[]
Bücher
von
Otto Julius Bierbaum
*
Die Schlangendame
(Novelle, 2. Aufl.)
*
Studentenbeichten, Erſte Reihe
(Novellen, 3. Aufl.)
*
Studentenbeichten, Zweite Reihe
(Novellen)
*
Der Bunte Vogel
(Illuſtriertes Kalenderbuch)
*
Lobetanz
(Liederſpiel)
(Dieſe Bücher, wie die beiden Jahrgänge des von O. J. B.
herausgegebenen Modernen Muſen-Almanachs im Verlage
von Schuſter \& Loeffler in Berlin)
*
Nemt, Frouwe, diſen Kranz
*
Erlebte Gedichte
(Dieſe beiden Gedichtbände bei Guſtav Schuhr in Berlin)
*
Pankrazius Graunzer der Weiberfeind
(Roman, 2. Aufl.)
(Bei Hugo Storm in Berlin)
Ein Roman
aus der Froſchperſpektive
dem Bildniſſe des Verfaſſers
von
Felix Vallotton
im Verlage von
Schuſter \& Loeffler
1897
Alle Rechte vorbehalten
[]
An
Hermann Bahr
in
herzlicher
Verehrung
Erſtes Buch
Der Knabe Willibald
Eine ſchlechte Kinderſtube wird durch kein Begräb¬
nis erſter Klaſſe wett gemacht.
Erſtes Kapitel.
Als mein Freund Stilpe geboren worden war,
herrſchte, wie das ſo üblich iſt, viel Freude in der
Familie. Dies umſomehr, als die Sache anfangs
gedroht hatte, bös auszugehn.
Tante Pauline, die nachgezählt hat, will es be¬
ſchwören, daß Stilpe-Vater an jenem ſchweren
Tage dreiundachtzig Mal: Umgotteswillen! geſagt
hat, wobei er ſich, zornig halb, halb mit der
Miene eines zerknirſcht auf alles Gefaßten, in den
Achſelausſchnitt der Weſte fuhr und mit ſämmtlichen
Fingern, außer den Daumen, die eben hinten
ſteckten, auf beide Seiten der Weſtenbruſt trommelte.
Und dabei war Stilpe-Vater eigentlich ein ſehr
ruhiger Mann, ſeines Zeichens Lepidopterologe,
und konnte von ſich ſagen, daß er die Welt mit
Gelaſſenheit betrachtete.
1 *[4]Stilpe.
Aber dieſer Fall war zu ſehr außerhalb der
Erfahrungen ſeines Metiers. Das Kind lag näm¬
lich ſchief, und Doktor Schatzheber, ſchon durch
dieſen Namen zum Geburtshelfer prädeſtiniert,
ſah ſich genötigt, mit der Zange einzugreifen.
Umgotteswillen! Mit der Zange! Dem Lepi¬
dopterologen, der an die gelinde Art dachte, wie
ſich die Schmetterlinge auf dieſe Welt bringen, hätte
ſich das Haar geſträubt, wenn es nicht ſchweißnaß
am Schädel geklebt wäre.
— Nu, nu! ſagte Tante Pauline: das iſt das
Schlimmſte noch nicht. Die Hebamme hat mir
erzählt . . .
— Umgotteswillen, Pauline, verſchone mich! Du
biſt nie in der Lage geweſen. Alſo ſollteſt du
auch nicht . . .
Tante Pauline rauſchte ab. Es muß geſagt
werden, daß die ganze aufregende Geſchichte ihr
eine gewiſſe Genugthuung bereitete.
Das Verheiratetſein hat alſo auch ſeine Schatten¬
ſeiten! Ja, ja, ja!
Das verſöhnte ſie auf eine Weile mit der Welt.
Schließlich lief alſo Alles gut ab, nur daß der
kleine Stilpe eine kleine Eindöllung am Hinterkopfe
aufwies. Tante Pauline hatte die Güte, fragend
[5]Erſtes Buch, erſtes Kapitel.zu bemerken, ob derlei nicht Blödſinn zur Folge
haben könnte?
— Nein! ſchnaubte Doktor Schatzheber, aber,
wenn die Wöchnerin nicht bewußtlos wäre, würde
ich Sie . . . .; dann wuſch er ſeine Zange in
Karbol.
Tante Paulinens Benehmen iſt ſchuld daran,
daß ich vergeſſen habe, den Schauplatz von Stilpes
Geburt zu nennen. Es vollzog ſich dieſer Akt in
Leißnig, einer kleinen ſächſiſchen Stadt, über die ich
in Kürſchners Quartlexikon nichts weiter finde, als
daß ſie an der Freiberger Mulde und nicht weit
von dem Schloß Muldenſtein liegt. Ich habe auch
keinen Anlaß, mich bei dieſem Gemeinweſen länger
aufzuhalten, denn, wenn ich auch zu Beginn meiner
Geſchichte eine kleine Stilpopädie zu liefern gedenke,
ſo bin ich doch weit entfernt, mich nach dem preis¬
würdigen Muſter des lieben Meiſters Rabelais
auch mit den Windelerlebniſſen meines Freundes
zu beſchäftigen. Selbſt die erſte Hoſe und die
Schulzuckertüte bringt mich nicht von dem Vorſatz
ab, erſt in dem Augenblick einzuſetzen, wo mein
[6]Stilpe. Freund in das verſandfähige Alter eintritt, da
man ihn von Hauſe weg und in fremde Hände
gab, genauer geſprochen, da man ihn aus Leißnig
nach Dresden und zwar in die Königliche Er¬
ziehungsanſtalt für Knaben in Friedrichſtadt-Dresden
gab, die unter dem Namen Freimaurerinſtitut be¬
kannt iſt.
Zweites Kapitel.
Das Freimaurerinſtitut in Dresden-Friedrich¬
ſtadt verfolgt nicht, wie man aus dem Namen
ſchließen könnte, den Zweck, Freimaurer zu züchten,
ſondern es erblickt ſeine Beſtimmung darin, aus
jungen Knaben, die zu Hauſe ſchwer zu glätten
ſind, wohlpolierte Jünglinge zu machen. Es führt
ſie aber nicht bis zu jenen Höhen der Bildung,
deren Erklimmung die Thore einer Univerſität
öffnet, ſondern es begnügt ſich mit der beſcheideneren,
aber zuweilen doch recht mühereichen Aufgabe,
ſeine Pflegebefohlenen nur bis zum Vorhofe des
Tempels zu bringen. Dort giebt es ihnen einen
leiſen Schlag auf die Schulter (ſo, wie es den
jungen Fohlen geſchieht, wenn man ſie aus dem
Stalle läßt) und befiehlt ſie der fördernden Gnade
deſſen, der aus Tertianern nach und nach Primaner
[8]Stilpe. und weiterhin im ſanften Gleisgange Studenten,
Doktoren, Paſtoren, Profeſſoren, geheime Räte,
wirkliche geheime Räte, kurz allerlei Lichter oder
auch wohl blos Leuchter macht.
Mein Freund Stilpe, von dem ich hoffe, daß
ich ihn einſt unſern Freund werde nennen dürfen
(aber man hofft manchmal verwegen), wurde aus
zweierlei Gründen in die Obhut dieſer wiſſenſchaft¬
lichen und moraliſchen Brutanſtalt gegeben.
Einmal geſchah es deshalb, weil der Vater not¬
wendig nach Südamerika reiſen mußte, um dort
auf irgendwelchen beſonders begnadeten Wieſen
irgendwelche Schmetterlinge zu fangen, die ſich
darauf kaprizieren, juſt und nur dort ihr Daſein
hinzubringen, und die deshalb noch immer nicht
in die ihnen gebührende Klaſſe der wiſſenſchaft¬
lichen Schmetterlingsordnung eingetragen waren.
Stilpe-Vater hätte aber nicht mit der Seelenruhe,
die zu einem ſolchen Geſchäfte nötig iſt, in das
ferne Land ziehen können, wenn er ſeinen Sohn
nicht in männlicher ſtriegelnden Händen gewußt
hätte, als es die der guten Stilpe-Mama waren.
Denn es muß geſagt werden, daß Mama Stilpe
kein eigentliches Talent für Knabenerziehung beſaß.
Sie war, eine liebe, nette und hübſche Frau übrigens,
[9]Erſtes Buch, zweites Kapitel.zu ſanftlebig dazu und hatte das, für andere Kinder
vielleicht recht paſſende, auf Willibald angewandt
aber nicht ganz richtige Prinzip, lediglich mit
Bonbons zu erziehen.
Sie handelte dabei nicht nach irgend einer
pädagogiſchen Schulmeinung, ſondern ganz in¬
ſtinktmäßig. Da ſie nämlich ſelber eine Lieb¬
haberin von Konfitüren aller Art war, ſo hatte
ſie die Bemerkung gemacht, daß nichts auf ihre
Pſyche ſo beruhigend, begütigend, ja im eigent¬
lichſten Sinne beſſernd und, wenn die Bonbons
beſonders auserleſen waren, erhebend wirkte, als
die linde ſich löſende Süßigkeit dieſer Konditor¬
erzeugniſſe, und ſie meinte nun, es müſſe das bei
dem noch naiveren Kontakt zwiſchen der kindlichen
Zunge und Seele im Kindesalter erſt recht
ſo ſein.
In den einzelnen Fällen hatte es auch immer den
Anſchein, als ob ſie recht hatte. Der kleine Willi¬
bald, ſo hatte man ihn in der Taufe benannt,
reagierte wie ein Engel auf Bonbons. Aber von
der höheren Betrachtungswarte der väterlichen Kritik
aus machte es ſich bald bemerkbar, daß das Allge¬
meinbild der Willibaldſchen Entwickelung ſich nicht
völlig ſo ſüß ausnahm wie die einzelnen Reaktions¬
[10]Stilpe.erſcheinungen. Kurz geſagt: Willibald war außer¬
halb der jeweiligen Bonbonwirkungen eine beträcht¬
liche Range.
Der andre Grund zur Überführung des jungen
Knaben ins Freimaurerinſtitut lag mehr auf wiſſen¬
ſchaftlichem Gebiete.
Wenn jemand einen Sohn bekommen hat, ſo
meldet ſich, kaum daß die erſte Windel trocken ge¬
worden iſt, die ernſte Frage: Was ſoll der Junge
werden? Iſt es erſtaunlich, daß Stilpe-Vaters
Antwort darauf mit der Sicherheit einer Reflex¬
bewegung lautete: ein Lepidopterologe? Dieſe Ant¬
wort iſt durchaus begreiflich. Stilpe ſenior
empfand wie jeder Vater ſeinen Sohn als eine
Fortſetzung ſeiner ſelbſt; was lag da näher, als
daß er in ihm auch den zukünftigen Fortſetzer
ſeiner Lebensaufgabe ſah? Und nun konnte er ſich
zwar ſagen, daß er ſelbſt ſchon manchen Schmetter¬
ling zur Ehre der Wiſſenſchaft aufgeſpießt hatte, aber
die ſattſam bekannte Beſcheidenheit unſrer exakten
Wiſſenſchaftler erfüllte ihn doch zu ſehr, als daß
er nicht auch hätte hinzufügen müſſen: Es giebt
immer noch unaufgeſpießte Schmetterlinge genug,
ja übergenug. Welch ein lieblicher Gedanke aber,
daß der Sohn die Schmetterlinge einregiſtrieren
[11]Erſtes Buch, zweites Kapitel.wird, die einzuregiſtrieren dem Vater von einem
neidiſchen Schickſale verſagt geweſen!
Indeſſen: Stilpe-Vater war ein ſtarker Geiſt
und wußte die Subjektivität des väterlich Ange¬
nehmen von der Objektivität der Pflichten zu
trennen. Er ſagte ſich: Man muß alle Thüren
offen laſſen und bis zu dem Zeitpunkt warten, wo
man aus den Schritten des jungen Menſchen
ungefähr erſehen kann, zu welchen er ſich am füg¬
ſamſten leiten laſſen wird. Nur nicht ſchieben und
ſtoßen! Er war durch ſeinen Beruf an zartere
Hantierung gewöhnt.
Daher gab er denn ſeinen Sohn, als der im
lateinfähigen Alter war (ach, wie bald iſt das ein
Deutſcher!), nicht mit plumper Haſt auf ein
Gymnaſium, ſondern richtete ſein Augenmerk auf
eine Anſtalt, die beide Wege, den in die Humaniora,
und den in die Realiſtika, offen ließ. Eine ſolche
Anſtalt war das Freimaurerinſtitut. Im Allge¬
meinen mehr den realiſtiſchen Disziplinen des menſch¬
lichen Wiſſens gewidmet, beſaß es doch auch eine
Selekta für die unter ſeinen Zöglingen, die es nach
den Reizen des klaſſiſchen Altertums oder wenigſtens
nach den Laufbahnen gelüſtete, die nur der lateiniſch
und griechiſch geaichte Jüngling betreten darf.
[12]Stilpe.
So ward Willibald, als er acht Jahre alt
war, in die Zöglingsſchaar des Freimaurerinſtitutes
eingereiht.
Acht Jahre alt! Mit Bonbons erzogen! Sehr
eigenſinnig! Sehr zart! Sehr blaß! Und nun
plötzlich unter dem Glasſturz zärtlichſter Bemutte¬
rung hervorgezogen und einer Knabenſtriegelungs¬
anſtalt überantwortet, die geradezu ſpartaniſchen
Erziehungsgrundſätzen huldigte . . . !
Oh mein kleiner Willibald, was wirſt du er¬
leben müſſen! Wehe, die Zeit der Bonbons iſt
vorüber.
Willibald erhielt die Nummer 171, als er ins
Inſtitut eintrat. Man ſchrieb ſie ihm mit Tinte
in die Wäſche, nähte ſie ihm in die Kleider, klebte
ſie ihm in Stiefel und Mütze; ſie ſtand auf ſeinem
Kleider- und Bücherſchrank, ſie ſtand auf ſeinem
Bette, ſie ſtand auf ſeinem Waſchbecken, ſeinem
Stiefelwichsplatz, ſeinem Seifenkaſten; und auch
auf dem hölzernen Gewehre ſtand ſie, mit dem er
exerzierte. Denn es wurde exerziert in dieſem
Inſtitute, exerziert unter der Leitung zweier ſchnauz¬
bärtiger ehemaliger Unteroffiziere, die auch ſonſt
als Knabendreſſeure einen wichtigen Platz im Er¬
ziehungsplane dieſer martialiſchen Anſtalt hatten.
[13]Erſtes Buch, zweites Kapitel.
Man kann daraus erkennen, wie eminent
modern die Anlage dieſes pädagogiſchen Inſtitutes
war. Sie ging nicht aufs Sentimentale, ſondern
aufs Robuſte aus, ſie wollte nicht Romantiker er¬
ziehen, ſondern Realiſten, ſie wuſch die jungen
Häute nicht mit Mandelmilch, ſondern mit Bim¬
ſteinſeife. Wie in den meiſten dieſer Internate, ſo
lebte auch in ihr das bewährte Staffelprinzip des
Lebens, das ſich in Kürze ſo darſtellen läßt: Die
Unteren ſind die Fußſchemel der Oberen, und keiner
kommt ungetreten in die Höhe. So erfüllen dieſe
Anſtalten aufs Vollkommenſte den erzieheriſchen
Zweck, aufs Leben vorzubereiten. Denn ſie nehmen
es in ſeiner ganzen Rohheit vorweg. Der Spalt¬
pilz des Illuſionismus wird mit kräftiger Hand
ausgemerzt, und die bedenkliche Neigung mancher
jungen Seelen ins Optimiſtiſche wird durch reichlich
und konſequent applizierte Blitzgüſſe weggeſchreckt.
So redet unſere erwachſene Philoſophie. Aber,
liebe Leute, ſo ein kleiner Junge von acht Jahren . . .
Mein Gott, woher ſoll der erwachſene Philoſophie
haben? Er begreift mit nichten die Heilſamkeit
des lebensvorbildlichen Getretenwerdens, er verſteht
ganz und gar nicht, wie wertvoll es iſt, ſich die
junge Haut durch Schinden abhärten zu laſſen,
[14]Stilpe. ihm fehlt jeder Sinn für das realiſtiſch Tüchtige
dieſer ganzen Methode. Er fühlt ſich einfach
kreuzunglücklich. Er denkt an Muttern und weint.
So auch Willibald.
Was hat der arme kleine Kerl geheult unter
ſeiner Bettdecke! Und wie hat er manchmal mit
den Zähnen geknirſcht vor Ingrimm, wenn ihn die
Oberen drangſalten, ihn, den „Battling“. So
wurden nämlich die Kleinen genannt.
Die Battlingſchaft war bitter wie die Rekruten¬
zeit. Ach nein: Wohl bitterer noch. Denn, was
ſo eine junge Seele empfindlich iſt, das kann ſich
ein erwachſenes Gehirn manchmal gar nicht mehr
vorſtellen.
Deshalb wird es gut ſein, ich laſſe den Battling
ſelber reden.
Drittes Kapitel.
Die Briefe des Battlings.
Du haſt mir geſagt, das ich Dir gleich ſchreiben
ſol, wie mir es geſellt im Inſtitut. Es gefellt mir
gar nicht. Die Jungens ſind furchbar grob und
haun mich immer und nenen mich Badling. Sie
ſagen, ich wär ein dumes Geſcheeche. Ich mag
nicht mer dableiben und wil wieder nach Leisnig.
Ach, liebſte Mamma, ich weine die ganze Nacht
und dan kommen ſie und haun mit einem Rohr¬
ſtock auf die Bettdecke, die dinne iſt. Und früh
läßt mich der Schüſſeloberſt den Zucker karieren
beim Kaffe und Mittags der Schiſſelvice den
Braten, wen's welchen gibt, aber's giebt blos
[16]Stilpe.einmal welchen. Ach liebſte Mamma kom doch
gleich und hol mich ab. Sonſt lauf ich dervon.
Mit herzliche Grüße
Dein
Dich liebender Sohn
Willibald Stilpe.
Du denkſt, ich liege Dir was for, aber es iſt
doch alles war was ich Dir geſchrieben habe.
Geſtern haben ſie mich wieder das Fleiſch wollen
karieren laſſen. Da hab ich geſagt ich ſags dem
Lehrer, da haben ſie mich untern Tiſch geſteckt und
geſagt ich ſoll die Wacht am Rhein ſingen und ſie
wollen den Takt treten mit den Beinen, und haben
mich auch getreten. Aber geſungen hab ich nicht.
Ach meine liebe gute beſte Mama, ſchick mir doch
eine Kiſte mit Wurſt und Gänſefett, daß ich auch
was hab auf die trockenen Dreierbrotchen, die wir
zum Frihſtick kriegen, und ich dem Schiſſeloberſt
[17]Erſtes Buch, drittes Kapitel.was abgeben kann, daß er mich nicht immer den
Zucker frih karieren läßt.
Mit herzlichen Grüßen
Dein Dich liebender Sohn
Willbald Stilpe.
Ich hab einen Freund, der heißt auch Willi,
er ſitzt neben mir in der Klaſſe. Dem wil ich
auch Wurſt geben, weil er mir auch Wurſt gibt.
Ich liege Dir ganz gewiß nichts vor. Wenn
ich in die Ferien komme will ich Dir ſchon zeigen,
was ich für blaue Flecke hab, und einen ganzen
Biſchel Haare hat mir Einer ausgeriſſen, wo ich
gar nichts gemacht hatte. Blos, weil ich ihm die
Stieweln nicht butzen wollte. Und den Lehrern
darf man nichts betzen, dann krigt man blos noch
mehr Keile, und die Lehrer thun den Großen doch
nichts. Wenn ein Battling betzt, miſſen ihn auch
die andern Battlinge mit verhauen, und er darf
auch nicht mitſpielen.
2[18]Stilpe.
Die andern Jungens krigen alle Taſchengeld
für wenn die Obſtfrau kommt. Die kommt zweimal
in der Woche und hat viele ſchöne Sachen, Johannis¬
brot und Äpfel und Birn und Miſpeln, aber
Blockzucker darf ſie nicht haben. Du darfſt mir
aber das Geld nicht ſelber ſchicken, ſondern dem
Herrn Inſpektor Teurig, der giebt mir dann jede
Woche zwanzig Fenge.
Es grüßt Dich Dein
Dich liebender Sohn
Willibald Stilpe.
Mein Freund Rammer läßt Dich auch grüßen.
Ich bedanke mich ſehr ſchön für die große
Kiſte. Ich habe der ganzen Schiſſel Leberwurſt
und Pfannkuchen gegeben und ſtehe jetzt ſehr gut
beim Schiſſeloberſten und den andern. Du ſchreibſt,
ich ſoll Dir ſchreiben, was ich den ganzen Tag
mache. Das will ich thun. Alſo paß auf: Um
fünf Uhr frih klingelt eine Klingel am obern Schlaf¬
ſaal und dann ſchreien die beiden Herrn Inſpektoren:
[19]Erſtes Buch, drittes Kapitel.Aufſtehn! Aufſtehn! Die erſte Abteilung ſich da
zuhalten! Die erſte Abteilung ſind nämlich die
Battlinge. Wir ſpringen nun ſchnell aus den
Betten raus und rennen in den Stiefelwichsſaal
und wichſen unſre Stiefel an den Beinen ohne
Ausziehn ſehr blank. Dann rennen wir in den
Waſchſaal, wo jeder ſein Waſchbecken hat, aber
nicht aus Borzelan, ſondern zum Umkippen aus
Blech. Die Herren Inſpektoren paſſen auf, daß
wir die Hemden runterziehn und nicht ſo ſpritzen.
Das Waſſer iſt wie Eis, und die Seife hat jeder
in einem Schiebekaſten bei ſich, wo ſich auch der
Waſchlappen und die Kämme aufhalten. Dann
rennt jeder in den Kammſaal und kämmt ſeine
Haare. Ich hab einen Scheitel machen miſſen
links aber ohne Bomade, mit Waſſer. Wenn
Einer Läuſe hat, ſo nennen ſie ihn Lauſewenzel.
Es kommt beim Haareſchneiden raus und iſt eine
große Schande und wird mit Eſſiig gewaſchen.
Ich dachte ſchon, ich hätte welche, weil michs immer
picken that, aber ich hatte keine. Mein Freund
Rammer hat mal welche gehabt, aber dann hat er
beim Haareſchneiden immer gebetet Lieber Gott
gieb das ich keine Läuſe hab, und dann hat er
keine mer gehabt.
2*[20]Stilpe.
Ich muß nun ſchließen, weil es gleich zum
Bettegehn klingelt.
Es grüßt und küßt Dich
Dein Dich treu liebender
Sohn
Willibald Stilpe.
Der Herr Inſpektor hat mir geſagt, das Du
Taſchengeld fir mich geſchickt haſt. Das hat aber
der Schiſſelvice gehehrt, und da hat er mir geſagt,
ich ſolls keim ſagen und ſoll ihm finf Pfenge
borgen. Das iſt aber verboten; aber ich muß ihm
doch borgen, weil er mich ſonſt am Sonntag das
Apfelmus karieren läßt und ſelber ißt.
Nun will ich fortfahren, was ich thu, wenn ich
meine Haare gekämmt hab. Dann gehts nauf in
die Arbeitszimmer und wird die Schulſachen noch¬
mal durchgegangen. Wenn alle Abteilungen mit
Wichſen und Waſchen und Kämmen fertig ſind
[21]Erſtes Buch, drittes Kapitel. wird angetreten und die Herren Inſpektoren ſehen
Einen an, ob man reine gewaſchen iſt und auch
die Stiewelſohlen ganz ſind, beſonders hinter den
Ohren, wo ſich manchmal Schmutz befindet und
man dann karieren muß. Dann ſingen wir in
der Aula Nun danket alle Gott oder andere
ſchöne Geſangbuchslieder und ein Herr Lehrer
betet ein Gebet, was er grade auswendig kann.
Dann gehts zum Kaffetrinken, wo immer jede
Schiſſel, welche aus vier jungens beſteht und
einen Schiſſeloberſt, Schiſſelvice, Schiſſelterz und
Schiſſelſchund hat, eine Kanne Kaffe krigt und
jeder drei Eckchen Semmel und zwei Stikchen
Zucker. Der Zucker wird gewöhnlich in die Sem¬
meln nein gebohrt und dann gedunkt, das ſchmeckt
wie Kuchen. Die Schiſſelſchunds krigen aber nicht
immer alle zwei Stikchen Zucker, weil manchmal
welche fehlen. Wenn Kaffe getrunken iſt, iſt eine
Arbeitsſtunde, wo Schularbeiten gemacht werden.
Ein Herr Lehrer paßt auf, das keiner abſchreibt.
Manche Jungen ſchreiben aber doch ab. Ich wage
mirs nicht.
Nun lebe wol meine liebe gute Mamma, mein
Nachbar ſchubt mich immer, daß ich Meſſerſpießen
ſoll mit ihm. Das iſt ein ſehr ſchönes Spiel.
[22]Stilpe. Auch Federtippens wird geſpielt. Ich habe drei
Goldhahnfedern gewonn, eine ganz neue dabei.
Es grüßt und küßt Dich Dein
treuer Sohn
Willibald Stilpe.
Du weißt nicht, was Blockzucker iſt? Ich werde
es Dir erklären. Das ſind rote oder gelbe oder
weiße Tafeln, und die roten ſchmecken nach Him¬
beer, die gelben nach Apfelſine und die weißen
nach Citrone. Die roten ſchmecken am ſchönſten.
Wenn man eine Tafel kauft, das koſtet zehn
Pfennige, und jede Tafel hat fünf Abteilungen
zum Abrechen. Nicht wahr, jede Abteilung müßte
doch blos zwei Pfennige koſten? Koſtet aber einen
Dreier. Rammer ſagt, im Biedchen draußen koſtet
eine Tafel iberhaupt blos fünf Pfennige. Aber
die Jungens, die blos in die Schule kommen hier
und zu Hauſe wohnen, die bringen ſie mit und
ſagen, ſie koſten zehn Pfennige. Wenn ein Junge
kein Geld hat, ſo kann er auch ſeinen Braten der¬
vor geben. Vor Schweinebraten krigt man zwei
[23]Erſtes Buch, drittes Kapitel.Stückchen, aber vor Rinderbraten blos eins, das
heißt, weißt Du, das iſt blos bei den Battlingen.
Die Großen kriegen ſchon mehr. Nun weißt Du,
was Blokzucker iſt.
Ich will Dir nun ſchreiben, was nach der
Arbeitsſtunde frih kommt. Da kommt die
Schule. Rechnen iſt ſehr ſchwer hier, weil der
Lehrer, den die Jungens Buſchklepper nennen,
ſo ein eklicher Fritze iſt. Das ſagen alle. Bib¬
liſche Geſchichte iſt ſehr ſchön, aber im Latei¬
niſchen ſind die Verba ſchwer zum abwandeln.
Ich will aber doch in die Selekta. Die Selekta
darf abends eine Stunde länger aufbleiben. Geo¬
graphie iſt ſehr ausgedehnt. In der Geſchichte
gefallen mir die alten Germanen vortrefflich gut.
Aber die Römer ſiegen immer. Naturgeſchichte iſt
ſehr mies, weil ſie auch der Buſchklepper hat.
Nicht wahr, liebe Mama, die Menſchen legen keine
Eier. Rammer ſagt, ſie legten welche. Dann
kommt das Mittageſſen. Erſt betet einer komm
Herr Jeſu ſei unſer Gaſt und ſegne was Du uns
beſcheret haſt, und wenns alle iſt, betet wieder
einer Wir danken Dir Herr Jeſu Chriſt, das Du
unſer Gaſt geweſen biſt. Aber er iſt natürlich
nicht wirklich da, ſondern man muß ſich ihn ſelber
[24]Stilpe.denken. Es giebt meiſtenteils Rindfleiſch mit Ge¬
mieſe, und Brot kann ſich jeder nachholen, wenn
er noch nicht ſatt iſt. Ich hole mir immer welches.
Bier giebts keins, blos Waſſer. Wir haben einen
neuen Schüſſeloberſt. Das iſt der ſchönſte Junge
im ganzen Kaſten und ein Serbe. Er iſt ſehr
gut und macht feine Witze. Geſtern ſagt er zu
mir: Du, Schund, jetzt laß ich Dichs Waſſer
karieren. Da haben wir aber alle gelacht. Er
heißt Miokovitſch. Iſt das nicht ein ſchöner Name?
Wenn ich groß bin, geh ich mit ihm nach Serbien.
Er kann den Ball übern Thurm pritſchen. Auch
die Rieſenwelle kann er. Er hat aber auch ſchon
beinah einen Schnurbart. Ich bab ihn furchtbar
gern. Liebe Mama, die Kiſte iſt ſchon lange alle.
Es grüßt und küßt Dich
Dein Dich vielmals liebender Sohn
Willibald Stilpe No. 171.
Der Schiſſeloberſt hat geſtern dem Terz eine
Schelle neingehaun, weil er mich geknufft hat.
[25]Erſtes Buch, drittes Kapitel. Schick mir doch Pfannkuchen in der Kiſte. Er
ißt ſie furchtbar gerne. Denke Dir nur: ſein Vater
iſt Feldherr der Serbier. Ich hab ſein Bild ge¬
ſehen. Es iſt keine Sohle. Überhaupt: Mioko¬
vitſch ſchwindelt nicht. In ſeinem Photographie¬
album hat er auch viele furchtbar ſchöne Bilder
von Mädchens. Die Großen nennen ihn alle den
ſchönen Mio. Dem ſeine Muskeln ſollteſt Du
mal ſehen, liebe Mamma! Sie ſind ſo dick wie
meine Waden. Er braucht ſich auch keinen
Scheitel zu machen, weil er Locken hat. Niemals
läßt er mich karieren, denn er iſt überhaupt ſehr
edelmütig. Seine ſerbiſchen Briefmarken krieg ich
alle. Er kann furchtbar turnen. Geſtern iſt er in
der Nacht ausgeſtiegen und am Blitzableiter nunter
geklettert. Weil ich gerade an dem Fenſter liege,
hab ichs geſehen. Daß Du nicht petzt, hat
er geſagt, und ich ſolls auch keinem Jungen
ſagen; ich ſags gewiß keinem. Er iſt erſt
nach einer Stunde wieder gekommen, und da
war er ſo luſtig, daß er mir einen Kuß ge¬
geben hat. Ich weiß auch, warum er nunter
geklettert iſt. Er hat ſich einen Strauß geholt.
Den ganzen Tag hat er ihn immer in ſeiner
Taſche gehabt. Mir gefellts jetz ganz gut
[26]Stilpe.hier. Liebe Mamma, ſchick doch ja recht viele
Pfannkuchen.
Es grüßt Dich Dein treier
Sohn Willibald Stilpe.
Weil Du ſchreibſt, daß ich Dir nicht geſchrieben
habe, was wir nach dem Eſſen thun, ſo will ich es
ſchreiben. Da wird exeziert. Das iſt ſehr mühſam
und mit Grobheit verbunden, weil die Herren
Inſpektoren ſo ſchreien müſſen und ſich ärgern,
wenn die Jungens alles falſch machen, was natür¬
lich iſt, denn wenn man es noch nicht kann, ſo iſt
es ſehr ſchwer. Ich möchte lieber bei den Trom¬
lern ſein, und Miokovitſch will ſchon dafür ſorgen.
Dann werden die Kleider ausgekloppt und vorge¬
zeigt. Der Inſpektor kloppt auf die Hoſen, und
wenn Staub kommt, ſo wirds aufgeſchrieben, und
wer drei Mal aufgeſchrieben iſt, der darf nicht
mit ſpielen ſpäter. Bei manchen kloppt der In¬
ſpektor aber leiſe und bei manchen derb. Dann
iſt wieder Schule. Hernach aber giebts Veſperbrot
[27]Erſtes Buch, drittes Kapitel.und dann dürfen wir drei Stunden ſpielen. Räuber
und Dragoner iſt das Schönſte. Ich hab einen
Verſteck, den keiner rauskrigt. Da können ſie
lange ſuchen, wenn ich durchs Fenſter in den Bade¬
baſſin krauche. Pritſchball iſt auch ſehr ſchön, aber
die Pritſchen ſind ſo lang, daß man oft vorbeihaut,
und dann brillen die andern. Die Seite, wo
Miokovitſch iſt, gewinnt immer. Er hat die
ſchwerſte Pritſche, aber er macht ſelten mit. Über¬
haupt iſt er oft nicht da, wenn geſpielt wird.
Ich hab ihn mal gefragt, warum er immer nicht
da iſt. Da hat er geſagt: Du biſt neugierig,
Schund, aber wenn du's niemand ſagſt, will ich
Dir's verraten. Aber er hat mich blos verulken
wollen, denn es iſt doch Unſinn, daß er auf dem
Mond ſpazieren geht. Solche Witze macht er
immer.
Liebe Mama, warum ſchickſt Du die Pfann¬
kuchen nicht.
Es grüßt Dich Dein
teurer Sohn
Williwitſch.
Ich habe furchtbar lachen müſſen, weil Du
ſchreibſt, ob es nicht recht wehthut, wenn der
Herr Inſpektor auf die Hoſen kloppt. Du denkſt
wol, wir haben ſie an, wenn er kloppt? Nein,
das ſind die andern, die erſte Garnitur, die ge¬
kloppt werden. Nun will ich aber endlich ſchreiben,
was abends gemacht wird. Da wird erſtens
Abendbrot gegeſſen, wobei auch Biertrinken ſtatt¬
findet. Es iſt aber natürlich blos einfaches. Da¬
zu giebt es Brot und Butter oder Fett. Fett iſt
mir lieber, denn die Butter iſt ſehr häufig ranzig.
Viele Jungens ſchmieren ſie dann untern Tiſch oder
ſchnippen ſie mit dem Meſſer an die Decke. Dann
fällt ſie manchmal nächſten Tag in die Suppe.
Weshalb es ein Unfug iſt und man Schellen kriegt,
wenns gemerkt wird. Natürlich wagen ſichs blos
die Großen. Im Winter ſoll die Butter auch von
vielen Jungens geſammelt werden, und ſie machen
dann abends auf dem Ofen im Arbeitszimmer
Butterbäbe draus mit geriebenen Brot. Das muß
fein ſchmecken. Dann gehts wieder naus zum
Spielen und dann iſt Arbeitsſtunde oder Selbſt¬
beſchäftigung, wobei Briefe geſchrieben werden oder
ſonſt welcher Unſinn gemacht wird, weil kein In¬
[29]Erſtes Buch, drittes Kapitel. ſpektor dabei iſt. Dann gehts um Neune ſchlafen,
wobei das Schnarchen durch Anſpritzen beſeitigt
wird. Miokowitſch klettert jetzt egal zum Fenſter
nunter. Mit Rammern bin ich ſchiech, weil er
ſagt, Miokowitſch wär ein Schlowake. Ich brauch
überhaupt keinen Freund, weil mich Miokowitſch
zu ſeinem Leibſchund ernannt hat. Deshalb heiß
ich auch Williwitſch.
Dein Dich liebender
Sohn
W. St.
Schiech ſein iſt, wenn man mit Einem nicht
mehr Freund iſt. Leibſchund iſt kein Schimpfname
ſondern ſehr ehrenvoll.
Wie's am Sonntage zugeht, das iſt ſehr lang¬
weilig, wenn man niemand in der Stadt hat, zu
dem man Urlaub kriegt. Weißt Du denn gar
niemand, wo ich hingehen kann? Früh gehen wir
in die Kirche. Da haben wir einen beſondern
Platz und alle Bänke ſind furchtbar bekritzelt, wo
[30]Stilpe. die Freimaurer ſitzen. Die meiſten Jungens nehmen
ſich Bücher zum Leſen mit. Ich ſitze aber ſo nahe
beim Inſpektor. Zu Mittag gibts Kompot und
abends Thee und Käſe. Wenn ſchönes Wetter iſt
wird Spaziergang gemacht. Es iſt aber ledern,
weil man ſo zwei und zwei in einer Reihe geht.
Und ich muß mit Rammern gehn, mit dem ich
ſchiech bin. Er will immer zu reden anfangen,
aber fällt mir gar nicht ein. Er ſoll erſt ſagen,
daß Miokowitſch kein Schlowake iſt.
Liebe Mama, ich danke recht ſchön für die
Pfannkuchen, aber es waren ſechs ungefüllte dabei.
Es grüßt und küßt Dich
Dein teurer Sohn
Williwitſch.
Viertes Kapitel.
Man hat, denk ich, aus den Briefen des
Battlings erſehen, daß Klein-Willibald, nicht ohne
inſtinktive Lebenskunſt, es verſtanden hat, aus dem
ſauren Apfel, in den zu beißen er gezwungen war,
nach Möglichkeit Süßes zu ſaugen. Er hat unbe¬
wußt nach einem Rezept gehandelt, das auch Er¬
wachſenen häufig probat erſcheint zur Aufhöhung
des Lebens: er hat ſich einen kleinen Heroënkult
eingerichtet. Und, wie klug der kleine Burſche
doch war! Er blieb nicht in der Ferne ſtehen und
ſchwärmte platoniſch, ſondern er begab ſich froh¬
gemut und entſchloſſen in die Klientele ſeines
Idols.
Die Gelegenheit, jetzt ſchon zu konſtatieren,
wohin ſich das Häkchen krümmen will, wäre günſtig,
aber ich möchte dem Leſer auch etwas zu thun
[32]Stilpe. geben und überlaß es alſo ihm, nachzumeſſen. Nur
bitte ich, ſich nicht gleich ein Schema zu machen.
Des Menſchen Seele iſt manchmal ſchwankender
als der Gang eines Betrunkenen durch einen Sturz¬
acker. Aber: wie Sie wollen!
An mir iſt es, weiter zu erzählen und zu
ſagen, daß Jung-Stilpe allmählich aus dem Stande
eines Battlings in den nächſt höheren eines
Quarks emporrückte. Das heißt: Er wurde nun
nicht mehr bloß geſchunden; er durfte auch ſelber
ein bischen mitſchinden.
Es wäre nur menſchlich geweſen, wenn er ſich
in dieſem Zuſtande wohler befunden hätte, als n
dem vorigen. Aber es war nicht ſo. Am Selber¬
ſchinden fand er wenig Geſchmack, und ſo entging
ihm die tröſtliche Genugthuung, die nicht blos im
Freimaurerinſtitut in Dresden-Friedrichſtadt den
meiſten Menſchen das Geſchundenwerden erträg¬
licher macht. Er hatte keinen Sinn für das Wohl¬
thuende, das in der Möglichkeit liegt, von oben
empfangene Püffe nach unten weiter zu geben.
Es thut mir leid, aber ich muß es feſtſtellen: Er
dokumentierte damit einen betrüblichen Mangel an
Begabung für realiſtiſchen Lebensverſtand. Die
Strafe für dieſen Defekt konnte nicht ausbleiben:
[33]Erſtes Buch, viertes Kapitel. Er fühlte ſich jetzt elender als früher. Denn,
während er ſich die jetzt offenſtehende Gelegenheit
der Ableitung nach unten entgehen ließ, verringerte
ſich doch nicht ſeine Empfindlichkeit für die Stöße
von oben. Im Gegenteil: Er empfand ſie viel
peinlicher. Denn er hatte an Kritik zugenommen.
Die Großen ſtanden ihm jetzt näher, und ſo er¬
kannte er, daß allerlei Dinge an ihnen waren, die
ſie eigentlich nicht berechtigten, die Kleinen ſtolz
und ſchlecht zu behandeln. Er ſah, daß es keines¬
wegs alle Helden waren wie der geprieſene Mio,
es entging ihm vielmehr nicht, daß es unter ihnen
Burſchen von unzweifelhaft gemeinen Qualitäten
gab. Von dieſen ſich ſchinden zu laſſen, das hielt
ſchwer und that ungemein weh.
Es kam für Jung-Stilpe die Zeit der erſten
Zweifel an der zweckmäßigen und gerechten Ein¬
richtung dieſer Welt. Zehn Jahre erſt alt, und
ſchon mußte er an allerlei Warums nagen.
Warum darf mich Börner knuffen, da
er doch unter den Großen als Feigling ver¬
achtet iſt?
Warum darf mich Roſcher Dummer Quark nen¬
nen, da es doch allgemein bekannt iſt, daß er der
Dümmſte in ſeiner Klaſſe iſt?
3[34]Stilpe.
Warum darf ich den Bodemann nicht wieder
ohrfeigen, da er doch ſchwächer iſt, als ich?
Alles blos, weil ich noch ein Quark bin?
Ja, zum Teufel, warum thun ſich die Quarks
nicht zuſammen und wehren ſich? Wenn ſie alle
zuſammenſtünden und vielleicht noch die Battlinge
heranzögen, ſo müßten ſie die Großen, die ja viel
weniger ſind, unterkriegen!
Aber auf dieſes Warum wußte er die Antwort.
Die Quarks waren, bis auf wenige, zu denen er ge¬
hörte, Memmen, Geſindel. Sie machten es mit den
Battlingen nicht beſſer, als die Großen mit ihnen,
und untereinander knufften und pufften ſie ſich
noch mehr, als ſie von den Großen geknufft und
gepufft wurden. Ganz ſicher, wenn er es ſich etwa
einfallen ließe, gegen die Großen aufzumucken: Die
meiſten Keile würde er von den Quarks kriegen.
Das war eine böſe Situation für den kleinen
Stilpe, um ſo böſer, als Mio ins Land ſeiner
Väter zurückgekehrt war.
Die Umſtände, unter denen ſich dieſes Er¬
eignis vollzogen hatte, waren nicht ganz normaler
Natur: Herr Mio war geſchaßt worden.
Warum? Der kleine Stilpe hörte was läuten,
aber nicht zuſammenſchlagen. Es ging ein Munkeln
[35]Erſtes Buch, viertes Kapitel. durch die Jungens, als ob ganz Unerhörtes ſich
begeben hätte. Mio hatte etwas völlig Unſagbares
gethan, etwas, wofür den Quarks und gar den
Battlingen die Begriffe fehlten.
Gewiß etwas Großartiges, dachte ſich Stilpe,
und ſein Held erſchien ihm nun im Zauber des
Geheimnisvollen noch gewaltiger. Ihn ſelber hatte
er wohl gefragt, aber es war ihm wieder die Ant¬
wort vom Monde geworden:
— Die Pauker wollen nicht, daß man auf dem
Mond ſpazieren geht und vorzüglich nicht mit ihren
Töchtern.
Mit ihren Töchtern? Auf dem Monde? Welche
furchtbaren Geheimniſſe! Dem kleinen Stilpe rollte
es gruſelig, aber warm übers Rückenmark.
Er fühlte: Der Mond war blos ein Symbol,
ſo wie der Herr Jeſus Chriſt als Mittagsgaſt,
aber die Töchter der Pauker, die waren reell
gemeint.
Himmel, wer das Symbol vom Monde er¬
gründen könnte?
Eine Paukerstochter fragen?
Pfui, wer wird ſich mit Mädchen einlaſſen!
Jung-Stilpe war noch im Alter des Jungen¬
ſtolzes, der im Mädchen etwas befleckend unterge¬
3*[36]Stilpe.ordnetes ſieht. Mädchen! Das kam noch weit
hinter den Battlingen. Was das für jämmerliche
Dinger ſind! Höchſt feige Geſchöpfe. Alſo kein
ſtandesgemäßer Umgang für ritterliche Enkel der
alten Germanen.
Aber Mio war trotzdem mit ſolchen Dingern
„auf dem Mond ſpazieren gegangen“? Konnte
Mio, der Held, etwas Unritterliches thun? Nie!
Es mußte vielmehr etwas höchſt Ritterliches ge¬
weſen ſein.
Wer weiß: Vielleicht war eben das Spazieren¬
gehen auf dem Monde das einzig Ritterliche, das
man mit dieſen Weſen thun konnte.
Wenn man nur erſt wüßte, was es wäre!
Mio hatte, als der kleine Willibald durchaus
wiſſen wollte, was unter dem Mondſpazierengehen
zu verſtehen ſei, die Schonung ſeines Schnurrbartes
geſtrichen und mit einem ſonderbaren Lächeln ge¬
ſagt : Williwitſch, wenn ich dir das erkläre, ſchaffen
ſie dich auch. Warte noch, bis dir ſo was wächſt,
und dann wirſt du's von ſelber erfahren.
Mein Gott, wie geheimnisvoll! Es hing alſo
mit dem Schnurrbart zuſammen! Für Quarks war
demnach der Mond durchaus unerreichbar, denn
ein Quark mit einem Schnurrbart war undenkbar.
[37]Erſtes Buch, viertes Kapitel. Man mußte mindeſtens ein Strunk werden. Aber
auch unter den Strunks war ein Schnurrbart,
d. h. die erſte Andeutung eines Anfluges davon,
ein unerhörtes Wunder. Fliczek war der einzige
unter den Strunks, der ſo etwas wie einen Flaum
auf der Oberlippe hatte.
So wurde Fliczek das Idol.
Willibald machte ſich an ihn heran. Er opferte
Hekatomben von mütterlichen Pfannkuchen, ihn zu
gewinnen. Schließlich gelang es ihm mit einem
Oſterfladen. Aber Fliczek war kein Held, kein
Mio. Er aß den Oſterfladen und würdigte Willi¬
bald ſeines Umgangs, aber es ſtellte ſich heraus,
daß dieſer ſchnurrbärtige Strunk vom Monde einſt¬
weilen nicht viel mehr wußte als der ſchnurrbart¬
loſe Quark.
Alſo hing es vom Schnurrbart allein nicht ab.
Da wurde Willibald ſelber ein Strunk. Zwölf
Jahre war er nun alt. Die Periode der weſent¬
lich körperlichen Schindung mit Ohrenlangziehen,
Andenhaarenreißen, Schellenkriegen war im allge¬
meinen vorüber. Die Drangſale fingen an, haupt¬
[38]Stilpe. ſächlich ſeeliſcher Natur zu werden. Die Strunks,
die nur die Großen noch über ſich hatten, wurden
von dieſen nicht geprügelt, ſondern verhöhnt.
So ein Strunk, das iſt wohl was! Bildet ſich
vielleicht ein, daß er ſchon ein Großer iſt? So ein
Jämmerling! Hat noch kurze Hoſen an und thut ſich
dicke! Vielleicht, weil er Selektaner iſt? Weil er
ſeinen Namen mit griechiſchen Buchſtaben in alle
Bücher ſchreibt? Iſt was Rechtes! Iſt doch noch
ein kleiner Junge, mit dem man lange noch nicht
über Alles reden kann.
Aber immerhin kamen die Selektaner unter den
Strunks ſchon mit den Großen in einige Berührung.
Da ſie mehr Schularbeiten zu machen hatten, als
die übrigen, durften ſie mit den Großen eine
Stunde länger aufbleiben. Dieſe Arbeitsſtunde
wurde, da die Inſpektoren im Schlafſaal ſein
mußten, nicht ſtändig überwacht. Es kam nur zu¬
weilen der Direktor, um nachzuſehen, ob die Stunde
nicht etwa ausgedehnt wurde, und um nachzuriechen,
ob nicht geraucht worden war. Aber, wenn der
Direktor Kegelabend hatte, war man ſicher. Dann
rauchte alles, auch die Strunks. Es gab ſogar
eine Waſſerpfeife! Und wer gut turnen konnte,
kletterte die Mauer hinan, ließ ſich auf den Brief¬
[39]Erſtes Buch, viertes Kapitel. kaſten hinab, ſprang auf die Straße, lief ins
Böhmiſche Brauhaus und holte Bier.
Ha, was für Gelage! Richtige, große Deckel¬
gläſer ſchwang man, und Lagerbier war drin!
Da wurden die Großen vertraulicher. Aber Alles
durften die Strunks doch nicht mitmachen. So,
wenn ein Nachtſcheuern war und die Dienſtmädchen
in den Corridors herumkicherten. Dann kicherten
die Großen draußen mit, aber die Strunks mußten
im Hofe und Garten Poſten ſtehen.
Zweifellos: Das hing mit dem Monde zu¬
ſammen. Freilich nicht im hohen Sinne des
Miokowitſch! Der hätte nie mit Dienſtmädchen
gekichert, die den Scheuerlappen in Händen hatten.
So kam Jung-Stilpe ins dreizehnte Jahr, und
ſeine Sehnſucht war vergeblich hinter dem Monde
her und was deſſen tiefſter Sinn eigentlich wäre.
In der Schule ging alles paſſabel, bis aufs Rech¬
nen; ſeine Mitſtrunks achteten ihn als einen, der alles
Verbotene kühn und heiter mitmachte und nie petzte,
aber enge Freunde hatte er keine, weil er, wie die
[40]Stilpe. andern ſagten, zu eingebildet war. In der That
hielt er ſich für reichlich dreimal ſo geſcheid wie
alle übrigen, wenn auch nicht gerade in den Fächern,
die auf dem Stundenplane ſtanden.
Daß er ſich auch in die ſpezifiſche Geheimkunſt
der Knabeninſtitute einführen ließ, bedarf nicht be¬
ſonderer Erwähnung. Er übte ſie aber noch ohne
jene Perſpektive, die erſt aus der Erkenntnis vom
Weſensunterſchiede der Geſchlechter erwächſt. In¬
deſſen: Es liegt in der Natur dieſer bedenklichen Kunſt,
daß ſie den Hunger nach jener bedenklichen Erkennt¬
nis weckt. Oh, die Augen Willibalds damals!
Was wollten ſie nur, daß ſie zuweilen ſo weit
offen und ſtarr waren, glühten und gloſten, flackerten
und ſich weiteten . . .?
Wirklich, meine werten Herren Pädagogen, es
genügt nicht, menſa abzufragen und den Jungens
auf den Zahn zu fühlen, ob der peloponneſiſche Krieg
feſt ſitzt, — Sie müßten ihnen auch manchmal in die
Augen ſehen. Sie, die Sie mit unfehlbarer Sicher¬
heit jedes Jota ſubſcriptum aufſtöbern, das zuviel
geſchrieben wird, ſehen Sie denn nicht, daß da
unten in dieſem Auge ein häßlicher Wurm ſitzt?
Umgotteswillen, rotten Sie dieſen Wurm aus, Herr
Profeſſor, er iſt viel bedenklicher als zehn falſche
[41]Erſtes Buch, viertes Kapitel. Jota ſubſcripta. Aber es iſt mehr dazu nötig,
als rote Tinte, und der Rohrſtock thuts freilich nicht.
Denken Sie blos an ſich, und was alles Ihnen
der Wurm weggefreſſen hat! Wie? Sie verbitten
ſich dieſe Verdächtigung? Ja, dann freilich!
Jung-Stilpe alſo, dreizehn Jahre alt, war bereits
wurmſtichig. Werden wir uns wundern, daß er
in puncto puncti frühreif ward? Nun, es giebt
viele ſolche Wunderkinder. Wir wollen uns nicht
anſtellen, als fänden wir das ſo verwunderlich.
Oder wollen wir doch? Schön, wem es würdig
dünkt, der thue ſeinem Herzen keinen Zwang an
und entrüſte ſich. Hier ſtehe ich mit meiner ganzen
Breitſeite; es haben viele faule Äpfel Platz.
Alſo: Jung-Stilpe ſuchte mit ſonderbaren
Blicken nach jener Perſpektive, die ihm noch fehlte.
Da kam das, was wir den Zufall nennen, und
was unſre Vorvordern den Teufel genannt haben,
riß den Nebel entzwei und ſagte leiſe und mit
infam linder Stimme: Bitte, da!
Es kam ſo: Der Direktor hatte wieder einmal
Kegelabend, und die Selektaner thaten ſich gütlich an
Alkohol und Nikotin. Sie waren alle bei einander,
nur Einer fehlte, der mit dem Schnurrbart, Wenzel
Fliczek.
[42]Stilpe.
Sie ſitzen alle recht ſorglos und im ſüßen Ge¬
nuſſe des Verbotenen bei einander, da thut ſich die
Thüre auf und Fliczek ſchreit herein: Fenſter auf!
Lichter aus! Der Alte kommt übern Hof!
Dann, wie die Lichter ausgelöſcht ſind, flüſtert
er leiſe zu jemand Unſichtbarem hinter ihm: Schnell,
da 'nein, unters Katheder!
Willibald war gerade daran, als Letzter zum
Fenſter hinauszuſpringen. Da, aber, wie eigen das
war, drehte es ihn um.
Was denn nur? Unters Katheder!
Er duckte ſich dort in die Ecke.
Da, wie es raſchelt! Und neben ihm, hart
neben ihm drückt ſich was Weiches.
Gott oh Gott! Was mag das ſein! Wie
warm! oh, und wenn tauſend Direktoren kämen!
Die ſüße Angſt!
— Wer biſt denn Du?
— Sei doch ſtille! Der Direktor . . .!
Herrgott, wie weich und warm!
— Rem! Hm! Rem! — Es kommt den
Gang herauf. Die Thüre ſchlägt.
— Rem! Hm! Rem! — Jetzt iſt er wohl
im Zimmer? Ja, man hört ihn ja ſchnaufen.
[43]Erſtes Buch, viertes Kapitel.
Willibald fühlte zwei Arme an ſeinem Hals
und an ſeiner Seite ein drängendes Klopfen.
Gott, was iſt das! Was iſt das! Er kann
nicht anders, er muß ſeinen Mund darauf drücken.
Oh, iſt das ſchön!
— Rem! Rem! Hm! Rem! — Die Thüre
wieder zu. Schritte . . . fort . . .
Das Warme neben ihm bewegt ſich. Die Arme
laſſen ihn los.
— Wer biſt Du denn?
— Wer biſt denn Du?
— Ich bin Stilpe aus der dritten Klaſſe.
— Laß mich doch los!
— Nein. Wer biſt Du denn?
— So laß mich doch!
— Nein. Wer biſt Du denn?
— Die Joſephine.
— Buſchkleppern ſeine?
— Ja doch! Laß mich doch!
— Du! Du!
Und er hängt ſich feſt an ſie, und es iſt ihm,
als wenn er ſchwerer und größer würde.
— Aber ſo laß mich doch, ich muß fort.
Nein, er kann nicht loslaſſen. Er wühlt ſich
[44]Stilpe. mit ſeinem Kopf in all das Weiche, Warme, was
um ihn iſt.
Da, jetzt hat er ihren Kopf in den Händen
und drückt ihn mit aller Kraft.
— Du, das thut ja weh!
Aber ſie geht nicht. Sie läßt ſich noch eine
Weile ſo halten. Dann kommen auch ihre Hände
an ſeinen Kopf, und nun fühlt er ihr Geſicht an
ſeinem.
Ach, wie die Lippen weich ſind.
— Du beißt mich ja!
Himmel was iſt das! Sie küßt ihn.
Gott! Gott! Gott!
Jetzt iſt ſie fort.
Noch eine Weile liegt er unterm Katheder.
Dann taumelt er auf und rennt in den Schlaf¬
ſaal. In ſeinem Bette weint er. Und ſtammelt
ihren Namen. Schläft, naß von Thränen, ein.
Wie er am Morgen aufwacht, iſt alles ver¬
ändert um ihn herum. Er möchte ſchreien vor Ge¬
fühl. Joſephine! Joſephine! Das iſt der Mond
Das iſt er!
Dann wird ihm angſt. Er möchte fort. Aus¬
reißen. Nach Hauſe. Sich verſtecken.
Gottlob, daß Sonntag iſt. Er ſingt in der
[45]Erſtes Buch, viertes Kapitel.Kirche ſo laut, daß der Inſpektor ihn anrüffelt.
In ſein Geſangbuch, auf ſeinen Kirchenplatz, über¬
all hin ſchreibt er Joſephine.
Und das Wort ſchiebt ſich in ihm hin und her,
und nach dem Schema von Nun danket alle
Gott ſchreibt er in unbeholfenen Verſen die Er¬
lebniſſe dieſer Nacht.
Das war die erſte Regung.
Denn von nun ab wollte er — ein Dichter
werden.
Fünftes Kapitel.
So ein kleiner Junge, der Dichter werden
will, iſt ein merkwürdiges Phänomen. Es ver¬
lohnt ſich wohl, es näher zu betrachten.
Es iſt keineswegs daſſelbe, wie wenn etwa
Einer in Prima anfängt, die Papierleyer zu
ſchlagen. Da pflegt meiſt Nachahmungstrieb und
Ehrgeiz der Hauptgrund zu ſein, und die Fälle
ſind ſelten bemerkenswert. Schon, weil ſie, ſelbſt
in unſrer Zeit noch, gar zu häufig ſind.
Aber wenn die Verſe ſo früh flügge werden,
wie bei unſerm Stilpe, dann liegt die Sache tief
und verdient Beachtung. Bloße Nachahmung iſt
es nicht, Ehrgeiz ſteckt gar nicht dahinter, — was
alſo iſt es wohl?
Es wird das Beſte ſein, wir ſtudieren die
wunderliche Erſcheinung an dem Knaben Willibald.
[47]Erſtes Buch, fünftes Kapitel.
Zuerſt die Bemerkung, daß vor der Szene
unter dem Katheder ſich nichts in ihm geregt hat,
was als Hinweis auf das plötzliche Versweſen
ausgelegt werden könnte. Höchſtens, daß er ſehr
gerne im Geſangbuch las, ohne daß ihn Frömmig¬
keit dazu veranlaßt hätte. Er las, weil es ihm
gut klang. Aber es kam ihm dabei durchaus nicht
der Gedanke, auch mal ſo was Klingendes zu
machen. Er dachte überhaupt nicht daran, daß
das etwas gemachtes ſei. Er nahm es wie eine
Blume, wie einen Baum und freute ſich dran.
Und nun, nicht wahr, es iſt doch ſonderbar:
Kaum, daß er eine kleine Joſephine neben ſich ge¬
fühlt hat, ſetzt er ſich hin und ſchreibt Verſe. Und
nicht dies blos, er empfindet plötzlich, wenn auch
verworren und wie aus drängenden Nebeln: Dies,
das Verſeſchreiben, iſt ein unerhörtes Glück, ein
Ziel über allen Zielen.
Etwas Schwillendes iſt in ihm, etwas, das ſich
nur mit dieſem unſagbaren Gefühle unterm Kathe¬
der vergleichen läßt. Und er hütet das Geheim¬
nis dieſes Schwillens mit demſelben Gefühle von
Scham, wie das Geheimnis ſeines Abenteuers mit
Joſephine.
Vielleicht ſind dieſe beiden Geheimniſſe nur
[48]Stilpe.eines? Vielleicht iſt es nur der Biß in den ver¬
botenen Apfel der Erkenntnis?
Aber er hat an dieſem Apfel doch fürs erſte
nur geleckt, wenn auch zugegeben werden muß, daß
er eine unbeſtimmte Luſt empfindet, nun auch
hineinzubeißen.
Nein, man kann nicht ſagen, daß Joſephine
und die Verſe ein und dasſelbe ſind. Es ſind
zwei Offenbarungen auf einmal, von denen die eine
die andre mit ſich gebracht hat, und ſie ſind, obwohl
ſie ſcheinbar dieſelben Erſcheinungen zur Folge
haben, doch verſchieden von einander. Daß ſie
einander auch feindlich ſein können, wird gerade
dieſes Leben Stilpes beweiſen.
Der Teufel zieht gerne Unterröcke an. Das
wiſſen wir aus der Geſchichte mancher heiligen
Männer. Manchmal hat er aber auch ein „hölzin
Röcklin“ an und „liegt beim Wirt im Keller“.
Es giebt ein paar lehrreiche Seiten der Literatur¬
geſchichte, wo ſich Belege dafür finden.
Heilige und Dichter haben mehr mit dem Teufel
[49]Erſtes Buch, fünftes Kapitel. zu thun, als gute Chriſten und ſchwärmeriſche junge
Mädchen glauben.
Wer nicht mit allerhand Teufeln den Tanz
beſtanden hat, kann weder ein Gloriole noch den
Lorbeerkranz erhalten.
Und die Teufel, die allerhand Teufel, — es iſt
erſtaunlich, was ſie tanzen können. Zu Anfang
wiſſen ſie ſo ſanfte zu walzen, und es geht lieblich
dahin mit ihnen, aber auf einmal iſt der Wirbel
da, der in den Höllentrichter fegt.
Guter Gott, ich ſchreibe doch keine Dämonologie!
Aber mein Held will (oh Willibald!) Dichter
werden.
Der kleine Willibald ſchied ſich jetzt von ſeinen
Kameraden noch mehr ab, als früher. Einesteils
fühlte er ſich hoch erhaben über ſie, und andern¬
teils hatte er Furcht vor ihnen. Er empfand, daß
es keinen unter ihnen gäbe, dem er ſeine Geheim¬
niſſe verraten dürfte, ohne furchtbar ausgelacht zu
werden, und er hätte auch keinen für würdig ge¬
halten, ſein Mitwiſſer zu ſein. Auch war er viel
4[50]Stilpe. zu ſehr mit ſich beſchäftigt, als daß er Luſt hätte
haben können, ſich an ſie anzuſchließen.
Er fing an, mit ſich zu phantaſieren. In den
Schul- und Arbeitsſtunden ſowohl wie in der
freien Zeit ließ er ſeine Gedanken nach unbekannten
Dingen fliegen und machte groteſke Ungetüme von
Verſen daraus. Nebſtbei fing er auch an, auf alles
Gedruckte zu fahnden, was kein Schulbuch war. Der
Hauptinhalt all ſeiner Phantaſien war aber Buſch¬
kleppers Joſephine.
Er trug die Wärme von ihr, die er unterm
Katheder gefühlt hatte, mit ſich herum, und zu¬
weilen war es ihm, wie wenn er in einer lauen
Wolke ginge. Manchmal mußte er die Augen
zumachen, ſo ſtark überkam es ihn.
Wenn er ſie nur einmal ſehen könnte, ihr ein
Zeichen geben, dachte er ſich. Aber es ſchien, als
ob ſie gar nicht mehr da wäre. Jede Minute, die
er allein ſein konnte, verwandte er darauf, ihr
aufzulauern.
Es war im Herbſt, und ſo durfte er hoffen,
ſie einmal im Lehrergarten zu ſehen, der, in ver¬
ſchiedene Parzellen geteilt, für jeden Lehrer ein
Sondergärtchen enthielt. Aber immer war es nur
der alte Buſchklepper in ſeinem grauen Ziegenbarte,
[51]Erſtes Buch, fünftes Kapitel.den er botaniſierend dort wandeln ſah, oder die
Frau Buſchklepperin, von der unter den Jungen die
Rede ging, ſie prügele ihren Mann jede Woche
mindeſtens einmal. Das machte ſie unter den
Jungens zwar ſehr beliebt, aber für Willibalds
Zwecke genügte es doch nicht.
Etwa vier Wochen lang lauerte Willibald auf
Joſephine, da kam wieder ſo ein Selektanerabend,
der mit des Direktors Kegelvergnügen zuſammenfiel.
Diesmal waren Alkohol und Nikotin in den
Hintergrund gedrängt durch ein großes und
heroiſches Unternehmen. Einer von den Großen
hatte ſich den Schlüſſel zur Küche verſchafft, neben
der ein Keller voll Äpfel lag. Und es war die
Loſung verteilt worden, daß jeder Selektaner ſeinen
Reiſekoffer bereit halten ſollte zu einem Raubzuge
auf dieſe Äpfel. Nur ein paar Strunks waren
ausgewählt, Poſtendienſte zu leiſten. Es war ein
Beweis für das Vertrauen, das man Willibald ent¬
gegenbrachte, daß auch er der Vorpoſtenkette eingereiht
wurde. Der Poſtenkommandant aber war Fliczek.
Er hatte ſich zwar dagegen gewehrt und das
verantwortungsvolle Amt durchaus nicht annehmen
wollen, aber die übrigen Großen hatten ihn beim
Ehrenpunkte gefaßt und erklärt, er, als der
4*[52]Stilpe.Schlaueſte, müſſe unbedingt die Poſten leiten, wenn
er nicht für einen elenden Feigling gehalten ſein
wollte.
So rückten die Poſten, Fliczek an der Spitze,
aus. Leiſe, auf den Zehenſpitzen, obwohl dies
eigentlich nicht nötig war, ſchlich man durch die
langen dunkeln Corridore, dann ging es eine enge
Treppe hinunter in das Souterrain, und von hier
aus ſollte der Küchenbau umſtellt und eine Späh¬
ſpitze bis vor an das Direktorhaus geſandt werden.
Fliczek verteilte die Poſten, Willibald behielt er
zurück.
— Du mußt bis ans Direktorhaus, Stilpe.
Ich geh an Buſchkleppern ſeins. Wenn alles ruhig
iſt, pfeifſt Du, daß Rille in die Claſſe läuft und
die Andern ruft. Wenn der Direktor kommt,
klatſchſt Du und reißt aus.
— Was willſt Du denn an Buſchkleppern
ſei'm Haus? Da kommt doch niemand her!?
— Halt'n Rand und mach, was ich Dir ge¬
ſagt habe.
Willibald ging über den Hof geradeaus und
hörte, wie ſich Fliczek nach links entfernte.
Was wollte der zum Teufel denn dort? Willi¬
bald begriff durchaus nicht, weshalb man ſich gegen
[53]Erſtes Buch, fünftes Kapitel.den alten Buſchklepper durch einen Hauptpoſten
ſchützen wollte, vor dieſem alten Mann, der ganz
gewiß nicht in der Nacht revidierte.
Aber er ging, doch ein wenig ſtolz darauf, daß
er den gefährlichſten Poſten erhalten hatte, bis zum
Direktorhauſe und dachte einſtweilen nur an ſeine
Pflicht. Als er aber den vorſchriftsmäßigen Pfiff
gethan hatte und ringsum nichts Verdächtiges zu
bemerken war, da kam ihm plötzlich der Gedanke
an Joſephine.
Wenn ich durch den Lehrergarten hinten herum¬
ginge, dachte er ſich, ſo käme ich an die Hinter¬
thüre von Buſchkleppers Hauſe. Dort wird mich
Fliczek nicht merken, der natürlich an der Vorder¬
thüre aufpaßt. Vielleicht iſt hinten noch Licht, und
ich ſehe ſie.
Kaum, daß er ſich das gedacht hatte, war er
auch ſchon auf dem Wege. Der war zwar unbe¬
quem, denn er mußte immer über die Zäune ſteigen,
die zwiſchen den einzelnen Lehrergärtchen waren,
auch ſtieß er ſich bald an einen Baum, bald kam
er in ein Gebüſch, bald ſank er in ein Beet, aber
er wäre ja durch Meere geſchwommen, um in
Joſephinens Nähe zu kommen.
Er zählte die Stackete ab. Fünf hatte er nun,
[54]Stilpe. nach dem ſechſten war er in Buſchkleppers
Garten.
Herrgott, wie ihm das Herz ſchlug!
Da, eben, als er überſteigen wollte, hörte er
was flüſtern.
Himmel! Wer iſt das! Er ſchlich ſich nahe an
das Stacket, um genau zu hören, wo das Ge¬
flüſter herkam. Rechts hinten wars, drüben in der
Laube.
Er ſchlich das Stacket entlang nach rechts, der
Laube zu.
Das Geflüſter wurde vernehmlicher. Plötzlich
hörte er:
— Pſcht!
— Was denn?
— Da knackte was!
— Ä, nee!
Willibald wurde es ſiedendheiß. War das
nicht . . .?
Aber er ging näher. Und er hörte:
— Bleib doch noch e bißl!
— Nein, nein, ich muß zu den andern, ſonſt
merken ſie's.
— Ach, Du!
Da, an dieſem Ach Du! merkte Willibald, daß
[55]Erſtes Buch, fünftes Kapitel.die eine Stimme Joſephinens war, und mit einem
Male wußte er, daß die andre die Fliczeks ſein
mußte.
Eine jagende Wut überkam den kleinen Burſchen.
Mit einem Sprunge war er übers Stacket, mitten
in die Finſternis hinein.
Ein Aufſchrei rechts vor ihm. Nur ein paar
Schritte.
Noch ehe Fliczek davon konnte, war Willibald
dort und draſch auf den Fliehenden mit ſeinen
kleinen Fäuſten wie raſend los. Dann wandte er
ſich um und blieb vor Joſephine ſtehen:
— Du, Du, Du Luder, Du, Du Luder!
— Ja, Du, was willſt denn Du hier?
— Ich, ich, ich . . . Und nun heulte der arme
Junge los, daß das Mädchen ſeinen Schreck und
ſeinen Zorn über ihn vergaß und ihn tröſtete.
Er war ganz beſinnungslos und legte ſeine
Hände auf ihre Achſeln und lehnte ſeinen Kopf
darauf und ſchluchzte: Du . . . mußt . . . mir . . .
nicht böſe ſein, ich, ich . . . ach . . . Und er heulte
wieder.
— Nein, nein, ich bin Dir ja nicht böſe,
ich . . . ich bin Dir wirklich nicht böſe . . . nein,
aber nu geh doch, geh!
[56]Stilpe.
Da war der kleine Junge wieder ganz ſelig
und fiel dem Mädel um den Hals und drückte
ſie, preßte ſie, quetſchte ſie, daß ſie ihre Not hatte,
ihn von ſich abzuſtreifen. Ihr Geſicht war ganz
naß von ſeinen Thränen, und die offenen Haare
hingen ihr über die Bruſt vor. Sie ſahen einander
nicht, aber ihre Blicke hingen ineinander.
Schließlich verſetzte ihr Willibald einen Kuß,
ſo laut und ſchallend, daß ſie nun, ob auch ungern,
es für unumgänglich nötig hielt, ein Ende zu
machen.
— Nu geh, Du, mach, ſonſt kommt noch jemand.
Aber ſo geh doch!
Willibald ließ ſie nicht los.
— Du, ich ſchreie nu aber! Und wenn mei
Vater kommt!
Der Gedanke an den alten Buſchklepper brachte
Willibald zur Beſinnung.
— Ja, ja, aber nicht mehr mit Fliczek'n!
— Nee, nee, geh nur!
Willibald ließ ſie los und lief davon. Er lief,
als hätte er keinerlei Urſache, leiſe und vorſichtig
aufzutreten, er ſprang quer über den Hof, nach
dem Claſſenzimmer zu. Plötzlich zwang ihn etwas,
ſtehen zu bleiben.
[57]Erſtes Buch, fünftes Kapitel.
Herrgott, wenn jetzt die Andern geklappt ſind!
Und ich bin ſchuld daran!
Ich? Nee: Fliczek!
Und jetzt kam die Wut nochmals über ihn, und
ſtatt durch die Thüre zu gehn, ſprang er durchs
Fenſter in den Corridor.
Da roch es wundergut nach Äpfeln.
Das beſänftigte ihn. Leiſe ſchlich er ſich hinauf
in den Schlafſaal.
Nr. 172, auch ein Selektaner, lag noch wach
und kaute an einem Apfel:
— Was kommſt Du denn ſo ſpäte?
— Ich hab, ich hab gedacht, ich muß noch
Poſten ſtehn.
— I, Unſinn. Wir ſind ſchon lange oben.
Deine Äppel und Fliczek'n ſeine hat der lange
Ayrich. Willſt Du een'? Ich habs ganze Bette voll.
— Gieb nur!
Und auch der Apfel ſchmeckte gut.
Sechſtes Kapitel.
Als Willibald am nächſten Morgen erwachte,
war ſein erſter Gedanke Joſephine, ſein zweiter
Fliczek. Bei dem erſten war ihm linde und gut
zu Mute, bei dem zweiten ballte er die Fäuſte.
Er hatte die Empfindung, daß er ſich heute
ſeiner Haut zu wehren haben werde. Aber er
hatte keine Furcht.
Er ſoll nur kommen, der Böhmake, dachte er
ſich, und bei dieſer Gelegenheit regte ſich in ihm
zum erſten Male der Raufdeutſche. Er ſoll nur
kommen und mir was ſagen! Eine Schelle kriegt
er! Und er erſchauderte nicht vor dem Gedanken,
daß er, der Strunk, einen Großen ohrfeigen
wollte! So verrückt das Weib die Standes¬
unterſchiede.
Aber es kam anders. Der Tag wurde zwar
[59]Erſtes Buch, ſechſtes Kapitel.reich an Aufregungen im Inſtitute, aber juſt
Willibald wurde nicht davon betroffen.
Fliczek wußte offenbar nicht, von wem er ge¬
prügelt worden war. Er war ſehr niedergeſchlagen
und blaß, die einzige Farbe in ſeinem Geſicht war
ein blauer Fleck unterm rechten Auge; er ließ den
Kopf hängen und ſchien es nicht zu wagen, aufzu¬
blicken.
Willibald merkte ſofort, wie es ſtand, und es
kitzelte ihn, den gehaßten Böhmen zu reizen.
— Du, was haſt Du denn da für einen Fleck
im Geſichte?
— Was Dich nix angeht, Strunk dummer.
— Biſt wohl hingeplautzt bei Buſchkleppern
geſtern?
— Halt'n Rand, Strunk, oder ich . . .
— Na, was denn? Wenn ich doch blos fra¬
ge. . . Überhaupt: Warum biſt Du denn ſo gerannt?
— Haſt Du mich geſehn, Stilpe? Wo haſt
Du mich denn geſehen?
— Nu, Du biſt ja im Hofe an mir vorbeige¬
rannt, wie beſeſſen.
Das war kühn kombiniert von Jung-Willibald.
Wenn nun Fliczek gar nicht über den Hof gerannt
wäre? Aber er hatte richtig kombiniert.
[60]Stilpe.
— Ich, ich habe was kommen hören, und da
hab ich Leine gezogen. Ich dachte ſchon, ich wäre
geklappt.
— Und da biſt Du wohl hingefallen?
— Ja, da, an der Mittelthüre, auf die Treppe
hin. Was haſt denn Du aufm Hofe zu ſuchen
gehabt? Du haſt doch ſollen durch den Souter¬
rain zurück?!
— Ich hab Dir was ſagen wollen.
— Mir? Was denn? Warum denn? Du:
Haſt Du was gehört?
— Ja, eben, ich hab was gehört bei Buſch¬
kleppern hinten, und da hab ich gedacht: Das
muß ich Dir ſagen.
— Du haſt was gehört. . . . Wars laut?
Haſt Du auch was geſehn?
— Nee, s war ja ganz dunkel, aber ich hab
jemand ſchreien gehört.
— Du, Strunk, das ſag ich Dir: Daß Du
niemand was davon ſagſt. Sonſt ſetzſts Keile!
— Was ſoll ich denn ſagen? Ich weiß ja
gar nichts. Haſt Du denn etwa geſchrieen, Fliczek?
— Ich? Unſinn? Ich hab auch nichts ge¬
hört. Du haſt wohl geträumt vor Angſt, feiger
Strunk.
[61]Erſtes Buch, ſechſtes Kapitel.
Da hätte ihm Willibald von Herzen gerne
Alles durch eine Ohrfeige klargemacht, aber er war
doch zu klug dazu. Nur das konnte er ſich nicht
verkneifen, daß er ſagte:
— Ich weiß beſſer wie Du, wer feige iſt.
Worauf Fliczek nichts zu erwidern wußte, als
ein verächtliches: Strunk!
Dieſes Geſpräch fand nach dem Frühſtück ſtatt,
als ſich die Klaſſen zur Arbeitsſtunde in ihre
Zimmer verteilten.
Die Arbeitsſtunde ſelber hatte ein andres Aus¬
ſehen, als ſonſt. Es war ein merkwürdiges Ge¬
flüſtere unter den Jungen, zumal in den Ober¬
klaſſen. Unter den Bänken wurden Äpfel herum¬
gegeben, und häufig hörte man das Schnirpſen,
wenn Einer in einen Apfel biß. Dazu ein Ge¬
kicher und Blicke hin und her. Ein Triumph¬
gefühl ging durch Alle, und wenn ſie den beauf¬
ſichtigenden Inſpektor anſahen, ſo konnte man aus
den Blicken leſen: Der dumme Kerl weiß von nichts.
[62]Stilpe.
Auch während der Andacht hielt dies Weſen
an. Alle Hoſentaſchen der Selektaner ſtaken voller
Äpfel, und man griff ſich gegenſeitig an die Taſchen
und kicherte dazu. Als einer, mitten in dem ſehr
langen und feierlichen Gebete des Vizedirektors,
der mit Vorliebe Sprüche aus Jeſus Sirach ein¬
flocht, zu ſeinem Nachbar ſagte: Ich hab ſchon
Bauchkneipen, da ſetzte ſich dieſe Mitteilung im
Flüſtertone durch die ganze erſte Reihe fort, und
der Vizedirektor mußte in ſeinen Sirach ein
grollendes: Ruhe! einſchieben.
Aber ſchon nach der zweiten Unterrichtſtunde,
als die Körbe mit Dreierbrodchen eben an die
Thüre geſtellt waren, meldete ſich das Verhängnis.
Die dicke Küchenmeiſterin erſchien, ohne angeklopft
zu haben, in der 2. Selektaclaſſe, wo der Direktor
gerade Cornelius Nepos traktierte.
Entrüſtet blickte der Scholiarch die Frau an, und
ein aufgebrachtes Rhm! fuhr ihr entgegen. Sie
aber, ohne eine Spur von dem Reſpekte, der ſie
ſonſt nie verließ, ſchwappte bis an das Katheder
vor und rief mit erregter Stimme: Meine Äppel
hamſe gemauſt! Meine ſcheenen Äppel, die niſcht¬
nutzgen Jungen!
— Was behaupten Sie!?
[63]Erſtes Buch, ſechſtes Kapitel.
— Ich behaupte niſcht, Herr Derekter, ich be¬
haupte Se gar niſcht, ich ſage blos: Gemauſt ham
ſe ſe, alle ham ſe ſe gemauſt!
— Mäßigen Sie ſich! Gehen Sie in Ihre
Küche! Hier wird Schule gehalten!
— Aber, wenn ſe doch meine Äppel alle ge¬
mauſt ham, Herr Derekter!
In dieſem Augenblicke hörte man was fallen,
und ein großer rotbackiger Apfel rollte langſam
aus der erſten Bankreihe vor das Katheder.
Es war, als ob ſich der Apfel ſeiner Wichtig¬
keit für dieſen Augenblick bewußt wäre, mit ſo viel
Ausdruck, ja Würde rollte er. Als er zuletzt noch
ein paar Mal hin und her ſchwankte, war es wie
der Schlußappell in der Rede eines Staatsanwalts.
Aber es iſt Staatsanwälten nur ſelten be¬
ſchieden, ſo überzeugend zu wirken, wie es dieſer
ſchweigend beredte Apfel that.
Sämmtliche Selektaner machten eine unbewußte
Bewegung, als wollten ſie unter die Bänke kriegen,
die Augen des Direktors traten aus ihren Höhlen
und hatten ganz offenbar die Tendenz, in aller
Körperlichkeit unter die ſchuldbeladene Schülerſchaft
zu fahren, die Küchenmeiſterin aber warf ſich mit
dem Applomb eines trächtigen Elephantenweibchens
[64]Stilpe. auf den Apfel und ſchrie: Hammr nu den Beweis,
Herr Derekter? Hammr dn Beweis? Ob das
nich eener von mein Äppeln is? Na? Oh die
verfluchte Jungens, die Mauſehaken! Nee, ſo e
Volk! Fui Teifel, ſag ch, und noch emal: Fui,
ſchämt eich!
Und ſie ſetzte den Apfel mit der Wucht des
Triumphes auf das Katheder und fixierte bald die
Schüler, bald den Direktor.
Der ſprach: Rhm! Hm! Das iſt . . . Ich
ſage: Das iſt unerhört! Das iſt eine Schmach
ohnegleichen! Wer von euch . . .! Hm! Geſteht!
Ich ſage: Geſteht auf der Stelle, oder . . .! Hrm!
Ich werde ein Exempel . . . Rhm! . . .
Plötzlich veränderte ſich ſein Blick, und er
wandte ſich zornesvoll zur Köchin: Gehen Sie in
Ihre Küche, ſag ich! In Ihre Küche! In . . .
Ihre . . . Küche!!! Hier wird Schule gehalten!
Gehen Sie an Ihre Arbeit! Alles andre wird
ſich finden. Rhm!
Die Küchenmeiſterin ſah den Direktor erſchrocken
an und floh hinaus.
Jetzt aber verließ der Direktor das Katheder.
Niemand durfte zweifeln, daß etwas Fürchter¬
liches nahe bevorſtand.
[65]Erſtes Buch, ſechſtes Kapitel.
Es bezweifelte es auch niemand.
Gänſe beim Gewitter ducken ſich nicht ſcheuer,
als die braven Selektaner es thaten, während
der Direktor ſtampfend und keuchend auf und
ab lief.
So that er immer, wenn er Einen am Ohr
nehmen wollte.
Man kannte das.
Er hatte eine eigene Art, Einen am Ohr zu
nehmen; ſo eine gewiſſe Drehung, als wollte er
eine Thüre aufſchließen und der Schlüſſel ging
nicht.
Die in der vorderſten Reihe bereiteten ſich ſchon
vor, die Ohren zu ſchützen.
Aber es kam anders. Der Fall war zu aus¬
gedehnt. Denn der Direktor hätte vierzig Ohren
drehen müſſen.
Eine Maſchine wäre nötig geweſen.
Er plante Schlimmeres.
Plötzlich donnerte er: Rhm! Sämmtliche
Schlüſſel auf die Bank gelegt!
Die Schlüſſel klapperten herauf.
— Rhm! Primus, die Schlüſſel einſammeln!
Es geſchah.
5[66]Stilpe.
— Rhm! Hat die erſte Selekta auch ge¬
ſtohlen?
Kein Athemzug im ganzen Raume.
— Rhm. Ich frage: Hat . . .
— Ja! (Die guten Jungen liſpelten das wie
kleine Mädchen.)
— Ach, rhm, das iſt ja wirklich . . . ich ſage:
Das iſt ... in der That . . . rhm! Primus!
Der Primus erhob ſich und neigte das lilien¬
blaſſe Haupt.
— Geh in die erſte Selekta und bitte den
Herrn Doktor Box, er ſoll die Schlüſſel einſammeln
laſſen.
Der Primus fegte davon, froh, aus dem Bann¬
kreis dieſer rollenden Augen zu kommen.
Wir folgen ihm.
Doktor Box, ein Pädagoge voll Humor, hatte
eben einen Witz zum Beſten gegeben, und die
großen Selektaner wollten ſich vor Lachen aus¬
ſchütten, als der Abgeſandte des Zorns ſeine Bot¬
ſchaft ausrichtete.
Rups, wie brach da das fröhliche Ge¬
lächter ab.
Nur Doktor Box blieb fröhlich, und er ſprach:
[67]Erſtes Buch, ſechſtes Kapitel. Die adoleſcentuli ſollen ihre werten Schlüſſel auf
die Bank der Wiſſenſchaften und ſchönen Künſte
legen! Thuts, meine Lieben, thuts! Mir ſcheint:
Es ſtinkt in irgend einem Schranke? Oder in
allen?
Da klingelte es, und ſchon erſchien auch der
Direktor auf der Schwelle.
— Haben Sie die Schlüſſel, Herr Kollege?
— Hier ſind ſie. Was iſt denn geſchehen, Herr
Direktor?
— Sie haben, rhm, Diebe zu Schülern, Herr
Kollege!
— Na, ich danke!
— Es verläßt niemand das Zimmer! Beide
Selekten haben Zimmerarreſt bis auf Weiteres.
In der zweiten Selekta wurde der Zimmer¬
arreſt damit eingeleitet, daß man den Unglücklichen,
der den Apfel hatte fallen laſſen, gemeinſchaftlich
durchprügelte.
5 *[68]Stilpe.
Das iſt die Art, wie ſich die Verzweiflung des
Volkes gerne entlädt.
In der erſten Selekta ging ein Gemunkel von
Verrat, und man hatte natürlich die zweite Selekta
im Verdacht. Schon war man daran, über die
Strafen zu beratſchlagen, die hier am Platze waren,
da wurde Fliczek durch den Inſpektor heraus¬
gerufen.
— Der Hund! Die Petze! So ein Schuft!
Alſo der Czeche! Natürlich: Der Czeche!
Die entrüſtete Schaar ahnte nicht, daß ihnen
in dem beſchimpften Böhmen ein Blitzableiter er¬
ſtanden war.
Die Lehrerconferenz, vor deren Beſchluß die
beiden Selekten zitterten, befaßte ſich einſtweilen
gar nicht mit dem Raubzug auf die Äpfel, ſondern
mit einem viel gräulicheren Faktum: Mit „der un¬
glaublichen ſittlichen Verworfenheit dieſes entarteten
Burſchen da“, wie der Direktor ſich in gehobener
Rede ausdrückte, indem er auf Fliczek wies.
[69]Erſtes Buch, ſechſtes Kapitel.
— Wir werden uns nachher mit einer Ver¬
gehung zu befaſſen haben, die leider den beiden
Selekten, wie es allen Anſchein hat, ausnahmslos
zur Laſt fällt, mit einer Vergehung, die ſchlimm,
rhm, ſehr ſchlimm iſt, die wir aber im Vergleich
mit der Büberei dieſes Menſchen noch gelinde an¬
ſehen dürfen. Wir können, vielleicht, rhm, ich ſage:
vielleicht, annehmen, daß dieſes Vergehen der
Selektaner mehr ein übermütiger Jungenſtreich als
ein Beweis für böſe Luſt iſt. Aber hier, rhm,
hier, meine Herren Kollegen, hier iſt ſittliche Ver¬
lumptheit! Hier iſt, rhm, Seuchenſtoff gefährlichſter
Art! Hier iſt geil wucherndes Unkraut!
Der Vizedirektor, der die Steigerungstendenz
im Stile des Direktors kannte, erlaubte ſich, ein¬
zuwerfen, ob es nicht wohl angebracht ſei, den
Fliczek einſtweilen hinauszuſchicken.
— Rhm, ja, ja wohl, hinaus mit dieſem
Burſchen! Aber unter Bedeckung! Hinaus, ſag
ich, Fliczek!
Fliczek ging.
— Es iſt keine Frage, meine Herren, daß
wir, rhm, daß wir dieſen gefährlichen Buben
entlaſſen müſſen. Dank der Anzeige des Kol¬
legen Wippe, der nicht blos als echter Vater,
[70]Stilpe.ſondern auch als pflichtbewußter Pädagoge ge¬
handelt hat, und von dem wir nie etwas anderes
erwartet haben, iſt die Unzucht, rhm, ich ſage die
Unzucht . . .
— Bitte, Herr Direktor, nicht wol eben dies,
denn ſo weit wage ich meine Tochter nicht mit
anzuſchuldigen . . ., wimmerte Herr Wippe.
— Ich ſage doch: Unzucht, ohne daß ich das
Gräßlichſte anzunehmen verzweifelt genug wäre.
Denn ſchon der Gedanke, nächtlicher Weile . . .
aber genug! Wir haben, rhm, die Pflicht, auch
den Gedanken zu töten, der ... Aber genug und
gleichviel! Wir wiſſen, daß dieſer Bube auf
Schleichwegen geweſen iſt, und nicht zum erſten
Male, auf Schleichwegen, ſage ich, rhm, die keines¬
falls unſchuldiger Natur waren. Er ſelbſt hat
es nicht zu leugnen gewagt. Sein Auge — oh,
aber, rhm, genug! Wir müſſen ihn dimittiren.
Kollege Wippe hat ſich in rühmenswerter Auf¬
wallung entſchloſſen, ſeine Tochter, über deren An¬
teil an dem Entſetzlichen nicht wir zu befinden
haben, noch heute aus dem Hauſe zu thun, und
es muß auch dieſer Burſche heute noch das
Inſtitut verlaſſen. Wir ſchenken unſer ganzes
Bedauern dem ſchwer getroffenen Vormund des
[71]Erſtes Buch, ſechſtes Kapitel.Verworfenen, aber, rhm, wir müſſen das In¬
tereſſe unſerer Anſtalt über Alles ſtellen. Ich
zweifle nicht, daß Sie Alle einer Meinung mit
mir ſind.
Sie waren alle einer Meinung.
Für die Entſcheidung über den Raubzug der
Selektaner war dieſer Fall Fliczek ungemein
günſtig. Zum größten Erſtaunen der Delinquenten
erfolgte nur ein vierwöchentlicher Zimmerarreſt
und die Beſtimmung, daß die Selektanerarbeits¬
ſtunden nicht mehr abends, ſondern früh ſtatt¬
zufinden hätten. Das war freilich recht bitter, aber,
da man ſich natürlich auf ſehr viel Schlimmeres
gefaßt gemacht hatte, ſo durfte man es mit einem
halbwegs angenehmen Gefühle tragen.
Gruſelig und unheimlich wirkte das Ver¬
ſchwinden Fliczeks. Aber am unheimlichſten auf
Willibald. Es muß geſagt werden: Er hatte eine
fürchterliche Angſt.
Er war ja der Einzige, der den Zuſammenhang
ahnte. Aber: Hing denn nicht er ſelber auch damit
zuſammen?
[72]Stilpe.
Kein Zweifel: Joſephine war erwiſcht worden
und hatte Fliczek genannt.
Und ihn nicht?
Das that ihm einesteils wohl, aber andern¬
teils hatte er die Empfindung, als ob er da nicht
ganz als voll betrachtet worden ſei. Doch das
Schlimmſte war: Joſephine war fort.
Und jetzt fing er erſt recht an, Verſe zu machen.
Siebentes Kapitel.
Im Allgemeinen fühlte ſich der kleine Willibald
doch recht wichtig mit ſeinen Geheimniſſen, und
den alten Buſchklepper ſah er von nun an immer
nur ſo mit einem gewiſſen hohen Bedauern an.
Aber fatal war es ihm, daß er gar Niemand
hatte, den er ins Vertrauen ziehen konnte.
Auch wie er mit ſeinen Altersgenoſſen in die
Reihe der Großen kam, wo denn ſchon manchmal
ein wuchtig Wort geredet wurde, fand er keinen,
dem er hätte ſagen mögen, was jetzt ſeine Anſicht
vom Monde ſei. Er war ja auch ohne daß
mans ihm geſagt hatte dahinter gekommen, was
darunter zu verſtehen ſei, wenn Einer dem der
Schnurrbart erſchienen iſt, nächtlicher Weile auf
dem Monde ſpaziert. Nur fand er, daß es auch
ohne Schnurrbart ginge.
[74]Stilpe.
Denn er mit allen ſeinen Erfahrungen bekam
ſicherlich noch lange keinen.
Überhaupt, die Natur meinte es nicht gut mit
ihm. Er, der nun ſchon konfirmiert werden ſollte,
in die Gemeinde der Gläubigen aufgenommen, ſah
um drei Jahre jünger aus, als er war; und das
will in dieſen Jahren ſehr viel bedeuten, zumal bei
Einem, der ſich innerlich etwa drei Jahre älter
fühlt, als er in Wirklichkeit zählt, alſo ſechs
Jahre älter, als er ausſieht.
Das machte ſeine Stellung unter all den Jungen
noch fataler. Die Großen hänſelten ihn, weil er
ſie durch ſein kleinjungenhaftes Ausſehen gewiſſer¬
maßen komprommittierte, die Jüngeren ließen es
ihm zuweilen faſt merken, daß ſie ihn nicht ganz für
groß anſahen, und er ſelbſt fühlte ſich dabei im
Inneren ſehr viel größer, als die größten unter den
Großen.
Er zernagte ſich förmlich vor Ingrimm und
fing an, ſich gegen alle Welt hochfahrend zu be¬
tragen.
Die meiſte Zeit las er. Wahllos Alles, was
ihm unter die Hände geriet. Die Gedichte des
Leſebuchs kannte er auswendig, und es war ſein
Triumph, ſich darin auf die Probe ſtellen zu laſſen.
[75]Erſtes Buch, ſiebentes Kapitel. Sonſt fand er ſeine Luſt in einem wühlenden
Fabulieren. Während die Andern ihre Ballſpiele
trieben, lief er im Korridor auf und ab
und machte ſich zum Helden unmöglicher Ver¬
hältniſſe. Ein unglaublicher Ritter war er auf
einem ganz unglaublichen Pferde. Wenn dies
Pferd wieherte, fielen die Wälder um, und wenn
er blos ſein Schwert hob, fielen die Köpfe von
ganzen Armeen in den Sand. Aber, wenn die
Obſthökerin kam, ſo ſchwanden alle Phantaſieen,
und ſo lange er was Süßes zwiſchen den Zähnen
hatte, waren ihm ſeine Heldenthaten ganz gleich¬
giltig.
In der Schule taugte er wenig und am wenigſten
im Rechnen. Aber Deutſch und Religion, das
waren ſeine Gebiete. Er ſchrieb unorthographiſcher,
als es den Anſprüchen ſeiner Klaſſe gemäß war,
aber in ſeinen Aufſätzen war eine gewiſſe Art von
Liebe am Ausdruck.
Ungemein oft kam bei ihm das Wort Gott vor.
Gleichviel, was er zu ſchildern hatte: Den Bau des
Maikäfers, die Schlacht bei Salamis, die Pflicht,
fleißig zu ſein, die Ferienreiſe, — immer lief Alles
auf Gott hinaus.
Gott, das war ihm jetzt, was ihm Miokovitſch
[76]Stilpe. geweſen war, das ſchlechthin Große, Fabelhafte.
Den alten Paſtor, der ihm den Konfirmanden¬
unterricht erteilte, ſetzte er in ewige Verlegenheiten.
Was iſt Gott? fragte Paſtor Schulze.
— Ein koloſſales Weſen.
— Nicht doch, Stilpe. Wie heißt es im Kate¬
chismus?
Nun, das wußte er wol auch, Aber das ge¬
nügte ihm nicht.
— Herr Paſtor: Iſt Gott größer als das
Königreich Sachſen?
— Gott iſt ſo groß, daß ihn menſchliche Worte
nicht ausdrücken können.
— Herr Paſtor: Kennt mich Gott?
— Freilich, denn er kennt alle Dinge.
— Wenn ich bete, hört er mich?
— Freilich, freilich, und er freut ſich, wenn
Du beteſt.
— Wenn nun aber Rammer auch betet, wem
hört er denn da zu, Rammern oder mir?
— Dir und Rammern und Millionen anderen!
— Aber vergißt er denn nicht manchmal was?
— Nie, Stilpe, er weiß jeden Laut und jeden
Gedanken, ſelbſt das Summen der Biene ver¬
ſteht er.
[77]Erſtes Buch, ſiebentes Kapitel.
— Merkt er es auch, wenn ich nicht bete?
— Er merkt es und zürnt.
— Warum denn?
— Weil es Chriſtenpflicht iſt, zu beten. Er¬
innere Dich doch, was ich euch über das Beten
geſagt habe.
— Ja, ja, ich weiß. Aber, wenn er mir nun
nicht erfüllt, was ich bete?
— Schweig endlich und frag nicht unnütz.
Du haſt mir ſelber ja vorige Stunde ganz genau
und gut geantwortet. Bleibe feſt bei dem, was ich
Dich lehre. Gott liebt die unnützen Frager nicht.
Aber Willibald konnte es nicht laſſen, wenigſtens
für ſich zu fragen. Zwar glaubte er felſenfeſt,
was er im Katechismus gelernt hatte, denn es
gereichte ihm zu großer Genugthuung, daß er durch
ſolchen Glauben fähig werden ſollte, in die Ge¬
meinde der Gläubigen, was ſo viel wie der Er¬
wachſenen hieß, aufgenommen zu werden, aber das
war eine Sache für ſich, das war etwas Feſt¬
ſtehendes wie die Katechismusſtunde im Stunden¬
plan, das ging die Fragen eigentlich gar nicht an.
Er glaubte, weil es ja eine Schande geweſen
wäre, nicht zu glauben, und weil er zudem in der
Religion der Erſte war.
[78]Stilpe.
Das Fragen war mehr ein Spiel mit Gott.
Es ging ihm keineswegs tief. Es lief nicht auf
Zweifel hinaus, wollte nicht etwa dahin kommen,
daß plötzlich mal keine Antwort mehr da wäre.
Nein, es geſchah in der wunderbaren Zuverſicht,
daß man über Gott das Unmöglichſte erfragen
dürfe, und es würde doch immer eine Antwort
kommen. Überdies war Willibald trotz aller Worte
des Paſtors davon überzeugt, daß er gerade durch
ſeine Fragen Gott ſehr intereſſant werden müſſe,
und er fing einen förmlichen Sport damit an,
Alles in Beziehung zu Gott zu ſetzen.
— Wenn ich jetzt der Fliege ein Bein ausreiße,
ſo ärgert ſich Gott.
— Halt! jetzt werde ich ſo thun, als wollte ich ihr
ein Bein ausreißen. . . . Was für ein Geſicht
wird er da machen!
— Aber nein: Ich laſſe ſie fliegen. Jetzt freut
er ſich.
— Heute werde ich bei jedem Biſſen, den ich in
den Mund ſtecke, inwendig ſagen: Ich danke Dir
Gott! Und wenn ichs einmal vergeſſe, ſo will ich
nicht weiter eſſen.
Aber er führte es nur bei der Suppe durch.
Beim Braten vergaß ers bald und aß doch weiter:
[79]Erſtes Buch, ſiebentes Kapitel.Die Andern habens ja nicht einmal bei der Suppe
geſagt!
Chriſtus intereſſierte ihn viel weniger, und der
Heilige Geiſt gar nicht, obwohl er im Katechismus
über ſie ebenſogut beſchlagen war, wie über Gott.
Es wäre ihm nie eingefallen, Chriſtus etwa zum
Orakel zu machen, wie ers mit Gott unzählige
Male that, dem er die Entſcheidung über die gering¬
fügigſten Dinge ließ.
— Soll ich meine lateiniſchen Vocabeln noch
einmal durchgehen? Ich zähle bis zwanzig, und wenn
der Inſpektor ſich auf dem Katheder rührt, ſagt
Gott: Ja.
Aber, wenn ſich der Inſpektor rührte, ſo galt
dies doch nicht ſogleich, denn es mußte ein deutliches
Rühren ſein, und wenn er etwa bloß eine Hand
erhob, ſo hatte Gott ſchon Nein! geſagt, und das
Vocabularium wurde zugeklappt.
Es gab unter den Zöglingen auch einige
Katholiken. Die verachtete Willibald unſäglich.
Der Paſtor hatte durchaus nicht eigentlichen Anſtoß
dazu gegeben, aber es genügte ſchon das Wenige,
was er geſagt hatte, um Stilpe mit der Über¬
zeugung zu erfüllen, daß ſie mit ſeinem Gott nichts
gemein hatten.
[80]Stilpe.
Unter den Jungen fehlte es nicht an Schimpf¬
namen gegen die katholiſche Minderheit. Die ge¬
brauchte Stilpe ſelten oder gar nicht. Aber „ſo
ein Katholiſcher“ kam ihm innerlich wie aus¬
ſätzig vor.
Da die meiſten Katholiken unter den Schülern
Ausländer waren, ſo erhielt dieſes Gefühl der ſtillen
Verachtung noch einen Beiton von Deutſchgefühl.
Darin war er auch ſonſt ſehr ſtark. Ein „Barden¬
lied“ von Willibald begann mit den Worten:
Wir Germanen ſchleudern mit Speeren
Nach Römern und nach Bären
Und trinken Meth!
Unter Meth ſtellte ſich Stilpe etwas ungemein
Süßes vor, das aber doch wie Lagerbier wirkte.
Alles in Allem hatte Gott nebſt den allerlei
anfliegenden Idealempfindungen von germaniſchen
Urwäldern, Blücher, Kaiſer Wilhelm, Moltke den
Sinn Willibalds vom Monde etwas abgelenkt.
Es war nur noch ſo etwas wie eine heiße Dehnung
in ihm, ein Gefühl, gemiſcht aus unſagbarer Sehn¬
ſucht und augenirrender Furcht.
Er hätte jetzt nicht mehr den Mut gehabt, wie
damals, als er Fliczek davonprügelte. Er fürchtete
ſich vor den Mädchen, ſobald er einmal eine zu
[81]Erſtes Buch, ſiebentes Kapitel.ſehen bekam, und empörte ſich dann über dieſe
Furcht.
Aber manchmal geſchah es doch noch, daß er an
Buſchkleppers Garten ging und ſeine Hände auf
das Gartengeländer lehnte, ſtarr nach der Laube
hinüberlugend voll heißeſter, wirreſter Wallungen.
Das ſtammelte er dann Alles in Verſen über
Thusnelda aus, die Gattin Armins des Befreiers.
Zweites Buch
Das Jünglinglein
Ich rate Dir, mein Junge,Bewahre Deine ZungeUnd hüte Deinen MagenVorm Obſte, wenns noch grün.Schwer iſt es zu vertragen,Es macht VerdauungsmühnUnd anderweite Plagen.
Erſtes Kapitel.
— Was iſt denn das? Schämt ihr euch
nicht? Obertertianer, die ſich wie die Quartaner
balgen! Laßt los, ſag ich! Stilpe, wenn Du noch
einmal zuſchlägſt!
Der ſtämmige Turnlehrer Stürz kam in muſter¬
giltigen Sätzen hinter den Kletterſtangen hervorge¬
ſprungen zum zweiten Reck, wo die Obertertianer
der leipziger Thomasſchule mit Kennermiene um
einen lebendigen Knäuel herumſtanden, der ſich bei
den gellenden Rufen des Turngewaltigen langſam
entwickelte und als deſſen Beſtandteile ſich unſer
Freund Stilpe nebſt ſeinem Klaſſengenoſſen Gir¬
linger präſentierten.
— Was hats gegeben? In einem Vierteljahr
ſoll man euch ſiezen, und jetzt wälzt ihr euch in
der Lohe wie die kleinen Jungen. Wollt ihr euch
[86]Stilpe.nicht wenigſtens gefälligſt entſchuldigen? Wer hat
angefangen?
— Stilpe. Er hat mich geohrfeigt. Da hab
ich ihm einen Magenſtoß verabreicht.
Girlinger ſagte das mit der Ruhe eines
Statiſtikers, obwohl ihm die Naſenflügel noch vor
Zorn bebten. Es war ein ſchmächtiger, ſchwarz¬
haariger Burſche mit ungemein lebhaften Augen,
einer reichlich großen aber ſchmalrückigen und ſchön
geſchwungenen Naſe und einem Anflug von
Schnurrbart.
Stilpe machte ſich nicht gut neben ihm. Er
war dicker, ſtämmiger und hatte etwas von einem
Bulldogg. Seine Lippen waren aufgeworfen wie
bei einem Kalmücken, ſeine Naſe hatte gleichfalls
die Tendenz nach oben, ſeine Augen waren klein
und wäſſerig blau. Dazu ſchwarzes, ſtarres Haar,
das zu weit in die Stirn ging und ein paar
Wirbel zu viel hatte, und Pockennarben übers
ganze Geſicht.
Der kleine Willibald hatte ſich beträchtlich ver¬
ändert, bis ers zum Obertertianer gebracht hatte.
Selbſt ſeine gute Mutter fand, daß er ein bischen
„zu charakteriſtiſch“ geworden wäre, wie ſie ſagte.
[87]Zweites Buch, erſtes Kapitel. Auch ohne die Pockennarben wäre er kein Adonis
geweſen.
Dazu trug er ſich recht ſonderbar. Etwas
wild-weſtartig und nicht eben ſorgfältig. Ein
ſchwarz karrierter Anzug, deſſen Grundfarbe ein
lehmiges Gelb war; dazu ein flatternder grüner
Hängeſchlips. Alles in einem liederlichen Zu¬
ſtande, der jetzt noch beſonders zur Geltung kam,
wo die Jacke durch die Balgerei einen Riß be¬
kommen hatte.
— So, Stilpe! Alſo Du ohrfeigſt den Primus
Deiner Klaſſe. Natürlich, wer faſt der Letzte iſt,
muß ſeinen Zorn an den beſſeren Schülern aus¬
laſſen. Willſt Du die Güte haben und ſagen, wie
Du zu dieſer Lümmelei gekommen biſt?
Stilpe kräuſelte ſeine Oberlippe noch etwas
nach oben und ſetzte ein ſehr verächtliches Geſicht
auf. Dabei zuckte er die Achſeln und wiſchte ſich
die Lohe von den Kleidern.
— Alſo wirds bald!?
— Ich mag nicht denunzieren.
— Was magſt Du nicht? Denunzieren ſagſt
Du? Hört mal, leiht euerm Kameraden doch Heyſes
Fremdwörterbuch; er ſcheint nicht zu wiſſen, was
denunzieren heißt.
[88]Stilpe.
Jetzt ſtampfte aber Stilpe mit dem Fuße auf:
— Ich weiß ſehr wohl, was Denunzieren be¬
deutet, und gerade darum ſage ich nicht, weshalb
ich den Herrn Primus verdientermaßen geohr¬
feigt habe.
— Höre, Stilpe, jetzt wird mirs zu bunt.
Mit Frechheiten kommſt Du bei mir nicht durch.
Wenn Du nicht auf der Stelle Antwort giebſt,
meld ich die Sache, und dann läuft ſie übel für
Dich ab, das weißt Du.
— Das weiß ich. Aber ich kann nicht ant¬
worten . . . d. h., wenn Girlinger mich vielleicht
ermächtigt? . . .
— Ja, zum Donnerwetter, ihr ſeid wohl nicht
recht. . . Girlinger, was iſts!?
Girlinger machte eine bedeutende Geſte und
ſagte mit kühler Gelaſſenheit: Stilpe hat meine Er¬
mächtigung.
Dieſe ironiſche Ruhe brachte Stilpen ganz außer
ſich. Das war es ja überhaupt, was ihm am
Primus ſo widerwärtig war, dieſe infame Ruhe
und Gleichmütigkeit. Girlinger war der Einzige
in der Klaſſe, der ihm imponierte, der Einzige, mit
dem er „über Dinge“ ſprach, aber immer endete
es auf ſeiner Seite mit Wutausbrüchen, weil dieſer
[89]Zweites Buch, erſtes Kapitel. ſich nie dazu herbeilaſſen wollte, warm zu werden.
Er, Stilpe, fuhr immer mit Kanonen auf, und
Girlinger that ſo, als könne er alles mit ſeinem
Taſchentuch wegwedeln.
Alſo Stilpe brach wütend los:
— Gut! Wenn er mir's ſchon geſtattet . . .
Gut! Ich habe ihn geohrfeigt, weil er Bismarck
beleidigt hat!
Ein ſchallendes Gelächter brach los. Auch der
rotbärtige Stürz lachte.
— Ah, eine politiſche Ohrfeige! Ja dann,
meine Herren, bin ich nicht kompetent. Das ge¬
hört vor den Reichstag. Wir wollen einſtweilen
im Klimmzug fortfahren.
Stilpe hätte in die braune Lohe greifen und
ſie dem Turnlehrer ins Geſicht ſchmeißen mögen.
Jede Strafe wäre ihm willkommen geweſen, aber
dieſer Hohn traf ihn ſchmerzlich. Er wurde blaß
vor Zorn und ballte die Fäuſte.
Aber auch Girlinger war blaß geworden.
Dieſes Gelächter traf ihn mit. Er fühlte ſich plötz¬
lich mit Stilpe auf der einen und alle Andern auf
der andern Seite.
Als die Turnſtunde aus war, und die Schüler
truppweiſe nach Hauſe gingen, trat er auf Stilpe zu.
[90]Stilpe.
— Du, Stilpe, wenn Du wieder mal roh
werden willſt, dann ſuch Dir wenigſtens eine Ge¬
legenheit, wo wir alleine ſind. Oder gefällt Dirs,
wenn die Bande ſich über Dich amüſiert? Mir
gefällt ſo was nicht.
— Mir auch nicht. Ich möchte ihnen Allen
in den Bauch treten. Elende Hunde Alle mitein¬
ander, und zumal dieſer Turnpauker. Herrgott,
na. . .! Übrigens, was willſt denn Du bei mir?
Ich denke, ich bin ein deſolater Reaktionär?
— Ach, laß doch das. Wir können uns doch
unterhalten, wenn wir auch verſchiedener Meinung
ſind. Wir ſind ja doch die Einzigen, die überhaupt
Meinungen haben. Oder willſt Du Dich vielleicht
mit Pahlmann über Bismarck unterhalten? Oder
mit Schirmern? Oder mit Cohn? Die Drei haben
vorhin am lauteſten gewiehert.
— Ach was, ich geh kneipen.
— So. Ich geh nach Hauſe.
— Das wußt ich vorher. Du biſt ja der
ſolide Knabe Primus. Weißt Du, wie eine Kellnerin
ausſieht?
— Das intereſſiert mich nicht.
— Dafür intereſſiert Dich dieſer Schweinehund,
der Laſſalle.
[91]Zweites Buch, erſtes Kapitel.
— Gott, Stilpe, der Mann iſt höchſtens ein
Schweinehund geweſen. Er iſt nämlich ſchon ſeit
einer ganzen Reihe von Jahren tot.
— Ach! Willſt Du mir nicht die Jahreszahl
nennen? Weißt Du, was Du biſt? Ein Protz biſt
Du! Bildſt Dir wunder was ein, daß Du ein
bischen mehr von ſolchen Sachen weißt wie ich.
Wenn mein Vater Staatsanwalt wäre und ſolche
Bücher hätte, könnte ich auch Sozialdemokrat
ſein, d. h., wenn mir das nicht zu niederträch¬
tig wäre.
— Ich kann Dir ſie ja zu leſen geben. Das
iſt geſcheidter, als mit ſechzehn Jahren in Bums¬
kneipen zu gehn.
— Bumskneipen? Du ſagſt Bumskneipen?
Du meinſt alſo, dieſe Mädchen ſind gemeine Frauen¬
zimmer? Wahrhaftig Du, ich ſage Dir, es
giebt nichts Reineres und Schöneres als z. B.
Martha.
— Was geht mich denn Deine Martha an?
— Du haſt doch Bumskneipe geſagt! Wie
kommſt Du denn dazu, jemand zu beleidigen, den
Du nicht kennſt? Aber Du ziehſt eben alles Edle
in den Staub. So machſt Dus mit Bismarck und
ſo mit Allem. Du kannſt nichts als kritiſieren und
[92]Stilpe.nörgeln. Alles Ideale iſt für Dich blos dazu da,
es ironiſch ſchlecht zu machen. Man könnte Dich
für einen Juden halten, und Du lieſt auch blos
Juden. Ewig mit Deinem Börne und Laſſalle
und dieſen andern Mauſchelmeiern, dieſen ekelhaften
Kerlen, die eine Schande für das deutſche Vater¬
land ſind! Pfui!
— Aber Du kennſt ja nicht ein Wort von
Börne und Laſſalle! Lies ſie doch mal! Lies doch
mal Börne! Schimpf doch nicht über das, was Du
nicht kennſt. Das ſind ja alles blos Phraſen.
— Haſt Du nicht Bumskneipe geſagt? Kennſt
Du denn die Martha? Kennſt Du denn das
Lokal? . . . Weißt Du was: Komm jetzt mit hin,
und dafür will ich dann Börne leſen.
— Ach Gott, das iſt mir ſo unangenehm, ganz
abgeſehn davon, wenn wir geklappt werden.
— Herrlich! Da haben wir den Revolutionär!
Feige biſt Du, wie dieſe ganze Judenbande, die auch
blos das große Maul haben.
— Mach Dich nicht lächerlich. So mutig bin
ich ſchließlich auch, abends, wenns dunkel iſt, in
ſo ein Loch zu kriegen, wo doch kein Pauker hin¬
kommt.
— Alſo komm mit!
[93]Zweites Buch, erſtes Kapitel.
— Blos, damit Du ſiehſt, daß ich nicht feig
bin. Aber dann lieſt Du auch Börne!
— Mein Ehrenwort, Girlinger, meine rechte
Hand! Komm! Es ſind blos ein paar Schritte.
Paß auf, Du wirſt ein Mädel kennen lernen . . .!
Zweites Kapitel.
Dieſe Martha war eine ſchöne, ſchlank üppige
Perſon von etwa zwanzig Jahren mit dunkelblauen
Augen, zwei langen blonden Zöpfen und ſehr blaſſer
Geſichtsfarbe. Sie hätte zu irgend etwas ſehr
Unſchuldigem Modell ſtehen können, und wie ſie
ausſah, ſo ſtellen ſich ſämmtliche Backfiſche Fauſts
Gretchen vor. Dazu hatte ſie eine ſehr liebe, linde
Stimme und die allerweichſten, rundeſten Be¬
wegungen. Profeſſor Thumann hat dieſen Typus
in die Seele der deutſchen Bourgeoiſie gemalt, und
wir begegnen ihm noch immer auf Wäſchekartons,
Cigarrenkiſten und Glaube-Liebe-Hoffnung-Bunt¬
drucken.
Damit wird es begreiflich erſcheinen, daß der
ſechzehneinhalbjährige Stilpe, öffentlicher Ober¬
tertianer und heimlicher Dichter, Vaterlands¬
[95]Zweites Buch, zweites Kapitel.ſchwärmer und Idealiſt, unendlich täppiſch ver¬
liebt in dieſes Mädchen war. Sie erſchien ihm
als der Inbegriff deſſen, was er früher in
dem Idealbilde der Thusnelda verehrt hatte.
Nur kam nun noch das Gretchen aus dem Fauſt,
das Käthchen von Heilbronn und die Lindenwirtin,
die Feine, dazu. Dies, ſoweit es ſich in ſeinen
Verſen ausſprach, die er ausgiebig zum Lobe dieſes
Mädchens hervorbrachte, und deren Idealismus ihm
bitter ernſt war.
Aber es gab auch noch einen andern Geſichts¬
winkel, unter dem er dieſe Martha anſah. Jener
Idealismus war mehr das Gefühl aus der Ent¬
fernung, eine Diſtanceſchwärmerei, eine bewegte
Andacht hinter blauen Weihrauchnebeln. Zuweilen
aber geriet der ſchwämeriſche Beter durch dieſen
duftenden Nebel hindurch und kam auf weiches
Fleiſch. Und, ſiehe, mit einem Ruck war die
Situation verändert. Die Gefühle bekamen ein
anderes Tempo und einen anderen Thermometer¬
grad; irgend etwas in ihm ſchien ſich zu überſchlagen,
irgend etwas pochte von innen an die Wände
ſeines Leibes, — es wurde da etwas lebendig, das
nicht Idealismus war. Der gute Junge hatte böſe
Tage und böſere Nächte dabei. Es warf ihn ge¬
[96]Stilpe.waltig hin und her, und durch ſeine ſchwärmeriſchen
Verſe quollen zuweilen abſonderliche Töne eines
unheimlichen Drängens aus der Tiefe.
Ich glaube, für die Augen der Götter ſah
ſeine Seele damals aus wie ein Glas voll Feder¬
weißem, in dem die Gährſchichten durcheinander¬
wallen und die Blaſen ſteigen. Vielleicht richten die
Götter derlei blos an, weil ihnen dieſer Federweiße
der menſchlichen Pubertät beſonders ſchmeckt. Für
den Menſchen ſelber aber iſt dieſer Zuſtand keine
ungemiſchte Freude.
Stilpe verkam ſichtlich dabei. Er war beim
Austragen eines weſentlichen Stückes ſeiner ſelbſt:
Er ging mit ſeiner Mannheit ſchwanger. Vielleicht
war es zu früh, daß es ihm ſo viel Qualen
machte?
Da war es ein großes Glück für ihn, daß er
nun als Ablenkung Ludwig Börne kennen lernte.
Er ſtürzte ſich auf dieſen vielbeweglichen blendenden
Geiſt, wie eine Frau, der es in der Hoffnung nach
Dingen gelüſtet, die ihr vielleicht ſchädlich ſind, im
Augenblicke aber wohlthun. Es verging kein Monat,
und er war ein wütigerer Revolutionär, als ſein
Freund Girlinger. Selbſt ſeine deutſchen Aufſätze
in der Schule brachten Äußerungen zu Tage, die
[97]Zweites Buch, zweites Kapitel. über das erlaubte Maaß der Lobpreiſung antiker
Freiheitshelden wie Harmodios und Ariſtogeiton
hinausgingen.
Aber in ſeinen Tagebüchern rumorte ſich die
Empörung ſeines Wortſchatzes am wildeſten aus.
Dort fanden ſich in wunderlichem Nebeneinander
die Namen von Gajus und Tiberius Gracchus,
Catilina, Marat, Danton, Robespiere, Auguſt
Bebel und Eugen Richter. Für Majeſtätsbe¬
leidigungen hatte er ſich eine eigene Geheimſchrift
erfunden. Der vor vier Wochen noch angebetete
Name Bismarcks war von nun an durch das
Zeichen eines Dolches wiedergegeben, wofür die
Erklärung lautete: „Man kann das nehmen, wie
man will. Entweder als den Dolch, mit dem
dieſer hochfahrende Strunkjunker die Freiheit
Deutſchlands hingemordet hat, oder als den Dolch,
mit dem er . . .? . . .“
Die Freiheit Deutſchlands hatte übrigens auch
ihr Geheimzeichen („denn ſie iſt ganz und gar
verboten“), nämlich ein Epſilon und Gamma, was
heißen ſollte: Eleutheria Germanias. Dieſes Epſilon
Gamma ſchnitt ſich der entflammte Demokrat ſogar
auf ſeinen linken Unterarm ins Fleiſch; aber nicht
ſehr tief.
7[98]Stilpe.
Es verſteht ſich, daß auch der Herrgott übel
wegkam in dieſem Tagebuche:
„Was iſt denn Gott? Ein Subſtantivum
generis masculini. Oder ein Eigenname? Aber
was für ein Weſens damit gemacht wird! Wozu
denn nur? Das gute Lumen (das war der
Religionslehrer) ſieht nie ſo dumm aus, als wie
wenn es Gott ſagt. Liegt das nun an dieſem
Subſtantivum oder am Lumen? Ich muß Gir¬
linger fragen.“
„Übrigens ſollen ja auch große Leute an Gott
geglaubt haben. Girlinger behauptet ſogar, ſie
hätten ihn erfunden. Wer weiß, wo er das her
hat. Er lieſt jetzt viel Philoſophiſches. Wenn
nur Kant nicht ſo dunkel wäre. Dieſe verfluchten
langen Perioden. Schopenhauer geht eher. Aber
es iſt entſetzlich, wie er über die Weiber ſchimpft.
Ich glaube, man muß ein alter Knacks ſein, um
dieſe Philoſophen leſen zu können.“
„Das Lumen (man ſollte es die Funzel nennen)
ſagt, Gott ſei wie die Luft, die man auch nicht
ſieht, aber ſpürt, und ohne die man nicht leben
könne. Dann iſt die Philoſophie wohl eine Luft¬
pumpe. Man ſetze die Funzel hinein, und ſie
wird verlöſchen. Deshalb hat ſie auch ſo einen
Abſcheu vor der Philoſophie.“
Zuweilen gab es aber auch Verzweiflungsaus¬
brüche in dieſem Tagebuch, ſo ſehr Stilpe auch be¬
müht war, in ihm den ſcharfen Geiſt zu poſieren,
deſſen Atheismus über jeden Zweifel und jede Angſt
erhaben war. Dann türmte er bedenkliche Jamben-
Quadern aufeinander:
7 *[100]Stilpe.
Jeden Sonntag kam Girlinger zu Stilpe und
ließ ſich von ihm das Tagebuch zeigen. Er war,
bei aller eigenen Unreife, doch viel reifer, als
jener, denn er hatte vielmehr Verſtand und war
wirklich fleißig hinter der Literatur her, die er
Stilpen zutrug. Vor Allem kam ihm zuſtatten,
daß er alle die zu frühe Gedankenkoſt kühl in ſich
aufnahm, während ſie Stilpe heiß verſchlang.
Auch ließ er ſich, trotz ſeiner Jugend, nicht ſo
leicht blenden, und wenn er auch merkwürdig viel
Sinn für das Brillante in Stil und Gedanken
hatte, ſo nahm er das doch ſchon mit einer Art
von Kennerſchnalzen hin, während Stilpe ſofort
wie überſchüttet und überglänzt war und Alles
am liebſten gleich ſubjektiv für ſich zur That ge¬
macht hätte.
Der Fleiß fehlte ihm, wie in der Schule, ſo
auch hier. Keines der Bücher, die ihn wild be¬
[101]Zweites Buch, zweites Kapitel. geiſterten, las er fertig, und Sitzfleiſch hatte er
nur in der Kneipe bei Martha.
Eines Tages kam er auf Girlingers Wohnung
geſtürzt.
— Biſt Du allein?
— Meine Schweſtern ſind im Wohnzimmer.
— Können ſie hören, was wir ſprechen?
— Wenn ſie nicht horchen: Nein!
— Aber ſie werden horchen, natürlich!
— Unſinn, ſie machen ihre deutſchen Aufſätze.
— Nein, ich kann das hier nicht ſagen.
— Was denn?
— Es . . . es . . . Komm nur! Komm!
Ins Freie!
— Ja, was haſt Du denn nur?
— Ach, es iſt ſchrecklich! Schrecklich!
Sie gingen zuſammen in den Garten, den
Stilpes Pflegeeltern vor der Stadt hatten.
— Alſo, was iſt denn los? Du ſiehſt ja ganz
blaß aus!
— Wie? Sieht man mirs an? Nicht wahr,
ich bin furchtbar blaß?
[102]Stilpe.
— Ja, blaß biſt Du . . . Und außerdem ſtinkſt
Du nach Sprit.
— Ja, ich habe ſechs Glas Bier getrunken.
— Pfui Teufel, und natürlich dieſes gräßliche
Lagerbier in der Auſtria.
— Ja, aus Verzweiflung Girlinger. Denke
Dir nur . . . Martha . . .! Ach Gott!
— Ich kann mirs wirklich nicht denken. Daß
der Engel einen Bräutigam hat, der Unteroffizier
iſt, weißt Du ja ſchon ſeit vier Wochen.
— Ach, ich bitte Dich, ſei nicht ſo ſpöttiſch
jetzt. Es iſt zu furchtbar.
Er war wirklich wie zerſchmettert. Girlinger
fühlte Mitleiden mit ihm, und wie ſie im Garten
angekommen waren, redete er ihm ſehr teilnahms¬
voll zu, ſich ihm auszuſchütten.
Es war ein kleiner Mietsgarten zwiſchen an¬
deren von der gleichen quadratiſch angelegten Art.
Selbſt in der ſchönen Jahreszeit ſah er troſt¬
los öde aus mit ſeinen kleinen nach der Schnur
gepflanzten Bäumen, den kümmerlichen Sträuchern
und den harten gelben Kieswegen. Jetzt, da es
Spätherbſt war, die kahlen Bäume wie Beſen
aufragten, verfaultes Laub in den ſchwarzen Beeten
lag und ein kalter Wind unter grauem Him¬
[103]Zweites Buch, zweites Kapitel. mel ging, machte er einen völlig jämmerlichen
Eindruck.
Da ſie keinen Schlüſſel hatten, ſprangen ſie
über das Stacket. Plötzlich rief Stilpe: Wo iſt
denn die Bank?! Nicht einmal eine Bank
iſt da!
Wütend rannte er im Garten herum. Es kam
ihm unbewußt ſehr gelegen, daß er Urſache zu
einem Wutausbruch fand.
— Wir können ja hin- und hergehn!
— Nein! Ich will eine Bank! Ich bin wie
zerſchlagen! Ich muß ſitzen!
— Aber, wenn doch keine da iſt?
— In der Baracke ſind ſie. Wart! Ich werde
ſie gleich haben!
Und er ſtürzte zum Gartenhaus, rüttelte erſt
mit den Händen an der Thür und trat dieſe dann
mit den Füßen ein.
— Hö! Bänke genug!
Und er ſchleppte eine heraus und ſtellte ſie
mitten auf den Weg.
— Da, ſetz Dich!
— Ich brauche nicht zu ſitzen. Ich bin nicht
„zerſchlagen“ wie Du, denn ich bin nicht betrunken.
Übrigens werde ich gleich wieder nach Hauſe gehn,
[104]Stilpe. denn ich habe beſſeres zu thun, als Deine Rohheiten
mit anzuſehn.
Jetzt wurde Stilpe wieder weinerlich.
— Setz Dich doch, ich bitte Dich, ſetz Dich.
Ich muß . . . ach Gott, ſei mir nicht böſe . . .
Ich bin ja ſo . . .
Girlinger ſetzte ſich auf die Bank und ſah vor
ſich auf den Boden. Stilpe ſtellte einen Fuß auf
die Bank und ſtützte den Kopf in die rechte Hand.
Große Thränen rannen ihm aus den Augen.
Lange konnte er nicht ſprechen. Dann ſagte
er ganz leiſe:
— Kennſt Du das Haus mit den weißen
Fenſterſcheiben gegenüber der Auſtria?
— Das Puff?
Stilpe ſchlug ſich mit der Fauſt aufs Knie
und ſchrie: Da drin iſt ſie!
Girlinger ſah auf und pfiff durch die Zähne.
Dann ſagte er ſehr bedächtig: So, ſo! Ja, ja!
Da packte ihn Stilpe an beiden Schultern und
ſchüttelte ihn wütend:
— Du biſt ein Vieh! Ein Amphibium! Geh
aus dem Garten, oder ich ſchmeiße Dich naus!
— Biſt Du denn verrückt geworden? Jetzt hör
aber auf! Was fällt Dir denn ein? Glaubſt Du,
[105]Zweites Buch, zweites Kapitel.ich bin für Deine Grobheiten da? Das war das
letzte Mal!
Er wollte gehen.
Aber nun hielt ihn Stilpe wieder feſt und
drückte ſeine Hände, und indem ihm Thräne auf
Thräne über die Backen lief, rief er aus:
— Ich weiß ja nicht, was ich ſage, ich weiß ja
nicht, was ich thue, ich bin Dir ja ſo dankbar;
Du mußt mir alles verzeihen, was ich ſage, ich
bin ja ganz zerſchlagen.
Girlinger bekam jetzt Angſt vor ihm. Dieſes
Weinen war gräßlich, und all dies Gehaben war
ihm ſo fremd. Er glaubte im Ernſte, daß ſein
Freund verrückt geworden wäre, und fing an, ihn
wie einen Kranken zu behandeln.
— Sei nur ruhig, Stilpe, ich bring Dich jetzt
nach Hauſe. Du biſt ſo aufgeregt. Du mußt ins
Bett gehen. . . . Und übrigens: Iſt es denn auch
ſicher?
— Sie hat mirs ja geſchrieben; ſie hat mich
ja eingeladen, ich ſoll ſie in ihrer neuen Stellung
beſuchen . . .
Girlinger hatte was Ironiſches auf den Lippen,
aber er bezwang ſich.
— Ach Gott, wer weiß, was dahinter ſteckt.
[106]Stilpe.Es iſt vielleicht gar nicht ſo ſchlimm. Überhaupt:
Was iſt denn ſchließlich dabei? Erinnere Dich, was
Laſſale über die Proſtitution ſagt. Es iſt mehr
ein Opfer, als eine Schande. Und die ſchlimmſten
Huren ſind nicht in den Bordells.
So, mit vielen Citaten, abgeklärten Sentenzen
und ein paar hiſtoriſchen und ethnographiſchen
Excurſen ins alte Griechenland und nach Japan,
tröſtete er ſeinen zerſchmetterten Freund nach Hauſe.
Drittes Kapitel.
Nicht lange nach dieſer herbſtlichen Gartenſcene
wurde Willibald Stilpe, im Alter von 16¾ Jahren,
von ſeiner Mannheit entbunden.
Damit ging eine merkliche Veränderung in ihm
vor. Er bekam etwas Renommiſtiſches, Überhobenes
und trug eine Verachtung ſeiner Klaſſengenoſſen,
Girlinger eingeſchloſſen, zur Schau, die ſich von
der, die er ſchon immer gezeigt hatte, deutlich unter¬
ſchied. Früher war darin etwas Erzwungenes ge¬
weſen, als ſei er ſich doch nicht völlig klar über
ſeine Berechtigung dazu, jetzt hatte ſie etwas ſehr
Entſchiedenes, ſehr Selbſtbewußtes. Er trat dieſen
Obertertianern gegenüber, wie ein Mann, der von
einer Reiſe in unbekannte Länder nach Hauſe zu
Leuten kommt, die noch nicht den Äquator über¬
ſchritten haben:
— Iſt es ſehr heiß in den Tropen?
— Es macht ſich.
— Sind die Schlangen wirklich ſo lang und
dick und giftig?
— Ach ja.
— Sie ſind doch nicht gebiſſen worden?
— Ein bischen.
— Wie? Und wieder kuriert?
— So ziemlich.
Schade, daß er nur mit Girlinger darüber
reden konnte. Dem ſetzte er aber dafür auch tüchtig
zu, und es machte ihm unverhohlenen Spaß, daß
dieſer ſo wißbegierig war. Er flunkerte auch ein
bischen und gab mehr tropiſche Abenteuer zum
beſten, als er erlebt hatte.
Aber auch ohne die Flunkereien hätte er dem
Freunde imponiert. Es gab jetzt etwas, worin er
dem weiſen Primus über war.
— Weißt Du, da helfen Dir alle Deine Bücher
nicht hin. Und übrigens: Wie willſt Du denn
ohne das Deinen Schopenhauer verſtehen? Und
dann die Dichter!
Er dachte dabei vornehmlich an Heine und den
Tannhäuſer in Rom, der zu ſeinem Brevier und
Muſter wurde.
[109]Zweites Buch, drittes Kapitel.
Denn jetzt fing er an, aus dem Vollen zu
dichten und zwar mit dem Bewußtſein, ein
Dichter werden zu wollen und nichts andres.
Die Schule wurde ihm dabei immer widerlicher,
und er ſchwänzte ſie mit großer Frechheit.
Seine Pflegeeltern, denen er von Stilpe-Vater
übergeben worden war, weil dieſer deutlich fühlte,
daß jeder andre ein beſſerer Pädagoge ſei, als er,
waren gute Leipziger Mittelſtandsleute, die, mit
Stilpes Mutter entfernt verwandt, den jungen
Gymnaſiaſten aus Gefälligkeit aber nicht mit der
Meinung aufgenommen hatten, daß hier beſondere
Aufſicht und Wachſamkeit nötig ſei.
Der alte Wiehr hatte einen Porzellanladen am
Markte, der ihn ausſchließlich beſchäftigte, und ſeine
Frau ging in der Hauswirtſchaft und zahlreichen
Kaffeekränzchen auf. Ihr einziger Sohn war ein
zarter junger Menſch geweſen, bleichſüchtig und
ſolide, nicht ſehr begabt, aber fleißig; er war ge¬
ſtorben, als er in Stilpes Alter geweſen war. Die
Alten ſahen in Willibald deſſen Fortſetzung und
behandelten ihn wie jenen, nämlich mit vollendetem
Zutrauen und vollkommener Ahnungsloſigkeit. Dies
wurde durch Stilpes mimiſche Kunſt, ſich wie ein
Lamm zu benehmen, unterſtützt.
[110]Stilpe.
So hatte er eigentliche vollkommene Freiheit,
und es fehlte ihm, um mit dieſer Freiheit ſo viel
anfangen zu können, wie er wünſchte, nur an
Gelde.
Leider machte ſich dieſer Mangel, ſeit ſich
Martha „verändert hatte,“ viel fühlbarer als
früher.
Ein geradezu lächerlicher Gedanke, jetzt mit den
fünf Mark monatlichem Taſchengelde auszukommen.
Man mußte, da eine regelrechte Erhöhung des
Budgets außerhalb jeder Möglichkeit lag, auf
Extraordinaria ſinnen.
Da fing denn der junge Mann zunächſt klein
und beſcheiden an. Er durchmuſterte ſeine Bib¬
liothek.
Nun, da fanden ſich ja einige Sächelchen, die
vom Überfluſſe waren: Alle die überwundenen
Standpunkte der durchlaufenen Klaſſen, wie ſie ſich
in alten Grammatiken, Lehrbüchern, Schulausgaben,
Geſangbüchern verkörperten, und dazu des Knaben
Willibald Belletriſtik: Der Lederſtrumpf, verſchiedene
Walter Scott-Romane, „für die Jugend“ bearbeitet,
eine „ausgewählter Goethe“ (fahr hin, Caſtrat!
rief Willibald) und Anderes mehr.
Dieſe Literatur überlieferte Stilpe einem alten
[111]Zweites Buch, drittes Kapitel.verwachſenen Antiquar, der in einem Durchgange
von der Petersſtraße zum Neumarkt ſeine Bude
hatte.
Herr Wopf war ein wunderlicher alter Burſche,
ausgeſtattet mit einer ſehr ſchönen Meerſchaum¬
pfeife, einer ſehr großen, üppigen und noch jungen
Gattin und einer eminenten Rundſchrift, mit der
er die Neuerwerbungen ſeines Lagers in gewaltig
großen Zügen auf Pappendeckel ſchrieb, die wie die
Ahnentafeln vor chineſiſchen Tempeln rechts und
links ſeiner Ladenthüre ſtanden. Außerdem beſaß
er noch eine verworrene Menge von Literatur¬
kenntniſſen und eine erſtaunlich tremolierende
Stimme, mit der er Paſſagen aus ſeinen Büchern
vorlas, um dieſe ſeinen Kunden begehrenswert
erſcheinen zu laſſen. Wegen dieſer Gabe des
rollenden Rezitierens nannten ihn Stilpe und
Girlinger den Deklamator.
Stilpe liebte ihn direkt und ſah in ihm den
Helden ſeines erſten Dramas. In wiefern Herr
Wopf den Anforderungen an einen dramatiſchen
Helden entſprach, das war ihm freilich unklar, ging
ihm aber auch nicht nahe. Sicher war nur, daß
die üppig blühende Gattin, die früher ſcheuern
gegangen war, die Rolle der Ehebrecherin haben
[112]Stilpe. mußte. Sich ſelbſt dachte Stilpe als den Galan,
doch ſtellte er ſich in dieſer Thätigkeit etwas älter
und als berühmten Journaliſten vor. Die Haupt¬
ſcene, der Drehpunkt des Ganzen, ſtand ſchon
feſt, aber nur im Kopfe, denn, und dies gilt
für die meiſten dichteriſchen Pläne Stilpes in dieſer
und ſpäteren Zeit: Er kam ſelten dazu, ſeine Ent¬
würfe in Tinte umzuſetzen.
Schade übrigens, daß Stilpe dieſe Szene nicht
ausgeführt hat. Sie war höchſt verwegen natu¬
raliſtiſch gedacht und ſehr geeignet, Ärgernis zu
erregen, — ein poetiſcher Zweck, der dem revolu¬
tionären Obertertianer ziemlich deutlich vorſchwebte,
obwohl ſeine Verwegenheit nicht bis zur Phantas¬
magorie einer Drucklegung ging. Sie ſollte ſich
direkt in Wopfs Ehebette abſpielen.
Girlinger hatte Einwendungen dagegen, vor¬
nehmlich vom Standpunkte der Bühnenmöglichkeit
aus. Aber da kam er bei Stilpe übel an:
— Bühne!? Du ſagſt Bühne! Was geht
mich denn die Bühne an? Ich pfeife auf die
Bühne. Glaubſt Du, ich will mich neben Herrn
Blumenthal ſtellen?
— Nein, aber neben Schiller.
— Ach, Schiller!
[113]Zweites Buch, drittes Kapitel.
Dieſes „Ach, Schiller!“ iſt um die Zeit, in der
Stilpe ſein Wopf-Drama plante, auch ſonſt noch
manchmal ausgeſprochen worden. Wer es mit
dem Phonographen aufgefangen hätte, könnte ſich
heute damit auf den Jahrmärkten hören laſſen.
Übrigens war der Deklamator Stilpen in erſter
Linie doch nicht als dramatiſcher Held, ſondern als
zahlungsfähiger Bücherkäufer wichtig. Zwar, er zahlte
niederträchtige Preiſe und verdiente ſchon deshalb,
dramatiſch als Hahnrei angemacht zu werden, aber
er nahm wenigſtens Alles, und in ſchwierigen
Augenblicken gab er auch Vorſchüſſe auf ſpäter zu
verkaufende Bücher.
— Nächſtes Oſtern brauche ich meinen alten
Cicero nicht mehr; können Sie mir 1 Mark 50
drauf geben?
Der Deklamator durchblätterte das dicke Buch
und blies ſeinen Tabaksrauch wie desinfizierend
hinein.
— Quousque tandem, Catilina, abutere
patientia nostra! Haben wir auch geleſen! Wie
lange noch, Herr Liebknecht, wollen Sie uns mit
Ihren Reden mopſen? Fünfundſiebzig Fenge,
Herr Stilpe.
— Nee, mein Lieber, eine Mark doch mindeſtens.
8[114]Stilpe.Der Schmöker koſtet neu ja fünfe, und er ſieht doch
noch ganz jungfräulich aus.
— Fünfundſiebzig Fenge, Herr Stilpe! Und
übrigens: Wenn Sie nu ſitzen bleiben und die
Catilinariſchen noch ein Jahr leſen müſſen?
— Na, hören Sie mal, das find ich ſtark!
Sie halten mich wohl für ein Kameel? Alſo gut,
her mit den fünfundſiebzig, Sie Jude.
Der Deklamator zog ſeinen Beutel und fiſchte
das Geld heraus. Dann notierte er ſich das Ge¬
ſchäft in ſein Notizbuch, wo eine Seite in tadel¬
loſer Rundſchrift überſchrieben war: Herr Stilpe.
Leider hielt die Bibliothek der Jugendzeit nicht
lange vor, und es war das Bücherverkaufen über¬
haupt ein etwas bedenkliches Geſchäft, weil Stilpe
dabei doch zuweilen den Deklamationen des Herrn
Wopf unterlag und für ſeine alten Bücher andre
mit in Zahlung nahm. Zwar verkaufte er die
gewöhnlich ein paar Wochen ſpäter zurück, aber
es verſteht ſich, daß ihm der Deklamator nicht ſo
viel zahlte, wie er ſich hatte zahlen laſſen.
— Se machen ze viel Randbemerkungen in
de Bücher, Herr Stilpe. Und, ſehn Se, wenn
de Marginalien auch ſehr geiſtreich ſin, wie z. B.
hier gleich zweimal hinterenander: Quatſch!
[115]Zweites Buch, drittes Kapitel. Quatſch!, ſo verliern Se de Bücher doch dadurch
an Wert.
— Was!? Warten Sie nur, Herr Wopf,
warten Sie nur! Wenn ich mal berühmt bin,
dann verdienen Sie ein Vermögen mit meinen
Autogrammen. Ich ſage Ihnen: Heben Sie ſich
die Bücher auf!
— Sie närrſcher Kunde! Wenn Se nu aber
nich berihmt wer'n? —:
Schie'm Se Kegel, Herr Stilpe? Das is
enne ſehr geſunde Übung!
— Nee, aber fünf Mark können Sie mir
pumpen.
Der Deklamator zog ſein Notizbuch: Sehn Se
mal her, Herr Stilpe: Jetzt ha'm Se ſchon acht
Mark und fuffz'g Fenge prae! Jede Nacht
treim ich, Se blei'm m'r ſitz'n. Nee, pumpen kann
ich Se niſcht.
Alſo mußte Stilpe auf Anderes denken. Ein
Glück, daß er nicht ohne Erfindungsgabe war.
8 *[116]Stilpe.
Bald wurde für ein Ehrengeſchenk zum Doktor¬
jubiläum des Ordinarius geſammelt.
Dann hatte er eine Fenſterſcheibe in der Klaſſe
zerſchlagen.
Sehr oft drängte es ihn, eine Klaſſikervorſtellung
im Theater zu beſuchen.
Ein Kamerad war geſtorben, ein ſehr guter
Freund von ihm: Da mußte ein Kranz her.
Unendlich häufig mußten Bücher gebunden,
Hefte gekauft, neue Schulausgaben angeſchafft
werden.
Aus Verſehen hatte er Tinte über den Atlas
ſeines Nachbars gegoſſen. Ein ekliger Kerl, wie der
war, wollte er ihn erſetzt haben.
Es war erſtaunlich, wie leicht ihm die Lügen
fielen. Er ſchmückte ſie ſogar mit erſichtlichem
Vergnügen novelliſtiſch aus. Erzählte z. B. die
ganze Lebensgeſchichte des jubilanten Ordinarius,
ahmte ihn nach, führte eine ganze Komödie von
ihm auf — Alles freieſte Erfindung; und
das Ehepaar Wiehr wollte ſich ausſchütten vor
Lachen.
Aber auch dieſe kleinen Mittel halfen nicht auf
die Dauer. Stilpe ſtarrte ins Leere und fand
nichts.
[117]Zweites Buch, drittes Kapitel.
Da überfiel ihn ein Gedanke, vor dem er ſelber
erſchrak: Die Ladenkaſſe . . .
— Aber nein, pfui Teufel, das iſt ja eine
Gemeinheit! Weg damit! Lieber dieſe Sumpfereien
da ſein laſſen. Es iſt überhaupt widerlich . .
Lieber arbeiten! . . . Wieder mehr mit Girlinger
disputieren! . . . Ja, und endlich das Drama
ſchreiben!! . . .
Und gleich holte er ein Heft aus dem Schub¬
kaſten und ſchrieb darüber:
Der Hahnrei
Sittentragödie
in . . .
Ja, wieviel Akte mache ich!? Natürlich nicht
fünf! Denn das iſt banal. Vielleicht vier? Vier?
Bei dem Stoff? Nein! ſechs Akte! Alſo:
in 6 Akten
Und nun die Perſonen:
- Schopf, ein buckliger Antiquar
- Clara, ſeine Frau
- Walter Wild, ein berühmter Journaliſt
Wen denn noch? Girlinger? Ja!:
- Wirlinger, ein Agitator.
Das iſt famos! Sozial! Und nun:
- Volk, Arbeiter, Studenten, . . .
[118]Stilpe
Nein! Erſt noch eine Hauptperſon!:
- Martha, eine Proſtituierte.
Ah! Das giebt was! Da haben wir den Kon¬
flikt! Ganz von ſelber kommt immer das Beſte.
Natürlich: Martha! Das iſt die Retterin!
Sie opfert ſich! Am Schluß bricht eine Revolu¬
tion aus!
Er kam ganz ins Fieber. Die Proſtituierte
als Retterin! Schopf als Typus des krämeriſchen
Bourgeois. Walter Wild der Idealiſt. Clara das
verführeriſche Weib. Wirlinger der dämoniſche
Volkstribun. Und am Schluß die Revolution!
Er ſchrieb gleich die Schlußſzene; ungeheuer
wild und natürlich blos ſo in Umriſſen, hinge¬
klitſcht wie mit der Maurerkelle. Glockenläuten.
Kanonenſchläge. Barrikaden. Brand. Marſeillaiſe.
Carmagnole. Martha im ſchwarzen Hemd mit der
roten Fahne.
Aber auf einmal war Alles aus. Der Strom
war vorbei geſchoſſen. Es wollte nicht mehr
fließen. Fortwährend drängte ſich, ſchon bei dieſem
gewaltigen Hinpatzen der Farben, das Gefühl ein:
Aber der erſte Akt? Wieſo denn Revolution?
Natürlich muß ſie kommen. Freilich! Aber:
Wieſo denn? Es muß doch irgendwie motiviert
[119]Zweites Buch, drittes Kapitel. werden?! Und da blieb er ſtecken und kam nicht
heraus.
Das Schlimmſte war, daß er ſich in ſeinem
dichteriſchen Tumulte zu lebhaft mit Martha be¬
ſchäftigt hatte.
— Ach, hols der Teufel! Ich geh hin! . . .
— Haha! Ich, mit meinen zwanzig Pfen¬
nigen! . . .
— Girlinger anpumpen? . . .
— Ach der! Schöne Redensarten! Und dabei
hat er Geld! . . .
. . . . . . . Die Ladenkaſſe . . . ? . . .? . . . !
. . . . . . .Es ginge ganz leicht . . . Ich brauche
blos 'nunter zu gehn . . . Wiehr ſitzt auf dem Stuhl
an der Thüre . . . Hinten auf dem Laden ſteht die
Kaſſe, offen . . . Ich komme durch die Hinterthüre
und ſtelle mich vor den Laden und ſpreche mit dem
Alten . . . Und, während ich mit ihm ſpreche, halte
ich die Hände auf dem Rücken und greife ganz
einfach in die Kaſſe . . . Immer, während ich
mit ihm ſpreche . . . Ich muß blos was Komiſches
erzählen . . . Oder, nein, ſicherer, ich ſage: Sehen
Sie, Vater Wiehr, da wird Einer arretiert drüben,
vor Aeckerleins Keller! Da ſtürzt er ſicher gleich
vor die Thüre . . .
[120]Stilpe.
Es wurde ihm unbehaglich heiß.
— Aber das iſt ja doch niederträchtig! Das
iſt ja Diebſtahl! Pfui Teufel! . . .
— Und, wenn ſie's beim Abrechnen mer¬
ken? . . .
— Unſinn! . . . Sie rechnen ja gar nicht ab,
Philemon und Baucis! . . .
— Und ſchließlich, drei oder meinetwegen fünf
Mark . . . Das fühlen Sie ja gar nicht . . .
— Überhaupt: Diebſtahl! Mumpitz! Ich
ſolls ja ſo mal erben! Lachhaft! . . .
— Ich kann's ja auch ſpäter wiedergeben,
wenn ich ſelber Geld habe . . .
— Natürlich: Das verſteht ſich von ſelbſt.
Mit Zinſen! . . .
Und er ſtülpte ſich ſeinen Hut auf und rannte
hinunter.
Viertes Kapitel.
Stilpe war nach Unterſecunda verſetzt worden,
aber nur verſuchsweiſe und mit Nachprüfung in
der Mathematik nach einem Vierteljahr. Zudem
fand ſich in ſeinem Zeugnis eine Bemerkung, für
die er nur die Bezeichnung Infam! hatte. Es war
da die Rede von „Zerfahrenheit“, „Unaufmerkſam¬
keit“, „Allotria“.
Wiſchiwaſchi! ſagte Stilpe, kaufte ſich eine
Flaſche Eau de Javelle und wiſchte die Bemerkung
weg. Er that es in der Hauptſache wegen der
alten Wiehrs, denn es lag ihm daran, daß dieſe
nicht irre an ihm wurden.
In ſein Tagebuch ſchrieb er mit Geheimſchrift
pathetiſch ein:
„Nachdem ich wöchentlich und konſequent einige
Diebſtähle begehe, kommt es auf eine Urkunden¬
fälſchung nicht mehr an.
[122]Stilpe.
Ich bin alſo ein Verbrecher!? Ha! Das iſt
ausgezeichnet!
Wenn ich wöchentlich, wie Girlinger, 10 Mark
Taſchengeld hätte, brauchte ich nicht zu ſtehlen, und
wenn die Pauker keine überflüſſigen Bemerkungen
ſchmierten, brauchte ich kein Eau de Javelle.
Alſo? Logik? Schluß? Die Hauptſache iſt:
Sich nicht erwiſchen laſſen!“
An Girlinger verriet er von ſeinen Streichen
nichts. Er wußte, daß dieſer „unfähig war,
derlei zu verſtehen“.
Und doch hätte er gerne Jemand gehabt, dem
ers ſagen könnte.
Einmal hatte er bei Martha den Verſuch ge¬
macht, indem er ſie fragte, ſehr feierlich, was ſie
dazu ſagen würde, wenn Jemand ihretwegen ein
Verbrechen beginge. Es gruſelte ihn angenehm,
wie er das ſagte.
Sie aber antwortete blos: Den würd'ch an¬
zeigen.
Das gab ihm einen Stoß, und er fand von
jetzt ab, daß „dieſe Perſon ſehr gewöhnlich“ ſei.
Er war ihrer überhaupt überdrüſſig und warf
ſich mehr ins Ideale, Heroiſche. Es kam, ihm
ein Wulſt Gedanken wie: Neues Leben! Freiheit!
Selbſtändigkeit!
Je näher die Mathematiknachprüfung rückte, um
ſo dringlicher wurden dieſe Gedanken.
Wenn er nun dieſe Prüfung nicht beſtünde?
Die Perſpektive war ſcheußlich, aber das ſcheußlichſte
an ihr war der Gedanke, daß er, der jetzt in Unter¬
ſekunde mit Sie angeredet wurde, in Obertertia
wieder gedutzt werden würde. Alſo: Das Symbol
der Knechtſchaft!
Aber auch, wenn er beſtünde! Wie gräßlich
war dieſe ganze Schule überhaupt! Und ſo
noch vier Jahre bis zur Freiheit, bis zur Uni¬
verſität!
Und in dieſen vier Jahren immer dieſes leere
Stroh, das Einem vorgeworfen wurde: Da, driſch,
aber im Takt!
Und was waren das für Leute, die die Aufſicht
dabei führten! Oh, dieſe Druſchmeiſter! Herr¬
gott, dieſe Profeſſoren!
Ein paar waren ihm ja „intereſſante Knaben“,
ein bischen ſteifleinen und ſteifbeinen, aber man
konnte ihnen gut ſein, denn, nun ja eben: Sie
[124]Stilpe.waren intereſſant und hatten zuweilen menſchliche
Töne.
Aber die Andern! Dieſe kalten Pedanten! Dieſe
langweiligen Schablonenmeiſter! Kalbsköpfe alle
miteinander!
Er würde einmal eine ariſtophaniſche Komödie
ſchreiben: Die Kaulquappen. Dazu, als Modelle,
ſeien ſie zu brauchen, ſonſt zu nichts.
Ob wol Einer von dieſen Plärrern eine Ahnung
davon hätte, was hinter ihm, dem Stilpe, ſteckte?
Und ſolchen Leuten war er unterthan, er, der
Ziele vor ſich hatte, an die ſie ebenſowenig dachten,
wie der Igel an ein Himmelbett!
Nein, er mußte fort aus dieſer Sklaverei und
fort auch aus dieſem Sumpf mit der Perſon da,
die wirklich kein Hetäre war, wie Aſpaſia.
Ja, eine Aſpaſia, das wäre ſeine Retterin!
Ein Weib, himmliſch ſchön und von freier Nacktheit
Leibes und der Seele, und voll Poeſie! Voll
Ideal!
Ah! Hellas! Hellas! HELLAS!
[125]Zweites Buch, viertes Kapitel.
Pfui Teufel, was da auf ſeinem Arme ſtand,
dieſes blödſinnige Epſilon Gamma!
Was ging ihn dieſes Deutſchland an, ihn,
den Kosmopoliten!
Er ſchrieb mit roter Tinte in griechiſchen Lettern
Hellas auf eine Papptafel und hing dieſe über
ſeinem Bette auf.
Griechenland, ja, das war ein Wort und ein
Ruf, und ſein Schrei!
Aber nicht das, was dieſes Lehrergeſindel im
Munde führte, ſondern das, von dem Heine ſchrieb
als dem Gegenſatz zum Chriſtentum.
Denn mit dem Chriſtentum war er nun auch
im Reinen. Er nannte es die Weltmaſern und
that ſich auf das Wort nicht wenig zu Gute.
Eines Tages ging er mit Girlinger ins
Roſenthal.
Girlinger war ſehr niedergeſchlagen. Sein
Vater war hinter ſeine Lektüre gekommen und
hatte ihn vor der ganzen Familie als „unreifen
Zuſammenleſer unverſchämter Dummheiten“ lächer¬
[126]Stilpe.lich gemacht und zugleich Maaßregeln getroffen,
die ſeine Lektüre unter eine ſtrenge Aufſicht ſetzten.
— Der Herr Staatsanwalt hat ein Ausnahme¬
geſetz über mich beliebt. Aber er ſoll ſich irren.
Ich bin nicht der unreife Knabe, für den er mich
hält. Ich habe es deutlich bemerkt, daß er von
den Sachen, die er verdammt, ſo viel verſteht, wie
ich von ſeinem Büttelamte. Ich laſſe mich nicht
knechten! Ich werde es ihm zeigen!
— So? Du? Weißt Du, Dein Vater kennt
Dich ſehr gut. Der weiß, daß Du wie ein Pudel
über den Stock ſpringſt, wenn Du auch vorher
bellſt.
— Das wirſt Du ſehen! Ich habe zwar nicht
das große Maul wie Du, aber ich handle!
— Da bin ich geſpannt. Wirſt Du es mir
nicht verraten?
— Nein! Der Tag wird kommen, wo Dus
ſiehſt.
— Dann muß er bald kommen!
— Wieſo?
— Ich verrate auch nichts.
Sie gingen ſchweigend nebeneinander her, und
Stilpe hieb mit ſeinem Spazierſtock in die Büſche.
Endlich ſagte er:
— Nein, und wenn Du mir auch nichts ſagſt,
ich will offen ſein! Aber gieb mir Deine rechte
Hand, daß Dus niemand ſagſt.
— Ja doch.
— Nein, die Hand! Und das iſt wie ge¬
ſchworen!
— Ja doch. Hab' ich ſchon was verraten?
— Alſo gut!
Und er blieb ſtehen und ſagte leiſe, aber mit
feierlichem Tone:
— Ich gehe nach Griechenland.
Girlinger ſah ihn groß an:
— Ja, kannſt Du denn Neugriechiſch?
Die Frage kam Stilpen unerwartet. Daran
hatte er noch nicht gedacht. Er biß die Lippen
ärgerlich aufeinander.
— Natürlich nicht.
— Ja, was für eine Sprache wirſt Du denn
dort reden?
— Es giebt eine deutſche Kolonie in Athen.
Stilpe wußte davon eigentlich nichts, es war
eine ſeiner rettenden Improviſationen, aber Gir¬
linger fand ſie plauſibel.
— So, nun ja, aber was willſt Du in dieſer
deutſchen Kolonie machen?
[128]Stilpe.
— Irgend was: Schreiber, Kopiſt, Sekretair,
irgend ſo was!
Girlinger ſchwieg eine Weile. Dann meinte er:
— Haſt Du denn Geld zur Reiſe?
Stilpe, langſam:
— Ja.
— Wieviel denn?
— Weiß ich noch nicht.
— Ach ſo . . . Ich habe hundertunddreiund¬
fünfzig Mark.
— Was? Hundertunddreiundfünfzig! Das iſt
ja koloſſal!
— Das iſt viel zu wenig. Ich habe gedacht,
Du würdeſt mindeſtens tauſend haben.
— Ja, woher denn?
— Das iſt einerlei.
Girlinger ſagte das etwas im Tone des ent¬
ſchloſſenen Böſewichts der Bühne, dumpf, tremolo.
— Nein, ſoviel kann ich nicht . . bekommen.
— Was denkſt Du denn, was die Reiſe koſtet?
— Ich laufe natürlich.
— Da werden ſie Dich bald einhaben.
— Ich werde ſie auf eine falſche Spur locken.
Natürlich denken ſie Alle: Amerika. Übrigens:
Du willſt doch nicht etwa nach Amerika?
[129]Zweites Buch, viertes Kapitel.
Girlinger lächelte ſpöttiſch:
— Du hältſt mich für ſehr dumm. Nein, ich
denke an England.
Und er ſetzte nun ſehr kühl und eingehend
auseinander, welche Vorzüge England habe: Keine
polizeilichen Anmeldungen, Nachfrage nach deutſchen
Kräften für kaufmänniſche Korreſpondentenſtellungen
u. ſ. w., u. ſ. w. Er hatte Alles, nach ſeiner Weiſe, prak¬
tiſch bedacht und ſich über Alles in Büchern Gewißheit
verſchafft. Engliſch und die doppelte Buchführung
hatte er ſich auch nach Möglichkeit beigebracht.
Aber Stilpe übergoß ihn mit ganz anderen
Argumenten für ſeine Idee:
— Was? England? Dieſes große Krämerneſt?
Dieſes Land des Nebels und der Kommis? Dieſe
Inſel der Pfefferſäcke? Wo ſie die Feigenblätter
en gros fabrizieren aus Weißblech mit Ölfarbenan¬
ſtrich? Wo man Sonntags nicht nieſen darf? Ja,
Menſch, kennſt Du denn Byron nicht? Byron,
ſiehſt du, der wollte lieber in Griechenland ſterben,
als in England leben. Nur Griechenland! Nur
Griechenland! Denke doch: Dieſer Himmel! Dieſe
Erinnerungen! Und: Dieſe Weiber! Ich ſage Dir:
Ehe dieſe Bande hier ihr Abiturientenexamen ge¬
macht hat, ſind wir berühmt.
9[130]Stilpe.
— Ach was, ich will frei ſein und nicht
dichten.
— In Griechenland wirſt Du frei ſein! Und
warum verſtellſt Du Dich denn? Ich weiß doch,
daß Du noch viel ehrgeiziger biſt, als ich. Und
dann: Die Schönheit! Die alte Kunſt! Die
Akropolis! Denke: Wenn wir da hinaufſchreiten!
Und alles das Südliche überhaupt! Ölbäume,
Orangen, Citronen, Rhododendren!
Girlinger hatte allerlei praktiſche Bedenken,
aber ſchließlich legte auch er es ſich zurecht. Seine
Phantaſie war nicht ſo ſchnell losgelaſſen, wie die
Stilpes, und ſie ſchwärmte nicht ins Blaue, aber
gerade dieſe Sehnſucht nach dem Süden war in
ihm, und um ſo ſtärker, als er ſich wirklich ein
Bild vom Süden machte, während Stilpe nur den
Abreiz von Worten ſpürte.
Sie gingen mit dem Verſprechen Girlingers
auseinander, daß er am nächſten Sonntag, in zwei
Tagen, ſeinen endgiltigen Entſchluß kund thun wolle.
Girlinger benutzte die Zeit, um gründlich über
den Plan nachzudenken und nach Möglichkeit zu
ſtudieren, was ihm über das Griechenland von
Heute zugänglich war.
Stilpe aber ſchwamm in einem heißen Ent¬
[131]Zweites Buch, viertes Kapitel.zücken bei dem Gedanken, die große That im
Verein mit Girlinger zu vollführen und wei¬
dete ſich an der Vorſtellung, welchen Eindruck es
machen würde, wenn nicht blos er, der „zweifel¬
hafte Schüler“, durchgebrannt und verſchwunden
war, ſondern mit ihm der geprieſene Muſterknabe
und Primus. Mit beſonderem Genuſſe ſtiliſierte
er ſich im Geiſte die Notizen, die über dieſes Er¬
eignis in den Blättern ſtehen würden. Er kam
ſogar auf die Idee, eine „Rechtfertigung“ abzu¬
faſſen, die er auf irgend eine Weiſe (das Wie über¬
ließ er ſpäterer Überlegung) drei Tage nach ihrer
Flucht (Flucht!) von Leipzig aus dem Leipziger
Tageblatt zukommen laſſen wollte. Vielleicht durch
den Deklamator? Oder durch Martha? Dieſe
Frage beſchäftigte ihn am meiſten.
Am Sonntag enthüllte ihm Girlinger in
kurzen Worten, aber ſehr ernſt, daß er bereit
ſei, mitzugehen, aber nicht vor vierzehn Tagen.
Denn es ſei noch viel zu ordnen und zu be¬
denken. Er könne, Alles in Allem, 250 Mark
zuſammenbringen, teils durch Bücherverkauf, teils
durch ſeine Schweſtern. Mindeſtens ſo viel müſſe
aber Stilpe beſchaffen. Dieſe Summe werde für
jeden zur Hinreiſe genügen (er hatte das Hendſchel¬
9*[132]Stilpe.ſche Kursbuch bei ſich) und außerdem Lebensunter¬
halt für zwei Wochen ſichern.
— Natürlich werden wir in dieſem Klima
vegetariſch leben.
— Selbſtverſtändlich.
Eine ganze Anzahl praktiſcher Notizen hatte er
auf einem Zettel zuſammengeſchrieben, und Stilpe
mußte ſich verpflichten, dieſe auch für ſich anzu¬
erkennen. Da hieß es:
Es ſind mitzunehmen
| pro Perſon: | Ein Koffer |
| mit: | Einem Anzug ein paar Stiefeln zwei Hemden drei paar Strümpfen |
| (NB. aus der Wäſche ſind die Namenzeichen auszutrennen!!) | |
| ſechs Taſchentüchern zwei Kragen. | |
Die Koffer werden in St.'s Gartenhaus in
der Verſenkung, wo jetzt das Gartengerät auf¬
bewahrt iſt, niedergelegt.
Stilpe muß zwei Koffer ſtellen, da es für
G. unmöglich iſt, ſich mit einem Koffer aus
dem elterlichen Hauſe zu entfernen.
[133]Zweites Buch, viertes Kapitel.
Ein Revolver, wenn billig zu haben, iſt
wünſchenswert.
Stilpe fand den Revolver in allererſter Linie
für notwendig und machte ſich anheiſchig, einen zu
beſorgen.
— Natürlich einen, den man in die Bruſttaſche
ſtecken kann!
— Ja, aber doch nicht allzuklein!
Bereits am Dienſtag brachte Stilpe den Re¬
volver mit in die Schule und zeigte ihn Girlingern
auf der Retirade.
— Biſt Du verrückt! Steck ihn ſofort ein!
Und er iſt ja viel zu groß!
— Ich werde doch kein Spielzeug mitnehmen!
Girlinger entfernte ſich eilig, und als ſie nach
Hauſe gingen, ſagte er ſehr ſcharf: Wenn Dus ſo
machſt, nehme ich mein Wort zurück! Überhaupt,
wie benimmſt Du Dich denn? Alle Augenblicke
nimmſt Du mich auf die Seite und machſt mir
Zeichen. Jeder Menſch muß merken, daß wir was
vorhaben.
— Bring lieber Deine Wäſche ins Gartenhaus
ſtatt daß Du mir Moral ſchwingſt. Meine Sachen
ſind alle draußen.
— Bei mir geht das nicht ſo wie bei Dir.
[134]Stilpe. Hier (er ſah ſich nach allen Seiten um) ſind zwei
Kragen. Ich muß jeden Tag einzeln was bringen.
Wenn ich nur wüßte, wie ichs mit dem Anzug
mache. Ich kann doch nicht mit ein paar Hoſen
überm Arm in die Schule gehn.
— Zieh den Mantel an und nimm ſie untern
Mantel! Oder, halt: Ich komme und hole ſie!
— Nein, nein, ich werde ſchon Alles ſelber
bringen.
Während ſo bei Girlinger die Schwierigkeiten
mehr ins Einzelne gingen, hatte Stilpe nur ein
großes Problem zu bewältigen: Das Geld.
So viel war ſicher: Die Ladenkaſſe reichte nicht.
Man konnte ſie höchſtens mit fünfzig Mark anſetzen.
Alſo denn erſtmal alles verkaufen, was in
Griechenland überflüſſig war an Kleidern, Wäſche,
Büchern.
Geſchah. Von Büchern entgingen nur Börnes
Werke, Tannhäuſer in Rom und Byrons Don
Juan dem Deklamator. Aber Alles in Allem
kamen nur vierzig Mark heraus.
[135]Zweites Buch, viertes Kapitel.
Wie wär es mit ein paar Anzügen Vater
Wiehrs? Ein Gedanke! Der Mann hatte ja
ſeine ganze Vergangenheit noch im Kleiderſchranke
hängen.
Aber Vorſicht! Vorſicht! Und erſt in den
letzten Tagen. Auf fünfzig Mark konnte man das
aber immerhin anſetzen.
Fünfzig und fünfzig ſind hundert, und vierzig
ſind hundertundvierzig . . . Wenn ihm nur irgend
ein Coup einfiele! Das Geplempere mit kleinen
Poſten gefiel ihm gar nicht.
Hm. Im Glasſchrank ſtand ſo allerlei herum,
auch Schmuckzeug . . . Aber da verging ja kein
Tag, an dem nicht Mutter Wiehr den Kram be¬
ſtreichelte.
Halt! . . . Aber nein . . . nein . . .! . . . Frei¬
lich, wenn gar nichts übrig blieb . . .? . . .: Die
Paten- und Konfirmationsgeſchenke des verſtorbenen
Filius . . .? . . . ! . . . Die waren in dem ver¬
ſchloſſenen Schranke in ſeiner Stube, und die Alten
hatten eine große Scheu vor dieſen Erinnerungen.
Sie hatten ſie verſchloſſen, um ſie nicht zu ſehen;
nie machten ſie den Schrank auf. Da mußten ja
wol auch noch Bücher ſein und ſonſt was . . .
Das war aber doch ein verfluchter Coup! Das
[136]Stilpe. war ſchon nicht mehr blos, pfui Teufel, Diebſtahl,
das war ſo was wie Frevel. Oder?
Stilpe verſuchte, den Gedanken mit Ge¬
walt loszuwerden und erging ſich, um ihn bei¬
ſeite zu ſchieben, dafür in den abenteuerlichſten
Plänen.
Sogar der ſchmierige Beutel des Deklamators
tauchte auf und eine verbrecheriſche Intrigue mit
der roſigen Gattin.
Hatte ſie ihm nicht kürzlich hinter dem Rücken
des Alten zugelächelt?
Wie, wenn er mit ihr im Bunde den Alten . . .?
Aber, duliebergott, das war ja eine Kriminalnovelle
und kein Coup!
Immer wieder der verſchloſſene, große, braune
Schrank . . .
Was da wohl alles drin ſteckte . . . Natür¬
lich zuerſt ſämtliche Hoſen und Höschen, Jacken
und Jäckchen des geprieſenen Filius, von der
Wiege bis zur Bahre.
Verdammt nochmal: Auch noch Rückſicht auf
Sentimentalitäten, wo es ſeine Freiheit und Zu¬
kunft galt! Da gabs doch kein Beſinnen! Dort
der Tod! Hier das Leben! Hie Mottenfraß!
Hie Freiheit!
[137]Zweites Buch, viertes Kapitel.
Er ging an den Schrank und verſuchte ſeine
Schlüſſel am Schloß. Ging nicht.
Alſo: Eintreten! Einfach eintreten!
Er ſchlug mit der Fauſt auf die Schrank¬
thüre. Aber wie er das Poltern hörte, lief er
gleich weit weg und ſah zum Fenſter hinaus.
Wozu überhaupt dieſe Menge Geld? Hundert¬
fünfzig waren auch genug.
Er ſtellte das Girlingern vor. Aber der protzte
ſeine ganze widerliche Konſequenz auf:
— Wie wirs ausgemacht haben, ſo bleibts.
Du haſt mein Wort, und ich habe Deins.
Stilpe empfand eine kochende Wut über dieſes
Benehmen.
Nicht einmal ſagen kann ichs dem Kerl, was ich
vorhabe. Natürlich er: Jede ſeiner Schweſtern
giebt ihm fünfzig Mark. Und ich muß ſolche Ge¬
meinheiten aushecken.
Aber wart nur: Dieſe Erfahrungen, dieſe
Kämpfe, die werden aus mir was Ganzes,
Eigenes machen, wo Du blos eine Molluske
biſt und bleibſt! Ich bin der Kämpfende! Ich
werde den Sieg haben! Und dann, oben auf
der Akropolis will ich Dirs in's Geſicht ſchütteln
mit meinen Fäuſten: Ich habe ſtehlen müſſen für
[138]Stilpe.meine Freiheit und unendliche Frevel auf mich ge¬
laden für meine Ideale! Du aber biſt blos der
Pudel, der hinter mir herlief, aufgefüttert und
vollgeſtopft, ohne Mark und Entſchluß!
In dieſem Aufſud ſtürmiſcher Gefühle fiel ihm
Karl Moor ein, und er fühlte ſich nun nicht blos
gerechtfertigt, ſondern geradezu verpflichtet, den
Schrank aufzubrechen.
Aber Vorſicht! Vorſicht! Und: Nicht zu früh!
Jetzt waren es noch ſechs Tage bis zu dem
Sonnabend, wo ſie ſich nachmittags im Garten¬
hauſe treffen wollten, um abends abzureiſen.
Von Girlinger fehlte immer noch die Hoſe und
ein Hemd im Koffer, aber er konnte ihn nicht
einmal mahnen, denn der Primus blieb aus der
Schule weg und hatte ihm verboten, ihn zu be¬
ſuchen.
Er ſtelle ſich krank, hatte er ihm geſchrieben,
um nicht unnötig durch ihn aufgeregt zu werden,
auch habe er einen beſonderen Tric vor mit dieſer
Krankheit. Im Übrigen ſolle er nur Alles genau
[139]Zweites Buch, viertes Kapitel.nach Verabredung beſorgen und thun. Sonnabend
um 3 Uhr am Gartenhauſe!
Stilpe hatte einen grenzenloſen Reſpekt vor
Girlingers kühler Klugheit, und er ſtellte ſich
irgend etwas unerhört Schlaues vor, das hinter
dieſer Krankheit ſteckte.
Wer weiß: Er bringt vielleicht 500 Mark
mit!
Wenn mans nur wüßte! Nur wüßte! Dann
wäre auch dieſe infame Choſe mit dem Schrank
nicht nötig.
Schon das Verkaufen von Vater Wiehrs
Garderobe war eine verdammt ſchwierige Sache
geweſen, und es war blos Duſel, wenn es nicht
zur Unzeit bemerkt wurde.
Nun aber der Schrank!
Das Heiterſte wäre, wenn mich Mutter Wiehr
angeſchwindelt hätte, und es gäbe da drin gar nicht
dieſe koſtbaren Konfirmationskleinodien und Tauf¬
becher.
Ob ich ſie nochmal frage?
Er nahm wirklich einen Anlauf dazu, brachte
es ſchließlich aber doch nicht übers Herz. Dafür
machte er ſich im Stillen einige moraliſche Kom¬
plimente über dieſe Feinfühlichkeit und fand, daß
[140]Stilpe. er eigentlich ſein Gewiſſen dadurch für beruhigt
anſehen könnte:
Denn, wäre ich wirklich ein gemeiner Kerl, ſo
hätte ich gefragt; aber ich handle eben blos unterm
Zwang der Verhältniſſe und ſchone dabei nach
Möglichkeit, was zu ſchonen iſt.
Unter dieſen Erwägungen brach er kaltblütig
den Schrank auf, nachdem er die Kammerthür ver¬
ſchloſſen und das Schlüſſelloch verhangen hatte.
Schau, ſchau, gepfropft voll! Aber iſt es nicht
ſündhaft, alle dieſe Sachen von den Motten freſſen
zu laſſen? Es ſcheint, die guten Wiehrs wiſſen
nicht, wieviel arme Jungens keine ganzen Kleider
am Leibe haben. Natürlich! Die Sentimentalität
geht bei dieſen Bourgeois Allem vor . . .
Der Überzieher da iſt noch wie neu . . .
Herrgott, wieviel Hüte hat denn der Filius
gehabt? . . .
Sogar ſeine erſten Hoſen ſind noch da . . .
Übrigens: Inſektenpulver haben ſie doch ge¬
ſtreut . . . Donnerwetter: Das kann mich ja ver¬
raten! Die ganze Kammer wird ſtinken!
Er lief und öffnete die Fenſter. Unten ging
gerade ein Schutzmann vorbei. Stilpe machte eine
Verbeugung:
Das Auge des Geſetzes wacht! Sie, Schutz¬
mann, hier wird geſtohlen! Ja, das möcht er
wohl, der Gute, daß ich ihn raufwinkte. Wird
nich verzapft!
Nun aber die Kleinodien!
In der Pappſchachtel? Nein: Seidene Tücher.
Da könnt ich übrigens eins . . . Unſinn! . . .
Aber es ſcheint wirklich kein Edelmetall . . .
Er holte ſich einen Stuhl und ſtieg darauf,
um beſſer ſehen zu können, was auf dem oberen
Schrankbrett ſtand.
Siehſtewoll? Der Kaſten iſt ſchwer. Und:
Er klappert.
Er nahm ihn langſam herunter.
Es war eine alte Schatulle aus eingelegtem
Mahagoniholze mit zopfigen Ornamenten. Ein
kleiner Schlüſſel mit herzförmigem Griff ſteckte im
Schloß.
Er trug die Schatulle auf den Tiſch und ſchloß
ſie auf.
Donnerwetter, was für ne Menge!
Zwei Uhren! Eine ſilberne und eine gol¬
dene! Und ditto zwei Ketten. Dieſer Filius iſt
verzogen worden!!
Und goldene Ringe gar dreie! Was? Auch
[142]Stilpe. goldne Manſchettenknöpfe? Das iſt ja blöd¬
ſinnig!
Am Ende hat der Junge auch noch eine
Buſennadel gehabt. Richtig! . . .
Ekelhaft, das! So einer muß ja ein Protz
werden. Und dabei war er dumm wie ein Heuroß.
Gut! Gut! Klappe zu!
Er ſtellte die Schatulle wieder an ihren Platz,
lehnte die Schrankthüre feſt an, klemmte ein bischen
Pappe ein und hatte eine deutliche Empfindung
von Zufriedenheit, wie er ſah, daß äußerlich nichts
an dem Schranke zu merken war.
Was aber nun anfangen mit dem Zeug? Er
beſchloß, es erſt in Athen zu verkaufen. Trödler
giebts dort ſicher auch. . .
Nun kam der große Tag heran. Das letzte,
was Stilpe ins Gartenhaus getragen hatte, waren
ſeine Tagebücher und Manuſkripte geweſen. Die
letzten Worte in ſeinem Tagebuche lauteten ſchwung¬
voll ſo:
Meine Hand,
Die letzte Schulſtunde, zu der er ſich herabließ,
war Griechiſch. Es wurden unregelmäßige Verba
abgefragt, und da er ſich nicht vorbereitet, auch
nicht einmal in der Vorpauſe, wie er ſonſt zu thun
pflegte, in der Grammatik nachgeleſen hatte, blieb
er jede Antwort ſchuldig.
— Warum haben Sie Ihr Penſum nicht ge¬
lernt?
Er lächelte und dachte bei ſich: Freiheit, Hoff¬
nung und Zukunft!
— Wollen Sie wohl antworten? Warum
haben Sie Ihr Penſum nicht gelernt?
[144]Stilpe.
— Es war mir zu langweilig.
Der Profeſſor ſchnappte nach Luft. Das war
der Gipfelpunkt der Frechheit. Das war jenſeits
aller Bezeichnungsmöglichkeit. Nur das eine Wort:
Karzer! wühlte ſich aus dem verſtopften Sprach¬
ſchatze empor.
— Wie viel Stunden, Herr Profeſſor? fragte
Stilpe mit unterwürfigem Lächeln.
— Iſt der Menſch verrückt geworden?
Die ganze Klaſſe hatte mit dem Profeſſor nur
dieſen einen Gedanken und ſtarrte auf den lächelnden
Stilpe. Sein Nachbar rückte ein Stück von
ihm ab.
Er aber ſetzte ſich gelaſſen und that, als ob
die Sache für ihn erledigt wäre.
Der Profeſſor, eben noch violett, wurde weiß
wie weicher Käſe und rief, indem er ſein Buch
von ſich warf:
Verwegener Bube! Ah! Ah! Am Montag
werden Sie erfahren, was Sie ſich zugezogen
haben.
Bei dem Worte Montag hätte Stilpe laut auf¬
lachen mögen, aber es kam ihm der Gedanke, daß
man ihn gleich heute am Nachmittag einſperren
könnte, und ſo hielt er ſich ſtille.
[145]Zweites Buch, viertes Kapitel.
Als die Stunde vorüber war und die Sekun¬
daner ihre Bücher zum Heimgehen packten, bildete
ſich ein Kreis um Stilpe:
— Na, die Unverſchämtheit kommt Dir teuer
zu ſtehen, mein Söhnchen . . . Du haſt wohl Luſt,
geſchwenkt zu werden?. . . Du biſt wohl nicht
bei Troſte? . . .
Stilpe lächelte blos geringſchätzig. Gerne hätte
er jetzt irgend eine kleine Andeutung gemacht. Es
wurde ihm ſehr ſchwer, ſie zu verbeißen. Aber er
überwand ſich.
Und nun kam er in Aufregung. Wenn er nur
nicht noch zu Tiſche zu gehen brauchte! Aber das
mußte er natürlich, ganz abgeſehn davon, daß er
recht gut bei Appetite war.
Kaum aber, daß er ſich vom Tiſche erhoben und
geſegnete Mahlzeit gewünſcht hatte, lief er aus dem
Hauſe und rannte durch die Straßen.
Es war ein unfreundliches Spät-Frühlings¬
wetter, Regen und Wind. Da er keinen Schirm
hatte, war er bald ganz durchnäßt. Aber er lief,
10[146]Stilpe. ſo unangenehm ihm dieſe eindringende Feuchtigkeit
war, immer auf und ab und immer denſelben Weg:
Grimmaiſche und Petersſtraße. Er wollte nicht
eine Minute früher als Punkt 3 Uhr am Garten¬
hauſe ſein, aber er wollte auch nirgends vorher
einkehren, denn er fühlte, daß er nicht ſitzen
könnte.
Sein einziger Gedanke war: Wenn wir nur erſt
im Zuge ſitzen. Und dann bis Trieſt in einem
Saus! Ah! Nacht und Tag und Nacht! Und
dann das Schiff! . . .
Freilich: Die Seekrankheit . . . Unſinn!
Wenn erſt die ſchimmernde Küſte Griechenlands
auftauchen wird . . .! Venus Anadyomene! . . .
Und dieſe Hellenen in ihren bunten Trachten; auch
Türken, Armenier! Und herrliche Weiber mit
Krügen auf den Köpfen! Großäugig! Glutäugig!
Und broncene Brüſte ſchimmern durch paphiſche
Gewänder . . .! Und Marmorpaläſte, ſüdliche
Gärten und ſengende Sonne!
Und nun mein ſtolzes Schiff, ſtich aus ins
Meer!
Plötzlich kam ihm ſeine Mutter in Sinn. Es
kam ſo unvermutet und grell, daß er mitten im
Rennen ſtehen blieb.
[147]Zweites Buch, viertes Kapitel.
Herrgott, wie wird ſie weinen . . . Es iſt doch
eigentlich . . . Ah, aber nein: Wenn ich ſicher bin,
ſchreib ich ihr Alles, und wenn ſie ſieht, wie glück¬
lich ich bin, dann wird ſie ſtolz auf mich ſein!
Sie verſteht mich ja! Sie weiß, daß aus mir
was Großes werden wird!
Er hoffte, es würde ein ganzes Gedicht werden,
aber es blieb, wie gewöhnlich, beim Anfange.
Endlich ¾3 Uhr! Nun zum Gartenhaus!
Er lief im Trabe mitten durch Pfützen und
ohne aufzuſehen, wie ein Junge neben dem Reifen.
Jetzt am Garten. Nun die Allee hinauf.
Ob Girlinger ſchon da iſt?
Nun den Seitengang. Gott ſei Dank, daß es
regnet und niemand im Garten iſt.
Aber der Dreck! Der Dreck! Ganz beſpritzt!
Das wird doch auf der Eiſenbahn nicht auf¬
fallen?
So, jetzt bei Kürners Garten vorbei und nun
mit Barriereſprung übers Stacket. Teufel! Mitten
in eine Pfütze! So ein Blödſinn!
10 *[148]Stilpe.
Punkt drei!
Aber Girlinger iſt noch nicht da. Natürlich;
der macht ſichs bequem und kommt ſicher in Gummi¬
galloſchen und muß um jede Pfütze einen Bogen
machen und womöglich bei jedem Buchladen ſtehen
bleiben. Ekelhaft dieſe Hundsſchnauzigkeit.
Er ging zum Gartenhaus und griff in ſeine
Taſche nach dem Schlüſſel.
Plötzlich fuhr er zuſammen und ſtarrte auf
etwas weißes, das in der Thürſperre klemmte.
Sein Geſicht verzerrte ſich: Ah, du Hund, du!
Er riß das eingeklemmte Papier heraus. Her¬
unter das Couvert. Da ſtand mit den ſchönen,
ſo oft in der Schule belobten Schriftzügen unter
Einhaltung des Höflichkeitsrandes ꝛc. folgendes:
Nachdem ich mir unſern Plan noch vielmals
und reiflich überlegt habe, bin ich zu der un¬
umſtößlichen Überzeugung gelangt, daß es im
Grunde blos ein etwas perſönlich drapierter
Dummerjungenſtreich wäre. Wenigſtens was
mich angeht. Du biſt ja anders, und Dein
Temperament berechtigt Dich gewiſſermaßen zu
einem ſolchen Schritte, der ins Ungewiſſe führt.
[149]Zweites Buch, viertes Kapitel. Aber ich bin nicht zu dergleichen kühnen Ent¬
ſchlüſſen geeigenſchaftet.
Alſo: Ich kann nicht mitthun.
Verachte mich, ſoviel Du willſt und nenne
mich einen Feigling und Wortbrüchigen. Ich
kann nichts dagegen thun. Höchſtens, daß ich
auch Dir rate: Stehe auch Du von dem Plane ab.
Selbſtverſtändlich biſt Du ſtrengſter Ge¬
heimhaltung von meiner Seite aus ſicher. Aber
ich erwarte auch von Dir, daß Du nicht etwa
in einem Deiner Wutausbrüche mich als Deinen
Komplizen nennſt. Das wäre keineswegs ho¬
norig.
Indem ich Dir, für den Fall, daß Du den
Plan zur Ausführung bringſt, alles Glück auf¬
richtig wünſche, bin ich, auch wenn Du mich
verachteſt,
Dein Freund
Robert Girlinger.
P. S. Meine Sachen nimm, wenn Du
gehſt, mit. Sie werden Dir nützlich ſein.
Stilpe geriet in eine maßloſe Wut.
Zuerſt ließ er ſie an dem Briefe aus, den er
mit den Zähnen zerriß und in das matſchige Erd¬
[150]Stilpe.reich hineinſtampfte. Dann warf er ſeinen Hut
auf die Erde und ſchlug mit den geballten Fäuſten
an die Gartenhausthür. Er war aſchfahl im Geſicht
und biß ſich fortwährend auf die Lippen, als wenn
er das Bedürfnis hätte, etwas zu zerfleiſchen.
Dann ſchloß er die Thür auf und ging ins
Gartenhaus. Mit einem Fußſtoße öffnete er die
Deckthür zu der Verſenkung, wo die Koffer ſtanden
und ſpuckte auf dieſe. Dann warf er die Deckthür
zu, daß es krachte und ſetzte ſich auf einen Garten¬
ſtuhl. Ein Windſtoß warf die Thüre zu, und nun
war er im Dunkeln allein mit ſeiner kochenden Wut.
Was thun?! Was thun?!
Ah, vor Allem Eins: Rache an dieſem feigen
Hund! Hin zu Girlinger und ihm laut ins Ge¬
ſicht ſchreien, was für ein erbärmliches Subjekt er
iſt. Das ganze Haus zuſammenſchrein! Ihm den
Koffer vor die Füße, nein, vor den Bauch werfen.
Und ihn prügeln!
Prügeln! Unſäglich und lange prügeln!
Ach was, erſchießen müßte man ihn!
Erſchießen! Das iſt ein Gedanke! Ah, und
da iſt ja auch der Revolver! Gottſeidank, daß er
ſo groß iſt!
Aber das war ſchon mehr blos pathetiſche
[151]Zweites Buch, viertes Kapitel. Zierleiſte. Er merkte das ſelber, und den Ge¬
danken, ſich hinter her etwa ſelber zu erſchießen,
ließ er nur ganz von Ferne vorbeidrohen.
Überhaupt nein: Weder Prügel noch Revolver,
nur Verachtung! Ein einziges Wort auf eine Poſt¬
karte geſchrieben: Lump! und dann fort!
Fort! Fort! Fort! Er rüttelte das Wort in
ſich hin und her. Fort! Fort! Aber es geſchah
halb mechaniſch, wie er ſich das in plumpen Stößen
immer wiederholte.
Fort! Fort! Natürlich: Fort!
Ich werde doch wohl wegen dieſer Kanaille
nicht hier bleiben!?
Aber dieſe Beſtie hat ja das Kursbuch! Der
ganze Reiſeplan ſtand ja bei ihm!
Ich Wickelkind habe ihm ja Alles überlaſſen!
Sonderbar: Der Gedanke, ſich nun ſelbſt ein
Kursbuch anzuſchaffen und einen Reiſeplan zu
machen, kam ihm nicht.
Dafür entwarf er bereits den Brief, den er
nach ſeiner Ankunft in Athen „dieſem Elenden“
ſchicken wollte: „Hier bin ich, auf der Akropolis,
und gottlob ohne den Pintſcher, der mir folgen
wollte . . . Ich habe eine ſehr angenehme Stelle
als Sekretär eines deutſchen Privatgelehrten . . .
[152]Stilpe.Meine Adreſſe teile ich Dir nicht mit, um vor
Deiner Verräterei ſicher zu ſein. Denn es giebt
keine Gemeinheit, die ich Dir nicht zutraute. . .“
Dieſer Brief, den er vielmal in ſich hin und
her wandte und mit zahlreichen vergifteten Spitzen
verſah, beruhigte ihn ungemein.
Als er ihn auswendig wußte, war er ſo weit,
die „Jammerhaftigkeit dieſes Staatsanwaltsſprö߬
lings“ für ein Glück anzuſehen.
Wäre ich denn in ſeiner Gegenwart frei ge¬
weſen? Hätte er mich nicht in meinen beſten Ent¬
ſchlüſſen geſtört? Was für eine unglaubliche Ver¬
irrung dieſer Gedanke überhaupt geweſen iſt, mit
dieſer Hundeſchnauze zuſammen nach Griechenland
gehen zu wollen. Aber eine gute Lehre das!
Immer und Alles allein! Jedes Vertrauen iſt
Wegwurf!
Er ſchrieb ſich dieſe Maxime in ſein Notizbuch
und empfand das ganze differenzierte Wohlgefühl
des Peſſimiſten.
Er wurde ſogar übermütig. Warte, mein braver
Knabe, dachte er ſich und nahm die Girlingerſchen
Sachen aus dem Koffer, hing ſie, nachdem er ſie
zerriſſen hatte, auf eine Bohnenſtange und ſtellte
das Ganze nach Art einer Vogelſcheuche in ein
[153]Zweites Buch, viertes Kapitel.Beet. Daran befeſtigte er ein Stück Papier
mit der Aufſchrift: Siegeszeichen des Wohlver¬
haltens.
Dann nahm er den Koffer mit ſeinen Hab¬
ſeligkeiten und ſchlug den Weg zu dem Hauſe ein,
in dem Martha waltete.
Es war ſelten, daß dort ein Menſch männlichen
Geſchlechtes mit einem Koffer erſchien, denn, wenn
auch viele Handlungsreiſende in dieſem gaſtfreien
Hauſe verkehrten, ſo ließen ſie ihre Muſterpackete
doch gewöhnlich im Hotel. Und ſo erregte er ein
gelindes Aufſehen.
— Ja, Schnutchen, kleines, willſt Du denn
verreiſen? rief ihm Martha entgegen, die, mit
einem ſchwarzſeidenen Hemde bekleidet, nicht mehr
an die Gemälde Profeſſor Thumanns erinnerte.
— Ich bin auf dem Wege zum Bahnhofe und
will Dir nur Lebewohl ſagen, erwiderte Stilpe
etwas ernſter, als es im Stile dieſes Milieus war.
— Nanu, doch nich ganz fort, Schnutchen?
Dann muß ich ja weinen!?
[154]Stilpe.
— Ganz fort. Weit weg. Aber frage nicht.
Wir wollen noch einmal fröhlich ſein.
Er gab ſich hier ſonſt gerne frivol, weil er
fürchtete, im andern Falle ſeine Jugend zu ver¬
raten, die ihn in dieſem Hauſe immer etwas ge¬
nierte, aber diesmal konnte er die jugendliche
Feierlichkeit nicht verleugnen.
— Jetzt wird mirs aber ängſtlich, Schnutchen.
Wer ſoll mir denn dann Verſe vorleſen?
— Du brauchſt nicht ſo ſpöttiſch zu ſein.
— Aber nee, ich mein's ernſt, auf Ehre. Ich
kann ſie ja auswendig!
Und ſie deklamierte mit unverſtellter Genug¬
thuung:
— Siehſt Du, ich kann's ganz auswendig!
Stilpe war ſelig. Seine Verſe klangen ihm
aus dieſem Munde wie der Inbegriff aller Poeſie,
und er fiel dem Mädchen heiß um den Hals.
— Rotwein! Champagner! Und Cigarretten!
— Aber Schnutchen, haſt Du denn ſoviel
Geld?
— Ja, ja, maſſenhaft! Laß nur kommen.
— Nee, Schnutchen, laß das doch die alten
Onkels machen. Ein paar Glas Bayriſch thuts
bei Dir ſchon.
— Nein, nein! Heute müſſen wir Wein
trinken! Weißt Du, eine Orgie feiern! Eine
Orgie! Weißt Du, was das iſt?
— Ja, ja, ſo was Verrücktes. Aber wozu
denn?
— Mach! Mach! Ich habe nicht lange Zeit.
Ich muß fort. Beſtelle nur! . . . Ach ſo, voraus¬
bezahlen? Da, da iſt Geld.
Er gab ihr ſein ganzes Portemonnaie.
— Gehört das ganz meine?
Stilpe erſchrak ſehr. Aber er faßte ſich und
ſagte mit edlem Anſtande:
— Wie Du willſt. Aber dann kann ich nicht
reiſen.
[156]Stilpe.
— Gott, biſt Du ein anſtändiger Junge! ſagte
das Mädchen und gab ihm das Portemonnaie zurück.
Diesmal ärgerte ihn das Wort Junge nicht.
Der Wein nahm ſeiner Stimmung den Reſt von
Gedrücktheit. Zwar wollte ſich durchaus nicht
das entwickeln, was er eine Orgie nannte, denn
das Mädchen bemutterte ihn heute noch mehr als
ſonſt, aber wenn er auch nicht tanzte, ſo lief er
doch recht lebhaft in dem kleinen Zimmer, ſoweit
es nicht Bett war, auf und ab.
— Wenn Du wüßteſt, was ich vorhabe! Wenn
Du wüßteſt, wohin ich reiſe!
— Na, ſo ſags mir doch.
Er blieb ſtehen und ſah ſie ekſtatiſch an.
— Ja! Wenn Du mir verſprichſt, mit mir
zu reiſen!
— Ja. wenn Du bei Mutter Zanken meine
Schulden bezahlſt.
— Wieviel ſind es!
— Na, blos ſo dreihundert Märker.
— Herrgott! Dreihundert! Nein, das kann ich
nicht. Oder! Halt! Warte mal!
Und er ſtürzte ſich auf ſeinen Koffer und brachte
die Uhren und Ringe ans Bett.
— Da, was kriegt man dafür?
[157]Erſtes Buch, viertes Kapitel.
Martha kniete ſich im Bett auf und breitete
die Tauf- und Confirmationsgeſchenke von weiland
Wiehr junior vor ſich aus, hübſch eins neben das
andere; es gab eine luſtige Reihe, die im Lichte
der roten Bettampel verſtohlen blinkte.
— Das kann ſchon zweihundert Mark geben,
wenn Du Dich nicht beſchummeln läßt.
Sie ſah die Sachen verliebt an, ſteckte ſich die
Ringe an die Finger, ſchüttelte die Uhren und
hielt ſie ans Ohr und ließ die Diamanten der
Buſennadel leuchten.
Plötzlich warf ſie den Kopf zurück, daß die
langen blonden Haare von den Brüſten weg über
die Schultern fielen und fragte erſtaunt: Ja, wo
haſt Du denn die Sachen her?
Stilpe überlegte. Sollte ers ſagen? Hatte ſie
ſich damals nicht ſo verdammt moraliſch gehabt?
Aber jetzt ſteht die Sache doch anders. Das Zeug
liegt auf dem Bette und gehört beinahe ſchon ihr.
Ob ſie da nicht . .? . .
Aber er zögerte doch und ſagte blos: Alte
Tauf- und Confirmationsgeſchenke.
— Und das willſt Du verkaufen? Das iſt
aber nicht ſchön von Dir!
Was? Schon das fand ſie unrecht? Das em¬
[158]Stilpe. pörte ihn förmlich, es kam ein Gefühl von Zorn
über ihn, und zugleich regte ſich etwas wie Furcht.
Er wurde mit einemmale irre.
Aber, wart, nun gerade ſoll ſies wiſſen, dieſe
elende Duckmäuſerin. Das wird einen Effekt
geben!
Ob ſie das Zeug aus dem Bette und mir vor
die Füße wirft?
Und er erzählte ihr ganz kühl, daß er die
Sachen geſtohlen habe und wem ſie gehörten.
Sie ſah ihn blos erſtaunt an und ſchüttelte
den Kopf.
Dann ſagte ſie langſam und wie ungläubig:
Nein . . ! . . Du . . ! . . Das . . ? . .
— Ach mach kein ſolches Gehabe. Es iſt ſo,
und ich finde gar nichts dabei.
Jetzt ſprang ſie aus dem Bette und faßte ihn
an den Schultern:
— Aber, Junge! Was iſt denn mit Dir los?
Du biſt doch kein ſo gemeiner Kerl! Herr du
mein Gott, wie kommſt Du denn auf ſo was!
Sie ſagte das faſt tonlos und mit einer ganz
anderen Stimme, als er an ihr gewöhnt war.
Es ging ihm durch und durch. Mit einemmale
fühlte er, daß er etwas Gemeines gethan hatte.
[159]Zweites Buch, viertes Kapitel.Hätte ſie nur im Geringſten was pathetiſches ge¬
ſagt oder gethan, er würde ihr ins Geſicht gelacht,
und, wenn ſie etwa Miene gemacht hätte, Lärm zu
ſchlagen, alles geleugnet haben. So aber wars
wie ein Urteil, wie eine Verdammung.
Er mußte auf den Boden ſehen und fühlte ſich
gedemütigt, ohne ſich dagegen aufzulehnen.
Was ſie nun noch ſagte, war eigentlich über¬
flüſſig und ſchwächte den Eindruck der erſten Worte
eher ab. Aber er ließ Alles über ſich ergehen und
ſagte nichts dazu.
Sie legte durchaus den Hauptton darauf, daß
er den alten Leuten das genommen hätte, was
ihnen das Liebſte war. Sie ſagte das nicht in
feinen und gefühlvollen Worten, ſondern faſt roh
und ungeſchickt.
Immer wieder kam das Wort: So eine Sünde,
und gar nichts dabei zu fühlen!
Er wagte nicht ein einziges Mal aufzuſehen,
und ihre Hände auf ſeinen Schultern fühlte er wie
eine unerträgliche heiße Laſt.
— Was ſoll ich aber nun thun? ſagte er ganz
verzweifelt, wie ſie ſchwieg.
— Gleich Alles wieder hintragen! Alles ſagen !
— Das geht nicht!
[160]Stilpe.
Und nun erzählte er ihr, ſchluchzend und un¬
fähig, ſeine Thränen zurückzuhalten, Alles, was er
vorhatte, Alles, was ihm geſchehen war, Alles, was
ihn drückte.
Das machte weniger Eindruck auf ſie. Sie
verſtand es nur unklar, aber das Davonlaufen be¬
griff ſie.
— Fahr hin, wo Du willſt, wenn Du nicht
mehr in die Schule gehn magſt. Sie erwiſchen
Dich doch bald. Aber das Zeug da nimmſt Du nicht
mit . . . Nein . . . So ein Junge! Gottſeidank, daß
Du zu mir gekommen biſt! Denke blos: Später!
Wenn Dus gefühlt hätteſt, was Du gethan haſt . . .
Herr du mein Gott, ſo ein Unglück! Du
wärſt ja ein Lump geworden, Junge! Gott weiß,
was Du noch Alles angerichtet hätteſt! Mord und
Todſchlag! Wahrhaftig ein Glück, daß der andere
Bengel nicht gekommen iſt. Sonſt hätt ich Dich
nicht hier.
Es beleidigte ihn gar nicht, daß ſie ihn ſo in
aller Deutlichkeit als Junge ꝛc. traktierte. Er war
vollkommen mürbe.
Nach langen Beratungen kamen ſie ſchließlich
überein, daß er die Nacht noch hierbleiben ſollte
(denn er fühlte ſich nun unfähig zu jedem anderen
[161]Zweites Buch, viertes Kapitel. Vorhaben, als eben hier zu ſein); am nächſten Tage
möge er dann getroſt nach Griechenland oder
Kamerun fahren; ſie aber werde die Sachen ein¬
packen und mit einem Brief, den er ſchreiben
müſſe, an die Adreſſe der alten Wiehrs ſchicken.
Der Brief lautete:
Seien Sie mir nicht böſe, daß ich ohne
Abſchied von Ihnen fortgegangen bin und nahe
daran war, eine große Schlechtigkeit zu begehen.
Ich hoffe, Alles gut machen zu können, und bitte
Sie, meinen Eltern nichts von dem zu ſagen, was
ich beinahe begangen hätte. Laſſen Sie mich
nicht verfolgen und melden Sie mich in der
Schule ab. Es dankt Ihnen für alles Gute,
was Sie ihm, dem Unwürdigen, gethan haben,
Ihr Pflegeſohn
W. St.
Die Schlußſätze des Briefes waren eigenſte
Hinzufügung Stilpes. Sonſt war der Brief nicht
eigentlich nach ſeinen Intentionen. Er hatte ihn
zerknirſchter und umfangreicher angelegt, mit einer
11[62[162]]Stilpe.großen Diatribe gegen das Geſchlecht der Gymna¬
ſiallehrer als Mittelſtück, aber das Mädchen wollte
nichts davon wiſſen.
Als aber der Brief geſchrieben war, fingen
beide an, vergnügter zu werden, als vielleicht die
Leute glauben, die da nicht wiſſen, zwiſchen welch
fernen Gegenden die Schaukel in der Seele mancher
Menſchen hin und her ſchwingt.
Denn Himmel und Hölle, Reue und Wolluſt
liegen zuweilen nicht weiter von einander entfernt,
als die Lippen zweier Menſchen, die ſich küſſen.
Fünftes Kapitel.
Die Oberprima des Königlichen Gymnaſiums
einer kleinen ſächſiſchen Induſtrieſtadt war aus¬
nahmsweiſe Sonnabend Nachmittag in die Schule
berufen worden, weil der Geheimrat Ammer, der
als Königlicher Kommiſſarius die bevorſtehende
Abiturientenprüfung zu überwachen hatte, mit dem
Wunſche hervorgetreten war, die Kandidaten ſchon
zuvor perſönlich kennen zu lernen. Er hatte ſich
mit ihnen in einer ſehr freundlichen und ſchmeichel¬
haften Art unterhalten, nämlich gar nicht ſo, wie
es die Art der Lehrer war, ſondern in der ge¬
winnenden Manier eines älteren Freundes etwa,
der ſeinen Vorſprung an Jahren und Reife
als nebenſächlich behandelt und ein Verhältnis
von Vertraulichkeit zu ſchaffen oder wenigſtens
vorzutäuſchen ſucht, ſoweit dies möglich iſt. Er
11*[164]Stilpe.hatte ſogar „Meine Herren!“ geſagt. Und ſtatt
der Vorprüfung, die man befürchtet hatte, war es
wirklich blos eine Art Unterhaltung geweſen, bei
der der Geheimrat jeden Anſchein von Examinieren
vermieden hatte.
Die Oberprimaner verließen das Schulgebäude
alſo mit ſtolz erhobenen Häuptern, auf denen hell¬
rote Mützen meiſt ſehr weit nach hinten gerückt
ſaßen. Dieſe Mützen hatten die Form von um¬
gedrehten kleinen niedrigen Näpfchen, nur drei der
jungen Leute trugen ſolche von anderer Façon,
nämlich breite, hinten etwas nach abwärts gedrückte
Deckel.
Dieſe drei Schlappdeckel, wie die anderen ſie
nach ihren Mützen nannten, gingen in ſehr eifrigem
Geſpräche abgeſondert.
— Eigentlich wars etwas gewagt von Schau¬
nard, ausgerechnet die beiden Gracchen als ſeine
Lieblings-Römer zu nennen, nachdem der Hohe
Rat ihn wegen Sozialismus und Atheismus ſchon
mal hat ſchwenken wollen, ſagte der Eine, ein unter¬
ſetzter Burſch mit ſchläfrigen, aber nicht geiſtloſen
Augen und einem bereits ſehr dichten Schnurrbart.
— Aber mein ſüßer Rodolphe! Du geruhſt
immer noch, Dich um drei Gramm dümmer zu
[165]Zweites Buch, fünftes Kapitel. ſtellen, als wofür Du uns hältſt. Du weißt ſo
gut wie wir, daß Schaunard ein Pſychologe von
vielen Graden iſt. Er hat dieſen fürtrefflichen
Geheimrat blos ſehr gut erkannt. Denn ſiehe da:
Schon iſt er zu einer Privataudienz zurückbehalten
worden!
Der das ſagte, war ein dürrer brünetter Menſch
mit einer ſehr ſchönen Naſe und wunderſchönen
braunen Augen, die leider hinter ſehr ſtarken
Klemmergläſern ſaßen. Er ging etwas gebückt,
aber nicht aus irgend einem körperlichen Grunde,
ſondern aus philoſophiſcher Koketterie. Es wäre
ihm ein Vergnügen geweſen, buckelig zu ſein.
— Marcel hat Recht. Schläue und abermals
Schläue! Heute hat Schaunard ſeinen Abitur ge¬
macht, ſag ich! Das Backpflaumenmännchen hat
ſich in ihn verliebt und wird ihn trotz allen kon¬
rektoralen Gekrähes und Geheules durchſchleppen.
Wetten?
Der ſo ſprach, war ein ſehr jung und zart
ausſehender Jüngling, der ſich aber ein bischen
renommiſtiſch geberdete und damit den knabenhaften
Eindruck ſeiner Perſon zu verwiſchen ſuchte. Auf¬
fällig an ihm war ſeine Haarfriſur, die etwas an
die napoleoniſche Zeit erinnerte, wo man es
[166]Stilpe. liebte, nach dem Vorbilde des Cäſaren die Haare
ins Geſicht und über die Ohren zu ſtreichen.
Wer Mürgers Bohème-Buch kennt, wird, nach¬
dem die Namen Rodolphe, Marcel und Schau¬
nard gefallen ſind, ohne weiteres wiſſen, daß
ſich dieſer Jüngling des Spitznamens Colline
erfreute.
Dieſe Spitznamen waren übrigens in der Schule
nicht allgemein gültig, ſondern ein Reſervatrecht
des „Cénacles“ oder der Vereinigung der vier
Schlappdeckel unter ſich, die, als zukünftige Dichter
und Künſtler, wie ſie ſich fühlten, ſich das Cénacle
in Mürgers Vie de Bohème zum Muſter genommen
hatten und ſogar nach Möglichkeit die Ausdrucks¬
weiſe ihrer Vorbilder nachahmten. Sie hielten ſich,
im Gefühle ihrer Zukunft, ſehr exkluſiv gegenüber
den anderen Primanern, die eingeſtandenermaßen
blos Paſtoren, Lehrer, Ärzte, Juriſten, Offiziere
werden wollten, und wurden dafür wieder von
dieſen als überſpannt und lächerlich abgethan.
Ihre bürgerliche Nomenclatur war dieſe:
- Rodolphe: Bruno Wippert,
- Marcel: Max Stöſſel,
- Colline: Ludwig Barmann,
- Schaunard: Willibald Stilpe.
Stilpe war der Gründer des Cénacles und
ſein anerkanntes Haupt.
Er war damals, nachdem er ſich von Martha
getrennt hatte, nicht gar weit gekommen. In Halle,
das doch nicht auf der Route Leipzig-Athen liegt,
hatte man ihn in einem Tingeltangel feſtgenommen,
weil er in der Betrunkenheit unabläſſig laut und
rhythmiſch geſchrieen hatte:
Auf die Polizei gebracht und nach dem Grunde
dieſer mathematiſchen Rezitation gefragt, hatte er
auf die ihm drohende Nachprüfung in der Mathe¬
matik als einen höchſt triftigen Grund hingewieſen
und überdies gebeten, man möge ihm ſeine Loga¬
rithmentafel holen, die in der Unterſekunda der
Leipziger Thomasſchule Cötus B auf ſeinem
Platze liege, unten auf der letzten Bank rechts.
Damit hatte er ſich zur Genüge als der durchge¬
brannte Gymnaſiaſt aus Leipzig legitimiert, deſſen
Signalement auch auf der halliſchen Polizei ein¬
getroffen war.
[168]Stilpe.
Was ſich dann begeben hat, bleibe im Schatten
der Vergeſſenheit, wie auch Stilpe ſelbſt nie mehr
daran dachte. Denn er liebte unangenehme Er¬
innerungen wenig und beſaß ein ausgeſprochenes
Talent dafür, fatale Dinge zu vergeſſen.
Es fehlte nicht viel, daß er damals wirklich,
aber nicht in Athen, die Stelle eines Sekretärs,
aber nicht bei einem Privatgelehrten, erhalten hätte.
Der verzweifelte Lepidopterologe wollte ihn durch¬
aus als Schreibgehülfe bei der Magiſtratskanzlei
in Leißnig anketten. Aber den Bitten der Mutter
und den guten Urteilen über Willibalds Begabung,
die einer ſeiner Leipziger Lehrer abgab, gelang es,
den Vater zu einem letzten Verſuche zu bewegen.
So kam Stilpe an das eben begründete Königliche
Gymnaſium der kleinen Stadt, in dem er es jetzt
wirklich bis zum Oberprimaner gebracht hatte.
Auch hier war ſein Studiengang nicht ohne
Fährlichkeiten abgelaufen, denn die Lehrerkonferenz
bedachte ihn mit ausgezeichnetem Mißtrauen, indem
ſie ihn bald für einen Freund wüſter Zechgelage
[169]Zweites Buch, fünftes Kapitel.und bedenklicher Mädchen, bald für einen Pro¬
pagandiſten gemeingefährlicher Ideen anſah.
Aber er war klug geworden. Ohne nach dem
Ruhme eines Muſterſchülers zu geizen, aber auch
ohne ſich irgend etwas abgehen zu laſſen, was er
zu ſeinem Wohlbefinden für nötig hielt, lenkte er
das ſcharf beobachtete Schiff ſeiner Schülerexiſtenz
geſchickt zwiſchen allen Praezeptorenklippen hindurch,
indem er aufs Genaueſte die Taktik befolgte,
ſich aller offenkundigen Manifeſtationen ſeiner
Privatvergnügen zu enthalten. Er war, wie er
es ſelber einmal in ſeinem immer üppiger werden¬
den Tagebuch ausdrückte, „zur Höhe eines vor¬
ſichtigen Cynikers emporgeſtiegen“. Was er ſeine
Orgien nannte, feierte er in Leipzig, und den ver¬
botenen Ideen fröhnte er ſtill für ſich, ohne etwa
in deutſchen Aufſätzen, wie damals als „biederer
Sekundaner“, davon etwas merken zu laſſen. Viel¬
mehr kultivierte er jetzt in ſeinem Schul-Aufſätzen,
deren Gewandtheit und Schwung ſogar anerkannt
wurde, eine virtuoſenhafte Jongleurkunſt mit wohl¬
gebauten Phraſen, in die er nur die beſtakkreditierten
Meinungen ſilbern und golden einſpann.
Zum Glück lernte er in den drei bereits ge¬
nannten Kameraden Leute von ähnlichen Neigungen
[170]Stilpe. kennen. Zwar achtete er ſie nicht für ſeiner eben¬
bürtig, ja er hatte ſogar ein ſtilles Mitleid mit
[i]hnen, weil ſie, wie er bemerkte, noch „einige
biedere Züge von Wohllöblichkeit“ hatten, aber er
fühlte es doch als einen ſehr angenehmen Zufall,
daß er in ihnen „Inſtrumente fand, auf denen
er ſpielen konnte“. Colline-Barmann war ſeine
Baßgeige, Marcel-Stöſſel ſein Fagott, Rodolphe-
Wippert ſeine Trommel. Natürlich empfanden ſich
die Drei ſelber als beträchtlich mehr, und er ſeiner¬
ſeits ließ es ihnen nur ſelten merken, daß er „auf
ihnen ſpielte“. Auch liebte er ſie in einem gewiſſen
Sinne wirklich. Einer ganz hingebenden Freund¬
ſchaft war er zwar nicht fähig, aber die Frivolität
ſeines zur Schau getragenen Cynismus gegenüber
dieſen Freunden war doch zum guten Teile be¬
wußt angeſchminkt.
Zuerſt begann die Vereinigung der Vier mit
einem litterariſchen Zirkel, „Lenz“ genannt.
Dieſer Titel galt in zweierlei Bedeutung. Ein¬
mal in der, wie ihn die Lyriker als Synonym für
[171]Zweites Buch, fünftes Kapitel. Frühling verbrauchen, und dann in der des Namens
ihres literariſchen Hauptheiligen. Denn ſie laſen
damals ausſchließlich Dichtungen der Sturm- und
Drangperiode.
Dann ſchoben ſich Ibſen und die Ruſſen, dann
Zola und der Naturalismus ein, und nun wurde
aus dem Leſezirkel, wo man mit verteilten Rollen
„Die Kindermörderin“, „Sturm und Drang“, „Der
Hofmeiſter“ geleſen hatte, ein Debattierklub, wo
man vor allem „Herrn Schillinger“, den Dichter
„des pp. Wallenſtein“, vernichtete und Vorträge fol¬
gender Art hielt: „Die Wahrheit als einziges Prin¬
zip der Kunſt“, „Inwiefern Naturalismus und So¬
zialdemokratie Parallelerſcheinungen ſind“, „Emile
Zola und Henrik Ibſen: Die Trageſäulen der neuen
Literatur“, „Worin liegt die Gemeingefährlichkeit
des ſogenannten Idealismus?“
Zu dieſer Zeit waren die Vier ſehr rabiat.
Ihr zweites Wort war: Konſequenz. Gewiſſe
Namen durften, bei hohen Strafen, bis zu zwanzig
Pfennigen, unter ihnen nicht genannt werden, ſo
Paul Heyſe und Julius Wolf. Wer es wagte,
„Schiller und Goethe“ zu ſagen, ſtatt „Goethe und
Schiller“, mußte, da gab es kein Erbarmen, Tabak
für alle Vier auf einen Monat kaufen. Aber auch
[172]Stilpe. Goethe galt nur für voll, „inſoweit er nicht Ge¬
heimrat war“. Das war ſogar ſtatutenmäßig feſt¬
gelegt. Shakeſpeare wurde fortwährend und mit
beſonderer Ehrerbietung genannt, aber doch mehr als
„merkwürdiges Phänomen eines frühen Naturalis¬
mus.“ Denn es ſtand ihnen feſt, daß die eigentliche
Litteratur jetzt erſt begänne, und Stilpe führte
den Gedanken mit Vorliebe aus, daß man jetzt
in dem wirklichen Sturm und Drang ſtehe,
aus dem der „neue und ganze Goethe“ hervor¬
gehen werde.
Wenn man ihn dann höhniſch fragte, ob er viel¬
leicht Luſt habe, dieſe Rolle zu übernehmen, ſo
grinſte er mit ſichtlicher Anſtrengung und ſagte:
Vor der Hand ſind wir Alle blos Teig. Das
Leben wird uns erſt kneten und backen.
— Du aber haſt die großen Roſinen, ent¬
gegnete ihm darauf Stöſſel.
— Und Dir fehlt es an Salz, revanchierte ſich
Stilpe.
Barmann aber ließ etwas von „zukünftigen
Dreierbroten“ vernehmen, und Wippert meinte, auch
Hundekuchen ſei ein Backwerk.
In dieſem Stile bewegten ſich die Verhand¬
lungen des Debattierklubs, wenn man aufs Perſön¬
[173]Zweites Buch, fünftes Kapitel. liche kam. Sonſt war die Ausdrucksweiſe trotz der
naturaliſtiſchen Tendenz mehr auf höhere Tropen
bedacht.
Aber eines Tages, es war ganz zu Anfang des
Oberprima-Jahres, begann Stilpe in einem neuen
Stile und von anderen Dingen zu reden. Er
baute fürchterliche und ſchnöde Hyperbeln, fand den
„Naturalismus in Worten“ lachhaft, fragte, ob es
„in dieſem Neſte“ nicht ein Trictrac gebe und er¬
klärte, die famoſeſte Mädchenfigur der Weltliteratur
ſei Mamſell Müſette. Dazu kamen die Worte:
Naſenwärmer, Bohème, Cénacle und eine große
Menge franzöſiſcher Flüche. Auch trug er fort¬
während ein kleines Buch aus der Reclambibliothek
mit ſich herum, das er ſein Brevier nannte. Eine
Woche ſpäter ſah man aber an deſſen Stelle ein
anderes, franzöſiſches. Er ſagte: Ich leſe jetzt meine
Bibel im Urtext.
Durch dieſe Geheimthuerei voll herablaſſend
abgegebener Andeutungen fühlten ſich die Anderen
beleidigt, und es wäre faſt zu einem Bruch ge¬
[174]Stilpe. kommen, denn Stilpe behandelte ſie im Grunde
wie kleine Knaben, die nicht wiſſen, was ein
Mädchen iſt, da rückte der Adept endlich mit
ſeinem Myſterium heraus, indem er eine Verſamm¬
lung mit einem Schreiben einberief, das folgenden
Wortlaut hatte:
Die ehrenfeſten und rühmlichſt bekannten
Säulen des königlich ſächſiſchen Gymnaſial¬
naturalismus zu . . . werden hiermit ſo höf¬
lich wie dringend eingeladen, in der be¬
ſcheidenen Behauſung des unterzeichneten Rene¬
gaten und Müſettiſten Schaunard, weiland
Stilpe, zu erſcheinen und außer zwei Stein¬
guttellern mit Zwiebelwurſt und Muldecaviar
einen Vortrag entgegenzunehmen, deſſen Titel
und Thema iſt:
Der Müſettismus
als einzige und eigentliche Künſtler¬
religion, nachgewieſen an dem claſ¬
ſiſchen Werke wahrer Künſtlerfreiheit
und Laune:
Scènes de la Vie de Bohème
par
Henry Murger.
(NB.! Das Werk wird auch in einer Über¬
ſetzung herumgereicht, und im Urtext
ſind die ſchwierigeren Vokabeln in deut¬
ſcher Überſetzung beigeſchrieben.)
Nach beendigtem Vortrag wird der Unter¬
zeichnete ſich die Freiheit nehmen, zu beantragen
was folgt:
Der naturaliſtiſche Debattirklub
wird aufgehoben, und an ſeine Stelle
tritt
Das Cénacle
der vier Schlappdeckel.
Zur Leitung der unausbleiblichen Debatte
wird der ehrenwerte Naturaliſt Barmann be¬
rufen, falls er ſich für die Dauer dieſes
Ehrenamtes ſeiner ihm angeborenen Grobheit
zu enthalten verſpricht, die vielleicht einem
Naturaliſten, nicht aber einem zukünftigen Cé¬
naclier angemeſſen iſt.
NB.! Vier pariſer Naſenwärmer ſind heute
eingetroffen und ſtehen, aber erſt nach
Conſtituierung des Cénacles, zur Ver¬
fügung.
[176]Stilpe.
NB.! Der Unterzeichnete hat ſich in Anbe¬
tracht des ungewöhnlichen und wichtigen
Ereigniſſes in Unkoſten geſtürzt und vier
Flaſchen Pontet Canet (Marke: Le pe¬
tit bleu) herbeigeſchleift. Doch wird
man gebeten, Weingläſer mitzubringen,
da es ſtilwidrig wäre, Rotwein aus
Bierſeideln oder Kaffeetaſſen zu trinken.
NB.! Petita Molinarina wird die Honneurs
der Schaunardſchen Hütte machen, falls
der gute Zufall, der Gott des künf¬
tigen Cénacles, es ſo einrichten ſollte,
daß die ſchauderhafte Mutter des er¬
freulichen Mädchens zur Zeit der Feier¬
lichkeit nicht zu Hauſe wäre.
NB.! Da die Schildkröte des Unterfertigten,
deren Intelligenz ſo häufig als über¬
legenes Gegenſtück zu der des Hüh-Wüh-
Konrektors anerkannt worden iſt, ſich
leider entſchloſſen hat, ſeit vergangener
Nacht als Leiche zu exiſtieren, ſo er¬
ſcheint es angemeſſen, ſie künftig als
Symbol des verewigten naturaliſtiſchen
Debattierklubs in pietätvollen Ehren zu
[177]Zweites Buch, fünftes Kapitel. halten. Sie wird in einer roſa aus¬
wattierten Cigarrenkiſte als Tafelſchmuck
funktionieren.
NB.! Man ſpanne ſeine Erwartungen hoch!
Schaunard.
Da man das Muſter dieſer Einladung nicht
kannte und überhaupt lauter Rätſeln gegenüber¬
ſtand, ſo wirkte das Schriftſtück auf die Drei un¬
gewöhnlich ſtark.
Völlig verblüfft war man aber, als man, der
Einladung folgend, Stilpe erblickte. Er präſentierte
ſich nämlich in Unterhoſen und Frack. Im Munde
hatte er eine kurzgebiſſene rotbraune Thonpfeife,
und ſein ganzes Benehmen war ungemein zeremo¬
niell und feierlich.
— Petita Molinarina kann leider nicht gereicht
werden. Dieſe beklagenswerte Bourgeoiſe hat ſich
an meinen Unterhoſen geſtoßen und war nicht
dahin zu bringen, zu begreifen, daß dieſe nur als
Surrogat für weiße Nangkingpantalons anzuſehen
und damit nicht nur entſchuldigt, ſondern geradezu
in die Sphäre des Schönen und Wohlanſtändigen
erhoben ſind. Dafür iſt die Schildkröte mit der
12[178]Stilpe. ganzen Würde eines amphibiſchen Leichnams zur
Stelle. Sie darf betrachtet werden, und ich
bitte zu bemerken, wie ſie im Tode noch mehr
den rührenden Zug einer Familien- und In¬
telligenzverwandtſchaft mit Sr. Brüllenz Hüh-
Wüh hat.
Da auch der Rotwein keine Fiktion war, ſo
ſtand einer fröhlichen Sitzungseröffnung nichts im
Wege.
Barmann übernahm mit einem geharniſchten
Proteſte gegen den Vorwurf der Grobheit den Vor¬
ſitz. Seine Eröffnungsanſprache, die er ohne
Zweifel auswendig gelernt hatte, ſchloß ſchwung¬
voll ſo:
— Und nun möge Stilpe, den wir einſtweilen
noch ſo und nicht anders nennen wollen, ſeinen
Vortrag halten, an den ſich ein ſo wichtiger An¬
trag knüpfen ſoll. Ich bin beauftragt, ihm zu er¬
klären, daß wir ernſtlich indigniert ſein werden,
wenn ſich ſeine Machination (Stilpe: Oho!) als
Frivolität entpuppen ſollte. Wir ſind bereit, uns
überzeugen zu laſſen, aber wir werden entſchieden
und ſcharf Front machen gegen jeden Verſuch,
unſre augenblicklichen Prinzipien (Stilpe: Sehr gut!)
nur mit den billigen Waffen ſeichten Witzes (Stilpe:
[179]Zweites Buch, fünftes Kapitel. Tautologie!) anzugreifen. (Stöſſel und Wippert:
Bravo!) Stilpe hat das Wort!
Stilpe erhob ſich und machte jedem Einzelnen,
zuerſt dem Vorſitzenden, eine tiefe Verbeugung,
wobei er beide Hände auf den Bauch legte. Dann
fuhr er ſich mit entſchloſſenen Fingerkammſtrichen
durch die Haare, ſchleuderte ſeinen Zwicker (ſämt¬
liche Schlappdeckel trugen ſchwarze Hornzwicker
mit ſehr breiten Bändern) wie etwas überaus
Läſtiges von ſich und begann:
Meine Herren Naturaliſten!
Gleich vier Edelauſtern unter unzähligen Maſſen
niedrigen Kümmelkäſes, harter Picklinge, zer¬
krümmter Sardellen und andrer Mobdelikateſſen
verwandter Art befinden wir uns in dieſer ſchäbigen
Induſtrieſtadt und verſuchen es, wenigſtens unter
uns den Sinn für Geiſtiges zu kultivieren.
Wir haben zuerſt das denkwürdige Leſekränzchen
„Lenz“ gegründet und unterhalten, indem wir uns
an den kühnen, wenn auch künſtleriſch mangelhaften
Beſtrebungen der Sturm- und Drang-Dichter er¬
bauten, die unter dem Rouſſeaurufe „retournons
à la nature“ den Limonadenteich der damaligen
Modelitteratur mit rieſigen Klumpen Edel¬
12*[180]Stilpe.metalls aus dem Schachte ihrer Seelen ausfüllten
und damit beſeitigten. (Wippert: Iſt das Bild
von Dir? Stilpe: Ich gebe nur eigene Münze
aus und verbitte mir im Übrigen Zwiſchenrufe
von beleidigender Fraglichkeit. Barmann: Die
Kritik der Zwiſchenrufe ſteht bei mir. Stilpe
macht drei Verbeugungen vor der Perſon des Vor¬
ſitzenden.)
Nachdem wir damit zu Ende waren und
keine Luſt verſpürten, die deutſchen Klaſſiker, die
im Pennal ohnehin genug maltraitiert und zu
Popanzen der Langeweile mumifiziert werden, auch
unſrerſeits privatim zu traktieren, haben wir uns,
mitgeriſſen von der modernen Sturm- und
Drangbewegung, entſchloſſen, den Leſezirkel Lenz
durch einen naturaliſtiſchen Debattierklub abzulöſen.
Wir haben die Hauptwerke der nordiſchen, franzö¬
ſiſchen, ruſſiſchen und deutſchen Naturaliſten nicht
allein geleſen, ſondern auch in heißen Debatten
eingehend beſprochen, und wir haben ſo, während
unſere biedere Lehrerſchaft von der Exiſtenz einer
ſolchen Litteraturbewegung nicht viel mehr weiß, als
eine Hebamme von unſer lieben Frau Aſpaſia
(Allgemeines Bravo! Ausgezeichnet! Famos!), in
uns Alles aufgenommen, was heute in der Litteratur
[181]Zweites Buch, fünftes Kapitel. aller Völker bewegend iſt. Wir können, wenn
uns auch bei dieſer Gelegenheit einige unregelmäßige
Verba im Griechiſchen entfallen ſein ſollten (Stöſſel:
Man denke!), auf dieſe Thatſache ſtolz ſein,
denn wir haben nach dem ewig citierten, aber ſonſt
nie befolgten Satze gehandelt: Non scholae,
sed vitae discimus (Barmann, ſehr laut:
Jawohl! Haben wir auch! Stilpe: Gewiß,
haben wir!)
Wem aber ſoll unſer Leben dienen?
Irgend einem dieſer ſackleinenen „wiſſenſchaft¬
lichen“ Broterwerbe, als da ſind: Die Lehre, den
Menſchen juriſtiſch zu verblöden, die Lehre, den
Menſchen theologiſch zu kaſtrieren, die Lehre, den
Menſchen mediziniſch zu vergiften, die Lehre, den
Menſchen philoſophiſch zu benebeln, die Lehre, den
Menſchen philologiſch zu verſchweinsledern?
Bei allen ſchönen Mädchen und guten Geiſtern,
wir rufen: Nein! Sapriſti! Nein! (Toſender
Beifall. Barmann ſchwingt die Arme.)
Unſer Leben ſoll der Kunſt dienen! Wir
wollen Dichter werden! (Gläſerklingen. Hörbare
tiefe Schlucke. Stilpe lächelt.)
Aber eben darum, meine lieben Debattier¬
naturaliſten, müſſen wir jetzt unſern Debattier¬
[182]Stilpe.klub auflöſen, dem Naturalismus Lebewohl ſagen
und den Müſettismus proklamieren! (Alle mög¬
lichen Rufe durcheinander: Wieſo!? Was iſt
das!? Nur nicht ſo fix!? Wo haſt Du denn
das her?)
Und nun erging ſich Stilpe in einer Schil¬
derung der Mürgerſchen Bohème, als eines
Muſters für alle künſtleriſchen Seelen, die nicht
blos von Kunſt reden, ſondern Kunſt leben
wollten.
Natürlich ſei „dieſer Haufen Steine hier“ nicht
Paris, und ſie ſelber ſeien ja noch für elf Monate
„Geiſteigene verſchiedener patentierter Knaben¬
erzieher“, aber der Grundgedanke dieſes vorbild¬
lichen Lebens: Die Verbindung von Kunſt und
Genuß, von revolutionärem Streben und „Lache¬
ſinn“ (das Wort wurde beanſtandet), kurz das, was
er Müſettismus nenne, der müſſe und könne ge¬
pflegt werden.
Um praktiſch zu reden: Man müſſe, ſtatt
über Naturalismus zu debattieren, in fröhlichen
Zuſammenkünften brav trinken und eigene Lieder
ſingen, man müſſe ſich entſprechende Mädchen bei¬
legen, kurz man müſſe nicht blos in Worten, ſondern
in Werken „bald zwanzig“ ſein. So erſt werde
[183]Zweites Buch, fünftes Kapitel.man ſich dem zukünftigen Berufe recht vor¬
bilden:
Stilpes glutvolle Rede und zumal die Citate
aus dem Zigeunerleben wirkten abſolut überzeugend,
und der Antrag auf Gründung des Cénacles wurde
mit ungewöhnlicher Begeiſterung durch Acclamation
angenommen.
— Vive le cénacle! Vive le cénacle!
Stilpe konnte die eigentliche Sitzung mit der
Verteilung der „Naſenwärmer“ ſchließen, aus denen
innerhalb einer Viertelſtunde ſolche Maſſen von
Tabakrauch produziert wurden, daß man die Not¬
wendigkeit einſah, morgen in die Schule andere
Röcke anzuziehen.
— Vive le cénacle! Vive le cénacle!
Das Cénacle ſchloß die vier Schlappdeckel noch
viel enger aneinander, als es die früheren Ver¬
einigungen gethan hatten.
In dieſem Müſettiſtenklub lagen denn doch
noch ganz andere Reize und Hilfsmittel der
Freundſchaft als in jenen Deklamier- und De¬
battier-Zirkeln.
Zwar waren auch jene unerlaubter und daher
verführeriſcher Natur geweſen, aber ihr Fehler war
Einſeitigkeit. Sie hatten die ſtrotzende Fülle des
Unerlaubten nicht kühn genug erſchöpft. Stilpe
hatte das ſehr klar erkannt und mit den an ſeine
Lektüre von Büchners Kraft und Stoff erinnernden
Worten ausgedrückt: Wir haben an einer Hyper¬
trophie der Cerebralbedürfniſſe gelitten; beſinnen
wir uns auf die — Niederlande, (hier hatte er
gewartet, ob man ſeinen Witz verſtünde; da es
nicht den Anſchein hatte, fügte er erklärend hin¬
zu) —: Wir müſſen unſern werten Sinnen auch
was zukommen laſſen.
Aber das war es nicht allein.
Eine Hauptſuggeſtion lag in dem Worte:
Paris.
Die vier Oberprimaner ſpürten das Komiſche,
das in ihrer Imitation lag, nur wenig (bisweilen
[185]Zweites Buch, fünftes Kapitel. nämlich doch, anflugweiſe), aber ſie empfanden es
als etwas verteufelt Keckes und Unverſchämtes, den
Ausbund der franzöſiſchen Künſtlerſchaft zu ko¬
pieren. Natürlich konnte die Kopie nicht ſehr treu
ſein, aber das war ein Reiz mehr, daß ſie ihre
Muſter in vielen Beziehungen wenden und drehen
mußten.
Sie trieben den verrückteſten Unfug.
Die tote Schildkröte wurde allmählich ihr Wahr¬
zeichen, indem ſie ſich daran erinnerten, daß eine
Schildkrötenſchale das Urmaterial zur griechiſchen
Lyra abgegeben hatte.
Da ſie, was Tric-trac ſei, nicht ausfindig
machen konnten, und es ihnen höchſt notwendig
erſchien, auch ihrerſeits etwas zu ſpielen, das nicht
an den üblichen Skat der deutſchen Primaner er¬
innerte, ſo legten ſie ſich ein japaniſches Bretſpiel
bei, das „die Gabe hatte, Jeden, der im Verdauen
war, unfehlbar und höchſt angenehm zu idiotiſieren“
wie Stilpe behauptete.
Mit Eifer frequentierte man die ſonntägigen
Tanzvergnügungen auf den benachbarten Dörfern,
die „Kuhſchwöfe“, doch ſtellte es ſich bald heraus
daß ſich dort nichts fände, was auch nur mit
„Phémie Teinturière“ verglichen werden konnte,
[186]Stilpe. geſchweige denn mit Mimi oder der völlig götzen¬
dieneriſch verehrten Müſette.
Dafür verliebte ſich Stöſſel in die Tochter eines
Gerbers, Wippert in die eines Viktualienhändlers
und Barmann, der immer was ganz Ausge¬
fallenes haben mußte, in das boshafteſte und
häßlichſte Mädchen der Stadt, die Tochter eines
Arztes.
Dieſe Liebſchaften fand Stilpe alleſammt bla¬
mabel, denn, ſo ſagte er, ſelbſt ein blindes
Huhn ſieht, daß ſie irreparabel platoniſcher Na¬
tur ſind.
Dafür ging er ſelber ein vollkommen und
zielbewußt unplatoniſches Verhältnis mit dem
Dienſtmädchen ſeiner Wirtsleute ein, einem
ſtämmig liebenswürdigen Weſen, das ſich für
ihn hätte vierteilen laſſen, ſo verliebt war es
in ihn.
Er machte ganz heilloſe Gedichte auf dieſes
Verhältnis, und es gehörte zu den ſtürmiſchſten
Augenblicken der Cénaclezuſammenkünfte, wenn er
dieſe freien Rhythmen losließ, die an Über¬
ſchwänglichkeit Alles in den Schatten ſtellten,
was den Schlappdeckeln an erotiſcher Lyrik be¬
kannt war. Im Übrigen wurden die Cénacle¬
[187]Zweites Buch, fünftes Kapitel. zuſammenkünfte mit Theetrinken (doch war viel
Rum dabei) und den ungeheuerlichſten Geſprächen
ausgefüllt.
Es durfte von Allem geſprochen werden, nur
nicht von der Schule. Hauptſächlich ſprach man
von zukünftigen dichteriſchen Plänen. Stöſſel, der
zugleich Muſiker war, wollte Opern dichten und
komponieren: Wißt ihr, Opern moderner Art,
voll fabelhafter Sinnenfreudigkeit, ungeheuer um¬
faſſend, allegoriſch, aber lebendig!
Mehr war darüber nicht zu erfahren, und wenn
er am Klavier ſaß, kams immer auf die ungari¬
ſchen Rhapſodien von Liszt heraus.
Wippert hatte vornehmlich ſatiriſche Pläne.
„Juvenalia“ ſollte ſein erſtes Werk heißen mit dem
Untertitel: Ein Hechelepos in ſieben Zinken. Jede
Zinke ſollte „einen Hauptſtand der gegenwärtigen
Ordnung zerſtrählen“. Die erſte Zinke, in ge¬
reimten Hexametern, behandelte die Sippe der
Gymnaſiallehrer und begann ſo:
auf dem Katheder
Leder!
Barmann hatte noch viel vom alten und neuen
Sturm und Drang. Obwohl er am wenigſten von
der wirklichen Welt wußte (wie denn Alle, mit Aus¬
nahme Stilpes, ziemlich unwiſſend in dieſem Punkte
waren), haßte er dieſe Welt doch mit einem ſehr
grimmigen Haſſe und wollte ihr „in machtvoll
wahren, meinethalben kraſſen Dramen einen Spiegel
vorhalten, daß ſie ſich vor Selbſtekel übergeben
ſollte.“
Stilpe aber hatte ſo viel Pläne, daß niemand
recht wußte, was er eigentlich vorhatte.
Manchmal fühlten ſie ihm höhniſch auf den
Zahn: Ob er vielleicht immer blos ſeine jeweiligen
Betthaſen beſingen wolle?
Er aber antwortete gelaſſen: Wohl möglich!
Jedenfalls wird immer mein Prinzip ſein: Erſt
leben und dann dichten! Ich heiße doch nicht Müller
von der Werra, ſapriſti! Ich bin doch nicht blos zum
Skandieren da! Das Dichten iſt blos Wiederkäuen
des Genuſſes. Aber um wiederkäuen zu können,
muß man vorgekäut haben. Verlaßt euch drauf:
Ich werde enorm vorkäuen!
Die andern fühlten inſtinktiv, daß er der
Einzige unter ihnen war, der ſein Programm ſicher
durchführen würde, und ſie hatten deshalb viel
[189]Zweites Buch, fünftes Kapitel. Reſpekt vor ihm, obwohl ſie auch nicht ohne Neid
waren.
So rollte das Jahr bis an die Schwelle der
Abiturientenprüfung.
Bis auf Stilpe waren die Schlappdeckel ſo
ziemlich ſicher, daß ſie das Examen beſtehen
würden. Was aber ihn anging, ſo hatte Barmann
recht gehabt, als er ſagte, daß auch er jetzt ſo
gut wie durchgekommen ſei, da der Königliche
Kommiſſarius ein ſo auffälliges Intereſſe für
ihn an den Tag legte.
Der alte Geheimrat Ammer hatte ſchon aus
den deutſchen Aufſätzen dieſes „zwar begabten, aber
ſonſt in mehr als einer Beziehung bedenklichen
Schülers“, wie er ihm bezeichnet worden war,
geſehen, daß Stilpe in der That ein merkwürdig
frühreifer Kopf und überhaupt ein ungewöhnlich
angelegter Jüngling ſei. Die Probeſtunde mit
den Abiturienten hatte ihm das noch deutlicher
gezeigt. Er hatte die Primaner aufgefordert, ihm
zu ſagen, welche Männergeſtalten ihnen aus dem
[190]Stilpe. Altertum am nächſten ſtünden. Die Antworten
lauteten durchgängig ſo, daß er ſich über die
völlige Gleichgültigkeit, die die jungen Herren
gegenüber den antiken Männern empfanden, ſehr
klar wurde.
Wie oft war Odyſſeus genannt worden, ſogar
Cicero dreimal! Nur dieſer Stilpe hatte die
Kuraſche gehabt, die beiden Gracchen zu nennen
und „mit ſchöner Offenheit“, wie der Commiſſarius
meinte, zu erklären, ſie ſeien ihm deshalb beſonders
lieb, weil ſie ihn „faſt modern anmuteten in ihren
ſozialpolitiſchen Forderungen“.
Der Geheimrat machte ſich ſogleich ein Bild
von der Entwickelung dieſes ungewöhnlichen Jüng¬
lings, wie ſie ſich geſtalten würde, wenn man ihn
rechtzeitig und früh auf die richtigen Bahnen
lenkte. Unzweifelhaft: Ein zukünftiger Publiziſt!
Jetzt natürlich noch unreif und verworren, eines
Tages wahrſcheinlich ſozialdemokratiſcher Idealiſt,
aber dann, immer eine geſchickte Beeinfluſſung vor¬
ausgeſetzt, wahrſcheinlich einmal eine glänzende
und feſte Stütze der ſtaatserhaltenden Inſtitu¬
tionen!
Dieſer alte Geheimrat war ein ſehr kluger Herr
und ärgerte ſich im Stillen rechtſchaffen über die
[191]Zweites Buch, fünftes Kapitel. Plumpheit, mit der ſich die Lehrerſchaften der
verſchiedenen Gymnaſien die Gelegenheit entgehen
ließen, Talente für den Staat zu erziehen, die den
ſtaatsfeindlichen Gewalten in der Hauptſache des¬
halb zum Opfer fielen, weil ſie ſich ſchon auf der
Schulbank zu Revolutionären geſtempelt ſahen.
Sein Beſtreben war, wenigſtens im letzten Augen¬
blicke gut zu machen, was noch gut zu machen
war. Daher auch ſein Verhalten Stilpen gegen¬
über.
Er behielt ihn, als die anderen Schüler fort¬
gingen, zurück und machte den Weg in ſein Hotel
mit ihm zuſammen. Dabei verhehlte er ihm nicht,
daß ſeine Ausſichten, das Examen zu beſtehen,
nicht eben glänzend wären, aber er ließ auch deut¬
lich durchblicken, daß mancherlei zu ſeinen Gunſten
in die Wagſchale fiele.
— Nehmen Sie beim deutſchen Aufſatz alle
Kräfte zuſammen! Gelingt der Ihnen ſo gut wie
die häuslichen Aufſätze, ſo haben Sie viel ge¬
wonnen. In der mündlichen Prüfung hoffe ich
mir eine gute Leiſtung im Überſetzen aus dem
Griechiſchen und Lateiniſchen ins Deutſche. Zeigen
Sie, daß Sie den Geiſt der Alten ſchnell erfaſſen
können! Daß Sie ſo manches, zumal Mathe¬
[192]Stilpe. matik und alles Grammatikaliſche, ſo vernachläſſigt
haben, iſt ſchlimm, ſehr ſchlimm, aber, wenn Sie
zeigen, daß Sie dafür anderen Dingen um ſo mehr
Liebe entgegenbringen, dann wird ſich das gelinder
anſehen laſſen. Und nun noch dies: Was
Sie auf der Schule in Hinſicht der ſittlichen
Führung gefehlt haben, machen Sie das auf
der Univerſität gut! Wenn Sie, wie ich hoffe,
auf unſrer Landesuniverſität ſtudieren werden,
ſo wird es mir eine liebe Aufgabe ſein, Sie
in den Augen zu behalten. Vergeſſen Sie
das nicht!
Stilpe antwortete mit edler Offenheit und in
gut zu Tage geförderten Sätzen, die eine heiße
Dankbarkeit und tiefe Vorſatznahme alles Guten
ſchön erkennen ließen.
Der Kommiſſarius: So ſei es! Ich hoffe, wir
werden uns auch in veränderten Verhältniſſen noch
ſehen und ſprechen. Meine Anteilnahme für Sie
gründet ſich auf eine gute Meinung und wird ſo
lange andauern wie dieſe. Denken Sie immer
daran! Es handelt ſich um mehr als die Reife¬
prüfung.
Stilpe (ſehr leiſe und mit einer faſt zärtlichen
Tonfärbung): Ich werde immer an dieſe gütigen
[193]Zweites Buch, fünftes Kapitel.Worte denken und beſtrebt ſein, mich ihrer würdig
zu erweiſen.
Händedruck und ein tiefer Abwärtsſchwung der
Schlappmütze.
Als der Geheimrat verſchwunden war, ſetzte
Stilpe ſeine Mütze nicht wie ſonſt auf den Hinter¬
kopf, ſondern tief in die Stirne. Er kam ſich un¬
endlich brav vor und ſtieß ſeine Vergangenheit
energiſch von ſich.
Kein Zweifel: Er würde das Examen be¬
ſtehen! Und mehr noch: Seine Zukunft war ge¬
macht.
Dieſer Geheimrat hatte erkannt, was in ihm
ſteckte, und es wäre ein Frevel, ſein Vertrauen zu
täuſchen. Wer weiß, was er mit ihm vor hatte!
Offenbar ganz hohe Poſten!
So etwa als litterariſcher Regierungsſekretär
oder . . . aber gleichviel: Irgend etwas ſehr An¬
geſehenes. Natürlich: Erſt ſtudieren, und zwar
neben Kunſtgeſchichte und Litteratur auch Juris¬
prudenz!
Seine alten Pläne waren durchaus ver¬
ſunken. Hier winkte Außerordentliches! War
13[194]Stilpe. nicht auch Goethe Geheimrat und Miniſter ge¬
weſen?
Das wars, was winkte! Die Verbindung von
Staatsmann und Poet.
Sollte er etwa wie Lenz untergehn? Nein:
Seine Sturm- und Drangperiode war vorüber.
Endgiltig.
Hinter ihm Nebel des Wüſtſeins, vor ihm die
breite, ſonnenhelle Marmortreppe zu Einfluß und
Ruhm und Reichtum.
Oh dieſe Eſelhaftigkeit, zu vergeſſen, daß ohne
Reichtum Genuß undenkbar iſt.
Was wär ich geworden? Ein genialer Lump!
Eine hungrige Berühmtheit, nein, pfui Teufel,
ein Litterat!
Was hätt ich gehabt? Nichts zu eſſen und
mediokre Weiber, Nähmädchen, höchſtens Chori¬
ſtinnen.
Nun aber! Stellung und Anſehen! Mitten
in den höchſten Kreiſen!
Ach, dieſe ariſtokratiſchen Damen! Alles an
ihnen Schönheit und Eleganz, rauſchende Seide,
feinſter Geiſt!
Er ſah einen ganzen Hofball vor ſich von
nackten Schultern und Brüſten, Diademe in duf¬
[195]Zweites Buch, fünftes Kapitel. tenden Haaren, heiße Blicke hinter Straußfeder¬
fächern. Und er fing gleich zu dialogiſieren an:
— Ah, Exzellenz, Ihr letztes Drama, wie
herrlich!
— Hat es Ew. Hoheit Beifall?
— Ach, ich bin hingeriſſen!
Und die Herzogin ſah ihn glühend an, dieſe
Herzogin, die geiſtreichſte Frau des Hofes, und ſo
jung und ſchön! Ah!
Ein ganzer Roman entzündete ſich in ihm.
Zuletzt lag er der Herzogin zu Füßen und küßte
ihr die Kniee, und ſie neigte ſich über ihn, und er
küßte ſie auf die . . .
— Höh! Schaunard! Muſterknabe! Favorit!
Prima-Nota-Jüngling!
Die drei Schlappdeckel! Ekelhaft!
Er machte ein ärgerliches Geſicht:
— Was wollt ihr!!!
— Na! Na! Na! Stolz und grob wie ein
Günſtling!
— Ich verbitte mir dieſe Albernheiten.
— Köſtlich! Er verbittet ſich!
— Er ver—bit—tet ſich!
— Unglaublich! Weil ihm der Geheimrat die
Hand gedrückt hat, iſt er übergeſchnappt.
13*[196]Stilpe.
— Das iſt ein Zeichen von ſchwacher Cerebral¬
konſtitution.
— Affen!
— Hahahaa!
— Er ſieht förmlich friſiert aus.
— Guckt nur, wie er die Mütze aufhat!
— Er hat ja einen Heiligenſchein!
— Sogar zweie, einen um den Kopf und einen
um den Hintern.
— Aber ein bischen verblödet ſieht er aus.
— Man könnte faſt ſtupid ſagen.
Stilpe machte ein Zeichen der Verachtung, und
zwar ſo: Er fuhr über die dünn ſtehenden ſchwarzen
Haare ſeines Schnurrbartes und huſtete dann in die
Hand.
— Der reine Geſandtſchaftsattaché!
— Ich glaube, der Geheimrat hat ihm einen
Schwur abgenommen, Juriſt zu werden.
— Habe wenigſtens die Gnade, uns zu ſagen,
ob Du noch mit uns verkehren willſt.
Das ſagte Stöſſel. Aber Barmann fuhr hinter¬
drein :
— Was! Er! Ob er will! Ob wir wollen!
Das iſt die Frage! Ein Menſch, der offenbar zu
Kreuze gekrochen iſt! Ein Renegat!
[197]Zweites Buch, fünftes Kapitel.
Wippert: Ein Feigling!
Barmann: Pater peccavi hat er gemacht!
Stöffel: Höre mal, mein Lieber, Du haſt wohl
die beiden Gracchen zurückgenommen?
Barmann: Ja, und Cicero als Lieblings¬
römer proklamiert, wie dieſes Stint, der brave
Müller-Emil!
Das war Stilpen zuviel. Dieſer Vergleich
wühlte ſeine ganze Natur auf, und er ſprach:
— So! Alſo bis zu dieſer Niederträchtigkeit
depraviert euch ein jämmerlicher Neid! Wißt ihr,
was ich gethan habe? Ich habe dieſem Bieder¬
mann geſagt: Nicht die beiden Gracchen verehre
ich am höchſten, denn das ſind die National¬
liberalen des alten Rom, und ſie kommen mir vor,
wie zwei rot angemalte Zuckerſtengel . . .
— Das haſt Du nicht geſagt!
— Beim Momus, das hab ich geſagt! Und
noch was hab ich geſagt: Mir imponiert überhaupt
gar keiner in der ganzen alten Toga-Geſellſchaft mit
Ausnahme von . . .
— Von . . .!?. . Na . . .?. . .
— Von Catilina!
— Donnerwetter! Iſt der Kerl nicht in Ohn¬
macht gefallen?
[198]Stilpe.
— Ach Der! So ein Amphibium! Habt ihr
nicht bemerkt, daß er ausſieht, als wenn er einem
Aquarium entſprungen wäre? Wenn man ihn
grün anſtriche, könnte man ihn von einem Laub¬
froſch nicht mehr unterſcheiden.
So ſprach Schaunard.
Sechſtes Kapitel.
Stilpe kam, während er ſich auf das Abitu¬
rientenexamen vorbereitete, noch manchmal auf ſeine
Hofdichterphantaſieen, wie er es nun nannte, zurück.
Die Vorſtellung, einmal eine Rolle in der großen
Welt zu ſpielen und dabei Verhältniſſe mit Her¬
zoginnen anzuknüpfen, that ihm zu wohl, als daß
er endgiltig auf ſie verzichten ſollte. Aber im
Ganzen erwies ſich Henri Mürger doch ſtärker, als
Geheimrat Ammer.
Wenn ſich beides vereinigen ließe! war ſein
Lieblingsgedanke. Und er verfabulierte ſich auch
dieſen Gedanken.
Warum ſollte es nicht möglich ſein? Es kam
lediglich auf den Potentaten an, mit dem er es
zu thun haben würde.
War nicht Karl Auguſt anfangs ein ſehr fideler
[200]Stilpe. Bruder geweſen? Hatte er nicht auch mit der Reit¬
peitſche geknallt? Daß er ſchließlich ſo gräßlich
ernſthaft geworden iſt, wer war daran ſchuld,
wenn nicht Goethe ſelber, der eben in ſich den
Geheimratskeim ſchon geerbt hatte von ſeinem
Vater?
Goethe und Lenz in einer Perſon zu ſein
das war das Problem, das war das Ideal! In¬
deſſen dachte er dabei doch mehr an Lenz, als an
Goethe.
Auch Günther, dem „ſein Leben wie ſein Dichten
zerrann“, fiel ihm zuweilen ein, doch kannte er
von dieſem nichts. Aber er verehrte ihn ſehr und
nannte ihn oft, nur eben, weil Goethe ſo von ihm
geſprochen hatte.
— Ein fabelhafter Kerl, dieſer Günther!
dachte er bei ſich, und er las oft, was Goethe
über ihn geſchrieben hat. Man ſollte ihn eigent¬
lich leſen. Na, ſpäter!
Überhaupt, er ſchob jetzt noch mehr auf, als
es ohnehin ſeine Art war.
Das Examen bedrückte ihn doch, obwohl er
nicht mehr daran zweifelte, daß er durchkommen
würde. Aber es blieb eine unangenehme Perſpek¬
tive und fatal wie alles Unvermeidliche.
[201]Zweites Buch, ſechſtes Kapitel.
Sein Haupttroſt war Bertha, das Dienſt¬
mädchen.
Stöſſel machte eine Parodie auf dieſe freien
Rhythmen:
Und das war richtig: Stilpe ſah ſehr ſchlecht
aus, ſo ſchlecht, daß man wirklich glauben konnte,
er überarbeite ſich wegen des Examens.
Er fand das rieſig intereſſant und gewöhnte
ſich überdies an, die Lippen nach unten zu ziehen,
um das Anſehen beſtändiger Weltverachtung zu
haben. Freilich ſtimmte das nicht zur Heiterkeits¬
deviſe des Cénacles, aber eben das war wieder
paradox, und das Paradoxe hielt Stilpe damals
für die Hauptſache.
Das Examen kam heran. Alle Vorbereitungen
waren getroffen. Die Überſetzung ins Griechiſche
abonnierte er bei Wippert, die ins Lateiniſche bei
Barmann, die Mathematikaufgabe bei Stöſſel. Es
war ſehr gut, daß für jedes Manco ſeiner Schul¬
tüchtigkeit im Cénacle Rat geſchafft werden
konnte.
— Wir ſind die reinen Freimaurer, ſagte Stilpe,
wir laſſen keinen ⁂ Bruder bankerott gehen. Es
lebe Müſette! Es lebe der Kommunismus der
überflüſſigen Kenntniſſe! Schade, daß ich euch gar
nichts dagegenbieten kann. Höchſtens, daß Bar¬
mann von meinem franzöſiſchen Stile zehren
könnte.
Aber Barmann verzichtete und meinte, er könne
ſeine grammatikaliſchen Fehler alleine machen.
Und es ging Alles gut vorüber, obwohl Stilpe
die Mathematikaufgabe ſogar falſch abſchrieb. Da¬
für errang er einen Triumph im deutſchen Auf¬
ſatz, der das tiefe Thema behandelte: Wie befreite
ſich Goethe von den Fehlern der Sturm- und
Drangperiode?
[203]Zweites Buch, ſechſtes Kapitel.
Hei, wie da Stilpe ins Zeug ging! Er war
ganz Hofpoet, ganz Harmonie, ganz „Welt¬
auge“. Ohne es ſich merken zu laſſen, natürlich,
identifizierte er ſich während der fünf Stunden, da
er ſeine Perioden baute, völlig mit Goethe und
endete mit einem feierlichen Panegyrikus auf Karl
Auguſt, der gleichfalls „aus Sturm und Drang
emporgedieh zur fürſtlichen Ruhe ſchönheitbeſchir¬
mender Macht“.
So gut hatte er den königlichen Kommiſſarius
verſtanden.
Auch im mündlichen Examen ging Alles vor¬
trefflich, und das Ende war, daß Stilpe mit
Note 2 b das Zeugnis der Reife zum Univerſitäts¬
ſtudium erhielt.
Eine große Cénaclefeier ſchloß ſich der Ver¬
kündigung der Examenergebniſſe an.
Man trank lediglich deutſchen Schaumwein,
und Stilpe verwahrte ſich gegen alle literariſchen
Geſpräche. Dafür wurde lebhaft darüber debattiert,
ob ein Cénaclier in ein Corps oder in eine Burſchen¬
ſchaft einſpringen müſſe. Man kam aber zu keinem
[204]Stilpe.Entſchluß, ſondern ſetzte feſt, daß darüber endgiltig
in einer letzten Cénacleſitzung zu befinden ſei, die
man im Freien, draußen an den Ufern der Mulde,
abhalten wollte.
Im Übrigen waren alle Vier vollkommen be¬
trunken, als dieſer Beſchluß gefaßt wurde, Stilpe
aber immerhin noch mehr als die anderen. Er
wollte durchaus ein Corps „Bertha“ gründen und
rief beharrlich mit lallender Stimme: Bertha ſeis
Panier!
Der Abiturientenball war vorüber, der Abi¬
turientenkommers war vorüber. Nun kam am
letzten Tage ihres Aufenthaltes in der Gymnaſial¬
ſtadt die Schlußſitzung des Cénacles.
Bedeckt mit großen ſchwarzen weichen Filz¬
hüten (aber Stilpes Hut war der breiteſte) wan¬
derten ſie zu einem an der Mulde gelegenen
Dorfe. Jeder trug einen dicken Spazierſtock, jeder
trug ein rotes Klemmerband. Jeder lächelte
[205]Zweites Buch, ſechſtes Kapitel.ſouverän, wenn Bürgerin und Bürgersmann maul¬
offen ſtehen blieb. Aber Stilpe lächelte am ſouve¬
ränſten, denn er trug in der linken Hand die
Schildkröte.
Als ſie dem Poliziſten begegneten, der ſie
einmal abends beinahe arretiert hätte, lüftete
Stilpe mit großem Schwunge ſeinen Hut und
fragte ihn:
— Sagen Sie, Bürger Nationalgardiſt, iſt das
der Weg ins Bois de Boulogne?
— Quatſch! antwortete der Polizeidiener, worauf
Stilpe den Kopf ſchüttelte und bemerkte:
— Dieſer Funktionär ſpricht ein ungewöhn¬
liches Franzöſiſch. Er ſcheint das hieſige Gym¬
naſium frequentiert zu haben.
— Der Frühling ſcheint mir noch nicht ganz
fertig zu ſein, ſagte Stöſſel, als ſie außerhalb der
Stadt waren.
— Es iſt der richtige Mulus-Frühling, er¬
widerte Wippert.
— Der Religionslehrer an der höheren Bil¬
dungsanſtalt dieſer Stadt würde ſagen: Mit ein
wenig mehr Eifer hätte der Schüler ſein Ziel
vollkommener erreichen können! fügte Wippert
hinzu.
[206]Stilpe.
Stilpe aber ſang, indem er Fechthiebe phan¬
taſtiſcher Natur in die Luft ſchlug:
Sofort ſchwangen die Drei gleichfalls ihre Stöcke
und ſangen mit Überzeugung:
Stilpe aber ſang weiter (es hatte den Anſchein
einer ſorgſamen Vorbereitung):
Stürmiſcher Kehrgeſang der drei, ſechsmal
wiederholt.
Und wieder Stilpe:
Genick.
Da ſangen die Drei nicht mit, denn in dieſem
Punkte fühlten ſie ſich Stilpen überlegen.
Aber das hielt ihn keineswegs ab, weiter zu
ſingen:
Als wenn er auf Antwort wartete, ſchwieg
er einen Augenblick, dann gellte er in höchſter
Fiſtel:
Im Ci—cero!
Und alle Kehlen ſtimmten krähend bei:
Im Ci—cero!
Im Ci—cero!
Stilpe aber, in der Melodie des Poſtillons
von Lonjumeau:
Unter dieſen und ähnlichen anmutigen Ge¬
ſängen erreichten ſie das Dorf an der Mulde,
das das Cénacle für würdig gefunden hatte,
zum Schauplatz ſeiner letzten Sitzung zu er¬
nennen.
Nun, es ging hoch her, und vorzüglich in
Verſen. Eigentlich hatte man vorgehabt, hier, mit
freier Benutzung des Hambacher Feſtes als Vor¬
bild, ſämtliche Schulbücher zu verbrennen, aber
Stilpe hatte ſich rechtzeitig des Deklamators in
[209]Zweites Buch, ſechſtes Kapitel. Leipzig erinnert, wo man dieſe nichtswürdigen
Schwarten gewinnbringender anlegen könnte, und
ſo unterblieb dieſer Teil des urſprünglichen Pro¬
grammes. Dafür wurde die Schildkröte des
Cénacles, „in ihrer Eigenſchaft als Symbol einer in
Unfreiheit befangenen Vereinigung und um ihrer
nachgerade ſtörend wirkenden Ähnlichkeit mit jenem
pp. Pädagogen willen“, in die Mulde geworfen,
wozu man ſang:
Dann aber hub Stilpe ſeine große Schlußrede
an, die mit den beifallumtoſten Worten endete:
Le cénacle est mort! Vive le cénacle!
Und man ſchwur ſich, in Leipzig „keinesfalls
den ataviſtiſchen Farbenblödſinn jener kläglichen
Jünglinge mitzumachen, die einer bunten Mütze
bedürfen, um ſich als Studenten und freie Bürger
einer Univerſität zu fühlen, ſondern ſofort ein
neues, das eigentliche Cénacle zu gründen als die
erſte künſtleriſche Studentenverbindung mit neuen
Bräuchen und neuen Zielen!“
Eine unendliche Debatte knüpfte ſich an dieſen
Schwur. Stilpe entwickelte das größte Pro¬
gramm:
1) Jeder muß ein Mädchen haben (aber rich¬
tig haben, nicht etwa blos in dieſer knabenhaft
blümeranten Manier!).2) Jede Ähnlichkeit mit beſtehenden Verbin¬
dungen muß vermieden werden. Keine Mützen!
Sondern graue Cylinderhüte!3) Man geht nur auf Säbel los! Die Schläger
ſind pur enfantillage. (Das Wort war ihm aus
der Vorrede zur deutſchen Überſetzung der Vie de
Bohème geläufig.)4) Man muß eine Zeitſchrift gründen.
5) Man muß ſich einen Barbemuche zu ver¬
ſchaffen ſuchen, d. h. einen ehrgeizigen Eſel, der für
„beſſere Bowlen“ ſorgt.
Dieſes Programm wurde im Allgemeinen an¬
genommen, eine ſehr genaue Beratung und Aus¬
arbeitung jedoch vorbehalten.
Als man ſich dann zum Heimgehen anſchicken
mußte, weil das Dorf eine „geradezu mittelalterliche“
Polizeiſtunde hatte, war Stilpe ſo betrunken, daß
die Drei ihn ſchleppen mußten. Unaufhörlich ſtellte
[211]Zweites Buch, ſechſtes Kapitel. er den Antrag, für Cénacle künftig Berthacle zu
ſagen und ihn zum Geheimrat Ammer zu bringen,
wo er ſich durchaus vorſtellen müſſe.
Die Anderen aber ſangen unabläſſig, faſt
pauſenlos:
Auf in den Kampf Tore—e—e—ero!
Drittes Buch
VIR IVVENIS
DOMINVS
STILPE
Aus Stilpes zerſtreuten Verſen.
[[215]]
Erſtes Kapitel.
Wenn ein neues Semeſter begonnen hat, pflegen
die farbentragenden Studentenkorporationen in
Leipzig mit beſonderem Eifer das zu kultivieren,
was ſie den Grimmſchen Bummel nennen. Es
iſt das eine Art ſtolz geſchrittenen Corſos auf der
Grimmaiſchen Straße, wobei ſich die zu einem
größeren Geſammtverbande gehörigen Verbindungen
ſehr feierlich nach der gerade im Schwange befind¬
lichen Mode begrüßen.
Denn die Art, die Mütze abzunehmen, iſt unter
Couleurſtudenten gewiſſen cykliſchen Schwankungen
unterworfen.
Auch hier iſt das Walten harmoniſcher Geſetze
erkennbar. Alte Semeſter haben darüber kultur¬
hiſtoriſch bedeutſame Aufzeichnungen gemacht, aber
das Verdienſt, das Geſetz des Cyklus erkannt zu
[216]Stilpe. haben, gebührt der kleinen Anna, einem Mädchen
von ſehr ausgedehnten Bekanntſchaften in corps¬
ſtudentiſchen Kreiſen.
Wie die Muſe der Geſchichte hat ſie die Se¬
meſter an ſich vorüber ſtreifen (ja, ſtreifen) ſehen
und dabei dies beobachtet:
Als Beginn eines Cyklus iſt allemal die pri¬
mitive Zeit zu betrachten, wo man die Mütze ganz
einfach vorn beim Schild ergreift und ſie in leichtem
Bogen ziemlich ſenkrecht nach unten ſchwingt. Dann
folgt:
Die Periode des rechten Randgriffs, die in
zwei Unterabteilungen zerfällt:
a) man ergreift die Mütze am rechten Rande
und führt ſie mit gebogenem Arm langſam nach
vorn,
b) man ergreift ſie wie unter a, führt ſie aber
nicht nach vorn, ſondern ſtößt ſie rechtsſeitig
ſteif nach oben.
Sodann folgt die Periode des hinteren
Randgriffs, bei der die Mütze alſo am hinteren
Rande ergriffen wird.
Sie hat drei Unterabteilungen:
a) weiter Bogen nach vorn,
b) ſteifer Stoß nach oben,
[217]Drittes Buch, erſtes Kapitel.c) ganz kurze Lüpfung, wobei das Schild
und der vordere Rand feſt aufliegen bleiben. Dieſe
Phaſe, als gewöhnlich letzte des Cyklus, hat etwas
marode Decadentes.
Zuweilen fügt ſich als vierte Periode noch der
vordere Randgriff an, der ſich als Pendant
zu 3c kennzeichnet. Gewöhnlich indeſſen beginnt
der Cyklus nach der kurzen Lüpfung aufs Neue.
Natürlich ſind in dieſem kurzen Abriß alle
Nuancen, deren es ſehr feine giebt, beiſeite gelaſſen
worden.
Man befand ſich wieder einmal in der Periode
3 b, als das weiland Cénacle die Leip¬
ziger Univerſität bezog, und es gab keinen Fuchs,
der die Mütze ſo energiſch nach oben ſtieß, wie der
ſtud. Phil. et jur. Willibald Stilpe oder, wie er
auf der Matrikel feierlich und lateiniſch hieß: vir
iuvenis dominus Stilpe leissnigensis.
Die Mütze, die er in dieſer Weiſe handhabte,
ſah gelb aus, genauer geſagt: Kanariengelb, und
[218]Stilpe.zeigte außerdem einen weißen und einen ſchwarzen
Streifen.
Stilpe war, uneingedenk des Schwurs an der
Mulde, einer Verbindung beigetreten, einer Ver¬
bindung ſchlechthin, die nicht Corps, nicht Burſchen¬
ſchaft, nicht Landsmannſchaft war.
Das Kanariengelb war ſchuld daran.
Stilpes koloriſtiſcher Blick hatte ſofort bemerkt,
daß dieſe Farbe zu ſeinen glänzend ſchwarzen Haaren
eminent (das Wort liebte er jetzt) ſtehen müſſe,
und es lag überhaupt etwas Schmetterndes, Ver¬
wegenes in ihr, etwas, das zu ſeiner augenblicklichen
Stimmung genau paßte.
— Bitte, was koſtet dieſe Handelsſtadt? Nur
keine Bange! Nur den Preis genannt! Ich zahle
ohne Feilſchen.
Ein Triumphatoren-, ein Sankt Georgsge¬
fühl! Hinter ihm, ein widerlich geſchwollenes
Grau, lag der überwundene Drache Gymnaſium,
vor ihm breiteten tauſend junge ſchöne Mädchen
glänzende Teppiche aus, weit ins Land hinein, wo
rechts und links die angenehmſten Dinge als rot¬
goldene Ähren auf gelbgoldenen Halmen ſchau¬
kelten.
Blos mitnehmen! Blos einſcheuern! Sklaven
[219]Drittes Buch, erſtes Kapitel. wimmeln ringsum und ſchielen aus tiefer Ver¬
beugung nach Seiner Herrlichkeit gelaſſenen Win¬
ken . . .
Und dieſe vielen Reſtaurants! Und keins ver¬
boten! Kühn darf man mitten in Damenbedienung
ſitzen und das Taſchentuch behaglicher Paſchah¬
wünſche werfen.
In dieſer Stimmung hatte er ſich ohne viel
Beſinnen die kanariengelbe Mütze aufgeſetzt. Und
nun ſaß ſie feſt und ſah gut aus.
Nachdem er ſich für ſie einmal entſchieden
hatte, erbaute er ſich aber auch ein Syſtem von
Gründen dafür, daß er juſt in eine ſimple Verbin¬
dung, nicht in ein Corps, nicht in eine Burſchen¬
ſchaft, nicht in eine Landsmannſchaft eingetreten
war:
Das Corps: Rückſtändige Inſtitution aus un¬
freien Zeiten, daher Fuchſenſklaverei, Burſchen¬
tyrannis, ſtarrer Formelnkram; die Burſchenſchaft:
Entweder rückſtändige Romantik, Tugendbund und
Keuſchheit bis zum Ehebette oder Form ohne In¬
halt; die Landsmannſchaft: Traditionsloſe Neu¬
gründung, bemäntelt mit einem alten Namen, ohne
Wurzeln im Alten, ohne Greifranken ins Neue:
Zwitter. Die bloße Verbindung dagegen, nun ja:
[220]Stilpe. Das war eben eine Sache für ſich, etwas mehr
Improviſiertes, das daher auch nicht ſo um¬
klammerte und abſorbierte. Zweifellos bot ſich
hier auch die leichtere Möglichkeit, eine beeinfluſſende
Stellung zu erhalten. Und das iſt doch wohl das
Wichtigſte!
So verteidigte ſich Stilpe vor ſich ſelber.
Erſt hinterher kam ihm der Gedanke: Aber warum
denn überhaupt eine farbige Mütze? Das war
ja doch wohl eigentlich eine Kinderei, — wie?
Ein Atavismus? Ein teſtimonium paupertatis
animi? Hatte er nicht das Wort geſchliffen: Ein
freier Kopf braucht keine bunte Mütze?
Gewiß, gewiß! Aber: Si duo faciunt idem,
non eſt idem! (Seitdem er nicht mehr Latein
treiben mußte, zitierte er viel Lateiniſches.) Für
jene anderen iſt die Mütze eine gewiſſe Not¬
wendigkeit und ein Ziel; für ihn aber nichts als
ein in ſouveräner Laune frei gewähltes Mittel.
Mittel, — wozu?
Erſtens zur Erzielung gewiſſer landsknechthafter
Empfindungen! Denn es ſteckt Hiſtorie in dieſer
Inſtitution des wehrhaften deutſchen Rauf- und
Sauf-Studenten und ein rechter Kerl zeigt ſeine
Raſſe; und zweitens zur Kenntnis eben dieſes
[221]Drittes Buch, erſtes Kapitel. Milieus für ſeine zukünftige künſtleriſche Ver¬
wertung, denn: Wie ſollte er einmal den deutſchen
Studenten darſtellen, wenn er nicht auch dieſe
Spezies ſtudiert hatte?
So rechtfertigte er, der nicht gerne etwas be¬
reute, aber noch weniger gerne etwas unterließ, was
ihm luſtig dünkte, vor ſich ſelber den improviſierten
Schritt, und er legte ſich damit auch gleich die
Sätze zurecht, mit denen er den Cénacliers ent¬
gegentreten wollte, wenn ſie ihm mit den Ein¬
wendungen kommen würden, die ja eigentlich aus
der Rüſtkammer ſeines Intellekts ſtammten. Er
hatte ſogar vor, ſie für ſeine Verbindung zu keilen.
Indeß: Er kam zu ſpät.
Eines Tages, als er mit ſeiner Mütze und
ſeinen Verbindungsbrüdern leuchtend den Grimm¬
ſchen Bummel abſolvierte, gewahrte er, obwohl er
regelrecht und ſtolz geradeaus ging und ſcheinbar
kein Auge für andre Couleuren hatte, unter den fünf
Mitgliedern eines rotmützigen Corps — Stöſſel.
Es gab ihm einen Ruck, und ſchon wollte die
Hand zum hinteren Rande der gelben Mütze
zucken, da kam ihm noch rechtzeitig die Kluft zum
Bewußtſein, die zwiſchen dieſem ſchmetternden Gelb
und jenem trüben Rot lag.
[222]Stilpe.
Und er lächelte nur ein wenig und dachte
bei ſich:
— Schau, ſchau, — Corpſier! Dieſer Knabe
Marcel war immer ein bischen eitel. Nun, mögen
ſie ihn biſaken, die Herren C. B. C.B. Übrigens
ſah er ſchon verbiſakt genug aus. Natürlich wird
er mich verachten . . . Wie? Er? Mich? Er
möge ſichs gefälligſt unterſtehen! Dieſes Knickebein!
Sah er nicht aus wie ein friſiertes Meerſchweinchen?
Welch ein üppiger Knabe!
Im Grunde war es ihm höchſt ärgerlich, daß
Stöſſel Corpsſtudent geworden war, und er be¬
merkte plötzlich, daß ſeine Verbindungsbrüder an
äußerer Eleganz einiges zu wünſchen übrig ließen.
Er nahm ſich vor, da Wandel zu ſchaffen.
Kaum, daß er ſeinen Ärger ein bischen ver¬
wunden hatte, ſah er Barmann als hellrotmützigen
Burſchenſchafter vorüberziehen.
Diesmal dachte er ſchon nicht mehr ans Grüßen
und verfolgte mit innerlichſtem Wohlgefühl die
Hand des wackeren Colline, die ſchon an der
Mütze ſaß, um dann freilich ſchüchtern herab¬
zuſinken.
Und Stilpe dachte dies:
— Was man nicht Alles erlebt! Dieſer Colline,
[223]Drittes Buch, erſtes Kapitel.der einen Vortrag im Cénacle hielt über „die Epoche
der patriotiſchen Phraſe“, als Fahnenſchwinger für
Ehre! Freiheit! Vaterland! . . .! Gut! Gut!
Allerliebſt und ſehr niedlich! Die Haare haben
ſie ihm aber ſchon nach hinten gekämmt. Und wie
er errötötöte! Jetzt ſieht er ſich ſicher nach mir
um. Nein, mein Lamm, ich nicht! Ich habe ſchon
genug geſehn.
Über dieſen Fall ärgerte er ſich übrigens
weniger. Burſchenſchaft — bah! Aber geſpannt
war er nun, „in welcher Couleur der tüchtige Ro¬
dolphe eidbrüchig geworden ſein möchte“. Er
taxierte ihn voll Zorn auf Akademiſchen Turn¬
verein:
Aber nein: Wippert war Landsmannſchafter
geworden und trug eine dunkelblaue Mütze ſtolz
an Stilpes gelber vorüber.
— So wären wir denn alſo glücklich nach allen
Windrichtungen auseinandergefahren. Das iſt eigent¬
lich eine Direktionsloſigkeit. Warum haben es dieſe
Knaben denn nicht für nötig gehalten, mich auf¬
zuſuchen, ehe ſie ſo weitgehende Entſchlüſſe faßten?
Kein Zweifel: Sie wollten ſich meinem Einfluſſe
[224]Stilpe. entziehen! Sie wußten, daß ihr Wille ver¬
loren war, ſobald ſie ſich in die Zerreibungszone
meiner Beredtſamkeit begaben, und feig flohen ſie
davon. Crapüle! Dabei trug dieſer Rodolphe eine
Art von naſenſteifem Selbſtbewußtſein zur Schau,
die mir nicht gefallen hat. Nun, im Walde pfeifen
die Handwerksburſchen, wenn ihnen die Hoſen
ſchlottern . . . Eine erſtaunliche Sippſchaft. Wie
bring ich ſie zur Raiſon?
Es war ihm doch fatal, daß die Drei ſich ſo
ohne weiteres von ihm emanzipiert hatten. Hätte
er nur nicht ſelber ſchon die gelbe Mütze aufgehabt!
Das komplizierte ſeine Stellung den Abtrünnlingen
gegenüber ſtark. Es war, als wenn er mit ver¬
nagelten Kanonen ſchießen ſollte.
Aber es dauerte nicht lange, und er hatte ſeine
volle Sicherheit wiedergewonnen. Er ſchrieb in drei
gleichlautenden Stücken folgenden Brief und ſandte
ihn an die Drei.
Landerirette!
Farben ſind ſtärker als Eide, und was die
Mulde gehört hat, braucht die Pleiße nicht zu
wiſſen. Sela.
Indeſſen: Soll gelb oder blau oder dunkel¬
oder hellrot auch ſtärker ſein, als Herz und
Intelligenz? Soll die Pleiße völlig ent¬
behren müſſen, was die Mulde füllereich ge¬
noß?
Nein! Unſre Mützen ſind gelb, blau,
dunkel- oder hellrot, aber unſre Herzen ſchlagen
noch im Takte des momiſchen Alexandriners:
O l'Amour! ô l'Amour! prince de la
jeunesse!
Oder? Schmach dem Fragezeichen!
Wir haben nicht aufgehört, Menſchen zu ſein,
indem wir unſre reſpektiven Mützen aufſetzten,
und ſo haben wir auch nicht aufgehört, Cénacliers
zu ſein.
Und alſo darum ſage ich euch, ich, der ich
Schaunard war, bin und ſein werde: Wir
müſſen die farbigen Schranken und Planken,
hinter die wir uns, jeder nach freier Wahl und
geiſtvoller Erwägung, begeben haben, wenigſtens
aller zwei Wochen einmal mit dem Elan
unſrer Cénacleherzen überſpringen und ein¬
ander in die Arme eilen! Eine Jammerlende,
die dieſen Sprung nicht wagt, eine Groſchen¬
ſeele, die ſich vor dem Comment mehr fürchtet
15[226]Stilpe als ehemals vor dem Konrektor, ein Caſtrat
des Herzens, wer nicht wenigſtens aller zwei
Wochen einmal ſingen will:
Man trifft mich Sonntag Abend in meiner
Wohnung, die den Kopf dieſes Briefes ziert.
Schaunard.
Zweites Kapitel.
Stilpe hatte ſich nicht getäuſcht: Die Gründung
des „Geheim-Cénaclecs“, ſo ſehr ſie gegen den Ver¬
bindungscomment der Einzelnen war, geſchah, und
die vier Cénacliers, die ſich, wenn ſie ihre Mützen
aufhatten, nicht einmal grüßen durften, fanden ſich
zweimal des Monats an Sonntagen zu Ver¬
gnügungen zuſammen, die jedem viel lieber waren,
als die Pflichten ihrer Verbindung. Zwar, keiner
geſtand das zu, denn jeder bemühte ſich aufs
höchſte, den Anſchein zu erwecken, als fühle er ſich
unter ſeiner bunten Mütze über die Maaßen wohl.
In Wahrheit fühlten ſich Alle ſehr elend darunter,
bis auf Stilpe, der auch in dieſem Verhältniſſe
mit Hingabe aufging.
Er war faſt nie nüchtern und wurde von
ſeinen Verbindungsbrüdern ſehr bald als eine phäno¬
15*[228]Stilpe. menale Kraft ſowohl auf der Kneipe wie auf dem
Fechtboden erkannt. Seine Zügelloſigkeit, die ihn
in einer Korporation von feſterem Gefüge unmög¬
lich gemacht hätte, war ihm hier, wo er ſehr bald
anfing, die Rolle des Überlegenen zu ſpielen, nur
wenig hinderlich.
Schon im zweiten Semeſter hatte er „ſeine
Leute“ ungefähr auf ſeinen Ton geſtimmt. Er
pflegte zu den Cénacliers zu ſagen: Die Bären
tanzen ſchon ganz wacker die ſchwierigſten
Sachen; nächſtens werde ich ihnen das Dichten
beibringen.
Aber er dachte ſelber nur wenig ans Dichten.
Nur „was er ſo für die Liebe und das Cénacle
brauchte“, ſonſt:
Das war Selbſterkenntnis, aber keineswegs
Selbſtanklage. Im Gegenteil, er that ſich innerlich
ſehr viel darauf zu gute, daß er „in den Wolken
des Alkohols taumelte wie nur ein Erkorener der
neun Grundräuſche taumeln kann“. Die neun
Grundräuſche waren
[229]Drittes Buch, zweites Kapitel.
- 1) das braune Bier,
- 2) die blonden Mädchen,
- 3) der rote Wein,
- 4) die braunen Mädchen,
- 5) der weiße Wein,
- 6) die ſchwarzen Mädchen,
- 7) die Schnäpſe jeglicher Obſervanz,
- 8) die edle Kunſt raſender Reime,
- 9) die große Ewigkeit gewaltigen Ruhmes.
Er pflegte zu ſagen:
— Hütet euch vor Dichtern, die nicht ſaufen!
Sie bedeuten für die Litteratur dasſelbe, was
die alten Jungfern für die Fortpflanzung des
Menſchengeſchlechtes bedeuten. Sie ſind ein
Greuel und eine große Gefahr. Wehe, wenn
ſie die Welt mit ihrem Laſter ſtrohtrockener
Verſe anſtecken. Dann iſt das Ende nahe herbei¬
gekommen. Selbſt Schiller trank Likör, aber, wenn
er nicht trank, ſchrieb er dieſe bedenklichen Sachen,
an denen heute noch ſämmtliche Gymnaſiallehrer
leiden. Shakeſpeare dagegen ſoff wie ein Loch.
Wie? Ihr fragt nach den Belegen? Ja, wenn
ihrs nicht fühlt! Ich mache mich anheiſchig, bei
jedem ſeiner Stücke zu ſagen, was er damals ge¬
rade getrunken hat. Im Hamlet ſteckt viel Porter.
[230]Stilpe.Daher dieſe etwas ſchwermütige, aber immerhin
ſublim betrunkene Grundſtimmung. Voll Whisky-
Brandy iſt Othello, doch mit einem Schuß Sherry.
Ale, Ale und abermals Ale iſt King Lear. Es iſt
das hohe Lied des Ales. Immer, wenn ichs ge¬
leſen habe, muß ich zum alten Krauſe gehen, der
dieſes blondeſte aller Biere am beſten ſchänkt.
Ein paar Sommerſproſſen Porter auf dieſen
weißen Teint geſpritzt, und man verſteht die Lieder
des Narren und weint in großer Seligkeit. Auch
Knickebein hat Shakeſpeare getrunken, und zwar
viel. Seine Komödien ſind der Beweis dafür.
Wie vermählt ſich da überall das Ei dem ſeimigen
Liköre! Und da hat irgend ſo ein Fünfgroſchen¬
phantaſt behauptet, Andreas Hofer habe den Knicke¬
bein erfunden. Wie kümmerlich! Schon die alten
Juden kannten ihn. Das Prinzip der Parallelität
der Verſe in den Pſalmen iſt geradezu ein Symbol
des Knickebeins . . . Die ganze Litteraturgeſchichte,
wohl gemerkt, ſo weit es ſich um Verſe handelt,
iſt nichts als eine große Tafel der Getränke. Ich
werde meine Doktordiſſertation über dieſes Thema
ſchreiben.
In dieſem Stile ſprach er überhaupt oft, und
manche ſeiner Dikta gingen in den Schatz der ge¬
[231]Drittes Buch, zweites Kapitel.flügelten Worte der Studentenkneipen über. Auch
war er der fruchtbarſte Vermehrer jener un¬
geſchriebenen Litteratur, die ſich um die Figur der
Wirtin an der Lahn gebildet hat. Er konnte ſich
ſtundenlang damit abgeben, aus einer Zote einen
Reim oder aus einem Reim eine Zote zu locken.
Herauskitzeln nannte er das.
Zuweilen, aber keineswegs oft, kam ihm der
Gedanke, daß er eigentlich etwas Beſſeres thun
ſollte. Dann gruppierte er ſeine Gedanken um die
Worte „ſchaal und unerquicklich“ und bewarf ſich
„mit den faulen Eiern des moraliſchen Katzen¬
jammers“. Aber es war auch nur eine Art Stil¬
übung.
Einmal empfing er die Cénacliers in ſolcher
Stimmung und hielt zehn Minuten einen Monolog
in Jamben an
Aber als er zu Ende war, ganz aufgeregt und
wie es ſchien direkt vor einem ſtürzenden Thränen¬
[232]Stilpe. ausbruch, ſo daß niemand im ſtande war, zu
entſcheiden, ob hinter dieſen burleſken Selbſtanklagen
nicht doch eine Spur von Ernſt ſteckte, da rief er:
Aber das kommt von der Abſtinenz! Seit 75 Mi¬
nuten habe ich keinen Alkohol geſehen. Auf! Laßt
uns in ein Gebärhaus tröſtlicher Gedanken wallen,
und wenn es eine Goſenſtube wäre. Kennt ihr
mein Ritornell?:
Mit einziger Ausnahme des Brechweines gab
es kein alkoholiſches Getränk, dem ſich Stilpe nicht
mit Hingabe widmete.
Aber die „ſchweren Sachen“ bevorzugte er.
Das Leipziger Lagerbier war bald nicht mehr im
ſtande, ihm irgend etwas anzuhaben. Er nannte
es „ſchlechterdings Waſſer“ und konnte es durch¬
aus nicht begreifen, daß man „es noch immer in
Brauereien herſtellt; man ſollte doch merken, daß
es aus dem Schoße der Erde quillt, denn es iſt
im eigentlichen Sinne culturlos.“ Dagegen zollte
er direkt Ehrerbietung der oſtpreußiſchen Bowle,
die aus Burgunder, Porterbier, Sekt und Cognac
[233]Drittes Buch. zweites Kapitel. beſteht. Dieſes Getränk, ſo ſagte er, hat die Kraft
und das heilige Rauſchen des germaniſchen
Urwaldes. Man fühlt direkt Speere in der Fauſt,
wenn man es trinkt. Seine Hauptgnade aber
beſteht darin, daß es wunſchlos macht. Es iſt
das Katholikon der Getränke. Auserwählten iſt
es gegeben, zu ſehen, daß dieſe Bowle eine tief¬
goldene Gloriole hat.
In dieſer Weiſe charakteriſierte er im Kreiſe
des Cénacles „die geſammte Ariſtokratie der
Spirituoſen“, und er lehnte es durchaus nicht
ab, wenn man ihn den Homer des Alkohols
nannte.
Aber die Getränke, die er liebte, waren koſt¬
ſpielig, und weder er noch die anderen drei Céna¬
cliers waren auf die Dauer im ſtande, das
Geld dafür aufzubringen. Deshalb beſchloß man,
einen „Barbemuche zu etablieren“, d. h. nach
dem Muſter des Mürgerſchen Cénacles jemand
ausfindig zu machen, der „alſo geeigenſchaftet
wäre:
[234]Stilpe.
Stilpe war es, der einen ſolchen Jüngling
entdeckte: — Herrn ſtud. phil. Lehmann aus
Liegnitz.
Er hatte ihn in „ſo einem“ Hauſe der Magazin¬
gaſſe aufgeleſen. Dort, in einem Salon, war ihm
der blaſſe, etwas angefettete junge Mann durch
eine ſehr dicke Brieftaſche und ſchwermütiges Be¬
tragen aufgefallen.
— Sie fühlen ſich nicht wohl in dieſer Um¬
gebung, hatte Stilpe zu ihm geſagt, als ſie ſich ein¬
ander vorgeſtellt hatten. Ich begreife das. Man
geht hierher, um ſich nicht wohlzufühlen. Man
will ſich kaſteien. Sie peitſchen ſich lieber mit
blonden Ruten, ich lieber mit braunen. Das iſt
der ganze Unterſchied. Temperamentsſache.
— Ach ja, es iſt ſchrecklich, antwortete der
Philologe Lehmann; ich verabſcheue dieſe Häuſer,
aber, ſehen Sie, ich finde ja draußen nichts, und
dabei bin ich doch ſo . . . ſo . . . ſo ſinnlich. Ach,
leider!
[235]Drittes Buch, zweites Kapitel.
— Wie? Leider? Sie ſagen: Leider? Sie
haben doch leider geſagt? Hm. Hm. Hm!
— Aber natürlich: Leider! Es iſt doch ſchreck¬
lich, ſo direktionslos zu ſein!
— Direktionslos nennen Sie das, wenn Alles
ſo deutlich ins Schwarze zielt? Das nennen Sie
di . . ., aber Herr Lehmann! Sie ſind beneidens¬
wert um dieſe gerade Tendenz Ihres Weſens!
Seien Sie fröhlich, Herr Lehmann! Es fehlt
Ihnen blos die rechte Geſellſchaft. Sie ſind ein
Einſiedel-Lehmann, und das iſt für ſolche Naturen
eine Gefahr.
— Freilich iſt es das. Ich fühle es ſelber.
Aber ich ſchließe mich ſchwer an. Wiſſen Sie, die
meiſten Studenten ſind ſo banauſiſch, ſo entſetz¬
lich intereſſelos, und ich möchte doch Jemand haben,
der auch noch etwas mehr will, als Doktor werden.
Sechs Tage ochſen und einen Tag ſumpfen, das
mag ich nicht mitmachen!
— Das ehrt Sie, Herr Lehmann! Sie ſuchen
den Einklang von Lebenskunſt und Wiſſenſchaft.
Sie wollen Streben und Genuß vereinen. Sie
wollen, mit einem Worte, aber verſtehen Sie mich
recht und nehmen Sie das nicht etwa als einen
Witz: Sie wollen ein runder Menſch werden!
[236]Stilpe.
— Ich ahne, was Sie meinen, und es iſt
wahr, das deckt ſich wohl mit dem, was ich ſuche.
— Rund ſein iſt alles, Herr Lehmann!
Wiſſen Sie, wie dieſe indiſchen Götter: Rund um
den Leib herum tauſend Arme, und immer zwiſchen
zwei Armen eine Göttin. Aber Gott bleiben! Ein
runder Gott bleiben mit tauſend Armen und fünf¬
hundert Göttinnen dazwiſchen! Oder, weniger
exotiſch geſprochen: Goethehaft!
Herr Lehmann lächelte höchſt bitter:
— Sie wollen mich wohl verſpotten. Goethe
und — ich! Ich mit meiner klaſſiſchen Philologie.
Ich ſtudiere nämlich klaſſiſche Philologie. Aber
Sie müſſen da nicht gleich denken, daß ich Gym¬
naſiallehrer werden möchte. Nein, ich möchte mich
der akademiſchen Carrière fürs Griechiſche widmen.
Es iſt da noch viel zu holen, ſag ich Ihnen!
Mein Fach iſt im Niedergange. Es fehlt an
Kapazitäten. Ein neues Alexandrinertum iſt ein¬
geriſſen!
— So reißen Sie es um, Herr Lehmann!
Schmeißen Sie die Perrücken zum Tempel hinaus!
Der Moder ſtinkt! Hygiene thut not! Fort mit
den Schwartenſchwenkern! Das reine Hellas ziehe
ein! Und was iſt der Hellene des Altertums?
[237]Drittes Buch, zweites Kapitel.Der runde Menſch! Was iſt Hellas? Die
Syntheſe von Genuß und Erkenntnis! . . . Kürzlich
ſtellte ich für einen kleinen Kreis von Freunden,
der ſich, ganz in Ihrem Sinne, Herr Lehmann, zu
einem Zirkel der Lebenskunſt und Kunſtliebe ver¬
einigt hat, eine Namenstafel der Spezialheiligen
unſrer Religion auf. Sie iſt noch unvollſtändig,
aber es fiel mir gleich auf, wie viel Hellenen
dabei ſind.
— Ach, das intereſſiert mich, der ganze
Zirkel ſowohl, als die Namenstafel. Ich möchte
nicht aufdringlich erſcheinen, aber vielleicht darf
ich Sie bitten, mir Näheres darüber zu
ſagen?
Herr Lehmann ſagte das mit dem Tone
ernſteſter Anteilnahme und zog die Augen¬
brauen hoch.
Stilpe lachte wieder einmal „mit den Ein¬
geweiden“ und zog ſein Notizbuch.
— Über den Zirkel iſt nichts weiter zu ſagen,
als was ich ſchon andeutete. Zur Kunſt erhöhtes
Leben in jedem Betracht. Die Namenstafel aber,
nun, wie geſagt, ſie iſt noch unvollſtändig, aber
ich kann Ihnen das Fragment ſchon mitteilen.
Alſo:
[238]Stilpe.
I.
Männlichen Geſchlechts:
Anakreon,
Ariſtophanes,
Alkibiades,
(es geht gleich griechiſch an, wie Sie ſehen)
Georg Büchner
(um Gotteswillen: Georg, nicht Ludwig!)
Bizet,
Gottfried Auguſt Bürger,
Cervantes,
Catull,
(aber der hat ein Fragezeichen)
Michael Georg Conrad.
— Iſt das der preußiſche Prinz, der die Dra¬
men ſchreibt? fragte Herr Lehmann beſcheidenen
Tones.
— Gott behüte und Gott bewahre! Machen
Sie immer ſolche Witze? rief Stilpe. Dafür müßten
Sie ſchon eine Bowle ſchmeißen, Herr Lehmann.
Sind Sie bereit?
Der Philologe Lehmann errötete und ſagte: Es
wird mir ein Vergnügen ſein, denn damit werde ich
[239]Drittes Buch, zweites Kapitel. ja das Vergnügen haben, auch die andren Herren
kennen zu lernen.
— Gut! ſagte Stilpe ſchon im Tone des
Cénacle-Präſidenten. Dafür werden Sie dann
auch erfahren, welches unſer Conrad iſt. Weder
Prinz noch Preuße. Alſo nun in der Liſte der
Heiligen weiter:
Danton,
Demokritos,
(ſchon wieder ein Grieche!)
Devrient
(Sie wiſſen: Lutter und Wegeners Weinſtube in
Berlin!)
Fiſchart,
Franz der Erſte von Frankreich,
— Warum Der? fragte Herr Lehmann.
— Leſen Sie im Rabelais nach!
Grabbe,
Meiſter Gottfried von Straßburg,
Der junge Goethe,
(Sie wiſſen doch, daß es drei verſchiedene Goethes
giebt?)
Eduard Griſebach,
Johann Chriſtian Günther,
[240]Stilpe.
Horaz,
(hat aber zwei Fragezeichen)
Theodor Amadeus Hoffmann,
Heinrich Heine,
Mozart,
Mirabeau,
Momus,
(unſer Wirt mit der langen Kreide)
Müſſet,
Mürger,
Marat.
— Pardon, ſagte Herr Lehmann, deſſen Vater
Fabrikbeſitzer war, warum eigentlich dieſe Revo¬
lutionsmänner?
— Sie tranken ſämmtlich gerne und waren
ſehr verliebte Leute. Daß wir keine Sozialdemo¬
kraten ſind, ſehen Sie an Franz dem Erſten.
Rabelais,
Rembrandt,
Sokrates,
Sullivan,
Tſchang-hſien-tſchung.
— Wer iſt das?
— Das iſt ein chineſiſcher Pelzhändler, ſpäter
Gegenkaiſer, der einmal an einem Tage 50000 Ge¬
[241]Drittes Buch, zweites Kapitel. lehrte hat köpfen laſſen. Ich werde ein Epos auf
ihn machen.
— Ach, dichten Sie? rief Herr Lehmann
eifrig.
— In der That, bisweilen. Sie natürlich
auch?
— Ach . . . ein . . . ich . . . nein. . . ich
kann nicht ſagen, daß ich . . . Aber . . .
— Sie möchten gerne?
— Ich . . . weiß . . . nicht . . .
— Dieſe Schüchternheit iſt ein ſchönes Zeichen.
Übrigens: Dichten, — na ja. Das is nu ſo ne
Sache. Notwendig iſt es nicht, Herr Lehmann.
Es . . . aber: Genug!! Wir ſind mit dem männ¬
lichen Geſchlechte fertig und es folgt
II.
Weiblichen Geſchlechts:
Aſpaſia,
(alſo auch hier Griechenland an der Tete!)
Die kleine Anna,
Anna mit den gewürfelten Strümpfen,
Anna Ach—gehn—Se—weg.
— Ja . . . aber. . .?. . . ſagte Herr Leh¬
mann.
16[242]Stilpe.
— Ich verſtehe: Sie kennen dieſe drei Annas
nicht. Es ſind vorderhand noch Privatperſonen,
und ſie kommen auf mein Konto. Die mit den
gewürfelten Strümpfen ſchlägt, glaub ich, in Ihren
Geſchmack. Ich ſchenke ſie Ihnen.
Herr Lehmann war ganz verblüfft.
— Na, wollen ſie nicht wenigſtens Danke!
ſagen? Das Mädchen kommt noch in die Littera¬
turgeſchichte ! Ich habe ſogar ein Sonett auf ihre
Strümpfe gemacht! Aber weiter!
Bertha,
(Hat zwei Ausrufezeichen. Es iſt aber nicht jene
Bertha mit den großen Füßen, die Uhland be¬
ſungen hat, ſondern auch dieſes Mädchen geht mich
an. Ich habe ſie immens geliebt. Und ſie liebt
mich heute noch, obwohl ſie einen Gelbgießer ge¬
heiratet hat. Achten Sie die Treue des weiblichen
Geſchlechtes, Herr Lehmann, aber ſehen Sie zu,
daß der Andre der Lackierte iſt. Übrigens werde
ich jetzt die Privatmädchen weglaſſen, weil ich
Ihnen ſonſt fortwährend Kommentare geben müßte;
ich werde alſo nur die hiſtoriſchen Damen nennen,
nämlich):
Mimi Pinſon,
Die Königin Pomare,
[243]Drittes Buch, zweites Kapitel.
Müſette,
Lais,
Ninon de l'Enclos,
George Sand,
Berangers Liſette,
Päbſtin Johanna,
Fränzchen mit dem Muff,
Margarethe von Navarra,
La belle heaulmière,
Marion Delorme,
Die ſchöne Seilerin,
Roswitha von Gentersheim.
Die Liſte iſt noch ſchrecklich lückenhaft. Viel¬
leicht könnten Sie uns noch ein paar tüchtige
Griechinnen empfehlen. Wie hieß doch gleich die,
die ſich auszog?
— Sie meinen Phryne?
— Richtig! Phryne! Dieſes ganz vorzügliche
Mädchen! Warten Sie, ich werde ſie gleich ein¬
fügen. Es iſt eine Schande, daß ich ſie vergeſſen
habe. Aber Sie ſehen, wie gut wir Sie brauchen
können. Im klaſſiſchen Altertum ſind wir doch
ein bischen ſchwach.
Herrn Lehmann war es gar ſonderbar zumute.
16*[244]Stilpe. Dieſe Welt war ihm neu, aber er hatte die Em¬
pfindung, daß es ſehr luſtig in ihr zugehen müſſe.
Vor allem fühlte er, daß er im Cénacle Anſchluß
an „Weiber“ finden würde, und daran lag ihm
viel, denn er hatte es nachgerade bemerkt, daß er
von ſich allein aus dieſen Anſchluß nie erreichen
würde. Und bei alledem doch dieſe vielen littera¬
riſchen Aſpirationen, alſo die Gewähr des Höheren!
Kein bloßer Sumpf! Sondern, wenn ſchon
Sumpf, ſo doch von ganz ungewöhnlicher Art!
Ein origineller Sumpf. Ach, darnach hatte er
ſich ja geſehnt! Er wollte originell, geiſt¬
reich ſumpfen. Da bot ſich die Möglichkeit!
Alſo zugegriffen!
Er verließ am Arme Stilpes das Haus in der
Magazingaſſe mit dem angenehmen Gefühl, es
fürder nicht mehr nötig zu haben.
Als er am nächſten Morgen erwachte, lag er
auf ſeinem Sopha und Stilpe in ſeinem Bette.
Da dieſer ihn duzte, mußten ſie wohl Brüder¬
ſchaft getrunken haben.
Auch einen anderen Namen hatte er erhalten:
Barbemuche, und auf ſeinem Nachttiſch lag ein
völlig mit Porterbierflecken bedeckter Zettel dieſes
Inhaltes:
[245]Drittes Buch, zweites Kapitel.Quittung.
Für weiland Herrn Lehmanns Aufnahme
ins niedere Barbemuchiat 50 Mark erhalten
zu haben, beſtätigt
i. N. d. C.
Schaunard.
Drittes Kapitel.
Obwohl das Cénacle keine moraliſche Anſtalt
war, ſo bedeutete es für Stilpe doch einen Halte¬
punkt und eine Verbindung wenigſtens mit der
Fiktion „extra-alkoholiſcher Tendenzen“.
Stilpe führte damals kein Tagebuch mehr,
denn er hatte überhaupt das „unzüchtige Verhältnis
mit Büchern“ aufgegeben, aber zuweilen, wenn er
ſich übel fühlte, ergriff er, wiederum in ſeinem Stile
von damals zu reden, den „Stecken und Stab
des Bleiſtiftes und wanderte gedankenvoll über die
ausgebleichte Wüſte weißen Papieres“.
Einige dieſer Notizen ſind geeignet, ein Stück
ſeiner Seele von damals erkennen zu laſſen:
Die Gelbmützelei iſt ein ſcheußlicher Unſinn
und meiner unwürdig. Aber ich ſelbſt bin
[247]Drittes Buch, drittes Kapitel. meiner unwürdig, denn ich werfe die gelbe Mütze
dieſen Idioten nicht vor die Füße, ſondern ich
trage ſie noch immer mit einer lachhaften Würde.
Heiße jetzt Erſter Chargierter gar. Kann man tiefer
ſinken?
Ich tyranniſiere dieſe gelbmützigen Banauſen
mit vollendeter Kunſt und einigem Genuß, und
keiner von ihnen erfreut ſich mehr eines intakten
Magens. Nie wurde ſo geſoffen wie unter meiner
Ägide. Was ſoll man auch mit dieſen Knaben
anderes anfangen? Fröſche muß man in den Sumpf
treiben.
Ich fange an, unzufrieden mit mir zu werden
und erwäge den Plan, dieſe gelbe Blaſe zu
ſprengen. Wenn ich ſie nur nicht alle ſo tief¬
gründig angepumpt hätte . . .
Und außerdem: Was ſoll ich denn ſonſt an¬
fangen? Noch ſcheint die Zeit nicht erfüllt zu
[248]Stilpe. ſein, wo ich mich dieſem Herrn Geheimrat Ammer,
falls er ſich nicht ſchon zu ſeinen Vätern ver¬
ſammelt hat, als Stütze des Staates anbieten
kann. Oder ſollte ich thatſächlich ſtudieren? Welch
eine Idee!
Nicht mal für Liebe habe ich genügend Zeit.
Wann, frage ich, wann kann ich mit Hingabe und
Hinnahme lieben?
Um zehn Uhr zerrt mich der Leibfuchs aus
dem Bett und kredenzt mir das Antidotum gegen
den Datterich, die liebliche Laſe voll Culmbacher
Biers.
Bis zwölf Uhr pauke ich der Füchſe ſummende
Herde für die Menſuren ein.
Dann ſalbt mich der Friſeur, und bis um drei
Uhr treib ich die braven Knaben in die Lichten¬
heiner Schwemme.
Hol ſie der Teufel, ich beneide ſie! Denn ſelbſt
dieſes Lehmwaſſer macht ſie betrunken.
Auch mein Mittagsmahl erledige ich um dieſe
Zeit. Es iſt erſtaunlich, wie mäßig ich darin bin.
[249]Drittes Buch, drittes Kapitel. Rohes Fleiſch und Caviar, etliche Eier und
Bouillon erhalten dieſen ſchwachen Leib.
Von drei bis fünf der Kaffeelachs; doch iſt das
ein leerer Name, denn ich habe längſt den Kaffee
durch Liköre erſetzt, und ſtatt des Skates herrſcht
der Lederbecher mit den Knobelknochen. Das iſt
meine palaeſtra muſarum, denn erſtens erfinde
ich neue Knobeltouren und zweitens muß ich beim
Mogeln immerhin aufpaſſen.
Das erſchöpft mich ſehr, und ich begebe mich
nun auf das ſchwarze Lederſopha in der Kneipe,
wo ich der Ruhe Pflege, bis das Gas angebrannt
wird und die werten Knaben anrücken, um bis
früh zwei, drei Uhr von mir vollgeplumpt zu
werden.
Mir ſcheint, das iſt kein Leben nach dem Ge¬
ſchmacke Apollos und der neun Muſen, — oder
ſind es zwölf? Ewig verwechſle ich die Apoſtel
mit den Muſen.
Und die Liebe! Sie muß hungern!
Liebe und Alkohol ſind feindliche Mächte. Tra¬
giſches Geſchick, beiden hold zu ſein.
Zuweilen giebt es Menſuren. Ich leugne nicht,
daß dieſe kleine Aufregung mich amüſiert.
Trinkt man vorher fünf Cognacs, ſo iſt man
erſtaunlich wacker und ließe ſich mit Heroismus
den Schädel ſpalten. Nein: Lieber blos die Backe,
denn das iſts ja, was den Menſchen ziert, und
dazu ward ihm der Verſtand: Der Durchzieher.
Ich glaube, jetzt etwa einſchockmal gefochten
zu haben, wenn man dieſen mathematiſchen Wechſel
von Schlag und Parade fechten nennen kann. Man
gewöhnt ſich daran wie der Pudel ans Baden.
Das Schönſte dabei iſt der Geruch, dieſe aller¬
liebſte Miſchung von Jodoform, Carbol, Cognac
und ein bischen Schweiß. Es wirkt wie ein Aphro¬
diſiacum auf mich. Aber es iſt möglich, daß ich
ein bischen pervers bin. Blutdurſt und Wolluſt!
Gieb mir dein Herz zu ſaufen, Laura: Ich liebe
Dich!
Die ſchweren Sachen meid ich. Meine Säbel¬
menſur war nicht eigentlich prima nota. Ich hatte
den Cognac überſchätzt. Man muß entſchieden
Porter dabei zur Hand haben. Porter und Cognac
zuſammen macht ſicher ſehr ſäbelmutig. Man muß
nur auch die Doſis richtig bemeſſen.
Ich halte es nicht für ausgeſchloſſen, daß ich
[251]Drittes Buch, drittes Kapitel. ohne Alkohol mehr horaziſchen als achilleiſchen
Mut bewähren würde.
Dies unter uns geſagt.
Kürzlich focht ein Jüngling auf unſre Waffen,
der entſetzliche Angſt hatte, ſich aber doch nicht eher
umdrehen ließ, als bis er einen ausgewachſenen
Durchzieher hatte. Später geſtand er mir, daß er
„aus Liebe“ gefochten hätte.
— Wie? rief ich, hat Ihr Gegner ſich erfrecht,
Ihr Fräulein Braut zu betaſten?
— Ach nein, ſagte er, meine Braut wünſcht
nur, daß ich einen ſchönen Schmiß habe.
So heroiſch ſind die Töchter Thusneldas an¬
gelegt.
— Hörſt du nicht den Eichwald rauſchen?
Als ich noch Bücher las, habe ich irgendwo
das Diktum gefunden, daß der Menſch nie ver¬
zweifeln könne, denn es bleibe ihm auch beim
[252]Stilpe. ſchlimmſten Zahnweh immer die tröſtliche Möglich¬
keit des Selbſtmordes.
Ich habe ein Analogon dazu; ich ſage mir:
Du kannſt zwar verſumpfen, aber es bleibt Dir
immer noch die Möglichkeit, Journaliſt zu werden.
Dieſe Verachtung des Journalismus gehörte
zum Repertoire des Cénacles, aber Stilpe fing doch
bereits an, ſich mit dem Gedanken ſehr vertraut zu
machen, daß ihm ſchließlich die Laufbahn des
Zeitungslitteraten blühen möchte.
Zwar war er keineswegs an ſeiner dichteriſchen
Bedeutung irre geworden; der Nagel ſaß feſt. Aber
der Umſtand, daß er jetzt im Grunde nicht einmal
mehr Pläne zu künftigen Werken machte, kam ihm doch
manchmal zum Bewußtſein, und dann ſagte er ſich:
Ich bin eine zerſplitterte Natur, der Fluch des
modernen Menſchen laſtet auf mir, daß wir uns
nicht ſammeln können; gut alſo, ſo ziehe ich ohne
Wehleidigkeit den Schluß daraus und ſchlage mich
zu jenen, die ihre Goldbarren täglich ſtückweiſe und
halb ausgeprägt vor die Maſſe werfen müſſen.
[253]Drittes Buch, drittes Kapitel.
Und ſofort malte er ſich eine vollkommene Um¬
wälzung der deutſchen Zeitungslitteratur aus, die
vor ſich gehen würde, wenn er zu ihr gehörte.
Aber, als ihm ein Artikel, den er einmal in
den Ferien geſchrieben hatte, zurückgeſchickt wurde,
erfaßte ihn gleich wieder der große Ekel vor dieſen
„öffentlichen Männern, die ſich zeilenweiſe proſti¬
tuieren und ſich von ihren weiblichen Berufs¬
genoſſinnen nur dadurch unterſcheiden, daß ſie
nicht gutmütig wie jene ſind.“ Und die Zeitungen
nannte er nun wieder „Holzpapierbordells“.
Um dieſe Zeit war es, daß Girlinger wieder
vor ihm auftauchte.
Girlinger hatte in Zürich und Genf ſtudiert,
trug ſchwarze Coteletten, einen Cylinder und immer
Handſchuhe. Er war ſehr geſetzt und durchaus
ſolide. Sein Plan war eigentlich geweſen, roma¬
niſche Philologie zu ſtudieren, und er hatte dieſem
Fach, wofür er Fleiß und Talent in ſehr hohem Grade
beſaß, auch wirklich mit Eifer obgelegen, aber, da
ſein Vater darauf beſtand, er müſſe ſich der Juris¬
[254]Stilpe.prudenz widmen, ſo hatte er ſich ſchließlich dazu
verſtanden und trieb nun auch Jurisprudenz mit
Eifer und Zielbewußtſein. Ein gewiſſer Zug von
echter Reſignation ſtand ihm dabei ſehr gut.
Äußerlich erlebt hatte er ſo gut wie nichts, aber
er hatte viel an ſich gearbeitet.
Als er Stilpen zum erſten Mal in ſeiner
gelben Mütze ſah, nahm er ſeinen Cylinder ſehr
tief und zeremoniell ab und machte ſogar eine Ver¬
beugung dabei.
Stilpe empfand das als Hohn und ſtürzte ſich
auf ihn:
— Ach, der Herr Referendar! Welch ein
Cylinder! Wo haſt Du die Sametbürſte, Freund
meiner Jugend?
Girlinger erwiderte: Ich ſchlage einen anderen
Stil vor, wenn wir uns unterhalten wollen.
Übrigens bin ich meinem Examen ferner als Du,
denn ich ſtehe im erſten juriſtiſchen Semeſter.
— Ich ſchlage vor, daß wir weder von Se¬
meſtern noch von Examen reden, wenn wir uns
unterhalten wollen. Ich ſpreche nicht gerne von
gleichgültigen Dingen. Nur zu Deiner Orien¬
tierung bemerke ich, daß ich immer noch als
ſtud. jur. et phil. immatrikuliert bin, ohne indeß
[255]Drittes Buch, drittes Kapitel.von dieſen Würden Gebrauch zu machen. Ich fahre
noch immer fort, mir das Leben anzuſehen. Auch
trinke ich gerne Spirituoſiſches. Du ſcheinſt mir
dagegen ein buveur d'eau zu ſein.
— So, Mürger kennſt Du auch?
— Es giebt keinen beſſeren Kenner dieſes
Klaſſikers. Schade übrigens, daß die Stelle eines
Barbemuche in unſerm Cénacle ſchon beſetzt iſt,
ich würde ſonſt Dir meine Fürſprache nicht vor¬
enthalten.
— Danke. Ich bin nicht für gelbe Mützen.
— Köſtlich! Nein, dieſe Biermütze hat mit
dem Cénacle nichts zu thun. Dein Cylinderhut
läuft keine Gefahr, wenn Du uns die Ehre und
das Vergnügen machen willſt, der definitiven Auf¬
nahme des Herrn Lehmann in das höhere Bar¬
bemuchiat beizuwohnen. Morgen Abend um acht
auf meiner Bude, wenn ich bitten darf. Oder
fürchteſt Du Dich vor oſtpreußiſchen Bowlen . . .
— Herr Lehmann iſt wohl ein Idiot?
— Nein, ein Idealiſt, aber mit Baarmitteln.
Du wirſt Deine Menſchenkenntnis bereichern, wenn
Du kommſt, und außerdem einige Chorgeſänge
vernehmen, die ſich meiner Verfaſſerſchaft rühmen.
Wenn Du aber nicht kommſt, ſo werde ich mich
[256]Stilpeaus Gram betrinken und in der Betrunkenheit
dem Cénacle Deine Flucht nach Griechenland er¬
zählen.
— Warum ſoll ich nicht kommen? Da Herr
Lehmann die Bowle bezahlt, bin ich ja ſicher.
— Schön, aber Cigarren kannſt Du wenig¬
ſtens mitbringen.
— Ich rauche nicht.
— Um ſo beſſer, ſo wirſt Du uns nicht be¬
rauben. Aber merke Dir die Marke: Henry Clay.
Schreib Dirs ins Notizbuch. Eine Kiſte genügt.
Schreib aber Clay richtig, nicht wie das Kuh¬
futter, ſondern ſo: C . . . l . . . a. . . y. So
iſts richtig. Du wirſt wohl empfangen ſein!
— Sind Weiber dabei?
— Pfui! So einer biſt Du? Daher der
Cylinderhut und die Koteletten? Kalipſichore ver¬
hüllt ihr Haupt.
— Wer?
— Kalipſichore, die Muſe der epiſchen Tanz¬
kunſt, wenns gefällig iſt. Sie wird perſönlich da
ſein. Im Civil heißt ſie Hulda Ranker. Du
kennſt doch das Zeitwort rankern?
— Ich glaube, Du biſt betrunken.
— Bleibe feſt und glaube getroſt, Du wirſt
[257]Drittes Buch, drittes Kapitel.nicht irre gehn. Aber vergiß die Cigarren nicht!
Du kannſt auch Huldan ein Corſett mitbringen.
Ich habs ihr ſchon lange verſprochen. Doch von
Seide muß es ſein!
Girlinger hielt es für gut, ſich nun zu verab¬
ſchieden.
— Total verſumpft! dachte er bei ſich. Und
wie der Menſch ausſah! Dieſes angeſchwemmte
Fett unter faſt gelber Haut! Dieſe unſtäten,
ſchwimmenden Augen! Und ſalopp! In einem
Corps ſcheint er nicht zu ſein. Sogar die Wäſche
nicht ſauber. Und die Hand feucht. Wie er dahin
geht, der richtige Gewohnheitsſäufer, der zwar
nicht direkt ſchwankt, aber doch auch nicht richtig
gradeaus gehen kann. Natürlich auch Gedanken¬
flucht. Er kann ſicherlich keine zehn Zeilen logiſch
ſchreiben. Delirantenphantaſie. Ein Ragout im
Hirnkaſten. Wie viel Schulden mag der Menſch
haben!
Girlinger hatte ein ſchönes pſychologiſches
Thema für ſein Tagebuch.
Stilpes Wohnung lag im Durchgang der großen
Feuerkugel (Einſt wohnte Goethe hier — jetzt Wir!)
drei Treppen hoch und beſtand aus einem mäßig
großen Zimmer und einem Alkoven.
— Der einzige Fehler dieſer Bude iſt, pflegte
Stilpe zu ſagen, daß ſie gerade Wände hat. Schiefe
Wände wären ſtimmungsvoller. Aber man beachte
die charaktervolle Schäbigkeit der Ausſtattung! Wer
angeſichts dieſes pöbelhaften Sophas, dieſer kontrakten
Stühle, dieſes ewig wackelnden Tiſches und dieſes
immer aufklaffenden Kleiderſargs, von dem infamen
„Napoleon in der Schlacht bei Leipzig“ ganz zu
ſchweigen, daran dächte, hier die Miete nicht
ſchuldig zu bleiben, müßte ein gefühlloſer Barbar
genannt werden. Was aber das Bett anlangt,
meine Lieben, ſo giebt es keine vorlautere Beſtie
als dies. Es quietſcht ſchon, wenn man es an¬
ſieht, geſchweige denn . . . aber das iſt ein rein
muſikaliſches Thema.
In dieſer Wohnung alſo, die wirklich abſcheu¬
lich war, verſammelte ſich am folgenden Sonntage
das Cénacle zur Feier der endgiltigen Aufnahme
des Philologen Lehmann, der ſoviel Geſchmack am
Cénacle genommen hatte, daß er ſich ſelber an den
gröbſten Verhöhnungen ſeiner Perſon beteiligte.
[259]Drittes Buch, drittes Kapitel.
Stilpe erſchien eine halbe Stunde vor Be¬
ginn der Feſtlichkeit. Mit ihm betrat Hulda
Ranker das Zimmer. Sie that es mit der Sicher¬
heit einer Perſon, die mit den Lokalitäten ver¬
traut iſt. Hübſch war ſie eigentlich nicht, aber ſie
hatte das gewiſſe Puſſelig-Graziöſe der Leipzigerin,
an der der Kenner noch heute die Erbreſte aus
jener galanten Zeit bemerkt, in der, wie die Kultur¬
hiſtoriker ſagen, „die Leipzigerinnen an lockerer
Moral mit den Pariſerinnen um die Palme rangen,“
Die Moral Huldas war wohl nie ſehr feſt ge¬
weſen, aber Stilpe hatte ſie, obwohl er erſt vor
vier Wochen dem Mädchen „das Taſchentuch zu¬
geworfen“ hatte, derart gelockert, daß ſie voll¬
kommen durchſichtig geworden war. Aber das
ſtand Fräulein Hulda gerade gut. Sie gehörte zu den
Mädchen, die an Charakter gewinnen, indem ſie an
Moral verlieren.
Im Übrigen war ſie ſchlank, von guter Taille,
brünett und paſſabel angezogen. Tagüber ver¬
kaufte ſie Cravatten. Dieſem Umſtand verdankte
die geiſtſprühende Scherzfrage Stilpes ihr Daſein:
Welcher Unterſchied beſteht zwiſchen Hogarth und
mir? Antwort: Jener malte ein Crevettenmädchen,
ich bedichte ein Cravattenmädchen.
17*[260]Stilpe.
Aber mit dem Dichten ſah es auch in dieſem
Falle windig aus. Außer dem verwegenen
Ritornell:
Dich nicht
exiſtierte keine Zeile, zu der Fräulein Ranker Pathe
geſtanden hätte, und auch dieſes zierliche Stachel¬
poem verdankte ſeine Entſtehung mehr Stilpes
Antipathie gegen „dieſen ſchreibenden Kapitaliſten“,
als ſeiner Liebe zu der braunen Verkäuferin, ganz
abgeſehen davon, daß es eine von den auch ſonſt
nicht ſeltenen Improviſationen ſeiner Skandier¬
kunſt war, die ſich auf einen Reimzufall zurück¬
führen ließen.
— Laß die Rollfahnen runter, Mädchen, und
mach Licht! kommandierte Stilpe. Es giebt hier
in der Umgegend keuſche Augen, die ſehr lüſtern
ſind. So! Die Beleuchtung iſt mangelhaft, aber
das kommt Deinem Teint zugute. Im Schumme¬
rigen wirken die Weiber überhaupt am beſten.
Daher die vielen Rendez-vous bei der Gaslaterne.
Das elektriſche Licht wird die Rendez-vous ſtark
[261]Drittes Buch, drittes Kapitel. reduzieren, und Herr Siemens iſt für die Moral
ſehr viel wichtiger, als der Sittlichkeitsverein.
— Quatſch nich, Käfer. Heute wird ſo wie ſo
wieder furchtbar geredet werden.
— Sehr richtig! Aber auch getrunken, meine
braune Taube, ja ſogar gegeſſen, und zwar keines¬
wegs Schweinsknochen mit Klößen, ſondern fabel¬
hafte Sachen. Außerdem wirſt Du drei neue
Männer kennen lernen und zwar 1) jenen Leh¬
mann, 2) einen Herrn im Cylinder und 3) einen
Cylinder mit einem Herrn.
— Mit Deim närrſchen Zeig! (Huldas Aus¬
ſprüche müſſen immer Leipzigeriſch geleſen werden,
auch wenn ſie deutſch wiedergegeben ſind.)
— Ich rede ernſt wie immer. Der dritte Mann
iſt nämlich der kleine Auguſt, den Kenner trotzdem
Auguſt den Starken heißen.
— Warum denn?
— Nicht blos im Biceps liegt die Kraft des
Manns! . . .
— Komm, ſag mir, warum er Auguſt der
Starke heißt!
— Ich werde mich hüten, denn ich liebe Dich.
Nur ſoviel: Dieſer kleine Mann, der ſich durch
einen hohen Cylinder zu recken trachtet, iſt ein
[262]Stilpe. fulminanter Muſikus und würde ſchon viele Opern
geſchrieben haben, wenn er nicht immer trinken
müßte. Zwar behauptet er, ich wäre ſchuld daran,
weil ich ihm den Text nicht ſchreibe, den ich ihm
verſprochen habe. Aber das iſt eben jene Schlange,
die ſich in den werten Schwanz beißt: Ich dichte
nicht, weil er nicht komponiert, und er komponiert
nicht, weil ich nicht dichte. Ergo müſſen wir
beide ſaufen.
— Sag doch nicht ſaufen, das klingt ſo
ruppig.
— Kann ich dafür, daß die Wahrheit ein
Rauhbein iſt?
— Du biſt eins!
— Und dennoch liebt mich Deine Sanftheit!
Aber es klingelt! Schwing Dich hinaus, Mädchen!
Es war Herr Lehmann mit drei Packträgern.
Er machte eine tiefe Verbeugung, der man die
Tanzſtunde anſah, vor Hulda und begrüßte Stilpen
ehrerbietig.
— Schön, mein Engel, ſprach dieſer, ich ſehe,
Du haſt Alles gut in die Wege geleitet. Nun
laß mich das Auspacken überwachen. Setz Dich
zu dieſem ſchlanken Mädchen, aber halte Dich in
den Grenzen der Wohlanſtändigkeit. Noch biſt
[263]Drittes Buch, drittes Kapitel.Du nicht in der Gemeinde derer, denen Alles er¬
laubt iſt.
Und nun kommandierte er:
— Der die Flaſchen hat, vortreten! . . . Ah!
Sie! Gut gewählt, der Mann. Er iſt würdig,
volle Flaſchen zu tragen! Lieben Sie Nordhäuſer?
Schon gut! . . . Nun packen Sie aus! Vorne ran
die dicken Flaſchen! Gut! . . . Wieviel? Sechs?
Gut! . . . Jetzt die kleinen ſtämmigen! Das müſſen
vierundzwanzig ſein! Stimmts? Gut! Sehr
gut! . . . Jetzt die rothalſigen! Süße Kerlchen,
was? . . . Zehne? Da fehlen zweie! Menſch, Sie
werden doch nicht? Ah, da ſtrecken ſie ja die roten
Hälſe vor. Zu den anderen! Schön ausrichten!
Gut! Ganz gut und wacker! . . . Sie waren
gewiß Unteroffizier. Natürlich! Es lebe der Reſerve¬
mann! . . . Aber jetzt die Gelbkapſeln, die feier¬
lichen und ſteifen. Gelbkapſeln! . . . Drei! Ja, ja,
es werden nicht mehr. Aber reichen Sie mir mal
eine. Schön. Ich bin zufrieden. Laſſen Sie ſich
auszahlen bei dem Herrn dort. Er wird Ihnen
auch ein paar Cigarren geben.
— Jetzt der zweite mit dem Freßkober und dem
Geſchirr! . . . Umgotteswillen vorſichtig! Den
Bowlenbauch mitten auf den Tiſch. Die Gläſer
[264]Stilpe. wie ein Kranz herum. . . . So! Sie haben
Talent, alter Herr . . . Nun die Teller. Aber
da ſoll dieſes Fräulein helfen . . . Hulda, arrangiere
das Tellerweſen. Und nimm Dich auch der Meſſer
und Gabeln an. Und nun: Was ruht im werten
Schrein!? Gut! . . . Gut! . . . Es iſt Alles in
rechtem Verhältnis, ſowohl das, was dem Meere
entſtammt, wie das vom feſten Lande. Die ganze
Geographie iſt vertreten, von der Adria bis zum
ſchwarzen Meere . . . Ja, die Eiſenbahnen ſind
ein rechter Segen, nicht wahr, Miſter? . . . Und
nun laſſen Sie ſich gleichfalls von dem verehrten
Gaſtgeber auslohnen. Auch Sie haben drei Cigarren
extra verdient.
— Und nun der Düſtere in der Ecke mit dem
ſchwarzen Sarg! Heran und ausgepackt! . . .
Wie? Ein Cello? Seit wann zählt das zu den
Viktualien? . . . Ah, Du willſt kniegeigen? Schön!
Placet! So kann ich mir mein Bettduo ſparen.
Die Packträger traten ab.
Kaum waren ſie draußen, ſo hörte man in
einer Art Baßfiſtel kreiſchen: Infames Rindvieh!
Haben Sie keine Augen? Das Luder hat mir die
Galloſchen abgetreten!
Und herein ſtürmte ein kleiner Menſch mit
[265]Drittes Buch, drittes Kapitel. kurzem weißen Stoppelbarte, kaum einen Meter
hoch, aber mit einem hohen Röhrenhute bedeckt.
Er ſchrie immer noch und fuchtelte dabei mit ſeinem
Regenſchirm herum: Meine rechte Galloſche! Dieſes
Trampeltier! Wie? Ochſe! Direkt auf die Galloſche!
Ich gehe ſofort!
— Aber Auguſt! Siehſt Du die Dame nicht?
klagte Stilpe. Und ſofort war der kleine Mann
friedlich.
— Hehe! Warten Sie, mein Fräulein, gleich
komm ich und lege mich Ihnen zu Füßen. Blos
den Hut und Schirm und Mantel, puh, dieſen
zentnerſchweren Mantel, dieſe Rüſtung, Luder,
das . . .
Herr Lehmann ſtürzte herbei und nahm dem
Kleinen die Garderobe ab.
— Sehr nett, Herr . . .?
— Leh . . . Barbe . . . (Herr Lehmann wußte
im Cénacle bis jetzt noch nicht, wie er hieß).
— Sehr freundlich, Herr Lehbarb!
Stilpe wieherte vor Entzücken.
— Gottverdammich, was heulſt Du wie
eine Lokomotive! Willſt Du mich wahnſinnig
machen? Kennſt Du keine Rückſicht? Ich gehe
ſofort!
[266]Stilpe.
— Aber Auguſt! Du haſt Dich dem Mädchen
immer noch nicht zu Füßen gelegt.
— Oh, oh, oh, oh, Dein Geſchrei! Dein Ge¬
ſchrei! Aber jetzt liege ich ſchon!
Und er fuhr auf Hulda los und ergriff ihre
Hände und machte dabei eine Verbeugung, ſo daß
er ſie niederzog wie einen Plumpenſchwengel.
— Ach, die reizenden warmen Händchen! Uh,
uh, uh, ti, ti, ti, ſo warme kleine Patſchen! Mm,
mm, mm! Heißen?
— Hulda heißt das Mädchen, bemerkte Stilpe.
— Hab ich Dich gefragt? Weg! Weg! Kommen
Sie, Huldachen, zu mir aufs Kanapee, Hul¬
dachen.
Er ſchleppte ſie förmlich zum Sopha, auf das
er ſich nach türkiſcher Art ſetzte, weil er europäiſch
ſitzend mit den Füßen nicht zum Boden gereicht
hätte.
Das Zimmer war jetzt eigentlich ſchon voll,
aber es kamen noch ſieben Perſonen, nämlich:
1) Girlinger, der ſich überaus ſchüchtern und mit
der ganzen Ratloſigkeit eines ſtark kurz¬
ſichtigen Menſchen benahm, dem die Brille
angelaufen iſt. Die Cigarren hatte er mit¬
gebracht;
2) Stöſſel, der diskret den Corpsſtudenten zu
markieren bemüht war und übrigens etwas
blaſiert ausſah. Mit ihm3) Fräulein Grete Gramm, genannt das allitte¬
rierende Mädchen, eine etwas üppige Blondine,
phlegmatiſch, aber unendlich verliebt. Übrigens
eine „Bürgerstochter“;4) Wippert, der jetzt einen ſehr ſchönen dichten
Schnurrbart hatte und nicht ganz geſchickt
den ungezwungenen Weltmann ſpielte. Mit ihm5) Fräulein Clara Winkler, ein ſehr lebhaftes
rotblondes Ding, das draußen am Carola¬
theater Choriſtin war und den braven Wippert
ein bischen tyranniſierte;6) Barmann, der immer noch wie ein Knabe aus¬
ſah, obwohl er eine Menge Schmiſſe auf der
linken Backe hatte und ungemein ſelbſtbewußt
auftrat. Dieſer mit7) Fräulein Anna Obersdorfer. Das war eine
ſehr kleine, flinke Perſon mit großen lebhaften
ſchwarzen Augen und braunen, lockigen
Haaren, die die Stirne ganz verdeckten. Sie
hatte etwas ſpätzinnenhaftes in ihrer hupfigen
Hurtigkeit. Auch „Bürgerſtochter“, aber ſchon
eigentlich nicht mehr ganz.
Die elf Perſonen wurden folgendermaßen
plaziert:
Sopha: Linke Lehne: Stöſſel. Rechte Lehne:
Barmann. Neben Stöſſel das allitterierende Mädchen.
Neben Barmann die kleine Anna. Mittelplatz: Der
kleine Auguſt mit Hulda.
Dem Sopha gegenüber, auf Stilpes Koffer
(einſt war er, mit Schmetterlingen angefüllt, in
Südamerika geweſen), Wippert und die rote Clara.
An der linken Schmalſeite des Tiſches Girlinger,
an der rechten Stilpe.
Herr Lehmann ſtand, gelehnt an ſein Cello¬
gehäuſe, zwiſchen Tiſch und Alkoventhür.
Wenn vier Leipzigerinnen mit ſechs jungen
Männern und einem alten Herrn von der Art des
kleinen Auguſt zuſammen ſind, ſo geht es nicht
leiſe zu, ſondern ſehr ſchnabellaut wie in einem
Spatzenſchwarme, der ſich auf einem vollen Kirſch¬
baume niedergelaſſen hat. Als ob ſie vier Wochen
in ein Trapiſtenkloſter eingeſperrt geweſen wären,
ſchwatzten die Mädchen, und die Cénacliers thaten das
[269]Drittes Buch, drittes Kapitel. Gleiche. Aber der Quetſchdiſkant des kleinen Auguſt
dominierte deutlich. Allen Mädchen gleichzeitig
galante Komplimente zu ſagen, aber zugleich die
jungen Herren mit Grobheiten zu regalieren, ſchien
ſein Programm zu ſein. Die andern ſpielten nur
ihr Inſtrument, er, der Kapellmeiſter, beherrſchte
die Partitur. Es war wirklich eine Leiſtung. Gir¬
linger, neben Herrn Lehmann der einzig Schwei¬
gende, duckte ſich unwillkürlich etwas in dieſem
Geſtöber von Worten.
Da erhob ſich Stilpe mit der gelaſſenen Ele¬
ganz eines Hofmarſchalls und ſprach:
— Mädchen und Freunde! Der Wohllaut eurer
Stimmen iſt lieblich, und ich möchte ihm gerne
noch ſtundenlang lauſchen. Aber die Pflicht hebt
ihren ernſten Zeigefinger. Wir haben heute eine
Sache von Wucht und Wichtigkeit vor; laßt uns
ſogleich daran gehn! Es gilt, dieſen Herrn (treten
Sie vor, Novize!), der ſich in den niederen Probe¬
graden nicht ganz übel benommen hat, nun endlich
und formell zu entlehmannen. Seht ihn euch noch
einmal prüfend an und laßt euch nicht den Blick
durch dieſe Flaſchen und Viktualien trüben, indem
ihr euch die Frage vorlegt: Darf er der Schwelle
bittend nahen?
[270]Stilpe.
— Er darf! riefen die Dreie dumpf.
— Aber natürlich! ſagte die kleine Anna.
Warum ſoll er denn nicht dürfen? S is ja n
ganz netter Herr!
— Colline, bind Deiner Göttin das Gehege
der Zähne zuſammen; ſie macht den Novizen eitel.
Wir aber wollen beginnen!
— Novize! Beherrſchen Sie die glänzenden
Verſe, in denen Sie zu uns zu reden haben?
Herr Lehmann verbeugte ſich und ſagte: Ja!
— Novize! Schwören Sie, demütig und ohne
Murren Alles zu vernehmen, was man Ihnen
jetzt ſagen wird?
Herr Lehmann verbeugte ſich und ſagte:
Ja!
— Novize! Fangen Sie an!
Herr Lehmann trat einen Schritt vor, legte
beide Hände kreuzweis über die Bruſt, machte
in dieſer türkiſchen Haltung eine ganz tiefe
Verbeugung, ließ dann die Hände an den Seiten
herabſinken und deklamierte, wirklich nicht übel,
was folgt:
[271]Drittes Buch, drittes Kapitel.
wurm?
Da rief die kleine Anna: Schämen Sie ſich,
Herr Lehmann!
Stilpe war empört:
— Colline! Wenn Dein Ideal nicht den
Schnabel hält, mußt Du die Bowle . . . aber ich
will nicht vorgreifen. Weiter, Novize!
Herr Lehmann fuhr fort:
Barmann mußte, während Herr Lehmann eine
Pauſe machte, der kleinen Anna eine Serviette um
[272]Stilpe. den Mund binden. Aber der kleine Auguſt war
außer ſich vor Vergnügen, und er ſchrie: Er zahlte
und ging! Hehehe! Warum war auch kein Drei¬
fuß gegenwärtig!? Hulda! Warum?
Stilpe machte: Pſt!
Herr Lehmann fuhr fort:
Herr Lehmann ſchwieg und machte wieder eine
ganz tiefe Verbeugung.
Stilpe erhob ſich mit Prieſterwürde und ſkan¬
dierte:
Die ihr Adepten ſeid, ſprecht euern Doppelvers!
Und Barmann brummte:
Ein ſehr verwegener Knabe, in der That!
Weinreben nehmt und ſchlagt ihn auf den Steiß!
Herr Lehmann erſchrak und trat einen Schritt
zurück. (Denn er hielt Alles für möglich.)
Wippert aber rief:
Legt mir den Jüngling in ein Lexikon
Als Leſezeichen, klappt das Buch dann zu!
Herr Lehmann ſchüttelte betroffen das Haupt.
18[274]Stilpe.Und Stöſſel im Ä-bäh-Tone:
Herr Lehmann wollte beinahe ärgerlich werden,
er erhob ſchon die Arme. Aber Stilpe ſah ihn
durchdringend und zornig an.
Dann ſprach er ſelbſt:
Bei dieſen Worten erhoben ſich die drei Céna¬
cliers mit ihren drei Mädchen und riefen ſelbſechſt
ſehr laut und ſtürmiſch:
Der kleine Auguſt aber ſchrie: Komm Se her,
Herr Barbemuche, gäm Se mir n Kuß! Nee,
warten Se mal, lieber nich! Gäm Se Huldan n
Kuß! Und Hulda giebt mirn wieder, wenn Stilpe
niſcht drwider hat.
Und jetzt gings los. Stilpe ſang mit ſeiner
grauſamen Stimme das Lied von der Königsberger
Bowle:
— Heda, rief Wippert, die Mädchen beengen
uns. Sie ſollen hinter den Stühlen ſtehn und
uns bedienen. Wir ſind die Herren mit dem
Peitſchenſtiel!
— Du biſt wohl verrückt, rief ſeine rote Clara,
wie er ſich mauſig macht!
— Nein, er hat recht! ſchrie der kleine Auguſt.
Alle Mädchen raus! Raus! Mädchen ſind gut,
aber erſt trinken! Dann könn ſe wieder rein! Zu
enge! Zu enge!
Er hatte ſchon fünf Glas getrunken.
Stilpe ſchlichtete das Problem ſalomoniſch:
— Es iſt zu enge, das iſt klar. Aber die
Mädchen in den Alkoven zu ſperren, wäre grauſam
und gefährlich. Ich ſchlage dies Arrangement vor:
Barbemuche und mein Freund Girlinger ſchieben
dieſen köſtlich beladenen Tiſch in die Ecke, und wir
legen uns in den Lichtkreis dieſer Petroleumampel
auf die Erde. Hulda, hol die Kiſſen rein! So
wollen wir ſchlemmen und ſchlampampen nach
griechiſcher Art, lang liegend wie Schläuche, immer
ein männlicher neben einem weiblichen.
— Ja, liegen, liegen! rief der kleine Auguſt.
Hulda, kennſte Hamletn?
Und ſie lagerten ſich griechiſch, wie Schläuche.
[277]Drittes Buch, drittes Kapitel.
Das allitterierende Mädchen nahm ſich beſonders
gut aus.
— Sie ſind das ſchönſte Kanapee im Möbel¬
magazine des Herrn, ſagte der kleine Auguſt.
Herr Lehmann mußte anſtatt eines Mädchens
ſein Cello neben ſich legen und die wichtigſten
Reden, zumal, wenn ſie rhythmiſch wurden, mit leiſem
Saitenrupfen begleiten.
Es entwickelte ſich ein unbeſchreiblicher Lärm,
zumal dann, als die Delikateſſen, von denen Stilpe
übrigens einige beiſeite gebracht hatte, aufgezehrt
waren und die Henry Clays dampften.
Der kleine Auguſt wälzte ſich von Mädchen zu
Mädchen und ächzte nur noch, wenn er nicht trank.
Ächzend entwarf er verführeriſche Schilderungen
ſeines Schlafrockes, den ihm Richard Wagner geſchenkt
haben ſollte: — Beſucht mich doch mal, Kinder,
mein Schlafrock iſt aus Seide, hehe, ſo mollig, und
meine Badewanne iſt auch nicht aus Pappe, nee!
Wenn aber jemand zur Unzeit lachte, wurde er
ungeheuer wild und brüllte Schimpfworte der un¬
erhörteſten Art. Manchmal ſang er auch Melodieen
aus ſeinen vielen ungeſchriebenen Opern, die alle
höchſt erotiſcher Natur waren und im Oriente
ſpielten.
[278]Stilpe.
— Hehe, was hat der Meiſter geſagt? Gottſei¬
dank, hat er geſagt, daß der kleine Auguſt ſäuft,
ſonſt müßten wir uns einpacken laſſen.
— Und deshalb ſäufſt Du ja blos, Auguſt,
ſagte Stilpe. Er ſäuft aus Liebe zu Wagner, weil
er den nicht umbringen will. Es lebe Auguſt der
Großmütige!
— Halts Maul, Stilpe, ächzte Auguſt, Du biſt
die frechſte Canaille, die ich kenne, aber ich liebe
Dich, ich liebe alle frechen Canaillen. Hulda, klopf
mir den Buckel ab!
Es dauerte nicht lange, und Alle waren be¬
trunken, ſogar Girlinger, der ſich abwechſelnd einen
Rabuliſten nannte und provençaliſche Minnelieder
ſang.
Barmann hielt Volksreden, wobei er fortwährend
wiederholte, nicht Bebel ſei Präſident, ſondern
Bismarck.
Auch der kleine Auguſt ſchrie, daß er Bismarck
liebte, nur wäre es ſchade, daß er kein Sachſe wäre.
Wippert lag ſehr lange auf den Knieen und
küßte der roten Clara die Schuhe. Dazu ſang er:
Lang, lang iſts her.
[279]Drittes Buch, drittes Kapitel.
Stöſſel entwickelte Ideen über das Salondrama,
das nur geflüſtert werden dürfte und wobei man,
wie jetzt Operngucker, Hörröhren im Theater ver¬
leihen würde.
— Das Flüſtertheater iſt das Theater der
modernen Nerven, das Theater der intimſten
Seelendüfte. Seelengeſäuſel! Wolluſtgewiſper!
Sanft! Ganz ſanft! Hauch!
Und er flüſterte ſelber nur noch ſo leiſe, daß ihn
kein Menſch mehr verſtand.
Aus reiner Oppoſition ſtellte Stilpe das Ideal
eines „Schmettertheaters“ auf.
— Nur noch Verſe, lang hinhallende Verſe wie
Fanfaren, Poſaunenſtöße, die wie lange Donner
machtvoll ausrollen. Z. B. ſo, und er brüllte mit
voller Lungenkraft:
Sonſt ſprach man mehr von unlitterariſchen
Dingen, und Stilpe ſtellte ſogar die Behauptung
auf, es ſei eine Schande, an Litteratur auch nur
zu denken, ſo lange der Magen noch geſund ſei.
— Nur Magenkranke dichten. Wer geſund iſt
ſäuft. Und das iſt der Grund unſres Saufens:
[280]Stilpe. Wir ſaufen, um auf dem Umwege über eine Magen¬
krankheit einmal Dichter werden zu können.
Unendlich oft ſank man ſich in die Arme, zu¬
mal, als die Mädchen eingeſchlafen waren. Die
dicke Grete hatte ſich mit Hulda direkt ins Bett
gelegt, und die kleine Anna glaubte offenbar, ſie
wäre zu Hauſe, denn ſie zog ſich bis aufs Hemd
aus und legte ſich aufs Sopha. Herr Lehmann
durfte ihr ein Schlummerlied auf dem Cello geigen,
und ſie küßte ihn dafür recht herzlich, wenn auch
im Schlafe. Die rote Clara hatte ſich nur die
Haare aufgemacht und lag dem kleinen Auguſt im
Schoße, der aber keinen Sinn mehr dafür hatte
und ein paar mal rief: Nehmt doch die Apfelſine
weg!
Früh um drei ſchlief Alles. Nur Stilpe ſtieg
zwiſchen den Schlafenden hin und her und trank
die Bowle leer. — Die Betrunkenheit hob und
ſenkte ſich in ihm. Ihm war, als führe ihn etwas
im Kreiſe herum. Zuweilen lallte er:
Wie dieſer Lehmann ſchnarcht!
[281]Drittes Buch, drittes Kapitel.
Dieſer Idiot iſt ganz ſelig. Warum? Er hat
ſeine Kniegeige.
Und dieſer laſterhafte Greis! Glücklich iſt der
Halunke. Warum? Er glaubt an Richard Wagner.
Und dieſe lieben Knaben, eingeſchloſſen Gir¬
linger. Unbeſchreiblich zufriedene Burſchen! Warum?
Sie haben ihre Frauenzimmer oder ihren Cylinder.
Dahingegen ich!
Ich muß über ihre ſchnarchenden Leichen ſteigen
und kann nicht ſchlafen.
Ach, was bin ich elend! Ach! Ach! Ach!
Heulen! Heulen!
Warum iſt mir ſo übel? Warum geht Alles
in mir auseinander?
Die Schulden! Die Schulden! Überall Schul¬
den! Und, äh, ich weiß nicht recht, verlohnt ſich
denn das Alles? Ich . . . rutſche ja . . . ich . . .
rutſche ja . . .
Plötzlich gab er Girlingern einen Stoß mit dem
Fuße.
Girlinger lallte: Drück mich nicht ſo, Johanna!
Stilpen erfaßte ein wütender Zorn: Alſo auch
dieſer Häring ſeufzt! Und er ſtieß ihn noch einmal:
Girlinger!
— Was denn?
[282]Stilpe.
— Was hältſt Du eigentlich von mir! He?
Nicht wahr, ich bin ein Lump und kuhdumm!?
— Verſumpft, ganz verſumpft, total.
— So, ſo? Reizend! Haſt Du gar keinen
Reſpekt vor mir mehr? Wie?
— Laß mich ſchlafen, ich muß ſchlafen. Die
Cigarren ſind ſehr teuer.
— Ob Du mich für dumm hältſt!
— Ja, ja doch, meinetwegen, Du biſt ja natür¬
lich dumm. Das ewige Saufen . . . Du mußt ja
verblöden. Und außerdem . . . geſchmacklos . . .
Ah . . . Ich muß ſchlafen.
Natürlich: Dumm! . . . Ja, ja, das Saufen! . . .
Geſchmacklos . . . Freilich . . . Blöde . . . Hm . . .
Mir iſt ſelber ſo . . . Äh, wie die Mädchen
ſchnarchen . . .
Er ſtellte ſich vor die kleine Anna hin: Wie
rund ſie iſt. Hm. Feſt. Warm. Und ich ſtehe da
wie ein Klotz. Ich . . . ich . . . habe nicht mal
mehr Luſt an dem. Ich . . . Gott! Gott! . . .
Er ſah ſich ſcheu um und fuhr ihr mit der
Hand über die Bruſt, aber wie angeekelt zog er
die Hand ſchnell zurück.
Plötzlich warf er ſich mitten ins Zimmer.
— Ein Sauleben! Ein Sauleben! Alles hin!
[283]Drittes Buch, drittes Kapitel. Alles leer! Fertig! Fertig! Jetzt ſchon fer¬
tig! . . .
Er lachte laut auf und trank den Reſt der
Bowle aus dem Löffel.
— Und was für eine Art Beſoffenheit das iſt.
Ich werde jetzt moraliſch, wenn ich bezecht bin.
Köſtlich! Über alle Begriffe köſtlich! Das iſt der
Finger Gottes! Ich ſoll in mich gehen! Ein aus¬
gezeichneter Fingerwink! Eine ſublime Ironie!:
Halt ein mit dem Suff, ſonſt kriegſt Du die
Moral!
Man kann nicht deutlicher ſein. Oh ja, es
giebt eine Vorſehung, meine Herrſchaften!
Äh, pfui Teufel
Viertes Kapitel.
Eine kalte Märznacht; Regen, Wind und zer¬
fetzt jagende Wolken. Das Theater iſt aus. Karl
Häuſſer aus München hat den Falſtaff gegeben,
und trotz des abſcheulichen Wetters iſt es den
Leuten, die aus dem Theater kommen, behaglich zu
Mute. Auch Girlinger iſt darunter. Eben ſpannt
er den Regenſchirm auf, um ſeinen Cylinder und
den neuen langen engliſchen Überzieher zu ſchützen,
da tritt Stilpe an ihn heran. Er hat keinen Über¬
zieher, und ſtatt der gelben Mütze ſitzt ihm ein
alter Schlapphut auf dem Kopfe. Seine Hoſen
ſind unten ausgefranzt, ſeine Stiefel zerriſſen, ſtatt
Kragen und Shlips trägt er ein wollenes Hals¬
tuch.
Girlinger erſchrickt, wie er ihn ſieht, und macht
eine Bewegung, als wolle er davon.
[285]Drittes Buch, viertes Kapitel.
— Aber es iſt ja dunkel, Herr Referendar! Du
wirſt Dich nicht kompromittieren, und ich werde
Dich nicht einmal anpumpen, denn die zwei Mark,
die Du mir ſpenden würdeſt, helfen mir nichts.
Aber reden möcht ich n bischen mit Dir. Mir
iſt, als hätten wir uns eine gute Weile nicht
geſehen.
— Ich wußte nicht, daß Du noch hier biſt.
Ich glaubte . . .
— Was glaubteſt Du? Geniere Dich nicht!
— Nun, ich dachte, Du wäreſt vielleicht . . .
— Nach Amerika? Oder zur Schutztruppe?
— Ich meinte, Du wäreſt fort.
— Fort! Sehr gut! Aber ſiehe, noch iſt er
da! Ja: Bleibe im Lande und nähre dich redlich,
wenn Du kein Reiſegeld haſt, mein Sohn. . . . Wo
gehſt Du hin?
— Nach Hauſe.
— Ah ſo! Nach Hauſe. Das klingt unge¬
mein nett. Sag mal, Du haſt doch einen Haus¬
ſchlüſſel?
— Gewiß.
— Schön. Dann kannſt Du mir wohl ein
paar Viertelſtunden ſchenken?
— Eigentlich habe ich keine Zeit, da ich morgen
[286]Stilpe.Sitzung habe und mich noch etwas in den Akten
umſehen muß.
— Sitzung! Akten! Nein, daß ich mit ſolchen
Würdenträgern umgehen darf! Wenn Leipzig
ruſſiſch wäre, wärſt Du ſicher ſchon Beamter der
achten Rangklaſſe.
— Ja, wenn Du mich verhöhnen willſt . . .
— Nein, Girlinger, wirklich nicht. Nee. Ich bin
ſo matſch . . Weißt Du, meine Stiefeln haben nur
noch nominell Sohlen, und Abendbrot hab ich
auch noch nicht gegeſſen. Da ſollte ich höhnen?
Nein, ich höhne nicht.
— Aber, Menſch, wovon lebſt Du eigentlich!
— Sei unbeſorgt: Louis bin ich nicht, obwohl
. . . na, gleichviel. Du warſt im Theater?
— Ja.
— Ich auch.
— Wie? Obwohl Du kein Geld zum Abend¬
brot . . .
— Ja, die Kunſt, mein Lieber! Die Kunſt!
Ich bin nämlich Aushilfsſtatiſt. Haſt Du mich
nicht bemerkt? Gelbe Schlappſtiefel und einen
grünen Buſch. Ho! Wenn nur die Wämmſer
nicht ſo ſtänken . . . Aber, was: Der Häuſſer, das
iſt ein Kerl! Wie? Es iſt gemein von Heinrich,
[287]Drittes Buch, viertes Kapitel. dieſen Falſtaff am Schluſſe ſo zu behandeln . . .
man könnte heulen! Überhaupt: Das ganze Stück
wird zur Tragödie durch dieſen Schluß. Und dieſe
Parkett- und Galleriewanzen fühlen das gar nicht.
Oder etwa Du? Oh nein! Welch eine Genugthuung,
daß das fette Laſter ſein Teil kriegt. Widerlich.
Auch Shakeſpeare war ein kluger Herr und ver¬
ſtand das Geſchäft wie Ludwig Fulda. Äh! Mich
hats gejuckt, laut aufzuſchreien und dieſem grünen
Tugendprotz von Heinrich meine Schlappſtiefel an
den Kopf zu werfen.
— Ein angenehmer Effekt.
— Ja, aber er hätte mich meine künſtleriſche
Poſition gekoſtet. Nein, ich darf Shakeſpearen keine
Gemeinheit vorwerfen. Ich bin auch ein rechnendes
Schwein. Mangelnde Abendbrote demoraliſieren.
Girlinger fing an, einen pſychologiſchen Biſſen
zu ahnen. Es mußte wohl intereſſant ſein, das
Problem der Verlumptheit an einem konkreten und
dabei einigermaßen vertrauten Fall zu ſtudieren.
Er liebte ſolche Studien, wenn ſie bequem gemacht
werden konnten. Alſo lud er Stilpen ein, mit
ihm in ein Lokal zu gehen und Abendbrot zu eſſen.
Stilpe nahm dieſe Einladung mit Lebhaftig¬
keit an:
— Menſch, wie ſchön ſind Deine Gedanken! Und
ich hielt Dich keines Schwungs für fähig! Ver¬
zeihe mir! Aber Du mußt das Lokal mich be¬
ſtimmen laſſen. Nur iſt es ſchwer, denn Dein
Cylinder paßt nicht in meine Milieus . . . Aber
es geht ſchon. Die Goſenſtube in der Kloſtergaſſe
iſt ein Rahmen, der für Dich und mich paßt.
Auch giebt es dort wunderbare Sooleier und einen
Nordhäuſer, der die Seele mit feurigem Beſen fegt.
Du haſt das ja nicht nötig; Deine Seele iſt rein;
dafür kannſt Du Dich ja an die milde Goſe halten.
Ich aber werde mich auf Deine Koſten gewaltig
ausfegen.
Sie gingen in die Goſenſtube und fanden einen
leeren Tiſch. Stilpe aß mit Heißhunger und ſehr
viel, die Goſe aber benutzte er nur als Vorwand
für eine große Anzahl von Nordhäuſern, die er
mit „Kutſcherſchwung“ zu ſich nahm, wobei es
ſtets den Anſchein hatte, als wolle er das Glas
mit verſchlingen.
Im Lichte der Gasflammen ſah Girlinger, wie
ihm die letzten drei Jahre zugeſetzt hatten. Das
unraſierte Geſicht fahl und aufgedunſen, die Lippen
bläulich, die Augen ſcheinbar kleiner geworden und
ſehr unſtät. Eine zuckende Unruhe im ganzen
[289]Drittes Buch, viertes Kapitel. Weſen, zumal in der Bewegung der Hände etwas
ziellos Fahriges. Aber der Nordhäuſer ſchien zu
beruhigen. Zuletzt bekam Stilpe ſogar ſeinen alten
Zug von ſouveräner Ironie und die gewiſſe, etwas
zu deutlich markierte vornehme Läſſigkeit der Geſten.
Zumal den Rauch der Cigarre blies er ganz
wie früher ſo grandios und dabei mit Genußmiene
von ſich. Auch ſeinen alten Stil gab ihm der
Nordhäuſer ungefähr wieder.
— Ja, mein Teurer, bis auf dieſe etwas
kleckerige Bank da habe ich mich glücklich hinabavan¬
ciert, ſeitdem dieſe lieblichen Idioten mit den gelben
Mützen mich hinausgethan haben. Wie heißt es
doch: c. i., das iſt cum infamia. Nun ja: Eine
reizende Phraſe. Ich hätte die ganze Sache mehr
von dieſem äſthetiſchen Standpunkte anſehen ſollen.
Und wie nett das eigentlich war, ich meine, wie
gut es dieſes brave Schickſal eigentlich gedeichſelt
hat, wie mütterlich vorbereitend. Erſt dieſe Jüng¬
linge mit ihrem Mikrokosmos von Bierjudikatur,
und drei Monate ſpäter dieſer Makrokosmos des
Senats der freundlichen Alma mater. Nochmal c. i.
So ſind die Naturgeſetze. Du verſtehſt mich doch?
— Ja, aber ſag mal: Haſt Du denn wirk¬
lich . . . ?
19[290]Stilpe.
— In der That: Ich habe wirklich.
— Aber Menſch, Du mußteſt doch be¬
denken . . .
— Was mußte ich bedenken? Daß die Kaſſe
der gelben Mützen nicht meine Kaſſe war? In
der That! Dieſer Umſtand war mir nicht ver¬
borgen. Aber ad 1: Eine andre Kaſſe hatt ich
leider nicht und ad 2 ſchwang mich die Wiege der
Zuverſicht, das biedere Cénacle, incluſive die beiden
kapitalkräftigen Barbemuches, würden mich mo¬
mento quo (das iſt mein Privatlatein) nicht in
der Galläpfelſauce ſitzen laſſen. Ein falſches Cal¬
cul, mein Holder, und wenn Du ein bischen in
der Weltgeſchichte blätterſt, wirſt Du die Erfahrung
machen, daß ſo was ſchon manchmal mehr als
eine gelbe Mütze und eine Matrikel gekoſtet hat.
Übrigens wäre ich wirklich beinahe der honorigen
Studentenſchaft erhalten blieben. Aber nicht immer
vermögen die Unterröcke zu retten, was die Hoſen
verſehen haben.
— Das verſtehe ich nicht.
— Tröſte Dich: Ich werde es Dir gleich er¬
zählen. Erinnerſt Du Dich an meine erſte
Liebe?
— Welche?!
[291]Drittes Buch, viertes Kapitel.
— Die chronologiſch erſte . . . Ich habe es
Dir wie jedem Andern damals unfehlbar erzählt.
Joſephine hieß ſie.
— Ach ſo, die, wo Du erſt acht Jahre alt
warſt, in dem Dresdener Inſtitut?
— Präzis die. Joſephine. Buſchkleppern ſeine.
Dieſer Engel hat mich retten wollen. Es iſt
zweifellos rührend.
— Aber wieſo denn?
— Sehr einfach. Du erinnerſt Dich, wie ich
euch damals die ganze Sache klar machte. Nicht
wahr? Ich ſprach doch, wie Cicero und Catilina
in einer Perſon. Es war einer meiner Höhe¬
punkte. Ein paar Anakoluthe hab ich noch in der
Erinnerung. Nun, ihr wart mit Talg gepanzert.
Es rollte Alles ruhig ab. Beſonders Du warſt
ein großes Achſelzucken. Hehe, famos haſt Du das
gemacht, mein Liebling! Proſt! Dafür ſollſt Du
heute noch viele Nordhäuſer bezahlen. Alſo ſchön.
Ich raſte ab. Du mußt Dich daran erinnern.
Ich habe in meinem Leben das Wort Schweine¬
hunde! nie wieder ſo ſchön tremoliert. Und über¬
dies warf ich Dir ja ein Bierſeidel an den Bauch.
Nicht wahr, Du erinnerſt Dich deutlich?
— Ja, Du warſt noch unfläthiger, als ſonſt.
19 *[292]Stilpe.
— Das iſt mir lieb, zu hören. Aber ſela!
Als ich draußen war, ſagte ich mir: So, die Sache
iſt nun fix; wo tröſt ich meine Seele? Und da
beſuchte ich denn, aber Du darfſt nicht rot werden,
Referendar, jene Hausbeſitzerin, von der wir
manchmal geſungen haben:
Amalie?
Du haſt das ſehr ſchön ſingen können, mein
Engel, und oft habe ich Dich im Scheine dieſer
Laterne ſtehen ſehen, überglüht wie von der
Morgenröte. So magiſch wirſt Du nie wieder
ausſehen, nie! Und darum proſt und ſela!
Apropos: Du biſt doch verlobt?
— Das gehört wol nicht hierher.
— Nein, es fiel mir in dieſem Zuſammen¬
hange blos ſo ein. Weißt Du, mir fällt immer
das Ungehörige ein, hehe. Übrigens fange ich an,
in Stimmung zu kommen, und da rutſchen mir
immer die Gedanken aus. Wart mal, wovon
ſprach ich doch. Richtig: Von Deiner Braut!
Iſt ſie wieder geſund?
— Sei nicht albern. Du ſprachſt von dem
Hauſe dieſer alten Vettel, dieſer Amalie.
[293]Drittes Buch, viertes Kapitel.
— A—ma—li—eh! Richtig! Und, daß ich
damals hinging, wie ihr mich verſtoßen hattet.
Richtig! Ich bin im Gleiſe wie die Pferdebahn.
Nun gerade aus! Hüh! Brr! Ulrichsgaſſe! Alles
ausſteigen! Ah! Was giebts Neues, Mutter der
Houris? Wa — as? Wer iſt denn das da? Ruhe!
Na ja, is gut . . .
— Menſch, Du phantaſierſt ja.
— Roll mir ein paar Sooleier her, und ich
ſteige auf die Erde.
Er aß ein paar Sooleier und kam zu ſich.
— Alſo denke Dir: Ich gehe mit einem Mäd¬
chen hinauf und unterhalte mich mit ihr. Sie
gefiel mir nicht etwa. Nein, ſie gefiel mir gar
nicht. Sie war ſo, ich weiß nicht, ſo fatal dürr
und, ja: Gläſern. Sie hatte entſchieden grüne
Augen und unendlich viel Sommerſproſſen. Aber
um den Mund rum hatte ſie ſo was Verächtliches,
als ob er ſchon oft vor Ekel ausgeſpuckt hätte.
Weißt Du, wer ſo einen Mund gehabt hat? Unſer
alter Freund Börne.
Alſo, ſie ſetzt ſich aufs Bett und ſagt: Na?
— Hm, ſag ich, ſchenken wir uns das!
Sie guckt mich groß an.
[294]Stilpe.
— Weißt Du was, ſage ich, Du kannſt mir
dafür Deine erſte Liebe erzählen.
— Ich? ſagt ſie, ich habe gar keine erſte Liebe
gehabt. Gerade, wies anfing, wars aus!
— Nee, ſage ich, ſo was! Das mußt Du mir
nun grade erzählen.
Sie wollte durchaus nicht, aber ich hatte die
Gabe der Eindringlichkeit, weißt Du, mit ein bischen
Schauſpielerei und ein bischen Gefühl neben dran.
Denn ich war ja immer gefühlvoll neben dran,
hehe. Und ſo erzählt ſie mir denn . . . aber das
war wirklich . . . hol mich der Teufel noch einmal!
. . . ich dachte, ich wäre endlich wieder mal be¬
trunken . . . ja, denke Dir: Sie erzählt mir meine
Geſchichte von damals! Ganz genau! Unterm
Katheder und dann im Garten!
Ich kriegte direkt Angſt. Ich packte ſie an den
Handgelenken und ſah ſie ſo fürchterlich an, daß
ſie aufſchrie. Und da nannte ich ihren Namen,
den richtigen, und dann meinen.
Nordhäuſer! Nordhäuſer!
Er war ganz aufgeregt.
— Wie ſie mich da anſah! Die grünen Augen
wurden tiefblau und ſtrahlig. Und mit einem
Male lag ſie mir am Halſe und heulte, daß ich
[295]Drittes Buch, viertes Kapitel. denke, ſie läuft aus. Und ſtammelt und ſtottert
und klappert mit den Zähnen. Herrgott! In
meinem Leben habe ich ein fremdes Leben nie
wieder ſo gefühlt. Mir wars, als hätte ich ihr
Herz leibhaftig und blutend und ſtoßend in meiner
Hand, und es rönne mir über die Finger.
— Du Windelband! Glotze geſcheidter. Hehe!
Dieſer Referendar iſt ergriffen!
Er lehnte ſich zurück und blies den Cigarren¬
rauch lachend von ſich.
— Komiſch! Furchtbar komiſch! Was? Das
Leben iſt talentvoll. Es macht die ſchwierigſten
Sachen ohne allen Apparat. Schmeißt da zwei
Zerſchmiſſene aufeinander und ſagt: Da habt ihr
euch!
Er ſah Girlingern blinzelnd an:
— Nicht wahr, die Geſchichte iſt ein paar
Nordhäuſer mit Sooleiern wert? Aber mir wird
ſie langweilig. Was kam auch noch? Ich hatte
das Stichwort und goß nun meine Geſchichte von
mir: So, na und dann biſt Du alſo gefälligſt
bald dorthin gekommen, wo Du jetzt biſt, mein
teures Mädchen; bon! Des Herrn Wege ſind un¬
erforſchlich, und: Wer weiß, wozu es gut iſt, ſagt
der Chriſt. Ich aber . . . Ach, ich mag nicht mehr
[296]Stilpe.erzählen! Kurz und gut, wie ſie erfuhr, was mir
bevorſtand, wollte ſie das Geld aufbringen. Viel
Geſuche in allen Kaſten, dann Geſchrei und Ge¬
bettel bei Madame Amalie . . . Satis ſuperque,
es langte nicht.
Die Beiden ſchwiegen eine Weile.
Dann Girlinger: Und, was haſt Du dann
eigentlich getrieben?
— Ich? Getrieben? Welch ein Tropus! Ich
habe mich treiben laſſen. Ach ſo, Du willſt
wiſſen, was ich „geweſen“ bin? Höh! Reichs¬
kanzler nicht!
— Haben denn Deine Eltern . . .?
— Ich habe eine Schmetterlingsſammlung ge¬
erbt. Es waren ein paar reizende Kerle da¬
runter. Das andre hat beinah für die Schulden
gelangt.
— Warum biſt Du nicht unter die Journa¬
liſten . . .
— Du ſiehſt doch, daß ich noch unter die
Journaliſten gegangen bin.
— Aber, Menſch, Du haſt doch Talent!
— Aber das Leben hat noch mehr, wie ich
[297]Drittes Buch, viertes Kapitel. mir ſchon ein Mal zu bemerken erlaubte. Übrigens,
mein Sohn, irrſt Du Dich, wenn Du denkſt, ich
bin unter den Rädern. Ich bin blos zwiſchen dem
Roßmiſt. Du brauchſt mir nur das Reiſegeld
nach Berlin zu leihen, und ich ſtürze Herrn Bleib¬
treu. Oh, es kommt ſchon noch die Zeit, wo ihr
mit einigem Stolze ſagen werdet: Den berühmten
Stilpe kenn ich! Das iſt ein Freund von mir.
Deinen Nordhäuſern von heute wirſt Du es
zu verdanken haben, wenn ich Dich dann nicht
verleugne.
Viertes Buch
Ecce poeta
Reich mir einen Lorbeerkranz, Schickſal,
oder aber
Einen Bund voll Haber.
Erſtes Kapitel.
Ein junger Lyriker und ein noch jüngerer
Dramatiker ſaßen im Café Kaiſerhof in Berlin
und erörterten die Zukunft der deutſchen Litteratur.
Da ging ein Herr an ihrem Tiſch vorüber, und
der Lyriker hielt mitten in der Bemerkung, daß erſt
nach völliger Austilgung der Tagespreſſe wieder
an eine anſtändige Litteratur zu denken ſei, inne,
um dieſen Herrn, der ſehr elegant gekleidet war
und ein etwas blaſiertes Weſen zur Schau trug,
mit tiefer Verbeugung zu begrüßen. Der Herr, an
dem eine Fülle ſchwarzer, weit in die Stirn ge¬
kämmter Haare und ein Klemmer mit ſehr breitem
ſchwarzem Bande beſonders auffiel, ſagte mit einem
ſchiefen Lächeln: Nächſte Woche kommen Sie dran!
Die freien Rhythmen habe ich ſchon klein gehackt.
Man thut, was man kann.
[302]Stilpe.
Der Lyriker machte noch eine Verbeugung und
wollte etwas ſagen, aber da war der Herr mit
dem ſchwarzen Klemmerbande ſchon weiter ge¬
gangen. An einem Ecktiſch, wo der Kellner bereits
den Abſinth filterte, ließ er ſich nieder.
— Wer war denn das? fragte eifrig der
Dramatiker.
— Kennſt Du denn den nicht! antwortete er¬
ſtaunt der Lyriker: Stilpe!
— Was? Den Kerl grüßt Du? Dem ſchickſt
Du Deine Bücher? Das iſt ja der infamſte Hund,
der je kritiſch gebellt hat!
— Schrei doch nicht ſo! Mit dem iſt Freund¬
ſchaft beſſer als Feindſchaft. Übrigens hat er wirk¬
lich Geiſt.
— Ach was: Geiſt! Ein Molch iſt er! Eine
niederträchtige Beſtie! Ein impotenter Neidbold,
der ſich einbildet, mit Schnoddrigkeit alles totmachen
zu können. Die Reitpeitſche gehört ihm! Eine
Witzwanze iſt er!
— Was hat er Dir denn gethan?
— Mir wird er erſt noch was thun, aber ich
haſſe ihn ſchon vorher. Dieſes Gezücht muß aus¬
gerottet werden, Du haſt es ja vorhin ſelber
geſagt!
[303]Viertes Buch, erſtes Kapitel.
— Bitte recht ſehr! Ich war noch nicht fertig!
Leute wie Stilpe nehme ich aus. Er iſt freilich
ein Pamphletiſt, aber, zum Teufel, er hat einen
alten Hut voll Talent.
— Ich pfeife auf dieſe Art von Talent, hinter
dem kein Charakter ſteckt. Galle, Neid und Größen¬
wahn, nichts weiter! Den alten Hut haben hier
Viele auf.
— Du irrſt Dich, es ſteckt mehr dahinter.
Stilpe iſt eine der intereſſanteſten Erſcheinungen in
der Berliner Litteratur. Ein giftiges Aas, meinet¬
wegen! Aber: Unerſchrocken! Kennſt Du denn
ſeine Karrière?
— Ach was! Er wird ſich durchgebohrt haben
wie alle dieſe Holzpapierwürmer.
— Urteile doch nicht ſo ins Blaue! Ich ſage
Dir offen: Ich habe Reſpekt vor dem Mann!
— Oder Angſt.
— Unſinn! Reſpekt ſage ich.
— Auch Hochachtung?
— Ach! Hochachtung. Vor einem Kritiker hat
man nie Hochachtung. Aber er imponiert mir.
Die Art wie er ſich durchgeſetzt hat, gefällt mir,
weil ſie beweiſt, daß ihm der ganze Journalismus
nur eine Gelegenheit zu Stilübungen iſt. Vor drei
[304]Stilpe. bis vier Jahren iſt er hier in einem Coupée
vierter Klaſſe angekommen, ganz abgeriſſen, ohne
die geringſten Verbindungen. Als Reporter hat er
angefangen, d. h. eigentlich blos als Hilfsreporter,
und bei was für Blättern! Es heißt übrigens, daß
er damals in verſchollenen modernen Revüen Ge¬
dichte veröffentlicht hat. Jedenfalls hat er, während
er hier beim literarariſchen Troß mitſchuftete, nach
auswärts in Litteraturblättern die unerhörteſten
Brandartikel geſchrieben, als wäre er der heimliche
Kaiſer der deutſchen Litteratur. Ich ſage Dir: Dreck
und Feuer, aber angemacht mit Flammpunſch!
Durch eine Serie von Ohrfeigen, die er von einem
Schauſpieler kriegte, wurde er berühmt.
— In der That: Impoſant!
— Iſt es auch! Denn dieſe Ohrfeigenſerie
war nichts weiter als ein abgekarteter Coup, wie
ſich ſpäter herausſtellte. Er und der Schauſpieler
prügelten ſich programmmäßig nach gemeinſam
aufgeſtelltem Regieplan und zwar mit nachdrück¬
lichſter Naturtreue. Wie der Streich geglückt und
ihr Name in allen Zeitungen war, fuhren ſie zu¬
ſammen in einer offenen Droſchke durch die
Friedrichſtraße und Stilpe ließ eine höchſt amüſante
Ehrenerklärung, die von Witz ſprühte, durch die
[305]Viertes Buch, erſtes Kapitel.Blätter laufen, und die Aufmerkſamkeit der Redak¬
tionen galt nun nicht mehr ſeinen Ohrfeigen, ſondern
ſeinem offenbar großen journaliſtiſchen Talent.
Er kam an einem konſervativ-antiſemitiſchen Blatte
an und ſchrieb nun das boshafteſte Zeug, was ſich
nur denken läßt, gegen die „koſchere Litteratur“.
Er hat geradezu den antiſemitiſchen Knüppelſtil
erfunden. Und auf einmal, wie mit einem Krach,
ſaß er auf der anderen Seite und draſch auf die
Antiſemiten los, daß es nur ſo knackte.
— Na, das iſt doch der Cynismus der Cha¬
rakterloſigkeit in frechſter Form!
— Aber es hat Stil, mein Junge, und,
übrigens: Denkſt Du heute noch über Arminius
ſo, wie in Sexta?
— Erlaube mal, damit läßt ſich jede Käuflich¬
keit entſchuldigen.
— Ich behaupte ja nicht, daß er ein mora¬
liſches Exempel iſt. Er iſt ein Landsknecht der
Feder, jedem zu Dienſten und in jedem Dienſte
ein Draufgänger. Wie ein General zur Zeit der
italieniſchen Renaiſſance, der ſeinem Feldherrnſtab
bald das, bald jenes Wappen als Knauf aufſetzte,
ſo ſchwang er bald dieſe, bald jene Fahne. Aus
dem Raddau-Antiſemiten und fortſchrittlichen Los¬
20[306]Stilpe. gänger wurde erſt noch eine Art litterariſcher
Volkstribun der Sozialdemokratie, und es ſchien,
als würde er dabei ſtehen bleiben. Er ſchrieb da¬
mals mit einer merkwürdigen nüchternen Härte
und hieb beſonders auf den „Bourgeois-Anarchis¬
mus“ der jungen Litteratur los. Aber plötzlich ein
wilder Querſprung, und er enthüllte die Kunſt¬
feindlichkeit der Sozialdemokratie mit einer ſolchen
Unerbittlichkeit und bekannte ſo flammend ſeinen
Irrtum, daß man wirklich glauben mußte, er ſei
vom Geiſte aller freien Künſte apolliniſch beſeſſen.
Seitdem datiert ſein Ruf als litterariſcher Kritiker.
Er verließ die Politik und wurde der Schrecken
der Belletriſten. Er fing an, fein zu werden, Du
verſtehſt mich: Fein im Berliner Sinne, alſo
witzig und ſcharf. Natürlich muß er infolgedeſſen
mehr verreißen, als loben. Kritik iſt Scheidekunſt
ſagt er; alſo: Scheidewaſſer her! Aber gerade
deshalb liebt ihn ſein Leſerkreis.
— Und das findeſt Du alſo impoſant!
— Nein, das gerade nicht, aber dieſe ganze
Schamloſigkeit, mit ſoviel Witz und frechem Mute
vertreten, zwingt mir ſehr viel mehr Reſpekt ab,
als die langweilige Leiſetreterei der furchtbar ernſt¬
haften Leute, die konſequent und reputierlich ſind,
[307]Viertes Buch, erſtes Kapitel. weil ihre Beſchränktheit es nicht anders geſtattet.
Sie ſchulmeiſtern die Literatur, er macht ſich über ſie
luſtig. Nenne ihn einen Lump, aber iſt er es in Gro߬
folio, und wenn Du etwa ſagen willſt, daß er Schaden
anrichtet, ſo behaupte ich, daß er das Intereſſe
für Litteratur hundertmal ſtärker anregt, als die
anſtändigſten kritiſchen Regiſtratoren. Übrigens
intereſſiert er mich im Grunde als Menſch. Ich
bin zwar blos Lyriker, aber ich wittere hier einen
tragiſchen Fall.
— Köſtlich! Wenn ein Lyriker es mit der
Phychologie hält! Jaja! Ich ſage Dir, dieſer Menſch
fühlt ſich in ſeinem Salonrocke unendlich wohl
und verachtet die geſammte ſchöpferiſche Litteratur,
wenn er nur immer genügend hohes Zeilenhonorar
kriegt, um gut eſſen und trinken zu können. Die
Abſinth-Flaſche hat er ſchon bald leer.
— Ja, man ſagt, daß er ſäuft, und das ſtützt
wieder meine Meinung von der Tragik, die hinter
dieſem Menſchen ſteckt.
— Du biſt wirklich ein Lyriker.
Dann ſprachen ſie wieder von der Zukunft der
deutſchen Litteratur.
Der pſychologiſche Lyriker hatte recht: Stilpe
fühlte ſich in ſeiner bevorzugten Lage ſehr un¬
glücklich.
Er lebte allerdings ſehr gut, ſeitdem er „in der
Feuilletonmanège die Pauſen durch ſchwierige
Scherze ausfüllte“, wie er ſein kritiſches Amt um¬
ſchrieb. Er aß bei Kempinsky, ließ bei einem
engliſchen Schneider arbeiten, trank nur ausgeſuchte
Spirituoſen und hatte, wenn auch kein ſtändiges,
ſo doch eine Art von Wanderharem, „wohlaſſortiert“.
Daß darunter keine eigentliche Geliebte war,
empfand er nicht als Mangel. Dieſes Bedürfnis
hatte er nicht, wenn ihn auch manchmal ſo etwas
wie Sehnſucht darnach anwandelte.
— Vielleicht wäre es gut, wenn ich mich ein¬
mal richtig verliebte, ſagte er ſich; das wäre doch
wenigſtens ein Surrogat für das Andere. Aber
es gelang ihm nicht.
Was aber war „das Andere“?
Ein paar Stellen ſeines „Heftes der Aufrich¬
tigkeiten“ geben darüber Aufſchluß.
Dieſes Heft legte er zu dem Zeitpunkte an, als
ſeine Stellung anfing, geſichert zu werden; und
das war dieſelbe Zeit, um die er begann, ſich un¬
zufrieden zu fühlen.
[309]Viertes Buch, erſtes Kapitel.
Auf der erſten Seite ſtand dies:
„Jede Pflichtgewohnheit iſt gemein, alſo auch
das Lügen, als welche Kunſt ich jetzt gewerbsmäßig
und, wie ich mir ſagen darf, nicht ohne Be¬
gabung, aber ich will ja hier ehrlich ſein, alſo:
Mit ungewöhnlichem Talente betreibe. Deshalb
will ich wenigſtens zuweilen dieſe Gewohnheit
brechen und auf dieſen Blättern die Wahrheit
ſagen.
Daß ich auch dabei lügen werde, verſteht ſich am
Rande. Aber dieſe Lügen werden eine eigene und
amüſante Nüance haben.
Ich ſtelle es mir ſehr anmutig differenziert
vor: Lügen, die Wahrheiten ſein wollen, aber nicht
daran glauben, und Wahrheiten, die ſich ſelber
keineswegs trauen, aber ihrer Lügenhaftigkeit immer¬
hin nicht ganz ſicher ſind und ſich manchmal im
Stillen zweifelnd ſagen: Wer weiß, am Ende ſind
wir wirklich wahr?
Eine liebliche Sorte Schlinggewächs alſo, —
mein Gehirn mag eine ähnliche Struktur haben.“
„Es ſcheint wirklich: Der Menſch lebt nicht von
Brot allein und auch nicht von dem, was beſſer
ſchmeckt; er braucht ein Ziel, was er lieb hat,
um „glücklich“ zu ſein. Aber er muß dran
glauben.
Beiſpiel: Ich war glücklich, als ich das Ziel
lieb hatte, ein — Dichter zu werden, obwohl ich
damals lauter Schulden und keine Ausſicht hatte,
ſie zu zahlen.
Oder: Ich war glücklich, als ich das Ziel lieb
hatte, ganze Stiefeln zu bekommen. Und ich hatte
doch nichts zu eſſen.
Nun aber: Bitte, wo iſt das Ziel, das ich lieb
hätte? Ganze Stiefeln hab ich, und ein Dichter
mag ich einſtweilen nicht werden . . . Alles wüſte
und leer . . .
Das Ziel, einen Rauſch zu bekommen . . .! . . .?
Ach, wie erbärmlich ſind jetzt meine Räuſche!
Ich trinke, weils ſchmeckt, und das iſt niedrig neben
dem eigentlichen Ziel des Trinkens, dem großen
Rauſch.
Vielleicht Morphium? Aber ich fürchte den
Selbſtmord . . . Meine Krankheit heißt überhaupt
Feigheit . . . Ich habe mich zu ſehr an Kempinsky
gewöhnt . . .
[311]Viertes Buch, erſtes Kapitel.
Halt! Ich werde nach Dreſſel ſtreben! Jede
Woche zwei Feuilletons mehr, und es geht! . . .
Ach, wie kümmerlich und einfältig! Bin ich
denn ſchon ganz verblödet? Jeder Tag Dreſſel,
das wäre ja eine Rohheit und unſagbar ſtümper¬
haft. Ich würde mir ja ſelbſt die Möglichkeit zu
Magenidealen rauben . . .
Alſo: Ideale fehlen mir? Schau, ſchau, wie
tugendhaft ich bin . . .
Unſinn: Ideale! Schon das Wort iſt die ver¬
körperte Maulſperre: I. . . e. . . a! Pfeifen wir lieber
darauf! . . .
Aber das ſchweiß- und luſtlockende Ziel . . .
Sollte es die Liebe ſein, die Li—a—bee? Oh
nee!
Indeſſen. . . manchmal . . .? . . .hm . . .! . . .
Kürzlich liebte ich ſehr ſtark in der Gegend des
Weddings. Ich zog mich ſchlecht an (wie ſchade,
daß ich meine letzte Leipziger Garderobe nicht mehr
habe!) und entzündete den Scharlachfeuerbrand bei
einem recht ſüßen Ding von Mantelnäherin.
Oh ja, es hatte was. Die Armeleutliebe hat
ihre Reize wie die Armeleutmalerei, und ich kam
mir vor wie der dicke Commerzienrat Katz, der
einen Uhde in ſeinem Speiſezimmer hängen hat.
[312]Stilpe. Er vertritt ihm die Stelle des Tiſchgebets. Aber
ich bin wohl nicht ſo chriſtlich veranlagt wie der
Commerzienrat. Ich zog mich wieder in die Nähe
des Wintergartens zurück . . .
Nein, die Liebe iſt es nicht. . . Zur Liebe bin ich
jetzt entſchieden zu äſthetiſch geworden . . . Oder zu
niederträchtig? Nur keine Gêne, werter Freund!
Den Sport will ich mir wenigſtens bewahren,
daß ich mich ſelber beim rechten Namen nenne.
Und jetzt will ich zu Emmy gehn, die mich
„Caviarbrödchen“ nennt.“
„Ich nähre mich jetzt hauptſächlich von Lyrikern,
und was ich dann von mir gebe, iſt das Entzücken
meines reizenden Publikums. Nichts erfreut es ſo
von Grund aus, als wenn man ihm einen ge¬
rupften Dichter vorſetzt.
Es beſteht alſo in dieſer deutſchen Welt von
heute immer noch eine Art Neid gegen dieſe Pro¬
feſſion?
Und, wenn ich mir ſelber auf die Plombe
fühle: Beneide ich das Geflügel nicht auch im Grunde
[313]Viertes Buch, erſtes Kapitel.ein bischen? Zumal die, die ſich ſo verdorben
ſtellen und ſo ſelig in der Einbildung ſind, ge¬
waltige und verruchte Sünder zu ſein, — ſind ſie
nicht wirklich beneidenswert? Kerls, die ſich noch
geißeln können, muß man die nicht beneiden?
Und überhaupt dieſes Behagen, ſich in Verſen
auszuſchwemmen. Es iſt ganz ſicher eine ejakula¬
tive Wolluſt.
Hol ſie der Teufel! Sie genieren mich. Sie
erinnern mich an Zeiten, da ich gerade ſo dumm
und pueril war wie ſie, und ich finde, es iſt
ungerecht, daß ich leiden muß, weil ich klüger
wurde . . .
Alſo: Ich leide? Sehr ſchön geſagt. Ein
dekoratives Wörtchen. Schon die Stimmgabel zum
lyriſchen Geſang.
Ich werde mir auch ſo eine dicke ſchwarze Hals¬
binde kaufen, die Einem ſo was Biedermeieriſch¬
halbabgewürgtes giebt und zur lyriſchen Livrée von
heute gehört.“
„Im Grunde genommen, werter Herr, ſind Sie
den Idealen Ihrer Jugend ein wenig untreu ge¬
worden. Fanden Sie nicht dermaleinſten, daß es
die Gemeinheit der Gemeinheiten ſei, ein Dichter
ſein zu können und um der beſſeren Speiſe- und
Weinkarte willen ein Journaliſt zu werden?
Ganz richtig. Nur erlaubt ſich irgend wer die
Frage: Kann ich denn ein Dichter ſein?
Lächerlich! Höchſt lächerlich! Sind Sie ein
Lump, daß Sie ſich verſtellen? Wiſſen Sie nicht
ganz genau, daß Sie ein Dichter wären, wenn Sie
nicht, leider, es für bequemer hielten, ein Schubiak
zu ſein?
Hm; vielleicht nehmen wir blos ein Schlamm¬
bad! . . . So zur Austreibung böſer Säfte, wiſſen
Sie . . .
Aber wer hat es Ihnen denn verſchrieben?
Meine Natur, meine ſchlechte, niederträchtige, ge¬
meine Natur. Durch Schlamm zum Roſenöl! ſagt ſie.
Reizend, in was für Tropen Ihre Natur lügt.
Aber: Sie glauben ihr doch nicht?
Ih wo! Ich kenne ſie ja.“
„Es fängt an, geſchmacklos zu werden, wie un¬
wohl ich mich fühle.
Mein Ruhm ſtinkt zum Himmel, daß Pietro
Arretino vor Neid ſemmelblond wird, meine Hono¬
rare könnten einem Cirkusklown den Schlaf rauben,
mein Stil, dieſes Gemächte aus Sprachnotzucht und
Drehkrankheit, wird mehr kopiert, als die ſix¬
tiniſche Madonna, — und ich bin der Gelbſucht
nahe.
Was, zum Teufel, ſitzt mir in der Leber!?
Oh, ich fühls! Es iſt ein Ekel an dieſer
Comödie, die ich aus mir gemacht habe mit
dem Vorſatz, ſie vom Repertoire zu ſtreichen,
ſobald ich genug an ihr hätte, und die ich
nun Tag für Tag ſeit Jahren ſpielen muß,
weil ich ſonſt hinter die Couliſſen geſchmiſſen
würde.
Ein ſchundgemeines Kaſſenſtück, aber wehe,
wenn ich ein anderes gäbe!
Es gilt nur die Frage: Verlohnt die Ein¬
nahme wirklich den Ekel? Wäre es nicht beſſer,
ich träte endlich einmal vor und ſpiee dem werten
Publikum ins Geſicht?
Hollah! Amende gäbe das erſt recht einen
[316]Stilpe. Erfolg, und ich wäre obendrein die Ekelplage
los?
Wie, wenn ich Va—banque ſpielte?“
„Ich ſehne mich nach Unordnung, nach Verrückt¬
heit, nach dem Gelächter derer, die nichts zu ver¬
lieren haben.
Ah, Du altes, treues Wort: Bohème! Ein ge¬
langweilter Lump zu ſein, ein Lump in Wohlſein
und Ängſten vor dem bischen Daſeinsgefahr, —
wie ſchaal und ſchäbig! Aber ein lachender Lump,
ein königlich ſelbſtherrlicher Lump mit leerem
Beutel und den Taſchen voll Hoffnung, ein dich¬
tender Lump, ein Lump voll Laune und närriſchen
Plänen, ein freier Lump mit der Grazie des ſelbſt¬
bewegten Lebens, — wie köſtlich und groß!
Bohème! Bohème! Der Gedanke läßt mich
nicht mehr los: Heraus aus dieſem behäbigen
Lumpentum und hinein in freche Abenteuer!
Ich muß mich wieder berauſchen können und
nicht blos trinken.
Ich muß wieder einen Kreis um mich haben,
in dem man betrunken wird an ſich ſelber.
[317]Viertes Buch, erſtes Kapitel.
Dieſe ſchweren Weine machen faul, dieſe Cham¬
pagner lügen blos von Räuſchen, dieſe koſtbaren
Liköre ſind wie Seidenpolſter, in denen man ver¬
ſinkt, ohne daß man glaubt, Houri-Arme ſchlängen
ſich um Nacken und Bruſt.
Was iſt das für ein Leben! Kein Ruck und
Zuck, kein Taumeln und Drehen. Geradehin, auf
Gummirädern, hinter verſchloſſenen Kaleſchenfenſtern,
allein.
Dieſe „Collegen“! Wie ernſt! Wie bedeutend!
„Beamte der öffentlichen Meinung. Richter im
Reiche des Schönen. Staatsanwälte des Geiſtes.
Pioniere des Fortſchritts. Enkel Leſſings. Ver¬
antwortliche Redakteure der Moral.“ Oh, ihr . . .!
Na! Ich kenne euch doch? Ihr habt doch aller¬
hand Reſpekt vor mir? Ich unterſtehe doch
annoch makellos eurem Ehrengerichte? Wißt ihr
denn nicht, daß ich täglich Unzucht mit allen Laſtern
des Witzes treibe? Warum werft ihr mich denn
nicht hinaus?
Solltet ihr . . . auch . . .? Blos nicht mit
ſoviel Frechheit . . . ? . . .
Wie, wenn ich einmal meine Comödie, die ja
ein Stück der euren iſt, ohne Schminke auf eure
Papierbühne brächte? Wenn ich die litterariſchen
[318]Stilpe.Hungerleider, die von Gnaden des Elends noch an¬
ſtändig ſind, aufriefe gegen die gewürdeten litterariſchen
Beutelſchneider und Gaudiebe? Wenn ich zeigte, was
für Wäſche unter den ſchönen Röcken der Würden¬
träger der öffentlichen Meinung ſteckt? . . .
Halt! Das iſt Stil für die Öffentlichkeit; ich
kann die Paſſage in meiner Brochüre verwenden,
die ich wie einen Klotz in den Tintenſumpf werfen
will.
Ah! Da haben wir ja ſchon Plan und Titel:
Eine Brochüre: Der Tintenſumpf. Schon bin ich
inſpiriert!
Aber hier wollen wir doch lieber nach Mög¬
lichkeit ehrlich ſein, — was habe ich alſo vor!?
Wenn ich es mir recht überlege: Ich will mir, da
ich von dieſer Bühne abzutreten geſonnen bin (bin
ichs wirklich?) einen guten und womöglich prak¬
tiſchen Abgang verſchaffen. Ich will ſenſationell
abtreten, um — drüben ein anderes gutes Engage¬
ment zu bekommen?
Nein, das nicht.
Aber es wäre vielleicht möglich, daß mir dieſer
Abgang die Möglichkeit gäbe, eine eigene Bühne,
eine Proteſtbühne zu gründen .? . . Hm. Die
Perſpektive iſt gut . . . Geht die Brochüre, ſo findet
[319]Viertes Buch, erſtes Kapitel. ſich wohl ein ſpekulativer Herr, der mir meine
eigene Zeitung gründet: Die Zeitung der Zurück¬
gewieſenen, das Blatt der Bohèmes auf jedem
Gebiete . . .
Und: Kein Zweifel, daß die Brochüre gehen
wird! Welcher Skandal ginge nicht? Aber ich
muß rückſichtslos ſein, wie ein Wilder und bos¬
haft wie ein Affe.
Sagen wir ruhig: Es muß ein braves Pam¬
phlet ſein.
Machen wir! Iſt nicht der Tintenſumpf un¬
leugbar? Bin ich mir nicht das ſchönſte Modell?
Hat mich dieſer Sumpf nicht ruiniert? . . .
Der Teufel, ich komme immer in den Stil für
die Öffentlichkeit. Ich bin wirklich allerliebſt ein¬
geſeucht; es ſcheint, ich kann mir ſchon ſelber nicht
mehr die Wahrheit ſagen. Aber für dieſen Zweck
iſt das eigentlich ausgezeichnet! Ich werde teilweiſe
unbewußt lügen, und eine unbewußte Lüge knattert
viel ſtärker als zehn bewußte Wahrheiten.
Eben rieb ich mir die Hände. Es ſcheint, die
Böſewichter auf dem Theater ſind echter, als wir
glauben.
Böſewicht! Ich möchte jetzt mal in den
Spiegel ſehn.
[320]Stilpe.
Wie ſonderbar aufgeregt ich bin. Rein wie
betrunken. Oh, ich ahne Räuſche! Wenn ich
jetzt ſchon ſo außer mir gerate!
Und nun hab ich endlich das Wort für mich:
Ich will wieder außer mir geraten können!
Komme, was will: Ich muß aus mir heraus,
heraus aus dieſem meinen Sumpf, und ich will
mit gewaltigem Spektakel ans Land ſpringen!
Platſchen ſoll es.“
Zweites Kapitel.
Gleich nach dem Erſcheinen des Tintenſumpfs
hatte Stilpe ſein Quartier aus dem Karlsbad,
das ihm längſt zu ſtill geweſen war, in die Nähe
der Weidendammer Brücke verlegt. Da hauſte er
nun vier Treppen hoch nach ſeinem Geſchmack wie
ein Student, nur, daß es keine kümmerliche Bude
nach dem Hof hinaus war, ſondern groß, hell,
mit dem Blick nach der Spree und weithin über
einen guten Teil Berlin. Und laut war ſie, um¬
brodelt vom Lärm der Friedrichſtraße, den man
wie ein rollendes Rauſchen hörte. Dazu das
Rattern der Züge, die in den Bahnhof Friedrich¬
ſtraße einfuhren, und von den Arbeiten am Neu¬
bau der Weidendammer Brücke her die dröhnenden
Schläge des Rammwolfs, der die Notpfeiler in
das Flußbett trieb.
21[322]Stilpe.
Da aber gefiel es Stilpen gut. Hier fühlte
er ſich zu Hauſe. Das war nach ſeinem Ge¬
ſchmack: Ein ſchmuckloſes Zimmer mit abgenutzten
Möbeln, die er nicht mit beſonderer Schonung zu
behandeln brauchte; zu Nachbarn Garçons wie er,
Studenten, Künſtler und ein „beſſeres Mädchen“;
die Hausordnung dementſprechend liberal, die
Wirtin desgleichen.
— Ein guter Dunſtkreis, hatte er geſagt, wie er
die Wohnung bezog; hier laßt uns die Götter
locken mit Pfeifen und klingenden Gläſern.
Er hatte gleich ſeine alte Frechheit wieder, die
er ſo lange unter einer anderen hatte verbergen
müſſen. Es fehlten ihm nur noch die Genoſſen.
Aber ſein Aufruf am Schluß des Tintenſumpfs:
An das bischen Bohème in Berlin! hatte bald
gezogen. Es kamen ſogar ſehr viel mehr, als er
gewünſcht hatte, und vor Allem kamen ſehr viele
falſche Bohèmeleute, unglaubliches Volk voll inner¬
licher Philiſtroſität, Theorieenaushecker, Weltver¬
beſſerer, Pſeudoanarchiſten, auch einige lebendige
Beiſpiele aus Krafft-Ebings Pſychopathia ſexu¬
alis: Alles, was irgendwie in der Welt nicht
zurechtkam, glaubte zur Bohème zu gehören und
im Verfaſſer des Tintenſumpfs den Mann ge¬
[323]Viertes Buch, zweites Kapitel.funden zu haben, der ihnen in einer neuen Zeit¬
ſchrift weißes Papier bogenweiſe zur Verfügung
ſtellen würde.
Dagegen blieben anfangs die aus, an die allein
er gedacht hatte: Die Dichter und Künſtler. Nur
einige Jünglinge, denen der Dilettantismus mit
jenem bekannten Strohfeuer aus den Augen leuch¬
tete, waren als Vertreter der Kunſt bei dieſer
erſten Flutwelle.
Erſt nach ein paar Wochen, wie Stilpe von
der geſamten Preſſe mit Einmütigkeit und ganz
kurz als Schandfleck des Journalismus abgethan
worden war, fanden ſich die Rechten ein. Stilpe
merkte es ſogleich daran, daß ſie ihn unverzüglich
anpumpten, und dann beim „Orakel der Buttelje“.
Sie tranken ungefähr mit derſelben Technik wie er.
Nach etwa vier Wochen hatte er wieder ein
„Cenacle“ beiſammen, und diesmal war es ein
echtes.
Eine Maskerade mit franzöſiſchem Namen war
hier nicht mehr am Platze. Seine neuen Freunde
waren ſelber Originale, kantig geblieben in der
großen Rührbüchſe eines derb zugreifenden Lebens,
und gaben den Freunden Mürgers nichts nach.
Es waren köſtliche Kumpane für ihn und dabei
21 *[324]Stilpe. entſchiedene Talente für feinſte Kunſt und freieſtes
Leben. Nur ein paar von ihnen waren ſchon mit
Werken an die Offentlichkeit getreten, und es war
nun eine Quelle gemeinſamer herzlicher Freude,
wenn ſie und Stilpe die niederträchtigen Kritiken
zitierten, mit denen „der gefürchtete Kritiker
W. St.“ ſie einſt an den Pranger geſtellt hatte.
Die Mehrzahl war ſo gut wie ungedruckt, denn es
gab kein Blatt, das excentriſch genug für ſie ge¬
weſen wäre.
Nun ſollte Stilpe natürlich dieſes Blatt gründen.
Bei allen Zuſammenkünften, ſoweit ſie nicht
blos mit Trinken oder Rezitationen der „neueſten
Sachen von Rang“ ausgefüllt wurden, war dieſe
Gründung das Hauptthema. Aber nun waren
ſchon zwei Monate ſeit dem Erſcheinen des Tinten¬
ſumpfes verſtrichen, das Intereſſe für dieſe Brochüre
ebbte nach der Provinz hin ab, und man war noch
zu keinem Entſchluſſe gekommen.
Da erlies Stilpe an den „inneren Kreis der
Eigentlichen“ eine Einladung, die unter dem Hin¬
weis darauf, daß „mit den ſchwindenden Monden
auch die Moneten verrollten“, zu einer letzten und
endgiltigen Sitzung „in punkto Blatt“ zuſammen¬
rief. Poſtſkriptum: „Um nüchternes Erſcheinen
[325]Viertes Buch, zweites Kapitel. wird gebeten . . . Der Peripathetiker ſoll die
unmündige Tochter des Regenſchirmhändlers zu
Hauſe laſſen.“
Stilpe erwartete die Geſellſchaft ganz mit der
Heiterkeit, die ihn immer leiſe hob, wenn ihm Ge¬
legenheit zu Trinken und Reden in Ausſicht
ſtand.
Das hatte ihm in ſeiner „fundierten Periode“
vornehmlich gefehlt: Geſprächweiſe trinken zu können.
Im Rauſche die Welt mit Worten aus den Angeln
zu heben, das war ihm immer Bedürfnis geweſen,
und das war ihm nicht erfüllt worden, als er das
Daſein des gefürchteten Kritikers führte. Denn
damals fehlten die rechten Geburtshelfer für ſeine
Worte. Dieſe Art, ſich dem Rauſche des improviſierten
Wortes hinzugeben, war ſein Teil Produktivität,
und er hatte ſich im Grunde deswegen ſo un¬
glücklich damals gefühlt, weil er zur Unfruchtbar¬
keit verurteilt war, weil ihm die Wolluſt, ſich aus¬
zugeben, nicht wurde.
Hätte er die Fähigkeit und Freiheit beſeſſen, ſo
[326]Stilpe. zu ſchreiben, wie er ſprach, hätte er nicht im
Grunde wider ſein Weſen und wider ſeinen Stil
ſchreiben müſſen, ſo wäre die Gewaltaktion des
Tintenſumpfes kaum in dieſer brückenabbrecheriſchen
Art vor ſich gegangen.
Er ſelber ahnte dies nur dunkel, in den ſeltenen
Stimmungen, wo er ſich einmal vor die Seele
führte, was er eigentlich gethan hatte mit ſeinem
Schritt, den niemand begriff, und hinter dem man
in den betroffenen Kreiſen allerlei weitgehende Ab¬
ſichten vermutete, weil man es ſich nicht vorſtellen
konnte, daß ein ſo „geriſſener Kunde“ wie Stilpe,
der bisher ein Lager immer nur verlaſſen hatte,
weil in einem anderen weichere Polſter winkten, ſich
ohne beſtimmte Ausſichten eine ausgezeichnete Poſi¬
tion verſcherzt haben ſollte.
Gerade jetzt, wie er die neuen Freunde erwartete,
bedachte er einmal ſeine Lage.
Die Hände unterm Kopf zuſammengeſchlagen,
die kurze engliſche Pfeife mit Old Judge im
Munde, lag er auf dem breiten Lederdivan und
betrachtete ein großes, rot, grün und ſchwarz ge¬
haltenes Plakat, das an der Wand gegenüber be¬
feſtigt war. Die Worte darauf, in rieſigen ziegel¬
roten Buchſtaben, lauteten:
!! Senſationell !!
Der Tintenſumpf
Enthüllungen
und
Selbſtbekenntniſſe
von
Willibald Stilpe
Dazu ſah man in ſtiliſierten ſchwarzen Wellen
einen aufgeregten Tümpel, aus dem höchſt ent¬
ſetzte grüne Froſchgeſichter und die Schwimmfüße
nach unten tauchender Fröſche herausragten, wäh¬
rend ein herkuliſch gebauter Froſch, von dem das
ſchwarze Sumpfwaſſer abfloß, große Ziegelſteine
mit Aufſchriften, wie: Heuchelei, Proſtitution, Be¬
ſtechlichkeit, Plagiat, Feigheit in den Tümpel warf.
Eine große, rote, aufgehende Sonne fehlte nicht.
Stilpe lächelte. Der herkuliſche Froſch war
alſo er, und die andern ſaßen in der Tinte.
Gut ſoweit! Aber was nun?
Wenn die Zeitſchrift den Erfolg hätte, wie die
Brochüre, ſo wäre die Sache glatt. Aber: Wenn
nicht?
[328]Stilpe.
Er war ja ausgeſperrt, und es war kaum
Ausſicht vorhanden, daß man ihn in Gnaden
wieder aufnehmen würde. Denn er hatte ſie alle
beſchimpft, von rechts nach links, ausnahmslos:
„Aber es giebt doch auch anſtändige Elemente
in der Preſſe! rufen Sie, mein werter Mitbürger.
Ei ja wohl. Man hört es ſagen. Aber das Ele¬
ment ſelber iſt unanſtändig.“
Stilpe überlegte: Da iſt eine Redefigur mit
mir durchgegangen, ſcheint mir. Hm. Das war
wohl ein taktiſcher Fehler . . . Aber es klang! . . .
Ach was! Wenn nur die Figur gut war.
Das liegt ſo in der Technik des Pamphlets. Man
muß Stil haben . . .
Das Pamphlet liegt mir überhaupt. Jedes
Jahr blos eins, und ich kann auf alle Redaktionen
pfeifen . . .
Äh, was für Ideen! Das wäre eine neue
Schweinerei . . . Bin ich denn ganz verkommen? . . .
Warum denk ich immer wieder an ſo was! . . .
Warum denk ich nicht wie meine vier Eigentlichen?
Warum hab ich nicht blos Verſe, Phantaſien,
Burlesken, Träume im Kopfe? . . .
Es iſt ſchauerlich, wie zerfahren ich bin. Da
ſteckt nun was in mir; ich hoffe doch, —
[329]Viertes Buch, zweites Kapitel. oder . . .? Nein, es ſteckt ſchon was irgendwo,
aber immer wieder hundsföttiſche Anwandlungen.
Zwei Seelen, ach? Aber die andern haben ja
zwei Dutzend! Nur fahren ſie nicht ſo ausein¬
ander . . .
Ein Ziel! Ein Ziel! Herrgott nochmal, end¬
lich ein Ziel! . . .
Alſo die Zeitſchrift! Ja, ja, ja! Iſt das
nicht eine That? He? Die neue Litteratur machen?
Die freie Kunſt zum erſten Male rückſichtslos pro¬
klamieren! Zum erſten Male ſagen: Wir ſind
die Herren, kuſcht euch, Geſindel! . . . ? . . .
Äh, im Grunde iſt mir das wohl auch nicht
grade „Herzblut“ . . . Dieſe ganze Schreiberei
überhaupt: Geplärr . . .
Kann man zeitlebens ſeine Freude daran haben,
Leſefraß zu kneten? . . . Iſt denn Schreiben
Leben? Handlangerei für den beſſeren Mob!
Kellnergewerbe . . .
Er lächelte nicht mehr. Eine ſcharfe, ſteile
Falte teilte ſeine Stirne. Seine Heiterkeit war
verſchwunden.
So ging es ihm immer, wenn er allein über
ſich nachdachte. Deshalb brauchte er Leute um
ſich, die das wegſchwemmten.
[330]Stilpe.
— Kommt denn die Bande nicht?
Die Dämmerung kroch ins Zimmer, ſie, die
der „Bärenführer“ den „Teppich der behaglichen
Lyriker“ nannte. Dazu dröhnten von unten her
die Dampframmen.
— Der Bärenführer iſt der glücklichſte aller
Menſchen. Zwar hat er kein Portemonnaie, aber
er hat Weisheit. Zwar liebt er die Weiber nicht,
aber er liebt ſeinen lieben Gott, der ihm täglich
von 10—12 Uhr zwanzig Quartſeiten Phantaſien
ſchenkt. Hat er die niedergelegt, und hat ihm ſein
Kochbär ein tüchtiges Mittageſſen mit Grobheiten
gewürzt, ſo wandert er los wie ein tanzender
Derwiſch, und die Welt iſt ihm eine Crêmeſtange
mit Cognacfüllung. Er macht ſich ſelbſt zum
Narren und lacht doch Alle aus, denn ſeine Narr¬
heit iſt ihm ſein Spiel. Er will nichts; das iſt
ſein Geheimnis und ſeine Heiterkeit.
Stilpe dachte das nicht ohne Neid.
Der „Bärenführer“ war der „Erſte der Eigent¬
lichen“, ein wunderlicher Menſch, der mitten in
Berlin mit dem Gleichmut eines orientaliſchen
Weiſen lebte und, arm wie ein perſiſcher Bettel¬
mönch, ſich mit einer köſtlichen Grazie des Geiſtes
aushalten ließ. Sein Reich war nicht von dieſer
[331]Viertes Buch, zweites Kapitel. Welt, aber wer ſein Reich kannte, dieſe weiten
kosmiſchen Räume voll unerhörter Phantaſien und
dieſe bunten Fabelſtädte mit den intimſten Winkeln
genießender Ruhe nach raſenden Räuſchen, der
wußte, daß ſeine Welt beträchtlich ſchöner war, als
unſere. Ein Fakir mit Humor. In der Heimat
ſeines Geiſtes, in Indien, wäre er wohl auch ohne
Alkohol weiſe und heiter geweſen; in Berlin aber
mußte er ſehr viel trinken. Doch ſelbſt im Alkohol
blieb er harmoniſch. Es ſchien, als ob er wirklich
die Fakirkunſt beſäße, ſich durch ſeeliſche Kräfte
gegen alles Giftige immun zu machen.
Beſonders darum beneidete ihn Stilpe, der zu¬
weilen ſelber merkte, wie der Alkohol an ihm
zehrte, und wie er immer abhängiger von ihm
wurde.
Der zweite der Eigentlichen war der „Peri¬
pathetiker“. Auch er repräſentierte Weisheit in einem
ganz unmodernen Sinne. Stilpe behauptete, er
ſei die Reincarnation des alten Diogenes, und
dieſe Meinung traf das Weſen des Peripathetikers
im Ganzen wohl. Nur kam ein gut Teil weicher
Verträumtheit hinzu. Er übertraf den Bären¬
führer noch an ſozialer Untergrundsloſigkeit, denn
er beſaß keinen weiblichen Bären, der ihm kochte.
[332]Stilpe.Es kam vor, daß er im Tiergarten übernachtete.
Sonſt wohnte er bei Freunden herum. Dabei
war er von ſehr edlem Anſtande und fühlte die
Würde ſeines Geiſtes. Traf es ſich, daß er in
„bürgerlicher Geſellſchaft“ war, ſo trug er ſofort,
doch ohne Poſe, ganz aus einem inneren Über¬
legenheitsgefühl, den Propheten zur Schau, der die
Gewöhnlichen milde zum Handkuß zuläßt. Er
hätte einen guten, feinen Mönch abgegeben, wenn
er nicht etwas Vagantenhaftes gehabt hätte. Sein
ganzes Leben war ein unausgeſetztes Denken und
Dichten. Wo auch immer er war: Er ſchrieb,
und ſtets trug er Manuſkripte mit ſich herum,
reich genug, fünf Nummern der Times zu füllen.
Nur konnten ſie nicht abgedruckt werden, da ſie
niemand außer ihm leſen konnte. In ſchwierigen
Fällen war er ſelber nicht dazu imſtande. Stilpe
beſaß ein Manuſkript von ihm, einen Concept¬
bogen in Quart, der außer den erſten Scenen zu
einem Drama zwei Kapitel aus verſchiedenen Ro¬
manen, ſechs Gedichte in Proſa, drei in Verſen
und außerdem etwa fünf Dutzend Aphorismen und
verſchiedene Eſſay-Brouillons enthielt, alles durch¬
einander geſchrieben, erſt wagerecht, dann in ſenk¬
rechten, dann in diagonalen Zeilen dazu. Und
[333]Viertes Buch, zweites Kapitel. man durfte mit Recht und ohne Übertreibung
ſagen, daß ein geordneter, ökonomiſch diſponierender
Litterat von dieſem einen Bogen gut ein Jahr
ſeine geiſtigen Ausgabebedürfniſſe hätte beſtreiten
können.
Leidenſchaften kannte der Peripathetiker nicht,
doch liebte er kleine Mädchen, ſo bis zum 10. Jahre
etwa, ſehr. Für die Seele des Kindes war er
geradezu hellſeheriſch begabt, und man konnte
Kleinodien an Kinderſcenen von ihm vernehmen.
Er konnte übrigens ohne Alkohol auskommen.
Nicht ſo der dritte der Eigentlichen: Kaſimir,
der Fugenorgler. Es war ein gar wilder Pole
voll von Dämonie und allen Künſten der Blague.
Er hatte als Dichter nur ein Thema, Stilpe
nannte es die mediziniſch-katholiſche Abgrundweis,
aber dieſes beherrſchte er mit der Meiſterſchaft
bornierter Genies. Sein Dichten war eine Art
verzückter Drehkrankheit, und man wußte nicht, ob
er ſich drehte, um zu dichten, oder ob er dichtete,
um ſich zu drehen. Doch konnte ſich keiner der
Macht dieſer grandios wirren Eintönigkeit ent¬
ziehen. Es war ſchöpferiſche Beſeſſenheit, die in¬
deſſen manchmal mehr Beängſtigung als künſtle¬
riſchen Genuß hervorrief. Er wäre als Geſell¬
[334]Stilpe. ſchafter unmöglich geweſen, wenn er nicht gleich¬
zeitig ein unübertrefflicher Blagueur, geradezu ein
Meiſter der Blague geweſen wäre. Stilpen, der
ſelber in dieſer Kunſt viel vermochte, konnte er
dadurch manchmal raſend machen. Nur der Bären¬
führer und der Peripathetiker ließen ſich nie beirren,
der Bärenführer, weil er überhaupt aus Allem nur
inwendige Heiterkeit ſchöpfte, und der Peripathetiker,
weil ſein Geiſt doch immer noch ſchneller lief, als
die Blague des Polen.
Dagegen ließ ſich der vierte der Eigentlichen,
den ſie den Zungenſchnalzer nannten, nicht ſelten
verführen, Kaſimirn auf das polniſche Glatteis my¬
ſtiſcher Schnoddrigkeiten zu folgen. Er liebte das
Myſtiſche gar nicht, er war ganz auf das Äſthe¬
tiſche und Erotiſche gerichtet. Stilpe nannte ihn
Doktor der Erotologie. Er beſtritt der Menſchheit
das Recht, in erotiſchen Dingen irgend etwas
pervers zu nennen und machte aus dem, was er
nun nicht pervers, ſondern kultiviert nannte, ein
eifriges praktiſches Studium. Er wäre gerne ein
Don Juan der Perverſität geweſen, indeſſen ent¬
gleiſte ſeine Don Juanſchaft ſchon auf dem ge¬
wöhnlichen Gebiete der Erotik recht häufig. Aber
er nahm Alles für genoſſen und ſchnalzte mit der
[335]Viertes Buch, zweites Kapitel. Zunge. Als Dichter pflegte er das Gebiet des
Undruckbaren mit anerkannter feiner Meiſterſchaft.
Und: Einen ſachkundigeren Cirkuskritiker als ihn
gab es nicht. Als Geſellſchafter war er unter den
Vieren weitaus der angenehmſte, denn er war von
einer entzückenden echten Liebenswürdigkeit, voller
Geiſt und Laune. Nur mußte man früh um fünf
Uhr nicht ſchon nach Hauſe gehen wollen. Doch
trat dieſer Wunſch unter den Eigentlichen nie auf.
— Es kann eine ganze nette Zeitſchrift geben
mit den Vieren, dachte ſich Stilpe, aber es iſt mir
unklar, ob irgend eine Nummer davon unverboten
bleiben wird. Man wird ſie als Brief verſenden
müſſen und von vornherein darauf ſchreiben: Nicht
für die Öffentlichkeit.
Hollah! Ein neuer Tric. Ein unöffentliches
Blatt! Das iſt eine unbezahlbare Idee!
Er war Feuer und Flamme dafür und ent¬
wickelte ſie ſofort mit Leidenſchaft, als die Viere
bei einander waren.
Köſtlich ſahen der Bärenführer und der Peri¬
pathetiker aus, die Stilpes abgelegte Kleider aus
ſeiner Kritikerzeit anhatten. Er ſelber trug ſich
wieder mit einem Stich ins Salopp-künſtleriſche.
Die eleganten Koſtüme aus dem engliſchen Atelier
[336]Stilpe. waren ihm nie ſehr zu paſſe geweſen. Jetzt nahm
ſich der Bärenführer in einem braunen, unendlich
langſchößigen Gehrock mit hohem, breitem, ge¬
ſchwungen geſchnittenem ſchwarzem Sammetkragen,
eine ſeidene, beſtickte Weſte dazu, ſehr drollig aus,
und der Peripatethiker in einem ſeidenkragigen
ſchwarzen Smoking nebſt viereckig ausgeſchnittener
Weſte war ein grotesker Anblick. Der Pole ſuchte
eine halbe Stunde lang in den weiten grauen Hoſen
nach den diogeniſchen dünnen Beinen.
Dann begann aber die Debatte. Die Idee mit
der Unöffentlichkeit ſchlug ein, doch hielt das
nicht ab, ſie ſofort auch ein bischen lächerlich zu
machen.
Der Bärenführer wollte, daß das Blatt in
einer Geheimſchrift von arabiſchem Charakter und
natürlich von rechts nach links gedruckt würde.
Kaſimir ſchlug vor, die Beiträge des Peri¬
pathetikers als Autogramme drucken zu laſſen, um
[337]Viertes Buch, zweites Kapitel. jede Gefahr auszuſchließen, daß ſie geleſen werden
könnten.
Der Peripathetiker ſchüttelte langſam den Kopf:
Aber ich möchte ſie doch leſen!
Stilpe wurde ärgerlich und erklärte, er würde
nicht eher etwas zu trinken geben, als bis man
anfinge, ernſthaft zu reden. Er fühlte ſich beinahe
ſchon als dekretierenden Redakteur.
Es wurde die parlamentariſche Form beſtimmt,
damit man doch zu einem Beſchluſſe käme.
— Alſo, gut, wie geſagt, ſelbſtverſtändlich:
Eugen Richter; wie geſagt: Ich bitte ums Wort!
rief der Bärenführer.
Stilpe, der natürlich präſidierte, erklärte, daß
er ihn vormerken wolle; zuvörderſt aber müſſe die
Geſellſchaft ein paar Worte von ihm entgegen¬
nehmen:
— Erſtens, meine Freunde, wollen wir uns
geloben, heute zu einem Entſchluß zu kommen. Ich
ſchlage vor, daß wir dies nicht ohne Feierlichkeit
thun. Laſſet uns ſymboliſch vorgehen! Wer ſich
verpflichtet, mitzuwirken zu einem endgiltigen Ent¬
ſchluſſe und wer zu erklären bereit iſt, daß er ſich
jeder Entſcheidung, die heute fällt, unterwerfen
will, auch wenn ſie gegen ſeine etwaigen Anträge
22[338]Stilpe. ſein ſollte, der wähle mit mir aus dieſen Flaſchen
eine gelbgekapſelte. Es iſt Cognac. Die Wei߬
kapſeln enthalten Gin.
— Ich proteſtiere gegen dieſen Wahlmodus!
erklärte zum größten Erſtaunen Aller der Peri¬
pathetiker. Ich habe noch nie Gin getrunken und
möchte deshalb eine weiße Kapſel wählen, obwohl
ich zu jeder Verpflichtung bereit bin.
— Alſo gut; die Erklärung wird zu Protokoll
genommen, und Deine weiße Kapſel gilt für gelb,
erklärte Stilpe. Im Übrigen ſehe ich, daß das
Skrutinium allgemein für gelb entſchieden hat.
Wir können alſo beginnen. Um zu verhüten, daß
wie bei allen vorigen Sitzungen ein Chaos der
Meinungen durcheinander gährt, ſchlage ich vor,
daß jeder nur einmal das Wort erhält. Damit
iſt geſagt, daß jeder ſich genau überlegen muß,
was er vorbringt, denn er wird keine Gelegenheit
haben, ſich ſpäter zu korrigieren.
— Wie geſagt, ich bitte ums Wort! rief der
Bärenführer.
— Du wirſt es gleich bekommen. Ich will nur
noch das ſagen: Die Reden ſollen ſich an folgende
Punkte halten: 1) Welcher Art ſoll die Zeitſchrift
[339]Viertes Buch, zweites Kapitel. ſein? 2) Wie ſoll ſie heißen? Ich denke, dieſes
Verlangen iſt billig. Wollen wir es ſo halten?
— Ich bitte ums Wort, rief Kaſimir.
— Bitte!
— Sehr ſchön! Ausgezeichnet! Aber: Muß
man ſo feierlich ſein, wie Stilpe, wenn man
redet?
— Das wird ſich finden, aber ich bitte aller¬
dings um eine ernſte Behandlung des Gegenſtandes.
Wenn wir uns dazu zwingen, werden wir auch
ſchnell zum Ziele kommen, denn es iſt freilich nicht
amüſant, Reden zu halten, wie in einer General¬
verſammlung. Wenn nichts gegen meine Vor¬
ſchläge eingewandt wird, können nur wohl an¬
fangen.
Es wurde nichts eingewendet. Alle hatten das
Bedürfnis, dieſer ernſten Sitzung bald ein Ende
zu machen. Man rauchte ſtark und trank Toddy
dazu.
Der Bärenführer begann:
— Wie geſagt, ſelbſtverſtändlich bin ich für eine
in—de—pen—dente wie geſagt. Sie muß
anders ſein. Wie geſagt: Anders. Ganz anders.
Selbſtverſtändlich, wie geſagt, muß ſie Honorare zahlen.
Aber ſchließlich, wie geſagt, iſt das einerlei. Wenn
22 *[340]Stilpe. ſie mir viel Raum hat. Plakatformat, wie geſagt,
gelbes Papier und zinnoberrote Lettern, von rechts
nach links gedruckt, wie geſagt, in Lederrollen
verſandt.
Stilpe runzelte die Stirne und bemerkte: Ich
muß Dich wirklich bitten, ernſthafte Vorſchläge zu
machen.
— Aber er iſt doch ganz ernſt, Bruder! rief
Kaſimir. Ich finde das entzückend!
— Wie geſagt, natürlich, das iſt mein Ernſt,
ſelbſtverſtändlich, wie geſagt. Das iſt doch ſehr
fein und, wie geſagt: Praktiſch! Die erſte Nummer
laſſen wir an die Littfaßſäulen kleben, wie ge¬
ſagt.
— Hehe, und ſolche nette kleine Sandwich¬
männer laſſen wir laufen, die ſie auf dem Rücken
herumtragen, hehe, und ſo werden ſie dazu immer
ſchreien und rufen, hehe: Meine Herren Berliner,
hehe, leſen Sie blos, was der Bärenführer wieder
gemacht hat! Der reine Joethe! Hehe! Sie kennen
doch Herrn Joethe, den Verfaſſer der Farbenlehre?
Hehe! Er iſt auch ein bischen pervers geweſen,
der gute Mann, hehe; ſo ein paar niedliche Epi¬
grämmlein hat er gemacht . . . ah! er war nicht
ohne Begabung!
[341]Viertes Buch, zweites Kapitel.
— Was verſtehen Sie denn von Goethe
mein werter Pole, bemerkte der Zungenſchnalzer.
Sie ſollen erſt einmal an die Ahnungsgrenze der
Erotik kommen . . .
— Ich bitte, keine Privatgeſpräche zu führen,
rief Stilpe. Goethe und die Erotik beiſeite: Was
will der Bärenführer noch?
— Wie geſagt, ich bin für das Littfaßſäulen¬
plakatformat und rot auf gelb, wie geſagt, und als
Titel, wie geſagt, ſchlage ich vor: Die geſprenkelte
Nachtigall.
— Pſchakreff, kikeriki, wallahei, Bruder, Du haſt
recht: Ausgezeichnet! Kaſimir ſtürzte ein Glas
Toddy hinunter.
Die andern, außer dem Peripathetiker, lachten.
Der Bärenführer miſchte Gin in ſeinen Cognac.
Der Peripathetiker aber erhob ſich im Tumulte
des Lachens, ſah gerade vor ſich hin und begann
ganz leiſe:
— Unſere Zeitſchrift ſollte: Das Prisma
heißen. Damit iſt für Alle Alles geſagt. Wie
ein Prisma, das Strahlen fängt und Farben
ſtrahlt. Nicht Spiegel des Körperlichen, ſondern
Lichtſammler und Scheinwerfer. Nicht willkürlich
in Kanten und Flächen, nicht roh und rauh, nicht
[342]Stilpe. zufallſchön oder zufallwahr, ſondern nach Geſetzen
geſchliffen, in reinen Linien verbunden und ab¬
gegränzt; nicht irgendwo liegend, nicht mit irgend
einer Seite flach auf dem Boden, ſondern an
goldenem Faden aufgehängt in freier Luft, ſchwebend
aus ſich bewegt in einem langſamen Schaukel¬
ſchwunge oder einen Kreis ſcheibend, da einen
roten, da einen grünen, da einen gelben Strahl
fangend und wieder von ſich gebend, aber im
Innern Alles ſammelnd, kernreich, keimheiß, in der
Tiefe das Auge Gottes, auf den Flächen der
Schein der durchſchwebten Lichtwelt . . .
Plötzlich zog er ein Stück Zeitungspapier aus
ſeinem herrlichen Smoking und ſchrieb emſig auf
den Rand, ſo weit er noch unbeſchrieben war.
Die Andern lächelten innig und tranken.
Stilpe erklärte, daß ihm der Titel Das Prisma
gut gefiele.
— Oh, rief Kaſimir, mir gefällt beſonders der
goldene Faden. Das iſt das Symbol des Hono¬
rars. Und dann: Wie es im Kreiſe ſchwebt:
Ausgezeichnet. Hehe: So angenehm idiotiſch,
immer im Kreiſe, hehe, mit dem Auge Gottes.
Er ſtürzte wieder ein Glas Toddy hinunter.
Der Bärenführer fand Das Prisma auch gut,
[343]Viertes Buch, zweites Kapitel. aber er meinte, als Untertitel müſſe Die geſprenkelte
Nachtigall ſtehen: Wie geſagt: Das Prisma, eine
geſprenkelte Nachtigall! Aber natürlich, wie geſagt,
in Lederrollen verſandt!
Jetzt lehnte ſich der Zungenſchnalzer in ſeinen
Stuhl zurück und lächelte Stilpen überaus höflich
mit einem fragenden Ausdruck in den ſchönen großen
dunkelblauen Augen an.
Stilpe machte eine einladende Bewegung, und
der Zungenſchnalzer begann:
— Meine Herren! Sie werden (er war der
einzige, der ſich mit Niemand duzte) von mir nicht
erwarten, daß ich Pläne und Titel vorbringen
werde, die an Originalität und Erhabenheit mit
denen meiner Herren Vorredner zu wetteifern ver¬
möchten. Ich bin der Meinung, daß wir in erſter
Linie volkstümlich ſein müſſen.
In dieſem Augenblicke ſchlug Kaſimir eine grä߬
liche Lache auf und trank mit einer ungemeinen
Schnelligkeit zwei Glas Toddy aus, dann kniete
er vor dem Zungenſchnalzer nieder und küßte deſſen
Stiefel.
Der Zungenſchnalzer leckte ſich den Schnurr¬
bart, grinſte und fuhr fort:
— Wir müſſen eine Kunſt haben, die auf den
[344]Stilpe. Mittelpunkt alles Empfindens geht, auf das Ge¬
ſchlecht. Nur eine Geſchlechtskunſt iſt echt, iſt
Inſtinkt, iſt Genuß, iſt Leben, iſt Volkskunſt. Eine
ejakulative Kunſt, orgaſtiſch, brünſtig. Ein Hinein¬
knieen in die Uraccorde der Animalität, aber in allen
Fineſſen raffiniert, differenziert bis in die äußerſten
Nervenenden. (Er ſchien ſeinen Schnurrbart ver¬
ſchlucken zu wollen, ſo verzückt bearbeitete er ihn mit
ſeiner Zunge.) Dabei aber verwegen bunt, jagend,
peitſchenknallend, fieberiſch! Tanzmelodien und
Hengſtwiehern. Corſettkrachen und die Melancholie
des Leierkaſtens. Blechmuſik und das Rauſchen
von ſeidenen Unterröcken. Pubertätswimmern und
das Schollern von Eisplatten in breiten, wäl¬
zenden Strömen. Einen Titel dafür weiß ich
nicht. Das Unſagbare kann man wohl ſtammeln,
aber nicht benennen.
— Hehe, ſo ſagen Sie doch: Der Stammler,
werter Herr, oder: Stimmwechſel. Das ſind aus¬
gezeichnete Titel. Hehe, oder: Der Hengſt des
Volkes. Das iſt noch entzöckender! Oder: Der
rote Faden! Oder: Das Nadelör der Welt. Hehe!
Ausgezeichnete Titel!
Der Pole ſchien ſich ein bischen zu ärgern.
Der Zungenſchnalzer lächelte verbindlich:
[345]Viertes Buch, zweites Kapitel.— Dann würde ich ſchon lieber gleich Phallus
oder Priapus vorſchlagen, wenn es nicht fürs Volk
unverſtändliche Fremdworte wären, und die deutſchen
Ausdrücke ſind leider zu Rohheiten geſtempelt worden.
Es verſteht ſich, daß ſie dadurch für mich unmög¬
lich werden, denn das Rohe ſchließe ich ja aus.
Er lehnte ſich wieder vor und lächelte mit einem
Ausdruck wie: Ich bin fertig, Herr Präſident!
Stilpen an.
Stilpe war mittlerweile betrunken worden und
konnte nicht mehr an ſich halten; nun mußte er
reden.
Er ſtand auf, ſetzte ſeinen Hornklemmer ab und
ließ ihn an dem breiten Bande ſchwingen. Dann
begann er ſehr laut:
— Die geſprenkelte Nachtigall! Gut! Bunt!
Ornithologiſch! Alſo: Deutſch! Wir würden ſämmt¬
liche Mädchen damit verführen. Oder wie? Es iſt
kein Zweifel erlaubt! Denn es iſt ein befiederter
Titel. . . . Jawohl! . . . Indeſſen! Ah!: Das
Prisma! . . . Streng! Keuſch! Gläſern! Ideal!
Mathematiſch! Die Welt der Gymnaſiallehrer
würde zu uns ſtrömen! . . . Sehr gut! In¬
deſſen, mir ſcheint, . . . aber nein: Sehr gut!
Nur . . . es blendet, es ſticht in die Augen, und:
[346]Stilpe. es iſt kalt, ſehr kalt! Überaus kalt! Außerdem
weiß kein Menſch, was ein Prisma iſt. Der Titel
erfordert ein Converſationslexicon. Auch kann
man keine Lyrik unterbringen. Oder? Nein, man
kann nicht, durchaus nicht! . . . Dagegen: Phallus!
Ja: Hier iſt Lyrik, ausgeſprochen Lyrik. Sehr warm.
Winkend. Kraft und Saft und Sinndeute der
Welt. . . . Aber warum nicht: Der Phalluswald?
Hört doch nur: Der Phalluswald! In ihm ſingt
die geſprenkelte Nachtigall mit ſüßem Geſchluchz,
in ihm auch kann man irgendwo das Prisma
aufhängen! Sinnend wandelt hier der Peripa¬
thetiker, anmutig lehnt hier der Bärenführer und
läßt aus ſeiner großen Zehe eine neue Welt
wachſen, neue Tänze übt zwiſchen den fäuligen
Stämmen der Zungenſchnalzer nach der Melodie
des Bauchtanzes von Hawai, tief bohrt ſich ins
Wurzelgeflecht die blutige Seelenſuchekralle Kaſimirs,
und auch ich werde in dieſem Schattenhain der
Urgefühle die Lieder finden, die, wie ich mit Be¬
ſtimmtheit behaupten darf, irgendwo in mir
ſchlummern.
Lieben Freunde, trinkt Cognac und Gin, machet
ein Feuer in euch an, daß eure Augen glühende
Kugeln werden, groß wie die Uhrſcheiben am Rat¬
[347]Viertes Buch, zweites Kapitel. hausturm, und eure Fäuſte ſtark wie die Dampf¬
rammen der Weidendammerbrücke, trinket Gin und
Cognac, Freunde, lieben Freunde und Genies,
trinkt und glaubt an meine ſchlafenden Lieder,
dieſe feiſten Murmeltiere, aus deren Fett ich Elender
Feuilletons gebacken habe, trinkt, trinkt, trinkt,
ſchlagt euch rotgeränderte Wolken um die Schultern
als Regenmäntel und kommt mit mir in den
Phalluswald!
Er war unmäßig gerührt und legte ſich neben
den Polen, der ſich mitten im Zimmer nieder¬
gelaſſen hatte und nichts ſagte als: Der Seelen¬
krebs, Bruder, der Seelenkrebs, hehe, das iſt der
Titel, das iſt das Programm!
Der Peripathetiker ſtand ſchweigend am Plakate
des Tintenſumpfs und bedeckte deſſen unbedruckte
Flächen mit Hieroglyphen, der Bärenführer ordnete
die Cognac- und Ginflaſchen und kommandierte:
[348]Stilpe. Leibgarde des Sultans! Prääääſentiert! Präääſen¬
tiert! Der Zungenſchnalzer leckte ſich den Schnurr¬
bart und trank weiter.
Da klingelte es, und kurz darauf öffnete ſich
die Thüre. Herein trat mit einem leichten Aufſchrei
eine üppig ſchlanke, theatermäßig geſchminkte Dame
mit einem weiten blauen Theatermantel und einem
rieſigen Federhut.
Der Zungenſchnalzer ging ihr mit Anſtand
entgegen, Stilpe drehte ſich blos um und rief:
Süße Kamelie, leg Dich an meine Seite, wir haben
Großes geleiſtet!
— Das ſeh ich. Sag mal, wie findeſt Du das
eigentlich? Eine halbe Stunde hab ich am Winter¬
garten gewartet. Is das nett?
Sie ſprach mit einem Anflug von Hamburger
Dialekt. Wie ſie ſich im Lichte der Lampe auf
Stilpes leeren Stuhl niedergelaſſen hatte, ſah der
Zungenſchnalzer, daß ſie ſehr hübſch, wenn auch
nicht mehr ganz jung war. Man hätte ſie wohl
für eine Dänin halten können: Ganz hellblaue
Augen mit großem Stern, flachsblonde Haare, die
Naſe ein klein wenig, aber ſehr anmutig abgeſtumpft;
dazu ein ſehr kleiner, ſchön geſchwungener Mund,
der ganz beſonders zu dem kindlichen Ausdruck
[349]Viertes Buch, zweites Kapitel. dieſes Geſichtes beitrug. Die Haare trug ſie in
der Mitte geſcheitelt und, die Schläfen wie einen
großen Teil der Stirne ganz bedeckend, glatt über
die Ohren gelegt; hinten bildete ihre dichte Fülle
einen üppigen Zopfkranz. Dieſe Friſur gab ihr
etwas ſüß Frauliches zu dem Kindlichen. Wenn
man ihr aber genauer in die Augen ſah, ſo ſpürte
man, daß eine heitere Energie der Grundzug dieſes
Weſens war.
Sie war, eine geborene Holſteinerin, däniſch-
deutſche Liederſängerin und trat jetzt im Winter¬
garten auf. Stilpen hatte ſie ſehr gerne, aber ſie
war nicht eigentlich ſein Fall. Er liebte „die
Weiber nicht ſehr, vor denen man Reſpekt haben
muß“, und vor ihr hatte er Reſpekt.
— Ach Gott, Du wärſt ſo reizend, wenn Du
nicht im Grunde ſo anſtändig wärſt, hatte er oft
zu ihr geſagt. Man kommt ſich mit Dir immer
verheiratet vor.
Der Reſpekt, den er vor ihr hatte, brachte es
jetzt auch zuſtande, daß er ſich erhob und ein bischen
nüchtern wurde.
— Siehſt Du, mein blondes Gewiſſen, ich
konnte nicht kommen. Erſt die Litteratur, dann die
Liebe. Wir haben ſoeben die deutſche Litteratur
[350]Stilpe. mit einer neuen Zeitſchrift begnadet: Der Maſten¬
wald oder ſo ähnlich, Organ für geſprenkelte
Nachtigallen und Seelenkrebs. Ja! Das wird
eine Nummer, Madame!
— Ich kann mir den Unſinn ſchon vorſtellen.
Du biſt nicht mein erſter Dichter. Ich kenne das
mit euren Zeitſchriften. Snak! Dich hätt' ich
eigentlich für klüger gehalten. Fällt euch denn gar
nichts Neues ein?
Der Bärenführer, der auch darin Orientale
war, daß er die Weiber nur ſexuell nahm, und
auch das nicht eben mit Leidenſchaft, wurde ärger¬
lich. Er warf drei Flaſchen um und rief:
— Kattarattazambu! Plokjotratuzupina! Pſchattu!
Pſchattu! Pſchattu!
Dazu machte er ein ſehr zorniges Geſicht.
— Mein Gott, was hat denn der Herr? fragte
lachend die Sängerin.
— Ich ſpreche, wie geſagt, die Affenſprache,
mein Fräulein, ſelbſtverſtändlich platt, wie ge¬
ſagt.
— Gott, iſt der aber komiſch! Was hat denn
das geheißen?
— Wie geſagt, ſelbſtverſtändlich gar nichts, das
heißt, natürlich: Sehr viel, wie geſagt, nämlich:
[351]Viertes Buch, zweites Kapitel. Was verſtehen denn die Weiber von der Wort¬
kochkunſt, wie geſagt.
— Aber ich verliebe mich doch fortwährend in
Dichter, wie geſagt, da gehöre ich doch mit dazu.
Nich?
Jetzt drehte ſich der Peripathetiker um und
ſchritt langſam auf die Sängerin zu:
— Guten Abend, Mathilde!
Er ſagte das ſehr zärtlich.
Die Sängerin ſah ihn groß mit lachenden
Augen an:
— Ich heiße aber Martha!
— Nein: Mathilde. Ihre Stimme klingt wie
Mathilde. Ganz ſeraphimflügelblau mit einem
Kern von willefrohem Ultraviolett. Auch Ihre
Hände flüſtern Mathilde. So lilienblattſchmal
und immer betend mit leis durchbluteten Adern.
Er nahm ihre rechte Hand und hielt ſie vor
das Lampenlicht:
— Kinderpatſcheken! Sie ſind ein guter Menſch,
Mathilde!
Die Sängerin ſchüttelte ganz ernſthaft den Kopf:
— Nein, ſo was! Sind Sie der liebe Gott,
Sie freundlicher Herr?
Dann lachte ſie beluſtigt:
[352]Stilpe.— Nein, was haſt Du denn da wieder für
eine Menagerie? Jetzt weiß ich ſchon gar nicht
mehr, in wen ich mich verlieben muß.
— Bitte, in mich! ſagte der Zungenſchnalzer in
einem zärtlich dringenden ernſten Tone. — Sehen
Sie: Ich könnte auf Ihnen ſpielen! Seien Sie
meine Liebesgambe! Sehen Sie in meine Augen!
Was ſehen Sie!
— Sie haben ſehr ſchöne Augen, wirklich.
— Blos ſchön? Nicht auch tief? Sehen Sie
noch einmal hinein!
Es ſah aus, als wollte er die Sängerin wie
eine Auſter mit den Augen verſchlucken.
— Aber Sie müſſen meine Kniee in Ruhe
laſſen. Wirklich: Sehr ſchöne Augen! Sind Ihre
Gedichte auch ſo ſchön?
— Ach, laſſen Sie meine Gedichte! Meine
Gedichte ſind nichts, aber meine Liebe iſt wie eine
tigerbunte Orchidee. Kennen Sie die Orchideeen
mit den gekrümmten Piſtillen, die wie gelbgepuderte
Schlangen ſind?
Die Sängerin ſchob ein zweites Mal die Hände
des Zungenſchnalzers von ihren Knieen, dann lachte ſie:
— Jetzt thut mirs blos leid, daß der da unten
ſchläft. Das is gewiß auch ein Netter!
[353]Viertes Buch, zweites Kapitel.
Stilpe bemühte ſich ſogleich, Kaſimirn zu wecken,
aber der war endgiltig fertig und konnte blos noch:
Seelenkrebs! ſchluchzen.
Die andern aber ſetzten ſich um die Sängerin
herum und vereinigten ſich, den Bärenführer nicht
ausgeſchloſſen, in wohlausgeſuchten Reden zu ihrem
Preiſe. Die Sängerin amüſierte ſich ſehr und
that auch jedem in Toddy Beſcheid.
Das rührte den Bärenführer, der nun immer
betrunkener wurde, ungemein, und er flüſterte:
— Wie geſagt, Martha, ſelbſtverſtändlich: Sie
ſind ſchön, ſchön wie mein Bär, wie geſagt. Ich
umarme Sie mit meiner Seele. Ich liebe Sie
fabelhaft! Wie geſagt: Sie ſind wie ein Bündel
roſengelber Schlangen! Sie müſſen die geſprenkelte
Nachtigall abonnieren!
— Und das Prisma! flüſterte der Peripathetiker.
— Und den Phallus! ſtöhnte der Zungen¬
ſchnalzer.
— Und den Phalluswald! rief Stilpe.
— Machen wir! ſagte die Sängerin.
Da ſchrie Stilpe laut auf:
— Eine Idee! Gründen wir vier, nein fünf
Zeitſchriften! Auch Kaſimir muß ſeine haben. Und
jeder ſchreibt immer ſeine allein! Wie? Iſt das
23[354]Stilpe.nicht die Löſung? Jeder ſein eigener Redakteur!
Iſt das nicht, ja, iſt das nicht . . . Wie?
— Selbſtverſtändlich, wie geſagt: Fünf Zeit¬
ſchriften in Plakatformat!
Die Sängerin ſchüttelte den Kopf:
— Aber, Kinder, ſeid ihr denn wirklich verrückt?
Vorhin wart ihr doch blos duhn. Wenn ihr durch¬
aus was gründen wollt, ſo gründet doch ein an¬
ſtändiges Tingeltangel!
— Hu hu hu! lachte der Bärenführer; aber
die andern ſaßen da, als hätte ſie jemand von oben
fallen laſſen.
— Ernſthaft! Ein literariſches Tingeltangel!
Wirklich! So was fehlt! Wo gute Sachen ge¬
ſungen werden. Sie können ja auch verrückt ſein.
Aber Sachen von Dichtern. Und dann überhaupt
Alles geſchmackvoll, ſo, wie die engliſchen Ballets;
überhaupt: Was Schönes!
Stilpe und der Zungenſchnalzer erhoben ſich
gleichzeitig wie zwei Ergriffene und riefen durch¬
einander :
— Herrgott! Donnerwetter! Natürlich! Das
iſt es! Das müſſen wir thun!
— Selbſtverſtändlich, wie geſagt: Ein äſthe¬
tiſches Tingeltangel! Ach, Martha, Sie ſind das
[355]Viertes Buch, zweites Kapitel.Sternbild des großen Bären! Wie geſagt, natür¬
lich, ſelbſtverſtändlich ein Tingeltangel, wie geſagt!
Auch der Peripathetiker war, in ſeiner patri¬
archenhaften Weiſe, von dem Gedanken ergriffen:
— Eine Renaiſſance der Kunſt, aller Künſte!
Leiſe Singetänze in blauem Lichte. Die verruchte
Holdheit der Bajadere. Der Rhythmus griechen¬
meerplätſchernder Oden im Schmiegeſchwunge
nackter Brüſte. Sehen Sie, wie recht ich hatte,
daß Sie Mathilde heißen?
Am lebhafteſten aber waren Stilpe und der
Zungenſchnalzer; Stilpe war durch die Idee nüch¬
tern geworden, der Zungenſchnalzer berauſcht.
Der Abend endete mit dem feſten Beſchluſſe, keine
Zeitſchrift, ſondern das Literatur-Variété-Theater
MOMUS
zu gründen.
Drittes Kapitel.
Stilpe ſaß an ſeinem Schreibtiſch und arbeitete.
Er machte dazu ein Geſicht wie der lachende
Zola, unendlich zufrieden und mit einem Blick, der
auch noch im Lachen ein Ziel im Auge hat.
Die Pfeife ſaß im rechten Mundwinkel, von
den Zähnen nach oben geſtemmt, ſo daß es gar
verwegen ausſah. Die Dampfwolken fuhren mit
Kraft aus dem vollen Munde mit den aufgeworfenen
Lippen.
Rechts und links türmten ſich neben verſchie¬
denen Liqueurflaſchen Papiere, Briefe, Druckproben
zu Programmen, Zeitungen, Zeichnungen, Manu¬
ſkripte, Notenſtöße. Große offene Körbe ſtanden
im Zimmer, aus denen blumig bedruckte Muſſelin¬
ſtoffe, dünne indiſche Seidengewebe in hellen ſchönen
Farben, ſchwere dunkle Samte, Spitzen, Gold¬
[357]Viertes Buch, drittes Kapitel. franzen hervorquollen. An den Wänden hingen
große bunte Koſtümbilder im Geſchmacke der eng¬
liſchen Äſtheten, aber heiterer, frecher. Mit dem
Geruch des Old Judge miſchten ſich Parfüms
von der reſoluten Art, wie man ſie in den Garde¬
roben von Variétédivas einatmet.
Stilpe war von Grund der Seele aus ver¬
gnügt. Wenn er einmal die Feder weglegte, rieb
er ſich die Hände und pfiff vor ſich hin. Ja, er
murmelte ſogar zuweilen Worte erregter Befrie¬
digung: Hop! So! Tja, tja, tja, tja! Höh! Das
reißt!
Und doch war der erſte Momus-Rauſch, der
Rauſch der Pläne und Phantaſieen vorüber, der
Rauſch der Tage und Nächte, als ſie in täglichen
Zuſammenkünften die Idee der Sängerin im Verein
mit ihr genauer durchgeſprochen hatten.
Wie hatten ſie da über die Zeitſchrift gelacht,
wie hatten ſie die Sängerin gefeiert als Retterin
aus dem ſchlimmſten aller Tintenſümpfe; wie war
da Stilpe von Tag zu Tag lebhafter, luſtiger ge¬
worden.
— Ha: Die Renaiſſance aller Künſte und des
ganzen Lebens vom Tingeltangel her! Oh, das
ingeniöſe Mädchen aus Holſtein! Man wird ſie
[358]Stilpe. preiſen wie eine neue und größere Neuberin, als
die moderne Muſe in Perſon. Unter ihrem Zeichen
werden wir das neue, echte, ganze, das lachende
Heidentum heraufführen mit Bockſprüngen und
höchſt edlen Faltenwürfen zärtlicher Gewänder.
In unſerm Schlepptau wird Alles hängen: Ma¬
lerei, Poeterei, Muſikerei und Alles überhaupt, was
Schönheit und genießendes Leben will. Was iſt
die Kunſt jetzt? Eine bunte, ein bischen glitzernde
Spinnwebe im Winkel des Lebens. Wir wollen
ſie wie ein goldenes Netz über das ganze Volk,
das ganze Leben werfen. Denn zu uns, ins
Tingeltangel, werden Alle kommen, die Theater und
Muſeen ebenſo ängſtlich fliehen, wie die Kirche.
Und bei uns werden ſie, die blos ein bischen bunte
Unterhaltung ſuchen, das finden, was ihnen Allen
fehlt: Den heiteren Geiſt, das Leben zu verklären,
die Kunſt des Tanzes in Worten, Tönen, Farben,
Linien, Bewegungen. Die nackte Luſt am Schönen,
der Humor, der die Welt am Ohre nimmt, die
Phantaſie, die mit den Sternen jongliert und auf
des Weltgeiſts Schnurrbartenden Seil tanzt, die
Philoſophie des harmoniſchen Lachens, das Jauchzen
ſchmerzlicher Seelenbrunſt, — ah, werft mir ein
paar Feigenkränze voll Worten zu, blaſt mir Aſſo¬
[359]Viertes Buch, drittes Kapitel. ziationen ein, laßt mich in Inkohärenzen lallen,
laßt mich farbige Wortflutſäulen ausnüſtern, groß
wie die Waſſerwürfe aus den Naſen verzückter
Walfiſche! Wir werden ins Leben wirken wie die
Troubadours! Wir werden eine neue Cultur herbei¬
tanzen! Wir werden den Übermenſchen auf dem
Brettl gebären! Wir werden dieſe alberne Welt
umſchmeißen! Das Unanſtändige werden wir zum
einzig Anſtändigen krönen! Das Nackte werden
wir in ſeiner ganzen Schönheit neu aufrichten vor
allem Volke! Luſtig und lüſtig werden wir dieſe
infame, moralklapprige Welt wieder machen, luſtig
und himmliſch frech! Leichtſinnig ſoll die Bande
wieder werden und ſoll bauchtanzen lernen! Ah,
wir ahnen vielleicht gar nicht, was für raffinierte
Sachen die Biedermänner Germaniens leiſten wer¬
den, wenn unſer Geiſt über ſie gekommen iſt! . . .
Kinder, küßt unſern blonden Engel hier und um¬
armt mich, denn wir haben die Welt im Sacke!
In dieſem Stile und toller noch geberdete ſich
die Wolluſt Stilpes, endlich einmal ein Ziel ge¬
funden zu haben, das ſeinem Weſen gemäß war.
Und die andern, der Zungenſchnalzer voran, waren
nicht weniger außer ſich.
Dabei entwickelte Stilpe aber auch eine wirk¬
[360]Stilpe. liche Thätigkeit, und, kaum, daß ein Monat ver¬
gangen war ſeit dem erſten Auftauchen der Momus-
Idee, da hatte er auch ſchon „Kapital am Bändel“,
und die Aktiengeſellſchaft Momus war gegründet,
ein verkrachtes kleines Theater gemietet und er
„artiſtiſcher Direktor“ des Ganzen.
Seine Gabe, ſich auch klug zu benehmen, wenn
es not that, kam ihm dabei ſehr zu ſtatten. Es
war ein Schauſpiel, ihn zu ſehen, wie er in ſeinem
Staatsrocke und mit ſeinen läſſigen Geſten des
ſicheren Geſchäftsmannes bei „Leuten von Gelde“
am Werke war, die ausſichtsreiche neue Idee mit
einem großen Aufwande von Zahlen aus dem Ge¬
ſchäftsberichte der Londoner Empire-Geſellſchaft zu
entwickeln, und wer ihn anzuhörte, wie er in geſetzter
Rede, aber mit einem Grundton tiefer künſtleriſcher
Überzeugung und dabei geſtützt auf entwickelungsge¬
ſchichtliche Ideen origineller Art nachwies, daß das
Unternehmen eines „künſtleriſch-literariſch bedeut¬
ſamen Kunſtinſtitutes mit Variété-Prinzip“ geradezu
eine Forderung des Zeitgeiſtes ſei, der zweifelte
nicht, daß hier eine „Sache“ im Entſtehen war.
— Sehen Sie die Theater an! Sie ſind leer!
Gehen Sie in den Wintergarten! Er iſt voll!
Dort Ableben, hier Aufleben! Wer die Kunſt liebt,
[361]Viertes Buch, drittes Kapitel. muß von Schmerz ergriffen werden bei dieſem
Anblicke, und Sie wiſſen, wie ſehr ſich kunſt¬
freundliche Kreiſe bemühen, durch Gründung bil¬
liger Theater ꝛc. das Publikum, zumal der breiteren
Volksſchichten, dem Variété zu entziehen. Ein
lobenswerter Plan, aber eine falſche Methode, ein
verhängnisvoller Irrtum, entſprungen einem Mangel
an Zeitpſychologie und an Verſtändnis für ent¬
wickelungsgeſchichtliche Reſultate! Die Zeit des
Theaters iſt im Ganzen vorbei! In dieſen alten
Schlauch füllt nur der Unverſtand neuen Wein!
Nein, wie das Theater, ehedem ein Appendix
der Kirche, ſich von dieſer losmachte und ſich ſelber
eine neue, damals zeitgemäße Form gab, ſo muß
ſich die Kunſt heute vom Theater emanzipieren
und entſchloſſen die Form annehmen, für die ſich
der Zeitgeſchmack entſchieden hat: Die Form des
Variétés! Beides iſt reif zum Untergange: Das
Theater, weil ſeine ganze Struktur zu klotzig, ſchwer
und unbeweglich iſt für die Genäſchigkeit des mo¬
dernen Kunſttriebs, und das jetzige Variété, weil
es ſeine überaus günſtige, allen Wünſchen einer
nervöſen Zeit gemäße Form nicht mit wahrhaft
künſtleriſchem Inhalt zu erfüllen verſteht. Laſſen
Sie uns ein Variété gründen als äſthetiſche An¬
[362]Stilpe. ſtalt im weiteſten Sinne, als Trägerin und Ver¬
körperung all der heute ſo üppig ſich entfaltenden
Richtungen in den Künſten, als Schaubühne des
Schönen für Auge, Ohr und Gemüt, und Sie
werden ſehen, daß Sie ſich an einer wahrhaft
kulturellen und zugleich eminent praktiſchen That
beteiligt haben!
Mit dieſer Anrichtung ſeiner Ideen für den
Geſchmack von Leuten, die in Kunſt ſpekulieren
wollten, hatte er umſomehr Erfolg, als er ſich
gleichzeitig den Anſchein des vorſichtig bedachten
Geſchäftsmannes zu geben wußte, der es fürs Erſte
ablehnte, ein Rieſeninſtitut ins Leben zu rufen. Ganz
von ſelbſt werde ſich aus beſcheidenen Anfängen das
große Etabliſſement der Zukunftsbühne entwickeln.
Sein bekannter Name, mit dem ſich die Em¬
pfindung von „geiſtreicher Schriftſteller“ verband,
that das Übrige dazu, auch wirkte es beſonders
überzeugend, daß er ſelbſt als Erſter fünftauſend
Mark allein zeichnete. So erfolgte die Gründung
der Geſellſchaft ſchnell, und er erhielt einen Kon¬
trakt als artiſtiſcher Direktor mit vollkommener
Selbſtändigkeit.
Da er ſo klug war, bei den erſten Ankündigungen
des entſtehenden Unternehmens ſeinen Namen, ob¬
[363]Viertes Buch, drittes Kapitel. wohl ihm das ſehr ſchwer fiel, beiſeite zu laſſen,
ſo nahm ſich auch die Preſſe, wenn auch mit den
üblichen Vorbehalten, der Sache an, und der Name
Momus tauchte in kurzen Zwiſchenräumen halb
geheimnisvoll immer wieder in den Blättern auf.
Es konnte kein Zweifel mehr ſein, daß das
Berliner Publikum, in erſter Linie die literariſch
und künſtleriſch intereſſierten Kreiſe, der neuen
Sache mit Spannung entgegenſahen. Der Umſtand,
daß die Witzblätter das Schlagwort vom poetiſchen
Tingeltangel aufbrachten, allerlei literariſche Chan¬
ſons vorſchlugen, Ernſt von Wildenbruch als Haus¬
dichter des Momus, Menzel als Koſtümzeichner
und Karl Frenzel als Tanzmeiſter namhaft machten,
trug dazu bei, das Intereſſe wachzuhalten.
Indeſſen arbeitete Stilpe mit heiterer Ausdauer
unausgeſetzt an der Ausgeſtaltung des Unternehmens
bis ins Einzelne. Der Bärenführer und der Peri¬
pathetiker ſchleppten täglich die unerhörteſten Chan¬
ſons herbei, der Zungenſchnalzer entwarf erotiſche
Szenen von trikotloſer Kühnheit, Kaſimir röchelte im
Pſalmenſtile ſchauerlich ſchöne Seelenmonologe voll
krebsgeſchwürigen Abendröten und ſataniſchen Ab¬
ſynthismen, geſtimmt und berechnet auf die Maul¬
trommelbegleitung aztekiſcher Urmelodieen, die ge¬
[364]Stilpe. ſammte junge Lyrik aller Schattierungen ſandte nach
Berlin NW. 32, „poſtlagernd Momus“, Lieder
jeder erdenklichen Art, die Componiſten waren auch
nicht faul, und die jungen Maler und Zeichner
ebenſowenig. Dazu wimmelten Chanſonetten und
Komiker, Reckturner und Jongleure, Tierbändiger
und Zauberkünſtler, Knockabouts, Clowns, Gedanken¬
leſer, Schlangenmenſchen, plaſtiſche Poſeuſen, Schnell¬
maler, Schnelldichter, Schnellmodelleure, Schnell¬
rechner, Mimiker, Negertänzer, Skandalfürſtinnen,
Antiſpiritiſten, Bauchredner, Zwerg- und Rieſen¬
menſchen, kurz alles herbei, was nur auf den
Namen Variété hörte und das Literariſch-Künſt¬
leriſche für Nebenſache erachtete. Sogar Herr Ahl¬
wardt kam.
All das bereitete Stilpen ein herzliches Ver¬
gnügen, und er bedauerte faſt, daß das Programm
des Momus ſo enge Grenzen hatte. Dabei war
er in Auslegung des Begriffes Äſthetiſch keines¬
wegs engherzig und legte es im Grunde mit
„irgendwie angenehm“ aus. Nur mit Aufgebot
von außerordentlicher Energie ließ er zumal weib¬
liche Artiſten ziehen, wenn ſie irgendwie angenehm
auf ihn wirkten, und gewaltig groß war die „Liſte
der für ſpäter notierten Mädchen“, die er zwar
[365]Viertes Buch, drittes Kapitel. nicht ſogleich brauchen konnte, denen er aber mit
väterlichem Wohlwollen erklärte: Später peutêtre!
Seine Haupthelfer waren der Zungenſchnalzer
und Martha die Muſe. Dieſe beiden beſaßen die
eingehende Fachkenntnis, die ihm, dem Organiſator
und Neuſchöpfer, doch abging.
Der Zungenſchnalzer wurde als „Choreograph“,
Martha als „Direktrice für Chanſon und verwandte
Gebiete“ engagiert. Der Bärenführer, der Peri¬
pathetiker und Kaſimir konnten in feſten Stellungen
nicht verwandt werden, doch übten ſie das Amt
lyriſcher Lektoren aus.
Kaſimir ſtöhnte am lauteſten unter dieſer Bürde:
— Lauter Joethes, Bacillenſchwärme von Joe¬
thes; es iſt ſehr ſcheußlich.
Und fortwährend zitierte er die ihm verfallenen
Lyriker mit dem Tone ironiſcher Ergriffenheit.
Der Peripathetiker mißbrauchte die ihm anver¬
trauten Gedichtblätter zu Manuſkripten, und der
Bärenführer erklärte, daß er nur über ſolche Lyrik
objektiv urteilen könnte, der deutſche Briefmarken
als Rückporto beigelegt ſeien. Im Übrigen inter¬
eſſierte der ganze Momus dieſe Drei nur inſofern,
als ſie durchaus wünſchten, auf dem Programm
der Première zu ſtehen. Stilpe war auch ganz
[366]Stilpe.damit einverſtanden, nur waren die bis jetzt von
ihnen vorgelegten poetiſchen Erzeugniſſe nach ſeiner
Meinung noch nicht momusreif.
— Druckreif und momusreif iſt ein Unterſchied,
meine Süßen! Ihr ſeid noch nicht auf der Höhe
des Brettls, ihr ſeid noch zu papieren! rief er ihnen
immer wieder zu.
Übrigens entſchied er nicht allein darüber;
Martha die Muſe hatte das Hauptwort dabei.
Wie er mitten im vergnügteſten Correſpondieren
war, trat ſie ein:
— Na, haben wir endlich ein paar Dichter?
— Nee, ich glaube nicht. Wir müſſen den
Stil erſt erfinden. Entweder fehlt ihnen der Mut
oder der Geſchmack zum Gaſſenhauer. Blos der
Zungenſchnalzer hat ein paar gute Sachen produ¬
ziert, und das Schönſte iſt, daß er ſie auch ſelber
ſingen kann. Er iſt überhaupt unbezahlbar, und
ich werde ihn zum Conrektor des Momus ernennen.
Er kann direkt Alles, nur muß man ihn eigentlich
erſt ein bischen kaſtrieren. Himmelſchreiend dieſe
Erotik! Die vier Tanzmädchen hat er ſchon voll¬
ſtändig verdorben, und ſie wollen nun ſchon gar
nichts mehr anziehn. Er übt jetzt ein Literatur¬
ballet mit ihnen ein und iſt ſchon bei den Roman¬
[367]Viertes Buch, drittes Kapitel. tikern: Pas de Tieck. Dann hat er mit den
drei Poſeuſen eine herrliche Nummer ausgeheckt:
Das Heinedenkmal. Die Idee iſt von mir, aber
ich muß ſagen: Er hat ſie direkt mit Diamanten
überſät. Er wird Heine ſelber darſtellen, im Bett
liegend, von anmutigen weiblichen Viſionen ergötzt.
Auch einen dreſſierten Bären hat er als Atta Troll
aufgetrieben. Na, Du wirſt ja ſehen! Es iſt eine
unbeſchreibliche Nummer! Damit die Antiſemiten
nicht Spektakel machen, laſſen wir darauf das
„Journaliſtiſche Trio“ folgen mit den drei jüdiſchen
Komikern. Sie ſind zwar ein bischen ruppig, aber
ohne Ruppigkeiten gehts nicht. Übrigens iſt mein
Text dazu um ſo feiner. Die Bande ſolls ſpüren!
Jetzt, wo ſie wiſſen, daß ich die Sache mache,
druckt kein Menſch unſre Waſchzettel mehr. Na,
dafür haben wir die Litfaßſäulen! Totſchweigen
giebts nicht! — Nur: Dieſe verfluchten Lyriker!
Schließlich muß ich alle Couplets alleine machen.
Wenn ich nur mehr Zeit hätte! Und dieſer Bären¬
führer, auf den ich ſo viel Hoffnung geſetzt hatte!
Der Menſch weigert ſich, regelmäßige Strophen zu
bauen und ſteift ſich fortwährend auf das, was
er „Fineſſe“ nennt. Der Peripathetiker thut auch
nicht, was man will, und Kaſimir kennt ſeit zwei
[368]Stilpe. Wochen blos noch ein Thema: Die Blutſchande.
Was ſoll man mit ſolchen Leuten machen? Die
Literatur ſitzt ihnen im Schädel wie eine Rieſen¬
trichine. Keiner begreift, daß wir die Bühne der
Zukunft gründen wollen! Sie werden heute wieder
anrücken und Vorſchuß verlangen. Ich zahle jetzt
aber nicht mehr in baar, ſondern in Viktualien.
Dabei hat ſich Kaſimir in die zweite Poſeuſe ver¬
liebt und will für ſie einen Seelenrhythmus dichten,
natürlich ohne Worte, blos „Geberden einer pro¬
funden Idiotie des Geſchlechtszentrums“. Das geht
noch über den Zungenſchnalzer! Dafür verlangt
der Bärenführer — den antierotiſchen Bauchtanz!
Nächſtens ſchmeiße ich alle Drei die Treppe hin¬
unter. Sie haben keinen Ernſt, weil ſie keine
Verantwortung haben!
— Gott, vorhin haſt Du ſo'n fideles Geſicht
gemacht, und jetzt biſt Du der richtige Direktor!
— Ach, ja, freilich! Weißt Du: Die ganze Ge¬
ſchichte wäre herrlich, wenn blos nicht dieſe ver¬
dammte Literatur dabei wäre. Natürlich bin ich
fidel! Ich habe ja was zu thun! Aber, wie geſagt:
Die Literatur! Wenn wir blos keine Literatur
brauchten!
In dieſem Augenblicke ſchoben ſich die Drei zur
[369]Viertes Buch, drittes Kapitel.Thüre herein, und der Bärenführer rief, indem er
Miene machte, ſich in einen Dufthaufen hellblauen
Muſſelins zu ſetzen:
— Verzeihe mir, Stilpe, verzeihe mir, wie geſagt,
ich bin betrunken, und Du mußt mein Couplet
nehmen! Es iſt ja ſo ſchön! Der Droſchkenkutſcher
Nr. 8715 hat mich dafür gratis fahren wollen!
Wirklich, wie geſagt, Du mußt es als Prolog von
mir deklamieren laſſen!
Und er ſchrie ganz wild, faſt ſchäumend:
Der Peripathetiker fang kindlichen Tones im
Refrain:
Der Bärenführer fuhr mit rollenden Augen fort:
24[370]Stilpe.
Der Peripathetiker ſäuſelte den Refrain drei¬
mal nach. Der Bärenführer aber, mit plötzlich ver¬
änderter, ſanft flehender Stimme ſprach:
— Ach, Stilpe, ſieh doch nur: Wie regelmäßig
dieſe Strophe iſt! Siehſt du, ich folge dir, ich thue
was du willſt! Ich mache, wie geſagt, regelmäßige
Strophen.
Und nun wieder mit dem knurrenden Zorn
eines Ebers:
— Wie geſagt, ſelbſtverſtändlich führe ich die
Strophe regelmäßig durch alle Schnäpſe fort:
[371]Viertes Buch, drittes Kapitel.
— Genug! ſchrie Stilpe. Biſt Du verrückt!?
Denkſt Du, ich will mir mein Publikum mit hoher
Literatur verjagen? Du biſt ganz unbrauchbar!
Du kannſt beim Momus die Lichter putzen!
Der Bärenführer war tief betrübt und ſetzte ſich
in die Sophaecke.
Der Peripathetiker aber ſchüttelte den Kopf:
— Ja, aber, was willſt Du denn haben? Dieſes
Schneeköniglied iſt doch eſſenzhaft tief und dabei
heiter wie eine weiße, ſegelnde Wolke über Fabrik¬
ſchlöten. Es hat etwas modern-goliardiſches. Nicht
wahr, Mathilde: Es iſt ein ſchönes Lied!?
Die Muſe lächelte:
— Ach ja, es iſt ganz nett, und man könnte es
ſpäter ſchon mal ſingen laſſen, als Alkoholiſten¬
intermezzo, aber für den Anfang . . .? nein: Ihr
müßt euch mehr an den Brettlſtil anlehnen vorder¬
hand. Habt ihr denn gar nichts Verliebtes?
Der Peripathetiker machte ein mild-ernſtes Ge¬
ſicht und ließ ſeine rechte Hand in der linken
Bruſttaſche des Smokings verſchwinden, der jetzt
ſchon ein bischen ſpeckig geworden war. Dann
entfaltete er eine Nummer der Kreuz-Zeitung und
las aus dieſer, aber nicht aus ihrem gedruckten
Texte, dies:
24 *[372]Stilpe.
Er las das mit einem ſeltſamen Flüſtertone,
flehend.
Stilpe ſchüttelte den Kopf:
— Aber wer ſoll denn das ſingen! Das iſt ja
Lyrik! Himmliſche Mächte: Was ſoll ich mit Lyrik
anfangen? Das geht ja nicht! Das iſt ja viel zu
zart! Ein Tingeltangel iſt doch kein Leſekränzchen!
Der Peripathetiker ſteckte die Kreuzzeitung ruhig
in die Hoſentaſche und ſagte blos:
— Ich dachte, es paßte. Ich fände das Gedicht
ſehr paſſend, wenn es ein junger müder Mann an
ein kleines Mädchen hinſänge, und er nähme ihre
[373]Viertes Buch, drittes Kapitel. Hand und küßte ihr dann die Füße. Aber ich habe
auch komiſche Geſänge. Ein Lied vom geſchorenen
Pintſcher habe ich einmal gemacht. Ich werde es
ſuchen.
Er ſetzte ſich neben den Bärenführer und ſtrich
mit ſeinen ſchönen ſchmalen Händen den langen
Apoſtelbart.
Kaſimir grinſte:
— Hehe, Du haſt wohl genug, Direktor. Weißt
Du, meine polniſche Rhapſodie werde ich Dir auch
hier laſſen. Auf dieſem ſehr umfangreichen Schreib¬
tiſch da. Hehe, ſie wird auch nicht paſſen. Du
willſt natürlich, hehe, Humor! Und ſo mußt Du
Herrn Stinde engagieren oder dieſen, äh, wie heißt
doch der Herr, dieſen dicken deutſchen Biertrinker,
hehe, richtig: Hartleben, hehe; dieſer Pilſener-Bier-
Joethe paßt für Dich ſehr gut. Das iſt ein her¬
vorragender Dichter, hehe, geradezu der Onkel der
deutſchen Poeſie. Ich liebe ihn, hehe! Er hat
gerade ſo einen ſchönen Hornkneifer wie Du.
Stilpe lächelte. Gegen dieſe Manier fühlte er
ſich gewappnet.
Aber wütend war er doch. Sie fingen alſo
ſchon an, ihn zu verachten. Blos, weil er klug
war. Weil er langſam vorgehen wollte. Nicht
[374]Stilpe. mit dieſer tolpatſchigen Haſt junger Jagdhunde,
ſondern mit der Ruhe bewußter Verantwortlichkeit.
Unter ſeiner Freude an der bewegten Arbeit
eines Sprechſtunde abhaltenden Theaterdirektors hob
ſich mehr und mehr ein Ingrimm gegen die Leute,
mit denen zuſammen er eigentlich gedacht hatte, das
Momus-Theater zu machen. Ihre Unfähigkeit, für
die Zwecke dieſes Theaters zu arbeiten, empfand er
nicht als einen Mangel ihrer Begabung, ſondern
er ärgerte ſich darüber, daß ſie auch in dieſem
Falle keinerlei Konzeſſionen an den Begriff des
Zweckes in der Kunſt machten, und er beneidete ſie
im Grunde darum. Zwar ſagte er ſich manchmal,
daß ſich darin auch Schwäche und Zügelloſigkeit
offenbarte, aber ſeine eigene Fähigkeit, gerade für
das Momus-Theater zu arbeiten, erſchien ihm als
ein Anzeichen ſeiner künſtleriſchen Inferiorität.
Er fing mit einemmale an, die „Dichterei“ zu
haſſen, und es war ganz ehrlich, wenn er der
Muſe gegenüber es verwünſchte, daß die „Lite¬
ratur“ ein Hauptprogrammpunkt ihrer Gründung
war. Und dabei hätte er doch auch um Alles nicht
ein bloßer Tingeltangeldirektor ſein wollen. Der
Gedanke, auf ſo paradoxe Weiſe der Kunſt zu
dienen, kitzelte ihn angenehm.
[375]Viertes Buch, drittes Kapitel.
Aber gerade für das Eigentliche des Unter¬
nehmens, gerade für die Verbindung des wertvoll
künſtleriſchen mit dem Tingeltangelhaften, that er am
wenigſten. Dafür mußten der Zungenſchnalzer und
die Muſe die Hauptarbeit leiſten. Er warf nur zu¬
weilen „Ideen hinter die Kuliſſen“, ſchrieb ein paar
Couplets von geiſtreicher Frechheit und entfaltete
im Übrigen eine mehr fahrige als zielbewußte
Thätigkeit.
Beſonders groß war er in der Anſchaffung ſchön
bedruckter Stoffe aus England und Belgien. Auch
ließ er ausgezeichnete Plakate lithographieren und
drucken. In Paris und London engagierte er
brillante Tänzerinnen und Sängerinnen zu ſehr
hohen Gagen; das Beſte, was das Ausland an
Variété-Theaterkunſt hervorbrachte, verpflichtete er
dem Momus-Theater. In gewiſſen Äußerlichkeiten
war er ſehr erfinderiſch und originell. So ſtellte
er anſtelle von Logenſchließern hübſche junge
Mädchen in allerliebſt dekolettierten Kleidern an,
ſorgte für ſchöne Blumenverkäuferinnen und be¬
nutzte ſeine vorzüglichen Verbindungen in der
beſſeren Berliner Halbwelt zu einer auf das Prinzip
der Auswahl des Beſten hin ſyſtematiſierten Ver¬
teilung der Freibillets.
[376]Stilpe.
Der Pole karakteriſierte das Ganze in ſeiner
Weiſe ſo:
— O Herr Direktor, Du biſt geradezu dſchenial!
Du eröffneſt Ausblicke in geradezu orientaliſche Kul¬
turen! Du ſollteſt direkt ein literariſches Bordell
gründen! Weißt Du, hehe, wo die Mädchen auch
gleich dichten oder Joethe deklamieren. Hehe, was
Du da für reizende Divänchen in die Logen geſtellt
haſt! Und dieſe köſtlichen Roſa-Ampeln! Hehe, und
daß man die Logenthüren von innen verriegeln und
an der Brüſtung die Vorhänge zuziehen kann, —
daran erkenn ich den Meiſter! Und ſo ſollſt Du
überhaupt gar keine Vorſtellungen geben laſſen,
ſondern blos, hehe, Eintrittspreiſe verlangen; hehe:
„Damen zahlen die Hälfte.“
— Na, und wenn es ſo wäre! entgegnete
Stilpe unerſchrocken, wäre das nicht auch ſchon Ver¬
dienſt genug? So ein bischen angewandte Erotik
iſt genau ſo wichtig, wie eure ganze Schreiberei. Und
deshalb ärgert ihr euch eben: Weil Ihr ſeht, daß ich
ins Leben wirken will mit dem Momus und nicht
blos in die Literatur. Ihr ſeid die großen Geiſter;
gut, ſchön, eminent: Ich laß euch eure Lorberkränze.
Ich bin ein einfacher Pionier des neuen Lebens.
Nur der Zungenſchnalzer verſteht mich, weil er den
[377]Viertes Buch, drittes Kapitel. Willen der Zeit verſteht. Und denkt ihr denn, ich
habe den alten Hut voll Geld gekriegt, um eine
Bouillonkultur Seelenkrebs anzulegen? Ich habe
das Amt erhalten, die Berliner in ein künſtleriſches
Leben hinüber zu amüſieren, nicht aber, ſie mit
Literatur zu mopſen. Der Zweck des Momus iſt
direkt, eurer ganzen Literatur den Reſt von In¬
tereſſe zu nehmen, den ſie etwa noch hat. Wir wollen
die Berliner äſthetiſch machen. Es giebt hier immer
noch Menſchen, die Bücher leſen. Das muß aufhören.
In den Spitzenunterhöschen meiner kleinen Mädchen
ſteckt mehr Lyrik, als in euren ſämtlichen Werken, und
wenn die Zeit erſt ſo weit iſt, daß ich ohne Unter¬
höschen tanzen laſſen kann, dann werdet ſogar ihr
begreifen, daß es überflüſſig iſt, andere Verſe zu
machen, als ſolche, die bei mir geſungen werden.
Umgotteswillen, begreift doch die Situation! Schöne
Kleider, ſchöne Friſuren, ſchöne Arme, Brüſte, Beine,
Bewegungen — darauf kommts an. Erfindet mir
Tänze, dichtet Pantomimen, löſt mir das Problem
der Emancipation vom Tricot, — das ſind Sachen,
die ich brauchen kann. Und wenn ihr ſchon
durchaus Verſe machen müßt, ſo vergeßt doch nicht,
daß ſie von ſchönen Mädchen geſungen werden, die
nicht mit leeren Corſetts auftreten. Und ſeht euch
[378]Stilpe.mal die bunten, feinen Stoffe da an! Was müſſen
das für Verſe ſein, die mit ſolchen Farben, ſolchen
Muſtern konkurrieren wollen! Zieht doch eure Verſe
endlich mal aus! Ich laſſe Rops tanzen, — habt
ihr doch die Kuraſche, Rops zu dichten! Unſer
Theater heißt doch Momus und nicht Stöcker.
Seid ihr denn Predigtamtskandidaten? Mein Gott,
was thät ich, wenn ich auf euch angewieſen wäre!
So polterte er ſich aus und genügte ſeinem
Bedürfniſſe, ab und an verwegene Worte zu ballen.
Aus dieſem Grunde waren ihm die renitenten
Dichter, obwohl er ſich herzhaft über ſie ärgerte,
doch unentbehrlich. Er konnte „an ſie hin reden“
und ſich bei dieſer Gelegenheit klar machen, worauf
hinaus er eigentlich wollte. Dieſe Art, ſich in
Feuer zu reiben, that ihm gute Dienſte. Er fand
ſich mit ſeinem literariſchen Gewiſſen ab, indem er
ſich mit den ungebärdigen Poeten abraufte. Wären
ſie nicht immer wieder aufgetaucht, ſo hätte er die
Literatur überhaupt vergeſſen und wäre ganz in
Mußlin und Seide aufgegangen.
Viertes Kapitel.
Das leipziger Cénacle, das durch die „fatale
Stilpe-Sache“ damals geſprengt worden war, hatte
ſich ſchließlich doch wieder zuſammengefunden.
Freilich ohne Stilpe. Dieſer war um die Zeit der
neuen Vereinigung gerade in den Vollgenuß ſeiner
kritiſchen Berühmtheit getreten und hatte auf die
Einladung, der erſten Sitzung in Leipzig beizu¬
wohnen, eine ſchnöde Abſage erteilt. Es war darin
von Kinderſchuhen die Rede, die er den Herren
gerne zur Verfügung ſtellen würde, wenn er nicht
befürchten müßte, daß auch ſie ihnen noch zu groß
ſeien; im übrigen ſei er bereit, die poetiſchen Werke der
erlauchten Cénacliers mit derſelben Objektivität zu
tranchieren, mit der er die übrigen Erzeugniſſe des
dichteriſchen Germaniens der öffentlichen Meinung
vorſetzte.
[380]Stilpe.
Dieſe Bemerkung war das Boshafteſte in dem
Briefe, denn die Herren Barmann, Stöſſel, Wippert
und Girlinger hatten ihren künſtleriſchen und
dichteriſchen Jugendplänen längſt den Abſchied ge¬
geben. Barmann war Gymnaſiallehrer geworden,
Stöſſel hatte reich geheiratet und gab vor, muſik¬
geſchichtliche Studien zu treiben, Wippert war auf
dem Umwege über orientaliſche Philologie langſam
zur Medizin gelangt und hatte eine Klinik für
Frauenkrankheiten, Girlinger ſteuerte auf die Lauf¬
bahn eines königlichen Staatsanwalts zu. Wenn
ſie ſich trotzdem zu einem neuen Aufguß des Cé¬
nacles vereinigten, ſo geſchah es in einer gewiſſen
melancholiſchen Stimmung und in der Hoffnung,
unter ſich wenigſtens eine Art Abglanz jenes ein¬
bildungsvollen Übermutes zu erzeugen, an den ſie
ſich nicht ohne ein leiſes Hochgefühl erinnerten.
Es war ihnen im Grunde doch leid, daß jene über¬
ſchwänglichen Einbildungen einer künſtleriſchen Zu¬
kunft nicht zur Wahrheit geworden waren. Sie
geſtanden ſich das zwar nicht ein, konſtruierten ſich
vielmehr ein Gefühl von ernſter Zufriedenheit dar¬
über, daß ſie ſich in bürgerlich gefeſtete Zuſtände
und in einen praktiſchen Wirkungskreis hinüber¬
gerettet hätten, aber es gewährte ihnen doch Genug¬
[381]Viertes Buch, viertes Kapitel. thuung, daß ſie auf ſo etwas wie eine geiſtige
Sturm- und Drangperiode zurückſchauen konnten.
Auch hegten ſie die ſtille Hoffnung, daß ſie viel¬
leicht viribus unitis doch noch die Fähigkeit beſitzen
möchten, wenigſtens unter ſich ein bischen über die
Stränge zu ſchlagen.
Da war nun die Abſage Stilpes, vor deſſen
literariſcher Stellung ſie doch etwelchen Reſpekt
hatten und in dem ſie den durchgedrungenen Cé¬
naclier verehrten, ſehr fatal geweſen. Ohne ihn
entwickelte ſich das Cénacle ſtark ins hausbacken
Solide, und eigentlich gabs eine Wiedergeburt jenes
Debattierklubs auf dem Gymnaſium, nur daß mit
der Unreife auch der Enthuſiasmus fehlte.
Es wurde aus dem Cénacle eines der kritiſchen
Konventikel, wie ſie ſich jetzt gerne um die Lite¬
ratur und Kunſt herumgruppieren, wo man ſich
über das Neue unterhält, die Entwickelung mit
bald wärmerer, bald kühlerer Anteilnahme verfolgt,
und wo der heimliche Leſſing dieſer kritiſch noch
immer nicht unter einen Hut gebrachten Zeit in
vielen Exemplaren wächſt, blüht und gedeiht.
Ein Hauptſport dieſes zeitgemäß gewordenen
Cénacles war die Pſychologie, dieſe Lieblings¬
neigung aller unproduktiven Köpfe, die zu klug und
[382]Stilpe.zu ſtolz ſind, um zu dilettänteln. An Stoff ge¬
bricht es dieſem Sporte niemals, aber hier war
er beſonders üppig und intereſſant, weil die Céna¬
cliers in ihrem ehemaligen Freunde, dem Ex-
Schaunard Stilpe, ein beſonders ergiebiges Objekt
hatten.
Die Debatte drehte ſich recht häufig um ihn,
und beſonders Girlinger ward nicht müde, ihn zu
viviſecieren. Er ſprach es direkt aus, daß Stilpe
für ihn das intereſſanteſte Schauſpiel ſei, und daß
er ihn ganz ſicher niemals aus den Augen ver¬
lieren werde. Er hatte natürlich auch ſchon eine
Prognoſe bis ins Letzte in Bereitſchaft, hütete
ſich aber doch, ſie mit Beſtimmtheit verlauten zu
laſſen. Die Kühnheit Wipperts, der im Geiſte ſchon
das Sterbebett Stilpes in der Charité mit der
Aufſchrift del. trem. ſah, beſaß er doch nicht.
Dafür dachte er ſeinem Metier zufolge mehr an
Plötzenſee. Barmann, der in Secunda deutſche
Literaturgeſchichte traktierte, huldigte höheren Per¬
ſpektiven; er konſtruierte ſich einen modernen Fall
Günther. Stöſſel war im Grunde voll phan¬
taſtiſcher Erwartungen:
— Paßt auf: Plötzlich tritt er mit einem Werke
hervor. Jetzt iſt alles Schutt und Scherben. Aber
[383]Viertes Buch, viertes Kapitel. mit einem Male wird er ſich zuſammenfaſſen und
aufraffen, und dann zeigt er erſt ſeine wahre Ge¬
ſtalt, ſeine innerliche Kraft. Vielleicht muß er blos
erſt heiraten!
So pſychologiſierte jeder nach ſeinen Erfahrungen,
und Stilpe ward nicht müde, in bunter Folge jeder
Anſicht neue Nahrung zu geben.
Zu einer konkreten Zuſammenfaſſung reeller
Unterlagen für dieſe pſychologiſchen Bemühungen
kam es aber erſt als Girlinger nach Berlin ver¬
ſetzt wurde.
Es war etwa über ein Jahr nach der Grün¬
dung des Momus, da ſandte Girlinger folgenden
Bericht quoad Stilpe
an das Leipziger Cénacle:
Endlich iſt es mir gelungen, nicht blos Authen¬
tiſches über den Fall Stilpe-Momus zu erfahren,
ſondern auch unſern ehemaligen Schaunard ſelber
[384]Stilpe.aufzufinden. Ich hätte euch ſchon früher allerlei
mitteilen können, aber ich wollte mit Thatſachen
aufwarten und nicht blos referieren, was ihr aus
den Zeitungen von damals ebenſogut wißt, wie
ich, und was doch durchweg mehr oder weniger
feindliche Preßmache war.
Ich verkehre hier ab und zu mit Journaliſten und
habe in dieſer Geſellſchaft zuweilen verſucht, das
Geſpräch auf Stilpe zu bringen, aber es iſt mir
nicht gelungen, von dort her mehr zu vernehmen
als Äußerungen einer fertigen Verachtung, die ſich
nicht zur Darlegung von Gründen herbeilaſſen
wollte. Stilpe gilt in dieſen Kreiſen einfach als
bête noire, und ſchon aus Korpsgeiſt vereinigt man
ſich zu einſtimmiger Verdammung des räudigen
Schafes. Nur einige geben noch zu, daß der
„Menſch“ ein „ſtarkes pamphletiſtiſches Talent be¬
ſeſſen habe“, aber auch ſie fügen die Bemerkung
daran, daß er „nicht einmal für einen Schmäh¬
ſchreiber genug Charakter beſitze“. Den Momus-
Krach ſtellen ſie als wohlverdiente Strafe hin 1) für
die Frivolität, die das Gepräge dieſer ganzen
Gründung geweſen ſei und 2) für das „ans
Gaunerhafte grenzende Gebahren, das Stilpe in
der ganzen Angelegenheit gezeigt haben ſoll und
[385]Viertes Buch, viertes Kapitel. zwar ſowohl bei Aufbringung wie bei Verwendung
der Momusgelder.
Durch Zufall lernte ich dann eine Gruppe
von Dichtern kennen, die über jedem Verdachte
journaliſtiſcher Verbindungen ſtehen, weil ſie es
ſchon längſt aufgegeben haben, ihre Erzeugniſſe
durch die periodiſche Preſſe zu verbreiten, und die
gerade über den Momusfall mitreden können, weil
ſie an ihm beteiligt geweſen ſind. Da ſie trotzdem
im Grunde von Stilpe nicht viel wiſſen wollen
(weil er, wie ſie ſagen, den Momusgedanken
proſtituiert hat), ſo iſt es erlaubt, ihre Ausſagen
wenigſtens für inſoweit objektiv zu halten, als die
Herren überhaupt einer objektiven Betrachtung der
Dinge dieſer Welt fähig ſind.
Von dieſen Herren habe ich nun dies erfahren:
Das Momustheater erlitt ein vollkommenes Fiasko,
weil es als Tingeltangel „immerhin“ zu künſt¬
leriſch, als Kunſtinſtitut aber viel zu ſehr Tingel¬
tangel geweſen ſei. Das Publikum lehnte „das
bischen Literatur und Kunſt“, was dabei mit¬
ſpielte, ſchon als zu viel ab, und die Preſſe, die
im Verein mit dem „Schock Berliner Kunſt- und
Literaturfreunde“ ſich „wenigſtens den Anſchein
gab, etwas Künſtleriſches erwartet zu haben“, er¬
25[386]Stilpe. klärte mit „der ganzen Entrüſtung lackierter Elite¬
menſchen“, daß ſie von Literatur und Kunſt im
Momus nicht mehr zu finden vermöchten, als im
„Malepartus.“ Das ſei nun freilich zuviel geſagt,
meinten meine „Dichter“, und ſie führten zum Beweis
der „Nüance von reeller Litteratur im Momus“
jeder eine Programmnummer an, die den Citierenden
zum Verfaſſer hatte. Ich muß geſtehen, daß ſchon die
Titel dieſer Programmnummern mich in Staunen
verſetzten, und als mir eine Probe „interpunktions¬
loſer Lyrik“ vorgetragen wurde, die im Momus
unter „Pizzicatobegleitung von acht Bratſchen“ dekla¬
miert worden iſt, da begriff ich, daß das dem Publi¬
kum zu viel geweſen war. Dieſe merkwürdigen
Dichter amüſierten ſich übrigens ſelber am meiſten
über ihre Programmnummern, und ich vermochte
mir nicht darüber klar zu werden, ob ſie dieſe
Produkte ernſt oder als einen Ulk nahmen, den ſie
ſich mit Stilpe erlaubt hatten.
Es war bei der Première ſehr lärmhaft zu¬
gegangen, und zwar hatten, wie meine Dichter
behaupten, zwei Parteien „um die Palme des
Radaus gerungen“: In erſter Linie die journa¬
liſtiſchen Feinde Stilpes und dann ein Aufgebot
der chriſtlichen Jünglingsvereine. Nach Allem,
[387]Viertes Buch, viertes Kapitel.was ich zumal über die Balletleiſtungen des
Momus vernommen habe, muß ich erklären, daß
ich die Oppoſition derart inkorporierter Jünglinge
verſtehe. Es iſt auch ſehr bald die Polizei gegen
den Schnitt der Balletgewänder im Momustheater
eingeſchritten.
Dieſer Umſtand in Verbindung mit dem ein¬
mütigen Verdikte der Preſſe, daß der Momus
durchaus kein Kunſtinſtitut im höheren Sinne ſei,
hat den Aufſichtsrat der Momus-Geſellſchaft, alſo
die Geldgeber, veranlaßt, ſich den Paragraphen in
Stilpes Kontrakt zunutze zu machen, der es ge¬
ſtattete, den „artiſtiſchen Direktor“ zu entlaſſen,
freilich unter Zahlung einer ſehr beträchtlichen Ent¬
ſchädigungsſumme für dieſen. Der leiſe unter¬
nommene Verſuch, dieſe Entſchädigung durch allerlei
Anſchuldigungen bedenklicher Natur in punkto
Geſchäftsgebahrung zu umgehen, iſt ſchließlich nicht
gemacht worden, aber ſchon der Anſatz dazu hat
genügt, jenes von mir bereits erwähnte Gerücht
von „Gaunereien“ ꝛc. zu erzeugen.
Das Momustheater iſt ſehr bald an einen
regelrechten Tingeltangeldirektor übergegangen, und
man hat eine Weile geglaubt, daß Stilpe ſelbſt
mit ſeiner Entſchädigungsſumme der Hintermann
25 *[388]Stilpe. dieſes Variété-Mannes geweſen ſei. Der Um¬
ſtand, daß ſeine damalige Geliebte, eine Ham¬
burger Chantantſängerin, die Diva des neuen
Momustheaters wurde, deutete wohl darauf hin,
aber die Stellung eines Hintermannes ſcheint mir
nicht im Charakter Stilpes zu liegen.
Zweifellos und leider in Stilpes Charakter ſehr
erſichtlich begründet iſt dagegen die Thatſache, daß
er ſich nach ſeiner Entlaſſung einem völlig ver¬
rückten Lotterleben hingegeben hat. In ſeiner Eigen¬
ſchaft als „Direktor“ hatte er eine unendliche
Schaar von Artiſten und Artiſtinnen kennen gelernt,
und er umgab ſich nun mit einem wahren Heer¬
bann von ſtellenloſen Sängerinnen und Tänzerinnen.
Es wird euch genügen, das Faktum zu vernehmen,
um euch ein Bild davon zu machen, in welchem
Stile er eine Weile gelebt hat.
Meine dichteriſchen Gewährsmänner machen
ihm nicht ſowohl dieſes Faktum, als den Umſtand
zum Vorwurf, daß er jede Beziehung mit ihnen
und überhaupt mit dem, was ſie Literatur und
Kunſt nennen, abgebrochen habe. Sie ſagen in
ihrem Stile ſo: „Er ſumpfte wie ein Kapitaliſt,
der ſich eine Leibgarde von Mitſumpfern aushalten
muß, weil es ihm an Geiſt und Größe gebricht,
[389]Viertes Buch, viertes Kapitel. allein oder mit erlauchten Leuten congenial zu
ſumpfen. Er fing wieder an, ſchwere Getränke
nötig zu haben, wo dem Erleſenen ſchon Gilka ge¬
nügt, um den Kontakt mit dem Weltgeiſte zu
finden. Auch bei ihm war es die Verzweifelung
der Impotenz, die ihn zwang, für teures Geld
wertloſe Räuſche zu kaufen. Man brauchte ſich
ſchließlich kein Gewiſſen daraus zu machen, ihn
anzupumpen wie einen Kunſtfreund von hoher
Steuerklaſſe.“
Dieſe Verachtung von dieſer Seite her beſagte
für mich eigentlich den tiefſten Stand der Stil¬
piſchen Dinge.
Unſer ehemaliger Schaunard, ſo ſagte ich mir,
hat alſo den brutal ſinnlichen Zug ſeines Weſens
vollkommen Herr über ſich werden laſſen und iſt,
da ihm mehr Geld zur Verfügung ſtand, als für
ihn gut war, in gemeiner und geiſtloſer Schwel¬
gerei untergegangen. Der andere Zug ſeines Weſens,
und wenn es auch blos eine untergrundloſe Ver¬
blendung war: Das Hinaufbegehren in freie,
ſchöpferiſche Geiſtigkeit, die Zuverſicht, aus ſich
etwas Großes, einen Poeten zu machen, das hat er
ganz verloren. Aber ich fügte in mir den Ge¬
danken bei: Er muß, wenigſtens in vorüber wehen¬
[390]Stilpe. den Augenblicken der Klarheit, wenn der Alkohol
verſagt, ſehr unglücklich dabei ſein.
Deshalb gab ich mir Mühe, ſeiner habhaft zu
werden. Aber es gelang mir lange Zeit nicht. So
lange er Geld hatte, wohnte er, wenn er in Berlin
war, bald in dieſem, bald in jenem Hôtel, und
häufig war er offenbar von Berlin abweſend, viel¬
leicht an den Orten, wo die eine oder andere ſeiner
Favoritinnen gerade ein Engagement an einem
Tingeltangel hatte. Jetzt aber haben ihn die Fa¬
voritinnen ganz ausgezogen, und — er hat ſelber
ein Engagement an einem Tingeltangel hier.
Ich erfuhr, daß er in einem der kleinen Chantants
draußen in Berlin N., wo die Chauſſeeſtraße an¬
fängt, als Komiker auftrete, und ich beſchloß ſofort
den nächſten Abend zu einem Beſuche in dieſem
Lokal, das ſich Zum Nordlicht nennt, zu be¬
nutzen.
Das Milieu brauche ich euch nicht zu ſchildern;
ihr kennt es aus eigener Erfahrung und aus den
Novellen der erſten Periode unſres deutſchen
Naturalismus. Ich muß ſagen: Mit einer wahren
Angſt ſah ich dem Auftreten Stilpes auf dieſer
Bühne entgegen, auf der ſich im Übrigen nur
Chanſonetten letzten Ranges produzierten. Au,
[391]Viertes Buch, viertes Kapitel. dem Programm ſtand er als — „Rudolph Schonaar“
verzeichnet. Iſt das nun ein Stück Selbſtironie?
dacht ich mir; hat er wirklich noch den Humor,
ſich über ſich ſelbſt luſtig zu machen? Wie wird er
blos ausſehen!? Und, mein Gott, wie wird er
ſingen?!
Ich war auf alles mögliche gefaßt, aber nicht
auf das, was kam.
Daß ich es kurz ſage: Es war eine Leiſtung!
Ich bin ja freilich kein Kenner auf dieſem Gebiete,
aber das getraue ich mir zu ſagen: In ſeiner Art
war die Charge, die unſer Schaunard von ehedem
darſtellte, ein brillantes Stück grotesk-realiſtiſcher
Tingeltangelkunſt. Es war im Grunde nieder¬
drückend für mich, was ich ſah, und doch ging ein
Gefühl nebenher, das ich ſo ausdrücken möchte:
Der Kerl imponiert mir doch! So ſich über ſich
ſelber zu ſtellen mit den Mitteln einer zwar
niedrigen, aber in ihrem ganzen Stile fabelhaft
erfaßten Kunſt, ſo das ganze traurige Ergebnis
ſeines Lebens mit grotesker Laune tragikomiſch dem
Pöbel vor die Füße zu werfen, ſo von oben herab
auf ſich ſelber herumzutreten und doch den Ein¬
druck eines Mannes zu machen, der ſich dabei
amüſiert, — wißt ihr: Das iſt kein gewöhnliches
[392]Stilpe. Stück, da ſteckt trotz Allem eine künſtleriſche Per¬
ſönlichkeit dahinter.
Alſo ſtellt euch vor: Stilpe trat als verlumpter,
verſoffener alter Dichter auf. Lange graue Haare,
zerknüllter Cylinder, Bratenrock, flatternder Künſtler¬
ſhlips, — dies alſo die alte ſchablonenhafte Figur
des idealiſtiſchen Dichters in übler Vermögenslage.
Aber nun hättet ihr ſehen ſollen, wie das Geſicht,
die Bewegungen, die Worte dazu paßten. Zum
Geſicht hatte er freilich keine Kunſt nötig gehabt:
Dieſe aufgedunſenen Züge, dieſe alkoholiſch poröſe,
kupferige Naſe, dieſe ſchwimmenden, unſtäten Augen,
— das war leider Alles Natur. Auch die Be¬
wegungen, dieſes Fallenlaſſen der Arme, die dann
an den Schenkeln herumſuchten und taſteten, dieſes
nervöſe Zucken der Schultern, dieſes zitternde Auf¬
legen der rechten Hand auf die Stirne, dieſes
langſame Auf- und Niederneigen des Kopfes, dieſes
Nachſchleifen der Füße beim ſchwankenden Gange, —
auch dies war im Grunde Natur, nur unter¬
ſtrichen, perſpektiviſch berechnet. Aber nun: Was
er ſprach und ſang!
Es war ſo eine Soloſzene, wißt ihr: Monologe
mit Geſangseinlagen wechſelnd; man kennt das ja;
dieſe Geſchichten ſind eigentlich nicht mehr modern;
[393]Viertes Buch, viertes Kapitel. ein paar haben ſich indeſſen ſogar auf der großen
Bühne erhalten. Aber Stilpe hat, ich ſage es ohne
Überſchwänglichkeit, ein Kunſtwerk daraus gemacht.
Ich wäre auch ergriffen zwiſchen Lachen und Grauſen
hin- und hergeworfen worden, wenn kein perſön¬
liches Intereſſe mitgewirkt hätte.
Er kam langſam, ruckweiſe ſchwankend ans
der linken Couliſſe und bewegte ſich im Zickzack,
ſcheu ſich umſehend, nach einer Bank rechts. Wie
er ſich auf die hinfallen ließ, wie er den Cylinder
müde abnahm, ſich durch die Haare fuhr und nun
mit einem leeren, ängſtlichen Blick rund im Zu¬
ſchauerraum herumſah, das war für mich ſchon
ein Eindruck, wie ich ihn ſelten von einer Bühne
herab gehabt habe. Plötzlich kicherte er, bückte ſich
und hob einen Zigarrenſtummel auf, griff dann
läſſig an ſich herum, fuhr ſuchend in die Taſchen,
zog die Hände reſigniert heraus und ſagte dann
leiſe vor ſich hin: Ja, Feuer! Is nich!
Wieder ein paar Blicke im Kreiſe. Dann plötzliches
Aufrichten und im Vorwärtsſchreiten das Bemühen,
nicht zu ſchwanken, ſondern anſtändig, mit Würde
zu gehen. Und nun, an der Rampe, eine höfliche
Verbeugung vor dem Baßgeiger und im Tone
vollendeter Höflichkeit mit gebrochener Stimme:
[394]Stilpe.Dürfte ich Sie um etwas Feuer bitten, werter
Herr?
Er erhält ein Streichholz, verbeugt ſich wieder¬
um ſehr höflich und zündet ſich den Stummel an;
ſtößt die Tabakwolken mit Genuß von ſich, betrachtet
den Stummel mit Zärtlichkeit, lächelt und ſagt: Sie
müſſen nämlich wiſſen: Ich bin auch Künſtler!
Der Baßgeiger ſieht ihn fragend an.
— Ach nein, ſo ſchön geigen kann ich nicht.
Nein. Aber — dichten! Haben Sie keine Kindtaufe
in Ausſicht? Ich machs billig. Wenn nur vom Eſſen
was übrig bleibt . . . Dies ſehr demütig, traurig.
Aber auf einmal wird er wild und fängt an
zu ſchimpfen: Auf das Geſindel, das Geld und kein
Talent hat, auf alle, die ihn verachten, weil ſie
Kameele ſind, während er ein Genie iſt u. ſ. w. —
Ich ſage euch: Ein fabelhafter Ausbruch mitten
in den johlenden Mob hinein, der ſich königlich
zu amüſieren anfängt, während der Dichter, an der
Rampe hin- und herrennend wie ein Eisbär im
Käfig, Zorn, Wut, Verachtung nach allen Rich¬
tungen ſchleudert.
Ich hatte die Empfindung, daß Stilpe dies
alles improviſierte.
Dann fiel er wieder in den demütigen Ton und
[395]Viertes Buch, viertes Kapitel. bat um Verzeihung und ein Glas Gilka. Nachdem
ihm dies hinaufgereicht worden war und er es mit der
Haſt eines Verdurſtenden hinuntergeſtürzt hatte, er¬
klärte er, nun wolle er auch nicht ſo ſein und
ſeinerſeits etwas zum Beſten geben. Und er be¬
gann im Schauerballadenſtil ſein Leben, das Leben
des verkommenen Genies, herunterzuſingen.
Es war einfach grauſig, ſag ich euch, wie er
immer ſich ſelber als zweite Perſon behandelte und
gleichſam mit dem Stocke auf ſich wies, wie die alten
Jahrmarktsmorithatenſänger auf die warnenden
Exempel. Dabei ſtellte er in großen Zügen wirk¬
lich ſein eigenes Leben dar, natürlich grotesk ver¬
zerrt und mit burlesken Beigaben. Aber ich habe
dieſes ſein Leben nie mit ſo greller Deutlichkeit
erkannt, wie während dieſer Ballade, die überdies
als parodiſtiſche Leiſtung ein Leckerbiſſen zu nennen
iſt. Am Schluſſe immer der Kehrreim:
Nachdem er die Ballade zu Ende geſungen
hatte, trat er unter johlendem Beifall ab. Der
[396]Stilpe. Beifall hielt an, und er erſchien wieder, trat ganz
an die Rampe vor und ſagte: „Übrigens haben
Sie mich vorhin geſtört. Ich bin nicht hier her¬
gekommen, Ihnen was vorzuflöten.“ Dann ganz
leiſe: „Es iſt doch kein Schutzmann unter
Ihnen ...?...“ Rufe aus dem Publikum: Ih
wo! — Stilpe: „Ich ... ich... möchte mich
nämlich erhängen.“
Ihr werdet es kaum glauben, aber das wurde
in einem Tone geſagt, daß ſelbſt dieſes Publikum
erſchrak. Aber nun ſchlug Stilpe eine Lache auf:
Sie denken wohl, das iſt unangenehm? Im
Gögenteil! Ich habe mir ſagen laſſen, man erlebt
da ſeine ſchönſten Sachen alle noch einmal. Jotte
nee, was ick mir auf Laura'n freue!
Und jetzt folgte ein bockiges Herumſtolzieren mit
vorgeſtrecktem Bauche, eine laszive Szene ohne Worte,
die in mir direkt den Staatsanwalt wachrief. Ge¬
mein! Gemein!
Das Publikum wand ſich vor Entzücken.
Stilpe aber hielt plötzlich inne und rief: Aber
wiſſen Sie denn auch, warum ich mich erhängen
will?
Und nun folgte, ich kann es nicht anders
nennen, eine Diſſertation über den Selbſtmord.
[397]Viertes Buch, viertes Kapitel. Und zwar ſo, daß er erſt alle möglichen gewöhn¬
lichen Selbſtmordgründe ablehnte, um ſchließlich als
einzig zwingenden und berechtigten Grund den
anzuführen: Es giebt kein Getränk mehr, das
mich umbringen könnte, drum muß ick mir ſelber
umbringen.
Nun zog er den Strick hervor und ſang ihn als
„Schnaps der Schnäpſe“ an. Während der Schlu߬
ſtrophe warf er den Strick um einen Laternen¬
haken, und während der Vorhang fiel, legt er ſich
den Strick um den Hals.
Ich atmete auf, wie der Vorhang unten war.
Das Publikum aber klatſchte wie beſeſſen. Nach
einer Weile hob ſich der Vorhang wieder, und ich
ſah, daß die Originalität unſeres verfloſſenen
Freundes auch als Tingeltangelſänger keine Grenzen
kennt: Der Dichter hing an der Laterne und ſang,
ungeachtet des Einſpruchs der Naturgeſetze, in dieſer
Situation, röchelnd und nach Luft ſchnappend, ſein
Schwanenlied, eine ſchauerliche Miſchung von
Grauſen, grotesker Komik und Cynismus. Dann
ein letztes Schlenkern mit den Beinen, die Zunge
weit heraus, dem Publikum entgegengeſtreckt, —
der Vorhang fiel. So oft er ſich wieder unter
dem Beifallgewieher des Publikums hob, ſah man
[398]Stilpe. den Dichter am Laternenpfahl hängen und mit
herausgeſtreckter Zunge den grinſenden Kopf dankend
verneigen.
Scheußlich! Scheußlich! werdet ihr ſagen, und
ihr habt ganz gewiß recht, aber ich wiederhole es:
Was in meiner Darſtellung blos widerlich wirken
kann, machte von der Bühne herab, ich muß es
bekennen, in der Hauptſache auf mich doch den
Eindruck von ergreifender Kunſt, ſchauderhaft ver¬
irrter, gottſträflicher, infamer Kunſt zwar, aber ich
wäre nicht im Stande geweſen, etwa inmitten dieſer
ſchauerlichen Frivolitäten aufzuſtehen und fortzu¬
gehen. Alles in mir empörte ſich, aber ich war
gefeſſelt.
In jedem anderen Falle wäre ich nun freilich
jetzt weggegangen, zumal, da auf dieſe pièce de
reſiſtance des Nordlichtes nur noch die ausge¬
ſungenſte aller Chanteuſen folgte, aber mich ver¬
langte es, Stilpe nun auch „in Civil“ zu ſehen.
Wie muß der Menſch, der aus ſeinem Leben
einen ſolchen grauſigen Clownwitz zu machen im
Stande iſt, ausſehen, wie muß er ſich benehmen,
wenn er mir gegenüber ſteht, der ihn aus Zeiten
her kennt, wo es trotz Allem doch eine ſolche Per¬
ſpektive auf das Ende nicht gab!
[399]Viertes Buch, viertes Kapitel.
Ich ſchickte ihm meine Karte hinter die Bühne.
Nach einer Viertelſtunde erſchien er, die Vorſtellung
war mittlerweile durch den üblichen Galopp ge¬
ſchloſſen, an meinem Tiſche.
Unglaublich! Er geberdete ſich wenigſtens
ganz wie früher.
— Willſt Du mich verhaften, Staatsanwalt
meiner Seele? Wieviel Jahre ſtehen auf den
Bauchtanz meiner Prägung?
Ich hatte Mühe, ihn von dieſem Stil abzu¬
bringen. Ganz hat er ihn überhaupt nicht auf¬
gegeben. Das Endreſultat, was ich euch zu ver¬
melden habe, iſt dies: Stilpe erklärt, ſich recht wohl
zu fühlen, wenngleich es ihm nur in den ſeltenſten
Fällen noch gelingt, ſich zu betrinken. Als Ent¬
ſchädigung für dieſen beklagenswerten Umſtand be¬
zeichnet er die „glorreiche Thatſache“, daß er end¬
giltig darauf verzichtet habe, in die Literaturgeſchichte
zu kommen.
— Literatur? Pf! Das Tingeltangel iſt die
Kunſt der Zukunft. Übrigens hat meine Orgel blos
noch eine Pfeife. Sonſt? . . . Na, mein Junge,
wenn alle Pfeifen ſchweigen, — die Heilsarmee
leckt alle Finger nach mir. Ein bischen religiös
komm ich mir überhaupt manchmal vor. Wer
[400]Stilpe.weiß . . .?. . . Wer kann wiſſen . . .?. . .
Überhaupt . . . der liebe Gott! . . . Na . . . einſt¬
weilen halten wir mal die Fahne hoch . . . Aber
nicht wahr: Meine Nummer is gut!?
Schlußkapitel.
Etwa drei Wochen nach dem Geſpräche Gir¬
lingers mit Stilpe erhielten die Berliner neben
anderen Frühſtücksbeilagen auch dieſe Notiz vor¬
geſetzt:
(Selbſtmord eines Chantantkomi¬
kers.) Die Beſucher der Variétébühne „Zum
Nordlicht“ waren geſtern Abend Zeugen eines
grauſigen Schauſpiels. Der Komiker Schonaar
hat ſich auf offener Bühne vor den Augen des
Publikums erhängt. Da der Schlußtric in der
Nummer dieſes Komikers (!) darin beſtand, daß
er ſich an einem Laternenpfahl aufhängte, ſo
gewahrte das Publikum es anfangs nicht, daß
diesmal das an ſich ſcheußliche Schauſpiel ent¬
ſetzliche Wirklichkeit war. Es applaudierte, die
ſcheinbare Naturwahrheit der Darſtellung be¬
26[402]Stilpe. wundernd, anhaltend, ſo daß ſich der Vorhang
dreimal über dem zuckenden Körper des Hän¬
genden erheben mußte. Da erſt fiel es den
„Habitués“ dieſer Schauſtellung auf, daß der
Darſteller nicht wie ſonſt ſeinen Kopf in der
Schlinge gegen das Publikum verneigte. Man
eilte über die Rampe weg auf die Bühne und
ſchnitt den Erhängten ab. Da es nicht möglich
war, ihn wieder ins Leben zu bringen, ſo muß
mit Beſtimmtheit angenommen werden, daß
Schonaar, um ganz ſicher zu gehen, ſich vorher
vergiftet hat. Die polizeiärztliche Unterſuchung
wird zweifellos die Richtigkeit dieſer Mut¬
maßung ergeben. In den Taſchen des Selbſt¬
mörders fand man ein Packet mit der Auf¬
ſchrift: An den Staatsanwalt Girlinger. Dies
erweckt die Vermutung, daß dieſer Selbſtmord
vielleicht noch anderweites kriminelles Inter¬
eſſe hat. Wir kommen auf den kraſſen Fall
zurück.
Schon zum Abendbrot hatten die Berliner volle
Aufklärung über den Fall Schonaar. Sie laſen:
(Zum Selbſtmord im „Nordlicht“.)
Der ſcheußliche Selbſtmord auf offener Bühne,
von dem wir heute früh berichtet haben, hat
[403]Viertes Buch, Schlußkapitel. kein weiteres kriminelles Intereſſe, wohl aber
eine pſychologiſches traurigſter Natur. Der
Selbſtmörder, der unter dem Namen Schonaar
ein elendes Daſein als Komiker niederſter
Gattung gefriſtet hat, war der ehemals viel
genannte und gefürchtete Kritiker Willibald
Stilpe, derſelbe, der ſich in der Literatur
durch das berüchtigte Pamphlet „Der Tinten¬
ſumpf“ unmöglich gemacht und dann das bald
verkrachte „Literatur-Tingeltangel Momus“
gegründet hat. Wieder einmal ein Talent, das
an ſeiner eigenen Charakterloſigkeit zu Grunde
gegangen iſt! Über die direkten Motive zu
dieſem in ſo ſchauerlicher Weiſe in Szene ge¬
ſetzten Selbſtmord haben wir vom Herrn Staats¬
anwalt Girlinger, an den der Selbſtmörder ein
Bündel Manuſkripte geſchickt hat, nichts er¬
fahren können. Man kann ſie wohl in das
eine Wort zuſammenfaſſen: Delirium.
Das war das Amen-Wort der Öffentlichkeit
zum Lebensabſchluß Stilpes.
26*[404]Stilpe.
Das Leipziger Cénacle hatte den Vorzug, Stil¬
pes eigene Meinung darüber zu vernehmen. Gir¬
linger ſchrieb den Freunden:
. . . Nous allons, si tu veux, chanter le dernier psaume . . .
Hier ſind die letzten Worte Schaunards. Seine
Leiche iſt, wie er wünſchte, in der Anatomie. Ich
habe ſie geſehen und fürchte, daß ich den Anblick
nie mehr los werde. Seid froh, daß ihr das nicht
geſehen habt.
Stilpes Brief an Girlinger lautete ſo:
Landerirette!
Wie ſchreiben die kleinen Mädchen (ach, ach,
ach, wie nett das klingt, — Mädchen iſt ein
liebes Wort), die kleinen Mädchen, wenn ſie ſich
vergiften? So ſchreiben die kleinen Mädchen:
„Lieber Emil! Wenn Du dieſe Zeilen lieſt,
dann bin ich tot!“
TOT
Das Wort hat rechts und links eine Peitſche und
in der Mitte ein Loch.
Graphologie! Graphologie!
Iſt es nicht tiefſinnig? Peitſche — Loch —
Peitſche. Wie witzig! Profund!
[405]Viertes Buch, Schlußkapitel.
Und dann der Ton, wenn mans ein bischen
dumpf und gedehnt ſagt, — das O iſt ſublim.
Wie wenn man über einen Flaſchenhals hinpfeift.
Heiſere Sirenen.
Indeſſen! Höre mich! Höre mich! Ich ſage
Dir: Sterben iſt ein dummes Wort. Man ſollte
Schtärben ſchreiben. Da käme die ganze breit hin¬
geſchmierte Gemeinheit des Wortes zu Tage. Ekel.
Würgen. Fuſelaufſtoßen.
Und quoad Fuſel, ich weiß nicht recht: Iſt der
Fuſel von heute ſchuld oder die oſtpreußiſche Bowle
von damals . . . ?
Schuld? Schuld? Das Wort macht mir
Wut. Wie ein Brummer rennts an mich an. Bin
ich eine Fenſterſcheibe? Fliegenklatſche her! Fliegen¬
klatſche!
Sei ruhig! Ich bin nicht betrunken. Wirklich
nicht. Das iſt es ja eben! Ich bin nicht betrunken,
und ich werde es niemals mehr ſein. Blos manch¬
mal verrückt. Entſchieden, Alter! Verrückt, das
heißt: Geſchüttelt, gezerrt, geſtoßen, an die Wand
geworfen, — und dazu lacht Einer.
Das Lachen legt ſich Dir um den Hals wie
eine Peitſchenſchnur um den Kreiſel, einmal, zwei¬
mal, dreimal, viermal, fünfmal, immer nochmal,
[406]Stilpe.immer noch, immer noch, immer nochmal; — laß
los! laß los! — Jetzt: Wwwt! und Du drehſt Dich
wie ein Kreiſelchen, Kreiſelchen, drehſt Dich wie ein
Kreiſelchen auf einem Nagelkopf, ſcheibum, ſcheibum,
lalalala, lalalala, ſcheib — um . . . Hund! Hund!
Lache nicht, Peitſche, lache nicht! Wwwt! Wwwt!
Scheib — um!
Unwürdig, Staatsanwalt, unwürdig! Ein homo
ſapiens! Wie kann man nur!
Aber das iſt es nicht. Auch nicht die roten
Mäuſe und die weißen Männerchen, und die lieben
kleinen Drehdingerchen, die immer ſo hin und her
und hin und her, und oben an der Decke und
unten an der Diele, — tritt doch! tritt doch! rufen
ſie —, du lieber Gott, an die Menagerie bin ich
gewöhnt. Wie lange denn ſchon?
Du, weißt Du noch, meine gelbe Mütze? Oh,
Jugendzeit! Oh, Porterbier!
Läſtig, wie ſie kribbeln, die Gedanken; laufen
mir über die Bruſt wie Ameiſen. Und die Spring¬
prozeſſion der Flöhe: Meine Ideale.
In — der — That! I — de — ale!
Mit Deiner gütigen Erlaubnis: Ich habe wirk¬
lich welche.
Sie laſſen ſich nicht wegſaufen, die höheren
[407]Viertes Buch, Schlußkapitel. Ziele. Wie lange ſchon bemüh ich mich, durchaus
ein Lump zu werden, — und es iſt mir immer
noch nicht gelungen.
Wenn ich doch nur klar denken könnte! Ich möchte
Dirs ſo gerne auseinanderſetzen, Juriſt, der Du biſt.
Aber: Dieſe Blaſen im Gehirn. Verſchlammter
Grund. Gurgelgaſe, Fuſelgaſe. Ich weiß ſchon
nicht mehr, was ich Dir auseinanderſetzen wollte.
Es wird wohl eine Lüge geweſen ſein.
Daran darf nicht gezweifelt werden! Immer
hab ich gelogen! Immer! Sieh nur meine Tage¬
bücher durch.
Die Verſe! Die Verſe! Am liebſten hab ich
mich ſelber belogen, und rhythmiſch.
Wenn ich nur die Kraft gehabt hätte, das
immer ſo zu fühlen, wie jetzt. Wenn ich mir nur
über mein Talent nicht erſt jetzt klar würde, wo
es zu ſpät iſt, wo ich nicht mehr die Kraft habe,
es ſyſtematiſch auszunutzen! Ich hätte nie was
wollen ſollen. Das Wollen war für mich eine
ungeſunde Lüge.
Dichter wollte ich werden, weil ich Verſe machen
konnte. Das war die Heckeratte, die infame. Wenn
ich „Kritiker“ geblieben wäre, — Du, was wäre
ich da für ein ganzer Kerl geblieben, in Samet
[408]Stilpe.und in Seide, rund und aus einem Stücke, gar
wohlgethan.
Ein Lump von einem Kritiker meinſt Du und
beſchwörſt jenen Gotthold Ephraim. Was thuts?
Das ſind Nüancen. Sag Feuilletoniſt ſtatt
Kritiker, ſag Pickelhäring, Clown, Hanswurſt der
öffentlichen Meinung. Meinethalben. Aber das war
mein Feld. Da hätt ich weiter ackern müſſen.
Aber das behagte mir nicht. Wollte oben hinaus.
Die Hure, die Gouvernante ſein möchte. Hol dich
der Teufel! Huren iſt auch ein Talent. Bleib im
Bette und nähre dich redlich!
Jetzt iſts wieder ſo. Ich habe Dich letzthin
belogen. Mich dichterts immer noch. Immer
noch möcht ich auf den Poetenberg. Immer noch
hebt ſichs da drin und klingt und will. Verſe
überfallen mich und tönen mir gut. Oh, ſie ſind
gut! Höre!
Wolken war,
Von mir! Von mir!
[409]Viertes Buch, Schlußkapitel. Bin ich ein Hund?! Nein: Dieſe Verſe ſind von mir!
Ah! Höre!
Wie? Hat das nicht was? Der Teufel auch:
Das iſt ausgezeichnet, ſag ich Dir, mi fili!
Dann:
Lampe.
Ich leſe mir das vor, mit leiſer Stimme ſprech
ichs den Buchſtaben nach; mir iſt es, als hörte ichs
von tief unten wo her aus Glockenmunde mit meiner
Stimme, und ich fühle: Das iſt gut.
[410]Stilpe.
Nein, ich bin keiner von den Schweren, Kleben¬
den, in mir ſind Stimmen aus der Tiefe, es iſt
ein Reichtum in mir. Ich habe mehr als ihr
Almoſenempfänger. Ich bin einer von den grands
aumôniers des Herrgotts. Ich kann mich aufthun,
und es fließt Leben in die Welt. In meiner
Seele umſchließen ſich Zeugung und Empfängnis.
Wie jene Blume bin ich, die Phallus und Vulva
iſt; ſo ſteh ich da im Garten des HErrn und be¬
gatte mich:
Ich höre Dich lachen, Staatsanwalt! Lache!
Lache! Spei mir Dein Lachen ins Geſicht! Ich
will mich nicht einmal abwiſchen.
Ich weiß es ja, jede Zelle meines Weſens fühlt
es ja: Das Alles iſt krüppelhaft. Ich, die erſtaun¬
liche Lilie im Garten des Herrn, ſtoße nichts als
Halbgeburten aus, ich wälze mich in Zeugungs¬
wolluſt und kann nichts austragen. Und die frag¬
mentariſchen Bankerte verrecken unter dem Hohn¬
[411]Viertes Buch, Schlußkapitel. gelächter meiner Erkenntnis, daß ich fürs Ganze
impotent bin.
„Es fehlt dem Schüler an der rechten Aus¬
dauer, ſeiner Begabung alles das abzugewinnen,
was ſie zu leiſten vermöchte, wenn ſie von Fleiß,
Beharrlichkeit, Mäßigung unterſtützt würde“ . . .
Dieſe Worte, nebſt einigen andern, habe ich ein¬
mal von einem Schulzeugnis weggewiſcht, aber,
als wenn ich ſie auswendig gelernt hätte, ſtehen ſie
in mir feſt und knarren ſich heute mir vor.
Sehr gut, Herr Doktor! Sie ſind ein guter
Pſychologe geweſen. Aber, weiß Gott, ein ſchlechter
Pädagoge. Warum haben Sie mir alle die guten
Dinge nicht beigebracht, Magiſter Sie? Warum
haben Sie mich ſchon auf der Schule verlumpen
laſſen? War ich ein Talent, oh, Sie Halunke,
warum haben Sie mich nicht gehütet? Warum haben
Sie mich verhöhnt, von ſich weggetrieben, meinem
Zorn und Trotz in die Arme, daß ich nun erſt
recht auf mir beſtand? Warum habt ihr mich
überhaupt gequält mit eurer Rohheit, eurem Dünkel,
eurer Gleichgültigkeit? Warum habt ihr meine
Seele, da ſie jung war, wundgeſcheuert, daß ſie
ewig ſchmerzende Narben davontrug und immer
zuckender, unſtäter wurde? Freilich, die meiſten
[412]Stilpe. unter euch waren nicht einmal Pſychologen, höchſtens,
daß ſie inſtinktmäßig ahnten, daß in mir mehr
war, als in ihnen, und dafür mußte ich geduckt
werden. Geduckt, ich! In mich hinein fraß ich
einen Haß gegen Alles, das nicht ich war, meine
ganze Jugend wurde ein Eitergeſchwür, all mein
Blut verdarb, weil ihr mich drücktet!
Wie das Alles auf einmal vor mir ſteht. Wie
ein ſchwefelgelber, brunſtrot geäderter Sonnen¬
untergang.
Nie, ſeit Jahren nicht, ſah ich ſo klar. Nie,
ſeit Jahren nicht, war ich ſo bewegt. Nie, ſeit
Jahren nicht, fühlte ich mich ſo frei wie in dieſem
jetzigen Augenblicke.
Wird man hellſeheriſch durch einen großen
Entſchluß? Oder — — — bin ich endlich,
endlich wieder einmal betrunken? Dann — —
könnte ich ja den großen Entſchluß wieder auf¬
geben?
Denn, — Ruhe! Ruhe! nur noch einen Augen¬
blick Ruhe! — warum hat ſichs in mir eingeniſtet,
eingegraben wie mit tauſend feuchten Klauen, daß
ich ein Ende machen muß? Lauf mir nicht fort,
Bewußtſein! Bleib, daß ich mirs ſage, klar, glatt,
hell, daß ich es wenigſtens einen Augenblick lang
[413]Viertes Buch, Schlußkapitel. weiß. So! So! Ich habs! Nur deshalb . . .
Nein! Nebel! Kopfſchütteln. Müde. Trinken!
Ich laufe den ganzen Tag im Zimmer herum
wie ein Tier im Käfig. Und ich merke, daß mich
das hypnotiſiert, wie einen Fakir das Kopfdrehen.
Jetzt bin ich wunderbar ruhig. Das iſt ſehr ſchön.
Nun weiß ich auch, warum . . .
Siehſt Du, Robert (hab ich Dich je Robert ge¬
nannt, Du Schäker?), ſo iſts: Ich fühle, daß ich
auch im Sumpf nicht ganz aufgehe. Nein, nicht
einmal im Sumpf. Und doch iſt Aufgehen Alles.
Worin, das bleibt ſich gleich . . .
Eine Weile ſchien Alles gut. Ich — fühlte
mich wohl und akklimatiſierte mich. Aber von
dem Tage an, wo Du mit mir ſprachſt,
begann das Ziehen wieder, das Hinaufwollen.
Ein Taumel erſt. Verſe ſprudelten auf, Fragment
auf Fragment. Hohes Entzücken! Phönix aus der
Aſche! Dann aus allen Höhen herunter. Wirre
Verzweiflung . . . Zuckende Erkenntnis. . . . Hin
und her. Ich will! Ich kann! . . . Nein! Nein!
Hund! Lump! Mach ein Ende! . . . Nein!
Ich habe ja die volle Seele! Ich muß nur ein
[414]Stilpe. einziges Mal mit aller Kraft mich ganz faſſen! . . .
Ach! Ich bin mit dem Schädel gegen die Wand
gerannt und habe mir, ganz bibliſch, die Haare aus¬
geriſſen. Geheult und gekreiſcht in Weinen und
Lachen! Unſinn! Unſinn! Noch mehr ſaufen!
Ecce medicamentum. Vergeblich. Ich reagiere nicht
mehr.
Ich habe nur noch das Ekelgefühl und eine
marode Sehnſucht. Fertig, weißt Du, was man
ſo fertig nennt. Hin und wieder angenehm ver¬
rückte Anſtöße, aber ich fühle: Die verdanke ich
auch blos dem . . . Entſchluß.
Der macht mir überhaupt viele Freude. Ja.
Ich finde doch, daß ich nicht übel abgehe.
Über den Geſchmack der letzten Szene kann
man ja ſtreiten. Natürlich. Aber was geht das
mich an? Ich finde, daß ſie ausdrucksvoll iſt. Dem
Leben die Zunge herausſtrecken, eurem Leben,
meine Lieben, das Plaiſier müßt ihr mir ſchon
gönnen.
Ich bin nun mal auf die böſe Seite hinüber¬
gerutſcht, wo die Reſpektloſen, die Giftigen ſtehn.
Wie kann da mein Geſchmack der eure ſein, ihr Leute
von der Harmonie? Wenn ich Bomben würfe,
würde die Geſchmacksdivergenz noch mehr klaffen.
[415]Viertes Buch, Schlußkapitel.
Genug! Kommen wir zu meinem Vermächtnis:
Meinen werten Leichnam, bitte, der Anatomie.
Den Befund über das Gehirn mögt ihr dem Cenacle¬
archiv einverleiben.
Meinen werten Feinden von der Preſſe wende
ich Stoff für mindeſtens zwei Notizen zu. Wer
ſein Handwerk verſteht, kann am Ende gar ein
Feuilleton herausſchlagen.
Dir gehören meine ſämmtlichen Werke. Wenn
Du zu den Verſen immer einen Anfang und ein
Ende ſchmiedeſt, ſo kommt ein ganz netter Band
Lyrik und Spruchweisheit heraus.
Sonſt hab ich wohl nichts zu vermachen.
Qualis poeta pereo!
Appendix A
Lippert \& Co. (G. Pätz'ſche Buchdr.), Naumburg a/S.
- Rechtsinhaber*in
- Kolimo+
- Zitationsvorschlag für dieses Objekt
- TextGrid Repository (2025). Collection 1. Stilpe. Stilpe. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bhsh.0