und auf ſeinen Säbel ſchlug,
gleichviel für was oder gegen wen er ihn zog. Der
[334] Lauf ſeines Gewehres war zufällig grade auf ihn
gerichtet; er hatte es in dieſem Augenblicke auf ihn
losgedrückt, wenn ihn nicht die Furcht, alle zu ver¬
rathen, davon abgehalten hätte.


Der Offizier ſtand auf, hob ſein Glas in die
Höh' und fieng an Schillers Reiterlied zu ſingen,
die andern ſtimmten mit vollen Kehlen ein. Noch
niemals hatte Friedrich'n das fürchterliche Lied ſo
widerlich und hölliſchgurgelnd geklungen. Ein ande¬
rer Offizier mit einem feuerrothen Geſichte, in dem
alle menſchliche Bildung zerfetzt war, trat dazu,
ſchlug mit dem Säbel auf den Tiſch, daß die Gläſer
klirrten, und pfiff durchdringend den Deßauer Marſch
drein. Ein allgemeines wildes Gelächter belohnte
ſeine Zote. —


Unterdeß hatten die beyden Reiter den Steg
wieder verlaſſen. Friedrich und ſeine Geſellen raff¬
ten ſich daher ſchnell vom Boden auf und eilten
über den Bach von der anderen Seite wieder ins
Gebirge hinauf. Je höher ſie kamen, je ſtiller
wurde es ringsumher. Nach einer Stunde endlich
wurden ſie von den erſten Poſten der Ihrigen an¬
gerufen. Hier erfuhren ſie auch, daß faſt alle die
übrigen Abtheilungen, die ſich theils durchgeſchli¬
chen, theils mit vielem Muthe durchgeſchlagen hat¬
ten, bereits oben angekommen wären. Es war ein
Freudenreicher Anblick, als ſie bald darauf den
weiten, freyen Platz auf der letzten Höhe glücklich
erreicht hatten. Die ganze unüberſehbare Schaar
ſaß dort an ihre Waffen geſtützt auf den Zinnen
[335] ihrer ewigen Burg, die großen Augen gedankenvoll
nach der Seite hingerichtet, wo die Sonne auf¬
geh'n ſollte. Friedrich lagerte ſich vorn auf einem
Felſen, der in das Thal hinausragte. Unten rings
um den Horizont war bereits ein heller Morgen¬
ſtreifen ſichtbar, kühle Winde kamen als Vorbothen
des Morgens angeflogen. Eine feyerliche, erwar¬
tungsvolle Stille war über die Schaar verbreitet,
einzelne Wachen nur hörte man von Zeit zu Zeit
weit über das Gebirge rufen. Ein Jäger vorn auf
dem Felſen begann folgendes Lied, in das immer
zuletzt alle die anderen mit einfielen:


In ſtiller Bucht, bey finſt'rer Nacht,

Schläft tief die Welt im Grunde,

Die Berge rings ſteh'n auf der Wacht,

Der Himmel macht die Runde,

Geht um und um

Ums Land herum

Mit ſeinen goldnen Schaaren

Die Frommen zu bewahren.
Kommt nur heran mit Eurer Liſt,

Mit Leitern, Strick und Banden,

Der Herr doch noch viel ſtärker iſt,

Macht Euern Witz zu Schanden.

Wie war't Ihr klug! —

Nun ſchwindelt Trug

Hinab vom Felſenrande —

Wie ſeyd Ihr dumm! o Schande!
Gleichwie die Stämme in dem Wald

Woll'n wir zuſammenhalten,

Ein' feſte Burg, Trutz der Gewalt,

Verbleiben treu die alten.

[336]
Steig', Sonne, ſchön!

Wirf von den Höh'n

Nacht und die mit ihr kamen,

Hinab in Gottes Nahmen!

Friedrich'n ärgerte es recht, daß der Student
immerfort ſo traurig dabey ſaß. Seine Komödian¬
tin, wie er Friedrich'n hier endlich entdeckte, hatte
ihn von neuem verlaſſen und dießmal auch alle ſeine
Baarſchaft mitgenommen. Arm und bloß, und zum
Tode verliebt, war er nun dem aufrühreriſchen Ge¬
birge zugeeilt, um im Kriege ſein Ende zu finden.
Aber ſo ſeyd nur nicht gar ſo talket! ſagte ein Jä¬
ger, der ſeine Erzählung mit angehört hatte. Mein
Schatz, ſang ein anderer neben ihm:


Mein Schatz, das iſt ein kluges Kind,

Die ſpricht: „Willſt du nicht fechten:

Wir zwey geſchiedne Leute ſind,

Erſchlagen dich die Schlechten:

Auch keins von beyden dran gewinnt.“

Mein Schatz, das iſt ein kluges Kind,

Für die will ich leb'n und fechten!

Was iſt das für eine Liebe, die ſo wehmüthi¬
ge, weichliche Tapferkeit erzeugt? ſagte Friedrich
zum Studenten, denn ihm kam ſeine Melankolie
in dieſer Zeit, auf dieſen Bergen und unter dieſen
Leuten unbeſchreiblich albern vor. Glaubt mir, das
Sterben iſt viel zu ernſthaft für einen ſentimentali¬
ſchen Spaß. Wer den Tod fürchtet und wer ihn
ſucht, ſind beydes ſchlechte Soldaten, wer aber ein
ſchlechter[337] ſchlechter Soldat iſt, der iſt auch kein rechter
Mann.


Sie wurden hier unterbrochen, denn ſo eben
fielen von mehreren Seiten Schüſſe tiefer unten im
Walde. Es war das verabredete Zeichen zum Auf¬
bruch. Sie wollten den Feind nicht erwarten, ſon¬
dern ihn von dieſer Seite, wo er es nicht vermu¬
thete, ſelber angreifen. Alles ſprang fröhlich auf
und griff nach den herumliegenden Waffen. In
kurzer Zeit hatten ſie den Feind im Angeſicht. Wie
ein heller Strom brachen ſie aus ihren Schlüften
gegen den blinkenden Damm der feindlichen Glieder,
die auf der halben Höhe des Berges ſteif geſpreitzt
ſtanden. Die erſten Reihen waren bald gebrochen,
und das Gefecht zerſchlug ſich in ſo viele einzelne
Zweykämpfe, als es Ehrenfeſte Herzen gab, die es
auf Tod und Leben meynten. Es kommandirte, wem
Beſonnenheit oder Begeiſterung die Uebermacht gab.
Friedrich war überall zu ſehen, wo es am gefähr¬
lichſten hergieng, ſelber mit Blut überdeckt. Ein¬
zelne rangen da auf ſchwindlichten Klippen, bis
beyde einander umklammernd in den Abgrund ſtürz¬
ten. Blutroth ſtieg die Sonne auf die Höhen, ein
wilder Sturm wüthete durch die alten Wälder,
Felſenſtücke ſtürzten zermalmend auf den Feind.
Es ſchien das ganze Gebirge ſelbſt wie ein Rieſe
die ſteinernen Glieder zu bewegen, um die fremden
Menſchlein abzuſchütteln, die ihn dreiſt geweckt
hatten und an ihm heraufklettern wollten. Mit
22[338] gränzenloſer Unordnung entfloh endlich der Feind
nach allen Seiten weit in die Thäler hinaus.


Nur auf einem einzigen Fleck wurde noch im¬
mer fortgefochten. Friedrich eilte hinzu und erkann¬
te immitten jenen Offizier wieder, der in der Reſi¬
denz zu ſeinen Genoſſen gehörte. Dieſer hatte ſich,
von den Seinigen getrennt, ſchon einmal gefangen
gegeben, als er zufällig um den Anführer ſei¬
ner Sieger fragte. Mehrere nannten einſtimmig
Friedrich’n. Bey dieſem Nahmen hatte er plötzlich
einem ſeiner Führer den Säbel entriſſen und ver¬
ſuchte wüthend noch einmal ſich durchzuſchlagen.
Als er nun Friedrich'n ſelber erblickte, verdoppelte
er ſeine faſt ſchon erſchöpften Kräfte von neuem,
und hieb in Wuth blind um ſich, bis er endlich von
der Menge entwaffnet wurde. Stillſchweigend folg¬
te er nun, wohin ſie ihn führten und wollte durch¬
aus kein Wort ſprechen. Friedrich mochte ihn in
dieſem Augenblicke nicht anreden.


Das Verfolgen des flüchtigen Feindes dauerte
bis gegen Abend. Da langte Friedrich mit den
Seinigen ermüdet auf einem altfränkiſchen Schloſſe
an, das am Abhange des Gebirges ſtand. Hof und
Schloß ſtand leer; alle Bewohner hatten es aus
Furcht vor Freund und Feind feigherzig verlaſſen.
Der Trupp lagerte ſich ſogleich auf dem geräumigen
Hofe, deſſen Pflaſter ſchon hin und wieder mit
Gras überwachſen war. Rings um das Schloß
wurden Wachen ausgeſtellt.

[339]

Friedrich fand eine Thüre offen und gieng in
das Schloß. Er ſchritt durch mehrere leere Gänge
und Zimmer und kam zuletzt in eine Kapelle. Ein
einfacher Altar war dort aufgerichtet, mehrere alte
Heiligenbilder auf Holz hiengen an den Wänden
umher, auf dem Altare ſtand ein Kruzifix. Er
knieete vor dem Altar nieder und dankte Gott aus
Grund der Seele für den heutigen Tag. Darauf
ſtand er neugeſtärkt auf und fühlte die vielen
Wunden kaum, die er in dem Gefechte erhalten.
Er erinnerte ſich nicht, daß ihm jemals in ſeinem
Leben ſo wohl geweſen. Es war das erſtemal, daß
es ihm genügte, was er hier trieb und vorhatte.
Er war völlig überzeugt, daß er das Rechte wolle
und ſein ganzes voriges Leben, was er ſonſt ein¬
zeln verſucht, geſtrebt und geübt hatte, kam ihm
nun nur wie eine lange Vorſchule vor zu der ſiche¬
ren, klaren und großen Geſinnung, die jetzt ſein
Thun und Denken regierte.


Er gieng nun durch das Schloß, wo faſt alle
Thüren geöffnet waren. In dem einen Gemache
fand er ein altes Sopha. Er ſtreckte ſich darauf; aber
er konnte nicht ſchlafen, ſo müde er auch war.
Denn tauſenderley Gedanken zogen wechſelnd durch
ſeine Seele, während er dort von der einen Seite
durch die offene Thüre den Schloßhof überſah, wo
die Schützen um ein Feuer lagen, das die alten
Gemäuer ſeltſam beleuchtete, von der anderen Seite
durchs Fenſter die Wolkenzüge über den ſtillen,
22 *[340] ſchwarzen Wäldern. Er gedachte ſeines vergange¬
nen ruhigen Lebens, wie er noch mit ſeiner Poeſie
zufrieden und glücklich war, an ſeinen Leontin, an
Roſa, an den ſtillen Garten beym Herrn v. A.,
wie das alles ſo weit von hier hinter den Bergen
jetzt in ruhigem Schlafe ruhte.


Das Feuer aus dem Hofe warf indeß einen
hellen Widerſchein über die eine Wand der Stube.
Da wurde er auf ein großes, altes Bild auf¬
merkſam, daß dort hieng. Es ſtellte die heilige
Mutter Anna vor, wie ſie die kleine Maria leſen
lehrte. Sie hatte ein großes Buch vor ſich auf dem
Schooße. An ihren Knieen ſtand die kleine Maria
mit vor der Bruſt gefalteten Händchen, die Augen
fleiſſig auf das Buch niedergeſchlagen. Eine wun¬
derbare Unſchuld und Frömmigkeit, wie die de¬
müthige Ahnung einer künftigen unbeſchreiblichen
Schönheit und Herrlichkeit, ruhte auf dem Geſichte
des Kindes. Es war, als müßte ſie jeden Augen¬
blick die ſchönen, klaren Kindesaugen aufſchlagen,
um der Welt Troſt und himmliſchen Frieden zu ge¬
ben. Friedrich war erſtaunt; denn je länger er
das ſtille Köpfchen anſah, je deutlicher ſchienen al¬
le Züge deſſelben in ein ihm wohlbekanntes Geſicht
zu verſchwimmen. Doch verlohr ſich dieſe Erinne¬
rung in ſeine früheſte Kindheit und er konnte ſich
durchaus nicht genau beſinnen. Er ſprang auf und
unterſuchte das Bild von allen Seiten, aber nir¬
gends war irgend ein Nahme oder beſonderes Zei¬
chen zu ſehen.

[341]

Verwundert gieng er in den Hof hinaus und
fragte nach den Bewohnern des Schloſſes. Nur
einige wußten Beſcheid und ſagten aus, das Schloß
werde gewöhnlich, bloß von einem Vogte bewohnt
und gehöre eigentlich einer Edelfrau im Auslande,
die alle Jahre immer nur auf wenige Tage herkom¬
me. Sonſt konnte er nichts erfahren. Ihm fiel da¬
bey unwillkührlich die weiße Frau ein, die er ſchon
faſt wieder vergeſſen hatte. —


Sein Schlaf war vorbey — er begab ſich da¬
her auf die alte ſteinerne Gallerie, die auf der
Waldſeite über eine tiefe Schluft hinausgieng, um
dort den Morgen abzuwarten. Dort fand er auch
den gefangenen Offizier, der in einem dunklen Win¬
kel zuſammengekrümmt lag. Er ſetzte ſich zu ihm
auf das halbabgebrochene Geländer.


Das Unglück macht vieles wieder gut, ſagte er,
und reichte ihm die Hand. — Der Offizier wickelte
ſich feſter in ſeinen Mantel, und antwortete nicht.
— Haſt Du denn alles vergeſſen, fuhr Friedrich
fort, was wir in der guten Zeit vorbereitet? Mir
war es Ernſt mit dem, was ich vorhatte. Ich war
ein ehrlicher Narr, und ich will es lieber ſeyn, als
klug ohne Ehre. — Der Offizier fuhr auf, ſchlug
ſeinen Mantel auseinander und rief: Schlag' mich
todt wie einen Hund! — Laß dieſe weibiſche Wuth,
wenn Du nichts beſſeres kannſt, ſagte Friedrich ru¬
hig. Du ſiehſt ſo wüſt und dunkel aus, ich kenne
Dein Geſicht nicht mehr wieder. Ich liebte Dich
ſonſt, ſo biſt Du mir gar nichts werth. — Bey
[342] dieſen Worten ſprang der Offizier, der Friedrichs
ruhige Züge nicht länger ertragen konnte, auf,
packte ihn bey der Bruſt und wollte ihn über die
Gallerie in den Abgrund ſtürzen. Sie rangen ei¬
nige Zeit miteinander; Friedrich war von vielem
Blutverluſt ermattet und taumelte nach dem ſchwind¬
lichen Rande zu. Da fiel ein Schuß aus einem
Fenſter des Schloſſes; ein Schütze hatte alles mit
angeſehen. — Jeſus Maria! rief der Offizier ge¬
troffen und ſtürzte über das Geländer in den Ab¬
grund hinunter. — Da wurde es auf einmal ſtill,
nur der Wald rauſchte finſter von unten herauf.
Friedrich wandte ſich ſchaudernd von dem unheimli¬
chen Orte.


Die Schützen hatten unterdeß ausgeraſtet; das
Morgenroth begann bereits ſich zu erheben. Neue
Nachrichten, die ſo eben eingelaufen waren, be¬
ſtimmten die Truppe, ſogleich von ihrem Schloſſe auf¬
zubrechen, um ſich mit den anderen tiefer im Lande
zu vereinigen.


Eine ſeltſame Erſcheinung zog jedoch bald dar¬
auf Aller Augen auf ſich. Als ſie nemlich auf der
einen Seite des Schloſſes herauskamen, ſahen ſie
jenſeits zwiſchen den Bäumen auf einer hohen
Klippe eine weibliche Geſtalt ſtehen, welche zwey
von den ihrigen, die ihr nachſtiegen, mit dem De¬
gen abwehrte. Friedrich wurde hinzugerufen. Er
erfuhr, das Mädchen ſey gegen Morgen allein mit
verwirrtem Haar und einem Degen in der Hand
an dem Schloſſe herumgeirrt, als ſuche ſie etwas.
[343] Als ſie dann auf den erſchoſſenen Offizier geſtoſſen,
habe ſie ihn ſchnell in die Arme genommen und den
Leichnam mit einer bewunderungswürdigen Kraft und
Geduld in das Gebirge hinaufgeſchleppt. Zwey
Schützen, denen ihr Herumſchleichen verdächtig wur¬
de, waren ihr bis zu dieſem Felſen gefolgt, den
ſie nun wie ihre Burg vertheidigte.


Als Friedrich näher kam, erkannte er in dem
wunderbaren Mädchen ſogleich Marie, ſie kam ihm
heute viel größer und ſchöner vor. Ihre langen,
ſchwarzen Locken waren auseinandergerollt, ſie hieb
nach allen Seiten um ſich, ſo daß keiner, ohne ſie
zu verletzen, die ſteile Klippe erſteigen konnte. Als
ſie Friedrich'n unter den fremden Männern erblick¬
te, ließ ſie plötzlich den Degen fallen, ſank auf die
Kniee und verbarg ihr Geſicht an der kalten Bruſt
ihres Geliebten. Die bärtigen Männer blieben er¬
ſtaunt ſteh n. Iſt in Dir eine ſolche Gewalt wahr¬
hafter Liebe, ſagte Friedrich gerührt zu ihr, ſo
wende ſie zu Gott, und Du wirſt noch große Gna¬
de erfahren!


Die Umſtände nöthigten indeß immer dringen¬
der zum Aufbruch. Friedrich ließ daher einen des
Weges kundigen Jäger bey Marien zurück, der ſie
in Sicherheit bringen ſollte. Das Mädchen richtete
ſich halb auf und ſah ſtill dem Grafen nach; ſie
aber zogen ſingend über die Berge weiter, über de¬
nen ſo eben die Sonne aufgieng.


[344]

Neunzehntes Kapitel.

Der Krieg wüthete noch lange fort. Friedrich
hatte im Laufe deſſelben den Ruhm ſeines alten
Nahmens durch alte Tugend wieder angefriſcht.
Der Fürſt, dem er angehörte, war unter den
Feinden. Friedrichs Güter wurden daher eingezo¬
gen. Das Kriegsglück wandte ſich, die Seinigen
wurden immer geringer und ſchwächer, alles gieng
ſchlecht: Er blieb allein deſto hartnäckiger gut und
wich nicht. Endlich wurde der Friede geſchloſſen.
Da nahm er, zurückgedrängt auf die höchſten Zin¬
nen des Gebirges, Abſchied von ſeinen Hochländern
und ritt Güterlos und geächtet hinab. Ueber das
platte Land verbreitete ſich der Friede weit und
breit in ſchallender Freude; er allein zog einſam
hindurch, und ſeine Gedanken kann niemand be¬
ſchreiben, als er die letzten Gipfel des Gebirges
hinter ſich verſinken ſah. Er gedachte wenig ſeiner
eigenen Gefahr, da rings in dem Lande die feindli¬
chen Truppen noch zerſtreut lagen, von denen er
wohl wußte, daß ſie ſeiner habhaft zu werden
trachteten. Er achtete ſein Leben nicht, es ſchien
ihm nun zu nichts mehr nütz. —


So langte er an einem unfreundlichen, ſtürmi¬
ſchen Abende in einem abgelegenen Dorfe an. Die
Gärten waren alle verwüſtet, die Häuſer niederge¬
[345] brannt, die wenigen übriggebliebenen ſchienen von
den Bewohnern verlaſſen; es war ein trauriges
Denkmal des kaum geendigten Krieges, der an die¬
ſen Gegenden beſonders ſeine Wuth recht ausgelaſ¬
ſen hatte. An dem anderen Ende des Dorfes fand
Friedrich endlich einen Mann, der auf einem
ſchwarzgebrannten Balken ſeines umgeriſſenen Hau¬
ſes ſaß und an einem Stück trockener Brodrinde
nagte. Friedrich fragte um Unterkommen für ſich
und ſein Pferd. Der Mann lachte ihm widerlich
ins Geſicht und zeigte auf das abgebrannte Dorf.


Ermüdet band Friedrich ſein Pferd an und ſetz¬
te ſich zu dem Manne hin. Er befragte ihn, wie
ſo großes Unglück inſonderheit dieſes Dorf getrof¬
fen? — Der Mann ſagte gleichgültig und wort¬
karg: Wir haben uns den Feinden widerſetzt, wor¬
auf unſer Dorf abgebrannt und mancher von uns
erſchoſſen wurde. Was kümmert mich aber das
und das Land und die ganze Welt, fuhr er nach
einer Weile fort, mir thut's nur leid um mich,
denn zu freſſen muß man doch haben! — Friedrich
ſah ihn von der Seite an, wie er ſo an ſeinem
Brode käute, ſein Geſicht war hager und bleichgelb
und ſah nach nichts Gutem aus.


Eine luſtige Tanzmuſik ſchallte inzwiſchen im¬
merfort durch die Nacht zu ihnen herüber. Sie
kam aus einem alterthümlichen Schloſſe, das dem
Dorfe gegenüber auf einer Anhöhe ſtand. Die Fen¬
ſter waren alle hellerleuchtet. Inwendig ſah man
[346] eine Menge Leute ſich dreh'n und wirren, manches
Paar lehnte ſich in die offenen Fenſter, und ſah in
die regneriſche Gegend hinaus.


Wem gehört das Schloß da droben, wo es ſo
luſtig hergeht? fragte Friedrich. Der Gräfin Ro¬
mana, war die Antwort. Unwillkührlich ſchauderte
er bey dieſer unerwarteten Antwort zuſammen. Er¬
ſtaunt drang er nun mit Fragen in den Mann und
hörte mit den ſeltſamſten Empfindungen zu, als die¬
ſer erzählte: Als die letzte Schlacht verlohren war
und alles recht drunter und drüber gieng, heißa!
da wurde unſere Gräfin ſo luſtig! — Ihr Vermö¬
gen war verlohren, ihre Güter und Schlöſſer ver¬
wüſtet, und, als unſer Dorf in Flammen aufgieng,
ſahen wir ſie mit einem feindlichen Offiziere an dem
Brande vorbeyreiten, der hatte ſie vorn vor ſich
auf ſeinem Pferde, und ſo gieng es fort in alle
Welt. Seit einigen Tagen hatte der Feind dort
unten auf den Feldern ſein Lager aufgeſchlagen; da
war ein Trommeln, Jubeln, Muſizieren, Sauffen
und Lachen Tag und Nacht, und unſere Gräfin
mitten unter ihnen, wie eine Marketenderin. Ge¬
ſtern iſt das Lager aufgebrochen und die Gräfin
giebt den Offizieren, die heut auch noch nachziehen,
droben den Abſchiedsſchmauß. — Friedrich war über
dieſer Erzählung in Nachdenken verſunken. — Ich
ſehe den Offizier noch immer vor mir, fuhr der
Mann bald darauf wieder fort, der den Befehl
gab, unſere Häuſer anzuſtecken. Ich lag eben hin¬
ter einem Zaune, ganz zuſammengehauen. Er ſaß
[347] ſeitwärts nicht weit von mir auf ſeinem Pferde,
der Widerſchein von den Flammen fiel ihm durch
die dunkle Nacht grade auf ſein wohlgenährtes,
glattes Geſicht. Ich würde das Geſicht in hundert
Jahren noch wieder erkennen. —


Die Lichter in dem Schloſſe, während ſie ſo
ſprachen, fiengen indeß an zu verlöſchen, die Muſik
hörte auf und es wurde nach und nach immer ſtil¬
ler. Der Mann wurde ſeltſam unruhig. Jetzt
werden die Offiziere auch fortzieh'n, wollen wir
ihnen nicht ſicheres Geleit geben? — ſagte er, ab¬
ſcheulich lachend, und ſtand auf. Friedrich bemerk¬
te dabey, daß er etwas blitzendes, wie ein Gewehr,
unter ſeinem Kittel verborgen hatte. Eh' er ſich
aber beſann, war der Mann ſchon hinter den Häu¬
ſern in der Finſterniß verſchwunden. Friedrich trau¬
te ihm nicht recht, er zweifelte nicht, daß er et¬
was Gräßliches vorhabe. Er eilte ihm daher nach,
um ihn auf alle Fälle zu verhindern. Tief im Wal¬
de ſah er ihn noch einmal von weitem, wie er eben
eilig um eine Felſenecke herumbog; darauf ver¬
ſchwand er ihm für immer, und er hatte ſich ver¬
gebens ziemlich weit vom Dorfe in dem Gebirge
verſtiegen.


Als er eben auf einer Höhe ankam, um ſich
von dort wieder zurechtzufinden, ſtand ſehr uner¬
wartet die Gräfin Romana plötzlich vor ihm. Sie
hatte eine kurze Flinte auf dem Rücken, und die¬
ſelbe feenhafte Jägerkleidung, in welcher er ſie zum
letztenmale auf der Gemſenjagd geſehen hatte.
[348] Verſteinert wie eine Bildſäule blieb ſie ſteh'n, als
ſie Friedrich'n ſo unverhofft erblickte. Dann ſah ſie
rings herum und ſagte: ich habe mich hier oben
verirrt, ich weiß den Weg nicht mehr nach Hauſe —,
führe mich, wohin Du willſt, es iſt alles einerley!
— Friedrich'n fiel das ungewohnte „Du“ auf, auch
bemerkte er in ihrem Geſichte jene leidenſchaftliche
Bläſſe, die ihn ſonſt ſchon oft an ihr geſtört hatte.
Die Nacht überdeckte ſchon unten die ſtillen Wäl¬
der. der Mond gieng von der anderen Seite über
den Bergen auf. Er fuhrte ſie an Klippen und
ſchwindlichten Abhängen vorüber den hohen, langen
Berg hinab, ſie ſprachen kein Wort miteinander.


So kamen ſie endlich nach einem mühſamen
Wege zu dem Schloſſe der Gräfin zuruck. Es war
eine alte Burg, mitten in der Wildniß, halb ver¬
fallen, kein Menſch war d rinn zu ſehen. Das iſt
mein Stammſchloß, ſagte Romana, und ich bin
die letzte des alten, beruhmten Geſchlechts.


Sie führte ihn durch die hohen, gewölbten
Gemächer. In dem einen Zimmer lag alles vom
Feſte noch unordentlich umher, zerbrochene Wein¬
flaſchen und umgeworfene Stühle; durch das zer¬
ſchlagene Fenſter pfiff der Wind herein und flackerte
mit dem einzigen Lichte, das, faſt ſchon bis an den
Leuchter herabgebrannt, in der Mitte auf einem
Tiſche ſtand und ſpielende Scheine auf eine Reihe
altväteriſcher Ahnenbilder warf, die rings an den
Wänden umherhiengen.

[349]

Sie ſind alle ſchon morſch, die guten Geſellen,
ſagte Romana in einem Anfalle von geſpannter,
unmenſchlicher Luſtigkeit, als ſie die Verwüſtung
betrat, die noch vor ſo kurzer Zeit von Getümmel
und freudenreichem Schalle belebt war, nahm ihre
Stutzflinte vom Rücken und ſtieß ein Bild nach dem
andern von der Wand, daß ſie zertrümmert auf
die Erde fielen. Dazwiſchen kehrte ſie ſich auf ein¬
mal zu Friedrich und ſagte: Als ich mich vorhin
im Gebirge umwandte, um wieder zum Schloß zu¬
rückzukehren, ſah ich plötzlich auf einer Klippe mir
gegenüber einen langen, wilden Mann ſtehen, den
ich ſonſt in meinem Leben nicht geſeh'n, der hatte
in der einſamen Stille ſeine Flinte unbeweglich an¬
gelegt, mit der Mündung grade auf mich. Ich
ſprang fort, denn mir kam es vor, als ſtünde der
Mann ſeit tauſend Jahren immer und ewig ſo dort
oben. — Friedrich bemerkte bey dieſen verwirrten
Worten, die ihn an den Halbverrückten erinnerten,
dem er vorhin gefolgt, daß der Hahn an ihrer
Flinte, die ſie unbekümmert in der Hand hielt und
häufig gegen ſich kehrte, noch geſpannt ſey. Er
verwieß es ihr. Sie ſah in die Mündung hinein
und lachte wild auf. Schweigen Sie ſtill, ſagte
Friedrich ernſt und ſtreng und faßte ſie unſanft
an. —


Er trat an das eine Fenſter, ſetzte ſich in den
Fenſterbogen und ſah in die vom Monde beſchiene¬
nen Grunde hinab. Romana ſetzte ſich zu ihm.
Sie ſah noch immer blaß, aber auch in der Ver¬
[350] wüſtung noch ſchön aus, ihr Buſen war unanſtän¬
dig faſt ganz entblößt; ſie hielt ſeine Hand, er
bemerkte, daß die ihrige bisweilen zuckte.


Heftiges, unbändiges Weib, ſagte Friedrich,
der ſich nicht länger mehr hielt, ſehr ernſthaft,
geh'n Sie beten! Beſchauen Sie recht den Wun¬
derbau der hundertjährigen Stämme da unten, die
alten Felſenrieſen drüber und den ewigen Himmel,
wie da die Elemente, ſonſt wechſelſeitig vernichtende
Feinde gegeneinander, ſelber ihre rauhen, verwit¬
terten Rieſennacken und angebohrene Wildheit vor
ihrem Herrn beugend, Freundſchaft ſchlieſſen und in
weiſer Ordnung und Frommheit die Welt tragen
und erhalten. Und ſo ſoll auch der Menſch die wil¬
den Elemente, die in ſeiner eignen dunklen Bruſt
nach der alten Willkühr lauren und an ihren Ketten
reißen und beißen, mit göttlichem Sinne beſprechen
und zu einem ſchönen, lichten Leben die Ehre, Tu¬
gend und Gottſeligkeit in Eintracht verbinden und
formieren. Denn es giebt etwas Feſteres und
Größeres, als der kleine Menſch in ſeinem Hoch¬
muth, das der Scharfſinn nicht begreift und die
Begeiſterung nicht erfindet und macht, die, einmal
abtrünnig, in frecher, muthwilliger, verwilderter
Willkühr wie das Feuer alles ringsum zerſtört und
verzehrt, bis ſie über dem Schutte in ſich ſelber
ausbrennt — Sie glauben nicht an Gott! —


Friedrich ſprach noch viel. Romana ſaß ſtill
und ſchien ganz ruhig geworden zu ſeyn, nur
manchmal, wenn die Wälder heraufrauſchten,
[351] ſchauerte ſie, als ob ſie der Froſt ſchüttelte. Sie
ſah Friedrich'n mit ihren großen Augen unverwandt
an, denn ſie wußte alles, was er in der letzten
Zeit gethan und aufgeopfert, und es war im tief¬
ſten Grunde nur ihre unbezwingliche Leidenſchaft zu
ihm im zerknirſchenden Gefühl, ihn nie erreichen zu
können, was das heftige Weib nach und nach bis
zu dieſem ſchwindlichen Abgrund verwildert hatte.
Es war, als gienge bey ſeinem neuen Anblick die
Erinnerung an ihre eigne urſprüngliche, zerſtörte
Größe noch einmal ſchneidend durch ihre Seele. Sie
ſtand auf und gieng, ohne ein Wort zu ſagen, nach
der einen Seite fort.


Friedrich blieb noch lange dort ſitzen, denn
ſein Herz war noch nie ſo bekümmert und gepreßt,
als dieſe Nacht. Da fiel plötzlich ganz nahe im
Schloſſe ein Schuß. Er ſprang, wie vom Blitze
gerührt, auf, eine entſetzliche Ahnung flog durch
ſeine Bruſt. Er eilte durch mehrere Gemächer, die
leer und offen ſtanden, das letzte war feſt verſchloſ¬
ſen. Er riß die Thüre mit Gewalt ein: welch' ein
erſchrecklicher Anblick verſteinerte da alle ſeine Sin¬
ne! Ueber den Trümmern ihrer Ahnenbilder lag
dort Romana in ihrem Blute hingeſtreckt, das Ge¬
wehr, wie ihren letzten Freund, noch feſt in der
Hand.


Ihn überfiel im erſten Augenblick ein ſeltſamer
Zorn, er faßte ſie in beyde Arme, als mußte er
ſie mit Gewalt noch dem Teufel entreiſſen. Aber
das wilde Spiel war für immer verſpielt, ſie hatte
[352] ſich grade ins Herz geſchoſſen. Der müde Leib
ruhte ſchön und fromm, da ihn die heydniſche See¬
le nicht mehr regierte. Er kniete neben ihr hin und
betete für ſie aus Herzensgrunde.


Da ſah er auf einmal helle Flammen zu den
Fenſtern hereinſchlagen, durch die offene Thür er¬
blickte er auch ſchon die anderen Gemächer in vollem
Brande. Kein Menſch war da, die Nacht auch
Gewitterſtill, ſie mußte das Schloß in ihrer Raſe¬
rey ſelber angeſteckt haben, vielleicht um Friedrich'n
zugleich mit ihr zu verderben. Er nahm den Leich¬
nam und trug ihn durch das brennende Thor ins
Freye hinaus. Dort legte er ſie unter eine Eiche
und bedeckte ſie mit Zweigen, damit ſie die Raben
nicht fräßen, bis er im nächſten Dorfe die nöthigen
Vorkehrungen zu ihrem Begräbniß getroffen. Dann
eilte er den Berg hinab und ſchwang ſich auf ſein
Pferd.


Hinter ihm ſtieg die Flamme auf die höchſte
Zinne der Burg und warf gräßliche Scheine weit
zwiſchen den Bäumen. Das Schloß ſank wie ein
dunkler Rieſe in dem feurigen Ofen zuſammen, über
der alten, guten Zeit hielt das Flammenſpiel im
Winde ſeinen wilden Tanz; es war, als gieng der
Geiſt ihrer Herrinn noch einmal durch die Lohen. —


Zwanzig¬[353]

Zwanzigſtes Kapitel.

Es war Friedrich'n ſeltſam zu Muthe, als er
den anderen Tag am Saume des Waldes heraus¬
kam, und den wirthlichen, zierlichbepflanzten Berg
mit ſeinen bunten Luſthäuſern und dunklen Lauben
dort auf einmal vor ſich ſah, auf dem er bey An¬
tritt ſeiner Reiſe die erſten einſamen fröhlichen
Stunden nach der Trennung von ſeinen Univerſi¬
täts-Freunden zugebracht hatte. Ueberraſcht blieb
er eine Weile vor der weiten, von der Sonne hell¬
beſchienenen Gegend ſtehen, die ihm wie ein Traum,
wie eine liebliche Zauberey vorkam; denn eine Ge¬
gend aus unſerem erſten, friſchen Jugendglanze
bleibt uns wie das Bild der erſten Geliebten, ewig
erinnerlich und reitzend. Dann lenkte er langſam
den luſtigen Berg hinan.


Dort oben war alles noch wie damals, die Ti¬
ſche und Bänke im Grünen ſtanden noch immer an
derſelben Stelle, mehrere Geſellſchaften waren wie¬
der bunt und fröhlich über den grünen Platz zer¬
ſtreut und ſchmaußten und lachten, aller kaum ver¬
gangenen Noth vergeſſend. Auch der alte Harfeniſt
lebte noch und ſang drauſſen ſeine vorigen Lieder.
Friedrich ſuchte das luftige Sommerhaus auf, wo
er damals geſpeißt und den eben verlaſſenen Geſel¬
23[354] len friſch zugetrunken hatte. Dort fand er den
Nahmen Roſa wieder, den er an jenem ſchwülen
Nachmittage mit ſeinem Ringe in die Fenſterſcheibe
gezeichnet. Er hielt beyde Hände vor die Augen,
ſo tief überfiel ihn die Gewalt dieſer Erinnerung.
Die treuen Züge blitzten noch friſch in der Sonne,
aber die Züge jenes wunderſchönen Bildes, das er
damals in der Seele hatte, waren unterdeß im Le¬
ben verworren und verlohren für immer. —


Er lehnte ſich zum Fenſter hinaus und überſah
die ſchöne, noch gar wohl bekannte Gegend und
ſein ganzer damaliger Zuſtand wurde ihm dabey ſo
deutlich, wie wenn man ein langvergeſſenes, frühes
Gedicht nach vielen Jahren wiederliest, wo alles
vergangen iſt, was einen zu dem Liede verführt.
Wie anders war ſeitdem alles in ihm geworden!
Damals ſegelten ſeine Gedanken und Wünſche mit
den Wolken ins Blaue über das Gebirge fort, hin¬
ter dem ihm das Leben mit ſeinen Reiſe-Wundern
wie ein ſchönes, überſchwenglichreiches Geheimniß
lag. Jetzt ſtand er an demſelben Orte, wo er be¬
gonnen, wie nach einem mühſam beſchriebenen Zir¬
kel, frühzeitig an dem anderen, ernſteren und ſtille¬
ren Ende ſeiner Reiſe und hatte keine Sehnſucht
mehr nach dem Plunder hinter den Bergen und
weiter. Die Poeſie, ſeine damalige ſüße Reiſege¬
fährtin, genügte ihm nicht mehr, alle ſeine ernſte¬
ſten, herzlichſten Pläne waren an dem Neide ſeiner
Zeit geſcheitert, ſeine Mädchenliebe mußte, ohne
daß er es ſelbſt bemerkte, einer höheren Liebe wei¬
[355] chen, und jenes große, reiche Geheimniß des Le¬
bens hatte ſich ihm endlich in Gott gelöst.


Während er dieß alles ſo überdachte, fiel ihm
ein, wie Leontins Schloß ganz in der Nähe von
hier ſey. Er fühlte ein recht herzliches Verlangen,
dieſen ſeinen Bruder und jene Waldberge wieder¬
zuſehen. Der Gedanke bewegte ihn ſo, daß er ſo¬
gleich ſein Pferd beſtieg und von dem Berge hinab
die ſchattigte Landſtraſſe wieder einſchlug.


Die Sonne ſtand noch hoch, er hoffte den Wald
noch vor Anbruch der Nacht zurückzulegen. Nach
einiger Zeit erlangte er einen hohen Bergrücken.
Die Lage der Wälder, der Kreis von niederern Ber¬
gen ringsumher, alles kam ihm ſo bekannt vor. Er
ritt langſam und ſinnend fort, bis er ſich endlich
erinnerte, daß es dieſelbe Hayde ſey, über welche
er in jener Nacht, da er ſich verirrt und das ſelt¬
ſame Abentheuer in der Mühle beſtanden, ſein
Pferd am Zügel geführt hatte. Der Schlag der
Eiſenhämmer kam nur ſchwach und verworren durch
das Singen der Vögel und den ſchallenden Tag aus
der fernen Tiefe herauf. Es war ihm, als rückte
ſein ganzes Leben Bild vor Bild ſo wieder rück¬
wärts, wie ein Schiff nach langer Farth, die
wohlbekannten Ufer wieder begrüßend, endlich dem
alten, heymathlichen Hafen bereichert zufährt.


Ein Gebirgsbach fand ſich dort in der Einſam¬
keit mit ſeiner plauderhaften Emſigkeit neben ihm
23 *[356] ein. Er wußte, daß es der nemliche ſey, der die
ſchöne Wieſe vor Leontins Schloſſe durchſchnitt, und
folgte ihm daher auf einem Fußſtege die Höhen hin¬
ab. Da erblickte er nach einem langen Wege uner¬
wartet auch die berüchtigte Waldmühle im Grunde
wieder. Wie anders, Geſpenſterhaft und voll wun¬
derbarer Schrecken hatte ihm damals die phantaſti¬
ſche Nacht dieſe Gegend ausgebildet, die heut recht
behaglich im Sonnenſcheine vor ihm lag. Der Bach
rauſchte melankoliſch an der alten Mühle vorüber,
die halbverfallen daſtand, und ſchon lange verlaſſen
zu ſeyn ſchien; das Rad war zerbrochen und ſtand
ſtill.


Auf der einen Seite der Mühle war ein ſchö¬
ner, lichtgrüner Grund, über welchem friſche Eichen
ihre kühlen Hallen woben. Dort ſah Friedrich ein
Mädchen in einem reinlichen, weißen Kleide auf
dem Boden ſitzen, halb mit dem Rücken nach ihm
gekehrt. Er hörte das Mädchen ſingen und konnte
deutlich folgende Worte verſtehen:


In einem kühlen Grunde,

Da geht ein Mühlenrad,

Mein' Liebſte iſt verſchwunden,

Die dort gewohnet hat.
Sie hat mir Treu' verſprochen,

Gab mir ein'n Ring dabey,

Sie hat die Treu' gebrochen,

Mein Ringlein ſprang entzwey.
[357]
Ich möcht' als Spielmann reifen

Weit in die Welt hinaus,

Und ſingen meine Weiſen

Und geh'n von Haus zu Haus.
Ich möcht' als Reiter fliegen,

Wohl in die blut'ge Schlacht,

Um ſtille Feuer liegen,

Im Feld bey dunkler Nacht.
Hör' ich das Mühlrad gehen,

Ich weiß nicht, was ich will —

Ich möcht' am liebſten ſterben,

Da wär's auf einmal ſtill.

Dieſe Worte, ſo aus tiefſter Seele herausge¬
ſungen, kamen Friedrich'n in dem Munde eines
Mädchens ſehr ſeltſam vor. Wie erſtaunt, ja wun¬
derbar erſchüttert aber war er, als ſich das Mäd¬
chen, während des Geſanges, ohne ihn zu bemer¬
ken, einmal flüchtig umwandte, und er bey dem
Sonnenſtreif, der durch die Zweige grade auf ihr
Geſicht fiel, nicht nur eine auffallende Aehnlichkeit
mit dem Mädchen, das ihm damals in der Mühle
hinaufgeleuchtet, bemerkte, ſondern in dieſer Klei¬
dung und Umgebung vielmehr jenes wunderſchöne
Kind aus längſtverklungener Zeit wiederzuſehen
glaubte, mit der er als kleiner Knabe ſo oft zu
Hauſe im, Garten geſpielt, und die er ſeitdem nie
wiedergeſehen hatte. Jetzt fiel es ihm auch plötzlich
wie Schuppen von den Augen, daß dieß dieſelben
Züge ſeyen, die ihm in dem verlaſſenen Gebirgs¬
ſchloſſe auf dem Bilde der heiligen Anna in dem
[358] Geſichte des Kindes Maria ſo ſehr aufgefallen wa¬
ren. —


Verwirrt durch ſo viele ſich durchkreutzende,
uralte Erinnerungen, ritt er auf das Mädchen zu,
da ſie eben ihr Lied geendigt hatte. Sie aber, von
dem Geräuſche aufgeſchreckt, ſprang, ohne ſich weiter
umzuſehen, fort, und war bald in dem Walde ver¬
ſchwunden.


Da ſah er auf der Anhöhe, wohin ſich das
Mädchen geflüchtet, eine andere weibliche Geſtalt
zwiſchen den Bäumen erſcheinen, groß, ſchön und
herrlich. — Es war Friedrich'n, als begrüſſe ihn
ſein ganzes vergangenes Leben hier, wie in einem
Traume, noch einmal in tauſend ſchönwirrenden
Verwandlungen; denn je näher er dem Berge
kam, je deutlicher glaubte er in jener Geſtalt Ju¬
lien wieder zu erkennen. Er ſtieg vom Pferde und
eilte die Anhöhe hinauf, wo unterdeß die liebliche
Erſcheinung ſich wieder verlohren hatte.


Oben fand er ſie ruhig auf dem Boden ſitzend,
es war wirklich Julie. Stille, ſtille! ſagte ſie, als
er näher trat, nicht weniger überraſcht, als er, und
wies auf Leontin, der, neben ihr an einem Baume
angelehnt, eingeſchlummert lag. Er war auffallend
blaß, ſein linker Arm ruhte in einer Binde. Frie¬
drich betrachtete verwundert bald Leontin bald Ju¬
lien. Julien ſchien dabey das Unſchickliche ihrer
einſamen Lage mit Leontin einzufallen, und ſie ſah
erröthend in den Schooß.

[359]

Leontin war indeß erwacht und machte die Au¬
gen groß auf, da er neben der Geliebten auch noch
den Freund vor ſich ſah. Da mag ſchlafen, wer
Luſt hat, wenn es wieder ſo luſtig auf der Welt
ausſieht, ſagte er, und ſprang raſch auf. Frie¬
drich erſtaunte, wie männlicher ſeitdem ſein ganzes
Weſen geworden. Aber ſage, wie hat Dich der
Himmel wieder hiehergebracht? fuhr er fort, ich
dachte, dieſe Zeit wurde uns beyde mit verſchlin¬
gen; aber ich glaube, ſie fürchtet ſich, uns nicht
verdauen zu können. — Friedrich kam nun vor lau¬
ter Fragen nicht ſelber zum fragen, ſo ſehr es ihm
auch am Herzen lag, er mußte ſich bequemen, die
Geſchichte ſeines Lebens ſeit ihrer Trennung zu er¬
zählen. Als er auf den Tod der Gräfin Romana
kam, wurde Leontin nachdenklich. Julie, die auch
ſonſt ſchon viel von ihr gehört, konnte ſich in dieſe
ihre ſeltſame Verwilderung durchaus nicht finden
und verdammte ihr ſchimpfliches Ende ohne Erbar¬
men, ja mit einer ihr ſonſt ungewöhnlichen Art von
Haß.


Nach vielem Hin- und Herreden, das jedes
Wiederſehen mit ſich zu bringen pflegt, bat endlich
auch Friedrich die beyden, ſeinen Bericht mit einer
ausfuhrlichen Erzählung ihrer ſeitherigen Begeben¬
heiten zu erwiedern, da er aus ihren kurzen, un¬
zuſammenhängenden Antworten noch immer nicht
klug werden konnte. Vor allem erkundigte er ſich
um das Mädchen, das, wie er meynte, zu ihnen
geflüchtet ſeyn müſſe. Julie ſah dabey Leontinen
[360] unentſchloſſen an. — Laſſen wir das jetzt! ſagte
dieſer, die Gegend und meine Seele iſt ſo klar und
heiter wie nach einem Gewitter, es iſt mir grade
alles recht lebhaft erinnerlich, ich will Dir erzählen,
wie wir hier zuſammengekommen.


Er nahm hieben eine Flaſche Wein aus einem
Körbchen, das neben Julien ſtand, und ſetzte ſich
damit an den Abhang mit der Ausſicht in die grü¬
ne Waldſchluft bey der Mühle; Friedrich und Ju¬
lie ſetzten ſich zu beyden Seiten neben ihn. Sie
wollte ihm durchaus die Flaſche wieder entreiſſen, da
ſie wohl wußte, daß er mehr trinken werde, als
ſeinen Wunden noch zuträglich war. Aber er hielt
ſie feſt in beyden Händen. Wo es, ſagte er, wie¬
der ſo gut friſch Leben giebt, wer fragt da, wie
lange es dauert! Und Julie mußte ſich am Ende
ſelber bequemen mitzutrinken. Sie hatte ſich mit
beyden Armen auf ſeine Kniee geſtützt, um die Ge¬
ſchichte, die ſie beynah ſchon auswendig wußte, noch
einmal recht aufmerkſam anzuhören. Friedrich, der
ſie nun ruhiger betrachten konnte, bemerkte dabey,
wie ſich ihre ganze Geſtalt ſeitdem entwickelt hatte.
Alle ihre Züge waren entſchiedener und Geiſtreich.
So begann nun Leontin folgendermaßen:


Als ich auf jener Alpe während der Gemſen¬
jagd von Dir Abſchied nahm, wurde mir ſehr ban¬
ge, denn ich wußte wahrhaftig nicht, was ich in
der Welt eigentlich wollte und anfangen ſollte.
Was recht Tüchtiges war eben nicht zu thun, und
meine Thätigkeit, gleichviel, ob am Guten oder
[361] Schlechten, blos um der Thätigkeit willen abzuar¬
beiten, wie man etwa ſpazieren geht, um ſich Mo¬
tion zu machen, war von jeher meine größte Wi¬
derwärtigkeit. Wäre ich recht arm geweſen, ich
hätte aus lauterer Langeweile arbeiten können, um
mir Geld zu erwerben, und hinterdrein die Leute
überredet, es geſchehe alles um des Staates wil¬
len, wie die anderen thun. Unter ſolchen morali¬
ſchen Betrachtungen ritt ich über das Gebirge fort,
und es that mir recht ohne allen Hochmuth leid,
wie da alle die Städte und Dörfer, gleich Ameiſen¬
haufen und Maulwurfshügeln, ſo tief unter mir
lagen; denn ich habe nie mehr Menſchenliebe, als
wenn ich weit von den Menſchen bin. Da wurde
es nach und nach ſchwül und immer ſchwüler unten
über dem deutſchen Reiche, die Donau ſah ich wie
eine ſilberne Schlange durch das unendliche, blau¬
ſchwüle Land geh'n, zwey Gewitter, dunkel, ſchwer
und langſam ſtanden am äuſſerſten Horizonte gegen¬
einander auf; ſie blizten und donnerten noch nicht,
es war eine erſchreckliche Stille. — Ich erinnere
mich, wie frey mir zu Muthe wurde, als ich end¬
lich die erſten Soldaten unten über die Hügel kom¬
men und hin und wiederreiten, wirren und blitzen
ſah.


Ich zog in den Krieg hinunter. Was da ge¬
ſchah, iſt Dir bekannt. Nach der großen Schlacht,
die wir verlohren, war das Korps, zu dem ich ge¬
hörte, erſchlagen und zerſprengt, ich ſelber von den
Meinigen getrennt. Ich ſuchte durch verſchiedene
[362] Umwege mich wieder zu vereinigen, aber je länger
ich ritt, je tiefer verirrte ich mich in dem verteufel¬
ten Walde. Es regnet und ſtürmte in einem fort,
aber ich mochte nirgends einkehren, denn ich war
innerlichſt ſo zornig, daß ich mich in dem Wetter
noch am leidlichſten befand.


Am Abend des anderen Tages fiengen endlich
die Wolken an ſich zu zertheilen, die Sonne brach
wieder hindurch und ſchien warm und dampfend auf
den Erdboden, da kam ich auf einer Höhe plötzlich
aus dem Walde und ſtand — vor Juliens Gegend.
Ich kann es nicht beſchreiben, mit welcher Empfin¬
dung ich aus der kriegeriſchen Wildniß meines em¬
pörten Gemüths ſo auf einmal in die Friedens- und
Segensreiche Gegend voll alter Erinnerungen und
Anklänge hinausſah, die, wie Du wiſſen wirſt, zwi¬
ſchen ihren einſamen Bergen und Wäldern mitten
im Kriege in tiefſter Stille lag.


Überraſcht blieb ich oben ſtehen. Da ſah ich
den blauen Strom unten wieder gehn und Segel
fahren, das freundliche Schloß am Hügel und den
wohlbekannten Garten ringsumher, alles in alter
Ruhe, wie damals. Den Herrn v. A. ſah ich auf
dem mittelſten Gange des Gartens hinab ruhig ſpa¬
zieren gehen. Auf den weiten Plänen jenſeits des
Stromes, über welche die eben untergehende Sonne
ſchräge ihre letzten Strahlen warf, kam ein Reiter
auf daß Schloß zugezogen, ich konnte ihn nicht er¬
kennen. Julien erblickte ich nirgends.

[363]

Es ließ mir da oben nicht länger Ruh; ich
eilte den Berg hinunter, ich wollte Julien, ihren
Vater, den Viktor wiederſehen, die ganze Vergan¬
genheit noch einmal in Einem ſchnellen Zuge durch¬
leben und genießen. Tiefer unten am Abhange er¬
blickte ich den Reiter plötzlich wieder. Es war eine
junge, hagere, verlebte Figur, durchaus modern,
einer von den gang und gäben alten Jungen mit der
Brille auf der Naſe. Mich überlief ein Aerger,
daß dieſes modiſche, mir nur zu ſehr bekannte Ge¬
zücht auch ſchon bis in dieſe glücklichverborgenen
Thäler gedrungen war. Er aber ſah mich flüchtig
vornehm an, lenkte auf einen bequemeren, aber
weiteren Umweg nach dem Schloß, und verſchwand
bald wieder.


Ein Bauer aus dem Dorfe des Herrn v. A.,
der auch von der Arbeit nach Hauſe gieng, hatte
ſich indeß neben mir eingefunden. Ich erinnerte
mich ſeines Geſichts ſogleich wieder, er aber kannte
mich nicht mehr. Von dieſem erfuhr ich nach einem
ſchnell angeknüpften Geſpräche, daß die Tante
ſchon ſeit längerer Zeit todt ſey. — Ich fragte ihn
darauf, wer der fremde Herr ſey, der eben vorbey
geritten. Er antwortete mir mit heimlicher Miene:
Fräulein Juliens Bräutigam. —


Hier ſchüttelte Julie lächelnd den Kopf und
wollte Leontins Erzählung unterbrechen. Leontin
fuhr aber ſogleich wieder fort:

[364]

Es war inzwiſchen völlig Nacht geworden, als
ich das Dorf erreichte. Ich mochte nach jener Nach¬
richt nun niemanden aus dem Hauſe ſprechen noch
ſehen — nur einen flüchtigen Streifzug durch den
alten, ſchuldloſen Garten wollt' ich machen, und ſo¬
gleich wieder fort.


Ich band mein Pferd an einem Baume an
und ſtieg übern Zaun in den Garten. Dort war
jeder Gang, jede Bank, ja, jedes Blumenbeet
noch immer auf dem alten Platze, ſo daß die See¬
le nach ſo viel inzwiſchen durchlebten Gedanken und
Veränderungen dieſen gemüthlichen Stillſtand kaum
faſſen konnte. Der Sturm wüthete indeß noch im¬
mer heftig fort, und riß ein Heer von Wolken
nebſt vielen verſpäteten Abendvögeln, die kreiſchend
dazwiſchenruderten, in einer unabſehbaren Flucht
über den Garten hinaus, während unten die Bäu¬
me ſich neigten und einzelne Nachtigallentöne aus
den Thälern durch den Wind heraufklagten; es war
eine rechte dunkelſchwüle Geſpenſternacht.


Ein ungewöhnlich ſtarkes Licht, das aus dem
einen Fenſter in den Garten hinausſchien, zog mich
zum Schloſſe hin. Ich ſtellte mich grade vor das
Fenſter und konnte das ganze Zimmer überſehen,
das von einem Kaminfeuer ſo hell erleuchtet wurde.
Der Herr v. A. ſaß in einem Lehnſtuhle und las
Zeitungen, Julie ſaß am Kamine und ſang, hatte
aber den Rücken gegen das Fenſter gekehrt, ſo daß
ich ihr Geſicht nicht ſehen konnte. Was ſie ſang,
[365] war eine alte Romanze, die mir ſchon als Kind be¬
kannt war. Sie iſt mir noch erinnerlich:


Hoch über den ſtillen Höhen

Stand in dem Wald ein Haus,

Dort war's ſo einſam zu ſehen

Weit über'n Wald hinaus.
D'rin ſaß ein Mädchen am Rocken,

Den ganzen Abend lang,

Der wurden die Augen nicht trocken,

Sie ſpann und ſann und ſang:
„Mein Liebſter der war ein Reiter,

Dem ſchwur ich Treu' bis in Tod,

Der zog über Land und weiter,

Zu Krieges-Luſt und Noth.
Und als ein Jahr war vergangen,

Und wieder blühte das Land,

Da ſtand ich voller Verlangen,

Hoch an des Waldes Rand.
Und zwiſchen den Bergesbogen,

Wohl über den grünen Plan,

Kam mancher Reiter gezogen,

Der Meine kam nicht mit an.
Und zwiſchen den Bergesbogen,

Wohl über den grünen Plan,

Ein Jägersmann kam geflogen,

Der ſah mich ſo muthig an.
So lieblich die Sonne ſchiene,

Das Waldhorn ſcholl weit und breit,

Da führt' er mich in das Grüne,

Das war eine ſchöne Zeit! —
[366]
Der hat ſo lieblich gelogen

Mich aus der Treue heraus,

Der Falſche hat mich betrogen,

Zog weit in die Welt hinaus.“ —
Sie konnte nicht weiter ſingen,

Vor bitteren Schmerz und Leid,

Die Augen ihr übergiengen

In ihrer Einſamkeit.

Julien gieng es wohl nicht beſſer, denn ſie
ſtand plötzlich auf, öffnete das Fenſter und lehnte
ſich in die Nacht hinaus. Ueberhaupt glaubte ich
während dem Singen eine große Unruhe an ihr be¬
merkt zu haben. Was iſt das für ein erſchrecklicher
Sturm! hört' ich den Herrn v. A. d'rinn ſagen,
der bedeutet noch Krieg, Gott ſteh' unſeren Leuten
bey, die ſchlagen ſich wohl jetzt wieder. — Und ich
muß hier ſitzen! ſagte Julie aus tiefſter Seele. —
Ich ſtand ſeitwärts an einen Pfeiler gelehnt und
die Töne giengen in dem raſenden Winde gar ſelt¬
ſam wehmüthig über den Garten hinaus, in dem
ich mir nun wie ein lange Verbannter vorkam, da
Julie bald darauf in ihrem Geſange am offenen
Fenſter wieder alſo fortfuhr:


Die Muhme, die ſaß beym Feuer

Und wärmet ſich am Kamin,

Es flackert und ſprüht das Feuer,

Hell über die Stnb' es ſchien.
Sie ſprach: „Ein Kränzlein in Haaren,

Das ſtünde dir heut gar ſchön,

Willſt drauſſen auf dem See nicht fahren?

Hohe Blumen am Ufer dort ſteh'n.“
[367]
Ich kann nicht holen die Blumen,

Im Hemdlein weiß am Teich

Ein Mädchen hütet die Blumen,

Die ſieht ſo todtenbleich.
„Und hoch auf des Sees Weite,

Wenn alles finſter und ſtill,

Da rudern zwey ſtille Leute, —

Der Eine dich haben will.“
Sie ſchauen wie alte Bekannte,

Still, ewig ſtille ſie ſind,

Doch einmal der Eine ſich wandte,

Da faßt' mich ein eiskalter Wind. —
Mir iſt zu wehe zum Weinen —

Die Uhr ſo gleichförmig pickt,

Das Rädlein, das ſchnurrt ſo in einem,

Mir iſt, als wär' ich verrückt. —
Ach Gott! wann wird ſich doch röthen,

Die fröhliche Morgenſtund!

Ich möchte hinausgeh'n und bethen,

Und bethen aus Herzensgrund!
So bleich ſchon werden die Sterne,

Es rührt ſich ſtärker der Wald,

Schon krähen die Hähne von Ferne,

Mich friert, es wird ſo kalt!
Ach, Muhme! was iſt Euch geſchehen?

Die Naſe wird Euch ſo lang,

Die Augen ſich ſeltſam verdrehen —

Wie wird mir vor Euch ſo bang! —
Und wie ſie ſo grauenvoll klagte,

Klopft's drauſſen ans Fenſterlein,

Ein Mann aus der Finſterniß ragte,

Schaut ſtill in die Stube herein.
[368]
Die Haare wild umgehangen,

Von blutigen Tropfen naß,

Zwey blutige Streiffen ſich ſchlangen,

Wie Kränzlein, um's Antlitz blaß.
Er grüßt' ſie ſo fürchterlich heiter,

Er heißt ſie ſein' liebliche Braut,

Da kannt' ſie mit Schaudern den Reiter,

Fällt nieder auf ihre Knie.
Er zielt' mit dem Rohre durchs Gitter,

Auf die ſchneeweiße Bruſt hin;

„Ach, wie iſt das Sterben ſo bitter,

Erbarm' dich, weil ich ſo jung noch bin!“ —
Stumm blieb ſein ſteinerner Wille,

Es blitzte ſo roſenroth,

Da wurd' es auf einmal ſtille

Im Walde und Haus und Hof. —
Frühmorgens da lag ſo ſchaurig,

Verfallen im Walde das Haus,

Ein Waldvöglein ſang ſo traurig,

Flog fort über den See hinaus.

Gegen das Ende ihres Geſanges hatte Julie
von ohngefähr meinen Schatten bemerkt, den das
Licht vom Zimmer lang und unbeweglich in den
Garten warf. Sie ſah ſich ſtutzend um, und da ſie
nichts erblicken konnte, ſchloß ſie nachdenklich und
ſchweigend das Fenſter. In dieſem Augenblick
klopfte es d'rinn an die Stubenthür. Sie fuhr er¬
ſchrocken zuſammen und vom Fenſter auf. Ich blick¬
te noch einmal hinein und ſah jenen gehäßigen Rei¬
ter, dem ich vorhin begegnet, eilfertig eintreten.
Er[369] Er lebt! rief Julie auſſer ſich vor Freude und ſtürz¬
te dem Manne um den Hals. —


Hatt' ich ſchon vorher drauſſen in dem Frem¬
den ſogleich einen von jenen poetiſchen Jüngern er¬
kannt, die's niemals zum Meiſter oder überhaupt
zu einem Manne bringen, ſo kam mir jetzt der
hagere, blaſſe Poet neben der geſunden Julie, die
unterdeß ſo wunderbar hoch geworden war, und
deren große Augen in dieſem Augenblicke vor Freu¬
de ordentliche Strahlen warfen, gar erbärmlich vor.
Mir kamen die Verſe aus Göthe's Fiſcherin zwiſchen
die Zähne:


Wer ſoll Bräutigam ſeyn?

Zaunkönig ſoll Bräutigam ſeyn!

Zaunkönig ſprach zu ihnen

Hinwieder den Beyden:

Ich bin ein ſehr kleiner Kerl,

Kann nicht Bräutigam ſeyn,

Ich kann nicht der Bräutigam ſeyn!

Ich ſchwang mich ſogleich wieder über den
Gartenzaun, band mein Pferd los und gieng, es
hinter mir herführend, aus dem Dorfe hinaus.


Da kam ich am anderen Ende deſſelben an dem
kleinen Häuschen Viktors vorüber. Ich guckte ihm
ins Fenſter hinein, das, wie Du weißt, im Som¬
mer Tag und Nacht offen ſteht. Er ſaß eben, mit
dem Rücken gegen das Fenſter, über einem alten
dicken Buche, den Kopf in die Hand geſtützt. Das
Licht auf dem Tiſche flackerte ungewiß umher, die
24[370] vielen Uhren an den Wänden pickten einförmig im¬
merfort, es war eine unendliche Einſamkeit drinnen.
Ich begrüßte ihn endlich mit dem Vers, der ihm
im ganzen Fauſt der liebſte war: „Ich guckte der
Eule in ihr Neſt, Hu! die macht' ein Paar Au¬
gen!“ Er wandte ſich ſchnell um und als er mein
Geſicht völlig erkannte, ſprang er auf, warf die
Bücher und alles, was auf dem Tiſche lag, auf die
Erde und tanzte wie unſinnig in der Stube herum.
Ich kletterte ſogleich durchs Fenſter zu ihm hinein,
ergriff eine halbbeſpannte Geige, die an der Wand
hieng, und ſo walzten wir beyde mit den ſeltſam¬
ſten Geberden und großem Getös nebeneinander in
der kleinen Stube auf und ab, bis er endlich er¬
ſchöpft vor Lachen auf den Boden hinſank. Es
dauerte lange, ehe wir zu einem vernünftigen Diſ¬
kurs kamen, während welchem er einen ungeheue¬
ren Krug voll Wein anſchleppte. Er iſt noch immer
der alte, noch immer nicht fetter, nicht ruhiger,
nicht klüger, und, wie ſonſt, wüthend kriegeriſch
gegen alle Sentimentalität, die er ordentlich mi߬
handelt.


Gegen Mitternacht endlich, ſoviel er auch dage¬
gen hatte, zog ich wieder von dannen, das gelobte
Land in ruhigem Schlafe hinter mir, und die weite
Stille ringsumher geſegnend, während Viktor, der
mich ein Stück begleitet hatte, auf der letzten Höhe
mir wie eine Windmühle in der Dunkelheit mit dem
Hute nachſchwenkte und nachrief, bis alles in den
großen, grauen Schooß verſunken war.

[371]

In den Krieg denn von neuem in Gottes
Nahmen hinaus! rief ich drauſſen und nahm die
Richtung auf mein Schloß, da ich indeß erfahren
hatte, daß der Tummelplatz jetzt dort in der Nähe
ſey. Bey Sonnenaufgang ſah ich die unſrigen in
dem weiten Thale bunt und blitzend zerſtreut wie¬
der und das Herz gieng mir auf bey dem Anblick.
Die luſtige Bewegung, die mir von weitem ſo mu¬
thig entgegenblitzte, war aber nichts anderes, als
eine verworrene, gränzenloſe Flucht. Der Feind
war noch ziemlich weit, ich ritt daher an den zer¬
ſtreuten Trupps langſam vorüber. Da ſah ich den
Haufen in dumpfer Reſignation herumtaumeln,
Mehrere weiſe Mienen achſelzuckend zur Schau
tragen, als ſteckten wohl ganz andere Plane dahin¬
ter — keinem hätte das Herz im Leibe zerſpringen
mögen. Da fiel mir ein, was mir Viktor oft in
ſeinen melankoliſchſten Stunden geſagt: beſſer Uhren
machen, als Soldaten ſpielen.


Ich meines Theils war feſt entſchloſſen, da
alles, was mir ehrwürdig und lieb auf Erden war,
zu Grunde gehen ſollte, lieber fechtend ſelber mit
unterzugeh'n, als gefangen in der gemeinen
Schande zurückzubleiben. Ich ſprengte eilig auf
mein Schloß und bot alle meine Jäger und Diener
auf, deren Geſinnung und Treue ich kannte, viele
Freywillige von der Armee geſellten ſich wacker da¬
zu und ſo verſchanzten und beſetzten wir mein
Schloß und Garten, da ich wohl wußte, daß der
24 *[372] Feind bey ſeiner Verfolgung dieſen Weg nehmen
und demſelben an dieſer vortheilhaften Höhe beſon¬
ders viel gelegen ſeyn mußte. Wir wehrten uns
verzweifelt oder vielmehr tollkühn gegen die Ueber¬
macht. Die feindlichen Kugeln hatten mein Schloß
fürchterlich zerriſſen, die Geſimſe brannten, ein
Burgthor nach dem anderen ſtürzte in den Lohen
zuſammen, alles war verlohren, und ich fiel der
letzte nieder. — Als ich die Augen wieder auf¬
ſchlug, lag ich im Sonnenſcheine in dem ſchönen
Garten des Herrn v. A. vor der großen Ausſicht,
und Julie ſtand ſtill neben mir. —


Hier hielt Leontin inne, denn Julie, die ſich
ſchon einige Zeit mit ängſtlicher Unruhe umgeſehen
hatte, ſagte ihm etwas ins Ohr, ſtand ſchnell auf
und gieng in den Wald hinein, worauf Leontin,
nachdem er ihr eine Weile nachgeſehen, folgender¬
maßen wieder fortfuhr:


Es war mir wie im Traume, als ich ſo wie¬
der meinen erſten Blick in die Welt that, alles auf
einmal ſo ſtille um mich, und Julie neben mir, die
mich ſchweigend und ernſthaft betrachtete. Sie
ſagte mir damals nichts, aber ſpäter erfuhr und
errieth ich Folgendes: Der moderne Junge, dem ich
damals in der Nacht auf dem Schloſſe des Herrn
v. A. begegnet, war ein Edelmann aus der Nach¬
barſchaft, der erſt unlängſt von Univerſitäten auf
ſeine Güter zurückgekehrt war. Seine faſt täglichen
Beſuche bey Julien, ſeine ungebundene Art mit ihr
umzugehen, und die voreilig geſchwätzigen Andeu¬
[373] tungen der anfangs noch lebenden Tante veranla߬
ten, daß er binnen kurzer Zeit allgemein für Ju¬
liens Bräutigam gehalten wurde. Er war nach ſei¬
ner Art verliebt in Julien, aber ein Mädchen im
Ernſte zu lieben oder gar zu heirathen, hielt er
für lächerlich, denn — er war zum Dichter beru¬
fen. Als nachher der Krieg ausbrach und das Ge¬
rücht mein Benehmen dabey auch bis dorthin trug,
prieß er mit gränzenloſem Enthuſiasmus, doch im¬
mer mit der vornehmen Miene eines eigenen, hö¬
heren Standpunktes, ſolche erzgediegene, Lebens¬
kräftige Naturen, ewig zuſammenhaltende Granit¬
blöcke des Gemeinweſens u. ſ. w., aber ſelbſt mit
dreinſchlagen konnt' er nicht, denn — er war zum
Dichter berufen. Uebrigens hat er ein ganz or¬
dinär ſogenanntes gutes Herz. Daher ritt er, als
mich allerhand widerſprechende Gerüchte bald für
todt, bald für verwundet ausgaben, aus Mitleid
für Julien auf Kundſchaft aus, und kehrte eben in
jener Nacht, da ich ihm begegnete, mit der ge¬
wiſſen Bothſchaft meines Lebens zurück, und Ju¬
liens: „Er lebt!“ das mich damals ſo ſchnell vom
Fenſter und übern Zaun und aus dem Dorfe trieb,
galt mir.


Erſtaunt erfuhr Julie am Morgen von Viktor
meinen ſchnellen Durchzug und bald nachher auch
das Loos meiner Burg. Ohne Verwirrung im
Schreck wie in der Freude, ſattelte ſie noch in der
Nacht, wo ſie die Nachricht erhalten, ihr Pferd,
und ritt, ohne ihren Vater zu wecken, mit einem
[374] Bedienten nach meinem Schloß. Der vermeynte
Bräutigam, der noch dort war, ließ es ſich durch¬
aus nicht nehmen, die Romanze, wie er es nann¬
te, mitzumachen. Er ſchmückte ſich in aller Eile
ſehr phantaſtiſch und abentheuerlich aus, bewaffne¬
te ſich mit einem Schwerdt, einer Flinte und meh¬
reren Piſtolen, obſchon die Feinde mein Schloß
längſt wieder verlaſſen hatten, da es ihnen jetzt,
bey dem großen Vorſprunge der Unſrigen, ganz
unnütz geworden war. Julie ſuchte unermüdlich
zwiſchen den zuſammengefallenen Steinen, erkann¬
te mich endlich und trug mich ſelbſt aus den dam¬
pfenden Trümmern. Der Bräutigam machte ein
Sonett darauf und Julie heilte mich zu Hauſe aus.


Da aber meine Vertheidigung des Schloſſes als
unberufen, und, in einem bereits eroberten Lande,
als rebelliſch angeſehen wird, ſo wurde mir vom
Feinde nachgeſtellt und ich befand mich auf dem
Schloſſe des Herrn v. A. nicht mehr ſicher. Man
brachte mich daher auf dieſe abgelegene Mühle hier,
wo mich Julie täglich beſucht, bis ich endlich jetzt
wieder ganz hergeſtellt bin.


So endigte Leontin ſeine Erzählung. — Und
wohin willſt Du nun? fragte Friedrich. Jetzt weiß
ich nichts mehr in der Welt, ſagte Leontin unmu¬
thig. — Sie mußten abbrechen, denn eben kam
Julie wieder zurück und winkte Leontinen heimlich
mit den Augen, als ſey etwas Bewußtes glücklich
vollbracht.

[375]

Sie hatten indeß über dieſen Unterhaltungen
alle nicht bemerkt, daß es bereits anfieng dunkel zu
werden. Julie wurde es zuerſt gewahr, und zwar
nicht ohne ſichtbare Verlegenheit, denn jetzt in der
Nacht nach Hauſe zu reiten, war, wegen den noch
immer herumſtreifenden Soldaten, für ihr Geheim¬
niß höchſtbedenklich, andrerſeits überfiel ſie ein mäd¬
chenhafter Schauer bey dem Gedanken, ſo alleine
mit zwey Männern im Walde über Nacht zu blei¬
ben. Am Ende mußte ſie ſich doch zu dem letzteren
bequemen, und ſo lagerten ſie ſich dann, ſo gut ſie
konnten, vergnüglich in das hohe Gras auf der An¬
höhe.


Die Nacht dehnte langſam die ungeheueren
Drachenflügel über den Kreis der Wildniß unter
ihnen, die Wälder rauſchten dunkel aus der grän¬
zenloſen Stille herauf. Julie war ohne alle Furcht.
Leontin aber, der noch matt war, fieng endlich an,
ſich nach kräftigerer Ruhe zu ſehnen, und auch
Julien wurde die zunehmende Friſche der Nacht nach
und nach empfindlich. Sie brachen daher auf und
begaben ſich zu der nahen, alten, verlaſſenen Müh¬
le, wo Leontin, wie geſagt, ſchon ſeit einigen Ta¬
gen heimlich ſein Quartier hatte. Friedrich wollte
drauſſen auf der Schwelle bleiben und als ein wa¬
ckerer Ritter die Jungfrau im Kaſtell bewachen,
Julie bat ihn aber erröthend mit hineinzugehen,
und er willigte lächelnd ein, während einem Be¬
dienten, den Julie mitgebracht, aufgetragen wurde,
vor der Thür Haus und Pferde zu bewachen.

[376]

Das Stübchen, das ſie in Beſchlag nahmen,
war eng und nur zur Noth vor dem Wetter ver¬
wahrt. Ein Bett, das Julie für Leontin mitge¬
bracht hatte, wurde vertheilt und nebſt einigem
Stroh auf dem Fußboden ausgebreitet, ſo daß es
für alle drey hinreichte; Licht wagte man nicht zu
brennen. Die beyden Grafen nahmen das Fräulein
in ihre Mitte, Leontin war vor Müdigkeit bald
entſchlafen. Friedrich bemerkte, wie Julie ſich feſt
aufs Ohr legte und that als ob ſie ſchliefe, wäh¬
rend ſie beyde Augen lauſchend weit offen hatte und
Leontinen in einemfort ungeſtört betrachtete, bis ſie
endlich auch mit einſchlummerte.


Friedrich hatte ſich mit halbem Leibe aufgerich¬
tet und ſah ſich, auf den einen Arm geſtützt,
ringsum. Ein Schauder überlief ihn, ſich wieder
an demſelben Orte zu erblicken, wo er damals die
grauſige Nacht verlebt. Er gedachte des jungen
Mädchens wieder, das ihm damals in dieſer Stube
hier Feuer gepickt hatte, ihm fiel dabey die räth¬
ſelhafte Geſtalt ein, die er heut bey ſeiner Ankunft
vor der Mühle getroffen, und ihre flüchtige Aehn¬
lichkeit mit jener, und er verſank in ein Meer von
Erinnerungen und Verwirrung. Julien hörte er
leiſe neben ſich athmen, es war eine unendlich ſtille,
mondhelle Nacht.


Da erhob ſich auf einmal drauſſen ein Geſang,
von einer Zitter begleitet, zuerſt vom Walde, dann
wie aus der Ferne melodiſch ſchallend, das Haus
mit wunderſchönen Weiſen erfüllend, dann wieder
[377] weiter verhallend. Friedrich wagte kaum zu ath¬
men, um die Zauberey nicht zu ſtören. Doch, je
länger er den leiſe, verſchwindenden Tönen lauſchte,
je unruhiger wurde er nach und nach; denn es war
wieder jenes alte Lied aus ſeiner Kindheit, das er
einmal in der Nacht auf Leontins Schloſſe von Er¬
win auf der Mauer ſingen gehört; auch ſchien es
dieſelbe Stimme. Er raffte ſich endlich auf und
trat leiſe vor die Thüre hinaus. Da lag und ſchlief
der Bediente quer über der Schwelle wie ein Tod¬
ter. Drauſſen ſah er den Sänger im hellen Mond¬
ſcheine unter den hohen Eichen wandeln. Er lief
freudig auf ihn zu — es war Erwin! — Der Kna¬
be wandte ſich ſchnell, und als er Friedrich'n er¬
blickte, ſtürzte er mit einem durchdringenden Schrey
zu Boden, unter ihm lag ſeine Zitter zerbrochen.


Der Bediente auf der Schwelle fuhr über dem
Schrey taumelnd auf. Verrückt! verrückt! rief er,
ſich aufmunternd, Friedrich'n zu, und eilte ſehr
ängſtlich in das Haus hinein, um ſeine Herrſchaft
zu wecken. Friedrich'n ſchnitt dieſer Ausruf wie
Schwerdter durchs Herz, denn er hatte es aus des
Knaben unbegreiflicher Flucht längſt gefürchtet.


Erwin ſah indeß wie aus einem langen Traume
mit ungewißſchweifenden Blicken rings um ſich her
und dann Friedrich'n an, während ſehr heftige
innerliche Zuckungen, die ſich immer mehr dem Her¬
zen zu nähern ſchienen, durch ſeinen Körper fuh¬
ren. Abgebrochen durch den Schmerz, aber ohne
ſein ſchönes Geſicht zu verziehen, ſagte er zu Frie¬
[378] drich: „Es war ein tiefes, weites, roſenrothes
Meer, Dich ſah ich darin auf dem Grunde immer¬
fort über hohe Gebirge gehen, ich ſang die beſten
alten Lieder, die ich wußte, aber Du erinnerteſt
Dich nicht mehr daran, und ich konnte Dich niemals
erjagen, und unten ſtand der Alte tief im Mee¬
re, ich fürchtete mich vor ſeinen Augen. Manchmal
ruhteſt Du, auf mich zugewendet, aus, da ſaß ich
ſtill Dir gegenüber und ſah Dich viel hundert Jah¬
re an — ach, ich war Dir ſo gut, ſo gut! —
Die Leute ſagten, ich ſey verrückt, ich hörte es
wohl und hörte auch drauſſen die Uhren ſchlagen
und die Welt ordentlich gehen und ſchallen wie
durch Glas, aber ich konnte nicht mit hinein. Da¬
mals war mir wohl, jetzt bin ich wieder krank. —
Glaube nur nicht, daß ich jetzt irre ſpreche, jetzt
weiß ich wohl recht gut, was ich rede und wo ich
bin — daß iſt ja der Eichgrund, das iſt die alte
Mühle — bey dieſen Worten verſank er in ein ſtar¬
res Nachſinnen. Dann fuhr er unter immerwähren¬
den Krämpfen wieder fort: Dort, wo die Sonne
aufgeh'n wird, iſt ein großer Wald, in dem Walde
wohnt ein Mann mit dunklen Augen und einer lan¬
gen Schramme über dem rechten Auge, der kennt
mich und Euch alle, er —‟ hier nahmen die Zu¬
ckungen in immer engeren Kreiſen auf einmal ſehr
heftig zu. Der Knabe nahm Friedrichs Hand, drück¬
te ſie feſt an ſeine Lippen und ſagte: mein lieber
Herr! Ein plötzlicher Krampf ſtreckte noch einmal
ſeinen ganzen Leib und er hörte auf zu athmen.

[379]

Friedrich, auſſer ſich, ſtürzte über ihn her und
öffnete oben ſchnell ſein Wamms, denn es war die¬
ſelbe phantaſtiſche Kleidung, die der Knabe ſonſt
auf dem Schloſſe des Herrn v. A. getragen hatte.
Wie ſehr erſchrack und erſtaunte er, als ihm da
der ſchönſte Mädchenbuſen entgegenſchwoll, noch
warm, aber nicht mehr ſchlagend. — Er blieb wie
eingewurzelt auf ſeinen Knieen und ſtarrte dem
Mädchen in das ſtille Geſicht, als hätte er es noch
nie vorher geſehen.


Leontin und Julie waren unterdeß auch aus der
Mühle herbeygeeilt. Sie ſchienen gar nicht er¬
ſtaunt, Erwin hier zu ſehen, noch weniger über
die Entdeckung ſeines Geſchlechts, ſondern nur be¬
ſtürzt über ſeinen jetzigen, unerwarteten Zuſtand.
In ſtummer Geſchäftigkeit, ohne ſich, wechſelſeitig
zu erklären, waren alle nur bemüht, ihn ins Le¬
ben zurückzurufen — aber alles blieb vergebens,
das ſchöne, ſeltſame Mädchen war todt.


Julie hatte ſie troſtlos vor ſich auf dem Schoo¬
ße liegen. Sie ruhte wie ein Engel ſtill und
ſchön. Kein Athem wehte mehr ſäuſelnd durch die
zarten, rothen Lippen, die ſonſt zu ſo wunderſchö¬
nen Tönen ſich aufthaten, ihre großen Augen, ſo
lieblichwild, waren auf ewig verſchloſſen, nur eine
einſame Nachtluft bewegte noch ihre Locken hin und
her. Leontin und Friedrich ſaſſen ſtillſchweigend ge¬
genüber. Friedrich, dem jetzt auf einmal viele Son¬
derbarkeiten des Mädchens nur zu klar wurden,
klagte ſich in tiefem, ſtummen Schmerze bey ſich
[380] ſelber an, daß er ihre zerſtörende, verhaltene Liebe
zu ihm ſo ſchlecht belohnt, daß er ſie bey größerer
Achtſamkeit hätte ſchonen und retten können.


Während deß fieng jenſeits über dem Walde
der Morgen an zu dämmern und beleuchtete die
ſeltſame Gruppe. Da kam plötzlich ein Bediente
von dem Schloſſe des Herrn v. A. angeſprengt und
brachte athemlos die Nachricht, daß ein feindlicher
Offizier mit ſeinem Trupp in der Nähe herumſtrei¬
fe, und ihnen, wie er eben von Bauern erfahren,
auf der Spur ſey. Die Beſtürzung Aller über
dieſe unerwartete Begebenheit war nicht gering.
Leontin und Friedrich, die Ein Schickſal verfolgte,
waren in dieſem Augenblick noch ohne weiteren
Plan; ſo viel war gewiß, daß Julie zum Vater
zurückkehren, und das todte Mädchen mitnehmen
mußte. Die Leiche wurde daher eiligſt auf ein ledi¬
ges Handpferd gehoben. Dabey entdeckte Julie ein
reichgefaßtes Medaillon, welches das Mädchen auf
dem bloſſen Leibe hängen hatte und das ſonſt nie¬
mand jemals bey ihr bemerkt. Es war das Por¬
trait eines ſehr ſchönen, etwa neunjährigen Mäd¬
chens. Sie nahm es ab und überreichte es Frie¬
drich'n.


Sein Geſicht veränderte ſich, als er den erſten
Blick darauf warf; denn es waren die Züge der
kleinen Angelina, mit der er als Kind ſo oft im
Garten geſpielt, und welcher, wie es ihm nun ganz
klar wurde, das Kind Maria auf dem Heiligenbilde
des verlaſſenen Gebirgsſchloſſes ſo auffallend ähnlich
[381] ſah. Er betrachtete es lange gerührt und ſtill¬
ſchweigend. Da fielen ihm die räthſelhaften Worte
wieder ein, die Erwin ſterbend von dem Alten im
Walde geſagt hatte. Er zweifelte nicht, daß dieſer
um Vieles wiſſen müſſe, was ihnen Licht über das
ſonderbare Leben der Verſtorbenen und ihrem Zu¬
ſammenhang mit ſeiner eignen Kindheit geben kön¬
ne. Er erzählte es Leontinen. Dieſer erſchrack dar¬
über und wurde bey jedem Worte aufmerkſamer;
er ſchien den Alten ſelber ſchon geſehen zu haben,
doch ſagte er nicht, wann und wo.


Die beyden Freunde beſchloſſen nun, jenen
Winken Erwins zufolge, die Richtung nach dem be¬
ſchriebenen Walde hinzunehmen, um dort vielleicht
eine erwünſchte Auflöſung zu erhalten, da überdieß
jene Wildniß von Feinden rein, und der Weg
Leontinen ziemlich bekannt war. Es wurde ſchnell
alles vorbereitet. Sie nahmen herzlichen Abſchied
von Julien, mit dem Verſprechen, einander ſo bald
als möglich wiederzuſehen, und Julie ritt nun mit
ihrer ſüſſen, traurigen Laſt, die ſie in ihrer bunten
Kleidung wie eine abgebrochene Blume auf einem
Pferde neben ſich herführte, von der einen Seite
nach Hauſe, während ſie von der anderen gegen
Sonnenaufgang in den großen Wald fortzogen.


[382]

Einundzwanzigſtes Kapitel.

Der Morgen ſtieg dampfend aus den Wäldern,
als die beyden Grafen ſchon ferne über einen ein¬
ſamen Wieſengrund hinritten, der ſeltſamen Ereig¬
niſſe dieſer Nacht gedenkend. Der Weg war für
jeden Fremdling faſt ungangbar, die Entfernung,
die ſie in den wenigen Stunden zurückgelegt, ziem¬
lich beträchtlich, ſie konnten ſchon langſamer und
gemächlicher zieh'n. Da erzählte Leontin Friedrich'n
Folgendes:


Es war ein ſchöner Sommermorgen, da Julie
in ihrem Schlafzimmer, das, wie Du weißt, auf
den Garten hinausgeht, noch ſchlummerte, als ſie
drauſſen von einer bekannten Stimme mit einem be¬
kannten Liede geweckt wurde. Sie trat in den
Garten hinaus und ſah Erwin, der wieder auf der
Blumenterraſſe ſaß und in das glänzende Land hin¬
ausſang. Mit pochendem Herzen flog ſie zu ihm
und fragte ihn nach ſeinen Herren. Der Knabe ſah
ſie aber ſtarr an, er war blaß und ſeltſam verwil¬
dert im Geſichte, und aus ſeinen verwirrten Ant¬
worten bemerkte ſie bald mit Schrecken, daß er
verrückt ſey. — In ſolchem Gemüthszuſtande hatte
er uns nemlich in jener Nacht auf dem Rheine ſo
unbegreiflich verlaſſen, und auf unzähligen Umwe¬
[383] gen zu dem Schloſſe des Herrn v. A. ſich geflüch¬
tet, wahrſcheinlich aus Eiferſucht, denn die beyden
Jäger, die wir damals in der alten Burg trafen,
und die dann mit uns auf dem Rheine fuhren,
waren, wie ich nachher erfuhr, niemand anders als
Romana und meine Schweſter Roſa, welche Erwin
bey dem ſchnellen Lichte des Blitzes, gleichwie mit
ſchärferen Sinnen, plötzlich erkannt hatte. — Frie¬
drich verwunderte ſich hier über die gewagte Klei¬
dung der beyden Weiber und beklagte das unglück¬
liche Ohngefähr, indem ihm dabey alles, was in
jener Nacht vorgegangen, wieder erinnerlich ward.
— Leontin fuhr fort: Erwin verrieth durch ſeine
jetzige verwirrte Unachtſamkeit gar bald ſein Ge¬
ſchlecht und ſeine tiefe und unüberwindliche Neigung
zu Dir. Das unglückliche Mädchen ſang ſehr viel
und ihre Lieder zeigten oft eine zeitig aufgereitzte
und heimlich genährte heftige Sinnlichkeit. Von
ihrem früheſten Leben war auch jetzt nicht das min¬
deſte herauszukriegen. Julie bot alles auf, ſie zu
retten. Sie nannte ſie Erwin, gab ihr Frauenzim¬
merkleider, ſuchte überhaupt alles erinnernde Phan¬
taſtiſche aus ihrer Lebensweiſe zu entfernen und
taufte ſie ſo, nach dem gewöhnlichen Verfahren in
ſolchen Fällen, in gemeingültige Proſa. Das Mäd¬
chen wurde dadurch auch ſtiller, aber es war eine
wahre Grabesſtille, von der ſie ſich nur manchmal
im Geſange wieder zu erholen ſchien.


So traf ich ſie, als ich verwundet auf dem
Schloſſe ankam. Mein erſter Anblick verdarb auf
[384] einmal wieder viel an ihr, doch nur vorübergehend.
Viel heftiger, und uns allen unerklärlich aber er¬
ſchütterte ſie der Anblick der alten Mühle, wohin
wir ſie mitnahmen, als ich hingebracht wurde; ſie
zitterte am ganzen Leibe. Julie nahm ſie daher
künftig niemals mehr mit dorthin. Geſtern aber
war ſie Ihr heimlich nachgeſchlichen, und ſie war
es, die Du im weißen Gewande ſingend vor der
Mühle trafſt. Wir waren in nicht geringer Be¬
ſorgniß, daß ſie Dich nicht ſo plötzlich wiederſähe,
und Julie ſchickte ſie daher heimlich mit dem Be¬
dienten ſogleich wieder auf das Schloß zurück. Dort
muß ſie aber in der Nacht ihrer alten Knabentracht
habhaft geworden und noch einmal entwichen ſeyn.


Der Schluß von Leontins Erzählung beſtättigte
Friedrichs Ahnung, daß Erwin wirklich daſſelbe
Mädchen ſeyn müſſe, das ihm damals in jener
fürchterlichen Nacht in der Mühle Feuer gemacht
und hinaufgeleuchtet hatte, womit auch ihre ſchon
bemerkte Aehnlichkeit vollkommen übereinſtimmte. Er
verſank darüber in Gedanken und ſie beſchleunigten
beyde ſtillſchweigend wieder ihre Reiſe.


Gegen Abend erblickten ſie auf einmal von ei¬
ner Höhe fern unten die Kuppeln der Reſidenz.
Ein von plötzlichem Regen angeſchwollener Gebirgs¬
bach hinderte ſie zugleich, ihren Weg in der bishe¬
rigen Richtung fortzuſetzen. Sie blieben eine Weile
unentſchloſſen ſtehen. Die Dämmerung fieng indeß
an, ſich niederzuſenken, da bemerkten ſie mit Ver¬
wun¬[385] wunderung Feuerblicke und ſchnell entſtehende und
wieder verſchwindende Sterne in der Gegend der
Reſidenz, die ſie für Raketen hielten. Das ſieht
recht luſtig aus, ſagte Leontin. Hier können wir
ohnedieß nicht weiter, laß uns einen Streifzug
dorthinaus wagen und ſehen, was es in der Stadt
giebt. Wir kommen wohl in der Dunkelheit uner¬
kannt durch und ſind, ehe der Tag anbricht, wieder
im Gebirge. — Friedrich willigte ein, und ſo zogen
ſie in's Thal hinunter.


Noch vor Mitternacht langten ſie vor der Re¬
ſidenz an. Der ganze Kreis der Stadt war bis zu
den höchſten Thurmſpitzen hinauf erleuchtet und lag
mit ſeinen unzähligen Fenſtern wie eine Feeninſel in
der ſtillen Nacht vor ihnen. Sie hatten die Kühn¬
heit bis ins Thor hineinzureiten. Ein verworrener
Schwall von Muſik und Lichtern quoll ihnen da ent¬
gegen. Herren und Damen wandelten, wie am
Tage, geputzt durch die Gaſſen, unzählige Wagen
mit Fackeln tosten dazwiſchen, ſich mannigfaltig
durchkreuzend, eine fröhliche Menge ſchwärmte hin
und her. — Nun, was giebt's denn hier noch für
eine raſende Freude? fragte Leontin endlich einen
Handwerksmann, der, ein Schurzfell um den Leib,
und ein Glas Brandtwein hoch in der Hand, un¬
aufhörlich Vivat rief. Der Mann machte eine ver¬
teufelt pfiffige Miene und hätte gern die Unwiſſen¬
heit der beyden Fremden tüchtig abgeführt, wenn
ihm nicht eben ſein Witz verſagt hätte. Endlich
25[386] ſagte er: der Erbprinz hält heute Hochzeit mit der
ſchönen Gräfin Roſa. Wer will mir da den Brandt¬
wein verbieten! Mag der Gräfin voriger Bräuti¬
gam Waſſer ſauffen, denn er iſt lange todt, und
Ihr Bruder mit den Engeln Milch und Honig trin¬
ken, denn er treibt ſich in allen Wäldern herum.
Hol' der Teufel alle Ruheſtörer! Friede! Friede!
Es leben alle Patrioten, Vivat hoch! — So tau¬
melte der Brandtweinzapf wieder weiter.


Die beyden Grafen ſahen einander verwundert
an. An Friedrichs Bruſt ſchallte die Neuigkeit
ziemlich gleichgültig vorüber. Er hatte Roſa'n
längſt aufgegeben. Seine Phantaſie, die Liebes¬
kupplerin, war ſeitdem von gröſſeren Bildern durch¬
drungen, alle die hellen Quellen ſeiner irdiſchen Lie¬
be waren in Einen groſſen, ruhigen Strom geſam¬
melt, der andere Wünſche und Hoffnungen zu einem
anderen Geliebten trug. —


Ein Bürger, der ihr Geſpräch mit dem Be¬
trunkenen mit angehört hatte, war unterdeß zu
ihnen getreten und ſagte: Es iſt alles wahr, was
der Kerl da ſo konfus vorgebracht. Die Gräfin
Roſa hatte wirklich vorher ſchon einen Grafen zum
Liebhaber. Der iſt aber im Kriege geblieben, und
es iſt gut für ihn, denn er iſt mit Lehn und Habe
dem Staate verfallen. Der Bruder der Gräfin
ebenfalls, aber wir wiſſen von ſicherer Hand, daß
man gegen dieſen nicht ſtreng verfahren wird und
ihm gern verzeihen möchte, wenn er nur zurückkä¬
[387] me und Reue und Beſſerung verſpüren laſſen woll¬
te. —


Leontin lachte bey dieſen Worten laut auf und
gab ſeinem Pferde die Sporen. Friſchauf! ſagte
er zu Friedrich, ich ziehe mit den Todten, da die
Lebendigen ſo abgeſtanden ſind! Ich mag keinen
von ihnen mehr wiederſehen, kommen wir wieder
zurück auf unſere grünen Freiheitsburgen!


Sie waren indeß an das fürſtliche Schloß ge¬
kommen. Tanzmuſik ſchallte aus den hellen Fen¬
ſtern. Eine Menge Volks war unten verſammelt
und gebährdete ſich wie unſinnig vor Entzücken.
Denn Roſa zeigte ſich eben an der Seite ihres
Bräutigams am Fenſter. Man konnte ſie deutlich
ſehen. Ihre blendende Schönheit, mit einem reichen
Diadem von Edelſteinen geſchmückt, funkelte und
blitzte bey den vielen Lichtern manches Herz unten
zu Aſche. — So hatte ſie ihr höchſtes Ziel, die
weltliche Pracht und Herrlichkeit erreicht. — Sie
taugte niemals viel, Weltfutter, nichts als Welt¬
futter! ſchimpfte Leontin ärgerlich immerfort. Frie¬
drich drückte den Hut tief in die Augen und ſo zo¬
gen die beyden dunklen Geſtalten einſam durch den
Jubel hindurch, zum Thore hinaus und wieder in
die Berge zurück.


Nach mehreren einſamen Tagereiſen, wobey
auch die ſchönen Nächte zu Hülfe genommen wur¬
den, kamen ſie endlich immer höher auf das Ge¬
birge. Die Gegend wurde immer größer und ern¬
25 *[388] ſter, kaum noch lagen mehr einzelne Hirtenhütten
in den tiefen dunkelgrünen Schluften hin und her
zerſtreut, es war eine gränzenloſe Einſamkeit, ne¬
benaus oft Streifen von unermeßlicher Ausſicht.
Ihre Herzen wurden wieder ſtark und weit und voll
kühler Freudenquellen.


Da erblickten ſie ſehr unerwartet mitten in der
Wildniß einen niedrigen, zierlichen Zaun von wei¬
ßem Birkenholz, dem es ordentlich Mühe zu koſten
ſchien, die wilde Freyheit der Natur, die überall
ihre grünen, feſten Arme, wie zum Spotte, unge¬
zogen durchſtreckte, im Zaum zu halten. Sie lach¬
ten einander beyde bey dem erſten Anblicke an,
denn überraſchender konnte ihnen nichts kommen,
als gar eine moderne engliſche Anlage in dieſer
menſchenleeren Gegend. Sie ritten längs des Zau¬
nes hin, aber nirgends war die geringſte Spur ei¬
nes Einganges. Sie wußten wohl, daß ſie bereits
in dem großen Walde ſeyn mußten, den Erwine
ſterbend meynte, auch waren ſie nach der langen
Tagereiſe begierig, endlich einmal Menſchen, Speiß
und Trank wiederzufinden, ſie banden daher ihre
Pferde an und ſprengten über den Zaun hinein.


Ein niedlicher Schlangenpfad, mit weißem
Sande ausgeſtreut, führte ſie dort bis an ein gro¬
ßes, dichtes Gebüſch von meiſt ausländiſchen Sträu¬
chern, wo er ſich plötzlich in zwey Arme theilte.
Sie ſchlugen nun jeder für ſich allein einen derſel¬
ben ein, um ſo deſto eher zu einer erwünſchten
Entdeckung zu gelangen. Doch dieſe ſchmalen Pfa¬
[389] de giengen ſeltſam genug in einem ewigen Kreiſe
immerfort um ſich ſelber herum, ſo daß die beyden
Grafen, je emſiger ſie zuſchritten, zwar immer
ganz nahe blieben, aber einander niemals erjagen
oder zuſammenkommen konnten. Einigemal, wo die
Gänge ſich plötzlich durchkreuzten, ſtießen ſie un¬
verhofft aneinander, trennten ſich von neuem, und
ſtanden endlich, nachdem ſie ſich beynah müde ge¬
irrt, auf einmal wieder vor dem Zaune, an dem¬
ſelben Orte, wo ſie ausgelaufen waren.


Sie lachten und ärgerten ſich zugleich über den
ſinnreichen Einfall. Doch machte ſie dieſe kleine
Probe aufmerkſam und neugieriger auf die ganze
ſonderbare Anlage. Sie nahmen daher noch einmal
einen beherzten Anlauf und drangen nun mitten
durch das dicke Gehege grad hindurch. Da kamen
ſie bald auf einen freyen Platz zu einem Gebäude.
Ihre Augen konnten ſich bey dem erſten verwirren¬
den Anblick durchaus nicht aus dem labyrinthiſchen,
höchſtabentheuerlichen Gemiſch dieſes Tempels her¬
ausfinden, ſo unförmlich, obgleich klein, war alles
über- und durcheinander gebaut. Den Hauptein¬
gang nemlich bildete ein griechiſcher Tempel mit
zierlichem Säulenportal, welches ſehr komiſch aus¬
ſah, da alles überaus niedlich und nur aus ange¬
ſtrichenem Holze war. Sie traten hinein und fan¬
den in der Halle einen hölzernen Apollo, der die
Geige ſtrich und dem der Kopf fehlte, weil nicht
mehr Raum genug dazu übriggeblieben war. Gleich
aus dem Tempel trat man in einen geſchmackvollen
[390] Kuhſtall nebſt einer vollſtändigen holländiſchen
Mayerey in der neueſten Manier, aber alles leer.
Ueber der Mayerey hieng wie ein Bienenkorb eine
Art von ſchwebender Einſiedeley. Den zweiten Ein¬
gang bildete ein viereckiger Thurm, wie bey den al¬
ten Burgen, der eine Ruine vorſtellen ſollte, und
auf deſſen Mauer hin und her Blumentöpfe mit
Moos umherſtanden. Ueber das ganze Gemiſch
hinweg endlich erhob ſich ein feingeſchnitztes, bun¬
tes, chineſiſches Thürmchen, an welchem unzählige
Glöcklein im Winde muſizirten. Unter dieſem
Thürmchen in dem innerſten Gemache ſaß immitten
des getäfelten Bodens ein unförmlicher, kleiner
Chineſe von Porzellain mit untergeſchlagenen Bei¬
nen und dickem Bauche und wackelte einſam fort
mit dem breiten Kahlkopfe, als der einzige Bewoh¬
ner ſeines unſinnigen Pallaſtes.


Nein, das iſt zu toll! ſagte Leontin, was gäb'
ich d'rum, wenn wir den Phantaſten von Baumei¬
ſter noch ſelber in ſeinem Zauberneſte überraſchten!
Das iſt ja ein wahrer Surrogat-Tempel für alle
Geſchmäcke auf Erden.


Während deß waren ſie endlich in dem letzten
Gemache des Gebäudes angekommen, welches mit
großen goldenen Buchſtaben: „Geſellſchafts-Saal“
überſchrieben war. Sie erſtaunten auch wirklich beym
Eintritt nicht wenig über die ungeheuere Geſellſchaft,
denn Wände und Decke beſtanden daſelbſt aus
künſtlich-geſchliffenen Spiegeln, die ihre Geſtalten
auf einmal ins Unendliche vervielfältigten. Ihr
[391] Kopf war ganz überfüllt und verwirrt von dem
Geſehenen. Kein Menſch war in der weiten Run¬
de zu hören, es grauste ihnen faſt, länger in die¬
ſer Verrückung ſo einſam zu verweilen und ſie be¬
gaben ſich daher ſchnell wieder ins Freye.


Sie durchſtrichen darauf noch den anderen Theil
des Parks, der auf die alltäglichſte Art mit
Trauerweiden, Baumgruppchen, Brückchen u. ſ. w.
angefüllt war. Auch die üblichen Aushängetafeln
mit Inſchriften waren im Ueberfluß vorhanden, nur
mit dem Unterſchiede, daß hier alle von einer unge¬
heueren Länge und Breite waren, ſo daß ſie die
jungen Bäume, an denen ſie befeſtiget, faſt bis
auf die Erde herunterzogen. Unſere Reiſenden ver¬
weilten verwundert hin und wieder, und laſen un¬
ter andern: „Wachſen, Blühen, Staubwerden.“
— Gleich daneben ſtand auf einer anderen Tafel
die erſte Strophe von: „Freut euch des Lebens!“
u. ſ. w., nebſt einigen Zotten.


So von groben Bäumen verfolgt, waren ſie
endlich am anderen Ende des ſonderbaren Parks
angekommen, wo derſelbe wieder durch ein niedli¬
ches Zäunchen von dem Walde geſchieden war.
Noch eine ungeheuere Inſchrift begrüßte ſie dort
folgendermaßen: „Gefühlvoller Wanderer! ſtehe
ſtill und vergieße einige Thränen über deine Narr¬
heit!“ Darunter ſtand nur noch halbleſerlich mit
Bleyſtift geſchrieben: „und dann kehre wieder um,
denn mir biſt du doch nur langweilig.“ Nicht ohne
Bedeutung, wie es ſchien, ſtieß dieſe letzte Partie
[392] des Gartens, welche beſonders kleinlich aus aller¬
ley Zwergbäumchen nebſt einem kaum bemerkbaren
Waſſerfalle beſtand, auf einmal an den dunkelgrü¬
nen Saum des Hochwaldes. Zwiſchen Felſen ſtürz¬
te dort ein einſamer Strom grad hinab, als wollte
er den ganzen Garten vernichten, wandte ſich dann
am Fuß der Höhe plötzlich, wie aus Verachtung,
wieder ſeitwärts in den Wald zurück, deſſen ern¬
ſtes, ewiggleiches Rauſchen gegen die unruhig phan¬
taſtiſche Spielerey der Gartenanlage faſt ſchmerzlich
abſtach, ſo daß die beyden Freunde überraſcht ſtill
ſtanden. Sie ſehnten ſich recht in die große, ruhi¬
ge, kühle Pracht hinaus und athmeten erſt frey,
als ſie wirklich endlich wieder zu Pferde ſaſſen.


Während ſie ſich ſo über das Geſehene beſpra¬
chen, verwundert, keine menſchliche Wohnung rings¬
um zu erblicken, fieng indeß die Gegend an etwas
lieblicher und milder zu werden. Vor ihnen erhob
ſich ein freundlicher, bis an den Gipfel mit Laub¬
wald bedeckter Berg aus dem dunkelzackigen Chaos
von Gebirgen. Hinter dem Berge ſchien es nach
der einen Seite hin auf einmal freyer zu werden
und verſprach eine große Ausſicht. Sie zogen lang¬
ſam ihres Weges fort, der Himmel war unbe¬
ſchreiblich heiter, der Abend ſank ſchon hernieder
und ſpielte mit ſeinen letzten Strahlen luſtig in dem
lichten Grün des Berges vor ihnen. Friedrich hat¬
te lange unverwandt in die Gegend vor ſich hinaus¬
geſehen, dann hielt er plötzlich an und ſagte: Ich
weiß nicht, wie mir iſt, dieſe Ausſicht iſt mir ſo
[393] altbekannt, und doch war ich ſo lange ich lebe nicht
hier. —


Je weiter ſie kamen, je erinnernder und ſehn¬
ſüchtiger ſprach jede Stelle zu ihm; oft verwan¬
delte ſich auf einmal alles wieder, ein Baum, ein
Hügel legte ſich fremd vor ſeine Ausſicht wie in
eine uralte, wehmüthige Zeit, doch konnte er ſich
durchaus nicht beſinnen.


So hatten ſie nach und nach den Gipfel des
Berges erreicht. Freudig überraſcht ſtanden ſie bey¬
de ſtill, denn eine überſchwengliche Ausſicht über
Städte, Ströme und Wälder, ſo weit die Blicke
in das fröhlichbunte Reich hinauslangten, lag un¬
ermeßlich unter ihnen. Da erinnerte ſich Friedrich
auf einmal; das iſt ja meine Heimath! rief er,
mit ganzer Seele in die Ausſicht verſenkt. Was ich
ſehe, hier und in die Runde, alles gemahnt mich
wie ein Zauberſpiegel an den Ort, wo ich als
Kind aufwuchs! Derſelbe Wald, dieſelbe Gänge —
nur das ſchöne alterthümliche Schloß finde ich nicht
wieder auf dem Berge. —


Sie ſtiegen weiter und erblickten wirklich auf
dem Gipfel im Gebüſche die Ruinen eines alten,
verfallenen Schloſſes. Sie kletterten über die um¬
hergeworfenen Steine hinein, und erſtaunten nicht
wenig, als ſie dort ein ſteinernes Grabmal fanden,
das ihnen durch ſeine Schönheit ſowohl, als durch
ſeine mannigfaltige Bedeutſamkeit auffiel. Es ſtell¬
te nemlich eine junge, ſchöne, faſt wollüſtiggebaute
[394] weibliche Figur vor, die todt über den Steinen
lag. Ihre Arme waren mit künſtlichen Spangen,
ihr Haupt mit Pfauenfedern geſchmückt. Eine gro¬
ße Schlange, mit einem Krönlein auf dem Kopfe,
hatte ſich ihr dreymal um den Leib geſchlungen.
Neben und zum Theil über dem ſchönen Leichnam
lag ein altgeformtes Schwerdt, in der Mitte ent¬
zweygeſprungen und ein zerbrochenes Wappen.
Aus dieſer Gruppe erhob ſich ein hohes, einfaches
Kreutz, mit ſeinem Fuße die Schlange erdrückend.


Friedrich traute ſeinen Augen kaum, da er bey
genauerer Betrachtung auf dem zerbrochenen Schil¬
de ſein eigenes Familien-Wappen erkannte. Seine
Augen fielen dabey noch einmal aufmerkſamer auf
die weibliche Geſtalt, deren Geſicht ſo eben von
einem glühenden Abendſtrahle hell beleuchtet wurde.
Er erſchrack und wußte doch nicht, warum ihn die¬
ſe Mienen ſo wunderbar anzogen. Endlich nahm
er das kleine Portrait hervor, das ſie auf Erwi¬
nens Bruſt gefunden hatten. Es waren dieſelben
Züge, es war das ſchöne Kind, mit dem er da¬
mals in dem Blumengarten ſeiner Heimath geſpielt;
nur das Leben ſchien ſeitdem viele Züge verwiſcht
und ſeltſam entfremdet zu haben. Ein wehmüthiger
Strom von Erinnerung zog da durch ſeine Seele,
dem er kaum mehr in jenes frühſte, helldunkle
Wunderland nachzufolgen vermochte. Er fühlte
ſchaudernd ſeinen eignen Lebenslauf in den geheim¬
nißvollen Kreis dieſer Berge mit hineingezogen.

[395]

Er ſetzte ſich voller Gedanken auf das ſteinerne
Grabmal und ſah in die Thäler hinunter, wie die
Welt da nur noch in einzelnen, großen Farbenmaſ¬
ſen durcheinanderarbeitete, in welche Thürme und
Dörfer langſam verſanken, bis es dann ſtille wurde
wie über einem beruhigten Meere. Nur das Kreutz
auf ihrem Berge oben funkelte noch lange golden
fort.


Da hörten ſie auf einmal hinter ihnen eine
Schalmey über die Berge wehen; die Töne blie¬
ben oft in weiter Ferne aus, dann brachen ſie auf
einmal wieder mit neuer Gewalt durch die ziehen¬
den Wolken herüber. Sie ſprangen freudig auf.
Sie zweifelten längſt nicht mehr, daß ſie ſich in
dem Gebiete des ſonderbaren Mannes befänden, zu
dem ſie von Erwin hingewieſen worden. Um deſto
willkommener war es ihnen, endlich einen Menſchen
zu finden, der ihnen aus dieſem wunderbaren La¬
byrinthe heraushälfe, in dem ihre Augen ſo wie
Gedanken verwirrt und verlohren waren. Sie be¬
ſtiegen daher ſchnell ihre Pferde und ritten jenen
Klängen nach.


Die Töne führten ſie immerfort bergan zu ei¬
ner ungeheueren Höhe, die immer öder und ver¬
laſſener wurde. Ganz oben erblickten ſie endlich ei¬
nen Hirten, welcher, auf der Schalmey blaſend,
ſeine Heerde in der Dämmerung vor ſich her nach
Hauſe trieb. Sie grüßten ihn, er dankte und ſah
ſie ruhig und lange von oben bis unten an. Wem
dient ihr? fragte Leontin — Dem Grafen. — Wo
[396] wohnt der Graf? — Dort rechts auf dem letzten
Berge in ſeinem Schloſſe. — Wer liegt dort, fuhr
Leontin fort, auf der grünen Höhe unter den ſtei¬
nernen Figuren begraben? — Der Hirt ſah ihn an
und antwortete nicht; er wußte nichts davon und
war noch niemals dort hinabgekommen. — Sie rit¬
ten langſam neben ihm her, da erzählte er ihnen,
wie auch er weit von hier in den Thälern geboh¬
ren und aufgewachſen ſey, aber das iſt lange her,
ſagte er, und weiß nicht mehr, wie es unten aus¬
ſieht. Darauf wünſchte er ihnen eine gute Nacht,
nahm ſeine Schalmey wieder vor und lenkte links
in das Gebirge hinein. — Sie blickten rings um
ſich, es war eine weite, kahle Haide und die Aus¬
ſicht zwiſchen den einzelnen Fichten, die hin und
her zerſtreut ſtanden, unbeſchreiblich einſam, als
wäre die Welt zu Ende. Es wurde ihnen Angſt
und weh an dem Orte. Sie gaben ihren Pferden
die Sporen und ſchlugen rechts den Weg ein, den
ihnen der einſylbige Hirt zu dem Schloſſe des Gra¬
fen angezeigt hatte.


Es war indeß völlig dunkel geworden. Die
Gegend wurde noch immer höher, die Luft ſchär¬
fer; ſie wickelten ſich feſt in ihre Mäntel ein und
ritten ſchnell fort. Da erblickten ſie endlich auf dem
höchſten Gipfel des Gebirges das verheiſſene Schloß.
Es war, ſoviel ſie in der Dunkelheit unterſcheiden
konnten, weitläuftig gebaut und alt. Der Weg
führte ſie von ſelbſt durch ein dunkles Bogenthor
in den alterthümlichen, gepflaſterten Hof, in deſſen
[397] Mitte ſich ein großer Baum über einem ſteinernen
Springbrunnen wölbte.


Das erſte, das ihnen dort auffiel, war ein
ſeltſamer Menſch, mit einem langen, breiten Talar
über den Achſeln, einer Art von Krone, die etwas
ſchief auf dem Kopfe ſaß, und einem langen Hir¬
tenſtabe in der Hand. Er näherte ſich ihnen ein
wenig, kehrte ſich dann ſtolz wieder um und gieng
mit einem feyerlich abgemeſſenen Schwebetritt lang¬
ſam über den Hof, wobey der breite Mantel, wie
der Schweif eines ſich aufblähenden kalekuttiſchen
Hahnes, hinter ihm dreinrauſchte. Ein alter Mann
war unterdeß heruntergekommen, und ſagte den
beyden Gäſten, ſein Graf ſey nicht zu Hauſe, bat
ſie aber abzuſteigen. Sie hatten die Augen noch
auf jene vorüberſchwebende Figur gerichtet, und
fragten erſtaunt, was das zu bedeuten habe? Er
ſucht den Karfunkelſtein, ſagte der Alte trocken und
führte ihre Pferde ab.


Ein junger Menſch, der ſich inzwiſchen mit ei¬
nem Lichte eingefunden hatte, bat ſie, ihm zu fol¬
gen, und führte ſie ſtillſchweigend über verſchiedene
Wendeltreppen und einen langen Bogengang in ein
großes, gothiſchgewölbtes Gemach mit zwey Him¬
melbetten, ein Paar großen, altmodiſchen Stühlen
und einem ungeheueren runden Tiſche in der Mitte.
Sie bemerkten mit Verwunderung, daß er ein le¬
dernes Reiterwamms trug und ſeine ganze Tracht
überhaupt altdeutſch ſey. Seine blonden Haare hat¬
[398] te er über der Stirne geſcheitelt und in ſchönen Lo¬
cken über die Schultern herabhängend.


Er ſetzte das Licht auf den Tiſch und fragte
ſie, wann ſie wieder weiter zu ziehen gedächten?
Ach, fügte er hinzu, ohne erſt ihre Antwort abzu¬
warten, ach, könnt' ich mitzieh'n! — Und wer
hält Euch denn hier? fragte Leontin. — Es iſt
meine eigne Unwürdigkeit, entgegnete jener wieder,
wohl fehlt mir noch viel zu der ehrenfeſten Geſin¬
nung, zu der Andacht und der beſtändigen Begei¬
ſterung, um der Welt wieder einmal Luft zum
Himmel zu hauen. Ich bin geringe und noch kein
Ritter, aber ich hoffe es durch fleiſſige Tugendübung
mit Gottes Gnade zu werden und gegen die Hey¬
den hinauszuzieh'n. Denn die Welt wimmelt wie¬
der von Heyden. Die Burgen ſind geſchleift, die
Wälder ausgehauen, alle Wunder haben Abſchied
genommen, und die Erde ſchämt ſich recht in ihrer
fahlen, leeren Nacktheit vor dem Kruzifixe, wo noch
eines einſam auf dem Felde ſteht; aber die Heyden
handthieren und gehen hochmüthig vorüber und
ſchämen ſich nicht. — Er ſprach dieß mit einer wirk¬
lich rührenden Demuth, doch ſelbſt in der ſteigen¬
den Begeiſterung, in die er ſich bey den letzten
Worten hineingeſprochen hatte, blieb etwas modern
fades in ſeinen Zügen zurück. Leontin faßte ihn
bey der Hand und wußte nicht, was er aus ihm
machen ſollte, denn für einen Menſchen, der ſeine
ordentliche Vernunft beſitzt, hatte er ihm doch bey¬
nah zu geſcheid geſprochen.

[399]

Unterdeß hatte ſich der Ritter nachläſſig in ei¬
nen Stuhl geworfen, zog eine Lorgnette unter dem
Wamms hervor, betrachtete die beyden Grafen
flüchtig und ſagte, ſeine letzten Worte wohlgefällig
wiederholend: „aber die Heyden gehen vorüber
und ſchämen ſich nicht“ —. Recht gut geſagt,
nicht wahr, recht gut? — Beyde ſahen ihn erſtaunt
an. — Er lorgnirte ſie von neuem. Aber ihr ſeyd
doch recht einfältig, fuhr er darauf lachend fort,
daß ihr das alles eigentlich ſo für baaren Ernſt
nehmt! Ihr ſeyd wohl noch niemals in Berlin ge¬
weſen? Seht, ich möchte wohl eigentlich ein Rit¬
ter ſeyn, aber, aufrichtig geſprochen, das iſt doch
im Grunde alles närriſches Zeug, welcher geſcheide
Menſch wird im Ernſte an ſo etwas glauben! Ue¬
berdieß wäre es auch ſchrecklich langweilig, ſo ſtren¬
ge auf Tugend und Ehre zu halten. Ich verſichere
Euch aber, ich bin wohl eigentlich ein Ritter, aber
ihr faßt das nur nicht, ihr anderen Leute, ich hal¬
te aus ganzer Seele gleichſam auf die alte Ehre,
aber ſeht, das iſt ganz anders zu verſtehen — das
iſt — aber ihr verſteht mich doch nicht — das iſt —
hiebey ſchien er verwirrt und zerſtreut zu werden.
Er zog ſein Ritterwamms vom Leibe und erſchien
auf einmal in einem überaus modernen Neglig:
vom feinſten, weißen Perkal, von dem er mit vie¬
ler Grazie hin und wieder die Staubfleckchen abzu¬
klopfen und wegzublaſen bemüht war.


Nach einer Weile nahm er das Augenglas
wieder vor und muſterte die beyden Fremden, ſi[c]h
[400] vornehm auf dem Seſſel hin und herſchaukelnd.
Bey welchem Schneider laſſen Sie arbeiten? ſagte
er endlich. Dann ſtand er auf und befühlte ihre
Hemden an der Bruſt. Aber, mein Gott! wie kann
man ſo etwas tragen? ſagte er, bon soir, bon
soir, mes amis!
Hiemit gieng er, laut ein fran¬
zöſiſches Liedchen trellernd, ab. In der Thüre be¬
gegnete er einem Mädchen, das eben mit einem
Korb voll Erfriſchungen heraufkam. Er nahm ſie
ſogleich in den Arm und wollte ſie küſſen. Sie
ſchien aber keinen Spaß zu verſtehen und warf den
Ritter, wie ſie an dem Gepolter wahrnehmen konn¬
ten, ziemlich unſanft die Stiege hinab.


Nun wahrhaftig, ſagte Friedrich, hier geht es
luſtig zu, ich ſehe nur, wann wir beyde ſelber an¬
fangen, mit verrückt zu werden. — Mir war bey
dem Kerl zu Muthe, meynte Leontin, als ſollten
wir ihn hundemäſſig durchprügeln.


Das Mädchen hatte unterdeß, ohne ein Wort
zu ſprechen, mit unglaublicher Geſchwindigkeit den
Tiſch gedeckt und Eſſen aufgetragen. Ihre Haſt
fiel ihnen auf, ſie betrachteten ſie genauer und er¬
ſchracken beyde, als ſie in ihr die verlohrene Marie
erkannten. Sie war Leichenblaß, ihr ſchönes Haar
war ſeltſam aufgeputzt und phantaſtiſch mit bunten
Federn und Flitter geſchmückt. Der überraſchte
Leontin nahm ſie ſanftſtreichelnd bey dem weichen,
vollen Arme und ſah ihr in die ſonſt ſo friſchen Au¬
gen, die er ſeit ihrem Abſchiede auf der Gebirgs¬
reiſe[401] reiſe nicht wiedergeſehen hatte. Sie aber wand die
Hand los, legte den Finger geheimnißvoll auf den
Mund und war ſo im Augenblicke zur Thür hinaus.
Vergebens eilten und riefen ſie ihr nach, ſie war
gleich einer Lazerte zwiſchen dem alten Gemäuer
verſchwunden.


Beyde hatte dieſes unerwartete Begegniß ſehr
bewegt. Sie lehnten ſich in das Fenſter und ſahen
über die Wälder hinaus, die der Mond herrlich be¬
leuchtete. Leontin wurde immer ſtiller. Endlich
ſagte er: es iſt doch ſeltſam, wie gegenwärtig mir
hier eine Begebenheit wird, die mich einſt heftig
erſchütterte; und ich täuſche mich nicht, daß ich hier
endlich eine Auflöſung darüber erhalten werde. Frie¬
drich bat ihn, ſie ihm mitzutheilen, und Leontin
erzählte:


Ich hatte einſt ein Liebchen hinter dem Walde
bey meinem Schloſſe, ein gutes, herziges, verlieb¬
tes Ding. Ich ritt gewöhnlich ſpät Abends zu ihr,
und ſie litt mich wohl manchmal über Nacht. Ei¬
nes Abends, da ich eben auch hinkomme, ſieht ſie
ungewöhnlich blaß und ernſthaft und empfängt mich
faſt feyerlich, ohne mir wie ſonſt um den Hals zu
fallen. Doch ſchien ſie mehr traurig als ſchmollend.
Wir giengen an dem Teiche ſpazieren, der bey
ihrem Häuschen lag, wo ſie mit ihrer Mutter ein¬
ſam wohnte; da ſagte ſie mir: ich ſey ja geſtern
Abends noch ſehr ſpät bey ihr geweſen, und da ſie
mich küſſen wollen, hätte ich ſie ermahnt, lieber
26[402] Gott als die Männer zu lieben, darauf hätte ich
noch eine Weile ſehr ſtreng und ernſthaft mit ihr
geſprochen, wovon ſie aber nur wenig verſtanden,
und wäre dann ohne Abſchied fortgegangen. —


Ich erſchrack nicht wenig über dieſe Rede, denn
ich war jenen Abend nicht von meinem Schloſſe
weggekommen. Während ſie noch ſo erzählte, be¬
merkte ich, daß ſie plötzlich blaß wurde und ſtarr
auf einen Fleck im Walde hinſah. Ich konnte nir¬
gends etwas erblicken, aber Sie fiel auf einmal
für todt auf die Erde. —


Als ſie ſich zu Hauſe, wohin ich ſie gebracht,
nach einiger Zeit wieder erholt hatte, ſchien ſie ſich
ordentlich vor mir zu fürchten und bat mich in ei¬
ner ſonderbaren Gemüthsbewegung, niemals mehr
wieder kommen. Ich mußt' es ihr verſprechen, um
ſie einigermaſſen zu beruhigen. Demohngeachtet
trieb mich die Beſorgniß um das Mädchen und die
Neugierde den folgenden Abend wieder hinaus, um
wenigſtens von der Mutter etwas zu erfahren.


Es war ſchon ziemlich ſpät, der Mond ſchien
wie heute. Als ich in dem Walde, durch den ich
hindurch mußte, eben auf einem etwas freyen,
mondhellen Platz herumbeuge, ſteigt auf einmal
mein Pferd und mein eignes Haar vom Kopf in
die Höh'. Denn einige Schritt' vor mir, lang und
unbeweglich an einem Baume, ſtehe Ich ſelber leib¬
haftig. Mir fiel dabey ein, was das Mädchen ge¬
ſtern ſagte; mir grauſte durch Mark und Bein bey
[403] dem gräßlichen Anblick. Darauf faßte mich, ich
weiß ſelbſt nicht wie, ein ſeltſamer Zorn, das
Phantom zu vernichten, das immer unbeweglich auf
mich ſah. Ich ſpornte mein Pferd, aber es ſtieg
ſchnaubend in die Höh und wollte nicht d'ran. Die
Angſt ſteckte mich am Ende mit an, ich konnte es
nicht aushalten, länger hinzuſeh'n, mein Pferd kehr¬
te unaufhaltſam um, eine unbeſchreibliche Furcht be¬
mächtigte ſich ſeiner und meiner, und ſo gieng es
Windſchnell durch Sträucher und Hecken, daß die
Aeſte mich hin und her blutig ſchlugen, bis wir
beyde athemlos wieder bey dem Schloſſe anlangten.
Das war jener Abend vor unſerer Gebirgsreiſe, da
ich ſo wild und ungebährdet that, als Du mit Fa¬
ber ruhig am Tiſch auf der Wieſe ſaſſeſt. — Spä¬
ter erfuhr ich, daß das Mädchen denſelben Abend
um dieſelbe Stunde geſtorben ſey. — Und ſo wolle
Gott jeden Schnapphan kuriren, denn ich habe mich
ſeitdem gebeſſert, das kann ich redlich ſagen!


Friedrich erinnerte ſich bey dieſer wunderlichen
Geſchichte an eine Nacht auf Leontins Schloſſe, wie
er Erwinen einmal von der Mauer ſich mit einem
fremden Manne unterhalten gehört, und dann ei¬
nen langen, dunklen Schatten von ihm in den
Wald hineingeh'n geſehen hatte. — Allerdings, ſag¬
te Leontin, habe ich ſelber einmal dergleichen be¬
merkt, und es kam mir zu meinem Erſtaunen vor,
als wäre es dieſelbe Geſtalt, die mir im Walde er¬
ſchienen. Aber Du weißt, wie geheimnißvoll Erwi¬
26 *[404] ne immer war und blieb; doch ſoviel wird mir,
nach verſchiedenen flüchtigen Aeuſſerungen von ihr,
immer wahrſcheinlicher, daß dieſes Bild hier in die¬
ſem Walde ſpucke oder lebe, es ſey nun, was es
wolle. — Ich weiß nicht, ob Du noch unſeres Be¬
ſuches auf dem Schloſſe der Frau v. A. gedenkeſt.
Dort ſah ich ein altes Ritterbild, vor dem ich au¬
genblicklich zurückfuhr. Denn es war offenbar ſein
Portrait. Es waren meine eignen Züge nur et¬
was älter und einen fremden Zug auf der Stirne
über den Augen. —


Während Leontin noch ſo ſprach, hörten ſie
auf einmal ein Geräuſch auf dem Hofe unten und
ein Reiter ſprengte durch das Thor herein; mehre¬
re Windlichter füllten ſogleich den Platz, in deren
über die Mauern hinſchweifenden Scheinen ſich alle
Figuren nur noch dunkler ausnahmen. Er iſt's!
rief Leontin. — Der Reiter, welcher der Herr des
Schloſſes zu ſeyn ſchien, ſtieg ſchnell ab und gieng
hinein, die Windlichter verſchwanden mit ihm und
es war plötzlich wieder dunkel und ſtille wie vorher.


Leontin war ſehr bewegt, ſie beyde blieben
noch lange voll Erwartung am Fenſter, aber es
rührte ſich nichts im Schloſſe. Ermüdet warfen ſie
ſich endlich auf die großen, altmodiſchen Betten,
um den Tag zu erwarten, aber ſie konnten nicht
einſchlafen, denn der Wind knarrte und pfiff unauf¬
hörlich an den Wetterhähnen und Pfeilern des al¬
ten, weitläufigen Schloſſes, und ein ſeltſames Sau¬
[405] ſen, das nicht vom Walde herzukommen ſchien, ſon¬
dern wie ferner Wellenſchlag tönte, brauste die
ganze Nacht hindurch.

Zweyundzwanzigſtes Kapitel.

Kaum fieng der Morgen drauſſen an zu däm¬
mern, ſo ſprangen die Beyden ſchon von ihrem La¬
ger auf und eilten aus ihrem Zimmer auf den
Gang hinaus. Aber kein Menſch war noch da zu
ſehen, die Gänge und Stiegen ſtanden leer, der
ſteinerne Brunnen im Hofe rauſchte einförmig fort.
Sie giengen unruhig auf und ab; nirgends bemerk¬
ten ſie einen neuen Bau oder Verzierung an dem
Schloſſe, es ſchien nur das Alte grade zur Noth¬
durft zuſammengehalten. Bunte Blumen und kleine
grüne Bäumchen wuchſen hin und wieder auf dem
hohen Dache, zwiſchen denen Vögel luſtig ſangen.
Sie kamen endlich über mehrere Gänge in dem ab¬
gelegenſten und verfallenſten Theile des Schloſſes in
ein offenes, hochgelegenes Gemach, deſſen Wände
ſie mit Kohle bemahlt fanden. Es waren meiſt
flüchtige Umriſſe von mehr als lebensgroßen Figu¬
ren, Felſen und Bäumen, zum Theil halbverwiſcht
und unkenntlich. Gleich an der Thüre war eine
ſeltſame Figur, die ſie ſogleich für den Eulenſpiegel
erkannten. Auf der anderen Wand erkannte Frie¬
[406] drich höchſtbetroffen einen großen, ziemlich weitläu¬
figen Umriß ſeiner Heimath, das große alte Schloß
und den Garten auf dem Berge, den Strom un¬
ten, den Wald und die ganze Gegend. Aber es
war unbeſchreiblich einſam anzuſehen, denn ein un¬
geheuerer Sturm ſchien über die winterliche Gegend
zu gehen, und beugte die entlaubten Bäume alle
nach einer Seite, ſo wie auch eine wilde Flammen¬
krone, die aus dem Dache des Schloſſes hervor¬
brach, welches zum Theil ſchon in der Feuersbrunſt
zuſammenſtürzte.


Friedrich konnte die Augen von dieſen Zügen
kaum wegwenden, als Leontin einen Haufen von
Zeichnungen und Skizzen hervorzog, die ganz ver¬
ſtaubt und vermodert in einem Winkel des Zimmers
lagen. Sie ſetzten ſich beyde auf den Fußboden hin
und rollten eine nach der anderen auf. Die meiſten
Blätter waren komiſchen Inhalts, faſt alle von ei¬
nem ungewöhnlichen Umfang. Die Züge waren
durchaus keck und oft bis zur Härte ſtreng, aber
keine der Darſtellungen machte einen angenehmen,
viele ſogar einen widrigen Eindruck. Unter den ko¬
miſchen Geſichtern glaubte Friedrich zu ſeiner höch¬
ſten Verwunderung manche alte Bekannte aus ſei¬
ner Kindheit wiederzufinden.


Der erſte Morgenſchein fiel indeß ſo eben durch
die hohen Bogenfenſter und ſpielte gar ſeltſam an
den Wänden der Polterkammer und in die wunder¬
liche Welt der Gedanken und Geſtalten hinein, die
rings um ſie her auf dem Boden zerſtreut lagen.
[407] Es war ihnen dabey wie in einem Traume zu Mu¬
the. — Sie ſchoben endlich alle die Bilder wieder
in den Winkel zuſammen und lehnten ſich zum Fen¬
ſter hinaus.


Alles war noch nächtlich und gränzenlos ſtill,
nur einige frühe Vögel zogen pfeiffend hin und her
über den Wald und begrüßten die erſten Morgen¬
ſtrahlen, die durch die Wipfel funkelten. Da hör¬
ten ſie auf einmal drauſſen in einiger Entfernung
folgendes Lied ſingen:


Ein Stern ſtill nach dem andern fällt

Tief in des Himmels Kluft,

Schon zucken Strahlen durch die Welt,

Ich wittre Morgenluſt.
In Qualmen ſteigt und ſinkt das Thal;

Verödet noch vom Feſt

Liegt ſtill der weite Freudenſaal,

Und todt noch alle Gäſt'.
Da hebt die Sonne aus dem Meer

Erathmend ihren Lauf:

Zur Erde geht, was feucht und ſchwer,

Was klar, zu ihr hinauf.
Hebt grüner Wälder Trieb und Macht

Neurauſchend in die Luft,

Zieht hinten Städte, eitel Pracht,

Blau' Berge durch den Duft.
Spannt aus die grünen Tepp'che weich,

Von Strömen hell durchrankt,

Und ſchallend glänzt das friſche Reich,

So weit das Auge langt.
[408]
Der Menſch nun aus der tiefen Welt

Der Träume tritt heraus,

Freut ſich, daß alles noch ſo hält,

Daß noch das Spiel nicht aus.
Und nun geht's an ein Fleiſſigſeyn!

Umſumſend Berg und Thal,

Agiret luſtig Groß und Klein,

Den Plunder allzumal.
Die Sonne ſteiget einſam auf,

Ernſt über Luſt und Weh,

Lenkt ſie den ungeſtörten Lauf,

In ſtiller Glorie. —
Und wie er dehnt die Flügel aus,

Und wie er auch ſich ſtellt:

Der Menſch kann nimmermehr hinaus,

Aus dieſer Narrenwelt.

Die beyden Freunde eilten ſogleich auf das ſon¬
derbare Lied hinunter und aus dem Schloſſe hin¬
aus. Die Wälder rauchten ringsum aus den Thä¬
lern, eine kühle Morgenluft griff ſtärkend an alle
Glieder. Der Geſang hatte unterdeß aufgehört,
doch erblickten ſie in jener Gegend, wo er herge¬
kommen war, einen großen, ſchönen, ziemlich jun¬
gen Mann an dem Eingange des Waldes. Er ſtand
auf und ſchien weggeh'n zu wollen, als er ſie ge¬
wahr wurde; dann blieb er ſtehen und ſah ſie noch
einmal an, kam darauf auf ſie zu, faßte Frie¬
drich'n bey der Hand und ſagte ſehr gleichgültig:
Willkommen Bruder! —

[409]

Wie dem Schweizer in der Fremde, wenn plötz¬
lich ein Alphorn ertönt, alle Berge und Thäler,
die ihn von der Heimath ſcheiden, in dem Klange
verſinken, und er ſieht die Gletſcher wieder und
den alten, ſtillen Garten am Bergeshange und al¬
le die morgenfriſche Ausſicht in das Wunderreich
der Kindheit, ſo fiel auch Friedrich'n bey dem Tone
dieſer Stimme die mühſame Wand eines langen,
verworrenen Lebens von der Seele nieder: — er
erkannte ſeinen wilden Bruder Rudolph, der als
Knabe fortgelaufen war, und von dem er ſeitdem
nie wieder etwas gehört hatte.


Keine ruhige, ſegensreiche Vergangenheit ſchien
aus dieſen dunkelglühenden Blicken hervorzuſehen,
eine Narbe über dem rechten Auge entſtellte ihn
ſeltſam. Leontin ſtand ſtill dabey und betrachtete
ihn aufmerkſam, denn es war wirklich daſſelbe
Bild, das ihm mitten im bunten Leben oft ſo ſchau¬
rig begegnet. O, mein lieber Bruder, ſagte Frie¬
drich, ſo habe ich dich denn wirklich wieder! Ich
habe dich immer geliebt. Und als ich dann größer
wurde und die Welt immer kleiner und enger, und
alles ſo Wunderlos und zahm, wie oft hab' ich da
an dich zurückgedacht und mich nach deinem wunder¬
baren härteren Weſen geſehnt! — Rudolph ſchien
wenig auf dieſe Worte zu achten, ſondern wandte
ſich zu Leontinen um und ſagte: Wie geht es Euch,
mein Signor Amoroſo? Durch dieſen Wald geht
kein Weg zum Liebchen. — Und keiner in der Welt
mehr, fiel ihm Leontin, der wohl wußte, was er
[410] meyne, empfindlich ins Wort, denn Euere Poſſen
haben das Mädchen ins Grab gebracht. — Beſſer
todt, als eine H — ſagte Rudolph gelaſſen. Aber,
fuhr er fort, was treibt euch aus der Welt hier
zu mir herauf? Sucht Ihr Ruhe: ich habe ſelber
keine, ſucht Ihr Liebe: ich liebe keinen Menſchen,
oder wollt Ihr mich liſtig ausſondiren, zerſtreuen
und luſtig machen: ſo zieht nur in Frieden wieder
hinunter, eßt, trinkt, arbeitet fleiſſig, ſchlaft bey
eueren Weibern oder Mädchen, ſeyd luſtig und
lacht, daß ihr euch krähend die Seiten halten
müßt, und danket Gott, daß er euch weiße Lebern,
einen ordentlichen Verſtand, keinen überflüſſigen
Witz, geſellige Sitten und ein langes, wohlgefälli¬
ges Leben beſcheret hat — denn mir iſt das alles
zuwider. — Friedrich ſah den Bruder ſtaunend an,
dann ſagte er: Wie iſt dein Gemüth ſo feindſelig
und wüſt geworden! Hat dich die Liebe — Nein,
ſagte Rudolph, Ihr ſeyd gar verliebt, da lebt recht
wohl!


Hiemit gieng er wirklich mit großen Schritten
in den Wald hinein und war bald hinter den Bäu¬
men verſchwunden. Leontin lief ihm einige Schrit¬
te nach, aber vergebens. Nein, rief er endlich aus,
er ſoll mich nicht ſo verachten, der wunderliche Ge¬
ſell! Ich bin ſo reich und ſo verrückt wie Er! —
Friedrich ſagte: Ich kann es nicht mit Worten aus¬
drücken, wie es mich rührt, den tapferen, gerech¬
ten, rüſtigen Knaben, der mir immer vorgeſchwebt,
wenn ich Dich anſah, ſo verwildert wiederzuſehen.
[411] Aber ich bleibe nun gewiß, auch wider ſeinen Wil¬
len, hier, ich will keine Mühe ſparen, ſein reines
Gold, denn ſolches war in ihm, aus dem wüſtver¬
fallenen Schacht wieder ans Tageslicht zu fördern.
— O, fiel ihm Leontin ins Wort, das Meer iſt
nicht ſo tief, als der Hochmüthige in ſich ſelber
verſunken iſt! Nimm dich in Acht! er zieht dich eher
ſchwindelnd zu ſich hinunter, ehe du ihn zu dir hin¬
auf.


Friedrich'n hatte der Anblick ſeines Bruders
auf das heftigſte bewegt. Er gieng ſchnell von Leon¬
tinen fort und allein tief in den Wald hinein. Er
brauchte der ſtillen, vollen Einſamkeit, um die neuen
Erſcheinungen, die auf einmal ſo gewaltſam auf ihn
eindrangen, zu verarbeiten, und ſeine ſeltſam auf¬
geregten Geiſter zu beruhigen.


Lange war er ſo im Walde herumgeſchweift,
als auch Leontin wieder zu ihm ſtieß. Dieſer hatte
während deß wieder jene Bilderſtube beſtiegen, und
die Zeit unter den Zeichnungen geſeſſen. Dabey
waren ihm in dieſer Einſamkeit die Figuren oft wie
lebendiggeworden vorgekommen und verſchiedene Lie¬
der eines Wahnſinnigen eingefallen, die er, wie
Sprüche auf die alten Bilder, den Geſtalten aus
dem Munde auf die Wand aufgeſchrieben hatte.


Die Sonne fieng ſchon wieder an ſich von der
Mittagshöhe herabzuneigen. Weder Leontin noch
Friedrich wußten recht, wo ſie ſich befanden, denn
kein ordentlicher Weg führte vom Schloſſe hieher.
[412] Sie ſchlugen daher die ohngefähre Richtung ein,
ſich über den melankoliſchen Rudolph beſprechend.
Als ſie nach langem Irren eben auf einer Höhe
angelangt waren, hörten ſie plötzlich mehrere leb¬
hafte Stimmen vor ſich. Ein undurchdringliches
Dickicht, durch welches von dieſer Seite kein Ein¬
gang möglich war, trennte ſie von den Sprechen¬
den. Leontin bog die oberſten Zweige mit Gewalt
auseinander: da eröffnete ſich ihnen auf einmal das
ſeltſamſte Geſicht. Mehrere auffallende Figuren
nemlich, worunter ſie ſogleich Marie'n, den Kar¬
funkelſteinſpäher und den Ritter von Geſtern er¬
kannten, lagen und ſaſſen dort auf einer grünen
Wieſe zerſtreut umher. Die große Einſamkeit, die
fremdartigen, zum Theil ritterlichen Trachten, wo¬
mit die meiſten angethan, gaben der Gruppe ein
überraſchendes, buntes und wunderſames Anſeh'n,
als ob ein Zug von Rittern und Frauen aus alter
Zeit hier ausraſte.


Marie war ihnen beſonders nahe, doch ohne
ſie zu bemerken. Sie war mit langen Kränzen von
Gras behangen und hatte eine Guitarre vor ſich
auf dem Schooße. Auf dieſer ſpielte ſie und ſang
das Lied, das ſie damals auf dem Rehe geſungen,
als ſie Friedrich zum erſtenmale auf der Wieſe bey
Leontins Schloſſe traf. Nach der erſten Strophe
hielt ſie, in Gedanken verlohren, inne, als wollte
ſie ſich auf das weitere beſinnen, und fieng dann das
Lied immer wieder von Anfang an. —

[413]

Mitten unter den Narren ſaß Rudolph auf er¬
nem umgefallenen Baumſtamme, den Kopf vornhin
in beyde Arme auf die Kniee geſtützt. Er war
ohne Hut und ſah ſehr blaß. Mit Verwunderung
hörten ſie, wie er mit ihnen allen in ein lebhaftes
Geſpräch vertieft war. Er wußte dem Wahnſinn
eines jeden eine Tiefe und Bedeutung zu geben,
über welche ſie erſtaunten, und je verrückter die
Narren ſprachen, je witziger und ausgelaſſener wur¬
de er in ſeinem wunderlichen Humor. Aber ſein
Witz war ſcharf ohne Heiterkeit, wie Diſſonanzen
einer großen, zerſtörten Muſik, die keinen Einklang
finden können oder mögen.


Leontin, der aufmerkſam zugehört hatte, war
es durchaus unmöglich, das wilde Spiel länger zu
ertragen. Er hielt ſich nicht mehr, riß mit Gewalt
durch das Dickicht und eilte auf Rudolphen zu
Rudolph, durch ſein Geſpräch exaltirt, ſprang über
der plötzlichen, unerwarteten Erſcheinung raſch auf
und riß dem verrückten Ritter, der neben ihm ſaß,
den Degen aus der Scheide. So mit dem Degen
aufgerichtet, ſah der lange Mann mit ſeinen ver¬
worrenen Haaren und bleichem Geſichte faſt Geſpen¬
ſterartig aus. Beyde hieben in demſelben Augen¬
blicke wüthend aufeinander ein, denn Leontin gieng
unter dieſen Verrückten nicht unbewaffnet aus. Ein
Strom von Blut drang plötzlich aus Rudolphs
Arme und machte der ſeltſamen Verblendung ein
Ende. Alles dieſes war das Wert eines Augen¬
blicks.

[414]

Friedrich war indeß auch herbeygeeilt, und bey¬
de Freunde waren bemüht, das Blut des verwun¬
deten Rudolphs mit ihren Tüchern zu ſtillen, wor¬
auf ſie ihn näher an ſein Schloß führten.


Als er ſich nach einiger Zeit wieder erholt hat¬
te, und die Gemüther beruhigt waren, äuſſerte
Friedrich ſeine Verwunderung, wie er ſo einſam in
dieſer Geſellſchaft aushalten könne.


Und was iſt es denn mehr und anders, ſagte
Rudolph, als in der anderen geſcheiden Welt?
Da ſteht auch jeder mit ſeinen beſonderen, eignen
Empfindungen, Gedanken, Anſichten und Wünſchen
neben dem anderen wieder mit ſeinem beſonderen
Weſen, und, wie ſie ſich auch, gleichwie mit Po¬
lypenarmen, künſtlich betaſten und einander recht
aus dem Grunde herauszufühlen trachten, es weiß
ja doch am Ende keiner, was er ſelber iſt oder was
der andere eigentlich meynt und haben will, und ſo
muß jeder dem anderen verrückt ſeyn, wenn es übri¬
gens Narren ſind, die überhaupt noch etwas meynen
oder wollen. Das einzige Tolle bey jenen Verrück¬
ten von Profeſſion aber iſt nur, daß ſie dabey noch
glücklich ſind.


Bey dieſen Worten erblickte er das vielerwähn¬
te Medaillon von Erwin, das Friedrich nur halb¬
verborgen unter dem Rocke trug. Er gieng ſchnell
auf Friedrich'n zu. Woher haſt du das? fragte er,
und nahm das Bild zu ſich. Er ſchien bewegt, als
ſie ihm erzählten, von wem ſie es hatten, und daß
Erwin geſtorben ſey, doch konnte man nicht unter¬
[415] ſcheiden, ob es Zorn oder Rührung war. Er ſah
darauf das Bild lange Zeit an und ſagte kein
Wort.


Durch die Ermattung von dem Blutverluſte, ſo
wie durch den unerwarteten Anblick des Portraits
ſchien ſeine Wildheit einigermaſſen gebändiget. Die
beyden Freunde drangen daher in ihn, ihnen end¬
lich Aufſchluß über das alles zu geben, und, wo
möglich, ſeine Lebensgeſchichte zu erzählen, auf
welche ſie beyde ſehr begierig waren, da ſie wohl
bemerkten, daß er mit dieſem Mädchen und vielen
anderen Räthſeln in einem nahen Zuſammenhange
ſtehen müſſe. Er war heut wirklich ruhig genug
dazu. Er ſetzte ſich, ohne ſich weiter nöthigen zu
laſſen, neben ihnen auf den Raſen, und begann
ſogleich folgendermaſſen:

Dreyundzwanzigſtes Kapitel.

Wenn ich mein Leben überdenke, iſt mir ſo
todtenſtill und nüchtern, wie nach einem Balle,
wenn der Saal noch wüſt und ſchwüle qualmt und
ein Licht nach dem anderen verlöſcht, weil andere
Lichter durch die zerſchlagenen Fenſter hineinſchielen,
und man reißt die Kleider von der Bruſt und ſteigt
drauſſen auf den höchſten Berg und ſieht der Son¬
[416] ne entgegen, ob ſie nicht bald aufgeh'n will —
Doch ich will ruhig erzählen:


Die erſte Begebenheit meines Lebens, auf die
ich mich wie auf einen Traum erinnere, war eine
große Feuersbrunſt. Es war in der Nacht, die
Mutter fuhr mit uns und noch einigen fremden
Leuten, auf die ich mich nicht mehr beſinne, im
Kahne über einen großen See. Mehrere Schlöſſer
und Dörfer brannten ringsumher an den Ufern und
der Widerſchein von den Flammen ſpiegelte ſich bis
weit in den See hinein. Meine Wärterin hob mich
aus dem Kahne hoch in die Höhe, und ich langte
mit beyden Armen nach dem Feuer. Alle die frem¬
den Leute im Kahne waren ſtill, meine Mutter
weinte ſehr; man ſagte mir, mein Vater ſey
todt. —


Noch eines Umſtandes muß ich dabey gedenken,
weil er ſeltſam mit meinem übrigen Leben zuſam¬
menhängt. Als wir nemlich, ſoviel ich mich erinne¬
re, gleichſam aus Flammen in den Kahn einſtiegen,
erblickte ich einen Knaben etwa von meinem Alter,
den ich ſonſt nie geſehen hatte. Der lachte uns
aus, tanzte an dem Feuer mit höhnenden Gebehr¬
den und ſchnitt mir Geſichter. Ich nahm ſchnell ei¬
nen Stein und warf ihn ihm mit einer für mein
Alter ungewöhnlichen Kraft an den Kopf, daß er
umfiel. Sein Geſicht iſt mir noch jetzt ganz deut¬
lich und ich wurde des widrigen Eindrucks dieſer
Begebenheit niemals wieder los. — Das iſt alles,
was[417] was mir von jener merkwürdigen Nacht übrigblieb,
deren Stille, Wunderbilder und feurige Widerſchei¬
ne ſich meinem kindiſchen Gemüthe unverlöſchlich ein¬
prägten. In dieſer Nacht ſah ich meine Mutter
zum letztenmale.


Nachher erinnere ich mich wieder auf nichts,
als Berge und Wälder, große Haufen von Sol¬
daten und blitzenden Reitern, die mit klingendem
Spiele über Brücken zogen, unbekannte Thäler und
Gegenden, die wie ein Schattenſpiel ſchnell an mei¬
ner Seele vorüberflogen.


Als ich mich endlich zum erſtenmale mit Beſin¬
nung in der Welt umzuſchauen anfieng, befand ich
mich allein mit Dir in einem fremden ſchönen Schloß
und Garten unter fremden Leuten. Es war, wie
Du weißt, unſer Vormund, und das Schloß, ob¬
ſchon unſer Eigenthum, doch nicht unſer Geburts¬
ort. Wir beyde ſind am Rheine gebohren. — Es
mochte mir hier bald nicht behagen. Beſonders ſtach
mir gegen das niemals in meiner Erinnerung erlo¬
ſchene Bild meiner Mutter, die ernſt, hoch und
ſchlank war, die neue, kleine, wirthſchaftliche und
dickliche Mutter zu ſehr ab. Ich wollte ihr niemals
die Hand küſſen. Ich mußte viel ſitzen und lernen,
aber ich konnte nichts erlernen, beſonders keine
fremde Sprache. Am wenigſten aber wollte mir
das ſogenannte gewiſſe Etwas in Geſellſchaften an¬
paſſen, wobey ich mich denn immer ſehr ſchlecht und
zu allgemeiner Unzufriedenheit präſentirte. Mir
27[418] war dabey das Verſtellen und das zierliche Nied¬
lichthun der Vormünderin und des Hofmeiſters un¬
begreiflich, die immer auf einmal ganz andere Leute
waren, wenn Gäſte kamen. Ja, ich erinnere mich,
daß ich den letzteren einigemal, wenn er ſo auſſer
dem gewöhnlichen Wege beſonders klug ſprach,
hinten am Rocke zupfte und laut auflachte, worauf
ich denn jedesmal mit drohenden Blicken aus dem
Zimmer verwieſen wurde. Mit Prügeln war bey
mir nichts auszurichten, denn ich vertheidigte mich
bis zum Tode gegen den Hofmeiſter und jedermann,
der mich ſchlagen wollte. So kam es denn endlich,
daß ich bey jeder Gelegenheit hintangeſetzt wurde.
Man hielt mich für einen trübſeligen Einfaltspinſel,
von dem weder etwas zu hoffen noch zu fürchten
ſey. Ich wurde dadurch nur noch immer tiefſinni¬
ger und einſamer und träumte unaufhörlich von ei¬
ner geheimen Verſchwörung Aller gegen mich, ſelbſt
Dich nicht ausgenommen, weil Du mit den meiſten
im Hauſe gut ſtandſt.


Ein einziges liebes Bild gieng in dieſer dunk¬
len, ſchwerer Träume vollen, Zeit an mir vorüber.
Es war die kleine Angelina, die Tochter eines
verwandten italieniſchen Marcheſe, der ſich auch
vor den Unruhen in Italien zu uns geflüchtet hatte
und lange Zeit dort blieb. Du wirſt Dich des lieb¬
lichen, wunderſchönen Kindes erinnern, wie ſie von
uns Deutſch lernte und ſo ſchöne, welſche Lieder
wußte. Ich hatte damals Tag und Nacht keine
Seelensruh vor dieſem ſchönen Bilde. Inzwiſchen
[419] glaubte ich zu bemerken, daß ſie überall Dich mehr
begünſtige, als mich; ich war ihr zu wild, ſie ſchien
ſich vor mir zu fürchten. Mein alter Argwohn,
Haß und Bangigkeit nahm täglich zu, ich ſaß, wie
in mir ſelbſt gefangen, bis endlich ein ſeltſamer
Umſtand alle die Engel und Teufel, die damals noch
dunkel in mir rangen, auf einmal losmachte.


Ich war nemlich eines Abends eben mit An¬
gelina im Garten an dem eiſernen Gitter, durch
das man auf die Straſſe hinausſah. Angelina ſtand
am Springbrunnen und ſpielte mit den goldenen
Kugeln, welche die Waſſerkunſt glänzend auf und
nieder warf. Da kam eine alte Zigeunerin am
Gitter vorbey und verlangte, als ſie uns d'rinnen
erblickte, auf die gewöhnliche ungeſtümme Art uns
zu prophezeyen. Ich ſtreckte ſogleich meine Hand
hinaus. Sie las lange Zeit darin. Während deß
ritt ein junger Menſch, der ein Reiſender ſchien,
drauſſen die Straſſe vorbey und grüßte uns höflich.
Die Zigeunerin ſah erſtaunt mich, Angelina und den
vorüberziehenden Fremden wechſelſeitig an, endlich
ſagte ſie, auf uns und ihn deutend: „Eines von
Euch dreyen wird den anderen ermorden.“ — Ich
blickte dem Reiter ſcharf nach, er ſah ſich noch ein¬
mal um, und ich erkannte, erſchrocken und zornig,
ſogleich das Geſicht deſſelben unbekannten Knaben
wieder, der uns bey unſerem Auszuge aus der Hei¬
math an dem Feuer ſo verhöhnt hatte. — Die
Zigeunerin war unterdeß verſchwunden, Angelina
27 *[420] furchtſam fortgelaufen, und ich blieb allein in dem
großen, dämmernden Garten und glaubte feſt, nun,
als Mörder, auch ſogar von Gott verlaſſen zu ſeyn;
niemals fühlt' ich mich ſo finſter und leer.


In der Nacht konnt' ich nicht ſchlafen, ich ſtand
auf und zog mich völlig an. Es war alles ſtill,
nur die Wetterhähne knarrten im Hofe, der Mond
ſchien ſehr hell. Du ſchliefſt ſtill neben mir, das
Gebethbuch lag noch halbaufgeſchlagen bey Dir, ich
wußte nicht, wie Du ſo ruhig ſeyn könnteſt. Ich
küßte Dich auf den Mund, gieng dann ſchnell aus
dem Hauſe, durch den Garten, und kehrte niemals
mehr wieder.


Von nun an geht mein Leben raſch, bunt,
ungenügſamwechſelnd und in allem Wechſel doch un¬
befriedigt. Ich will nur einige Augenblicke aushe¬
ben, die mich, wie einſamerleuchtete Berggipfel
über dem dunkelwühlenden Gewirre, noch immer
von weitem anſeh'n.


Als ich zu Ende jener Nacht die letzte Höhe er¬
reicht hatte, gieng eben die Sonne prächtig auf.
Die Gegend unten, ſo weit die Blicke langten, war
mit bunten Zelten, unermeßlich blitzenden Reihen
und Luſt und Schallen überdeckt. Einzelne bunte
Reiter flogen in allen Richtungen über den grünen
Anger, einzelne Schüſſe fielen bis in die tiefſte Fer¬
ne hin und her im Walde. Ich ſtand wie einge¬
wurzelt vor Luſt bey dem Anblick. Ich glaubte, es
nun auf einmal gefunden zu haben, was mir fehlte
[421] und was ich eigentlich wollte. Ich eilte daher ſchnell
hinunter und ließ mich anwerben.


Wir brachen noch denſelben Tag von dem Orte
auf, aber ſchon da auf dem Marſche fieng ich an
zu bemerken, daß dieſes nicht das Leben war, das
ich erwartete. Der platte Leichtſinn, das Prahlen
und der geſchäftige Müſſiggang eckelte mich an, be¬
ſonders unerträglich aber war mir, daß ein einzi¬
ger, unbeſchreiblicher Wille das Ganze, wie ein
dunkles Fatum, regieren ſollte, daß ich im Grun¬
de nicht mehr werth ſeyn ſollte, als mein Pferd —
und ſo verſenkten mich dieſe Betrachtungen in eine
fürchterliche Langeweile, aus der mich kaum die
Signale, welche die Schlacht ankündigten, aufzurüt¬
teln vermochten.


Damals bekam mein Oberſt von meinem Vor¬
mund, der mich aufgeſpürt hatte, einen Brief,
worin er ihn bat mich auszuliefern. Aber es war
zu ſpät, denn das Treffen war eben losgegangen.
Mitten im blitzenden Dampfe und Todeswühlen er¬
blickt' ich plötzlich das bleiche Geſicht des Unbekann¬
ten wieder mir feindlich gegenüber. — Wüthend,
daß das Geſpenſt mich überall verfolge, ſtürzte ich
auf ihn ein. Er focht ſo gut wie ich. Endlich ſah
ich ſein Pferd ſtürzen, während ich ſelbſt, leicht
verwundet, vor Ermattung bewußtlos hinſank. Als
ich wieder erwachte, war alles ringsum finſter und
todtenſtill über der weiten Ebne, die mit Leichen
bedeckt war. Mehrere Dörfer brannten in der
Runde, und nur einzelne Figuren, wie am jüng¬
[422] ſten Gericht, erhoben ſich hin und her und wandel¬
ten dunkel durch die Stille. Ein unbeſchreibliches
Grauſen überfiel mich vor dem wahnwitzigen Jam¬
merſpiel, ich raffte mich ſchnell auf und lief bis es
Tag wurde.


In einem Städtchen las ich in der Zeitung die
Bekanntmachung meines Vormunds, daß ich in
dem Treffen geblieben ſey, auch hörte ich, daß der
Marcheſe mit ſeiner Tochter unſer Schloß wieder
verlaſſen habe. Ich war zu ſtolz und aufgeregt,
um nach Hauſe zurückzukehren. Indeß erwachte das
Bild der kleinen Angelina von neuem in meinem
Herzen. Ich bildete mir die liebliche Erinnerung
mit allen Kräften meiner Seele aus und ſo mahlte
ich damals jenes Engelsköpfchen, das Du hier zu
meinem Erſtaunen mitgebracht haſt. Es iſt Angeli¬
nen's Portrait.


Mein unruhiges und doch immer in ſich ſelbſt
verſchloſſenes Gemüth bekam nun auf einmal die
erſte entſchiedene Richtung nach Auſſen. Ich warf
mich mit einem unerhörten Fleiſſe auf die Mahlerey
und ſtreifte mit dem Gelde, das ich mir dadurch
erwarb, in Italien herum. Ich glaubte damals,
die Kunſt werde mein Gemüth ganz befriedigen und
ausfüllen. Aber es war nicht ſo. Es blieb immer
ein dunkler, harter Fleck in mir, der keine Farben
annahm, und doch mein eigentlicher, innerſter
Kern war. Ich glaube, wenn ich in meiner Angſt
einen neuen Münſter hätte aus mir herausbauen
können, mir wäre wohler geworden, ſo felſengroß
[423] lag immer meine Entzückung auf mir. Meine Skiz¬
zen waren immer beſſer als die Gemählde, weil
ihre Ausführung meiſtens unmöglich war. Gar oft
in guten Stunden iſt mir wohl eine ſolche Glorie
von niegeſehenen Farben und unbeſchreiblich himm¬
liſcher Schönheit vorgekommen, daß ich mich kaum
zu faſſen wußte. Aber dann war's auch wieder
aus, und ich konnte ſie niemals ausdrücken. — So
ſchmückt ſich wohl jede tüchtige Seele einmal ihren
Kerker mit Künſten aus, ohne deßwegen zum
Künſtler berufen zu ſeyn. Und überhaupt iſt es am
Ende doch nur Putz und eitel Spielerey. Oder
würdet ihr den nicht für thöricht halten, der ſich
im Wirthshaus, wo er übernachtet, eifrig auszie¬
ren wollte? Und wir machen ſoviel Umſtände mit
dem Leben und wiſſen nicht, ob wir noch eine
Stunde bleiben!


An einem ſchönen Sommerabende fuhr ich ein¬
mal in Venedig auf dem Golf ſpazieren. Der
Halbkreis von Palläſten mit ihren ſtillerleuchteten
Fenſtern gewährte einen prächtigen Anblick. Unzäh¬
lige Gondeln glitten aneinander vorüber über das
ruhige Waſſer, Guitarren und tauſend weiche Ge¬
ſänge zogen durch die laue Nacht. Ich ruderte voll
Gedanken fort und immerfort, bis nach und nach
die Lieder verhallten und alles um mich her ſtill und
einſam geworden war. Ich dachte an die ferne
Heimath und ſang ein altes deutſches Lied, eines
von denen, die ich noch als Knabe Angelinen gelehrt
hatte. Wie ſehr erſtaunte ich, als mir da auf ein¬
[424] mal eine wunderſchöne weibliche Stimme von dem
Altan eines Hauſes mit der nächſtfolgenden Strophe
deſſelben Liedes antwortete. Ich ſprang ſogleich
ans Ufer und eilte auf das Haus zu, von dem der
Geſang herkam. Eine weiße Mädchengeſtalt neigte
ſich zwiſchen den Orangenbäumen und Blumen über
den Balkon herab und ſagte flüſternd: Rudolph!
Ich erkannte bey dem hellen Mondſcheine ſogleich
Angelinen. Sie ſchien noch mehr ſprechen zu
wollen, aber die Thüre auf dem Balkon öffnete ſich
von innen, und ſie war verſchwunden.


Verwundert und entzückt in allen meinen Sin¬
nen, ſetzt' ich mich an einen ſteinernen Springbrun¬
nen, der auf dem weitſtillen Platze vor dem Hauſe
ſtand. Ich mochte ohngefähr eine Stunde dort ge¬
ſeſſen haben, als ich die Glasthüre oben leiſe wie¬
der öffnen hörte. Angelina trat, ſich furchtſam auf
den Platz umſehend, noch einmal auf den Balkon
heraus. Ihre ſchönen Locken fielen auf den ſchnee¬
weißen, nur halbverhüllten Buſen herab, ſie war
baarfuß und im leichteſten Nachtkleide. Sie erſchrack,
als ſie mich wirklich noch unten erblickte. Sie legte
den Finger auf den Mund, während ſie mit der
anderen Hand auf die Thüre deutete, lehnte ſich
ſtillſchweigend über das Geländer und ſah mich ſo
lange Zeit unbeſchreiblich lieblich an. Darauf zog
ſie ein Papierchen hervor, warf es mir hinab,
liſpelte kaum hörbar: gute Nacht! und gieng zau¬
dernd wieder hinein. — Auf dem Zettel ſtand mit
Bleyſtift der Nahme einer Kirche aufgeſchrieben.

[425]

Ich begab mich am Morgen zu der benannten
Kirche und ſah das Mädchen wirklich zur beſtimm¬
ten Stunde mit einer ältlichen Frau, die ihre Ver¬
traute ſchien, ſchon von weitem die Straſſe herauf¬
kommen. Ich erſchrack faſt vor Freuden, ſo über¬
aus ſchön war ſie geworden. Als ſie mich ebenfalls
erblickte, wurde ſie roth vor Schaam über die ver¬
gangene Nacht und ſchlug den Schleyer feſt über
das Geſicht. Auf dem Wege und in der Kirche er¬
zählte ſie mir nun ungeſtört, daß ſie ſchon lange
wieder in Italien zurückſeyen, daß ihr Vater, da
ihre Mutter bey ihrer Geburt in Todesnoth war,
das feyerliche Gelübde gethan, ſie, Angelina, als
Kloſterjungfrau dem Himmel zu weihen, und daß
der dazu beſtimmte Tag nicht mehr fern ſey. —
Das verliebte Mädchen ſagte dieß mit Thränen in
den Augen.


Wir kamen darauf noch oft, bald in der Kirche,
bald in der Nacht am Balkone zuſammen; der
Tag, wo Angelina aus dem väterlichen Hauſe fort
ins Kloſter ſollte, rückte immer näher heran, und
wir verabredeten endlich mit einander zu entfliehen.


In der Nacht, die wir zur Flucht beſtimmt hat¬
ten, trat ſie, mit dem Nothwendigſten verſehen und
reichgeſchmückt, wie eine Braut, hervor. Die hefti¬
ge Bewegung, in der ihr Gemüth war, machte ihr
Geſicht wunderſchön, und ich ſehe ſie in dieſem Zu¬
ſtande und dieſem Kleide noch wie heute vor mir
ſtehen. Sie war noch in ihrem Leben nicht um die¬
ſe Zeit allein auf der Gaſſe geweſen, ſie wurde da¬
[426] her noch im letzten Augenblick von neuem ſchüchtern
und halbunſchlüſſig; ſie weinte und fiel mir um den
Hals. Ich faßte ſie endlich um den Leib und trug
ſie in den Kahn, den ich im Golf bereit hielt. Ich
ſtieß ſchnell vom Ufer ab, das Seegel ſchwoll im
lauen Winde, der Halbkreis der erleuchteten Fenſter
verſank allmählig hinter uns und wir befanden uns
allein auf der ſtillen, unermeßlichen Fläche.


Die Liebe hatte ſie nun ganz in meine Gewalt
gegeben. Sie wurde nun ruhig. Innerlichſt fröh¬
lich, aber ſtill, ſaß ſie feſt an mich gedrückt und ſah
mit den weitoffnen, ſinnigen Augen unverwandt ins
Meer hinaus. Ich bemerkte, daß ſie oft heimlich
zuſammenſchauerte, bis ſie, endlich ermüdet ein¬
ſchlummerte.


Da rauſchte plötzlich ein Kahn mit mehreren
Leuten und Fackelſchein vorüber nach Venedig zu.
Der eine von ihnen ſchwang eben ſeine Fackel und
ich erblickte bey dem flüchtigen Scheine den unbe¬
kannten, wunderbar mit mir verknüpften Fremden
wieder, der mitten im Kahne aufrecht ſtand. Ich
fuhr unwillkührlich bey dem Anblick zuſammen, und
höchſtſeltſam, obſchon die ganze Erſcheinung ohne
das mindeſte Geräuſch vorübergeglitten war, ſo
wachte doch Angelina in demſelben Augenblicke von
ſelber auf und ſagte mir erſchrocken, es habe ihr
etwas fürchterliches geträumt, ſie wiſſe ſich nun aber
nicht mehr darauf zu beſinnen. Ich beruhigte ſie,
und ſagte ihr nichts von dem Begegniß, worauf ſie
denn bald von neuem einſchlief.

[427]

Ein lauter Freudenſchrey entfuhr ihrer Bruſt,
als ſie nach einigen Stunden die hellen Augen auf¬
ſchlug, denn die Sonne gieng eben prächtig über
der Küſte von Italien auf, die in duftigem Wun¬
derglanze vor uns da lag. Es war der erſte über¬
ſchwengliche Blick des jungen Gemüthes in das
freye, lüſternlockende, reiche, noch ungewiſſe Leben.
Wir ſtiegen nun ans Land und ſetzten unſere Reiſe
zu Pferde gen Rom fort. Dieſes Ziehen in den
blauen, lieblichen Tagen über grüne Berge, Thäler
und Flüſſe, rollt ſich noch jetzt blendend vor meiner
Erinnerung auf, wie ein mit prächtigglänzenden,
wunderbaren Blumen geſtickter Teppich, auf dem
ich mich ſelbſt als luſtige Figur mit buntgeflickter
Narrenjacke erblicke.


In Rom niſteten wir uns in einem entlegenen
Quartiere der Stadt ein, wo uns niemand bemerkte.
Wir führten einen gar wunderlichen, ziemlich unor¬
dentlichen Haushalt miteinander, denn Angelina ge¬
wöhnte ſich ſehr bald auch an das freye, ſorgloſe
Künſtler-Weſen. Sie hatte, gleich, als wir ans
Land ſtiegen, Mannskleider anlegen müſſen, um
nicht erkannt zu werden, und ich gab ſie ſo für
meinen Vetter aus. Die Tracht, in der ſie mich
nun auch frey auf allen Spaziergängen begleitete,
ſtand ihr ſehr niedlich; ſie ſah oft aus wie Correg¬
gio's Bogenſchütz. Sie mußte mir oft zum Modell
ſitzen, und ſie that es gern, denn ſie wußte wohl,
wie ſchön ſie war. Damals wurden meine Gemähl¬
[428] de weniger hart, angenehmer und ſinnreicher in der
Ausführung.


Indeß entgieng es mir nicht, daß Angelina
anfieng, mit der Mädchentracht nach und nach auch
ihr voriges mädchenhaftes, bey aller Liebe verſchäm¬
tes, Weſen abzulegen, ſie wurde in Worten und
Gebehrden kecker, und ihre ſonſt ſo ſchüchternen
Augen ſchweiften lüſtern rechts und links. Ja, es
geſchah wohl manchmal, wenn ich ſie unter luſtige
Geſellen mitnahm, mit denen wir in einem Garten
oft die Nacht durchſchwärmten, daß ſie ſich berauſch¬
te, wo ſie dann mit den furchtſam dreiſten Mienen
und glänzendſchmachtenden Augen ein ungemeim rei¬
tzendes Spiel der Sinnlichkeit gab.


Weiber ertragen ſolche kühnere Lebensweiſe
nicht. — Ein Jahr hatten wir ſo zuſammengelebt,
als mir Angelina eine Tochter gebahr. Ich hatte
ſie einige Zeit vorher auf einem Landhauſe bey
Rom vor aller Welt Augen verborgen, und auf
ihr eignes Verlangen, welches meiner Eiferſucht
auffiel, blieb ſie nun auch noch lange nach ihrer Nie¬
derkunft mit dem Kinde dort. —


Eines Morgens, als ich eben von Rom hin¬
komme, find' ich alles leer. — Das alte Weib,
welches das Haus hütete, erzählt mir zitternd:
Angelina habe ſich geſtern Abend ſehr zierlich als
Jäger angezogen, ſie habe darauf, da der Abend
ſehr warm war, lange Zeit bey ihr vor der Thür
auf der Bank geſeſſen und angefangen ſo betrübt
[429] und melankoliſch zu ſprechen, daß es ihr durch die
Seele gieng, wobey ſie öfters ausrief: wär' ich
doch lieber ins Kloſter gegangen! Dann ſagte ſie
wieder luſtig: bin ich nicht ein ſchöner Jäger? Dar¬
auf ſey ſie hinaufgegangen, habe, während ſchon
alles ſchlief, noch immerfort Licht gebrannt und am
offnen Fenſter allerley zur Laute geſungen. Beſon¬
ders habe ſie folgendes Liedchen zum öftern wie¬
derholt, welches auch mir gar wohl bekannt war,
da es Angelina von mir gelernt hatte:


„Ich hab' geſeh'n ein Hirſchlein ſchlank

Im Waldesgrunde ſteh'n,

Nun iſt mir drauſſen weh' und bang,

Muß ewig nach ihm geh'n.
Friſchauf, ihr Waldgeſellen mein!

Ins Horn, ins Horn friſchauf!

Das lockt ſo hell, das lockt ſo fein,

Aurora thut ſich auf.“
Das Hirſchlein führt den Jägersmann,

In grüner Waldesnacht,

Thalunter ſchwindelnd und bergan

Zu niegeſeh'ner Pracht.
„Wie rauſcht ſchon abendlich der Wald,

Die Bruſt mir ſchaurig ſchwellt!

Die Freunde fern, der Wind ſo kalt,

So tief und weit die Welt!“
Es lockt ſo tief, es lockt ſo fein

Durch's dunkelgrüne Haus,

Der Jäger irrt und irrt allein,

Find't nimmermehr heraus. —
[430]

Gegen Mitternacht ohngefähr, fuhr die Alte
fort, hörte ich ein leiſes Händeklatſchen vor dem
Hauſe. Ich öffnete leiſe die Lade meines Guckfen¬
ſters und ſah einen großen Mann, bewaffnet und
in einen langen Mantel vermummt, unter Angeli¬
nen's Fenſter ſteh'n, ſeitwärts im Gebüſch hielt ein
Wagen mit Bedienten und vier Pferden. In dem¬
ſelben Augenblicke kam auch Angelina, ihr Kind
auf dem Arme, unten zum Hauſe heraus. Der
fremde Herr küßte ſie und hob ſie geſchwind in den
Wagen, der pfeilſchnell davonrollte. Eh' ich mich
beſann, herauslief und ſchrie, war alles in der di¬
cken Finſterniß verſchwunden. —


Auf dieſen verzweifelten Bericht der Alten
ſtürzte ich in das Zimmer hinauf. Alles lag noch
wie ſonſt umher, ſie hatte nichts mitgenommen als
ihr Kind. Ein Bild, das nach ihr kopirt war,
ſtand noch ruhig auf der Staffeley, wie ich es ver¬
laſſen. Auf dem Tiſche daneben lag ein ungeheue¬
rer Haufen von Goldſtücken. Wüthend und auſſer
mir, warf ich alle das Gold, das Bild und alle
andere Bilder und Zeichnungen hinterdrein zum
Fenſter hinaus. Die Alte tanzte unten mit widrig
vor Staunen und Gier verzerrten Gebehrden wie
eine Hexe zwiſchen dem Goldregen herum, und ich
glaubte da auf einmal in ihren Zügen dieſelbe Zi¬
geunerin zu erkennen, die mir damals an dem Gar¬
tengitter prophezeit hatte. — Ich eilte zu ihr hin¬
ab, aber ſie hatte ſich bereits mit dem Golde ver¬
lohren. — Ich lud nun meine Piſtolen, warf mich
[431] auf mein Pferd und jagte der Spur des Wagens
nach, die noch deutlich zu kennen war. Ich war
vollkommen entſchloſſen, Angelina und ihren Ent¬
führer todtzuſchießen. — So erbärmliches Zeug iſt
die Liebe, dieſe liederliche Anſpannung der Seele! —


So durchſtreifte ich faſt ganz Italien nach allen
Richtungen, ich fand ſie nimmermehr. Als ich end¬
lich, erſchöpft von den vielen Zügen, auf den letz¬
ten Gipfeln der Schweitz ankam, ſchauderte mir,
als ich da auf einmal aus dem italieniſchen Glanze
nach Deutſchland hinab ſah, wie das ſo ganz an¬
ders, ſtill und ernſthaft mit ſeinen dunklen Wäl¬
dern, Bergen und dem königlichen Rheine da lag.
— Ich hatte keine Sehnſucht mehr nach der Ferne
und verſank in eine öde Einſamkeit. Mit meiner
Kunſt war es aus. —


Dagegen lockte mich nun bald die Philoſophie
unwiderſtehlich in ihre wunderbaren Tiefen. Die
Welt lag wie ein großes Räthſel vor mir, die
vollen Ströme des Lebens rauſchten geheimnißvoll,
aber vernehmlich, an mir vorüber, mich dürſtete un¬
endlich nach ihren heiligen, unbekannten Quellen.
Der kühnere Hang zum Tiefſinn war eigentlich mein
angebohrnes Naturell. Schon als Kind hatte ich
oft meinen Hofmeiſter durch ſeltſame, ungewöhnliche
Fragen in Verwirrung gebracht, und ſelbſt meine
ganze Mahlerey war im Grunde nur ein falſches
Streben, das Unausſprechliche auszuſprechen, das
Undarſtellbare darzuſtellen. Beſonders verſpürte ich
ſchon damals dieſes Gelüſt vor manchen Bildern
[432] des großen Albrecht Dürers und Michel Angelo's.
Ich ſtudierte nun mit eiſernem, unausgeſetztem
Fleiß faſt alle Philoſopheme, was die Alten ahndeten
und Neuen grübelten oder phantaſirten. Aber alle
Syſteme führten mich entweder von Gott ab, oder
zu einem falſchen Gott.


Alles aufgebend und verzweifelt, daß ich auf
keine Weiſe die Schranken durchbrechen und aus
mir ſelber herauskommen konnte, ſtürzt' ich mich
nun wüthend, mit wenigen lichten Augenblicken
ſchrecklicher Reue, in den flimmernden Abgrund al¬
ler ſinnlichen Ausſchweifungen und Gräuel, als
wollt' ich mein eignes Bild aus meinem Andenken
verwiſchen. Dabey wurde ich niemals fröhlich,
denn mitten im Genuß mußte ich die Menſchen ver¬
höhnen, die, als wären ſie meines Gleichen, halb
ſchlecht und halb furchtſam, nach der Weltluſt
haſchten, und dabey wirklich und in allem Ernſt zu¬
frieden und glücklich waren. Niemals iſt mir das
Handthieren und Treiben der Welt ſo erbärmlich
vorgekommen, als damals, da ich mich ſelber darin
untertauchte.


Eines Abends ſitz' ich am Pharotiſch, ohne
aufzublicken und mich um die Geſellſchaft zu beküm¬
mern. Ich ſpielte dieſen Abend, wider alle ſonſti¬
ge Gewohnheit, immerfort unglücklich, und wagte
immer toller, je mehr ich verlohr. Zuletzt ſetzte ich
mein noch übriges Vermögen auf die Karte. —
Verlohren! hört' ich den Bankhalter am anderen
Ende[433] Ende der Tafel rufen. Ich ſpringe auf und erblicke
den geheimnißvollen Unbekannten, den ich faſt ſchon
vergeſſen hatte. Er wurde ſichtbar bleich, als er
mich erkannte. Ich weiß nicht, mit welcher Me¬
duſengewalt grade in dieſem Augenblicke ſein Bild
auf meine Seele wirkte. In der Verblendung die¬
ſes Anblicks warf ich alle Karten nach dem Orte,
wo die Erſcheinung geſtanden, aber er war ſchon
fort und ſchnell aus der Stube verſchwunden. Alle
ſahen mich erſtaunt an, einige murrten, ich ſtürzte
zur Thüre hinaus auf die Straſſe.


Ich gieng eilig durch die Gaſſen und blickte
rechts und links in die erleuchteten Fenſter hinein,
wie da einige ſo eben ruhig und vollauf zu Abend
ſchmaußten, dort andere ein Lomberchen ſpielten, an¬
derswo wieder luſtige Paare ſich drehten und jubel¬
ten, und allen ſo philiſterhaft wohl war. Mich
hungerte gewaltig. Betteln mocht' ich nicht. Schmaußt,
jubelt und dreht euch nur, ihr Narren! rief ich und
gieng mit ſtarken Schritten aus dem Thore aufs
Feld hinaus. Es war eine ſtockfinſtere Nacht, der
Wind jagte mir den Regen ins Geſicht.


Als ich eben an den Saum eines Waldes kam,
erblickte ich plötzlich hart vor mir zwey lange Män¬
ner, heimlich lauernd an eine Eiche gelehnt, die ich
ſogleich für Schnapphähne erkannte. Ich gieng im
Augenblick auf ſie los, und packte den einen bey der
Bruſt. Gebt mir was zu eſſen, ihr elenden Kerls!
ſchrie ich ſie an, und mußte auch gleich darauf laut
28[434] auflachen, was ſie über dieſe unerwartete Wendung
der Sache für Geſichter ſchnitten. Doch ſchien ihnen
das zu gefallen, ſie betrachteten mich als einen wür¬
digen Kumpan, und fuhrten mich freundſchaftlich
tiefer in den Wald hinein.


Wir kamen bald auf einen freyen, einſamen
Platz, wo bärtige Männer, Weiber und Kinder
um ein Feldfeuer herumlagen, und ich bemerkte nun
wohl, daß ich unter einen Zigeunerhaufen gerathen
war. Da wurde geſchlachtet, geſchunden, gekocht
und geſchmort, alle ſprachen und ſangen ihr Kau¬
derwelſch verworren durcheinander, dabey regnete
und ſtürmte es immerfort; es war eine wahre Wal¬
burgisnacht. Mir war recht kannibaliſch wohl. Ue¬
brigens war es, auſſer daß ſie alle ausgemachte
Spitzbuben waren, eine recht gute, unterhaltende
Geſellſchaft. Sie gaben mir zu eſſen, Brandtwein
zu trinken, tanzten, muſizirten und kümmerten ſich
um die ganze Welt nicht.


Mitten in dem Haufen bemerkte ich bald dar¬
auf ein altes Weib, die ich bey dem Widerſcheine
der Flamme nicht ohne Schreck für dieſelbe Zigeu¬
nerin wieder erkannte, die mir als Kind ſo fürch¬
terlich geweiſſagt hatte. Ich gieng zu ihr hin, ſie
kannte mich nicht mehr. — Von unſerem letzten Zu¬
ſammentreffen bey Rom wußte, oder mochte ſie
nichts wiſſen. — Ich reichte ihr noch einmal die
Hand hin. Sie betrachtete alle Linien ſehr genau,
dann ſah ſie mir ſcharf in die Augen, und ſagte,
während ſie mit ſeltſamen Gebehrden nach allen
[435] Weltgegenden in die Luft focht: „Es iſt hoch an
der Zeit, der Feind iſt nicht mehr weit, hüte dich,
hüte dich!“ Darauf verlohr ſie ſich augenblicklich
unter dem Haufen und ich ſah ſie nicht mehr wie¬
der. Mir wurde dabey nicht wohl zu Muthe und
die abentheuerlichen Worte giengen mir wunderlich
im Kopfe herum.


Indeß brachten mich die anderen Geſellen wie¬
der auf andere Gedanken. Denn ſie drängten ſich
immer vertraulicher um mich und erzählten mir ihre
verübten Schwänke und Schalksthaten, worunter
eine beſonders meine Aufmerkſamkeit auf ſich zog.
Ein junger Burſch erzählte mir nemlich, wie ſeine
Großmutter vor vielen Jahren einmal einer reiſenden
welſchen Dame, die mit einem Herrn im Wirthshau¬
ſe übernachtete, ihr kleines Kind geſtohlen habe, weil
es ſo wunderſchön ausſah. Er beſchrieb mir dabey
alle Nebenumſtände ſo genau, daß ich faſt nicht
zweifeln konnte, die reiſende welſche Dame ſey nie¬
mand anders als Angelina ſelbſt geweſen. — Ich
ſprang auf und drang in ihn, mir die Geraubte ſo¬
gleich zu zeigen. Beſtürzt über meinen unerklärli¬
chen Ungeſtümm, antwortete er mir: das geraubte
Fräulein wuchs theils unter uns, theils unter un¬
ſeren Brüdern in einer Waldmühle auf, wo ſie vor
einigen Tagen plötzlich mit Mann und Maus ver¬
ſchwunden iſt, ohne daß wir wiſſen, wohin? —


So war alſo Erwine deine Tochter! fiel hier
Friedrich ſeinem Bruder erſtaunt ins Wort. — Seit
28 *[436] ich dieſes kleine Bild hier geſehen, ſagte dieſer,
und ihre weitere Geſchichte und Nahmen von Euch
gehört, iſt es mir gewiß. Ich habe ſie ſpäter,
nachdem ich ſchon von der Welt geſchieden war,
manchmal von der Mauer geſehen und geſprochen,
wenn ich des Nachts an Leontins Schloſſe vorbey¬
ſtreifte. Aber mir war der Knabe, für den ich ſie
hielt, wie Ihr, nur reitzend als eine beſondere neue
Art von Narren, als von welcher mir noch keiner
vorgekommen war. Denn auch ich konnte und moch¬
te niemals etwas von ihrem früheren Leben aus ihr
herauskriegen. Das gute Kind fürchtete wahrſchein¬
lich noch immer Strafe für die unwillkührliche,
ſchändliche Verbindung, in der ſie ihre Kindheit zu¬
gebracht. — Doch, hört nun meine Geſchichte völlig
aus, denn das viele Plaudern iſt mir ſchon zuwi¬
der:


Noch vor Tagesanbruch alſo, als wir ſo lagen
und erzählten, kam ein junger Kerl von der Ban¬
de, der auf Kundſchaft ausgeſchickt worden war,
mit fröhlicher Bothſchaft zurück, die ſogleich den
ganzen Haufen in Allarm brachte. Der reiche Graf,
ſagte er nemlich aus, wird heute Abend auf dem
Schloſſe ſeinen Geburtstag feyern, da giebt's was
zu ſchmauſſen und zu verdienen! Es wurde ſogleich
beſchloſſen, dem Feſte auf was immer für eine Art
ungeladen beyzuwohnen. Das Wetter hatte ſich
aufgeklärt, wir brachen daher alle ſchnell auf und
zogen luſtig über das Gebirge fort.

[437]

Gegen Abend lagerten wir uns auf einem ſchö¬
nen, waldigen Berge, dem gräflichen Schloſſe ge¬
genüber, das jenſeits eines Stromes ebenfalls auf
einer Anhöhe mit ſeinen Säulenportälen und italie¬
niſchem Dache ſich recht luftig ausnahm. Wir
wollten hier die Dunkelheit abwarten. Der letzte
Widerſchein der untergehenden Sonne flog eben wie
ein Schattenſpiel über die Gegend. Unten auf dem
Fluſſe zogen mehrere aufgeſchmückte Schiffe voll
Herren und Damen mit bunten Tüchern und Federn
luſtig auf das Schloß zu, während von beyden
Seiten Waldhörner weit in die Berge hinein ver¬
hallten.


Als es endlich ringsumher ſtill und finſter wur¬
de, ſahen wir, wie im Schloſſe drüben ein Fenſter
nach dem anderen erleuchtet wurde und Kronleuchter
mit ihren Kreiſen von Lichtern ſich langſam zu dre¬
hen anfiengen. Auch im Garten entſtand ein Licht
nach dem andern, bis auf einmal der ganze Berg,
mit Sternen, Bogengängen und Guirlanden von
buntfarbigen Glaskugeln erleuchtet, ſich wie eine
Feeninſel aus der Nacht hervorhob. Ich überließ
meine Begleiter ihren Berathſchlagungen und Kunſt¬
griffen und begab mich allein hinüber zu dem Feſte,
ohne eigentlich ſelber zu wiſſen, was ich dort
wollte.


Von der Seite, wo ich auf dem Berge hinan¬
gekommen, war kein Eingang. Ich ſchwang mich
daher auf die Mauer und ſah, ſo da droben ſitzend,
in den Zaubergarten hinein, aus dem mir überall
[438] Muſik entgegenſchwoll. Herren und Frauen ſpazier¬
ten da in zierlicher Fröhlichkeit zwiſchen den magi¬
ſchen Lichtern, Klängen und ſchimmernden Waſſer¬
künſten prächtig durcheinander. Auch mehrere Maſ¬
ken ſah ich, wie Geiſter, durch den lebendigen Ju¬
bel auf und ab wandeln.


Mich faßte bey dem Anblick auf meiner Mauer
oben ein blindes, wildes, unglückſeliges Gelüſt,
mich mit hineinzumiſchen. Aber meine von Regen
und Wind zerzauste Kleidung war wenig zu einem
ſolchen Abentheuer eingerichtet. Da erblickte ich ſeit¬
wärts durch ein offnes Fenſter eine Menge verſchie¬
dener Maſken in der Vorhalle des Schloſſes um¬
herliegen. Ohne mich zu beſinnen, ſprang ich von
der Mauer herab und in das Vorhaus hinein. Eine
Menge Bedienter, halb berauſcht, rannten dort
mit Gläſern und Tellern durcheinander, ohne mich
zu bemerken oder doch weiter zu beachten. Ich zettelte
daher den bunten Plunder von Maſken ungeſtört
auseinander und zog zufällig eine ſchwarze Ritter¬
tracht nebſt Schwerdt und allem Zubehör hervor.
Ich legte ſie ſchnell an, nahm eine danebenliegende
Larve vor und begab mich ſo mitten unter das Ge¬
wirre in den Glanz hinaus.


Ich kam mir in der Fröhlichkeit vor wie der
Böſe, denn mir war nicht anders zu Muthe, als
dem Zigeunerhauptmann auf dem Jahrmarkt zu
Plundersweilen. Am Ende eines erleuchteten Bo¬
genganges hörte ich auf einmal einige Damen aus¬
rufen: Sieh da, die Frau vom Hauſe! Welche
[439] Perlen! Welche Juwelen! Ich ſehe mich ſchnell
um und erblicke — Angelina, die in voller Pracht
ihrer Schönheit die Allee heraufkommt. — Mein
mörderiſcher Zorn, der mich damals durch ganz
Italien hin und her gehetzt hatte, war längſt vor¬
über, denn ich war nicht mehr verliebt. Es war
mir eben alles Einerley auf der Welt. Ich wand¬
te mich daher und wollte, ohne ſie zu ſprechen, in
einen anderen Gang herumbeugen. Wie ſehr er¬
ſtaunte ich aber, als Angelina mir ſchnell nach¬
hüpfte und ſich vertraulich in meinen Arm hieng. —
Kennſt Du mich? rief ich ganz entrüſtet. — Wie
ſollt' ich doch nicht, ſagte ſie ſcherzend, hab' ich Dir
denn nicht ſelber die Halskrauſe zu der Maſke ge¬
näht? — Ich bemerkte nun wohl, daß ſie mich ver¬
kannte, konnte aber nicht wiſſen, für wen ſie mich
hielt, und gieng daher ſtillſchweigend neben ihr
her.


Wir waren unterdeß von der Geſellſchaft abge¬
kommen, die Muſik ſchallte nur noch ſchwach nach,
die Beleuchtung gieng gar aus, von Ferne gewit¬
terte es hin und wieder. Warum biſt Du ſo ſtill?
ſagte ſie wieder. Ich weiß nicht, fuhr ſie fort,
ich bin heut traurig bey aller Luſt, und ich könnte
es auch nicht beſchreiben, wie mir zu Muthe iſt.
Aber ihr harten Männer achtet gar wenig darauf.
— Wir kamen an eine Laube, in deren Mitte eine
Guitarre auf einem Tiſchchen lag. Sie nahm die¬
ſelbe und fieng an, ein italieniſches Liedchen zu ſin¬
gen. Mitten im Liede brach ſie aber wieder ab.
[440] Ach, in Italien war es doch ſchöner! ſagte ſie, und
lehnte die Stirn an meine Bruſt. Angelina! rief
ich, um ſie zu ermuntern. Sie richtete ſich ſchnell
auf und lauſchte dem Rufe, wie einem alten,
wohlbekannten Tone, auf den ſie ſich nicht recht
beſinnen konnte. — Dann ſagte ſie: Ich bitte Dich,
ſinge etwas, denn mir iſt zum ſterben bange! Ich
nahm die Guitarre und ſang folgende Romanze,
die mir in dieſem Augenblick eben ſehr deutlich durch
den Sinn gieng:


Nachts durch die ſtille Runde

Rauſchte des Rheines Lauf,

Ein Schifflein zog im Grunde,

Ein Ritter ſtand darauf.
Die Blicke irre ſchweifen

Von ſeines Schiffes Rand,

Ein blutigrother Streifen

Sich um das Haupt ihm wand.
Der ſprach: „Da oben ſtehet

Ein Schlößlein über'm Rhein,

Die an dem Fenſter ſtehet:

Das wird die Liebſte mein.
Sie hat mir Treu' verſprochen,

Bis ich gekommen ſey,

Sie hat die Treu' gebrochen,

Und alles iſt vorbey.“

Ich bemerkte hier bey dem Scheine eines Bli¬
tzes, daß Angelina heftig geweint hatte und noch
fortweinte. Ich ſang weiter:


[441]
Viel' Hochzeitleute drehen

Da oben laut und bunt,

Sie bleibet einſam ſtehen,

Und lauſchet in den Grund.
Und wie ſie tanzten munter,

Und Schiff und Schiffer ſchwand,

Stieg ſie vom Schloß hinunter,

Bis ſie im Garten ſtand.
Die Spielleut' muſizirten,

Sie ſann gar mancherley,

Die Töne ſie ſo rührten,

Als müßt' das Herz entzwey.
Da trat ihr Bräut'gam ſüſſe

Zu ihr aus ſtiller Nacht,

So freundlich er ſie grüßte,

Daß ihr das Herze lacht.
Er ſprach: „Was willſt Du weinen,

Weil alle fröhlich ſey'n?

Die Stern' ſo helle ſcheinen,

So luſtig geht der Rhein.
Das Kränzlein in den Haaren,

Steht Dir ſo wunderfein,

Wir wollen etwas fahren,

Hinunter auf dem Rhein.“
Zum Kahn' folgt' ſie behende,

Setzt' ſich ganz vorne hin,

Er ſetzt' ſich an das Ende

Und ließ das Schifflein zieh'n.
Sie ſprach: „Die Töne kommen

Verworren durch den Wind,

Die Fenſter ſind verglommen,

Wir fahren ſo geſchwind.
[442]
Was ſind das für ſo lange

Gebirge weit und breit?

Mir wird auf einmal bange

In dieſer Einſamkeit!
Und fremde Leute ſtehen,

Auf mancher Felſenwand

Und ſtehen ſtill und ſehen

So ſchwindlich über'n Rand.“ —
Der Bräut'gam ſchien ſo traurig

Und ſprach kein einzig Wort,

Schaut in die Wellen ſchaurig

Und rudert immerfort.
Sie ſprach: „Schon ſeh' ich Streifen,

So roth im Morgen ſteh'n,

Und Stimmen hör' ich ſchweifen,

Am Ufer Hähne kräh'n.
Du ſiehſt ſo ſtill und wilde,

So bleich wird Dein Geſicht,

Mir graut vor Deinem Bilde —

Du biſt mein Bräut'gam nicht!“ —

Ich bitte Dich um Gotteswillen, unterbrach
mich hier Angelina dringend, nimm die Larve ab,
ich fürchte mich vor Dir. — Laß das, ſagte ich ab¬
wehrend, es giebt fürchterliche Geſichter, die das
Herz in Stein verwandeln, wie das Haupt der
Meduſa. — Ich hatte faſt zu viel geſagt und griff
raſch wieder in die Saiten:


Da ſtand er auf — das Sauſen

Hielt an in Fluth und Wald —

Es rührt mit Luſt und Grauſen,

Das Herz Ihr die Geſtalt.
[443]
Und wie mit ſteinern'n Armen

Hob er ſie auf voll Luſt,

Drückt ihren ſchönen, warmen

Leib an die eiſ'ge Bruſt.
Licht wurden Wald und Höhen,

Der Morgen ſchien blutroth,

Das Schifflein ſah man gehen,

Die ſchöne Braut d'rin todt.

Kaum hatte ich noch die letzte Strophe ge¬
endiget, als Angelina mit einem lauten Schrey
neben mir zu Boden fiel. Ich ſchaue ringsum und
erblicke mein eignes, leibhaftiges Konterfey im Ein¬
gange des Boſkets: dieſelbe ſchwarze Rittermaſke,
die nemliche Größe und Geſtalt. — Laß mein
Weib
, verführeriſches Blendwerk der Hölle! rief
die Maſke, auſſer ſich, und ſtürzte mit blankem
Schwerdte ſo wüthend auf mich ein, daß ich kaum
Zeit genug hatte, meinen eigenen Degen zu zieh'n.
Ich erſtaunte über die Aehnlichkeit ſeiner Stimme
mit der meinigen, und begriff nun, daß mich Ange¬
lina für dieſen ihren Mann, den Grafen ſelber,
gehalten hatte. In der Bewegung des Gefechts
war ihm indeß die Larve vom Geſicht gefallen, und
ich erkannte mit Grauſen den fürchterlichen Unbe¬
kannten wieder, deſſen Schreckbild mich durchs
ganze Leben verfolgt. Mir fiel die Prophezeyung
ein. Ich wich entſetzt zurück, denn er focht unbe¬
ſonnen in blinder Eiferſucht und ich war im Vor¬
theil. Aber es war zu ſpät, denn in demſelben
Augenblicke rannte er ſich wüthend ſelber meine
Degenſpitze in die Bruſt und ſank todt nieder.

[444]

Mein dunkler, wilder, halbunwillkührlicher
Trieb war nun erfüllt. Finſterer, als die Nacht
um mich, eilte ich den Garten hinab. Ein Kahn
ſtand unten am Ufer des Stromes angebunden.
Ich ſtieg hinein und ließ ihn den Strom hinabfah¬
ren. Die Nacht vergieng, die Sonne gierig auf
und wieder unter, ich ſaß und fuhr noch immer¬
fort.


Den anderen Morgen verlohr ſich der Strom
zwiſchen wilden, einſamen Wäldern und Schluften.
Der Hunger trieb mich ans Land. Es war dieſe
Gegend hier. Ich fand nach einigem Herumirren
das Schloß, das ihr geſehen. Ein alter, verrück¬
ter Einſiedler wohnte damals dann, von deſſen
früherem Lebenslaufe ich nie etwas erfahren konn¬
te. Es gefiel nur gar wohl in dieſer Wuſte und
ich blieb bey ihm. Kurze Zeit darauf ſtarb der
Alte und hinterließ mir ſeine alten Bücher, ſein
verfallenes Schloß und eine Menge Goldes in den
Kellern. Ich hätte nun wieder in die Welt zuruck¬
kehren können mit dem Schatze, zum allgemeinen
Nutzen und Vergnügen. Aber ich paſſe nirgends
mehr in die Welt hinein. Die Welt iſt ein gro¬
ßer, unermeßlicher Magen und braucht leichte,
weiche, bewegliche Menſchen, die ſie in ihren viel¬
fach-verſchlungenen, langweiligen Kanälen verar¬
beiten kann. Ich tauge nicht dazu, und ſie wirft
ſolche Geſellen wieder aus, wie unverdauliches Ei¬
ſen, feſt, kalt, formlos und ewig unfruchtbar. —

[445]

So endigte Rudolph ſeine Erzählung, welche
die beyden Grafen in eine nachdenkliche Stille ver¬
ſenkt hatte. Leontin hatte ſich, als Rudolph das
Schloß der Angelina beſchrieb, an jenen kurzen Be¬
ſuch erinnert, den er nach dem Brande mit Frie¬
drich'n auf dem Schloſſe der weißen Frau abgelegt,
und konnte ſich der Vermuthung nicht erwehren,
daß dieſe vielleicht Angelina ſelber war. — Es war
unterdeß dunkel geworden, der Mond trat eben
über den einſamen Bergen hervor. Ihr wißt nun
alles, gute Nacht! ſagte Rudolph ſchnell und gieng
von ihnen fort. Sie ſahen ihm lange nach, wie
ſein langer, dunkler Schatten ſich zwiſchen den ho¬
hen Bäumen verlohr.


Als ſie wieder oben in ihrem Zimmer waren,
ergriff Leontin Mariens Guitarre, die ſie dort ver¬
geſſen hatte, und ſang über den ſtillen Kreis der
Wälder hinaus:


Nächtlich dehnen ſich die Stunden,

Unſchuld ſchläft in ſtiller Bucht,

Fernab iſt die Welt verſchwunden,

Die das Herz in Träumen ſucht.
Und der Geiſt tritt auf die Zinne,

Und noch ſtiller wird's umher,

Schauet mit dem ſtarren Sinne

In das Weſenloſe Meer.
Wer ihn ſah bey Wetterblicken

Steh'n in ſeiner Rüſtung blank:

Den mag nimmermehr erquicken

Reichen Lebens friſcher Drang. —
[446]
Fröhlich an den öden Mauern

Schweift der Morgenſonne Blick,

Da verſinkt das Bild mit Schauern,

Einſam in ſich ſelbſt zurück.

Vierundzwanzigſtes Kapitel.

Friedrich und Leontin vermehrten nun auch den
wunderlichen Haushalt auf dem alten Waldſchloſſe.
Der unglückſelige Rudolph lag gegen beyde und al¬
le Welt mit Witz zu Felde, ſo oft er mit ihnen
zuſammenkam. Doch geſchah dieß nur ſelten, denn
er ſchweifte oft Tagelang allein im Walde umher,
wo er ſich mit ſich ſelber oder den Rehen, die er
ſehr zahm zu machen gewußt, in lange Unterredun¬
gen einzulaſſen pflegte. Ja, es geſchah gar oft,
daß ſie ihn in einem lebhaften und höchſtkomiſchen
Geſpräche mit irgend einem Felſen oder Steine
überraſchten, der etwa durch eine Mundähnliche
Oeffnung oder weiſe vorſtehende Naſe eine eigne,
wunderliche Phiſiognomie machte. Dabey bildeten
die Narren, welche er auf ſeinen Streifzügen, die
er noch bisweilen ins Land hinab machte, zuſam¬
mengerafft, eine ſeltſame Akademie um ihn, alle
ernſthaften Thorheiten der Welt in faſt ſchauerlicher
und tragiſcher Karikatur traveſtirend. Jeder derſel¬
ben hatte ſeine beſtimmte Tagesarbeit im Hauswe¬
[447] ſen. Durch dieſe fortlaufende Beſchäftigung, die
Einſamkeit und reine Bergluft kamen viele von
ihnen nach und nach wieder zur Vernunft, wo ſie
dann Rudolph wieder in die Welt hinausſandte und
gerührt auf immer von ihnen Abſchied nahm.


In Friedrich'n entwickelte dieſe Abgeſchiedenheit
endlich die urſprüngliche religiöſe Kraft ſeiner See¬
le, die ſchon im Weltleben, durch gutmüthiges
Staunen geblendet, durch den Drang der Zeiten
oft verſchlagen und falſche Bahnen ſuchend, aus al¬
len ſeinen Beſtrebungen, Thaten, Poeſieen und
Irrthümern hervorleuchtete. Jetzt hatte er alle ſei¬
ne Pläne, Talentchen, Künſte und Wiſſenſchaften
unten zurückgelaſſen, und las wieder die Bibel,
wie er ſchon einmal als Kind angefangen. Da fand
er Troſt über die Verwirrung der Zeit und das ein¬
zige Recht und Heil auf Erden in dem heiligen
Kreutze. Er hatte endlich den phantaſtiſchen, tau¬
ſendfarbigen Pilgermantel abgeworfen und ſtand
nun in blanker Rüſtung als Kämpfer Gottes gleich¬
ſam an der Gränze zweyer Welten. Wie oft,
wenn er da über die Thäler hinausſah, fiel er auf
ſeine Kniee und betete inbrünſtig zu Gott, ihm
Kraft zu verleihen, was er in der Erleuchtung er¬
fahren, durch Wort und That ſeinen Brüdern
mitzutheilen. — Leontin dagegen wurde hier oben
ganz melankoliſch und wehmüthig, wie ihn Friedrich
noch niemals geſehen. Es fehlte ihm hier alle
Handhabe, das Leben anzugreifen. —

[448]

Eines Tages, da ſie beyde zuſammen einen,
ihnen bis jetzt noch unbekannten Weg eingeſchlagen
und ſich weiter als gewöhnlich von dem Schloſſe
verirrt hatten, kamen ſie auf einmal auf einer An¬
höhe zwiſchen den Bäumen heraus zu einer wun¬
dervollen Ausſicht, die ſie innigſt überraſchte. Mit¬
ten in der Waldeseinſamkeit ſtand nemlich ein Klo¬
ſter auf einem Berge; hinter dem Berge lag plötz¬
lich das Meer in ſeiner ſchauerlichen Unermeßlich¬
keit, von der anderen Seite ſah man weit in das
ebene Land hinaus. Es ſchien eben ein Feſt in dem
Kloſter geweſen zu ſeyn, denn lange bunte Züge
von Wallfahrern wallten durch das Grün den Berg
hinab und ſangen geiſtliche Lieder, deren rührende
Weiſe ſich gar anmuthig mit den Klängen der
Abendglocken vermiſchte, die ihnen von dem Kloſter
nachhallten.


Leontin ſah ihnen ſtillſchweigend nach, bis ihr
Geſang in der Ferne verhallte und die Gegend in
dämmernde Stille verſank. Dann nahm er die
Guitarre, die hier überall ſeine Begleiterin war,
und ſang folgendes Lied:


Laß, mein Herz, das bange Trauern,

Um vergang'nes Erdenglück,

Ach, von dieſer Felſen Mauern

Schweifet nur umſonſt dem Blick!
Sind denn alle fortgegangen:

Jugend, Sang und Frühlingsluſt?

Laſſen, ſcheidend, nur Verlangen

Einſam mir in meiner Bruſt?
Vöglein[449]
Vöglein hoch in Lüften reiſen,

Schiffe fahren auf der See,

Ihre Segel, ihre Weiſen

Mehren nur des Herzens Weh.
Iſt vorbey das bunte Ziehen,

Luſtig über Berg und Kluft,

Wenn die Bilder wechſelnd fliehen,

Waldhorn immer weiter ruft?
Soll die Lieb' auf ſonn'gen Matten,

Nicht mehr bau'n ihr prächtig Zelt,

Uebergolden Wald und Schatten,

Und die weite, ſchöne Welt? —
Laß das Bangen, laß das Trauern,

Helle wieder nur den Blick!

Fern von dieſer Felſen Mauern,

Blüht dir noch gar manches Glück!

Beyde Freunde wurden ſtill nach dem Liede
und giengen ſchweigend nebeneinander wieder nach
dem Schloſſe zurück. Die abgefallenen Blätter ra¬
ſchelten ſchon unter ihren Tritten auf dem Boden,
ein herbſtlicher Wind durchſtrich den ſeufzenden
Wald und verkündigte, daß die fröhliche Sommers¬
zeit bald Abſchied nehmen wolle. Sie ſchienen bey¬
de beſonderen Gedanken und Entſchlüſſen nachzuhän¬
gen, die ſie an jenem Platze gefaßt hatten.


Als der Mond die alten Zinnen des Schloſſes
beleuchtete, trat Leontin auf einmal reiſefertig vor
Friedrich. Ich ziehe fort, ſagte er, der Winter
kommt bald, mir iſt als läge das ganze Leben wie
29[450] dieſe Felſen hier auf meiner Bruſt, und ein Strom
von Thränen möchte aus dem tiefſten Herzen aus¬
brechen, um die Berge wegzuwälzen; ich muß
fort, ziehe Du auch mit! — Friedrich ſchüttelte
lächelnd den Kopf, aber im Innerſten war er trau¬
rig, denn er fühlte, daß ſich ihr Lebenslauf nun
bedeutend und vielleicht auf immer ſcheiden werde.


Leontin zog endlich ſein Pferd hervor und führ¬
te es langſam am Zügel hinter ſich her, während
ihm Friedrich noch eine Strecke weit das Geleite
gab. Der volle Mond gieng eben über dem ſtillen
Erdkreiſe auf, man konnte in der Tiefe weit hin¬
aus den Lauf der Ströme deutlich unterſcheiden.
Leontin war ungewöhnlich gerührt und drang noch¬
mals in Friedrich’n, mit hinunterzuzieh’n. Du weißt
nicht, was Du forderſt, ſagte dieſer ernſt, locke
mich nicht noch einmal hinab in die Welt, mir iſt
hier oben unbeſchreiblich wohl, und ich bin kaum erſt
ruhig geworden. Dich will ich nicht halten, denn
das muß von Innen kommen, ſonſt thut es nicht
gut. Und alſo ziehe mit Gott! Die beyden Freun¬
de umarmten einander noch einmal herzlich, und
Leontin war bald in der Dunkelheit verſchwunden.


Ihm zogen nun bald auch Vögel, Laub, Blu¬
men und alle Farben nach. Der alte grämliche
Winter ſaß melankoliſch mit ſeiner ſpitzen Schnee¬
haube auf dem Gipfel des Gebirges, zog die bun¬
ten Gardinen weg, ſtellte wunderlich nach allen
Seiten die Kuliſſen der luſtigen Bühne, wie in ei¬
ner Rumpelkammer, auseinander und durcheinander,
[451] baute ſich phantaſtiſch blitzende Eispalläſte und zer¬
ſtörte ſie wieder und ſchüttelte unaufhörlich eiſige
Flocken aus ſeinem weiten Mantel darüber. Der
ſtumme Wald ſah aus wie die Säulen eines umge¬
fallenen Tempels, die Erde war weiß, ſo weit die
Blicke reichten, das Meer dunkel; es war eine un¬
beſchreibliche Einſamkeit da droben.


Rudolphs ſeltſam verwildertem Gemüth war
dieſe Zeit eben recht. Er ſtreifte oft halbe Tage
lang mitten im Sturm und Schneegeſtöber auf al¬
len den alten Plätzen umher. Abends pflegte er
häufig bis tief in die Nacht auf ſeiner Sternwarte
zu ſitzen und die Konjunkturen der Geſtirne zu be¬
obachten. Eine Menge alter aſtrologiſcher Bücher
lag dabey um ihn her, aus denen er verſchiedenes
auszeichnete und geheimnißvolle Figuren bildete.


Nach ſolchen Perioden machte er dann gewöhn¬
lich wieder größere Streifzüge, manchmal bis ans
Meer, wo es ihm eine eigne Luſt war, ganz al¬
lein auf einem Kahne mit Lebensgefahr in die wil¬
de, unermeßliche Einöde hinauszufahren. Bisweilen
verirrte er ſich auch wohl in den Thälern zu man¬
chem einſamen Landſchloſſe, wenn er in der Fa¬
ſchingszeit die Fenſter hellerleuchtet ſah. Er be¬
trachtete dann gewöhnlich drauſſen die Tanzenden
durchs Fenſter, wurde aber immer bald von dem
raſenden Trompeten und Geigen wieder vertrieben.

29 *[452]

Als er einmal von ſo einem Zuge zurückkam,
erzählte er Friedrich'n, er habe unten weit von hier
einen großen Leichenzug geſehen, der ſich bey Fa¬
ckelſchein und mit ſchwarzbehängten Pferden lang¬
ſam über die beſchneyten Felder hinbewegte. Er
habe weder die Gegend, noch die Perſonen ge¬
kannt, die der Leiche im Wagen folgten. Aber
Leontin ſey bey dem Zuge, ohne ihn zu bemer¬
ken, an ihm vorübergeſprengt. — Friedrich erſchrack
über dieſe düſtere Bothſchaft. Aber er konnte nicht
errathen, welchem alten Bekannten der Zug gegol¬
ten, da ſich Rudolph weiter um nichts bekümmert
hatte.


Friedrich ſetzte indeß noch immer ſeine geiſtli¬
chen Betrachtungen fort. Er beſuchte, ſo oft es
nur das Wetter erlaubte, das nahgelegene Kloſter,
das er an Leontins Abſchiedstage zum erſtenmal
geſehen, und blieb oft Wochenlang dort. Rudol¬
phen konnte er niemals bewegen, ihn zu begleiten,
oder auch nur ein einzigesmal die Kirche zu beſu¬
chen. Er fand in dem Prior des Kloſters einen
frommen, erleuchteten Mann, der beſonders auf
der Kanzel in ſeiner Begeiſterung, gleich einem
Apoſtel, wunderbar und alterthümlich erſchien. Frie¬
drich ſchied nie ohne Belehrung und himmliſche Be¬
ruhigung von ihm und mochte ſich bald gar nicht
mehr von ihm trennen. Und ſo bildete ſich denn
ſein Entſchluß, ſelber ins Kloſter zu gehen, im¬
mer mehr zur Reife.


[453]

Der Winter war vergangen, die ſchöne Früh¬
lingszeit ließ die Ströme los und ſchlug weit und
breit ihr liebliches Reich wieder auf, da erblickte
Friedrich eines Morgens, da er eben von der Höhe
ſchaute, unten in der Ferne zwey Reiter, die über
die grünen Matten hinzogen. Sie verſchwanden
bald hinter den Bäumen, bald erſchienen ſie wieder
auf einen Augenblick, bis ſie Friedrich endlich in
dem Walde völlig aus dem Geſichte verlohr.


Er wollte nach einiger Zeit eben wieder in das
Schloß zurückkehren, als die beyden Reiter plötzlich
vor ihm aus dem Walde den Berg heraufkamen.
Er erkannte ſogleich ſeinen Leontin. Sein Beglei¬
ter, ein feiner, junger Jäger, ſprang ebenfalls vom
Pferde und kam auf ihn zu.


Setzen wir uns, ſagte Leontin gleich nach der
erſten Begrüſſung munter; ich habe Dir viel zu
ſagen. Vor allem: kennſt Du den? Hiebey hob
er dem Jäger den Hut aus der Stirne, und Frie¬
drich erkannte mit Erſtaunen die ſchöne Julie, die
in dieſer Verkleidung mit niedergeſchlagenen Augen
vor ihm ſtand. Wir ſind auf einer großen Reiſe
begriffen, ſagte er darauf. Die Jungfrau Europa,
die ſo hochherzig mit ihren ausgebreiteten Armen
daſtand, als wolle ſie die ganze Welt umſpan¬
nen, hat die alten, ſinnreichen, frommen, ſchönen
Sitten abgelegt [und] iſt eine Metze geworden. Sie
buhlt frey mit dem geſunden Menſchenverſtande,
[454] dem Unglauben, Gewalt und Verrath, und ihr
Herz iſt dabey beſonders eingeſchrumpft. — Pfuy,
ich habe keine Luſt mehr an der Philiſterin! Ich
reiſe weit fort von hier, in einen anderen Welt¬
theil, und Julie begleitet mich. — Friedrich ſah ihn
bey dieſen Worten groß an. — Es iſt mein voller
Ernſt, fuhr Leontin fort, Juliens Vater iſt auch
geſtorben, und ich kann hier nicht länger mehr le¬
ben, wie ich nicht mag und darf.


Friedrich erfuhr nun auch, daß ſie Land und alles,
was ſie hier beſeſſen, zu Gelde gemacht, und ein
eigenes Schiff bereits in der abgelegenen Bucht, die
an das erwähnte Kloſter ſtieß, bereit liege, um ſie
zu jeder Stunde aufzunehmen. — Er konnte, un¬
geachtet der ſchmerzlichen Trennung, nicht umhin,
ſich über dieſes Vorhaben zu freuen, denn er wu߬
te wohl, daß nur ein friſches, weites Leben ſeinen
Freund erhalten könne, der hier in der allgemei¬
nen Miſere durch fruchtloſe Unruhe und Beſtrebung
nur ſich ſelber vernichtet hätte.


Sie ſprachen dort noch lange darüber. Julie
ſaß unterdeß ſtill mit dem einen Arme auf Leontins
Kniee geſtützt und ſah überaus reitzend aus. —
Seit ihr denn getraut? fragte Friedrich Leontinen
leiſe. — Julie hatte es demohngeachtet gehört, und
wurde über und über roth.


Es wurde nun ſogleich beſchloſſen, die Trauung
noch heute in dem Kloſter zu vollziehen. Man be¬
gab ſich daher in das alte Schloß, die Felleiſen
[455] wurden abgeſchnallt und Julie mußte ſich umziehen.
Friedrich bereitete unterdeß fröhlich alles, was ſich
hier ſchaffen ließ, zu einem luſtigen Hochzeitsfeſte,
während Leontin, der ſich in dieſer Lage als feyer¬
licher Bräutigam gar komiſch vorkam, allerhand
Poſſen machte, und die ſeltſamſten Anſtalten traf,
um das Feſt recht phantaſtiſch auszuſchmücken.


Endlich erſchien Julie wieder. Sie hatte ein
weiſſes Kleid, die ſchönen goldenen Haare fielen in
langen Locken über den Nacken und die Schultern,
man konnte ſie nicht anſehen, ohne ſich an irgend
ein ſchönes altdeutſches Bild zu erinnern. Sie be¬
ſtiegen nun alle ihre Pferde und zogen ſo, Julie'n
in die Mitte nehmend, auf das Kloſter zu. Als ſie
die letzte Höhe vor demſelben erreichten, wo auf
einmal das Meer durch die Wälder und Hügel ſei¬
nen furchtbargroßen Geiſterblick hinaufſandte, that.
Julie einen Freudenſchrey über den unerwarteten,
noch nie gehabten Anblick, und ſah dann den gan¬
zen Weg über mit den großen, ſinnigen Augen
ſtumm in das wunderbare Reich, wie in eine unbe¬
kannte, gewaltige Zukunft. Die Glockenklänge von
dem Kloſterthurme kamen ihnen wunderbartröſtend
aus der unermeßlichen Ausſicht entgegen.


In dem Kloſter ſelbſt war eben das Wall¬
farthsfeſt, das alle Jahr einigemal gefeyert wur¬
de, wiedergekehrt. Die Einſamkeit ringsherum war
wieder bunt belebt, eine Menge Pilger war, als
ſie dort ankamen, in kleinen Haufen unter den grü¬
nen Bäumen vor der Kirche gelagert, die Kirche
[456] ſelbſt mit Blumen und grünen Reiſern freundlich
geſchückt. Friedrich hatte ſchon früher den Prior
von ihrer Ankunft benachrichtigen laſſen, und ſo
wurden denn Leontin und Julie noch dieſen Vor¬
mittag in der Kirche feyerlich zuſammengegeben.


Die Menge fremder Pilger freute ſich über das
fremde Paar. Nur eine hohe, junge Dame, die
einen dichten Schleyer über das Geſicht geſchlagen
hatte, lag ſeitwärts vor einem einſamen Altare
voll Andacht auf den Knieen und ſchien von allem,
was hinter ihr in der Kirche vorgieng, nichts zu
bemerken. Friedrich ſah ſie; ſie kam ihm bekannt
vor. — Dieſe einſame Geſtalt, das unaufhörliche
Ringen und Brauſen der Orgeltöne, der fröhliche
Sonnenſchein, der drauſſen vor der offenen Thüre
auf dem grünen Platze ſpielte, alles drang ſo ſelt¬
ſam rührend auf ihn ein, als wollte das ganze
vergangene Leben noch einmal mit den älteſten Er¬
innerungen und langvergeſſenen Klängen an ihm
vorübergehen, um auf immer Abſchied zu nehmen.
Ihm fiel dabey recht ein, wie nun auch Leontin
fortreiſe und wahrſcheinlich nie mehr wiederkomme,
und eine unbeſchreibliche Wehmuth bemächtigte ſich
ſeiner, ſo daß er ins Freye hinaus mußte. Er
gieng drauſſen unter den hohen Bäumen vor der
Kirche auf und ab und weinte ſich herzlich aus.


Die Zeremonie war unterdeß geendigt, und ſie
ritten wieder nach dem alten Schloſſe zurück. Auf
dem grünen Platze vor demſelben empfieng ſie un¬
[457] ter den hohen Bäumen ein reinlich gedeckter Tiſch;
große Blumenſträuße und vielfarbiges Obſt ſtand
in ſilbernen Gefäßen zwiſchen dem goldenblickenden
Wein und hellgeſchliffenen Gläſern, alle das fröh¬
lichbunte Gemiſch von Farben gab in dem Grün
und unter blauheiterm Himmel einen friſcherlocken¬
den Schein. Man hatte, was in dem Schloſſe nicht
zu finden war, ſchnell aus dem Kloſter herbeyge¬
ſchafft. Rudolph ließ ſich nirgends ſehen.


Sie aſſen und tranken nun in der grünen Ein¬
ſamkeit, während der Kreis der Wälder in ihre
Geſpräche hineinrauſchte. Julie ſaß ſtill in die Zu¬
kunft verſenkt und ſchien innerlich entzückt, daß nun
endlich ihr ganzes Leben in des Geliebten Gewalt
gegeben ſey.


So kam der Abend heran. Da ſahen ſie zwey
Männer, die in einem lebhaften Geſpräche mitein¬
ander begriffen ſchienen, aus dem Walde zu ihnen
heraufkommen. Sie erkannten Rudolphen an der
Stimme. Kaum hatte ihn Julie, die ſchon von dem
vielen Weine erhitzt war, erblickt, als ſie laut auf¬
ſchrie und ſich furchtſam an Leontin andrückte. Es
war dieſelbe dunkle Geſtalt, die ſie bey dem Lei¬
chenzuge ihres Vaters aus dem Wagen einſam auf
dem beſchneyten Felde hatte ſtehen ſehen. —


O ſeht, was ich da habe, rief ihnen Rudolph
ſchon von weitem entgegen, ich habe im Walde ei¬
nen Poeten gefunden, wahrhaftig, einen Poeten!
Er ſaß unter einem Baume und ſchmälte laut auf
[458] die ganze Welt in ſchönen gereimten Verſen, daß
ich bis zu Thränen lachen mußte. Gieb dich zufrie¬
den, Gevatter! ſagte ich ſo gelinde als möglich zu
ihm, aber er nimmt keine Vernunft an, und
ſchimpft immerfort. — Rudolph lachte hiebey ſo
übermäſſig und aus Herzensgrund, wie ſie ihn noch
niemals geſehen.


Sie hatten indeß in ſeinem Begleiter mit Freu¬
den den langentbehrten Herrn Faber erkannt.
Leontin ſprang ſogleich auf, ergriff ihn und walzte
mit ihm auf der Wieſe herum, bis ſie beyde nicht
mehr weiter konnten. Et tu Brute? — rief end¬
lich Faber aus, als er wieder zu Athem gekommen
war, nein, das iſt zu toll, der Berg muß verzau¬
bert ſeyn! Unten begegne ich der kleinen Marie,
ich will ſie aus alter Bekanntſchaft haſchen und küſ¬
ſen, und bekomme eine Ohrfeige, weiter oben ſitzt
auf einer Felſenſpitze eine Figur mit breitem Man¬
tel und Krone auf dem Haupt, wie der Metall¬
fürſt, und will mir grämlich nicht den Weg wei¬
ſen, ein als Ritter verkappter Phantaſt rennt mich
faſt um, dann falle ich jenem Melankolikus da in
die Hände, der nicht weiß, warum er lacht, und
nachdem ich mich endlich mit Lebensgefahr hinaufge¬
arbeitet habe, ſeyd ihr hier oben am Ende auch
noch verrückt. — Das kann wohl ſeyn, ſagte Leon¬
tin luſtig, denn ich bin verheyrathet (hiebey küßte
er Julien, die ihm die Hand auf den Mund legte)
und Friedrich da, fuhr er fort, will ins Kloſter
geh'n. Aber Du weißt ja den alten Spruch: ſie
[459] haben ſich zu Thoren gemacht vor der Welt. —
Und nun ſage mir nur, wie in aller Welt Du uns
hier aufgefunden haſt?


Faber erzählte nun, daß er auf einer Wall¬
farth zu dem Kloſter begriffen geweſen, von deſſen
ſchöner Lage er ſchon viel gehört. Unterwegs habe
er am Meere von Schiffsleuten vernommen, daß
ſich Leontin hier oben aufhalte, und daher den
Berg beſtiegen. — Rudolph verwandte unterdeß mit
komiſcher Aufmerkſamkeit kein Auge von dem kurzen,
runden, wohllebigen Manne, der mit ſo lebhaften
Gebehrden ſprach. Faber ſetzte ſich zu ihnen und
ſie theilten ihm nun zu ſeiner Verwunderung ihre
Plane mit. Rudolph war indeß auch wieder ſtill
geworden, und ſaß wie der ſteinerne Gaſt unter
ihnen am Tiſche. Julie blickte ihn oft ſeitwärts an
und konnte ſich noch immer einer heimlichen Furcht
vor ihm nicht erwehren, denn es war ihr, als ver¬
gienge dieſem kalten und klugen Geſichte gegenüber
ihre Liebe und alles Glück ihres Lebens zu nichts.


Die Nacht war indeß angebrochen, die Sterne
prangten an dem heiteren Himmel. Da erklang auf
einmal Muſik aus dem nächſten Gebüſche. Es wa¬
ren Spielleute aus dem Kloſter, die Leontin beſtellt
hatte. Rudolph ſtand bey den erſten Klängen auf,
ſah ſich ärgerlich um und gieng fort.


Leontin, von den plötzlichen Tönen wie im in¬
nerſten Herzen erweckt, hob ſein Glas hoch in die
Höhe und rief: Es lebe die Freyheit! Wo? —
[460] fragte Faber, indem er ſelbſt langſam ſein Glas
aufhob. — Nur nicht etwa in der Bruſt des Phi¬
loſophen allein, erwiederte Leontin, unangenehm
geſtört. Dieſe allgemeine, natürliche, philoſophiſche
Freyheit, der jede Welt gut genug iſt, um ſich in
ihrem Hochmuthe frey zu fühlen, iſt mir eben ſo in
der Seele zuwider, als jene natürliche Religion,
welcher alle Religionen einerley ſind. Ich meyne
jene uralte, lebendige Freyheit, die uns in großen
Wäldern wie mit wehmüthigen Erinnerungen an¬
weht, oder bey alten Burgen ſich wie ein Geiſt auf
die verfallene Zinne ſtellt, der das Menſchenſchiff¬
lein unten wohl zufahren heißt, jene friſche, ewig¬
junge Waldesbraut, nach welcher der Jäger früh¬
morgens aus den Dörfern und Städten hinauszieht
und ſie mit ſeinem Horne lockt und ruft, jener rei¬
ne, kühle Lebensathem, den die Gebirgsvölker auf
ihren Alpen einſaugen, daß ſie nicht anders leben
können, als wie es der Ehre geziemt. — Aber da¬
mit iſt es nun aus. — Wenn unſerer Altvordern
Herzen wohl mit dreyfachem Erz gewappnet waren,
das vor dem rechten Strahle erklang, wie das Erz
von Dodona, ſo ſind die unſrigen nun mit ſechsfa¬
cher Butter des häuslichen Glückes, des guten Ge¬
ſchmacks, zarter Empfindungen und edelmüthiger
Handlungen umgeben, durch die kein Wunderlaut
bis zu der Talggrube hindurchdringt. Zieht dann
von Zeit zu Zeit einmal ein wunderbarer, altfrän¬
kiſcher Geſell, der es noch ehrlich und ernſthaft
meynt, wie Don Quixote, vorüber, ſo ſehen Her¬
[461] ren und Damen nach der Tafel, gebildet und ge¬
mächlich, zu den Fenſtern hinaus, ſtochern ſich die
Zähne und ergötzen ſich an ſeinen wunderlichen
Kapriolen, oder machen wohl gar auch Sonette auf
ihn, und meynen, er ſey eine recht intereſſante
Erſcheinung, wenn er nur nicht eigentlich verrückt
wäre. — Das alte große Rache-Schwerdt haben
ſie ſorglich vergraben und verſchüttet, und keiner
weiß den Fleck mehr, und darüber auf dem lockeren
Schutt bauen ſie nun ihre Villen, Parks, Eremi¬
tagen und Wohnſtuben, und meynen in ihrer ver¬
nünftigen Dummheit, der Plunder könne ſo fortbe¬
ſteh'n. Die Wälder haben ſie ausgehauen, denn
ſie fürchten ſich vor ihnen, weil ſie von der alten
Zeit zu ihnen ſprechen und am Ende den Ort noch
verrathen könnten, wo das Schwerdt vergraben
liegt. — Leontin ergriff hiebey haſtig die Guitarre,
die neben ihm auf dem Raſen lag, und ſang:


O könnt' ich mich niederlegen

Weit in den tiefſten Wald,

Zum Haupte den guten Degen,

Der noch von den Väteru alt!
Und dürft' von allem nichts ſpüren

In dieſer dummen Zeit,

Was ſie da unten handthieren,

Von Gott verlaſſen, zerſtreut;
Von fürſtlichen Thaten und Werken,

Von alter Ehre und Pracht,

Und was die Seele mag ſtärken,

Verträumend die lange Nacht!
[462]
Denn eine Zeit wird kommen,

Da macht der Herr ein End',

Da wird den Falſchen genommen

Ihr unächtes Regiment.
Denn, wie die Erze vom Hammer,

So wird das lock're Geſchlecht,

Gehau'n ſeyn von Noth und Jammer,

Zu feſtem Eiſen recht.
Da wird Aurora tagen,

Hoch über den Wald hinauf,

Da giebt's was zu ſiegen und ſchlagen,

Da wacht, ihr Getreuen, auf!

Und ſo, ſagte er, will ich denn in dem noch
unberührten Waldesgrün eines anderen Welttheils
Herz und Augen ſtärken, und mir die Ehre und
die Erinnerung an die vergangene große Zeit, ſo
wie den tiefen Schmerz über die gegenwärtige hei¬
lig bewahren, damit ich der künftigen beſſeren, die
wir alle hoffen, würdig bleibe, und ſie mich wach
und rüſtig finde. Und Du, fuhr er zu Julien ge¬
wendet fort, wirſt Du ganz ein Weib ſeyn, und,
wie Shakeſpear ſagt, dich dem Triebe hingeben,
der dich zügellos ergreift und dahin oder dorthin
reißt, oder wirſt du immer Muth genug haben,
dein Leben etwas Höherem unterzuordnen? Und
dämmert endlich die Zeit heran, die mich Gott er¬
leben laſſe! wirſt du fröhlich ſagen können: Ziehe
hin! denn was du willſt und ſollſt, iſt mehr werth,
als dein und mein Leben? — Julie nahm ihm fröh¬
lich die Guitarre aus der Hand und antwortete mit
folgender Romanze:


[463]
Von der deutſchen Jungfrau.
Es ſtand ein Fräulein auf dem Schloß,

Erſchlagen war im Streit ihr Roß,

Schnob wie ein See die finſtre Nacht,

Wollt' überſchrey'n die wilde Schlacht.
Im Thal die Brüder lagen todt,

Es brannt' die Burg ſo blutigroth,

In Lohen ſtand ſie auf der Wand,

Hielt hoch die Fahne in der Hand.
Da kam ein röm'ſcher Rittersmann,

Der ritt keck an die Burg hinan,

Es blitzt ſein Helm gar mannigfach,

Der ſchöne Ritter alſo ſprach:
„Jungfrau, komm' in die Arme mein!

Sollſt deines Siegers Herrinn ſeyn.

Will bau'n dir einen Pallaſt ſchön,

In prächt'gen Kleidern ſollſt du geh'n.
Es thun dein' Augen mir Gewalt,

Kann nicht mehr fort aus dieſem Wald.

Aus wilder Flammen Spiel und Graus,

Trag' ich mir meine Braut nach Haus!“
Der Ritter ließ ſein weißes Roß,

Stieg durch den Brand hinauf ins Schloß,

Viel Knecht' ihm waren da zur Hand,

Zu holen das Fräulein von der Wand.
Das Fräulein ſtieß die Knecht' hinab,

Den Liebſten auch ins heiße Grab,

Sie ſelbſt dann in die Flammen ſprang,

Ueber ihnen die Burg zuſammenſank.
[464]

Faber brach, als ſie geendigt hatte, einen Ei¬
chenzweig von einem herabhängenden Aſte, bog ihn
ſchnell zu einem Kranze zuſammen und überreichte
ihr denſelben, indem er mit altritterlicher Galanterie
vor ihr hinkniete. Julie drückte den Kranz mit ſei¬
nen friſchgrünen, vollen Blättern lächelnd in ihre
blonden Locken über die ernſten, großen Augen,
und ſah ſo wirklich dem Bilde nicht unähnlich, das
ſie beſungen. —


Es iſt ſeltſam, ſagte Faber darauf, wie ſich
unſer Geſpräch nach und nach beynah in einen
Wechſelgeſang aufgelöst hat. Der weite, geſtirnte
Himmel, das Rauſchen der Wälder ringsumher,
der innere Reichthum und die überſchwengliche
Wonne, mit welcher neue Entſchlüſſe uns jederzeit
erfüllen, alles kommt zuſammen; es iſt, als hörte
die Seele in der Ferne unaufhörlich eine große,
himmliſche Melodie, wie von einem unbekannten
Strome, der durch die Welt zieht, und ſo werden
am Ende auch die Worte unwillkührlich melodiſch,
als wollten ſie jenen wunderbaren Strom erreichen
und mitzieh'n. So fällt auch mir jetzt ein Sonett
ein, das Euch am beſten erklären mag, was ich von
Leontins Vorhaben halte. Er ſprach:


In Wind verfliegen ſah ich, was wir klagen,

Erbärmlich Volk um falſcher Götzen Thronen,

Wen'ger Gedanken, deutſchen Landes Kronen,

Wie Felſen, aus dem Jammer einſam ragen.
Da[465]
Da mocht' ich länger nicht nach Euch mehr fragen,

Der Wald empfieng, wie rauſchend! den Entfloh'¬
nen,

In Burgen alt, an Stromeskühle wohnen,

Wollt' ich auf Bergen bey den alten Sagen.
Da hört' ich Strom und Wald dort ſo mich tadeln:

„Was willſt, Lebend'ger du, hier über'm Leben,

Einſam verwildernd in den eignen Tönen?
Es ſoll im Kampf der rechte Schmerz ſich adeln,

Den deutſchen Ruhm aus der Verwüſtung heben,

Das will der alte Gott von ſeinen Söhnen!“

Friedrich ſagte: Es iſt ſehr wahr, wovon Ihr
Sonett da ſpricht, und doch billige ich Leontins
Plan vollkommen. Denn wer, von Natur unge¬
ſtümm, ſich berufen fühlt, in das Räderwerk des
Weltganges unmittelbar mit einzugreifen, der
mag von hier flüchten ſo weit er kann. Es iſt noch
nicht an der Zeit zu bauen, ſo lange die Backſtei¬
ne, noch weich und unreif, unter den Händen zer¬
fließen. Mir ſcheint in dieſem Elend, wie immer,
keine andere Hülfe, als die Religion. Denn wo
iſt in dem Schwalle von Poeſie, Andacht, Deutſch¬
heit, Tugend und Vaterländerey, die jetzt, wie bey
der babyloniſchen Sprachverwirrung, ſchwankend hin
und herſummen, ein ſicherer Mittelpunkt, aus wel¬
chem alles dieſes zu einem klaren Verſtändniß, zu
einem lebendigen Ganzen gelangen könnte? Wenn
das Geſchlecht vor der Hand einmal alle ſeine irdi¬
ſchen Sorgen, Mühen und fruchtloſen Verſuche,
30[466] der Zeit wieder auf die Beine zu helfen, vergeſſen
und wie ein Kleid abſtreifen, und ſich dafür mit
voller, ſiegreicher Gewalt zu Gott wenden wollte,
wenn die Gemüther auf ſolche Weiſe von den gött¬
lichen Wahrheiten der Religion lange vorbereitet,
erweitert, gereinigt und wahrhaft durchdrungen
würden, daß der Geiſt Gottes und das Große im
öffentlichen Leben wieder Raum in ihnen gewönne,
dann erſt wird es Zeit ſeyn, unmittelbar zu han¬
deln, und das alte Recht, die alte Freyheit, Ehre
und Ruhm in das wiedereroberte Reich zurückzufüh¬
ren. Und in dieſer Geſinnung bleibe ich in Deutſch¬
land und wähle nur das Kreutz zum Schwerdte.
Denn wahrlich, wie man ſonſt Miſſionnarien unter
Kannibalen ausſandte, ſo thut es jetzt viel mehr
Noth in Europa, dem ausgebildeten Heyden¬
ſitze.


Faber kam aus tiefen Gedanken zurück, als
Friedrich ausgeredet hatte. Wie ihr da ſo ſprecht,
ſagte er, iſt mir gar ſeltſam zu Muthe. War mir
doch, als verſchwände dabey die Poeſie und alle
Kunſt wie in der fernſten Ferne, und ich hätte mein
Leben an eine reitzende Spielerey verlohren. Denn
das Haſchen der Poeſie nach Auſſen, das geiſtige
Verarbeiten und Bekümmern um das, was eben
vorgeht, das Ringen und Abarbeiten an der Zeit,
ſo groß und lobenswerth als Geſinnung, iſt doch im¬
mer unkünſtleriſch. Die Poeſie mag wohl Wurzel ſchla¬
gen in demſelben Boden der Religion und Nationa¬
lität, aber unbekümmert, bloß um ihrer himmliſchen
[467] Schönheit willen, als Wunderblume zu uns her¬
aufwachſen. Sie will und ſoll zu nichts brauch¬
bar
ſeyn. Aber das verſteht ihr nicht, und macht
mich nur irre. Ein fröhlicher Künſtler mag ſich vor
Euch hüten. Denn wer die Gegenwart aufgiebt,
wie Friedrich, wem die friſche Luſt am Leben und
ſeinem überſchwenglichen Reichthume gebrochen iſt,
mit deſſen Poeſie iſt es aus. Er iſt wie ein Mah¬
ler ohne Farben.


Friedrich, den die Zurückrufung der großen
Bilder ſeiner Hoffnungen innerlichſt fröhlich gemacht
hatte, nahm ſtatt aller Antwort die Guitarre, und
ſang nach einer alten, ſchlichten Melodie:


Wo treues Wollen, redlich Streben

Und rechter Sinn der Rechte ſpürt,

Da muß die Seele ihm erheben,

Das hat mich jedesmal gerührt.
Das Reich des Glaubens iſt geendet,

Zerſtört die alte Herrlichkeit,

Die Schönheit weinend abgewendet,

So Gnadenlos iſt unſre Zeit.
O Einfalt gut in frommen Herzen,

Du züchtig ſchöne Gottesbraut!

Dich ſchlugen ſie mit frechen Scherzen,

Weil Dir vor ihrer Klugheit graut.
Wo find'ſt Du nun ein Haus, vertrieben,

Wo man Dir deine Wunder läßt,

Das treue Thun, das ſchöne Lieben,

Des Lebens fromm vergnüglich Feſt?
30 *[468]
Wo find'ſt Du Deinen alten Garten,

Dein Spielzeug, wunderbares Kind,

Der Sterne heil'ge Redensarten,

Das Morgenroth, den friſchen Wind?
Wie hat die Sonne ſchön geſchienen!

Nun iſt ſo alt und ſchwach die Zeit,

Wie ſtehſt ſo jung Du unter ihnen,

Wie wird mein Herz mir ſtark und weit!
Der Dichter kann nicht mit verarmen;

Wenn alles um ihn her zerfällt,

Hebt ihn ein göttliches Erbarmen,

Der Dichter iſt das Herz der Welt.
Den blöden Willen aller Weſen,

Im Irdiſchen des Herren Spur,

Soll er durch Liebeskraft erlöſen,

Der ſchöne Liebling der Natur.
D'rum hat ihm Gott das Wort gegeben,

Das kühn das Dunkelſte benennt,

Den frommen Ernſt im reichen Leben,

Die Freudigkeit, die keiner kennt.
Da ſoll er ſingen frey auf Erden,

In Luſt und Noth auf Gott vertrau'n,

Daß alle Herzen freyer werden,

Erathmend in die Klänge ſchau'n.
Der Ehre ſey er recht zum Horte,

Der Schande leucht' er ins Geſicht!

Viel Wunderkraft iſt in dem Worte,

Das hell aus reinem Herzen bricht.
[469]
Vor Eitelkeit ſoll er vor allen

Streng hüten ſein unſchuld'ges Herz,

Im Falſchen nimmer ſich gefallen,

Um eitel Witz und blanken Scherz.
O laßt unedle Mühe fahren,

O klingelt, gleißt und ſpielet nicht

Mit Licht und Gnad', ſo ihr erfahren,

Zur Sünde macht ihr das Gedicht!
Den lieben Gott laß in dir walten,

Aus friſcher Bruſt nur treulich ſing'!

Was wahr in dir, wird ſich geſtalten,

Das andre iſt erbärmlich Ding. —
Den Morgen ſeh' ich ferne ſcheinen,

Die Ströme zieh'n im grünen Grund,

Mir iſt ſo wohl! — die's ehrlich meynen,

Die grüß' ich all' aus Herzensgrund!

Faber reichte Friedrich'n, der die Guitarre wie¬
der weglegte, die Hand zur Verſöhnung. — Der
Morgen warf unterdeß wirklich ſchon, vom Meere
her ungewiſſe Scheine über den dämmernden Him¬
mel, hin und wieder erwachten ſchon frühe Vögel
im Walde, alle Wipfel fiengen an ſich friſcher zu
rühren. Da ſprang Leontin fröhlich mitten auf den
Tiſch, hob ſein Glas hoch in die Höh' und ſang:


Kühle auf dem ſchönen Rheine,

Fuhren wir vereinte Brüder,

Tranken von dem goldnen Weine,

Singend gute deutſche Lieder.

[470]
Was uns dort erfüllt die Bruſt,

Sollen wir halten,

Niemals erkalten

Und vollbringen treu mit Luſt!

Und ſo wollen wir uns theilen,

Eines Fels verſchiedne Quellen,

Bleiben ſo auf hundert Meilen

Ewig redliche Geſellen!

Alle ſtießen freudig mit ihren Gläſern an, und
Leontin ſprang wieder vom Tiſche herab. Denn ſo
eben ſahen ſie Rudolphen, unter beyden Armen
ſchwer bepackt, aus der Burg auf ſie zukommen.
Luſtig! luſtig! rief er, als er den Gläſerklirrenden
Jubel ſah, friſch, ſpielt auf, Flöten und Geigen!
Da habt ihr Gold! Hiebey warf er zwey große
Geldſäcke vor ihnen auf die Erde, daß die Gold¬
ſtücke nach allen Seiten in das Gras hervorrollten.
— Das iſt ein luſtiges Metall, fuhr er fort, wie
es in die fröhliche, unſchuldige Welt hinaushüpft
und rollt, mit den verwunderten Gräſern funkelnd
ſpielt und mit dunkelrothen, irren Flammen zuckt,
liebäugelnd, klingend und lockend! Verfluchter,
unterirdiſcher, rothäugiger Lügengeiſt, der niemals
hält, was er verſpricht! Da nehmt alles, greift
zu! Kauft Ehre, kauft Liebe, kauft Ruhm, Luſt
und alles Ergötzen der Erde, ſeyd immer ſatt und
[471] immer wieder durſtiger bis ans Grab, und wenn
ihr dabey einmal fröhlich und zufrieden werdet, ſo
mögt ihr mir danken. —


Alle ſahen ihn erſtaunt an. Faber ſagte: ich
achte das Geld nur, wenn ich es brauche. Aber
Dichter brauchen immer Geld. Und hiemit packte er
ruhig alle ſeine Taſchen voll, ſo daß er mit dem
aufgeſchwollenen Rocke ſehr lächerlich anzuſehen
war.


Rudolph nahm hierauf kurzen Abſchied von al¬
len und wandte ſich wieder nach ſeinem Schloſſe
zurück. Friedrich eilte ihm nach, er wollte ihn ſo
nicht geh'n laſſen. Da kehrte er ſich noch einmal
zu ihm. Du willſt ins Kloſter? fragte er ihn, und
blieb ſtehen. Ja, ſagte Friedrich, und hielt ſeine
Hand feſt, und was willſt Du nun künftig begin¬
nen? — Nichts —, war Rudolphs Antwort. —
Ich bitte Dich, ſagte Friedrich, verſenke Dich nicht
ſo fürchterlich in Dich ſelbſt. Dort findeſt Du nim¬
mermehr Troſt. — Du gehſt niemals in die Kirche.
— In mir, erwiederte Rudolph, iſt es wie ein
unabſehbarer Abgrund und alles ſtill. — Friedrich
glaubte dabey zu bemerken, daß er heimlich im
Innerſten bewegt war. — O könnt' ich alles Große
[472] wecken, fuhr er dringender fort, was in Dir ver¬
zweifelt und gebunden ringt! Haſt Du doch ſelber
erzählt, daß Dich alle wiſſenſchaftliche Philoſophie
nicht befriedigte, daß Du darin Gott und Dich nie
erkannteſt. So wende Dich denn zur Religion zu¬
rück, wo Gott ſelber unmittelbar zu Dir ſpricht,
Dich ſtärkt, belehrt und tröſtet! — Du meynſt es
gut, ſagte Rudolph finſter, aber das iſt es eben in
mir: ich kann nicht glauben. Und da mich denn
der Himmel nicht mag, ſo will ich mich der Ma¬
gie ergeben. Ich gehe nach Aegypten, dem Lande
der alten Wunder. — Hiemit drückte er ſeinem
Bruder ſchnell die Hand und gieng mit großen
Schritten in den Wald hinein. Sie ſahen ihn
nicht mehr wieder.


Lange blickten ſie ihm nach und bedauerten den
unglücklich verwirrten, als ein Schiffer ankam, um
Leontinen an die Abfarth zu mahnen, indem ſo
eben ein günſtiger Wind vom Lande trieb. Alle
ſahen einander ſtillſchweigend an und ſchienen er¬
ſchrocken, da nun der Augenblick wirklich da war,
den ſie ſelber lange vorbereitet hatten.


Der Schiffer übernahm das wenige Gepäck,
und ſie machten ſich ſogleich auf den Weg nach dem
[473] Meere. Friedrich begleitete ſie. Langſam rückten,
Berge und Wälder bey jedem Schritte immer wei¬
ter hinter ihnen zurück, das Meer rollte ſich vor
ihren Blicken auseinander.


Friedrich ſagte unterwegs: Mir gleicht unſere
Zeit dieſer weiten, ungewiſſen Dämmerung! Licht
und Schatten ringen noch ungeſchieden in wunder¬
baren Maſſen gewaltig miteinander, dunkle Wolken
zieh'n Verhängnißſchwer dazwiſchen, ungewiß, ob
ſie Tod oder Segen führen, die Welt liegt unten
in weiter, dumpfſtiller Erwartung. Cometen und
wunderbare Himmelszeichen zeigen ſich wieder, Ge¬
ſpenſter wandeln wieder durch unſere Nächte, fabel¬
hafte Syrenen ſelber tauchen, wie vor nahen Ge¬
wittern, von neuem über den Meeresſpiegel und
ſingen, alles weißt wie mit blutigem Finger war¬
nend auf ein großes, unvermeidliches Unglück hin.
Unſere Jugend erfreut kein ſorglos leichtes Spiel,
keine fröhliche Ruhe, wie unſere Väter, uns hat
frühe der Ernſt des Lebens gefaßt. Im Kampfe
ſind wir gebohren, und im Kampfe werden wir,
überwunden oder triumphirend, untergeh'n. Denn
aus dem Zauberrauche unſerer Bildung wird ſich
ein Kriegs-Geſpenſt geſtalten, geharniſcht, mit
[474] bleichem Todtengeſicht und blutigen Haaren; weſſen
Auge in der Einſamkeit geübt, der ſieht ſchon jetzt
in den wunderbaren Verſchlingungen des Dampfes
die Lineamente dazu aufringen und ſich leiſe formi¬
ren. Verlohren iſt, wen die Zeit unvorbereitet
und ungewaffnet trifft; und wie mancher, der weich
und aufgelegt zu Luſt und fröhlichem Dichten, ſich
ſo gern mit der Welt vertrüge, wird, wie Prinz
Hamlet, zu ſich ſelber ſagen: Weh', daß ich zur
Welt, ſie einzurichten, kam! Denn aus ihren Fu¬
gen wird ſie noch einmal kommen, ein unerhörter
Kampf zwiſchen Altem und Neuem beginnen, die
Leidenſchaften, die jetzt verkappt ſchleichen, werden
die Larven wegwerfen und flammender Wahnſinn
ſich mit Brandfackeln in die Verwirrung ſtürzen, als
wäre die Hölle losgelaſſen, Recht und Unrecht,
beyde Partheyen, in blinder Wuth einander ver¬
wechſeln, — Wunder werden zuletzt geſchehen um
der Gerechten willen, bis endlich die neue und doch
ewig alte Sonne durch die Gräuel bricht, die Don¬
ner rollen nur noch fernab an den Bergen, die
weiße Taube kommt durch die blaue Luft geflogen
und die Erde hebt ſich verweint, wie eine befreyte
Schöne, in neuer Glorie empor. — O Leontin!
wer von uns wird das erleben! —

[475]

Sie waren unterdeß ans Geſtade gekommen.
Leontin umarmte hierauf noch einmal die Freunde,
Friedrich küßte Julien auf die Stirne, und die
drey beſtiegen ihr Schiff. Faber ritt landeinwärts
fort. Friedrich kehrte ins Kloſter zurück, um es
niemals mehr zu verlaſſen.


Als er in die Kirche eintrat, fand er dort noch
alles leer und ſtille. Nur einige fromme Pilger
waren noch hin und her in den Bänken zerſtreut.
Auch die hohe, verſchleyerte Dame von Geſtern be¬
merkte er wieder unter ihnen. Er kniete vor ein
Altar und betete. Als er wieder aufſtand und ſich
umwandte, wobey ihm durch ein offnes Fenſter die
Morgenhelle grade auf Bruſt und Geſicht fiel, ſank
plötzlich die Dame ohnmächtig auf den Boden nie¬
der. Mehrere Bediente ſprangen herbey und brach¬
ten ſie vor die Thüre, wo ein Wagen ihrer zu
warten ſchien. — Es war Roſa. —


Friedrich hatte nichts mehr davon bemerkt.
Beruhigt und glückſelig war er in den ſtillen Klo¬
ſtergarten hinausgetreten. Da ſah er noch, wie
von der einen Seite Faber zwiſchen Strömen,
Weinbergen und blühenden Gärten in das blitzen¬
de, buntbewegte Leben hinauszog, von der ande¬
[476] ren Seite ſah er Leontins Schiff mit ſeinem weißen
Segel auf der fernſten Höhe des Meeres zwiſchen
Himmel und Waſſer verſchwinden. Die Sonne
gieng eben prächtig auf.


Ende.

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TextGrid Repository (2025). Eichendorff, Joseph von. Ahnung und Gegenwart. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bhsj.0