[][][][][][][]
[]
Erinnerungen
und
Bilder aus dem Seeleben


[figure]

Berlin: 1880.
A. Hofmann \& Comp.

[][]

Inhalt.


  • Seite
  • Eine erſte Seereiſe 1
  • Die deutſche Marine 1848—1852 144
  • Gründung 144
  • Bewegte Zeit 177
  • Auflöſung 211
  • Ernſtes und Heiteres. Bilder aus dem Stillleben der deutſchen
    Marine 229
  • 1. Auf der Weſer 229
  • 2. In der Officiermeſſe 250
  • Die Seejunker 286
  • Mit der Panzerfregatte „Friedrich Karl“ nach Weſtindien und dem
    Mittelmeer 304
[][[1]]
[figure]

Eine erſte Seereiſe.


Das deutſche Volk zeigt ein lebhaftes Intereſſe für maritime
Angelegenheiten, iſt jedoch mit deren näheren Verhältniſſen
im Allgemeinen nur ſehr unvollkommen vertraut und
macht ſich von ihnen vielfach unrichtige Vorſtellungen. Den
Meiſten erſcheint das Seeweſen von einem romantiſchen Nimbus
umfloſſen, der namentlich auf jugendliche Gemüther einen ver-
führeriſchen Reiz ausübt, deſſen Schimmer aber bei genauer
Betrachtung bedeutend verblaßt. Die Wirklichkeit zerſtört dann
mit rauher Hand ſo manche Illuſion, die den jungen Mann
zur Wahl des ſeemänniſchen Berufs beſtimmt hat; ſie ſtreift
von dem Bilde, das die Phantaſie mit leuchtenden Farben ge-
ſchmückt, die glänzende poetiſche Hülle und es bleibt nur die
nackte Proſa in der Geſtalt eines ſchweren Lebens voll Mühe,
Arbeit und Entbehrungen. Wohl hat es nach gewiſſen Rich-
tungen hin auch ſeinen hohen Werth; kein anderes iſt ſo ge-
eignet, Charactere zu bilden, den Jüngling ſchnell zum Manne
im beſten Sinne des Wortes reifen zu laſſen, in dem ſteten
Kampfe mit den Elementen ſeine geiſtige und körperliche Kraft
zu ſtählen, ſeinem Blicke eine weite Perſpective zu öffnen und
ihm die großartigen Wunder der Schöpfung vor Augen zu
führen; aber Freuden und Genüſſe, die nach gewöhnlichen
R. Werner, Erinnerungen. 1
[2]Werner
Begriffen das Leben verſchönern, weiſt das ſeemänniſche Fach
nur wenige auf.


In der Kriegsmarine bietet ſich und namentlich in den
höheren Officiersſtellen einiger Erſatz dafür, aber in der Handels-
marine iſt das ſelten der Fall. Hier iſt auch für den Kapitän
das Leben faſt nur eine ununterbrochene Kette von Mühſelig-
keiten und ſchwerer Verantwortung. Er iſt abhängig von ſeinen
Rhedern. Erwerben iſt ihre und überhaupt die Deviſe des
Handels, dem die Schiffe dienen, und alles Uebrige tritt dagegen
in den Hintergrund. Mit fliegender Haſt wird das von langer
Reiſe zurückgekehrte Fahrzeug entladen und gefüllt, um ſchleunigſt
wieder hinausgeſchickt zu werden über den weiten Ocean und
mehr zu erwerben. Der Begriff der Heimath iſt deshalb für
den Seemann der Handelsmarine faſt unbekannt; Häuslichkeit,
Weib und Kind ſind für ihn nur flüchtige Erſcheinungen; in die
Seligkeit des Wiederſehens miſcht der Gedanke an das ſo bald
wieder bevorſtehende Scheiden bereits bittere Wermuthstropfen.
Nur ſpärliche Stunden ungetrübten Glückes ſind ihm vergönnt
und Jahre lang muß er auf einſamem Meere von der Er-
innerung zehren.


Das Leben an Bord eines Kauffarteiſchiffes, wie es ſich
in Wahrheit geſtaltet, iſt in weiteren Kreiſen wenig gekannt;
unſere Literatur hat ſich mit dieſem Gegenſtande bisher faſt gar
nicht beſchäftigt und doch bietet es ſo manche Momente, die all-
gemeines Intereſſe verdienen. Wenn ich deshalb im Nach-
ſtehenden die Eindrücke und Erfahrungen zu ſchildern verſuche,
die ein junger Mann von Bildung auf einer erſten Seereiſe
gewinnt, darf ich vorausſetzen, manchem Leſer etwas Neues zu
bieten, ihm einen Einblick in die Eigenthümlichkeiten des See-
weſens zu gewähren und gleichzeitig zur Richtigſtellung irriger
Anſichten beizutragen. Das Leben an Bord von Handelsſchiffen
hat ſich zwar ſeit jener Zeit, von der ich reden werde, in einigen
Aeußerlichkeiten geändert und zwar zu Gunſten der Seeleute,
[3]Eine erſte Seereiſe
aber in ſeinen Grundzügen iſt es daſſelbe geblieben und das
Bild, welches ich von ihm zu zeichnen gedenke, wird deshalb
auch noch heute ſeine Geltung haben.


Mein Geburtsort iſt ein kleiner Marktflecken mitten im
Lande und faſt hundert Meilen von der Meeresküſte entfernt.
Wie ich dort eine beſondere Vorliebe für das Seeleben habe
gewinnen können, weiß ich nicht; das Flüßchen, mit deſſen
Waſſer ich getauft bin, kann kaum die Urſache geweſen ſein,
denn es war ſo flach, daß nicht einmal ein Kahn auf ihm
ſchwimmen konnte. Da ich indeſſen ſchon als Kind oft die
Neigung zu meinem ſpäteren Berufe ausgeſprochen haben ſoll,
ſo muß ſie wohl unabhängig von äußeren Einflüſſen in mir
gekeimt haben. Später trugen die Seeromane von Cooper und
Marryat das Ihrige dazu bei, jene Neigung zu befeſtigen und
ließen in mir den unumſtößlichen Entſchluß reifen, zur See zu
gehen. Seine Durchführung koſtete harten Kampf und ich fand
im elterlichen Hauſe lange Zeit keine Unterſtützung meiner Ideen;
der Vater wollte zuerſt durchaus nichts davon wiſſen und auch
der Oheim ſchüttelte bedenklich den Kopf. Er war ein alter
Theologe, der im elterlichen Hauſe eine wichtige Rolle ſpielte,
da der Vater, ein viel beſchäftigter Beamter, ihm weſentlichen
Antheil an der Kindererziehung überließ. Doch dieſe Wider-
ſtände vermochten mich nicht von meinem Vorhaben abzubringen,
ſondern beſtärkten mich im Gegentheil darin. Ich ſetzte meine
Hoffnung auf die Mutter; ſie mußte und würde helfen, ſie, an
der ich mit jeder Faſer meines Herzens hing, und der Vater
mußte doch zuletzt auch ein wenig Sympathie fühlen, wenn er
ſah, daß Character in mir wohnte. Und es kam ſo, die
Mutter trat zuerſt zu mir über; mit blutendem Herzen zwar
ſprach ſie zu meinem Gunſten, aber ſie that es. Der Vater
1*
[4]Werner
gab nach und der alte treue Oheim, dem ich ſo viel verdanke,
deſſen Andenken ich ſegne, wurde ebenfalls überwunden. „Gott
ſegne Dich und lenke Deine Schritte“, das waren die letzten
Worte der Mutter, als ich Abſchied nahm, und damit riß ich
mich vom treueſten, beſten Herzen los, um fortan meinen Weg
durch die fremde kalte Welt allein zu machen. Ich ging einer
unbekannten Zukunft entgegen, ohne weiteren Halt, als mich
ſelbſt, der ich kaum dem Knabenalter entwachſen war.


Mein Lebensweg iſt nicht leicht geweſen, oft habe ich ihn
Schritt für Schritt mit großer Mühe und Noth erkämpfen
müſſen, aber der Mutter Segen hat auf mir geruht. Mein
Vater brachte mich nach Hamburg; er hatte Empfehlungen an
eine große Rhederei erhalten und ſchon nach wenigen Tagen
war ich auf einem Oſtindienfahrer untergebracht. Tags zuvor,
ehe ich an Bord ging, um mich einzuſchiffen, reiſte mein Vater
ab. Als er den Poſtwagen beſtieg — Eiſenbahnen gab es in
Deutſchland damals nur wenige — und er mir mit zitternder
Stimme das letzte Lebewohl zurief, da durchzuckte mich ein
tiefer Schmerz. Es war, als ob ich gewaltſam von allem,
was mir lieb und theuer, losgeriſſen wurde; ich war wie be-
täubt und hätte ausrufen mögen „Vater, nimm mich wieder mit
Dir zurück!“ aber ich ſchämte mich meiner Schwäche und
winkte nur mit thränendem Auge den Abſchiedsgruß. Der
Poſtillon ſtieß in’s Horn, der Wagen rollte über das Pflaſter;
dort hinter der Ecke verſchwand er, ich war allein und wandte
meine Schritte zu dem Gaſthofe, wo wir Wohnung genommen
hatten.


Dort fand ich meine inzwiſchen angekommene Seekiſte mit
der Ausſtattung für die Reiſe vor und das gab meinen trüben
Gedanken eine andere Richtung. Ich hatte nichts Eiligeres zu
thun, als den neuen Seemannsanzug zu probiren und kam mir
in dem dunkelblauen wollenen Hemde mit weit über die Schul-
tern zurückfallendem Kragen, dem loſe darumgeknüpften ſeidenen
[5]Eine erſte Seereiſe
Halstuche und der ſchottiſchen Mütze ganz intereſſant vor.
Ziemlich ſelbſtbewußt machte ich einen Spaziergang am Hafen
und hätte ſtatt der Mütze auch gar zu gern den Südweſter
aufgeſetzt, jene Regenkappe von geöltem Segeltuch mit Nacken-
ſchirm, die den Seeleuten bei ſchlechtem Wetter ſo gute Dienſte
leiſtet, aber zu meinem Bedauern regnete es nicht und ich
mußte mich heute ſchon begnügen, in meinem Aeußeren etwas
weniger ſpecifiſch ſeemänniſch zu erſcheinen.


Der Abend verging, indem ich wiederholt mein neues
Eigenthum muſterte, es ſorgfältig in der Kiſte lagerte und mit
Behagen meinen bisherigen Civilanzug zu einem Packete for-
mirte, um ihn nach Hauſe zu ſchicken. Trotz der wehmüthigen
Gefühle, die mich bei dem Gedanken an die Heimath beſchlichen,
empfand ich doch volle Befriedigung, am Ziel meiner ſeit ſo
lange gehegten Wünſche angelangt zu ſein. Die hochfliegendſten
und ehrgeizigſten Pläne entſtanden in meinem Kopfe, und ich
ſchlief endlich ein, um die letzte Nacht auf dem Feſtlande zu-
zubringen. Für lange Zeit ſollte es auch die letzte ſein, in der
ich mich einer ungeſtörten Ruhe erfreuen durfte; meinen Zukunfts-
träumen ſetzte aber ſchon der folgende Tag einen häßlichen
Dämpfer auf.


Auf dem Comptoir der Rheder, wo ich meinen Lehrlings-
contract unterzeichnete, hatte man mir mitgetheilt, daß ich am
Morgen nach der Abreiſe meines Vaters an Bord zu gehen
habe. Ich glaubte deshalb beſonders pünktlich zu ſein, als ich
mich um acht Uhr auf dem Schiffe meldete, täuſchte mich aber.
Ich wurde vom Kapitän auf ſehr unliebenswürdige Weiſe em-
pfangen, und obwohl ich das von ihm geſprochene Plattdeutſch
nur halb verſtand, hörte ich doch harte Vorwürfe heraus, daß
ich nicht ſchon mit Beginn der Arbeitszeit gekommen ſei. Das
war kein angenehmer Anfang. Mein Schiff hieß „Alma“. Es
war eine nicht ſehr große Bark, d. h. ein dreimaſtiges Schiff,
das nur an den beiden vorderen Maſten Raaen führte, während
[6]Werner
ſich am hinteren ſogenannte Gaffelſegel befanden, und hatte für
ſeine Größe eine verhältnißmäßig ſtarke Beſatzung, welche außer dem
Kapitän und den beiden Steuerleuten aus achtzehn Mann be-
ſtand. Die „Alma“ war Tags zuvor auf die Helling geholt,
um mit neuen Kupferplatten beſchlagen zu werden. Die Helling
iſt eine mit Bohlen oder Steinplatten belegte ſchiefe Ebene, auf
der Schiffe gebaut werden. In früheren Zeiten reparirte man
auch alte Schiffe auf den Hellingen; — ſie mußten auf
einem Schlitten, der ihnen im Waſſer untergeſchoben wurde,
hinaufgewunden werden; das war ſchwere Arbeit und ſtrengte
die Fahrzeuge ſtark an. Jetzt macht man es ihnen bequemer;
man hat überall Docks, feſt gemauerte oder eiſerne ſchwimmende
Baſſins mit Thüren. Die Schiffe werden hineingeholt, man
pumpt nach Schluß der Thüren das Waſſer aus, und die in-
zwiſchen abgeſtützten Fahrzeuge ſtehen trocken.


Ich war die hohe Leiter, die vom Lande bis zum Deck
der „Alma“ führte, hinaufgeklettert, meine Seekiſte aber unten
im Regen ſtehen geblieben. Als der Kapitän mich entlaſſen
hatte, ſah ich vergebens nach Hülfe aus, um die Kiſte an Bord
zu bringen. Einige Leute der Mannſchaft arbeiteten in der
Bemaſtung, ſonſt war Niemand da und ich ſtand ziemlich rath-
los. Endlich kam ein älterer Mann mit bärbeißigem Geſicht
und einer dicken Backe die Leiter herauf an Deck, wo ich
herumirrte.


„Wer biſt Du?“ fragte er mich mit ſo barſcher Stimme,
daß ich ordentlich erſchrak. Ich nannte meinen Namen. „Was
willſt Du hier?“ fuhr er in demſelben Tone fort und natürlich
wie Alle an Bord in plattdeutſcher Sprache. Als ich ihm mit-
getheilt, daß ich als Lehrling an Bord gekommen ſei, erwiederte
er „So! nun, ich bin der Bootsmann des Schiffes und Du
haſt mir zu gehorchen, das merke Dir.“ Als Bekräftigung
dieſer Sentenz ſpuckte er eine Maſſe braunen Saftes aus und
ich bemerkte, wie die dicke Backe plötzlich dünn wurde, dagegen
[7]Eine erſte Seereiſe
die andere anſchwoll. Anfänglich konnte ich mir dieſe wunder-
bare Metamorphoſe nicht erklären, ſpäter entdeckte ich, daß ein
rieſiges Stück Kautabak die Urſache war, welches von einer
Seite des Mundes nach der anderen wanderte, ſobald der
Bootsmann auf irgend eine ſeiner Reden einen beſonderen
Trumpf ſetzen wollte.


Auf meine Bitte ließ er nun durch einige Matroſen meine
Kiſte an Bord ſchaffen und wies mir in dem Mannſchaftsraume
den Platz für jene und meine Coje an. Ich verſtand manches nicht,
von dem, was er ſagte und fragte wiederholt; da verlor er die
Geduld, „was wir Schweizer wohl an Bord zu ſuchen hätten,
wenn wir nicht einmal Plattdeutſch verſtänden,“ meinte er brum-
mend. Er war nämlich der Anſicht, Hochdeutſch würde nur in
der Schweiz geſprochen.


Mein zukünftiger Wohnraum — techniſch das „Logis“
genannt — machte einen ſehr deprimirenden Eindruck auf mich
und entſprach auch nicht meinen beſcheidenſten Erwartungen.
Es lag in der vorderſten Spitze des Schiffes, im Bug und
unter Deck, hatte die Form eines Dreiecks, war ſo niedrig, daß
man nur gebückt darin ſtehen konnte und ſo eng, daß ein
Umhergehen ſehr ſchwierig wurde. An den Wänden waren je
zwei feſte Cojen übereinander gebaut, aber nicht 18 ſondern nur
16, ſo daß je zwei der vier Jüngſten, zu denen ich gehörte,
nur ein Bett hatten. Die Kiſten ſtanden vor den Cojen; ſie
und zwei Klapptiſche, ſowie eine von dem Deck herabhängende
blecherne Oellampe mit zwei Flammen bildeten das einzige
Mobiliar des Logis, das ſein Tageslicht durch die Niedergangs-
luke erhielt. Eine weitere Umſchau war mir nicht geſtattet;
denn kaum hatte ich meine Kiſte placirt und die vom Regen
durchfeuchtete Matratze in die Coje geſtopft, als auch ſchon des
Bootsmanns Stimme erſchallte. Meinen Namen mußte er wohl
ſchon wieder vergeſſen haben, denn er rief mich „Schweizer“ und
nannte mich auch conſequent während der ganzen ſpäteren Reiſe ſo.


[8]Werner

„Was thuſt Du ſo lange dort unten?“ fuhr er mich an,
„hier heißt’s arbeiten und nicht faulenzen. Nimm jenen Korb
und ſuche die Spiker unter dem Schiffe zuſammen.“


Ich hatte zwar keine Ahnung, was er mit Spikern meinte,
war aber auch ſchon zu ſehr eingeſchüchtert, um zu fragen und
kletterte ſchleunigſt die Leiter nach der Werft hinunter, wo ich
auch von einem gutmüthigen Matroſen den gewünſchten Aufſchluß
über den Befehl des Bootsmannes erhielt. Die Zimmerleute
löſten die alten verbrauchten Kupferplatten vom Boden des
Schiffes, und ich ſollte die bei dieſer Gelegenheit auf die Erde
fallenden Kupfernägel aufſuchen, welche an Bord Spiker ge-
nannt werden.


Die Arbeit behagte mir keineswegs; ich hatte mir den
Anfang ſo ganz anders gedacht, aber ich war fleißig und ſelbſt
der alte Bootsmann ſchien mit meinem Eifer nicht unzufrieden
zu ſein, der mir bei der ungewohnten Beſchäftigung trotz des
kalten Wetters die Schweißtropfen auf die Stirn trieb. Die
Zeit zum Mittagseſſen kam; der Koch ſtand oben an der Leiter,
klatſchte dreimal in die Hände und rief etwas, das mir wie
„Handſchuh“! klang, aber wie ich ſpäter erfuhr „Handen ſchoon“
(Hände rein!) hieß. Ich mußte mich ſehr damit beeilen, denn
ich wurde belehrt, daß das Signal mich als den Jüngſten
ſpeciell angehe und ich die Speiſen von der Küche nach dem
Logis zu tragen habe. Als dies geſchehen, gab der Koch ein
zweites eigenthümliches Signal, diesmal aber mit einem, wenn
auch nicht melodienreichen Geſange: „Schaffen over all, ſchaffen
unnen un boben, ſchaffen in Gottes Namen“ (Eſſen überall,
eſſen unten und oben, eſſen in Gottes Namen) klang es mit
lauter Stimme nach der Werft hinunter und die Leute ſam-
melten ſich, um ihr Mahl einzunehmen. Daſſelbe war kräftig
und gut; die Arbeit hatte Appetit gemacht, das Eſſen ſchmeckte
mir vortrefflich und von dem auf meine Ration entfallenden
Pfunde Fleiſch blieb nichts übrig. Die Unterhaltung dagegen
[9]Eine erſte Seereiſe
mundete mir weniger; was ich davon verſtand, war ſo weit
verſchieden von dem, was ich bisher gewohnt geweſen.


Nachmittags ſuchte ich wieder Nägel aus dem Schmutz;
mein Cojenkamerad half mir dabei. Er war ein friſcher, netter
Burſche in meinem Alter und ſtammte von der Inſel Föhr, wie
faſt die ganze Beſatzung und der Kapitän ſelbſt. In damaliger
Zeit ſtellten die Frieſiſchen Inſeln ein ſehr großes Contingent
an Seeleuten für die Hamburger Schiffe; die meiſten Kapitäne
waren von dort und zogen ihre Landsleute, Verwandte und
Bekannte heran. Mein Bettgenoſſe hieß Heinrich Peterſen, der
Kapitän Pay Anderſen, der Bootsmann Peter Hinrichſen, und
außer dem Oberſteuermann und mir endeten alle Namen an
Bord auf ſen. Heinrich hatte zwar auch noch keine Seereiſe
gemacht, aber er war mehrere Wochen an Bord und auf ſeiner
Heimathsinſel von Jugend auf mit dem Waſſer und mit Schiffen
vertraut geweſen und beſaß deshalb ſchon eine Menge nautiſcher
Kenntniſſe, um die ich ihn beneidete.


Nach Feierabend gingen die meiſten Leute an Land auf
Urlaub. Ich blieb zurück; theilweiſe war ich nicht in der
Stimmung, um irgend welches Vergnügen aufzuſuchen, theils
hatte mich die Arbeit ermüdet und ich legte mich bald nach dem
Abendbrode zur Coje. Ich fand die mit Seegras geſtopfte
Matratze und das Kopfkiſſen zwar etwas hart, die ungewohnte
wollene Decke kratzte und namentlich wollte mir das getheilte
Bett durchaus nicht gefallen, aber trotzdem kam der Schlaf
bald und feſt, das Vorrecht der Jugend.


Nach einigen Stunden wurde ich jedoch aus meinen
Träumen geweckt und unſanft aufgerüttelt. Ich bekam die
Nachtwache und mußte eine Stunde auf dem Deck ſein. Ein
Schiff iſt nie ohne Wache; in See beſteht dieſelbe aus der
Hälfte der Mannſchaft, im Hafen geht ein Mann Wache und
wird ſtündlich abgelöſt, während die Seewache vier Stunden
dauert.


[10]Werner

Es war eine ſchöne Herbſtnacht, der Mond ſchien hell und
klar und goß ſein Licht auf die Thürme und Dächer der alten
Hanſeſtadt, die ich von meinem hohen Standpunkte aus über-
blickte. Der dunkle Elbſtrom glitt ſchweigend dahin und am
Horizont zeichnete ſich der Maſtenwald der im Hafen liegenden
Schiffe. Ueberall herrſchte Ruhe und Schweigen; ich war mit
mir allein, da konnte es nicht ausbleiben, daß der verfloſſene
Tag an meinem Geiſte vorüberzog und die empfangenen Ein-
drücke ſich wiederſpiegelten. Ich kann nicht ſagen, daß ich irgend
wie darüber Befriedigung empfunden hätte; Coopers und
Marryats Romane hatten mir ſo ganz andere Anſchauungen
vom Schiffsleben beigebracht, wie ich ſie heute verwirklicht
geſehen. Als ich vor einigen Tagen mit meinem Vater durch
den Hafen gefahren war, arbeiteten auf einem Schiffe Matroſen
hoch oben in der Takelage. Indem der Vater auf den gefähr-
lich ſcheinenden luftigen Sitz wies, fragte er mich „Haſt Du
noch Luſt, Seemann zu werden?“ „Jetzt erſt recht“, war meine
Antwort geweſen, denn gerade das Gefährliche hatte mich ange-
zogen und nicht erſchreckt, wie der Vater gehofft. Statt wage-
halſigen Kletterns in der Bemaſtung, hatte ich jetzt den ganzen
Tag am Lande alte zerbrochene Nägel ſammeln müſſen. Vom
Kapitän war ich unfreundlich empfangen worden. Heinrich hatte
mir geſagt, daß er als Seemann einen vorzüglichen Ruf habe,
aber ſchroff und abſtoßend gegen ſeine Untergebenen und des-
halb bei ihnen nicht beliebt ſei. Sein Geſichtsausdruck war
ernſt, ja finſter und ich forſchte darin vergebens nach Wohl-
wollen. Die Steuerleute hatten im Laufe des Tages faſt keine
Notiz von mir genommen, der Bootsmann war barſch gegen
mich geweſen. So hatten ſich meine Vorgeſetzten gezeigt; der
Blick auf die Mannſchaften war nicht erfreulicher. Aus gebil-
deter Umgebung, aus dem Kreiſe eines glücklichen Familienlebens
war ich unter Menſchen geſchleudert und auf Jahre mit ihnen
auf einen beſchränkten Raum zuſammengefeſſelt, die, das
[11]Eine erſte Seereiſe
fühlte ich jetzt ſchon klar und deutlich, mir innerlich ſtets fremd
bleiben mußten, da ich zu ſehr verſchieden von ihnen war.


Was ſollte daraus werden? Vor meinem geiſtigen Auge
entrollte ſich eine düſtere Zukunft; die trübſten Gedanken ſtürm-
ten auf mich ein. Ich wurde völlig muthlos, bereute bitter
den Seemannsberuf erwählt zu haben und mein gepreßtes Herz
machte ſich in einem Thränenſtrome Luft. Doch, dann trat mir
wieder vor die Seele, wie mir das alles zu Hauſe vom Vater
vorgeſtellt, wie nachdrücklich ich von ihm gewarnt war und trotz-
dem jeden Hebel angeſetzt hatte, um meinen Entſchluß zur
That zu machen. Nein! Mochte kommen was da wollte —
von Zurücktreten konnte und durfte keine Rede mehr ſein. Was
ich begonnen, das wollte ich ſiegreich beenden oder dabei unter-
gehen — das war der Entſchluß, den ich, in der ſtillen Nacht-
ſtunde faßte und durchzuführen mir feſt gelobte.


Der andere Morgen fand mich vorbereitet, allem Unge-
wohnten und Schweren, das meine neue Laufbahn mit ſich
brachte, friſch in das Geſicht zu ſehen und mich durch nichts
entmuthigen zu laſſen. Zugleich aber war ich mir auch darüber
völlig klar geworden, daß ich am heutigen Tage mit meiner
Jugend abgeſchloſſen hatte. Sie lag mit ihren Freuden, ihrer
Poeſie, ihren Hoffnungen und Illuſionen hinter mir — vor mir
nur das Leben mit ſeinem Ernſt, ſeiner Arbeit und den ſtrengen
mitleidsloſen Anforderungen, die es an meine Perſon ſtellte.


Nach acht Tagen war das Schiff gekupfert und lief von
der Helling ab.


Am andern Tage begann die Beladung des Schiffes, und
damit ging ſeine ſonſtige Fertigſtellung für See Hand in Hand.
Darüber verfloſſen vierzehn Tage und es wurde Anfang October
bis wir alles zum Abſegeln fertig gemacht hatten. Das nächſte
Reiſeziel war Batavia, ob noch andere Häfen angelaufen werden
ſollten, blieb vorläufig unbeſtimmt; aller Wahrſcheinlichkeit nach
konnte man auf eine Abweſenheit von über einem Jahre rechnen.
[12]Werner
Dieſe erſte Probezeit in Hamburg wurde mir ſehr ſchwer; aber
getreu meinem gefaßten Entſchluſſe, lernte ich arbeiten, meine
Kräfte anwenden und meine Aufmerkſamkeit auf die practiſche
Seite des Lebens richten.


Der Tag der Abreiſe war gekommen und der Lootſe er-
ſchien an Bord. Mit der eintretenden Ebbe warfen wir von
den Pfählen los, an denen das Schiff im eigentlichen Hafen
feſt gemacht war und holten es auf den Strom. Der Wind
war ungünſtig; das enge und gewundene Fahrwaſſer geſtattete
kein Laviren und da es zu jener Zeit noch keine Schleppdampfer
gab, die jetzt bei ſolchen Gelegenheiten den Schiffen die Arbeit
abnehmen, ſo trieben wir mit dem Strom, aber gegen den
Wind die Elbe hinunter. Das war eine langweilige Sache;
bisweilen konnten wir eine kleine Strecke ſegeln, doch die Ebbe
brachte uns nur bis zur Rhede von Glückſtadt, dann trat die
Fluth ein und wir mußten ankern.


Ich hatte inzwiſchen Gelegenheit gehabt, meine erſte Lection
in der Seemannſchaft zu erhalten. Das Treiben eines Schiffes
in einem ſchmalen Fahrwaſſer erfordert ſehr viel nautiſches Ge-
ſchick; wer es verſteht, der kann überhaupt mit einem Schiffe
manövriren. Die Dampfſchifffahrt hat dies Treiben meiſt auf-
hören laſſen, aber im Intereſſe ſeemänniſcher Tüchtigkeit iſt es
ſehr zu bedauern, denn es iſt damit eine vortreffliche und faſt
unerſetzliche Schule für das Manövriren mit Segelſchiffen ver-
loren gegangen. Unſer Lootſe, ein Mann in den Fünfzigern
und der Typus eines wettergeſtählten Seemanns, verſtand die
Sache aus dem Grunde. Mit ſtiller Bewunderung ſah ich, wie
er die „Alma“ durch die ſchwierigſten Paſſagen lenkte und
namentlich imponirte mir die Ruhe und Sicherheit, mit denen
er ſeine Befehle ertheilte. Mein Poſten war in ſeiner Nähe.
Er mußte wohl bemerkt haben, mit welchem lebhaften Intereſſe
ich den Bewegungen des Schiffes folgte und mir Urſache und
Wirkung klar zu machen ſuchte, denn zu meiner großen, wenn
[13]Eine erſte Seereiſe
auch freudigen Ueberraſchung redete er mich unerwartet mit
freundlichem Wohlwollen an und fragte, wonach ich ſo auf-
merkſam ausſchaute.


„Ich möchte mit einem Schiffe ſo manövriren können wie
Sie“, war meine Antwort. Sie ſchien ihm zu gefallen. „Stelle
Dich neben mich,“ ſagte er mir zunickend „und wenn Du etwas
nicht verſtehſt, ſo frage.“ Er gab mir dann eine Erklärung
der folgenden Manöver in eben ſo knapper wie verſtändlicher
Weiſe, ſo daß mir die Punkte, auf welche es ankam, vollſtändig
klar wurden und ich in der kurzen Zeit ungemein viel lernte,
was mir für meine ſpätere Laufbahn ſehr nützlich geweſen iſt.
Der Weſtwind war am andern Tage ſtürmiſch geworden und
da mit ihm nichts in der Nordſee zu machen war, warteten
wir auf gutes Wetter. Wir mußten uns jedoch noch volle acht
Tage gedulden, bis es eintrat, wenn ich es ſelbſt auch nicht be-
dauerte, da der Lootſe, welcher wohl Gefallen an mir gefunden
haben mußte, mich bei jeder Gelegenheit aufſuchte, um mit mir
zu ſprechen und mich zu belehren. Mit welchem Eifer ich be-
ſtrebt war, davon Nutzen zu ziehen, bedarf wohl kaum der Er-
wähnung. Mein Verſtand ſagte mir, daß ich mich aus meiner
untergeordneten Stellung, in der ich mich ſo unglücklich fühlte,
um ſo ſchneller befreien würde, je eher ich in meinem Fache
etwas Tüchtiges lernte und deswegen ſetzte ich meine ganze
Energie daran, meine Wißbegier zu befriedigen.


Ich war jedoch dem Lootſen nicht allein für ſeine werth-
volle Unterweiſung, ſondern auch dafür ſo dankbar, daß er ſich
freundlich gegen mich zeigte, was mich um ſo wohlthuender be-
rührte, als ſich bis jetzt Niemand von der Beſatzung mit Aus-
nahme Heinrichs, meines Cojenkameraden, um mich gekümmert
hatte. Kapitän und Steuerleute ſchienen mich nur als eine
Arbeitsmaſchine zu betrachten; keiner von ihnen hatte ein gütiges
Wort an mich gerichtet, und die Matroſen im Logis benutzten
mich als den Jüngſten ebenfalls nur zu barſch geforderten
[14]Werner
Dienſtleiſtungen. Wie oft biß ich die Zähne aufeinander, um
meinen erregten Empfindungen nicht laut Luft zu machen, doch
auch das hatte ſein Gutes, denn ich lernte mich ſelbſt zu über-
winden und die meinem Character innewohnende Heftigkeit zu
unterdrücken. Nur des Bootsmanns Benehmen änderte ſich
allmälig günſtig für mich. Meine Willigkeit, allen mir ge-
wordenen Befehlen ſo ſchnell und gut wie möglich nachzukommen,
mochte dazu beitragen, ihn wohlwollender gegen mich zu ſtim-
men, wahrſcheinlich aber auch der Einfluß des Lootſen. Ich
wurde ſeiner Wache zugetheilt, zwar keineswegs geſchont, aber
wenn er jetzt „Schweizer“ rief, dann klang es nicht mehr ſo
hart wie früher. Ich hörte öfter ein ermunterndes Wort und
begann durchzufühlen, daß in der Bruſt des alten Seebären
trotz der rauhen Schale doch ein warmes Herz ſchlug.


Endlich war der Wind müde geworden, ſtets aus derſelben
Ecke zu wehen. Er ging in der Nacht ſüdlich, freilich links
herum, durch Süden ſtatt durch Norden und der Lootſe meinte
deshalb, er würde keinen Beſtand haben, aber der Kapitän wollte
ſich die günſtige Brieſe nicht über den Kopf wehen laſſen und
mit Tagesanbruch wurden die Anker gelichtet. In unſerer Nähe
hatten ſich in den letzten Tagen wohl einige vierzig Schiffe
angeſammelt, die ebenfalls in See wollten und nun mit uns
die gute Gelegenheit benutzten.


Welches rege Leben herrſchte da ringsum auf der Waſſer-
fläche und wie intereſſant war das Schauſpiel, eine ſo große
Flotte ſich gleichzeitig in Bewegung ſetzen zu ſehen! Von allen
Seiten ertönten in der hellhörigen Morgenluft die Commandos,
das Klipp klapp der Ankerſpille, mit denen die Ketten einge-
wunden, ſowie das Hoi ho! und der Geſang der Matroſen, nach
deſſen Tacte die Segel geheißt oder andere Arbeiten verrichtet wurden.
Vom Winde gebläht entfaltete ſich die weiße Leinwand an den
Raaen und dieſe wurde in das Kreuz gebraßt, ſobald die Anker
grade unter dem Schiffe ſtanden. „Licht Anker!“ lautete dann der
[15]Eine erſte Seereiſe
Befehl; die Leute eilten an das Spill zurück und wiederum
hörte man das Klipp klapp der Ankerwinden und das Hoi ho!
der Matroſen. Glied für Glied und nur mit gewaltiger Kraft-
anſtrengung wanderte die Kette durch die Klüſenöffnung im
Bug des Schiffes herein auf das Deck, bis der Anker aus
dem zähen Grunde gebrochen war und das Fahrzeug frei von
ſeinen Feſſeln auf den Fluthen ſchwamm. Sofort folgte es
dem Drucke der vorderen gegen den Wind geſtellten Segel, ſie
wirkten wie ein Hebel und warfen den Kopf herum, bis die den
andern Weg gebraßten Hinterſegel füllten. Dann war die Auf-
gabe der Vorſegel gelöſt; ſie wurden mit den hinteren parallel
geſtellt; die bis dahin noch unter den Raaen zuſammengefalteten
Unterſegel fielen, das Schiff wurde mit Hülfe des Steuerruders
auf ſeinen Curs gebracht und glitt vor der ſtrammen Briſe
und in ſeinem Laufe durch die Ebbe beſchleunigt pfeilſchnell
auf dem Strome dahin.


Von den übrigen Mitſeglern war bereits die Hälfte unter-
wegs, aber unſere „Alma“ zeigte ſich flink. Ihr Bug, ſcharf
wie ein Meſſer, durchſchnitt faſt geräuſchlos das Waſſer; Hand
über Hand lief ſie auf und ließ eines der Fahrzeuge nach dem
andern hinter ſich. „Platz für den Oſtindienfahrer“ ſchien ſie
zu ſagen und ihre Flagge flatterte luſtig im Winde.


Der Seemann identificirt ſich mit ſeinem Schiffe; er em-
pfindet deſſen Vorzüge als ſeine eigenen und triumphirt, wenn
er einen Schnellſegler unter den Füßen hat, ſo wenig es ſein
Verdienſt iſt. Das finſtere Geſicht des Kapitäns hellte ſich auf;
die Leute ſcherzten mit gutmüthigem Hohn nach den Fahrzeugen
hinüber, an denen wir vorbeiliefen und auch ich war in meinem
Herzen bereits ſoviel Seemann geworden, um den Triumph
mit zu empfinden.


Der Wind friſchte auf, wir liefen zehn Knoten, zwei eine
halbe Meile, in der Stunde und paſſirten Mittags Cuxhafen.
Das niedrige rechte Elbufer war bereits unſern Blicken ent-
[16]Werner
ſchwunden, auch das linke begann ſich allmälig unter den
Horizont zu ſenken und der Thurm der Elbinſel Neuwerk er-
hob ſich als letzter Wachtpoſten des Feſtlandes aus der ihn
umgebenden Waſſerfläche. Wir ſchoſſen an dem innern Feuer-
ſchiffe vorbei, das am Tage durch ſeine rothe Farbe und durch
Kugeln auf den Spitzen der Maſten, ſowie Nachts durch weit
leuchtende Laternen vor gefährlichen Sänden warnt; dann kam
die in der Elbmündung verankerte Lootſen-Galliote in Sicht
und wir hielten auf ſie zu. Die Lootſenflagge wurde bei uns
im Vortop geheißt und auf dies Signal ſtieß ein Boot von der
Galliote ab, um den Lootſen abzuholen. Die Unterſegel wurden
fortgenommen, die Hinterraaen gegen den Wind gebraßt, das
Schiff verlor ſeine Fahrt und trieb langſam auf das wartende
Boot zu. Der Lootſe ſtand mittſchiffs an der Fallreepstreppe
und nahm die Briefe in Empfang, die als letzte Grüße in
die Heimath gingen. Auch ich brachte den meinigen; ich hatte
viele Tage daran geſchrieben, aber ſein Inhalt verrieth nichts
von dem, was ich fühlte und feſt in meiner Bruſt verſchloſſen
hielt; die Meinigen ſollten glauben, daß ich in meinem Berufe
glücklich und zufrieden ſei. Ihre Abſchiedsbriefe waren mit
thränendem Auge oft von mir geleſen und die mir darin ge-
ſandten Segenswünſche hatten meinen herben Schmerz gelindert;
für lange, lange Zeit ſollten ſie mein einziger Schatz und mein
Troſt in der Einſamkeit ſein.


Der Lootſe drückte mir warm die Hand. „Kopf oben,
mein Junge!“ ſagte er „Du wirſt darüber fortkommen;“ er
ſchien in meinem Herzen geleſen zu haben. Das Boot kam
längſeit und er ging von Bord. „Behaltene Reiſe!“ klang
ſein ſeemänniſcher Abſchiedsgruß — ſo einfache Worte und doch
ſo vielſagend! „Danke, danke Lootſe!“ war die Erwiderung der
Beſatzung. Ein letztes Winken mit der Hand und das Boot
flog dahin. „Braßt voll!“ commandirte der Kapitän; die
Hinterraaen flogen herum, und der Wind blähte wieder ihre
[17]Eine erſte Seereiſe
Segel, Fock und Großſegel wurden geſetzt und das Schiff zog
hinein in die weite See, die fortan meine Heimath war.


Wir hatten von Tagesfrühe an mit „Alle Mann“ tüchtig
gearbeitet; es gab noch ſo manches für See in Ordnung zu
bringen und feſt zu machen, damit es bei den zu erwartenden
Bewegungen des Schiffes nicht umſtürzte. Jetzt, als wir auch
das äußerſte Feuerſchiff und die rothe Tonne hinter uns hatten,
welche die Mündung der Elbe kennzeichnet, war alles ſo weit
fertig, daß die eine Hälfte der Mannſchaft entbehrt werden
konnte. Backbordwache, ſo genannt nach Backbord, der linken
Seite des Schiffes, während die andere Steuerbordwache heißt,
erhielt Freiwache oder „Wache zur Coje,“ wie ſonderbarer
Weiſe der techniſche Ausdruck auf Handelsſchiffen lautet. Ich
ging jedoch nicht unter Deck, ſondern ſtand vorn an der Bord-
wand und ließ meine Blicke über die endloſe Fläche gleiten, die
ſich vor mir aufrollte. Es war das Meer, das ich jetzt wirk-
lich ſah, das Meer, nach dem mein Herz ſeit langen Jahren
ſich geſehnt, das ungekannt dennoch einen ſolchen Zauber auf
mich geübt, das mit geheimnißvoller Macht mich an ſich gezogen,
bis ich endlich ſein eigen geworden war. Unbegrenzt, mit dem
Himmel ſich verſchmelzend, lag es vor mir, zwar anders, wie meine
Phantaſie mir ſein Bild gezeichnet, aber immer gewaltig und
imponirend. Ich hatte ſo viel von ſeinen Schönheiten, ſeinen
Wundern, ſeinen Schrecken geleſen, daß jetzt die Wirklichkeit
meinen Vorſtellungen nicht entſprach. Vergebens ſchaute ich
nach den ſich thürmenden Wellen, die ich mir vom Ocean unzer-
trennlich dachte; nicht wallend und wogend zeigte ſich mir die
dunkle Fluth, ſondern ruhig und friedlich breitete ſie ſich aus.
Ich hatte vergeſſen, daß wir uns noch in nächſter Nähe der
Küſte befanden, daß der Wind ſüdlich von ihr herüber wehte
und deshalb kein Seegang aufkommen konnte. Eine Heerde
Delphine umſpielte eine Zeit lang das Schiff, um nach Weſten
zu bald wieder zu verſchwinden. Wo ſie hinziehen, dort wird
R. Werner, Erinnerungen. 2
[18]Werner
bald der Wind herkommen, ſagen die Seeleute und es trifft
bisweilen zu.


Faſt alle Schiffe, mit denen wir am Morgen zugleich
Anker gelichtet, hatten wir weit hinter uns gelaſſen und viele
von ihnen ſchwammen nur noch wie weiße Punkte auf der
Meeresfläche, die nicht mehr von dem gelblichen Waſſer des
Elbſtromes getrübt wurde, ſondern eine lichte, grüne Färbung
angenommen hatte, in der das Kielwaſſer unſeres Schiffes einen
breiten ſilberſchäumenden Streifen zeichnete. Fern am nördlichen
Horizonte tauchte Helgoland als bläulicher Hügel auf, doch nur
einen Augenblick, dann ſenkte ſich ein grauer Wolkenſchleier
herab, entzog es den ſpähenden Blicken, und ſehr bald verwan-
delte ſich auch das Bild, in deſſen Anſchauen ich verſunken war.


Wir hatten bisher vor dem Winde geſegelt, der ſtoßweiſe
und mit ſehr wechſelnder Stärke wehte. Der Himmel ſah
nicht gut aus, auf hellgrauem Grunde ſchwammen dunkle kleine
Wolken und jagten darüber hin, als würden ſie von einem
Sturme gepeitſcht. Die Sonne hatte ſich den ganzen Tag nicht
blicken laſſen, die Möven kreiſchten durchdringend und hielten
ſich niedrig über dem Waſſer.


„Das giebt keine gute Nacht,“ hörte ich den Bootsmann
ſagen. Er war wieder an Deck gekommen, um ſich See und
Himmel zu betrachten, freilich von einem praktiſcherem Stand-
punkte aus, als ich. „Ja“ meinte der von ihm angeredete Zimmer-
mann „ein Krümper* hält nicht lange vor, und die Blänke dort
im Weſten wird bald ihr Geſicht zeigen.“ Kaum waren die
Worte des Sprechers verhallt, als auf einmal alle Segel los-
kamen und heftig zu ſchlagen begannen. „Steuerbord Vor-
braſſen!“ rief der Oberſteuermann vom Hinterdeck; die Segel
ſollten ſchärfer an den Wind geſtellt werden.


[19]Eine erſte Seereiſe

„Da haben wir es ſchon“ ſagte der Bootsmann und das
Tabaksprümchen flog mit Gewalt in ſeinem Munde von Backbord
nach Steuerbord, „nun wird auch bald das Reefen* hinterher
kommen.“


Der Zimmermann ging mit zum Braſſen; der Wind war
auf Südweſt zurückgeſprungen und friſchte ſteif auf. Die
kleineren Segel konnten grade noch ſtehen, aber der jetzt ſeitlich
einkommende Winddruck legte das Schiff bedeutend über. Auch
änderte ſich zu meinem Erſtaunen die ganze Scenerie um mich
überraſchend ſchnell; die von mir vermißten Wellen waren,
wenn auch nicht grade thurmhoch, da, als ſeien ſie hervor-
gezaubert und wir mußten in einen Strich hineingelaufen ſein,
wo ſchon länger ſtarker Weſtwind geſtanden hatte. Das bis
dahin ſo ruhig liegende Schiff begann allerlei unerwartete Be-
wegungen zu machen, die mir durchaus nicht behagten, ſo daß
ich mich krampfhaft an einem Tau feſthielt und mit den Augen
vergebens nach einem feſten Punkte am Horizonte ſuchte. Plötzlich
ſtampfte die „Alma“ tief in die See, ich verlor das Gleichgewicht,
fiel auf das Deck nieder und ein gleichzeitig über den Bug kom-
mender kräftiger Sprützer weichte mich gründlich in Salzwaſſer ein.


„Nun Schweizer, wie gefällt Dir die Seefahrt?“ fragte
mich der Bootsmann lachend. Die wahrheitsgetreue Antwort
hätte gelautet: „In dieſem Augenblicke herzlich ſchlecht“, aber
ſie blieb mir in der Kehle ſtecken oder flog vielmehr unaus-
geſprochen mit noch anderen Dingen über Bord. Die See-
krankheit hatte mich gepackt und zwar gleich ganz gehörig.
Himmel, welches Daſein! über alle Maßen elend. Man hätte
mich über Bord werfen können, ich würde mich nicht geſträubt
haben, und dazu noch Spott von allen Seiten. Ich wollte
hinunter und zur Coje, aber kaum hatte ich die feuchtwarme
drückende Luft des Logis geathmet, da wurde es mir wie zum
Sterben und trieb mich mit Gewalt wieder in’s Freie.
2*
[20]Werner
Inzwiſchen war es Abend geworden, der Wind nahm zu, es
dampfte tüchtig über den Bug und regnete außerdem noch. Auf
der dem Winde abgekehrten Seite vom Großboote, in Lee
hinter der Kombüſe*, war eine Parthie Stroh aufgeſtapelt, das
man zu irgend welchen Zwecken mitgenommen hatte. Hier fand
ich ein einigermaßen gegen Wind und Regen geſchütztes Plätzchen
und machte mir ein Neſt. Man hatte wol Erbarmen mit
meinem Leiden und ließ mich ruhig liegen, ja in der Nacht
deckte mich ſogar Jemand mit einem Stück getheertem Segeltuch
zu und ich glaubte den Bootsmann zu erkennen. Vom
Sonnabend bis Dienſtag, drei volle Tage, dauerte der ſchreck-
liche Zuſtand; von dem was um mich her vorging, empfand
ich nichts, ich hatte genug mit meiner eigenen trübſeligen
Exiſtenz zu thun. Dann endlich wurde mir beſſer zu Muthe
und ich erhob mich aus meinem Bivouak. Die Leute waren
beim Mittageſſen, es gab weiße Bohnen und in der Kombüſe
ſtand ein Reſt im Topfe. Sie erſchienen mir plötzlich ſehr ver-
lockend; ich machte mich darüber her und es blieb nichts übrig,
obwol es wol drei Rationen ſein mochten — die Natur wollte
ihr Recht haben. Meine Seekrankheit war gewichen; ich fühlte
mich noch etwas matt, aber das ging bald vorüber und in
wenigen Tagen waren mir auch die Seebeine gewachſen, d. h.
ich hatte gelernt, bei den ſchwankenden Bewegungen des Schiffes
mich im Gleichgewicht zu halten.


Das alte Seemannsſprichwort bezüglich der Richtung des
kommenden Windes: „Im Sommer die Bänke**, im Winter die
Blänke,“ aus dem der Zimmermann ſeine meteorologiſche
Prophezeiung abgeleitet, hatte Recht gehabt. Der aus der
Blänke, d. h. aus einem hellen Streifen am Horizont des ſonſt
gleichmäßig bedeckten Himmels gekommene Weſtwind hatte
unangenehmen Beſtand. Bald war er ſehr ſteif, bald flaute
[21]Eine erſte Seereiſe
er etwas ab, aber er blies uns ſtets hartnäckig in die Zähne.
Wir kreuzten, nach des Bootsmanns Anſicht, das Blaue vom
Himmel herunter und die ewig ſcharf angebraßten Raaen ſcheuerten
zu ſeinem Kummer trotz dickſter Bewickelung alle Wanten
und Pardunen, wie die Haltetaue der Bemaſtung heißen, entzwei,
ohne daß wir deshalb viel weiter gekommen wären. Wir hatten
ſeit 8 Tagen die Elbe verlaſſen und erſt die Höhe der hollän-
diſchen Küſte erreicht, worüber des Kapitäns Geſicht um nichts
freundlicher ausſah. Die Mannſchaft wußte ſich jedoch über
die verlängerte Dauer der Reiſe leichter zu tröſten. „Der
Monat dreht und der Koch packt auf“ lautet bei ſolchen Anläſſen
ihre Lebensphiloſophie, d. h. die Gage läuft fort und an Eſſen
fehlts auch nicht; das Uebrige kümmert ſie nicht, wenigſtens
was die nautiſche Führung des Schiffes anbetrifft.


Der Matroſe raiſonnirt zwar ſehr gern und über alles
mögliche an Bord, wobei ſtets das letzte Schiff, auf dem er
diente, das höchſte Lob erhält, wenn er es auch noch ſo ſchlecht
hatte, aber in die Navigation miſcht er ſich nicht und kritiſirt
ſie nicht. Er hat einen ungemeinen Reſpect vor fachlichem
Wiſſen und beugt ſich dieſem willig. Sein Vertrauen in die
Fähigkeit des Kapitäns, das Schiff gut und auf dem beſten
Wege an den Ort ſeiner Beſtimmung zu führen iſt oft wahr-
haft rührend. Mag es bisweilen noch ſo bedenklich mit der
Sicherheit ausſehen, und das Fahrzeug auf Haaresbreite am
Strande vorbeigehen, der Matroſe legt ſich deshalb ruhig zur
Coje und ſchläft die wenigen ihm vergönnten Stunden ohne alle
Sorge. „Der Alte wird es ſchon wiſſen wie er es macht“
denkt er bei ſich und wenn auch in dickem Wetter eine Küſte
angeſegelt wird, ohne leichtſinniger Weiſe das Senkblei zu ge-
brauchen, bis das Schiff hoch und trocken auf dem Strand ſitzt,
glaubt er deswegen doch nicht an Unfähigkeit oder ſtrafbare
Nachläſſigkeit des „Alten“, ſondern hält es für ein beſonderes
Unglück. Mich kümmerte natürlich das langſame Vorwärts-
[22]Werner
kommen auch nicht, wenngleich ich dabei nicht an das Drehen
des Monats und das Aufpacken des Kochs dachte. Ich hatte
ſo viel zu ſehen und zu lernen, daß mir die Zeit ungemein
ſchnell verfloß. Ich mußte tüchtig heran, aber das war mir
grade recht; ich wollte lernen, je mehr und je ſchneller,
deſto beſſer.


Meine Schienbeine waren wund vom Erklimmen der
Bramwanten, die nicht wie die übrigen Haltetaue der Maſten
und Stengen ausgewebt, d. h. mit Strickleitern verſehen ſind.
Es galt dann an den bloßen Tauen hochzuklettern um das
Oberbramſegel, das höchſte im Schiff, los oder feſt zu machen,
oder die Raa auf und nieder zu geben. Das geſchah nämlich
ſeitdem ich nicht mehr ſeekrank war, täglich und zwar mußten
mein Kamerad Heinrich und ich damit regelmäßig unſere Frei-
wache erkaufen, er im Vortop, ich im Großtop. Der Kapitän,
von deſſen erziehlichem Einfluß auf uns wir bisher wenig be-
merkt, hatte dieſe Anordnung getroffen, um uns flink zu machen,
und es läßt ſich nicht leugnen, daß das Mittel probat war.
Nichts wird an Bord mehr geſchätzt als Ruhe und Schlaf und
es gehört zu den täglichen Vorkommniſſen, daß ſowol der
Matroſe wie der junge Officier ſich während der ihnen ver-
gönnten kurzen Ruhezeit durch einen Kameraden wecken laſſen,
nur um ſich zu ſagen, du kannſt noch ein bis zwei Stunden
ſchlafen und im Bewußtſein dieſes Hochgenuſſes ſich auf die
andere Seite zu wenden. Für uns Beide war natürlich der
Schlaf grade ſo viel werth, und ſehr bald hatten wir das
Manöver trotz der wunden Schienbeine in fünf Minuten hinter
uns, ſo daß der Kapitän ſeinen Zweck völlig erreicht hatte.


Die Schienbeine waren es aber nicht allein, welche litten;
durch das Ziehen an den von Salzwaſſer naſſen Tauen bekamen
meine Finger tiefe Riſſe an den Seiten, und ich mußte manchen
harten Stoß an Kopf und Körper verwinden, ehe ich lernte,
mich geſchickt auf den beſchränkten Räumen des Schiffes zu
[23]Eine erſte Seereiſe
bewegen — aber ich verbiß die Schmerzen und jeder Tag
brachte mich vorwärts. Nicht wenig trug dazu mein Verhältniß
zum Bootsmann bei; daſſelbe geſtaltete ſich immer freundſchaft-
licher, beſonders ſeitdem er merkte, daß ich gute Fortſchritte im
Plattdeutſchen machte, wenngleich er mich deshalb doch „Schweizer“
nannte. Er gab mir allerlei gute Rathſchläge, wie ich mich
in dieſem oder jenem ſchwierigen Falle meines Faches zu ver-
halten hatte, weihte mich in die Geheimniſſe des Langſpleißes,
des Grummetſtroppes, des türkiſchen Knotens und anderer zur
Zunft gehörigen künſtlichen Tauwerksarbeiten ein und war ſehr
befriedigt, als ich den allerdings traurig mißlungenen Verſuch
gemacht hatte, das Tabakskauen zu erlernen. Ich war danach
ſo furchtbar ſeekrank geworden, daß ich eine halbe Stunde wie
todt lag und mir feierlich gelobte, von ferneren Experimenten
nach dieſer Richtung definitiv Abſtand zu nehmen.


Wir befanden uns auf der Höhe von Texel, d. h. nach
Schätzung des Kapitäns, denn Sonne und aſtronomiſche Orts-
beſtimmung hatten wir in der ganzen Zeit nicht gehabt. Das
Loth war unſer einziger Wegweiſer geweſen und wie der Blinde
mit dem Stock hatten wir unſern Weg nach der Waſſertiefe
und Beſchaffenheit des Grundes, welchen das an ſeiner untern
Fläche mit Talg armirte Loth heraufbrachte, fühlen müſſen.
Das Wetter hatte ſich bisher verhältnißmäßig gehalten und nur
ſelten brauchte ein Reff eingeſteckt zu werden, jetzt jedoch mehr-
ten ſich die Zeichen, daß ein gehöriger Sturm im Anzuge ſei.
Ueber die gleichmäßige graue Decke des Himmels jagten wieder
dunkle zerriſſene Wolken; am Horizont ballten ſie ſich zuſam-
men, ſo daß ſie wie Gebirgsmaſſen mit ſcharf geränderten
Kuppen erſchienen. Der Wind begann ſtoßweiſe zu wehen und
man hörte es oben in den Lüften rauſchen. Die See wurde
unruhig, und der Barometer fiel ſtark. Das hätte nun alles
noch hingehen mögen, aber das Schlimmſte war, daß der
Zimmermann von Frauen, und der Koch von Pferden geträumt
[24]Werner
hatte. „Siehſt du Schweizer“, ſagte der Bootsmann „ich halte
nicht viel von dieſen neumodiſchen Dingern; ich habe fünfzehn
Reiſen nach Grönland und drei nach der Südſee gemacht und
über 50 Wallfiſche harpunirt, aber wir haben nie einen Baro-
meter gehabt. Wenn man dagegen von Pferden und Frauen-
zimmern träumt, dann kannſt Du Dich darauf verlaſſen, dann
giebt es auch was. Das trügt nie, und je älter und häßlicher
die Frauenzimmer ſind, deſto toller fängt es an zu wehen —
das iſt ſo ſicher wie Amen in der Kirche“, dabei flog das
Prümchen nach der andern Seite, faſt mit einem hörbaren Ruck,
wie beim Rekruten die Augen nach rechts.


Jedenfalls ſchien der Kapitän wenigſtens mit der Schluß-
folgerung des Bootsmanns, daß es viel Wind gäbe, einver-
ſtanden zu ſein, denn er ließ noch vor Abend die Marsſegel doppelt
reefen, wodurch ſie beinah um die Hälfte verkleinert wurden,
und das war nicht umſonſt geſchehen. Kurz vor Mitternacht
ſchoß der Sturm aus Nordweſt aus und kam an mit Trom-
meln und Pfeifen. Er fiel in die Segel und legte das Schiff
auf die Seite, daß es ächzte und ſtöhnte. Er wühlte die See auf,
und der über das ganze Vorſchiff ſprühende Giſcht leuchtete unheimlich
durch die finſtere Nacht. Es mußten Segel geborgen werden, um
das Schiff zu erleichtern, das unter ihrem Druck ſchwer in der
See ſtampfte und dadurch ſehr in ſeinen Verbänden litt. Das
Großſegel, das unterſte am Großmaſt kam zuerſt an die Reihe,
dann der Klüver, ein dreieckiges Segel am Klüverbaum, der
Verlängerung des ſchräg nach vorn hinausliegenden Bugſpriets.
Heinrich und ich wurden hinausgeſchickt, um den Klüver feſt zu
machen. Es iſt das eigentlich Matroſenarbeit, weil viel Kraft
und Geſchick dazu gehört und bleibt dennoch bei ſchwerem Arbeiten
des Schiffes gefährlich. Auf Kriegsſchiffen iſt deshalb unter
dem Klüverbaum ein Netz ausgeſpannt, weil die See die Leute
herabſchlagen kann. Auf Handelsſchiffen nimmt man nicht ſo
viel Rückſicht und glaubte uns Beiden die ſchwere Aufgabe
[25]Eine erſte Seereiſe
zumuthen zu dürfen, die wir körperkräftig und überdem durch
die täglichen Oberbramſegel-Exercitien genügend „flink“ gemacht
waren. Wir ſelbſt empfanden natürlich einen berechtigten Stolz
über das uns geſchenkte Vertrauen und gehorchten auf das
ſchnellſte dem uns gewordenen Befehle.


Das Klüverſchoot, die untere Ecke des Segels mit dem
daran befeſtigten Tau ſchlug im Winde ſo heftig, daß das ganze
Vorgeſchirr zitterte. „Feſtgehalten Jungens“ rief der Boots-
mann uns nach „und von draußen angefangen, ſonſt ſchlägt
Euch der Klüver ohne Gnade vom Baum.“ Wir hörten nur
mit halbem Ohr und liefen hinaus. Auf dem Bugſpriet ging
es noch, da hatten wir feſtes Holz unter den Füßen und zwei
dazu angebrachte Taue, die Laufſtagen, um ſie mit den Händen
zu faſſen, aber auf dem Klüverbaum war das „Feſthalten“
leichter geſagt, als gethan. Unten nur das ſogenannte Pferd,
ein Tau um darin zu ſtehen, oben den runden glatten Baum.
Er mußte zwiſchen Bruſt und Knie geklemmt werden, das war
der ganze Halt, denn die beiden Hände gebrauchte man zur Arbeit.
Wir kamen indeſſen glücklich hinaus und fingen an, das Segel zu
beſchlagen. Es war mir, als hätten wir ein wildes Thier ein-
zufangen, ſo ungeberdig zeigte ſich der im Sturm peitſchende
Klüver. Verſchiedene Male glaubten wir ihn ſchon gebändigt
zu haben, dann riß ihn der Wind uns wieder aus den
Händen.


Ich kämpfte meinen erſten perſönlichen Kampf mit den
Elementen und es ſtachelte meinen Ehrgeiz, als Sieger daraus
hervorzugehen. Heinrich ſchien eben ſo zu fühlen und wir ar-
beiteten wie zwei Männer. Die ungewohnte ſeltſame Umgebung
trug nicht wenig dazu bei, den Kampf noch aufregender zu
machen. Die dunkle Nacht, das Heulen und Pfeifen des Windes
in der Takelage, das Rauſchen des Schiffes durch das Waſſer,
welches ſich wie ein glühender Berg vor ſeinem Bug aufſtaute,
die ſchäumenden, überkopfenden Wellen, denen wir bei dem
[26]Werner
Auf- und Niederſtampfen bisweilen ſo nahe kamen, daß unſere
Füße ſie berührten — alles das wirkte wie bezaubernd auf
mich ein und beſtrickte förmlich meine Sinne. Ja, ſo hatte
ich mir das Seeleben gedacht, das war es, wonach ich mich
geſehnt, das die Poeſie des Meeres, die mich ſo mächtig ange-
zogen und meine Phantaſie beſchäftigt hatte. Oh wie freudig
bewegte das mein Herz, ſo hatte ich mich doch nicht getäuſcht
und mein Beruf war nicht verfehlt! Mein Geiſt entfaltete ſeine
Schwingen, er flog hinaus in die Zukunft und mechaniſch nur
arbeiteten meine Hände.


Wir hatten den Klüver wieder halb auf den Baum ge-
bracht, aber der gute Rath des Bootsmannes „Feſthalten“ war
vergeſſen. Das Schiff ſtampfte auf einmal ſehr ſchwer hinunter.
Wir lagen über dem Baum und hielten das ſich ſträubende
Segel. Da ſchlug die See unter das Pferd, in dem wir
ſtanden und mit Gewalt unter unſere Füße; gleichzeitig faßte
der Wind wieder das Klüverſchoot und peitſchte es hinaus in
die Luft. In dem Streben, es zu halten, verloren wir durch
den Stoß der See von unten das Gleichgewicht, flogen über
den Baum fort und ſtürzten hinunter in die gähnende Tiefe.
Ich glaubte den Ruf „Mann über Bord“ zu hören, empfand
etwas wie einen Schlag — dann verlor ich die Beſinnung.


Als ich wieder zu mir kam und die Augen aufſchlug, lag
ich in meiner Coje. Vor mir auf der Seekiſte ſaß der Boots-
mann und hatte meine Hand gefaßt.


„Schweizer“ ſagte er und ſeine ſonſt ſo rauhe Stimme
klang freundlich und herzlich „beinah wäre das mit Dir unklar
gegangen. Ein ander Mal, da thue, was ich Dir ſage und
halte Dich feſt. Siehſt Du mein Junge, wenn man ein ordent-
licher Seemann werden will, dann muß man an jedem Finger
einen Angelhaken haben und wenn man bei zwei Reffen in den
Marsſegeln den Klüver feſt macht, dann müſſen Bauch und
Beine wie eine Wantſchraube den Baum feſthalten.“


[27]Eine erſte Seereiſe

„Wie bin ich denn aber gerettet worden?“ fragte ich, „ich
bin doch über Bord gefallen.“


„Ja, bisweilen iſt ein verkehrter Kink auch zu etwas
nütze“ erwiederte er lächelnd „das haſt Du der Beſchlagzei-
ſing vom Klüver zu danken. Vorläufig aber ſchweige, trink
hier den Schluck, den der Alte Dir geſchickt und dann ſchlafe.
Morgen früh mußt Du wieder auf ſein, denn da brauchen wir
alle Mann. Es ſteckt noch viel Schlimmes in der Luft, ich
fühle es in meinen Knochen und will auch noch etwas zur Coje.“


Dabei reichte er mir eine Flaſche Madeira, aus der ich
einen tüchtigen Schluck nahm, der mir wie Feuer durch die
Adern rieſelte und mich wunderbar belebte.


„Danke Bootsmann, wie viel Uhr iſt es?“


„Gleich vier Glas*.“


Kurz vor Mitternacht hatte ich den Klüver feſtmachen
ſollen, jetzt war es bald zwei Uhr; ich mußte alſo zwei Stunden
ohne Bewußtſein gelegen haben und der Bootsmann hatte dieſe
Zeit von ſeiner Freiwache geopfert, um bei mir zu wachen.
Ich war tief gerührt und drückte ihm dankbar die Hand; ich
ſtand nicht mehr allein und hatte einen väterlichen Freund gewonnen.


„Wo iſt Heinrich?“ fragte ich weiter.


Der Alte drehte ſich ab [und] fuhr mit der verkehrten Hand
über die Augen. „Er ſchläft — in Gottes Keller“ erwiederte
er halblaut.


Ich verſtand nur die erſten Worte, den Sinn der letzten
jedoch nicht. Der Bootsmann ging zur Coje und bald hörte
ich an ſeinen tiefen Athemzügen, daß er ſchlief. Ich ſann
darüber nach, was er mit dem verkehrten Kink und der Be-
ſchlagzeiſing gemeint haben konnte, aber der ungewohnte Wein
[28]Werner
mochte wol wirken, meine Gedanken verſchwammen und ich
entſchlummerte ebenfalls. Mein Schlaf mußte ſehr feſt ſein.
Ich hörte beim Wachwechſel um vier Uhr nichts von dem
ſonderbaren Geſange, mit dem die Freiwache geweckt wird „Reiß*
aus Quartier in Gottes Namen“. Man ließ mich ruhig liegen
und erſt gegen Tages Anbruch wurde ich wach, als der Alarm-
ruf „Reeve, Reeve“ in die Logiskappe hinunter gellte. Der
Sturm hatte ſo zugenommen, daß das letzte Reff in die Mars-
ſegel geſteckt werden mußte. Jener Ruf an Bord von Handels-
ſchiffen wie „Ueberall, überall!“ bedeutet, daß Noth am Mann
iſt und alles flog aus der Coje. Ich fühlte mich wieder voll-
ſtändig geſund, war im Augenblick angekleidet und ſprang als
einer der erſten die Treppe hinauf an Deck.


Huh! wie wehte es und wie peitſchte Regen und Hagel in
das Geſicht, ſo daß man kaum die Augen öffnen konnte! Eine
ſchwere Hagelbö war eingefallen. Trotz der heruntergelaſſenen
Marsſegel ſtanden Raaen und Braſſen zum brechen; das Schiff
lag ſo über, daß faſt die Lee-Verſchanzung im Waſſer ſchleppte;
die See dampfte von vorn bis mittſchiffs ununterbrochen über
Deck und man konnte nur vorwärts kommen, indem man ſich
längs der Bordwand an den Tauen hielt. Der Bootsmann
hatte Recht gehabt, es lag noch viel Schlimmes in der Luft.


Mit Anſpannung aller Kräfte gelang es uns, das dritte
Reff einzubinden, aber wir lagen über eine halbe Stunde auf
den Raaen und brachen uns die Fingernägel an dem naſſen
ſteifen Segeltuch, ehe wir es bewältigten. Als wir endlich fertig
waren, hatte auch die Bö nachgelaſſen; das Schiff richtete ſich
etwas auf und lag bequemer und ruhiger auf dem Waſſer, ob-
wol es immer noch ſchlimm genug arbeitete. Es war hell
geworden und klarte auf.


„Mannt** das Loth!“ befahl der Kapitän, der die ganze
[29]Eine erſte Seereiſe
Nacht das Deck nicht verlaſſen hatte und in deſſen Geſicht ich
eine gewiſſe Unruhe wahrzunehmen glaubte. Mein Blick fiel
auf das Waſſer. Es ſah ſo ſonderbar weißlich aus; alle die
Tage hatte ich ſeine ſchöne ſmaragdgrüne Farbe bewundert.
„Flink mit dem Loth“ rief der Bootsmann den Leuten zu und
ſprang mit der Leine in der Hand mittſchiffs auf die Ver-
ſchanzung. Auch in ſeinen Zügen ſchien ſich Beſorgniß auszuſprechen.


„Was iſt Bootsmann?“ fragte ich.


„Leegerwall*!“ war ſeine kurze Antwort, die mich jedoch
ſo klug ließ wie vorher.


„Paß auf, achter**!“ erklang es vom Fockwant*** her
und der dort poſtirte Mann warf das Loth.


Der Bootsmann ließ die Leine durch die Hand gleiten
und holte, als ſie auf und nieder zeigte, mit großer Haſt das
Loſe ein. Ein Lederläppchen, das in der Leine befeſtigt war,
ſchnitt mit der Waſſerfläche ab. „Zehn Faden!“ ſagte er zu
dem herangetretenen Kapitän und wechſelte mit ihm einen be-
deutungsvollen Blick. Ich weiß nicht, weshalb die beiden Worte
mich ſo eigenthümlich erſchreckten. Sechzig Fuß Waſſer war
ja tief genug für irgend welches Schiff. „Land in Lee!“ rief
jetzt ein Matroſe und aller Blicke wandten ſich nach der be-
zeichneten Richtung. Ein niedriger grauer Streifen trat aus
der ſich verziehenden Bö hervor, wir konnten kaum noch zwei
Meilen von der Küſte entfernt ſein. Jetzt wurde mir auf ein-
mal die Bedeutung von „Leegerwall“ klar. Wir waren auf
einer Leeküſte beſetzt. Die Milchfarbe des Waſſers hatte die
geringe Tiefe angezeigt; ſie war der Reflex des hellen Sandgrundes.


Der Kapitän ſah die Grundprobe an, die das Loth herauf-
gebracht hatte. „Es ſtimmt mit dem Beſteck“ äußerte er
anſcheinend ruhig zum Oberſteuermann, „wir haben Texel“.
[30]Werner
„Hans Hanſen“ wendete er ſich dann an einen Matroſen, „Du
haſt gute Augen, geh in’s Want und ſieh, ob Du nicht einen
Thurm gewahr werden kannſt.“ Der Angeredete enterte auf und
ſuchte den Horizont ab.


„Feuerthurm voraus drei Strich* in Lee“ rief er und
zeigte mit der Hand nach der Richtung.


„Gut,“ ſagte der Kapitän und winkte ihm herunter zu
kommen. „Wie viel Abdrift haben wir?“ fragte er den
Steuermann.


„Vier Strich“ meldete dieſer, als er nach der Richtung
des Kielwaſſers geſehen hatte. Der Wind war Nordweſt, die
„Alma“ lag ſcheinbar etwas ab vom Lande, mit der Drift
näherte ſie ſich jedoch demſelben. Wenn ein Schiff ſcharf am
Winde ſegelt und nur kleine Segel führt, alſo wenig Fahrt
machen kann, ſo geht es nicht in der Richtung ſeines Kiels
voraus, ſondern wird vom Winde ſchräg ſeitwärts geſchoben —
das iſt ſeine Abdrift.


„Wir müſſen Segel ſetzen. Ein Reff aus den Marsſegeln!“


Das eben mit ſo viel Mühe und Roth eingenommene
Reff wurde wieder ausgeſteckt.


„Wie viel Drift?“ „Drei Strich!“ „Noch zu viel,
Großſegel los!“


Das Großſegel wurde geſetzt und verminderte die Drift
abermals um 1½ Strich. Das Schiff ging damit grade längs
der Küſte, aber das genügte noch nicht, es mußte auch davon
abliegen. Der Klüver wurde geheißt. Alles ging gut; das
Schiff machte unter dem Preß von Segeln ſchlanke Fahrt und
der Feuerthurm wanderte raſch aus. Noch zwei Stunden ſo,
dann befanden wir uns in freiem Waſſer und konnten auf-
athmen. Augenblicklich war der Wind nicht zu ſchwer für die
Segel, aber dort leewärts ſtieg am Horizonte ſchon wieder eine
[31]Eine erſte Seereiſe
Hagelbö herauf. Man kennt ſie an den dunkelgelben Streifen,
die ſich ſcharf gegen das übrige Gewölk abgrenzen und wie eine
ſtarre Mauer erſcheinen. Wenn ſie ſo viel Wind brachte, wie
die letzte, dann war es kaum denkbar, daß die Segel es aus-
halten konnten. Trotzdem hofften wir es; jeder von uns wußte,
daß es hieß „Biegen oder Brechen“. Konnten wir von der
Küſte nicht frei ſegeln, ſo waren wir höchſt wahrſcheinlich
verloren.


Seit meinem Erwachen hatten die Ereigniſſe des Morgens
ſo ſchnell gewechſelt und mein Intereſſe ſo ſehr in Anſpruch
genommen, daß mir keine Zeit blieb, mich um etwas anders
zu kümmern. Jetzt war eine Ruhepauſe; die vergangene Nacht
trat mir wieder lebhaft vor die Seele und damit auch meine
noch unaufgeklärte Rettung. Ein Leichtmatroſe von unſerer
Wache gab mir Aufſchluß über die näheren Umſtände. Als ich
von der See über den Klüverbaum geworfen war, hatte ſich die
Beſchlagzeiſing, d. h. das zum Befeſtigen der Segel dienende
Tau, durch einen glücklichen Zufall wie eine Schleife um meinen
Körper gewunden, was der Bootsmann mit einem „verkehrten
Kink*“ bezeichnete. Dadurch war ich über Waſſer hängen ge-
blieben, aber mit dem Kopf gegen den Stampfſtock** geſchlagen,
beſinnungslos geworden und hatte als lebloſe Maſſe geſchwebt,
die bei jedem tiefern Stampfen des Schiffes in das Waſſer
getaucht wurde.


Ohne die ſchleunigſte Hülfe wäre ich verloren geweſen und
dieſe wurde mir mit eigener größter Lebensgefahr durch den
Bootsmann gebracht. Während das Unglück paſſirte, hatte er auf
der Back*** geſtanden. Durch ſeinen Ruf „Mann über Bord“
[32]Werner
war die Wache alarmirt. Dann hatte er ſich ein Tau um den
Leib befeſtigt, war nach dem Stampfſtock hinausgeklettert, hatte
mich in ſeine Arme genommen, die Beſchlagzeiſing abgeſchnitten
und mich an Bord getragen. Zweimal war er mit mir völlig
in der See begraben worden, hatte ſich und mich aber mit faſt
übermenſchlicher Kraft feſtgehalten und mich glücklich gerettet.


„Und auf welche Weiſe iſt Heinrich geborgen?“ fragte ich
den Leichtmatroſen.


„Heinrich?“ erwiederte dieſer erſtaunt „weißt Du denn
nicht, daß er über Bord gegangen iſt?“


Ich zuckte erſchreckt zuſammen. „Aber doch gerettet“ rief
ich, „der Bootsmann ſagte mir doch heute Nacht, er ſchliefe.“


„Ja, in Gottes Keller, da unten auf dem weißen Sande
ſchläft er, bis der liebe Gott einmal „alle Mann“ ruft. Nein,
zu retten war er nicht. Als wir das „Mann über Bord“
hörten, da ließ der Steuermann ſogleich an den Wind luven
und wir braßten im Großtop back*, um beizudrehen. Die
Rettungsboje wurde über Bord geworfen und außer dem Unter-
ſteuermann traten wir gleich mit vier Freiwilligen vor, um
trotz des ſchlechten Wetters und der finſtern Nacht in das Lee-
boot zu gehen. Aber als wir letzteres halb zu Waſſer gelaſſen
hatten, da holte das Schiff ſo heftig nach Lee über, daß die
See drei Planken im Boot einſchlug und da war natürlich an
Retten nicht mehr zu denken.


„Es hätte uns doch nichts geholfen,“ fuhr der Leicht-
matroſe traurig fort. „Als das Boot wieder geheißt war und
wir Dich in Deine Coje getragen hatten, ſollte ich ein im
Waſſer ſchleppendes Tau einholen. Es hackte etwas daran und
ich ſah über Bord was es ſei[.] Da löſte ſich eine größere
Maſſe von der Schiffsſeite und trieb langſam ſinkend nach
[33]Eine erſte Seereiſe
hinten. Es war der arme Heinrich, denn das Waſſer feuerte
ſo, daß ſowohl ich wie der Unterſteuermann klar einen menſchlichen
Körper erkannten. Da er ein guter Schwimmer war, muß er
beim Fallen betäubt worden ſein, denn Niemand hat einen Schrei
gehört. Dann iſt er langſeit in die Bucht des Taues getrieben
und von ihm feſtgehalten, bis es von mir eingeholt wurde.“


Die Kunde erſchütterte mich auf das heftigſte, weil ſie
mich ſo unvermittelt traf — der friſche, von Geſundheit ſtrotzende
Knabe von ſo plötzlichem Tode ereilt!


In wie tiefernſter Geſtalt trat mir das Seeleben gleich
von vornherein entgegen, mit welcher furchtbaren Deutlichkeit
führte es mir vor Augen, daß auf einem Schiffe uns nur eine
Planke von dem ſtets offenen Grabe trennt! Wenn Heinrich
mir auch nicht beſonders nahe geſtanden hatte, war er mir doch
ein guter Kamerad geweſen, deſſen offenes, heiteres Weſen mich
anſprach und der auch mir bei jeder Gelegenheit zeigte, daß er
mich gern mochte. Ich fühlte deshalb ſeinen Verluſt um ſo
ſchmerzlicher, als ich für die übrigen jungen Leute der Mann-
ſchaft wenig Sympathie hatte. Unwillkürlich rannen mir die
Thränen über die Backen, doch blieb mir keine Zeit dieſen Ge-
danken nachzuhängen. Das „Schlimme in der Luft“ ſtürmte
jetzt mit ſeiner ganzen Schwere auf uns ein.


Die Bö hatte uns erreicht und entlud ihre ganze Gewalt.
Zuerſt kam der Hagel und dann folgte bald der Wind. Der
Kapitän wußte, um welchen Einſatz er ſpielte. Von Segel-
bergen war keine Rede; wir mußten preſſen — die unheilvolle
Küſte war ſchon zu nah, wir durften nicht treiben. Er hatte
für alle Fälle die Mannſchaft auf die Windſeite des Hinter-
decks beordert und dem Mann am Ruder befohlen, ganz nahe
am Winde zu halten.


Da ſetzte mit einem furchtbaren Stoße der Sturm ein und
legte mit übermäßigem Drucke das Schiff auf die Seite. Er
war ein paar Striche mehr nach hinten herumgegangen und
R. Werner, Erinnerungen. 3
[34]Werner
packte deshalb die „Alma“ unter vollen Segeln. Daß ſie nicht
kenternd umſchlug, dankte ſie nur ihrer Eiſenladung, wodurch ſie
ſehr viel Steifheit* beſaß; die Segel flogen nicht fort, weil
ſie ganz neu waren, doch der Sturm ſuchte ſich einen andern
Angriffspunkt.


„Luv, luv, hart an den Wind!“ ſchrie der Kapitän dem
Manne am Ruder zu, um die Kraft aus den Segeln zu nehmen.
Vergebens! Ehe der Rudergaſt noch gehorchen konnte, ertönte
ein Krachen und Raſſeln und Splittern und der Fockmaſt ging
über Bord. Der Klüverbaum und das Bugſprit** waren von
ihm mitgenommen. Unſer Schickſal ſchien beſiegelt, das Schiff
war ſteuerlos geworden. Es ſchoß in den Wind, verlor die
Fahrt und begann grade auf die Küſte zu treiben.


Unſere einzige Rettung beruhte jetzt auf den Ankern; wir
mußten verſuchen den Sturm abzureiten. Wir trieben hinter
dem Wrack des Fockmaſtes mit ſeinen Raaen und Segeln. Es
gewährte uns in doppelter Beziehung Nutzen; die anrollenden
Seen brachen ſich an ihm und ſein Widerſtand im Waſſer ver-
langſamte bedeutend unſere Drift. Der Kapitän gab ſeine Be-
fehle mit eiſerner Ruhe, die ihre Rückwirkung auf uns nicht
verfehlte. Da war kein Zaudern und Zagen, jeder that mit
Einſatz der ganzen Kraft ſeine Schuldigkeit. „Hilf dir ſelbſt
und Gott wird dir helfen,“ das iſt des rechten Seemanns
Credo. Die Anker fielen und die ganze Länge der Ketten wurde
vorgegeben. Ehe wir aber ſo weit kamen, war geraume Zeit
vergangen und die Küſte nur noch etwa eine Meile entfernt.
Wir ſahen die Brandung, wie ſie an den Strand rollte und
der Sturm ihren ſchäumenden Giſcht hoch in die Lüfte trug.
Die Anker hatten gut gefaßt, und die Ketten hielten, aber nun
[35]Eine erſte Seereiſe
trieb das Vorgeſchirr* gegen unſern Bug. Es rammte auf ge-
fährliche Weiſe gegen Schiff und Ketten und mußte deshalb
auf das ſchleunigſte gekappt werden. Wir verloren damit frei-
lich den bisherigen Schutz und wie gut auch das Schiff ſonſt
ritt, ſo brachen die ſchweren Grundſeen doch öfter darüber hin
wie über eine Klippe und die Ketten wurden ſo ſtraff geſpannt,
daß ſie jeden Augenblick zu ſpringen drohten.


Da der Sturm noch zunahm, mußte zum letzten Hülfs-
mittel geſchritten und auch der Großmaſt gekappt werden. Trotz
größter Vorſicht zerſchmetterte er beim Sturze zwei Boote und
einen Theil der Verſchanzung; im Falle des Strandens hatten
wir jetzt nicht einmal ein Boot mehr, denn die übrig gebliebene
ſchwache Gig hätte in der Brandung nicht leben können. Zur
Rettung des Schiffes konnte unſrerſeits nichts mehr geſchehen;
alles Uebrige ſtand in Gottes Hand.


So lange hatten wir mit Anſpannung aller Kräfte arbeiten
müſſen und nur an die Ausführung der gegebenen Befehle ge-
dacht; jetzt jedoch, wo das Schiff ſelbſt faſt als Wrack in der
brandenden See lag und nichts mehr zu thun war, da blieb
uns Zeit, über unſere Lage nachzudenken. Sie kam auch mir
in ihrer ganzen Furchtbarkeit zum Bewußtſein. Die Ketten
waren unſere letzte Hoffnung, ihr Brechen gleichbedeutend mit
ſicherem Tode, aber Niemand verlor deswegen den Muth. Es
iſt eine eigenthümliche Erſcheinung bei dem Seemanne, daß er
nicht an die Gefahr glaubt, bis ſie ihn wirklich packt und er
in ihr zu Grunde geht. Das iſt aber ein großes Glück für
den Beruf, denn keine vorzeitige Furcht oder Verzweiflung
lähmt ſeine Thatkraft; ſie bleibt bis zum letzten möglichen
Augenblicke und dadurch grade wird die Gefahr in den meiſten
Fällen beſeitigt.


Die Wuth des Sturmes nahm inzwiſchen noch zu. Eine
Bö jagte die andere und wühlte die See faſt bis auf den
3*
[36]Werner
Grund auf. Bald rollten die Wogen wie mächtige Berge heran,
hoben das Schiff hoch auf ihren Rücken und ließen es dann
wieder blitzſchnell hinabſchießen in das Wellenthal, als ſollte es
in ihm begraben werden; bald wurden ſie von der Gewalt des
Windes vollſtändig niedergeweht und ringsum kochte und brodelte
nur eine ſchäumende Maſſe und überſchüttete das Schiff mit
einem Sprühregen.


Der Eindruck, den dieſer Kampf der Elemente auf mich
machte, war ein großartiger. Obwohl ich ſeitdem ſo oft ähnliche
und kaum weniger furchtbare Scenen erlebt habe, iſt jener Tag
vor allem lebendig in meinem Gedächtniſſe geblieben, wohl weil
ich damals zum erſten Male die Majeſtät des Meeres ſah.
Das Heulen des Orkans, das Rauſchen der Wellen, die daher
ſtürmten und deren Kämme mit donnerndem Getöſe überbrachen,
das Erkrachen des Schiffes in Fugen und Balken, ſein Aechzen
und Stöhnen, als ſei es ein menſchliches Weſen, das inmitten
dieſes Aufruhrs der Natur ſeinen Todeskampf kämpfte — wahrlich
es war eine Majeſtät, aber von grauenvoller Erhabenheit.


Demüthig beugte ich mein Haupt vor ihr, in der ſich des
Schöpfers Allmacht ſo gewaltig offenbarte und ein inbrünſtiges
Gebet ſtieg zu ihm empor, deſſen ſtarke Hand allein jetzt unſer
ſchwaches Schiff über den dunkeln Waſſern hielt. Nie zuvor
hatte ich ſeine Nähe, das Wehen ſeines Odems ſo deutlich gefühlt
wie heute inmitten der Wuth des Orkans und des wilden Brauſens
der Wellen, inmitten der Schrecken der Luft und der Tiefe.


Und doch beſchlich keine Furcht mein Herz; aus dem be-
täubenden Getöſe der erregten Natur ſprach eine tröſtende
Stimme: „Aengſtigt Euch nicht, ich wache über Euch,“ und
ruhig erwartete ich unſer ferneres Geſchick.


Langſam ſchwand der Tag dahin. Die Mannſchaft war
ſämmtlich auf dem Hinterdeck verſammelt; vorn auf dem Schiffe
konnte man wegen der überbrechenden Waſſermaſſen nicht ausdauern.
Mit Lebensgefahr und oft bis über die Bruſt im Waſſer ſtehend
[37]Eine erſte Seereiſe
war von uns das Ankerſpill* abgeſtützt worden, um bei den
furchtbaren Stößen, die es durch die beim Stampfen ſtraff
werdenden Ketten auszuhalten hatte, nicht über Kopf zu gehen.
Die Kombüſe war ſchon durch den fallenden Fockmaſt zerſtört;
gekocht konnte nicht werden. Schiffszwieback und etwas Rum
mit Waſſer diente uns als Nahrung.


Gegen Sonnenuntergang ſchien der Sturm noch einmal
ſeine ganze Kraft entfalten zu wollen. Immer härter wehte es,
immer höher thürmten ſich die Wellen und warfen das Schiff
wie einen Ball ſich einander zu. Bisweilen erklang durch das
Brauſen und Rauſchen ein unheimlich gellender Ton, als ob an
eine Glasglocke geſchlagen würde. Es waren die Ketten, die
zum Springen ſtanden, wenn eine ſchwere Grundſee das Schiff
packte und es nach hinten ſchleuderte. Ueber das Geſicht des
Kapitäns flog ein leiſer Schatten, wenn der Ton ſich hören
ließ; er fühlte, wie wir alle, daß jetzt der kritiſchſte Moment
für unſer Schiff gekommen ſei. Er ging jedoch glücklich vorüber.
„Wenn die Sonne hinunterweht, gutes Wetter in Ausſicht ſteht,“
dieſe alte Wind- und Wetterregel der Seeleute bewährte ſich
auch diesmal.


Gegen acht Uhr Abends brach ſich das Wetter; der dichte
gleichmäßige Wolkenſchleier zerriß; hier und dort ſchaute ein
Stern hervor, zuerſt nur einen Augenblick, dann dauernd. Die
Pauſen zwiſchen den Böen wurden länger, die Kraft der See
ſchwächer und das Schiff ruckte nicht mehr ſo heftig in ſeine
Ankerketten. Der Wind ſelbſt ließ allmälig nach, drehte ſich
dabei nach rechts und die uns drohende Todesnoth ſchien durch
Gottes gnädigen Beiſtand beſeitigt. Um Mitternacht hatten
ſich die Elemente ganz beruhigt. Ueber uns wölbte ſich der
ſternenklare Himmel; der Wind war ſtetig abflauend nach Oſten
herumgegangen und dadurch ablandig geworden. Die See fiel
[38]Werner
und bald ſchwankte unſer Schiff nur noch leiſe auf den ſich
glättenden Wellen.


Augenblicklich war keinerlei Gefahr vorhanden, die „Alma“
lag zwar als ein hülfloſes Wrack, aber in der Nacht konnte
doch nicht viel geſchehen und vor allen Dingen bedurften wir
der Ruhe und Erholung nach den furchtbaren Strapazen der
letzten 24 Stunden. Drei Viertel der Mannſchaft wurden
deshalb zur Coje geſchickt und bald waren im ſüßen Schlummer
Angſt und Sorgen des Tages vergeſſen. Der andere Morgen
fand uns alle wieder friſch, und rüſtig ging es an die Arbeit.
Es galt vorerſt Nothmaſten zu errichten, um den uns nächſten
Hafen erreichen zu können. Der Fockmaſt war ziemlich hoch
abgebrochen, ſo daß wir ohne zu große Schwierigkeit eine
Reſervemarsſtenge daran befeſtigen und eine Marsraa aufbringen
konnten. Ehe wir jedoch damit fertig waren, bemerkten wir von
Süden her ein Dampfſchiff, das ſeinen Curs auf uns zu nehmen
ſchien. Bald erkannten wir auch die Flagge; es war ein
holländiſches Kriegsſchiff. Vom Feuerthurm aus hatte man
nach Helvoetsluys unſere gefährliche Lage am Tage zuvor mit-
getheilt und der Admiral des dortigen Kriegshafens den Dampfer
zu unſerer Hülfe entſandt, ſobald die Witterung es geſtattete.
Der Commandant ſchickte einige dreißig Mann an Bord, um
unſere Anker zu lichten; die Bugſirtaue wurden feſtgemacht, der
Dampfer ſetzte ſich in Bewegung, bei dem ſchönen Wetter und
ruhigem Waſſer ging es mit ſchneller Fahrt vorwärts und nach
wenigen Stunden liefen wir wohlbehalten in Helvoetsluys ein.


Am Hafen hatte ſich eine große Menge Zuſchauer geſammelt,
als wir ankamen, um ſtaunend auf die Verwüſtungen zu blicken,
die Sturm und See auf unſerm Schiffe angerichtet. Letzteres
ſah aber auch ſchlimm aus mit ſeinen gebrochenen Maſten,
ſeinen fortgeſchlagenen Booten und zerſchmetterten Verſchanzungen
und wir kamen uns als Helden des Tages ordentlich groß vor.
Die angeſtellte Beſichtigung von Sachverſtändigen ergab, daß
[39]Eine erſte Seereiſe
der Rumpf, trotz der furchtbaren Anſtrengung bei dem Abreiten
des Sturmes, unter Waſſer nicht gelitten hatte. Wir brauchten
deshalb nicht auf die Helling zu holen, aber die übrigen Repa-
raturen erforderten doch eine Zeit von ſechs Wochen und erſt
kurz vor Weihnacht konnten wir unſere Weiterreiſe antreten.


Für mich bot der Aufenthalt viel Neues und Intereſſantes
in den Anlagen und Etabliſſements des großen holländiſchen
Kriegshafens. Wie gewaltig imponirten mir die Linienſchiffe,
neben denen unſere „Alma“ wie ein Boot erſchien. Der Sohn
unſeres Conſuls, eines deutſchen Kaufmanns, war Kadett auf
einem derſelben. Er kam eines Tages in Begleitung ſeines
Vaters an Bord, um der Einladung unſers Kapitäns zu einem
Frühſtück Folge zu leiſten. Bei dieſer Gelegenheit redete er
mich verſchiedene Male an, um von mir Auskunft über den
Verlauf des von uns verlebten ſchweren Wetters zu erhalten.
Er mochte wohl aus meinen Antworten entnehmen, daß ich
nicht zu der gewöhnlichen Klaſſe von Schiffsjungen gehörte und
ihm an Bildung gleich ſtand, denn unſere Unterhaltung ſpann
ſich immer länger aus. Wir fanden beide Gefallen an einander.
Gleiches Alter, gleiche Anſchauungen und Fachgenoſſenſchaft
ließen ſehr bald eine gewiſſe Vertrautheit zwiſchen uns entſtehen
und ein warmer Händedruck bekräftigte beim Abſchiede unſere
junge Freundſchaft. Trotzdem beſchlich mich eine gewiſſe Bitter-
keit, als ich ihn in ſeiner ſchmucken Uniform dahin gehen ſah.
Als ich mit jugendlicher Begeiſterung mich für den ſeemänniſchen
Beruf entſchied, da kannte ich das Seeleben nur aus Büchern
und bildete danach meine Begriffe. Ich glaubte, ähnlich wie
jener Kadett meine Laufbahn zu beginnen, in Gemeinſchaft mit
Meinesgleichen zu leben, in Erprobung meiner geiſtigen Kraft
den Ocean zu durchfurchen, die Elemente zu bekämpfen und zu
beſiegen, meine Wißbegierde im Anſchauen und Studium fremder
Welten zu befriedigen — und wie ganz anders hatten ſich die
Sachen geſtaltet! Ich war ein Schiffsjunge, der Letzte auf einer
[40]Werner
niedrigen Stufe des Lebens — das was ich mir geträumt und
was der Kadett mir wieder ſo lebhaft in das Gedächtniß rief,
war für mich unerreichbar. Deutſchland beſaß keine Kriegsflotte,
auf der ich meine Träume verwirklichen konnte, und mir winkte
nur ein untergeordnetes Ziel. In dieſe trüben Gedanken ver-
ſunken ſtand ich an der Verſchanzung, als ich mich an der
Schulter berührt fühlte. Ich drehte mich um und blickte in
das Geſicht des Bootsmanns, deſſen treuherzige Augen mit faſt
väterlichem Wohlwollen auf mir ruhten. Er mochte wohl ahnen,
was in mir vorging und wollte mich auf ſeine Art tröſten.


„Nicht mit loſen Segeln liegen, Schweizer, damit kommt
man nicht vorwärts und treibt nur nach Lee. Immer hübſch
voll halten, mein Junge, dann kreuzt es ſich gut auf gegen
conträren Wind.“


Ich verſtand, was er meinte, und indem ich ihm dankbar
zunickte, wiſchte ich mir die Thräne aus dem Auge, die meinen
Blick verſchleiert hatte. Ich gedachte meines Vorſatzes auf der
erſten Nachtwache im Hamburger Hafen und wollte muthig
gegen eine traurige Stimmung ankämpfen. „Es iſt nichts
werth, immer ſo an Bord zu hocken,“ fuhr der Bootsmann
fort, „Du kannſt heute Abend mit mir an Land gehen; ich
habe den Alten ſchon um Erlaubniß gefragt und er hat nichts
dagegen. Da kommſt Du in anſtändige Geſellſchaft und auf
andere Gedanken. Es ſind zwar meiſtens Holländer, aber ich
denke, Du wirſt ſie ſchon verſtehen.“


Bald nachher rief mich der Kapitän in die Cajüte und
fragte mich, ob ich etwas Geld haben wollte, ich hätte mir ſchon
eine Monatsgage verdient. Er war nicht mehr ſo barſch und
unfreundlich gegen mich, wie früher, ſondern ſprach wohlwollend
zu mir. Die ſchwere Zeit, welche wir kürzlich mit einander
verlebt, hatte ihn uns Allen wohl etwas näher gebracht. Gemein-
ſam beſtandene Gefahren knüpfen ja gewöhnlich zwiſchen Menſchen
ein engeres Band und außerdem hatte er auch wohl dabei die Ueber-
[41]Eine erſte Seereiſe
zeugung gewonnen, daß unſere geſammte Mannſchaft ſeemänniſch
tüchtig war und er ſich auf ſie in kritiſchen Augenblicken ſicher
verlaſſen konnte. Was mich ſelbſt betraf, ſo konnte natürlich von
eigener ſeemänniſcher Tüchtigkeit noch keine Rede ſein, aber es war
ihm wahrſcheinlich nicht entgangen, daß ich verſucht hatte, meine
Schuldigkeit zu thun und daß es mir weder an dem nöthigen
Willen, noch an den Anlagen fehlte, um ein Seemann zu werden.


In jener Zeit gingen ſehr wenige junge Leute aus dem
Binnenlande zur See. Die Schiffe recrutirten ihre Beſatzungen
faſt ausſchließlich aus den Küſtendiſtricten und „Oberländer“ oder
„Schweizer“, wie der Bootsmann ſie nannte, wurden nicht nur
von ihren Vorgeſetzten, auch von ihren Kameraden mit einem
gewiſſen Vorurtheil empfangen, namentlich wenn ſie einen höheren
Bildungsgrad beſaßen. Man betrachtete ſie als unberechtigte
Eindringlinge und machte ihnen das Leben auf jede Weiſe ſchwer,
bis ſie zeigten, daß ſie „fixe Kerle“ waren.


Dadurch, daß ich mir die Zuneigung des Bootsmannes
erworben, war allmälig meine Stellung den Matroſen gegenüber
eine günſtigere geworden. Er wurde von ihnen willig als der
„fixeſte Kerl“ an Bord anerkannt und genoß ungetheilte Achtung.
Man wagte deshalb nicht ſo mit mir, ſeinem Schützlinge, um-
zugehen, wie es zu jener Zeit allgemein geſchah und vielfach
auch noch jetzt der Fall iſt, d. h. die Schiffsjungen als die
Diener eines Jeden an Bord zu betrachten und von ihnen nach
allen Richtungen und in rüder Weiſe Gehorſam zu verlangen.
Ich wurde ſtillſchweigend von jenen Dienſtleiſtungen befreit, die
nicht unmittelbar mit meinem ſeemänniſchen Berufe in Zuſammen-
hang ſtanden und wenn die Matroſen natürlich auch eiferſüchtig
darüber wachten, daß ich ſie als Reſpectsperſonen betrachtete
und ſie mit „Ihr“ anredete, ſo traten ſie mir doch allmälig mehr
als Kameraden entgegen und beantworteten nicht nur meine
Fragen freundlich und eingehend, ſondern unterhielten ſich aus
freien Stücken auf der Wache mit mir. Im Allgemeinen waren
[42]Werner
es tüchtige Leute. Unter der rauhen Außenſeite barg ſich ein
guter Kern, hinter ihrem oft craſſen Aberglauben eine tiefe
Religioſität und, trotz ihrer vielen Schattenſeiten, konnte man
ihren Charaktereigenſchaften eine gewiſſe Achtung nicht verſagen,
wenn man ſie näher kennen lernte.


Die Monatsgage, welche ich vom Kapitän empfing, war
zwar nur gering, aber ſie erfüllte mich doch mit Genugthuung.
Es war das erſte ſelbſtverdiente Geld, ich ſtand jetzt auf eigenen
Füßen. Ich erhielt zwei Thaler monatlich, viel weniger, als
die übrigen Schiffsjungen, aber dafür ſtand ich auch in einem
anderen Verhältniſſe. Ich war nicht einfach, wie jene, durch
den Kapitän angenommen, ſondern durch die Rheder contract-
lich als Lehrling engagirt und zwar auf vier Jahre. Ich er-
hielt während dieſer Zeit an Bord und am Lande freie Station,
meine geſammte Kleidung, und der Kapitän war verpflichtet,
mich auch theoretiſch in der Navigation ſo weit vorzubereiten,
daß ich am Schluſſe meiner Lehrzeit nach kurzem Beſuch der
Navigationsſchule das Steuermannsexamen ablegen und als
Steuermann fahren konnte. Dies Lehrlingsverhältniß war bis
dahin in Deutſchland nicht gebräuchlich, dagegen in England,
Holland und Frankreich, und von meinen Rhedern herüber-
genommen, um ſich junge Leute aus beſſeren Ständen zu Steuer-
leuten und Kapitänen heranzuziehen. Die deutſche Schifffahrt
begann damals allmälig aus ihrem alten Schlendrian heraus-
zutreten, und die Rheder ſahen ein, daß die Führung ihrer
Schiffe durch Kapitäne von Bildung nur gewinnen könne. Prac-
tiſche Seemannſchaft blieb und bleibt zwar immer Hauptſache,
aber daneben hergehende theoretiſche Kenntniſſe der Meteorologie,
Hydrographie ꝛc. mit Hülfe deren die Reiſen abgekürzt wurden,
brachten baaren Gewinn. Wenige Jahre ſpäter, als der be-
rühmte amerikaniſche Hydrograph Maury ſeine Wind- und
Wetterkarten herausgab, die auf Grund von ſyſtematiſchen
Beobachtungen intelligenter Seeleute auf ihren verſchiedenen Reiſen
[43]Eine erſte Seereiſe
conſtruirt waren, wies derſelbe überzeugend nach, daß z. B.
Reiſen von Europa nach Oſtindien um durchſchnittlich 20 Tage
abgekürzt werden konnten, wenn die Kapitäne ſich mit dem
Studium der Meteorologie vertraut machten. Das ergab aber
für größere Schiffe Erſparniſſe von Tauſenden von Thalern.


Nach Feierabend ging ich mit dem Bootsmann an Land.
Er hatte ſich ſehr fein gemacht und auch meinen Sonntagsanzug
inſpicirt, ehe wir das Schiff verließen. Unſer Weg führte
direct in ein am Hafen gelegenes Gaſthaus, in dem Seeleute
verkehrten, aber nur die höheren Chargen von Handelsſchiffen,
d. h. Steuerleute und Bootsleute, und damit war die „an-
ſtändige Geſellſchaft“ gemeint geweſen. Mein alter Mentor
hatte es zwar gut mit mir im Sinne gehabt, aber der Kreis,
in den er mich brachte, war nicht dazu angethan, mich zu zer-
ſtreuen und zu erheitern. Ich kam mir wie verrathen und ver-
kauft unter allen dieſen ernſten, bedächtigen und ſteifen Holländern
vor. Da ſaßen ſie in der nur ſpärlich erleuchteten Gaſtſtube
an einem ſchwerfälligen Tiſche, auf eben ſo ſchwerfälligen Bänken,
Jeder mit einem Glas Genever vor ſich und einer langen Kalk-
pfeife im Munde, aus der ſie um die Wette dichte Rauchwolken
blieſen, welche das Zimmer mit einem Nebel erfüllten. Es
herrſchte eine ſtrenge Rangordnung in den Sitzen, wie mir
ſpäter der Bootsmann erklärte, und zwar regelte ſich dieſelbe
nach der Zahl der nach Oſtindien gemachten Reiſen. Sieben
Reiſen dorthin waren das Erforderniß, um überhaupt in dem
Club als Mitglied zugelaſſen zu werden, und erſt dieſe Zahl
gab Anſpruch auf das Prädicat „vollbefahren.“ Unſer Boots-
mann war als Gaſt geladen, ſeine drei Reiſen nach der Südſee
zählten für voll, und für ſein Anſehen ſprach der Umſtand, daß
er einen ſolchen Neuling wie mich einführen durfte. Natürlich
war ich ſtumme Perſon und ſuchte vergebens meinen Wider-
willen gegen den Genever zu überwinden, den man auch mir
vorſetzte, während eine Kalkpfeife mir nicht verabreicht war;
[44]Werner
in Gegenwart von ſo hohen Perſönlichkeiten zu rauchen, wäre
nach den Regeln der Schiffsetikette für mich eine Reſpects-
widrigkeit geweſen. Die Unterhaltung, eben ſo ernſt, gemeſſen
und ſchwerfällig, wie die Perſonen ſelbſt, die ſie führten, drehte
ſich natürlich nur um Fachgegenſtände, war aber trotzdem
mit ſehr kernigen Ausdrücken gewürzt, an denen die holländiſche
Sprache ſo reich iſt, und die ſie in den Augen der Niederländer
zu einer ſo „krachtigen Taal“ — kräftigen Sprache — machen,
wie ſie ihr Idiom mit Vorliebe und auch mit Recht nennen.


Zwei Stunden hielt ich unter den „Vollbefahrenen“ aus,
dann erbat ich mir vom Bootsmann die Erlaubniß, an Bord
zurückkehren zu dürfen und zog es vor, auf meiner Kiſte ſitzend,
bei dem trüben flackernden Lichte der Logislampe, das Papier auf
den Knien, einen Brief an die Eltern zu ſchreiben, während die
an Bord zurückgebliebenen Matroſen rauchend und Karten
ſpielend die Plätze an den Tiſchen einnahmen.


Das verhältnißmäßig kleine Städchen bot wenig Anziehendes,
dagegen deſto mehr Abſchreckendes durch das rohe Treiben in
den Quartieren, wo der gewöhnliche Seemann verkehrte. Zur
Ehre unſerer Mannſchaft muß ich ſagen, daß ſie ſich von
demſelben fernhielt und den Umgang mit dem Abſchaum mied,
der einen großen Theil der holländiſchen Kriegsſchiffsbeſatzungen
bildete. Holland hatte damals für ſeine Größe eine ungemein
bedeutende Schifffahrt und zählte allein 5—600 große Oſtindien-
fahrer, mit je 40—50 Mann Beſatzung; da blieben für die auf
das Werbeſyſtem angewieſenen Kriegsſchiffe nicht viel einheimiſche
Seeleute übrig, von denen übrigens auch nur ein Bruchtheil
den nicht eben gut bezahlten und außerdem wegen ſeiner zweifel-
haften Elemente ſehr in Mißcredit ſtehenden Dienſt auf der Kriegs-
flotte aufſuchte. Ein Seemann, der etwas auf ſeine Reputation
unter den Kameraden gab, ſträubte ſich ſo lange wie möglich
dagegen, und ſo war die Marine gezwungen, zur Completirung
ihrer Mannſchaften zu nehmen, was ſich bot; der Charakter
[45]Eine erſte Seereiſe
dieſes Abhubs zeigte ſich auf den Straßen und in den Kneipen
in widerwärtigſter Geſtalt. Um eine ſolche kaum den Namen
von Menſchen verdienende Bande in Ordnung zu halten, be-
durfte es natürlich auch beſonderer Zuchtmittel, aber wie noth-
wendig ſie auch waren, machten ſie auf uns doch den pein-
lichſten Eindruck. Wir lagen in unmittelbarer Nähe des Linien-
ſchiffes „Kortenaar“ mit 800 Mann Beſatzung, das ſich fertig
machte, um nach Java zu gehen und waren oft Augen-
und Ohrenzeugen der körperlichen Strafen, die faſt täglich ver-
hängt wurden, aber durch ihre Härte mir krampfhaft das Herz
zuſammenzogen. Ein Mann z. B., der ſchon zum zweiten
Male deſertirt und wieder ergriffen war, wurde an einem Tau
hängend an der Groß-Raa bis zu einer Höhe von 50 Fuß
emporgezogen, dann ließ man ihn in das eiſige Waſſer fallen —
wir waren im November — holte ihn auf das Deck und wir
hörten, trotz des Trommelwirbels, bei der Execution das Klatſchen
des Tauendes auf die naſſen Kleider und das Geſchrei des
Delinquenten. Ein anſtändig denkender Menſch, kann ſich frei-
lich kaum einen Begriff davon machen, zu welchem Grade von
Beſtialität einzelne ſolcher Individuen herabſinken und man
weiß nicht, was einen mehr ſchaudern macht, dieſe oder die
Strafe. Solche traurigen Eindrücke, die man täglich erhielt,
waren nicht geeignet, den Landgang für mich verlockend zu machen
und ich wäre deshalb für die übrige Dauer unſeres Aufenthaltes
an Bord verblieben, wenn ich nicht nach einiger Zeit auf das
freudigſte durch eine Einladung in das Haus unſeres Conſuls
überraſcht worden wäre, die ich meinem neugewonnenen Freunde,
dem Kadetten, verdankte.


Wie wohlthuend berührte es mich, nach Monaten wieder
einmal in einem angenehmen Familienkreiſe verkehren zu dürfen,
wo man mich mit Freundlichkeit wie einen Gleichgeſtellten
empfing und ich mich wie zu Hauſe fühlte. Wie vergaß ich
ſo bald alles Trübe und Bittere der letzten Zeit und mit welchem
[46]Werner
erwärmenden Strahle erfüllte die gütige Aufnahme mein ver-
zagtes Herz! Manchen ſchönen unvergeſſenen Abend verbrachte
ich in jener liebenswürdigen Familie, deren ich mich heute noch ſo
dankbar erinnere, und ſo geſtalteten ſich für mich die letzten
Wochen unſeres Bleibens in ungeahnt angenehmer Weiſe. Der
alte Bootsmann hatte wieder einmal Recht gehabt, die „anſtändige
Geſellſchaft“ brachte mich, wenn ſie auch etwas anders zuſammen-
geſetzt war, als die von ihm mit dieſem Namen belegte, auf
andere Gedanken. Ich lag nicht mehr mit loſen Segeln, ſondern
hielt voll und kreuzte damit flott gegen den conträren Wind
trüber und bohrender Gedanken auf. Die eintreffenden guten
Nachrichten aus dem Elternhauſe trugen nicht wenig dazu bei,
mich froh zu ſtimmen, und als unſere Reparaturen beendet
waren und wir kurz vor Weihnachten in See gingen, da wurde
mir der Abſchied von den guten Menſchen, die ſich des fremden,
alleinſtehenden Seemanns ſo liebevoll angenommen, wohl ſchwer,
aber gleichzeitig trug ich auch friſchen, hoffenden Muth mit mir
hinaus in die weite Ferne und fühlte mich neu gekräftigt, um
kommenden Widerwärtigkeiten ſiegreich die Spitze zu bieten.


Mit günſtigem Winde verließen wir den Hafen; ſchon am
nächſten Tage tauchten die Kreidefelſen Englands vor unſern
Blicken auf und pfeilſchnell ging es bei gutem Wetter durch den
Kanal, als wollte die „Alma“ einholen, was ſie verſäumt.
Leider dauerte es nicht lange, das Mißgeſchick ſchien ſich an
unſere Ferſen zu heften, denn kaum waren wir in den Meerbuſen
von Biscaya eingetreten, da begann das Kämpfen mit den
Elementen auf’s Neue und das liebe Weihnachtsfeſt brachte uns
wenig Freude. Glücklicher Weiſe kamen wir diesmal ohne Ver-
luſt an Segeln und Rundhölzern davon, obwohl wir ganz ge-
hörig durchgeſchüttelt wurden. Zuerſt blies der Wind ſtürmiſch
aus Südweſten, dann ſchoß er mit Trommeln und Pfeifen aus
Nordweſt hervor, und erſt als wir uns mit dieſem unter ſtets
gerefften Segeln, mit himmelhoher See, mit Hagel und Schnee
[47]Eine erſte Seereiſe
und bitterer Kälte bis zur Höhe von Cap Finisterre gequält
hatten, fühlte der grimme Poſeidon Mitleid mit uns und ſchickte
uns einen ſtrammen portugieſiſchen Norder, mit dem wir unter
einem Preß von Segeln ſüdwärts flogen. Anfänglich trauten
wir dem Frieden nicht recht und wagten kaum ein Reff aus-
zuſtecken, doch die Barometer ſtiegen langſam und der Zimmer-
mann träumte nicht länger von Pferden und Frauenzimmern.
Da glaubte man denn hinter wie vor dem Maſte, in der Kajüte
wie im Logis allmälig an den Beſtand, und es wurde der
„Alma“ an Segeln aufgepackt, was darauf hängen wollte.


Nach einigen Tagen ließ zwar die Stärke des Windes
bedeutend nach und wir machten nur wenige Meilen durch’s Waſſer,
allein uns kam das ganz recht, denn wir waren ununterbrochen
ſo lange von Wind und Wetter unſanft umhergeſtoßen worden,
daß wir es uns gern gefallen ließen, nicht bei jedem Schritte
nach einem Gegenſtande zum Feſthalten zu ſuchen, die Regen-
jacke aus geölter Leinwand, den Südweſter und die ſchweren
Seeſtiefel bei Seite legen zu können und bei Tiſch unſere Blech-
ſchüſſeln nicht mehr in der Luft balancirend halten zu müſſen.


Wir befanden uns auf der Höhe der Straße von Gibraltar
und es war ſchon bedeutend wärmer geworden. Mit welchem
Behagen genoſſen wir die uns ſo wohlthuende Aenderung! Die
hohen Wellenberge, welche der atlantiſche Ocean in die Biscayiſche
Bucht wälzt, hatten ſich allmälig geglättet, die dunkelgrüne
Färbung des Waſſers war tiefem Blau gewichen und ſtatt der
gewaltſam und mit donnerndem Toſen überbrechenden Sturzſeen,
die bisher faſt ſtets unſere drohenden Begleiter geweſen, waren
es jetzt nur leichte, durchſichtige Wellen, auf denen unſer Schiff
ſich wiegte, die tändelnd an Bug und Seiten emporſchnellten,
oder leiſe nebenher rauſchten und in deren ſilbernem Schaume
die Sonnenſtrahlen ſich badeten. Bis dahin hatten alle Luken
verſchloſſen gehalten werden müſſen und die Luft unten im
Schiffe war dumpf und ſchlecht. Regen und überdampfende
[48]Werner
Wellen hatten nachgrade unſern ganzen Kleidervorrath durchnäßt,
ohne daß ſich Gelegenheit bot, denſelben wieder zu trocknen und
auch unſer Bettzeug war klamm und feucht. Da empfanden
wir denn die warme Sonne und den trockenen Wind außer-
ordentlich wohlthuend und ſuchten von beiden nach Kräften zu
profitiren. In jeder Luke wurden Windſäcke aufgeheißt, um
die ſchöne friſche Luft durch das ganze Schiff ſtreichen zu laſſen,
und das Oberdeck war in einen Trockenboden verwandelt. Man
ſah nur vergnügte Geſichter, und Scherze, wenngleich oft derber
Art, flogen hin und her, denn auch auf das Gemüth übte das
ſo lang entbehrte ſchöne Wetter günſtigen Einfluß. Am Nach-
mittage wurde es ziemlich ſtill, doch erwuchs uns dadurch eine
angenehme Abwechſelung, daß wir zwei Schildkröten fingen.
In dieſer Gegend, vor dem Eingange zum Mittelmeer, begegnet
man ihnen häufig und wenn Windſtille eintritt, kann man bei
einiger Geſchicklichkeit ihrer leicht habhaft werden. In allem,
was Fiſcherei anbetraf, zeigte ſich unſer alter Bootsmann als
Meiſter; Harpunen, Elger*, Angeln und Netze jeder Art waren
in beſter Ordnung und zu ſofortigem Gebrauche bereit. Seine
langen Erfahrungen auf dieſem Gebiete ſetzten ihn in den Stand,
Alles auf’s zweckmäßigſte einzurichten und ſeiner großen Geſchick-
lichkeit entging ſelten ein Fang auf den er Jagd machte. Bei
Inſtandſetzung der Fiſchereigeräthſchaften mußte ich ihm meiſtens
helfen; er zeigte mir dann die Handgriffe und belehrte mich,
wie dieſer oder jener Fiſch am beſten zu erlegen ſei, was mir
ſpäter ſehr zu ſtatten kam.


Als wir die erſte Schildkröte in Sicht bekommen hatten,
wurde ſcharf nach anderen ausgeſehen und alles bereit gehalten.
Es dauerte auch nicht lange, da kamen eine zweite und dritte
angetrieben und zwar Beide von ziemlicher Größe. Durch
[49]Eine erſte Seereiſe
Backlegen der Segel wurde die geringe Fahrt des Schiffes
gänzlich gehemmt und dann ein Boot zu Waſſer gelaſſen. Wenn
Schildkröten ſich längere Zeit an der Oberfläche des Waſſers
zeigen, ſo ſchlafen ſie gewöhnlich und man muß ſich ihnen
ſehr geräuſchlos nähern, um ſie nicht vorzeitig zu wecken. In
einer Entfernung von 15—20 Metern geben die Ruderer dem
Boote noch mit aller Kraft eine letzte Vorwärtsbewegung und
laſſen es damit laufen. Es iſt danach Aufgabe des Mannes
am Steuer, das Boot genau auf das Thier zu dirigiren, da
davon der Fang abhängig iſt. Vorn im Boot ſteht der Mann
mit dem Schildkrötennetz, einem ſehr einfachen Inſtrumente.
Zwei Stangen, gewöhnlich Bootshaken, werden wie ein Andreas-
kreuz über einander gebunden. Zwiſchen den beiden äußern
und kürzeren Scheeren wird ein grobmaſchiges Netz ſackartig,
aber nicht zu tief herabhängend, befeſtigt, die längere Scheere
dient als Handhabe und der Steven des Bootes als Stützpunkt.
Die ganze Kunſt beſteht dann darin, das Netz in dem richtigen
Augenblicke ſo weit zu ſenken, daß man damit die Schildkröte
unterfährt, und danach es ſofort wieder über Waſſer und in
das Boot zu heben. Dort legt man das Thier auf den
Rücken, um es gänzlich unſchädlich zu machen, muß ſich jedoch
in Acht nehmen, nicht ſeinem Maule nah zu kommen. Mit
den einem Papageiſchnabel ähnlich geformten und meſſerartig
ſcharfen Hornkiefern ſchnappt es um ſich und iſt im Stande
einen Fuß- oder Armknochen morſch abzubeißen.


Der Bootsmann handhabte das Netz und im Verein mit
dem geſchickten Steuern des Unterſteuermanns gelang es, nicht
nur die beiden vorhin geſehenen, ſondern noch eine dritte Schild-
kröte zu fangen, die wir ſpäter entdeckten. Dann friſchte die
Brieſe auf, das glatte Waſſer wurde rauh und wir mußten an
Bord zurück. Die gefangenen Thiere hatten ungefähr gleiche
Größe, wogen zwiſchen 40—50 Pfund und gaben für die
ganze Beſatzung verſchiedene wohlſchmeckende Mahlzeiten. Ich
R. Werner, Erinnerungen. 4
[50]Werner
habe auf ſpäteren Reiſen in dieſer Gegend noch oft Schildkröten
gefangen, doch nie größere geſehen, während man in ſüdlicheren
Ländern bisweilen ganz außerordentlich mächtige Exemplare bis
zu 5—600 Pfund Gewicht findet. Zwei ſolche Thiere kaufte
ich einmal auf der Inſel Ascenſion, um ſie mit nach Europa
zu nehmen. Unſere Reiſe dauerte 8 Wochen. Während der
ganzen Zeit lagen die Schildkröten unter dem Decksboot auf
dem Rücken mit einem naſſen Sack unter dem Kopfe und wenn
die See es nicht ſelbſt beſorgte, wurden ihnen täglich zur Er-
friſchung ein Paar Eimer Waſſer über den Körper geſpült.
Zu freſſen erhielten ſie nichts, weil wir nichts für ſie hatten,
aber trotz der wenig behaglichen Situation kamen beide Thiere
lebend in Deutſchland an und eine von ihnen hatte ſogar die
Freundlichkeit, einige Wochen lang täglich 15—18 Eier zu legen,
die wir uns wohl ſchmecken ließen.


Es ſchien, als ſollten wir für alle das bisher erlebte Un-
gemach an Wind und Wetter jetzt entſchädigt werden, denn der
Norder wuchs wieder zu einer ſteifen Brieſe, die uns mit zehn
Meilen Fahrt vorwärts trieb und uns in wenigen Tagen auf
die Höhe von Madeira und damit an die Grenze der Tropen
brachte. Doch vergebens ſtrengten wir unſere Augen an, um
die ſchöne Inſel am fernen Horizonte zu entdecken. Die eigen-
thümliche aber ganz praktiſche Belohnung, welche auf Hamburger
Kauffarteiſchiffen demjenigen winkt, welcher nach längerer See-
reiſe zuerſt das Land ſieht, nämlich das nöthige Segeltuch zu
einer Hoſe, die dann der Betreffende ſich ſelbſt anzufertigen hat,
blieb diesmal unverdient und Madeira kam nicht zum Vorſchein.
Das verdarb für den Tag Allen die gute Laune; dem Kapitän,
der ohnehin nicht viel davon beſaß, weil ſeine aſtronomiſche
Rechnung ſo ſchlecht ſtimmte; den Leuten, weil ihnen die Segel-
tuchhoſe entgangen war, und mir ſelbſt auch, weil ich auf meiner
Freiwache zwei volle Stunden umſonſt im Top geſeſſen und
Ausguck gehalten hatte.


[51]Eine erſte Seereiſe

Das ſchöne Wetter brachte indeſſen bald alles wieder in
das rechte Gleis. Der Nordwind war in den Nordoſtwind
übergegangen und wir hatten die Region des Paſſates erreicht,
die Region des ewigen Friedens und der Ruhe in der Natur,
die der Seemann mit vollen Zügen genießt, in der er die
harten Mühen und Entbehrungen ſeines Lebens vergißt und in
welcher der Schöpfer alles an Schönheit und Lieblichkeit vereint
hat, was das Meer aufweiſt. Kein Sturm, keine tückiſche
Hagelbö iſt zu fürchten; die Stunden der Nachtruhe werden
nicht durch den Nothruf „Reewe, reewe!“ geſtört, Nebel und
Finſterniß haben ihre Schrecken verloren. Kaum merkbar
ſchwankt das Schiff auf den vom Winde leicht bewegten Wellen
und zieht Wochenlang ſeine Bahn durch ſie, ohne daß die
Stellung der Segel verändert wird, weil die milde gleichmäßige
Brieſe ſtets aus derſelben Richtung weht. Das Meer leuchtet
in dem ſchönſten tiefſten Blau, über ihm wölbt ſich in lichter
Klarheit das Firmament und von keinem neidiſchen Gewölk ge-
trübt, ſendet die Sonne ihre goldigen Strahlen hernieder, aber
nicht ſengend und verzehrend, ſondern überall Leben ſpendend
und fördernd, durch den Wind und die Verdunſtung des Waſſers
gemäßigt und deshalb auch von den Menſchen nur wohlthätig
empfunden. Die Stetigkeit und Ruhe in der Natur legt der
Beſatzung keinerlei außergewöhnliche Anſtrengungen auf, wie in
den nordiſchen Gegenden und das Uhrwerk des Seetages
rollt ſich gleichmäßig ab. Die Arbeit hört deswegen freilich
nicht auf; im Gegentheil es giebt mehr davon, als ſonſt, aber
ſie iſt nicht anſtrengend und die Zeit ſchwindet ſchnell dabei.
Der Landbewohner kann oft nicht begreifen, daß man an Bord
ſo viel zu thun hat, und doch iſt es in ſolchem Grade der Fall,
daß man mit der Arbeit nie fertig wird, mag die Reiſe auch noch
ſo lange währen. Selbſt aber, wenn nothwendige Arbeit nicht
vorliegt, muß aus Rückſichten der Disciplin irgend welche ge-
4*
[52]Werner
ſchaffen werden; nur ſtete Beſchäftigung der Beſatzung kann
dieſelbe vor unnützen Gedanken bewahren.


Nicht mit Unrecht ſagt man von einem Schiffe, es ſei
wie eine Damenuhr ſtets reparaturbedürftig; das iſt wirklich
der Fall; es kommt nie völlig in Ordnung. Durch die ſtete
Bewegung, denen Segel und Taue ausgeſetzt ſind, ſcheuern ſie
aneinander und leiden. Um dem vorzubeugen, die ganze
Takelage darauf hin zu revidiren, ſie mit Schonungsmaterial
zu bewickeln u. ſ. w. wird allein ſchon täglich eine mehrſtündige
Arbeit von einigen Menſchen beanſprucht. Sodann geht vieles
durch den Gebrauch entzwei und muß erſetzt werden. Regen
und See waſchen den Theer vom ſtehenden Gut, die Farbe
von den Maſten, Raaen und Planken; die Hitze ſchmilzt das
Pech aus den Näthen und reckt die Haltetaue der Maſten und
Stengen, ſo daß ſie ſtraffer angeſetzt werden müſſen — genug
Arbeit vollauf und ohne Ende. Aber ſie iſt, wie geſagt, nicht
ſchwer, ſie fordert keine große Anſtrengung, es iſt keine Eile
nöthig und ſo befindet ſich der Matroſe wohl dabei, genießt nach
Herzensluſt die ſchöne ruhige Zeit und ſammelt neue Kräfte
für die kommenden Strapazen, die ſeiner außerhalb der Tropen
wieder harren.


Gegenſegler hat man im Paſſat kaum zu fürchten; ſie
nehmen eine andere Route und mit dem Ausguck wird es des-
halb nicht ſcharf gehalten. Da bleibt dann Nachts nur eine
Stunde Dienſt am Ruder und Zeit genug zum Schlafen. Die
Freiwachen am Tage wurden deshalb nicht mehr wie bisher
angewandt, um womöglich Vorrath zu ſchlafen, ſondern zu
allerlei Beſchäftigungen, nützlichen und unnützen verwerthet.
Unter den nützlichen ſpielte die Inſtandhaltung der Kleider und
ihre eventuelle Neuanfertigung die Hauptrolle. Ich lernte nicht
nur ſtopfen und nähen, ſondern auch Maß nehmen und zu-
ſchneiden, wenn die Erſtlinge der Kunſt auch wunderliche Modelle
abgaben. Segeltuch war geſuchtes Material; ſowohl Beinkleider
[53]Eine erſte Seereiſe
wie Mützen und Schuhe wurden daraus hergeſtellt und die
Ueberbleibſel der in der Nordſee fortgeflogenen Segel ſtiegen
bedeutend im Werthe.


Aus mitgenommenem Havannahſtroh, das in allen See-
plätzen käuflich iſt, wurden Hüte geflochten und es war wirklich
zu bewundern, wie geſchickt ſich die Matroſen in all’ dergleichen
zeigten. Hatte man die Kleider in Ordnung gebracht, dann
ging es an das Teppichnähen. Freilich waren die Zuthaten
nur primitiv; getheertes braunes und weißes Manillatauwerk,
zu denen noch etwas rothe oder blaue Stoffwolle trat; mehr
hatte man nicht, aber Geduld und Geſchick ſchufen aus dieſen
einfachen Sachen ganz hübſche Gegenſtände.


Zu den unnützen Beſchäftigungen gehörte das Tätowiren,
das unter den Matroſen ſehr im Schwange iſt, und das man
natürlich als junger Menſch auch hübſch findet und mitmacht,
während man ſpäter nicht begreifen kann, wie man an einer
ſolchen Geſchmackloſigkeit hat Gefallen finden können und ſich
glücklich ſchätzt, wenigſtens nur ſolche Körpertheile verunſtaltet
zu haben, die gewöhnlich durch die Kleidung verdeckt werden.
Drei Nähnadeln werden ſo zuſammengebunden, daß ſie ein
Dreieck bilden und die vorderſte ein wenig mehr vorſteht, als
die beiden hintern — das iſt das Inſtrument, mit dem man
ſich in den Konturen der vorher aufgezeichneten Figuren die
Haut aufreißt, um in die kleinen Löcher chineſiſche Tuſche oder
Zinnober zu reiben, je nachdem man blaue oder rothe Täto-
wirung wünſcht. Es iſt eine ziemlich ſchmerzhafte Operation
und mir immer unbegreiflich geweſen, wie manche Seeleute ſich
den ganzen Körper haben tätowiren laſſen können.


Kommt etwas Jagdbares in Sicht, ſo wird jedoch ſchleunigſt
jede andere Beſchäftigung bei Seite geworfen. Tümmler oder
Meerſchweine, Delphine und Bonniten ſieht man in den Tropen
ſehr viel; oft umſpielen ſie in großen Herden, namentlich die
Tümmler, das Schiff und jagen ſich in tollen Sprüngen. Sie
[54]Werner
werden mit der Harpune gefangen, ſind aber ſo ſchnell, daß
man ſelten einen bekommt. Obwohl wir im Laufe der Reiſe
vielen Tauſenden dieſer Thiere begegneten, fingen wir nur zwei,
die beide vom Bootsmann harpunirt wurden. Merkwürdig iſt
es, daß die Herde, mag ſie noch ſo groß ſein, ſofort ſpurlos
verſchwindet, ſobald ein Thier harpunirt oder auch nur ver-
wundet wird. Nach altem ſeemänniſchen Glauben ſollen die
Tümmler ſtets nach der Richtung ziehen, aus welcher man
den Wind erwarten darf. Es verhält ſich jedoch damit, wie
mit den meiſten Wetterregeln, ſie treffen eben ſo oft zu, wie
nicht. Delphine und Bonniten ſind leichter zu erlegen als
Tümmler. Sie ziehen gewöhnlich in grader Linie und mit
derſelben Geſchwindigkeit wie das Schiff ſelbſt, vor dem Bug
deſſelben und nahe unter der Oberfläche hin, um ſich die
Jagd auf fliegende Fiſche bequem zu machen, die ihr Nahrungs-
mittel bilden. Dieſe werden nämlich durch das Geräuſch des
Schiffes, das letzteres beim durchſchneiden des Waſſers macht,
aufgeſcheucht und fliegen dann Strecken von hundert und mehr
Fuß, um in dem Augenblicke, wo ſie wieder das Waſſer be-
rühren von ihren mit gleicher Schnelligkeit folgenden Feinden
erſchnappt zu werden.


Die etwa einen Meter langen Delphine, deren wunderbares
Farbenſpiel beim Sterben auch in das Reich der Fabel gehört,
oder wenigſtens ſehr übertrieben iſt, werden mit dem neun-
zackigen Elger harpunirt, die Bonniten dagegen mit Angeln
gefangen, deren Köder, einen blanken Zinnfiſch, man auf der
Waſſeroberfläche hüpfen läßt. Bei beiden Arten iſt das Jagd-
vergnügen die Hauptſache. Das Fleiſch des Tümmlers ſchmeckt
ziemlich gut, Delphin und Bonnit ſind jedoch äußerſt trocken
und erſterer wird immer mit einem ſilbernen Löffel gekocht und
nur mit Mißtrauen gegeſſen. Er ſoll ſehr häufig giftig ſein,
namentlich in der Nähe der africaniſchen Küſte, wo der Meeres-
boden kupferhaltig iſt. Ein äußerſt ſchmackhaftes und ſtets
[55]Eine erſte Seereiſe
willkommenes Gericht liefern dagegen die fliegenden Fiſche.
Ihnen ſtellten wir daher eifrig nach und auch mit recht gutem
Erfolge. Außenbords wurden möglichſt nahe über der Waſſer-
fläche an Stangen Netze horizontal befeſtigt und Nachts eine
Laterne hineingehängt. Die durch das Schiff aufgeſcheuchten
Fiſche flogen dann oft gegen das Licht und bisweilen fingen
wir in einer Nacht mehrere Dutzend. Nichts kann den Reiſen-
den einen deutlicheren Begriff von der wunderbaren Reichhaltig-
keit der Meeresfauna geben, als der fliegende Fiſch. Er lebt
innerhalb der Wendekreiſe, alſo in einer Zone, welche bei un-
gefähr 1000 geographiſchen Meilen Breite die ganze Erde um-
faßt. Wenn man in dieſer Zone ſegelt, ſieht man in irgend
einer Richtung beſtändig Schaaren von ihnen fliegen, die oft
nach Hunderten und Tauſenden zählen.


Dann und wann zog auch eine Herde Pottfiſche in der
Nähe vorüber und feſſelte unſere Aufmerkſamkeit; überhaupt
fehlte es für mich, da mir alles dies neu war, nicht an Ab-
wechſelung.


Mein Lieblingsplatz war der Außenklüverbaum, die zweite
Verlängerung des Bugſpriets und vierzig bis funfzig Fuß vor
dem Schiffsrumpfe gelegen. Dort ſaß ich auf meiner Frei-
wache im Paſſat oft Stundenlang, um den Ocean in ſeiner
ganzen Schönheit bewundernd zu betrachten und ſeinen Zauber
voll auf mich wirken zu laſſen. War das Meer mir im Nor-
den in ſchauerlicher Erhabenheit und Majeſtät erſchienen, ſo
bot es hier das Bild lieblicher und doch großartiger Ruhe.
Leiſe ſchaukelte ſich auf den vom goldigen Sonnenlichte über-
goſſenen Fluthen das Schiff, das ich draußen, von meinem
luftigen Sitze, wie ein von mir getrenntes Weſen überſchaute.
Dort unten der ſchmale ſchwarze Rumpf, an deſſen ſcharfen
Bug ſich die Wellen ſchäumend kräuſelten und in ihrem feinen
Waſſerſtaube die Sonnenſtrahlen zu einem Regenbogen verdich-
teten — darüber der Pyramidenbau der von der gleich-
[56]Werner
mäßigen Brieſe geſchnellten ſchneeweißen Segel deren Spitze —
das dreieckige Himmelſegel — ſich wirklich im Himmel zu ver-
lieren ſchien und ringsum die weite endloſe Waſſerfläche —
wahrlich ein prachtvolles Bild, an deſſen Schönheit ich mich
nicht ſatt ſehen konnte und das die ganze Poeſie des Meeres in
ſich verkörperte.


Man glaubt vielfach, der Seemann ſei nicht religiös, und
wenn man bisweilen ſein Gebahren am Lande ſieht, ohne ihm
auch an Bord zu folgen und dort ſein Weſen und ſeinen
Charakter zu beobachten, ſo ſcheint dieſe Anſicht eine Berech-
tigung zu haben, aber ſie iſt trotzdem irrig. Ein tief religiöſer
Zug geht durch ſein Gemüth, und das iſt bei ſeinem Leben auch
nicht anders möglich. Nur ein völlig verderbtes und verhärtetes
Herz kann unempfänglich ſein gegen die Schönheiten und Wunder,
mögen ſie auch oft grauſig erſcheinen, in denen Gott ſeine All-
macht auf dem Meere offenbart.


Die ganze Natur, in Berg und Thal, in Wald und Feld
iſt zwar auch voll von ſolchen Wundern, aber nirgend ſprechen
ſie ſo laut und vernehmlich zum Menſchen, wie auf der See.
Das Heulen und Pfeifen des Sturmes, das Brauſen der Wogen,
wenn der Orkan ſie peitſcht, das Donnern und Ziſchen und
Schäumen der Brandung, wenn ſie ſich an den Felſen bricht,
oder brüllend ſich auf den Strand wälzt, das Aechzen und
Stöhnen des Schiffes in dem wüthenden Ringen mit den toſenden
Elementen, wenn nur eine ſchmale Planke den Menſchen von
dem naſſen Grabe trennt — und dann wieder ein Bild wie
das obige im Paſſat — das ſind Mahnungen, dem ſich auch
die roheſte Natur nicht verſchließen kann. Sie künden die Nähe
Gottes, ſeine Liebe und ſeine Allmacht; unwillkührlich nehmen
ſie das Herz des Seemannes gefangen und leiten ihn unmerk-
lich auf die Bahn der Religion und Gottesfurcht. Selten giebt
der Matroſe zwar ſeinen Gefühlen nach dieſer Richtung Aus-
druck, ja er mag ſich oft ſelbſt nicht einmal klar darüber ſein,
[57]Eine erſte Seereiſe
aber ſie ſind vorhanden und wenn ſich die Religion des See-
mannes wenig im Aeußern und in ſeinen Worten zeigt, ſo ruht
ſie tief im Innern ſeines Herzens und giebt ſich in Thaten
kund, die einer edlen Geſinnung entſtammen.


Daß dieſe Religion mit Aberglauben verbunden, ja öfter
von ihm überwuchert iſt, erklärt ſich ebenfalls leicht aus den
Verhältniſſen und iſt viel eher zu entſchuldigen, als bei anderen
Klaſſen. Wenn die angeblichen Wunder von Lourdes, Marpingen
und Dittrichswalde ſo viele Tauſende von intelligenten Gläubigen
finden, wenn der Spiritismus in den höchſten Klaſſen der Ge-
ſellſchaft ſeine Triumphe feiert, darf man dem Matroſen gewiß
keinen Vorwurf daraus machen, wenn ſein ungeſchulter Geiſt
gewiſſe Wirkungen übernatürlichen Urſachen zuſchreibt. Bei ſeinen
vielen und weiten Reiſen hat er ſo viel Wunderbares geſehen
und erlebt, für das ihm ſeine geringe geiſtige Entwickelung keine
Erklärung zu geben vermag. Die Natur offenbart ſich ihm in ſo
großem Styl und unter ſo ungewöhnlichen Verhältniſſen; er erblickt
räthſelhafte Erſcheinungen, er hört Geräuſche und fühlt Einflüſſe,
von denen er ſich auf einfache Weiſe keine Rechenſchaft zu geben
vermag — da iſt es nur natürlich, daß ſolche Wahrnehmungen
dem Aberglauben Nahrung geben, daß der Matroſe das Segeln
am Freitage für ein Unglück hält, daß er in den electriſchen
Elmsfeuern, welche bei Gewittern mit ihren bleichen grünlichen
Schein die eiſenbeſchlagenen Spitzen der Maſten und Raaen
Irrlichtern gleich umflattern, die Seelen verunglückter Kameraden
erblickt und auf die Exiſtenz des Klabautermann ſchwört.


Doch andrerſeits wieder gewinnt dieſer Aberglaube
nie ſo viel Gewalt über ihn, um ihn ſeiner Pflicht untreu
werden zu laſſen. Er bleibt bei alledem practiſch und ein
Axiom ſeiner Religion iſt „hilf dir ſelbſt, ſo wird Gott
dir helfen“. Er vertraut auf die Vorſehung, aber auch auf
Anker und Ketten, auf Taue und Segel und wenn er auch an
die Erſcheinung des Klabautermann und das Unglück glaubt,
[58]Werner
das damit unvermeidlich ſeinem Schiffe droht, ſo legt er des-
wegen nicht trübſelig die Hände in den Schooß, ſondern gebraucht
bis zum letzten Augenblick ſeine Kräfte, um das Unglück abzuwenden,
und einen ſolchen Aberglauben kann man ſich dann ſchon gefallen
laſſen. Er gefährdet weder den Betreffenden noch Andere.


Wie ſich Gegenſätze oft im Leben berühren, ſo findet das
auch im Bordleben ſtatt. Wenn mich da draußen auf der
Spitze des Außenklüverbaums eine Stunde lang ein poetiſcher
Hauch umwehte und ich, geiſtig losgelöſt von meiner Umgebung,
nur dem Fluge meiner Gedanken folgte, dann wurde ich beim
Wiederbetreten des Decks oft unſanft in die rauhe Proſa des
täglichen Lebens zurückgeführt. Zu ſolcher Proſa und zwar zu
einer ſehr ſchmutzigen gehört auch das „Labſalben“, das Theeren
ſämmtlichen ſtehenden Gutes, d. h. aller derjenigen Taue, welche
wie Wanten, Pardunen, Stagen ꝛc. zum Halten der Maſten
und Stengen beſtimmt und ſtraff geſpannt ſind, während als
Gegenſatz das laufende Tauwerk beweglich iſt und vorzugsweiſe
zur Handhabung der Segel dient. Der Theer conſervirt die
Takelage gegen Witterungseinflüſſe; die Operation des Labſalbens
wird auf längeren Reiſerouten etwa alle ſechs Monate vollzogen und
zwar vorzugsweiſe in den Paſſatgegenden, wo die Witterung
dauernd gut iſt. Den jüngeren Mannſchaften fällt dabei natür-
lich, wie überall, die unangenehmſte Aufgabe, das Einſchmieren
der Stage zu, die von den Toppen der Maſten und Stengen ſchräg
nach vorn und unten führen. Auf meinen Theil kam das ganze
Vorgeſchirr, d. h. das größte Penſum, das mich mehrere Tage
in Anſpruch nahm. Ein Beſenſtiel oder ein ähnlicher Holz-
knüttel hing in Tauen und bildete für den Labſalbenden den
Sitz. Er wurde mit einer laufenden Schleife ſo an dem Stag
befeſtigt, daß man letzteres mit den Händen gut erreichen konnte.
Mittels eines anderen Taues, wurde dann der ironiſch „Boots-
mannsſtuhl“ genannte Sitz an das obere Ende des Stags
gezogen, man ſetzte ſich hinein und wurde je nachdem die Arbeit
[59]Eine erſte Seereiſe
fortſchritt, allmälig hinunter gelaſſen. Das Handwerkszeug waren
ein Eimer voll Theer, der ſeitwärts am Bootsmannsſtuhl hing
und ein Büſchel Werg, mit dem man ſchmierte. Da hing man
denn hoch oben zwiſchen Wind und Waſſer, wie der Dieb am
Galgen und ſuchte ſeine Arbeit ſo gut wie möglich zu machen.
Wie auf dem Außenklüverbaum ſchwebte ich auch hier losgelöſt
von meiner Umgebung, aber zu poetiſchen Träumen war beim
„Labſalben“ keine Zeit; ich hatte meine ganze Aufmerkſamkeit
auf den flüſſigen Theer und darauf zu richten, daß ich einer-
ſeits keine freien Stellen, ſogenannte Feiertage, ließ und andrer-
ſeits nicht Theer auf das Deck verſchüttete. Für beides hatte
unſer Bootsmann ein gutes Auge, und ſo vortrefflich ich auch
mit ihm ſtand, konnte mir dies Verhältniß nicht ein nochmaliges
Hinunterreiten am Stag und Abſchaben der Theerflecke während
meiner Freiwache erſparen. Daß trotzdem einzelne ſolche Flecken
unvermeidlich waren, erklärt ſich aus der Situation, über hundert
Fuß hoch in den Lüften an einem einzelnen Taue zu hängen,
aber die meiſten fallenden Tropfen fing man mit dem eigenen
Körper auf und wenn irgendwo, ſo iſt der landläufige Ausdruck
„Theerjacke“ für Matroſen beim Labſalben zutreffend. Wie
ſah man nach Beendigung der Arbeit aus und wie ſchwer war
es, ſich wieder zu reinigen!


Das Hauptreinigungsmaterial beſtand in altem Fett, das
der Koch vom Salzfleich abſchäumt und das an Bord geſammelt
wird, um die Stengen einzuſchmieren, damit die Raaen an
ihnen gut auf- und niedergleiten. Damit ließ ſich denn auch
das Gröbſte entfernen, aber die ätzende Flüſſigkeit fraß ſich ſo
in die Hände ein, daß ſie vollſtändig dunkelbraun erſchienen
und es Wochen dauerte, bis ſie allmälig ihre natürliche Farbe
wieder annahmen. Bei reichlicher Anwendung von Waſſer und
Seife wäre der Prozeß wohl bedeutend ſchneller von Statten
gegangen, aber das war zur damaligen Zeit auf Kauffartei-
ſchiffen, welche lange Reiſen machten, ein Luxus, nach dem man
[60]Werner
ſich zwar oft genug ſehnte, der einem aber nur höchſt ſelten zu
Theil wurde.


In Seewaſſer löſte ſich damals keine Seife, wiewohl man
in letzterer Zeit ſolche erfunden hat, die es einigermaßen thut,
und von friſchem Waſſer, wie der Seemann Trinkwaſſer nennt,
gab es nichts, wenigſtens nicht ſo viel, daß man ſich darin
hätte ordentlich waſchen können. Sonnabends erhielt Jeder von
uns ein kleines Töpfchen warmes Waſſer, etwa ¼ Liter zum
Raſiren, das war alles. Damit mußte man dann ſehr öco-
nomiſch umgehen; man reinigte ſich ſo gut wie möglich das
Geſicht und danach goſſen fünf bis ſechs Mann ihre Portion
zuſammen, um es gemeinſam für die Hände zu benützen. Eine
ſolche Sparſamkeit war zwar unangenehm, hatte aber doch ihre
Berechtigung. Auf einer Reiſe nach Oſtindien bietet ſich für
Segelſchiffe faſt keine Gelegenheit, ohne großen Zeitverluſt einen
Hafen zur Ergänzung des Trinkwaſſervorraths anzulaufen. Nur
Madeira liegt für dieſe Zwecke bequem, aber unſere Schiffs-
rechnung war ſo aus dem Wege, daß wir es nicht einmal ſahen,
und das paſſirte Handelsſchiffen öfter. Sie nahmen deshalb
ſo viel Vorrath mit ſich, wie er für die Reiſe muthmaßlich aus-
reichte; da dieſe aber durch unglückliche Zwiſchenfälle ſich ſtatt
der gewöhnlichen vier auch auf fünf Monate ausdehnen konnte, ſo
war bei dem Waſſerverbrauch große Vorſicht geboten, um nicht
in die furchtbare Lage zu kommen, daran Mangel zu leiden.
Es war immer ſchon genug, daß wir nicht auf Ration geſetzt
wurden und immer ſtets ſo viel trinken konnten, wie wir wollten.
Der größte Theil der Waſſerfäſſer war auf dem Oberdeck
placirt und der Durſtige holte ſich daraus ſeinen Bedarf. Die
Verſuchung, davon auch zum Waſchen zu nehmen, reizte ſehr,
aber Niemand unterlag ihr. Jeder hielt es für ein großes
Unrecht und meines Wiſſens iſt es nie vorgekommen. Mit dem
Trinken, ſo viel man wollte, war es übrigens gerade zu der
Zeit, von der ich rede, d. h. nach dem Uebergange aus den
[61]Eine erſte Seereiſe
kälteren Gegenden in die Tropen, ein eigenes Ding. Man
trank trotz der Erlaubniß ſo wenig, wie man irgend konnte
und ertrug freiwillig (eben ſo gut könnte man freilich auch ſagen,
gezwungen) Qualen des Durſtes.


Wie ſchon erwähnt, befanden ſich, um Ladungsraum zu
erſparen, die meiſten Waſſerfäſſer auf Deck und nur etwa ſechs
bis acht Pipen, die einen Reſervevorrath für einen Monat
bildeten, im Raum. Letztere durften aber unter gewöhnlichen
Verhältniſſen nicht angerührt werden, da die Möglichkeit nicht
ausgeſchloſſen war, daß eine Sturzſee auf dem Deck tabula rasa
machte und ſie dann den letzten Nothanker bildeten. Somit
waren wir nur auf jene angewieſen, in denen ſich aber durch
die Einwirkung der Tropenſonne ein Fäulnißprozeß bildete, der
uns veranlaßte, das Waſſer nur zu genießen, wenn wir es vor
Durſt nicht mehr aushalten konnten und dann auch nur mit
geſchloſſenen Augen und angehaltenem Athem. Es war nicht
nur trübe, ſondern gradezu ſchleimig, zog Fäden und roch
ſchrecklich nach Schwefelwaſſerſtoffgas. Als ich zum erſten Male
davon genoß, mußte ich es aus Ekel wieder von mir geben,
aber der Durſt erwies ſich als der Stärkere; die unappetitliche
Flüſſigkeit blieb ſchließlich im Magen. Merkwürdig genug be-
nachtheiligte das offenbar faule Waſſer unſere Geſundheit nicht
im geringſten. Würde man in den Tropen dergleichen Waſſer
am Lande aus irgend einem Pfuhl trinken, ja ſelbſt nur
fließendes, auf welches die Sonnenhitze gewirkt, ſo würde der
Betreffende in 90 von 100 Fällen damit ein perniciöſes Fieber
einſchlucken, aber hier trat dergleichen nicht ein. Weder wurde
von uns irgend Jemand krank, noch habe ich gehört, daß es
auf andern Schiffen der Fall geweſen, obwohl dort ganz die-
ſelben Verhältniſſe obwalteten. Dieſer Fäulnißprozeß dauerte
etwa vierzehn Tage; dann ſanken die davon ergriffenen vege-
tabiliſchen Stoffe allmälig zu Boden, das Waſſer klärte ſich
und der Geruch verſchwand. Eine Menge kleiner Thierchen
[62]Werner
jagte ſich zwar nach längerer Zeit darin umher, aber dieſe fiſchte
man, ſo gut es gehen wollte, heraus.


Für Kapitän und Steuerleute befand ſich ein Filtrirapparat
an Bord, der aber nur ungefähr für deren Bedarf ausreichte.
Bisweilen, wenn ich Nachts auf der Mittelwache am Steuer
ſtand, brachte mir dann der Unterſteuermann aus beſonderem
Wohlwollen ein ſolches Glas deſtillirtes Waſſer, wahrſcheinlich
auf Anregung meines alten Freundes, des Bootsmanns, der
mit ihm auf gutem Fuße ſtand. Was für ein Genuß war
das und wie dankbar war ich dem Geber dafür!


Es wäre ja ein Leichtes und für die Rheder gar keine
koſtſpielige Sache geweſen, auch für die ganze Mannſchaft ſolche
Filtrirapparate mitzugeben, aber daran dachte Niemand. Weder
Geiz noch böſer Wille waren an der Unterlaſſung Schuld. Der
Matroſe ſchluckte ohne ernſtlich zu murren das böſe Getränk
hinunter, es ſchadete ſeiner Geſundheit nicht, man war es von
jeher ſo gewohnt, die Humanitätsideen der Neuzeit waren damals
noch nicht im Schwange und ſo blieb es einfach beim Alten,
während z. B. auf der Rhede von Batavia, wo der Genuß rohen
Waſſers als geſundheitsſchädlich gilt, die Mannſchaften auf
deutſchen Schiffen nur gekochtes Theewaſſer zum Trinken erhielten,
ein Beweis, daß man nicht etwa ſparſam ſein wollte.


In neuerer Zeit und namentlich nach Erfindung des
Normandyſchen Deſtillirapparats, der die Aufgabe gelöſt hat,
die condenſirten und demgemäß ſalzfreien Dämpfe von Seewaſſer
mit der nöthigen Menge von Luft zu miſchen, wodurch das ſo
gewonnene Waſſer erſt trinkbar wurde, haben ſich dieſe Ver-
hältniſſe etwas geändert. Auf faſt allen Kriegsſchiffen befinden
ſich ſolche Apparate, die täglich bis zu 2000 Liter Waſſer liefern,
und ebenſo auf den größeren Handelsdampfern. Dadurch iſt
es möglich geworden, dem gewöhnlichen Matroſen an Bord
wenigſtens den Genuß guten Trinkwaſſers und auch den nöthigen
Bedarf zur Reinigung ſeines Körpers und ſeiner Wäſche zu
[63]Eine erſte Seereiſe
gewähren. Und doch ſollte man es kaum glauben, daß mir
Befehlshaber vorgekommen ſind, welche, mit einem Deſtillirapparat
ausgerüſtet, denſelben nicht in Thätigkeit treten ließen und die
Mannſchaften in tropiſcher Sonnengluth auf ſchärfſte Waſſer-
ration ſetzten, ſodaß den Armen die lechzende Zunge am Gaumen
klebte — nur, um die für den Betrieb des Apparates erforder-
lichen wenigen Kohlen zu ſparen! Solche Leute dürfen ſich
dann allerdings auch nicht wundern, wenn ſie den wüthendſten
Haß ihrer Untergebenen ernten.


Als wir ſpäter das Cap der guten Hoffnung paſſirt hatten
und wiederum in die heiße Zone kamen, machte das Waſſer den
Fäulnißprozeß zum zweiten Male, wenn auch in geringerem
Grade durch. Danach blieb es dann gut und klar, nahm jedoch
eine gelbliche Farbe wie Rheinwein an. Ich habe von ſolchem
Waſſer getrunken, das 8—10 Jahre unangerührt in den Reſerve-
fäſſern gelegen hatte, aber vollkommen gut war und durchaus
rein ſchmeckte.


Ebenſowenig wie bei dem Waſſer durfte und darf auch
heute noch der Kauffartei-Matroſe bei ſeinem Speiſen wähleriſch
ſein und Feinſchmecker finden ihre Rechnung nicht an Bord.
Auf Schiffen mit anſtändigen Rhedern, zu denen das unſere
gehörte, war die Verpflegung an ſich eine auskömmliche und
relativ gute, aber die Verhältniſſe bringen es einmal mit
ſich, daß weniger auf Wohlgeſchmack, als darauf geſehen
wird, daß die mitgenommenen Proviantartikel ſich ein Jahr und
länger halten und dann den erforderlichen Nahrungsſtoff beſitzen,
um dem Seemanne zu ſeinem ſchweren arbeitsreichen Beruf auch
die nöthigen Kräfte zuzuführen.


Unter ſolchen Umſtänden iſt die Auswahl eine geringe und
das toujours perdrix natürlich. Viermal in der Woche gab
es zu Mittag Erbſen, zur Abwechſelung allerdings nur zwei-
mal gelbe, einmal grüne und einmal graue, dann einmal weiße
Bohnen und zweimal Pudding. Das letztere klingt nun zwar
[64]Werner
ganz einladend, an Bord von Handelsſchiffen verſteht man aber
unter „Pudding“ für die Leute etwas anderes, als ſonſt im
gewöhnlichen Leben. Die Ingredienzien ſind einfach Mehl,
Waſſer und etwas abgeſchöpftes Fett vom geſalzenen Rindfleiſch,
und das Ganze wird in Salzwaſſer in einem Segeltuchbeutel
gekocht. Das mag ſehr nahrhaft ſein, aber beſonders gut ſchmeckte
es mir nicht. Eben ſo wenig habe ich mich je mit den grauen
Erbſen befreunden können. In Oſtpreußen, wo ſie wachſen,
gelten ſie als Leckerbiſſen, ich wüßte jedoch Niemand aus einem
andern Theile Deutſchlands, der dieſen Geſchmack getheilt hätte.
Bei den Matroſen haben ſie den Spitznamen „Bramſtagläufer“
und gewöhnlich ging der ganze Suppennapf voll bei uns unan-
gerührt über Bord oder man fütterte damit die Schweine, wenn
ſolche zum Schlachten mitgenommen waren.


Von dem geſalzenen Rindfleiſch gab es vier Mal und vom
Schweinefleiſch drei Mal wöchentlich, außerdem Morgens Kaffee
und als dicken Brei gekochte Graupen, Abends Thee und wie
zum Frühſtück Schiffszwieback und Butter, ſo lange ſie reichte.
Kaffee und Thee trank man natürlich ohne Milch und Zucker.


Trotz dieſes einfachen wenn auch ſehr ſoliden Küchenzettels,
hätte ſich nichts dagegen ſagen laſſen, ſo lange die verſchiedenen
Proviantartikel gut blieben, aber das dauerte nur kurze Zeit,
und ſchon nach einigen Monaten ſah es ziemlich ſchlimm damit
aus. Die Hülſenfrüchte wurden hart, die Butter in den Tropen
flüſſig und abſchmeckend, das Fleiſch durch das längere Liegen
in der ſcharfen Pökel brandſalzig, hart und holzig, das Schweine-
fleiſch gelb und ranzig, das Mehl miethig und in dem Schiffs-
zwieback hauſten ganze Inſectenſammlungen. Nur die Graupen
blieben gut und Monate lang bildeten ſie unſer Hauptnahrungs-
mittel an den Tagen, wo es Erbſen oder Bohnen gab, alſo
fünf Mal in der Woche. Da zum Frühſtück eine reichliche
Portion gekocht wurde, hoben wir uns ſtets davon zu Mittag auf.


Das harte trockene Salzfleiſch, das die Matroſen Torniſter-
[65]Eine erſte Seereiſe
fleiſch nennen, weil ſie behaupten, daß man es einen Tag lang
im Torniſter tragen könne, ohne einen Fettfleck zu bekommen,
flößte mir einen völligen Widerwillen ein. Ich habe es Jahre
lang nicht gegeſſen und auch der Schiffszwieback war nicht meine
Paſſion; dagegen mochte ich faute de mieux die Graupen ganz
gern. Man ſieht, verwöhnt wurde man nicht an Bord. Alle
14 Tage wurde aber auch Roggenbrod für einen Tag gebacken
und das gab einen wahren Feſttag. Dann wurden ſelbſt die
Graupen mißachtet und nur das friſche Brod gegeſſen, wenn
es auch oft eine verbrannte Kruſte und zollbreite Waſſerſtreifen
zeigte — es ſchmeckte uns doch herrlich.


Mit der Dauer der Reiſe wurde natürlich die Verſchlechte-
rung der Proviantartikel immer größer, aber eine eigentliche
Unzufriedenheit, welche nachtheiligen Einfluß auf den guten Geiſt
der Mannſchaft geübt hätte, zeigte ſich deshalb doch nicht. Die
Leute wußten, daß die ſämmtlichen Lebensmittel gut an Bord
gekommen und die Rheder in keiner Weiſe knauſerig geweſen
waren. Dies Bewußtſein genügte ihnen, um über die Mängel
der Verpflegung zwar wie über alles zu räſonniren — das liegt
nun einmal in der Natur der Matroſen — aber ſie auch nicht
ernſt zu nehmen.


Die Genügſamkeit des gewöhnlichen Seemanns verdient
überhaupt Bewunderung. Wenn er von Seiten ſeiner Vor-
geſetzten nur richtig und human behandelt wird und merkt,
daß jene etwas für ihn übrig haben, dann iſt er mit allem zu-
frieden. Unverdroſſen arbeitet er Tag und Nacht, erträgt ohne
Murren die größten Strapazen, hilft ſich ſcherzend über Un-
gemach fort und vergißt alles Schwere, ſobald nur ein freund-
licher Strahl ihm wieder leuchtet. Das gilt im allgemeinen
von den tüchtigen Seeleuten aller Nationen, ſpeciell aber von
den Deutſchen, die vor den andern noch die größere Zuverläſſig-
keit voraus haben und grade in den kritiſchſten Momenten ſich
am meiſten bewähren.


R. Werner, Erinnerungen. 5
[66]Werner

Sorgloſe Heiterkeit und eine Leichtlebigkeit, die oft als Leicht-
ſinn bezeichnet werden muß und ernſtere Gedanken an die Zu-
kunft nicht aufkommen läßt, ſind vorwiegende Charakterzüge des
Matroſen. Sie ſprechen ſich in ſeinem Thun und Laſſen, in
ſeinem Sprechen, Denken und in ſeinen Liedern aus. Vom
Singen iſt er ein großer Freund; merkwürdiger Weiſe iſt aber
der Schatz wirklicher Seemannslieder ein ſehr kleiner in Deutſch-
land, während die Engländer davon Hunderte und oft von
draſtiſcher Komik haben.


Jeder Arbeit an Bord von Kauffarteiſchiffen wird von
Geſang begleitet; Ankerlichten, Heißen der Segel, der Boote,
überhaupt alles, wobei Kraftanſtrengung und namentlich gleich-
zeitige erforderlich iſt, geht nach dem Tacte von Liedern, deren
Text allerdings ſehr oft nicht vor dem Richterſtuhl guten Ge-
ſchmacks beſtehen kann. Dieſe Arbeitsgeſänge, wie man ſie wohl
nennen kann, haben alle denſelben Zuſchnitt. Der Vorſänger
ſingt eine Strophe vor und alle übrigen fallen mit einem kurzen
Refrain ein, bei dem dann der Tonfall angiebt, wann alle zu-
gleich an einem Tau ziehen ſollen. Unter den übrigen Liedern,
die nur zur Unterhaltung dienen, nimmt Heine’s „Loreley“ einen
hervorragenden Platz ein und es wird mit Vorliebe geſungen,
wenn die Leute recht ſchwer und lange gearbeitet haben. Daß es
überhaupt von den Matroſen adoptirt iſt, gründet ſich wohl auf
den darin vorkommenden Schiffer und Kahn, daß ſie es aber
regelmäßig nach ſchwerer Arbeit anſtimmen, habe ich mir nicht
erklären können, es ſei denn, daß dann ihre Gemüthsſtimmung
mit den beiden erſten Strophen ſympathiſirt. Bei uns an
Bord wurde in den Freizeiten viel geſungen. Wir hatten recht
gute Stimmen unter den Leuten und einer der Matroſen kannte
auch ganz paſſable Lieder, die er entweder ſelbſt gemacht oder
irgendwo aufgeleſen hatte. Eins derſelben, das den oben er-
wähnten „Kehr dich an nichts“ des Seemanns in humoriſtiſcher
Weiſe veranſchaulicht und dabei nach Salzwaſſer ſchmeckt, ſprach
[67]Eine erſte Seereiſe
ſehr an und hatte eine recht gefällige Melodie. So viel ich
mich erinnere, lautete es folgendermaßen:


Ich kann nicht erinnern, daß jemals auf See

Matroſen ich traurig erblickt,

Kein Hagel und Regen, kein Sturm oder Schnee

Nichts giebt’s was zu Boden ihn drückt.

Wenn’s weht aus Nordweſt und in Sorge und Noth,

Manch’ Bräutchen und Mutter ſich quält,

Sitzt Janmaat behaglich in Lee1 von dem Boot

Und da wird gelacht und erzählt.

Guckt Rasmus2 dann über die Reiling3 und ſpült

Gehörig die Klüſen4 ihm aus,

Dann ſchüttelt er ſich wie ein Pudel und ſchilt

Und zieht auch die Naſe wohl kraus.

Bald iſt er jedoch wieder heiter geſtimmt

Wie ſehr er zuerſt auch erboſt,

Staut beſſer ſich in die Kinken5 und nimmt

Ein tüchtiges Prüntje6 zum Troſt.

Wenn Nachts in der Coje er wonnig und warm

Liegt bis an die Ohren verſteckt

Und ihn aus der Träume holdſeligen Schwarm

Das donnernde „Reewe“7 erweckt,

Dann wickelt er ſich aus den Decken hervor

Und’s ſetzt auch bisweilen ’nen Fluch,

Wenn ſchallend die Glocke verkündet dem Ohr

Daß eben ſechs Glaſen8 es ſchlug.

5*
[68]Werner
Doch hat er gereeft nun und hat ihm der Wind

Die Augen gehörig verklart,

Dann iſt auch verflogen der Aerger geſchwind

Sobald er das Grogfaß gewahrt.

Mit Hoi! ho! da fliegen die Raaen hinauf,

Dann wird das Beſanſchrot geholt9.

Zur Coje! ſchallt’s nun und im ſchnellſten Lauf

Die Freiwach’ hinunter ſich trollt.

Wenn’s in den Beſchüten10 ſich regt und bewegt

Von Würmern und Gott weiß was mehr,

Daß, wenn man ſie hin auf die Back11 vor ſich legt,

Von ſelber ſie laufen umher;

Wenn Erbſen und Bohnen wie Blei ſind ſo hart,

Bramſtagläufer12 ähnlich wie Stein,

Wenn’s Salzfleiſch nicht riecht aromatiſcher Art

Und das Speck hat nun goldgelben Schein,

Was kümmert es Janmaat? ihm iſt es egal,

Kaum daß er verziehet den Mund,

Er klopfet das Brod auf die Back ein’ge Mal

Und dann geht’s hinein in den Mund.

Er tröſtet ſich dann, daß er bald kommt zu Haus,

Da giebt es den Beutel voll Geld,

Damit wird gejubelt in Saus und in Braus

Und alles kopfüber geſtellt.

Wie lebt ſich’s ſo luſtig und fröhlich an Land!

Da wird nicht geheißt und gereeft,

Da wird nicht geſcheuert mit Steinen und Sand;

Da ſtört ihn kein Wind, wenn er ſchläft.
8
[69]Eine erſte Seereiſe
Doch leider iſt kurz nur der Freude Beſtand,

Der Pfennig, der letzte geht fort.

Adieu liebes Mädchen, adieu ſchönes Land!

Jetzt heißt es „Marſch, wieder an Bord!“

Auch ein zweites, aus derſelben Quelle ſtammend, in dem
ſich eine Theerjacke ſelbſt ironiſirt, wurde gern geſungen und mag
hier Platz finden:


Faſt ſcheint es, als ob ſchon dem ſeemännſchen Stande

Anklebte ein eigenes Duften nach Theer;

Denn auch in dem feinſten Landrattengewande

Riecht man den Matroſen von weitem ſchon her.

Heut wollt’ ich zu Balle und putzte mich mächtig,

Die Kneifzange1 ſaß mir gemacht wie aus Guß,

Die ſchneeweißen Leeſegel2 ſtanden ganz prächtig,

Wie Kohltheer ſo glänzten die Stiefel am Fuß.

Das ſeidene Schnupftuch halb ’raus aus der Taſche,

Die Schraub’3 auf drei Haaren, den Bart fein gebrannt,

So ging ich wie Felix4 hervor aus der Aſche

Und macht’ mich, als wär’ ich mit Pabſtens verwandt.

Bedächtiglich ſteuerte ich zu dem Balle

Und hört’ ſchon von weitem des Baſſes Gebrumm

Und bei der Muſik weit klingendem Schalle,

Da drehten ſich wirbelnd die Paare ſchon um.

Bald lockten auch mich zu dem Drehen die Töne

Und machten mich wirbeln vom Kiel bis zum Top5,

Ich enterte eine verlaſſene Schöne

Und kreuzte mit ihr durch den Saal in Salopp.

Doch, kaum hatt’ die Länge des Deck’s ich gemeſſen

Und wollte mit meiner Fregatt’ über Stag6,

Da riß ſie ſich los, wie vom Teufel beſeſſen,

Gewaltſam, daß bald ſie den Arm mir zerbrach.

[70]Werner
Sie braßte7 die Arme in höchſter Extaſe,

Fiel dann einer Freundin graciös in den Schooß

Und hielt ſich ein mächtiges Tuch vor die Naſe,

Wobei ſie mir grimmige Blicke zuſchoß.

Doch denkt meine Scham, als ich hörte ſie ſagen

Ganz laut zu der großen Geſellſchaft umher,

„Hilf Himmel, ich konnt’ es nicht länger ertragen,

Es riecht ja ſo fürchterlich ſtrenge nach Theer!“

Beſtürzt braßt’ ich back8 und begann über’s Steuer9

Zu gehn und die Thüre zu ſuchen vom Saal,

Die Naſe der Schönen ſtill wünſchend zum Geier,

Die ſo mir verdarb dieſen glänzenden Ball.

So ging’s mir ſchon öfter, wenn gleich ich mich ſteckte

In allerlei Kleidung, es half mir nichts mehr,

Denn kam ich an Land, augenblicklich entdeckte

Ein weiblicher Riecher den häßlichen Theer.

Schenk’ ich einer Dame ’ne duftige Roſe,

So riecht ſie und ſpricht dann ganz ſchnippiſch; „Mein Herr,

Verzeih’n Sie die Frage, Sie ſind wohl Matroſe?“

„Warum? Ja!“ „Ah!“ ſagt ſie, „ich rieche den Theer.“

Was hilft es am Ende, ob ein ich mich weiche

In Oh10 de Gott weiß was und Oh Mine Flöhr11.

Gleich heißt es, ſobald ich am Lande mich zeige,

„Hilf Himmel, wie riechen Sie ſtrenge nach Theer.“

Das letztere Lied ſchien ſogar dem alten Bootsmann ſehr
zu gefallen, denn wenn die Leute Nachmittags auf der Frei-
wache vorn auf dem Deck bei ihren verſchiedenen Beſchäftigungen
zuſammenſaßen, munterte er ſie öfter auf, doch das Lied von
„Mine Flöhr“ zu ſingen und brummte dann die Melodie leiſe mit,
wenn gleich er gewöhnlich dabei um ein bis zwei Töne „aus der
Reihe“ war. Vielleicht ſtiegen dabei Reminiscenzen an ſeine jüngeren
Jahre und an eine darin verflochtene „Mine“ in ihm auf.


[71]Eine erſte Seereiſe

Als wir die Cap Verdiſchen Inſeln paſſirt hatten, fanden
wir eines Morgens merkwürdiger Weiſe unſere Segel ſämmtlich
blaßroth gefärbt und bei näherer Unterſuchung auch das ganze
Schiff mit einer feinen Schicht röthlichen Sandſtaubes belegt.
Am andern Tage war die ganze Waſſeroberfläche, ſo wie auch
die Takelage und das Deck mit Heuſchrecken bedeckt, ſo daß wir
die völlig ermatteten Thiere haufenweis zuſammenfegen und
unſern Schweinen zu einem leckeren Mahle verhelfen konnten.
Auf meine wißbegierigen Fragen belehrte mich der Kapitän, daß
ſowohl Sand, wie Heuſchrecken von der afrikaniſchen Küſte
ſtammten, wahrſcheinlich durch einen der dort heimiſchen gewalt-
ſamen Stürme (Tornado) vom Lande auf das Meer geführt
und dann von dem Paſſatwinde weiter getragen würden.


Auch eine Menge kleiner Landvögel ließ ſich erſchöpft auf
dem Schiffe nieder und wir griffen verſchiedene von ihnen, die
wir jedoch leider nicht erhalten konnten, da uns das Futter für
ſie fehlte, und ſo gingen die armen Thierchen, die ohne Nahrung
bereits eine Reiſe von 150 Meilen gemacht hatten, zu Grunde.


In dieſer Gegend ſahen wir nach längerer Zeit auch wieder
ein Schiff. Es kam von der afrikaniſchen Küſte herüber, ſteuerte
weſtwärts und paſſirte uns ziemlich nahe. Wenn man ſonſt
auf langen Reiſen einem Schiff begegnet, ſo iſt das immer
ein freudiges Ereigniß, an dem Jeder an Bord den lebhafteſten
Antheil nimmt. Man zeigt die Flagge und ſendet ſich gegen-
ſeitig durch Auf- und Niederziehen derſelben einen ſtummen
Gruß. Wenn es die Witterung erlaubt, fährt man ganz nahe
an einander vorbei, um mündlich einige Worte mit einander
zu wechſeln, wenn ſich die gegenſeitigen Fragen auch meiſtens
nur auf das „Woher“ und „Wohin“, auf die Dauer der Reiſe
und die geographiſche Länge beziehen. Faſt immer aber iſt ein
ſolches Begegnen auf dem weiten Ocean eine Abwechſelung, die
das einförmige Leben an Bord angenehm unterbricht.


Hier war es jedoch nicht der Fall, im Gegentheil
[72]Werner
erregte das Erſcheinen des Fremden eine Zeitlang ein unheim-
liches Gefühl. Als er noch etwa eine Meile entfernt war,
zeigten wir unſere Flagge, aber die internationale Höflichkeit
wurde auffälliger Weiſe nicht erwidert, während das Schiff
dagegen ſeinen Curs änderte und grade auf uns zukam. Als
ſein Rumpf aus dem Waſſer herauswuchs, wir die ſchlanken
ſcharfen Formen des ſchwarz gemalten niedrigen Unterſchiffes,
die hängenden Maſten mit den ungemein breiten Raaen des
Fahrzeugs unterſchieden und bemerkten, mit welcher ſchnellen
Fahrt die Brigg durch das Waſſer ſchnitt, da wußten wir, daß
wir es mit keinem gewöhnlichen Kauffahrer, ſondern mit einem
von der Guineaküſte kommenden Sclavenfahrer zu thun hatten.
Zur damaligen Zeit war der Sclavenhandel zwiſchen Weſtindien
und Afrika noch ſehr ſtark im Schwange. Die Engländer
hielten zwar eine Reihe Kreuzer, aber meiſtens noch Segelſchiffe,
die oft den lediglich auf Schnelligkeit gebauten Sclavenſchiffen
im Laufen nicht gewachſen waren und deshalb dem Handel nur
wenig Eintrag thaten. Außerdem waren jene gewöhnlich ſo ſtark
bemannt und bewaffnet und die Beſatzung beſtand aus ſo ver-
zweifelten Kerlen, daß ſie auch wohl mit den ſie verfolgenden
Kriegsſchiffen den Kampf aufnahmen, wenn ſie nicht entfliehen
konnten. Nicht ſelten hörte man noch vor 40 Jahren von
ſolchen desparaten Kämpfen, bei denen die Kreuzer den Kürzeren
gezogen, und ebenſo ſchrieb man das öftere ſpurloſe Verſchwinden
von Kauffahrern auf der Höhe von Guinea Sclavenfahrern zu,
die auch keineswegs vor Seeraub zurückſchreckten.


Uns wurde deshalb gar nicht wohl zu Muthe, als die
verdächtige Brigg ſo direct auf uns zuſteuerte, um ſo mehr,
als der Kapitän zuerſt mit dem Fernrohr ihr ganzes Deck mit
Menſchen angefüllt geſehen hatte und jetzt bei dem Näherkommen
Niemand zu erblicken war, als der Mann am Ruder. Er trug
eine netzartige rothe Kopfbedeckung, wie man ſie bei portugieſiſchen
und ſpaniſchen Matroſen häufig findet und auch der ganze
[73]Eine erſte Seereiſe
Schnitt des Fahrzeugs verrieth die Bauart jener Länder. Es
ſegelte nahe hinter unſerm Heck vorüber, ohne jedoch ſcheinbar
von uns Notiz zu nehmen, und luvte dann wieder zu ſeinem
alten Curſe auf, um bei der ſtrammen Brieſe ſich eben ſo ſchnell
zu entfernen, wie es gekommen. Der unheimliche Patron paſſirte
uns auf kaum zweihundert Schritte und wir konnten ſein ganzes
Deck überſehen. Er hatte kein Großboot mittſchiffs ſtehen, wie
ſonſt bei Kauffahrern allgemein üblich iſt, ſondern nur zwei
Seitenboote außenbords und ein drittes quer vor dem Heck in
Krähnen hängen. Zwiſchen Fock- und Großmaſt befand ſich
dagegen ein anderer Gegenſtand, der unſere Vermuthung über den
wahren Charakter des Fremden zur Gewißheit erhob. Es war
dies eine ſchwere Kanone, die man zwar mit einer Preſenning —
einem getheerten Stück Segeltuch — bedeckt hatte, deren Conturen
ſich jedoch deutlich genug abzeichneten, während wir ganz klar
die metallenen Kreisſchienen auf dem Deck ſahen, auf denen das
Geſchütz ſich drehte um nach beiden Seiten ſchießen zu können.


Jedenfalls athmeten wir frei auf, als das Unterſchiff
der Brigg ſich wieder unter den Horizont zu ſenken begann
und wir unbehelligt davon gekommen waren. Von Vertheidi-
gung hätte bei einem Angriff des Sclavenfahrers keine Rede
ſein können. Wir führten zwar zwei kleine ſechspfündige
Karronaden und es befand ſich auch ein Dutzend alter verroſteter
Gewehre an Bord, aber was wollte das gegen den langen
24-Pfünder der Brigg ſagen, hinter dem wahrſcheinlich auch
eine waffengeübte Beſatzung von 40—50 rabiater Kerle ſtand?
Unſere Beklemmung war uns deshalb nicht zu verdenken, um-
ſomehr, als nach allem, was man über ſolche Räuber hörte,
ſie, um die Spuren ihrer Verbrechen gänzlich zu verwiſchen, das
beraubte Schiff anbohrten und es entweder in ihrer Gegenwart
mit der vorher gefeſſelten Mannſchaft ſinken oder aber letztere
„über die Planken marſchiren“ ließen. Dazu wurde eine
Planke über die Verſchanzung hinausgelegt und die unglücklichen
[74]Werner
Gefangenen mußten, mit Kugeln oder andern Eiſenſtücken be-
ſchwert, auf ihr hinausgehen. Waren ſie am äußerſten Ende der
Planke angekommen, ſo kippte man das innere in die Höhe und
jene ſtürzten in das Meer.


An demſelben Tage, der uns alle in ſolche gemeinſame
Aufregung verſetzt hatte, paſſirte mir perſönlich noch ein Unfall,
deſſen gefährlichen Folgen ich zwar glücklicher Weiſe entging,
der aber leicht für mich eben ſo ſchlimm hätte ablaufen können,
wie das „Marſchiren über die Planke“. Ich war hinaufgeſchickt,
um an der Takelage der Großbramraa etwas zu repariren und
ſaß zu dieſem Zwecke in dem unter der Raa hängenden, Pferd
genannten, Tau, in welchem man ſteht, wenn man die Segel
feſt oder los machen oder reefen ſoll. Das Schiff ſegelte vor
dem Winde und rollte ſehr ſtark, ſo daß ich dort oben auf
meinem luftigen Sitze ununterbrochen einen Kreisbogen von
60—70 Grad bei einem Radius von 35 Metern beſchrieb.


Als ich nach beendeter Arbeit mich anſchickte, an Deck nieder
zu entern, brach plötzlich das Rak, der Tauring, welcher die Raa
an der Stenge feſthält und das vom Winde geblähte Segel flog
mit einem Ruck nach vorwärts. Ich verlor das Gleichgewicht,
ſtürzte hinunter und wäre unbedingt verloren geweſen, wenn
mich nicht 20 Fuß niederwärts verſchiedene Braſſen und andere
Taue, die ſich dort wagerecht kreuzen, wie ein Netz aufgefangen
und durch ihre Elaſticität die Gewalt des Falles gebrochen hätten.


Ich konnte nun meinen ſo gewaltſam beſchleunigten Weg
nach unten in langſamerem Tempo fortſetzen, wenn mir auch
der Schreck ſo in die Glieder gefahren war, daß ich am ganzen
Körper zitterte. „Schweizer“, redete mich der Bootsmann an,
„was haſt du da wieder für dummes Zeug gemacht? wann
wirſt du lernen, an jedem Finger einen Angelhaken zu haben,
wie ich dir ſchon ſo oft geſagt!“ Die übrige Mannſchaft lachte
und ich zwang mich auch dazu ſo ſchwer es mir wurde —
damit war dann die Sache abgethan. Dergleichen Fälle, bei
[75]Eine erſte Seereiſe
denen der Betreffende mit genauer Noth dem Tode entrinnt,
kommen an Bord ungemein häufig vor, aber wenn es nur gut
geht, ſo wird entweder keinerlei Notiz davon genommen oder
die Sache ſcherzhaft aufgefaßt.


Eines Nachts, im biscayiſchen Meerbuſen, als das Schiff
ſehr heftig in ſchwerer See arbeitete, wurde einer unſerer Leicht-
matroſen beim Reefen über die Raa geſchleudert und hing an
der Vorderſeite des Marsſegels nur mit einer Hand an einer
von ihm ergriffenen Reffzeiſing. Wenige Secunden darauf wäre
er auf das Deck oder in die See geſtürzt und in beiden Fällen
unbedingt verloren geweſen, da die Witterung das Ausſetzen
von Booten nicht geſtattete. Da ergriff ihn der neben ihm be-
findliche Zimmermann, ein alter knurriger Seebär, beim Kragen,
half ihm wieder auf die Raa und ranzte ihn an: „Ein anderes
Mal halt dich beſſer feſt, du verdammter Landlubber!“ —
Damit war die Sache abgethan.


Ein beſonders grauſiger Fall der Art, der mir ſpäter vor-
kam, aber auch wunderbar glücklich verlief, iſt mir noch lebhaft
im Gedächtniß geblieben.


Wir ſegelten mit der Fregatte Thetis, deren erſter Officier
ich war, bei ſchönem Wetter und leichter Briefe im Mittelmeer,
aber obwohl nur geringer Seegang herrſchte, ſchlingerte das
Schiff ziemlich ſtark. Ich befand mich auf dem Hinterdeck, als
vom Vorderſchiff plötzlich der Schreckensruf „Mann über Bord“
erſchallte. Ich ſprang auf die Commandobank und blickte über
Bord, ſah aber nur eine Mütze treiben und im Waſſer kein
Anzeichen, daß ein ſchwerer Körper hineingefallen.


Die auf Kriegsſchiffen für ſolche Fälle auf jeder Wache
abgetheilten Rettungsmannſchaften waren auf den Ruf ſofort zu
ihrem Boote geeilt, um es zu Waſſer zu laſſen und ſchon wollte
ich den Befehl geben, damit inne zu halten, weil ein Irrthum
vorzuliegen ſchien, als ich zufällig einen Blick nach oben warf
und furchtbar zuſammenſchrak. Ein Matroſe hatte auf der
[76]Werner
Nock (Spitze) der Großbramraa, die ſich bei geheißtem Segel
auf Fregatten 50 Meter über Waſſer befindet, gearbeitet und
war wirklich hinabgeſtürzt. Die Leute vorn hatten ihn hinter
dem Segel verſchwinden ſehen und daher der Ruf „Mann über
Bord“. Im Fallen hatte der ſehr gewandte und kräftige
Menſch jedoch das Pferd ergriffen und ſchwebte nun an dem
einzelnen Tau hängend dort oben in der ſchwindelnden Höhe,
während die Raa mit ihm bei dem rollenden Schiffe beſtändig
einen gewaltigen Bogen durch die Luft beſchrieb. Es war eine
ſchaurige Situation. Halten konnte er ſich in ihr nicht lange,
an Wiederaufkommen auf die Raa war nicht zu denken, in der
nächſten Zeit mußte er von oben kommen. Die einzig mög-
liche Rettung für ihn lag darin, wenn er in das Waſſer fiel
und es hing alles davon ab, daß er nicht die Geiſtesgegenwart
verlor und zu rechter Zeit losließ.


„Halten Sie ſich noch ſo lange feſt, Mann, bis das Boot
zu Waſſer iſt,“ rief ich ihm zu, in dem ich ſo viel Ruhe wie
möglich in meine Stimme zu legen ſuchte, „und dann laſſen
Sie ſich fallen, ſo bald das Schiff nach Steuerbord überholt.“


Der Kutter wurde auf das ſchleunigſte zu Waſſer gelaſſen,
die Unterſegel flogen beim Aufgeien * förmlich in die Höhe, aber
es verging doch faſt eine Minute, ehe back gebraßt und alles
ſo weit war, um den Verunglückten aufzunehmen, ſobald er
wieder an der Oberfläche auftauchen würde. Auf meinen Ruf
hatte der Matroſe, ſcheinbar ganz kaltblütig „Zu Befehl“ er-
widert und wenn dieſe prompte Antwort in ſo großer Todes-
gefahr mich auch etwas beruhigte, wuchs mir und allen Uebrigen
die kurze Minute doch zur Unendlichkeit und unſere Augen
ſchweiften wohl hundertmal angſtvoll nach oben, aber der tüch-
tige Mann hielt ſich wie mit eiſernen Klammern feſt. Endlich
war das Boot ſo weit und hielt etwas ſeitwärts auf Riemen.


[77]Eine erſte Seereiſe

„Alles klar,“ rief ich, „beim nächſten Ueberholen laſſen
Sie ſich fallen.“


Wiederum ertönte es hernieder „Zu Befehl“ und im
nächſten Augenblicke ſauſte der Matroſe aus der furchtbaren
Höhe wie ein Pfeil herunter.


Uns ſtockte der Athem; wir wußten nicht, ob er nicht breit
auf das Waſſer ſchlagen und zerſchmettert werden würde. Doch
war die Beſorgniß Gottlob unnöthig; wie eine Kerze ſo gerade
durchſchnitt er die Luft, mit den Füßen zuerſt, die Hände hoch
über dem Kopfe und fuhr wie ein Blitz in die Tiefe.


In tödtlicher Spannung erwarteten wir ſein Wiederauf-
kommen. Da tauchte er wie ein Kork empor, ſchaute ſich nach
dem Boote um und ſchwamm luſtig auf daſſelbe zu.


„Donnerwetter“ waren ſeine erſten Worte, als man ihn
in das Boot zog, „ſolchen Satz habe ich mein Lebtag noch nicht
gemacht,“ worauf natürlich ein allgemeines Gelächter der Boots-
mannſchaft erfolgte. Mit demſelben Humor machte er beim
Betreten des Decks die Meldung beim Wachehabenden Officier
„An Bord zurück, Herr Lieutenant“, was ihm zur Belohnung
ein ſteifes Glas Grog eintrug. Damit war aber die Sache
erledigt und ſie wurde ſpäter ſelten und dann auch nur in
ſcherzender Weiſe erwähnt.


Der Seemann weiß, daß ſein Leben oft an einem Faden
hängt und liebt es nicht, in ernſter Weiſe daran erinnert zu
werden. Wo er in einem ſolchen Falle „freiſchlippt“ da behält
er es entweder für ſich oder macht einen Spaß daraus. Bedauert
zu werden hält er unter ſeiner Würde und glaubt ſich etwas
zu vergeben, wenn er dergleichen Gefühlen Ausdruck leiht.
Dadurch erſcheint er Fernſtehenden bisweilen gefühllos, was der
Matroſe im allgemeinen aber durchaus nicht iſt. Im Gegen-
theil birgt er unter der harten Außenſeite meiſtens ein ſehr gutes
*
[78]Werner
und weiches Herz, und es iſt ein charakteriſtiſcher Zug von ihm,
daß er für ſeine Mitmenſchen bereitwillig ſich ſelbſt entblößt,
um ihnen zu helfen, und ohne weiteres ſein Leben in die Schanze
ſchlägt, um das Anderer zu retten. Das zeigt ſich ſo recht in
ſchönſtem Lichte, wenn ein Mann über Bord fällt. Mag das
Wetter noch ſo ſchlecht, die Nacht finſter, Sturm und See noch
ſo wüthend ſein — Alle drängen ſich herbei, um als Freiwillige
in das Boot zu gehen und den Kameraden den zürnenden
Elementen wieder zu entreißen, obwohl der die Verhältniſſe be-
ſonnener überſchauende Vorgeſetzte, wenn auch mit ſchwerem Herzen,
oft entſchieden dagegen auftreten und die Rettung verweigern
muß, weil die ganze Bootsbeſatzung dabei zu Grunde gehen würde.


Und nun erſt beim Rettungswerk an den Seeküſten, wenn
es ſich darum handelt, durch die wüthende Brandung den Schiff-
brüchigen zu Hülfe zu kommen und ſie vor dem naſſen Grabe
zu bewahren! Welcher Heroismus, welche Hingabe, welche be-
wundernswerthe Selbſtverleugnung wird da von den Rettungs-
mannſchaften gezeigt! Da gilt es oft viele Stunden lang mit
faſt übermenſchlichen Kräften gegen Sturm und Wogen in einem
gebrechlichen Boote zu kämpfen, jeden Augenblick gewärtig, von
einer heranbrauſenden Sturzſee erfaßt und in die dunkle Tiefe
geſchleudert zu werden. Wie viele büßen bei dieſem humanen
Werke ihr Leben ein, ohne daß die Anderen ſich dadurch ſchrecken
laſſen! Kein äußerer, irgendwie verlockender Lohn harrt ihrer,
keine laute Anerkennung ſchmeichelt ihrem Ehrgeiz; — am öden
Strande abgelegener Inſeln und Küſten vollziehen ſich ſolche
heroiſche Acte, von denen öfter nicht einmal die nächſte Umgebung
Kunde erhält. Nein, die Motive ſind nur reine Menſchenliebe
und ein gutes Herz, die ſich willig in Thaten äußern, aber es
verſchmähen, Worte darüber zu verlieren.


Im Gegentheil ſucht der Matroſe etwas darin, äußerlich
hart zu erſcheinen, namentlich an Bord eines Schiffes. Das
Leben an Bord fordert vom Einzelnen, daß er ſich nach allen
[79]Eine erſte Seereiſe
Richtungen als Mann zeige und von dieſem Gefühle iſt der
Seemann ſo durchdrungen, daß er den Begriff der Männlich-
keit meiſtens zu ſtreng auffaßt. In dieſer Anſchauung glaubt
er alle ſanfteren Regungen in ſeinem Innerſten verſchließen zu
müſſen. Sie veranlaßt ihn, das glückliche Entrinnen aus drohender
Todesgefahr als einen Scherz anzuſehen, körperliche Verletzungen
als Bagatellen unbeachtet zu laſſen, kein Mitleiden, nicht ein-
mal zu Kranken zu äußern und ſelbſt krank, ſich ſo lange hin-
zuſchleppen und ſeine Arbeit zu thun, bis er thatſächlich zu-
ſammenbricht und ſelbſt der energiſche Wille die fehlenden Kräfte
nicht mehr zu erſetzen vermag. Alle weicheren Gefühle verſpottet
er als weibiſche Schwäche und wie er dem nach ſeiner Anſicht
vollkommenen Manne den das höchſte Lob ſpendenden Beinamen
„fixer Kerl“ beilegt, nennt er den Schwächling verachtungsvoll
„altes Weib“. Dieſelbe übertriebene Auslegung des Begriffes
„Mann“ veranlaßt ihn oft den ſchwierigeren Weg zum
Ziele zu wählen, obwohl ihm ein bequemer und gefahrloſer zu
Gebote ſteht, mit ſeine Kräfte faſt überſteigender Anſtrengung
eine Arbeit allein zu vollbringen, die er ohne Verſchmähung
vorhandener und gebotener Hülfe ſo viel leichter hätte bewältigen
können. Er klettert wie eine Fliege an der Decke, in den
Püttingswanten, Taue, welche die Ränder der Mars ſchräg
nach unten halten, außen herum in die letztere, während er
viel bequemer gradeaus gehen und durch das Soldatenloch eben
dahin kriechen könnte. Statt auf den Pferden der Raaen hinaus
zu gehen und ſich mit den Händen feſtzuhalten, ſieht man ihn
oft trotz der heftigen Schwankungen des Schiffes wie einen
Seiltänzer oben auf den Raaen ſelbſt hinauslaufen, obwohl ihm
bei dem leiſeſten Fehltritt ein Sturz von oben droht und ſtatt
die Strickleitern in den Wanten* zu benutzen, rutſcht er an den
Pardunen** oder anderen einzelnen Tauen hinunter.


[80]Werner

So macht er es bei hundert anderen Gelegenheiten. Kein
Menſch drängt ihn dazu, er hat vollauf Zeit, aber er thut
es, weil er glaubt, dergleichen gehöre ſich für einen tüchtigen
Mann. Auf der andern Seite kommt eine ſolche Anſchauung
allerdings auch wieder dem Berufe ſelbſt zu Gute und aus ihr
erklärt ſich die Möglichkeit, daß Kauffarteiſchiffe mit ſo geringen
Beſatzungen über See kommen und dieſe in kritiſchen Lagen oft
kaum Glaubliches leiſten. Keiner verläßt ſich auf den Andern;
ein Jeder thut ohne Sporn von ſelbſt das Mögliche und arbeitet,
als ſollte er das Ganze allein ausführen. Je größer die Ge-
fahr, je ſchwieriger die Lage, deſto größer ſind die Leiſtungen
und deſto tapferer werden die Strapazen ertragen — das iſt
des echten Seemanns Art.


Unſere Reiſe bis in die Nähe des Aequators verlief ohne
weitere bemerkenswerthe Umſtände. Wir ſchnitten denſelben,
wie damals alle Segelſchiffe, zwiſchen dem 17. und 18. weſtlichen
Längengrade von Greenwich. Jetzt geſchieht dies auf Grund
hydrographiſcher und meteorologiſcher Forſchungen der neueren
Zeit, 180—200 Meilen weſtlicher, zwiſchen dem 30. und 31.
Grade weſtlicher Länge.


Für die um das Cap der guten Hoffnung beſtimmten
Schiffe iſt dies zwar ein ſcheinbarer Umweg, aber in Wirklich-
keit ein Gewinſt von durchſchnittlich 14 Tagen und mehr.
Die beiden im Atlantiſchen Ocean wehenden Paſſate, der Nordoſt
im Norden, der Südoſt im Süden des Aequators, verſchieben
je nach dem Stande der Sonne ihre Grenzen im Laufe des
Jahres um zwanzig bis dreißig Meilen, gehen aber nicht direct
in einander über, ſondern bilden durch ihr Aufeinanderſtoßen
in der Nähe der Linie, wie die Seeleute den Aequator nennen,
einen Stillgürtel. Derſelbe iſt an der afrikaniſchen Küſte ziem-
lich breit, 40—50 Meilen, ſpitzt ſich aber nach Weſten kegel-
förmig zu und mißt auf 30—32 Grad Weſtlänge nur noch
wenige Meilen. Ehe man dieſe Thatſache kannte, die wir den
[81]Eine erſte Seereiſe
hydrographiſchen Beſtrebungen des berühmten Amerikaners Maury
verdanken, geſchah es oft, daß Schiffe drei bis vier Wochen
gebrauchten, ehe ſie auf ihrer öſtlichen Route dieſen Gürtel
überwanden, während man gegenwärtig weiter weſtlich die Sache
in ein paar Tagen abmacht, ja, wie ich es ſpäter einmal ge-
habt, faſt direct aus einem Paſſat in den andern ſegeln kann.


Wir verloren den Nordoſtpaſſat damals auf 1 Grad
Nordbreite und fanden den Südoſt auf 2½ Grad Süd, aber
dieſe 50 Meilen wurden uns erſchrecklich ſauer gemacht. Wir
gebrauchten, um ſie zu durchſegeln, nicht weniger als 23 Tage
und zwar faſt unter beſtändigen Gewittern und furchtbaren
Regengüſſen, von denen man ſich in unſerm Klima kaum einen
Begriff machen kann. Es iſt dies die Folge der aufeinander
ſtoßenden Paſſate. Die mit Waſſerdünſten geſättigten beiden
Luftſtrömungen ſteigen beim Zuſammentreffen in die Höhe, ihr
Waſſerdampf verdichtet ſich in den oberen kalten Regionen und
ſchlägt, meiſtens von electriſchen Entladungen begleitet, als Regen
nieder und zwar faſt ohne Unterbrechung, da auch der Verdich-
tungsprozeß beſtändig vor ſich geht.


Nach den drei Wochen bequemen, ruhigen Lebens, das
uns der Nordoſtpaſſat gebracht, empfanden wir den Contraſt
höchſt unbehaglich. Bis dahin waren Raaen und Segel faſt
nicht gerührt, jetzt nahm das Braſſen, Segelbergen und Segel-
ſetzen weder Tag noch Nacht ein Ende. Abſolute Windſtille
hatten wir nur wenige Stunden in der ganzen Zeit, bald
ſprang von dieſer, bald von jener Seite ein leiſer Hauch auf,
der als „Katzenpfote“ das Waſſer kräuſelte. Bisweilen dauerte
er keine Viertelſtunde, aber er durfte nicht unbenutzt vorüber-
gehen und die Segel mußten nach ihm geſtellt werden, wenn
er uns auch nur ein paar Schritte vorwärts brachte. Dann
wieder zog eine Gewitterbö herauf, und da man nie wiſſen
konnte, was darin ſteckte, ſo mußten die vielleicht eben geſetzten
Segel wieder fortgenommen werden. Da das bei einer ſo
R. Werner, Erinnerungen. 6
[82]Werner
geringen Mannſchaft aber verhältnißmäßig langſam ging, ſo
paſſirte es auch öfter, daß wir von dem Winde überraſcht wurden
und dann Gott danken mußten, wenn wir mit einem blauen
Auge davon kamen und nicht Stengen und Raaen verloren.


Namentlich Nachts waren ſolche Böen ſehr unwillkommen
und ſchaurig. Ich erinnere mich noch einer derſelben, die von
allen Schrecken eines tropiſchen Gewitters begleitet war.


Unſere Wache kam um zwölf Uhr Nachts auf das Deck.
Der Regen hatte ſeit kurzem aufgehört, es war todtenſtill, aber
ſo finſter, daß man nicht zwei Schritte weit etwas zu unter-
ſcheiden vermochte und wir wie Blinde unſern Weg tappen
mußten. Die kleinen Segel hatte die Wache aus Vorſicht ſchon
geborgen, die großen hingen vom Regen doppelt ſchwer an
Stengen und Maſten nieder. Die See war ſo merkwürdig
ruhig, daß das Schiff bisweilen Minuten lang bewegungslos
auf dem Waſſer lag; dann rollten ein paar Wellen heran und
die naſſen Segel ſchlugen mit lautem Krachen gegen die Maſten,
um gleich darauf wieder eben ſo ruhig und unbewegt hernieder
zu hängen. Die unheimliche Stille laſtete in Verbindung mit
der ſchwarzen Nacht wie ein Alp auf uns; es war, als ob
etwas Schlimmes in der Luft lag. Der Unterſteuermann ließ
alle größeren Segel fortnehmen, die Marsſegel herunterführen
und ihre Flächen durch Ausholen der Refftaljen um die Hälfte
verkleinern, um auf Alles gefaßt zu ſein, doch das ganze
Manöver wurde von uns lautlos und ohne den bei ſolchen
Gelegenheiten ſtets üblichen Sang ausgeführt. Der Kapitän
war auch auf Deck gekommen; wir hörten ihn hinten gehen,
aber die Schritte klangen hohl und dumpf, als ob die ſchwere
Luft den Schall nieder und gegen die Verſchanzung drückte.
Die beiden Bramſegel wurden noch gegeit und der Kapitän gab
den Befehl, ſie feſt zu machen. Ich wurde in den Großtop hinauf-
geſchickt, während ein Leichtmatroſe das Vorbramſegel beſchlagen
ſollte. Ich weiß nicht woran es lag, daß mir meine Aufgabe
[83]Eine erſte Seereiſe
ſchneller als je gelang. Früher hatte ich meine Kräfte ſehr an-
ſtrengen müſſen, um das ziemlich große trockene Segel allein
zu bewältigen, heute war es naß und doch war ich in wenigen
Minuten damit fertig und wieder an Deck. Ich fand die Leute
der Wache bei der Kombüſe zuſammenſtehen und geheimnißvoll
flüſtern, als ob etwas außergewöhnliches paſſirt ſei. Als ich
zu ihnen herantrat, blickten ſie mich ſo ſonderbar an, daß es
mir auffiel. „Haſt Du ihn geſehen, Reinhold?“ redete mich
der Bootsmann mit gedämpfter Stimme an. Es war das erſte
Mal auf der Reiſe, daß er mich bei meinem richtigen Namen
nannte.


„Wen?“ fragte ich, erſtaunt über das feierliche und unge-
wohnte Weſen des Bootsmanns.


„Heinrich!“ lautete die Antwort.


„Welchen Heinrich?“ Die Sache wurde mir immer un-
verſtändlicher, es befand ſich gar kein Heinrich an Bord.


„Nun, Heinrich Peterſen! Er war ja bei Dir auf der
Raa und half Dir das Segel feſtmachen, ſonſt hätteſt Du es
in der kurzen Zeit nicht fertig bekommen.“


Ich ſtarrte den Bootsmann an und zweifelte an ſeinem
Verſtande. Heinrich Peterſen war ja in der Nordſee ertrunken
und ſollte bei mir auf der Raa geweſen ſein?


„Was ſiehſt Du mich ſo an? Es iſt ſo wie ich Dir
ſage, aber Du brauchſt deshalb nicht beſorgt zu ſein. Er ſtand
hinter Dir und das ſchadet nichts. Wenn er Jemand holen
will, dann ſetzt er ſich ihm auf die Schultern.“


Ich wußte noch immer nicht, was ich davon denken ſollte
und blickte fragend auf die übrigen Leute.


„Ja ja, wir alle haben ihn geſehen“, ſagte der Segel-
macher, „und“ . . . .


„Da iſt er wieder“, rief halblaut in dieſem Augenblicke
einer der Matroſen. Alle Blicke wandten ſich nach oben und
auch die meinen folgten. Unwillkürlich erſchrak ich; dort oben
6*
[84]Werner
über dem Top der Vorbramſtenge ſchwebte ein kugelförmiges
bläuliches Licht. Bald hob es ſich einige Fuß, bald ſenkte es
ſich wieder oder ſchwebte ſeitwärts. Dann verſchwand es auf
einige Sekunden ganz, um wieder zu erſcheinen und ſeinen
unheimlichen Tanz weiter zu führen. Plötzlich flog es mit einem
Ruck abwärts und hielt ſich eine Zeit lang über dem Kopfe des
Leichtmatroſen, der das Vorbramſegel feſtmachte, während ſich
ähnliche Flammen auch auf den übrigen Toppen zeigten. Ihr
matter Schimmer erleuchtete nur den nächſten Umkreis, alles
übrige war in tiefe Nacht gehüllt.


„Er ruft Jens,“ flüſterte der Bootsmann, indem er mich
anrührte, „ſieh, wie er ihm auf die Schultern klettert.“


Mich überlief es kalt. Die blaſſe Kugel ſchien auf dem
Kopfe des Leichtmatroſen befeſtigt, welcher noch immer das
Segel nicht auf die Raa bringen konnte. Sie goß einen fahlen
Schein über ſein Geſicht, der es mit einer Leichenfarbe bedeckte,
obwol von dem übrigen Körper nichts zu ſehen war, was die
Sache noch ſchauriger machte. Dann verſchwand das Licht
wieder auf einige Minuten, um vorn auf der Spitze des Außen-
klüverbaums wieder aufzuflammen und dort ſeinen Irrlichtstanz
von neuem zu beginnen.


„Er ſteigt herunter,“ äußerte der Segelmacher, „das giebt
Wind, gut daß wir die Segel fort haben.“


Jens hatte endlich ſein Segel feſt gemacht und war an
Deck gekommen, aber Niemand ſprach zu ihm ein Wort über
das, was wir geſehen. Er ſelbſt äußerte auch nichts; wahr-
ſcheinlich hatte er oben von dem Lichte gar nichts bemerkt, denn
ſein Benehmen war ſo unbefangen wie ſonſt. Auch vom Klüver-
baum war die Flamme jetzt verſchwunden und zeigte ſich nicht wieder.


Es war ein Elmsfeuer geweſen, das ſich bei Gewitterluft
in den Tropen öfter auf den eiſenbeſchlagenen Spitzen der Maſten
und Raaen zeigt, im Aberglauben des gewöhnlichen Seemanns
aber als Seele eines abgeſchiedenen Kameraden gilt. Wenn es in
[85]Eine erſte Seereiſe
die Höhe ſteigt, bedeutet es gutes Wetter, und es kommt Sturm,
wenn es ſich ſenkt. Beleuchtet es den Kopf eines Matroſen in
der Takelage, ſo iſt es das Vorzeichen ſeines baldigen Todes.


Ich ſah die Erſcheinung zum erſten Male, hatte früher
noch nichts davon gehört, und wenn mein Verſtand mir auch ſagte,
ſie ſei electriſcher Natur, ſo hatte ich mich doch eines drückenden
Gefühls nicht erwehren können. Die tiefe Dunkelheit und die
unheimliche, ſchaurige Stille hatten auch mein Gemüth gefangen
genommen und es mit abergläubiſcher Furcht erfüllt.


Einige ſchwere Regentropfen begannen zu fallen; es war
ſo ſtill, daß man jeden einzelnen derſelben auf das Deck auf-
ſchlagen hörte. Einige Minuten ſpäter ertönte dumpfes Rollen
des Donners und Wetterleuchten durchzuckte den Horizont.
Wir warteten in ängſtlicher Spannung auf das Einfallen der Bö,
aber ſie blieb noch immer aus. Ein plötzlicher Windſtoß, wenn
auch nur ſchwach, blähte die Marsſegel für einen Augenblick, dann
hingen ſie wieder regungslos.


Da auf einmal war es, als ob nur Feuer uns umfinge
und tauſend grelle Blitze vom Himmel zugleich auf uns hernieder
zuckten. Im ſelben Augenblicke erkrachte der Donner mit ſo
furchtbarer Gewalt, daß der Ocean zu erzittern ſchien und wir
erſchreckt zuſammenfuhren, während der Himmel ſeine Schleuſen
öffnete und wahre Ströme von Waſſer auf uns ergoß. Es
war ein förmlicher Wolkenbruch, und obwol er in dieſer Stärke
kaum fünf Minuten dauerte, ſo konnte das Waſſer durch
Speigaten und Sturzpforten doch nicht ablaufen. Es ſtand
fußhoch auf dem Deck und wogte mit dumpfen Rauſchen hin
und her, wenn das Schiff ſich bewegte.


Dazu die dichte Finſterniß, das unaufhörliche blendende
Blitzen und der betäubende Donner — wahrlich es war als
ob die Welt untergehen ſollte, und wir ſtanden wie erſtarrt über
die ſchaurige Großartigkeit des Naturereigniſſes.


Noch immer regte ſich wunderbarer Weiſe kein Lüftchen
[86]Werner
und die ſo unnatürliche Stille drückte uns förmlich nieder. Sie
erſchien drohend und unheilverkündend. Der Regen hörte jetzt
eben ſo plötzlich auf, wie er über uns hereingebrochen war, die
dichte Wolkendecke zerriß an einer Stelle, und nun kam endlich
die Bö herangebrauſt. Hui! was für eine Maſſe Wind führte ſie
mit ſich und wie peitſchte ſie die dunklen Waſſer! Kochend und
ſchäumend trieb ſie die Wellen vor ſich her, und wie vorhin die
Atmoſphäre vom electriſchen Fluidum erglühte, ſo glich jetzt
der vom Sturm erregte Ocean, der bis dahin in tiefer Nacht
gelegen, einem Feuermeer, und die Myriaden von Weſen, welche
ihn bevölkern, ſprühten in phosphoriſchem Glanze.


Als die Bö in die Segel fiel und ehe das ſtill ſtehende Schiff
ſich durch das Waſſer zu bewegen begann, zitterte und krachte
es in allen Fugen. Unſer gutes Glück wollte, daß der Wind
grade von hinten kam und nur die beiden dicht gereeften Mars-
ſegel ſtanden, ſonſt hätten wir die Maſten verloren oder wären
gekentert. So aber flogen wir nach wenigen Minuten mit
10 Knoten Fahrt platt vor dem Winde dahin und ſchwächten
um eben ſo viel die Schnelligkeit des Orcans und damit ſeine
Kraft. Es war immer noch ſchlimm genug, aber bei ſolchen
Böen iſt der erſte Stoß der gefährlichſte. Wir hatten ihn glück-
lich überwunden und der Alp, der bis dahin auf uns gelaſtet,
löſte ſich von unſrer Bruſt. Wir wußten jetzt, woran wir waren;
auch die ſchwarze Dunkelheit war etwas gewichen und unſer
gutes Schiff dem wüthenden Sturme gewachſen. Ueberdies
kam der Wind aus Norden, wir flogen direct dem Süden zu
und jede Meile die wir gewannen, war für uns Geldes werth.


Leider dauerte die Bö kaum eine halbe Stunde an, dann war
alles wieder vorbei. Der Wind ließ nach und hörte endlich
ganz auf. Der helle Streifen am Himmel verſchwand, der
Regen begann auf’s neue, wenn auch nicht ſo gewaltig wie
vorher, in der Ferne grollte der Donner, den Horizont erhellte
noch einmal der Widerſchein der Blitze, aber das Glühen des
[87]Eine erſte Seereiſe
Meeres verloſch allmälig. Seine aufgeregte Oberfläche glättete
ſich, bald lag wieder tiefe Nacht auf ihr. Der Rieſe ſchlummerte
nach dem ſchweren Kampfe, und unſer Schiff ſchaukelte ſich leiſe
auf den Wellen, die ſanft und regelmäßig ſich hoben und ſenkten.


Die Linie paſſirten wir eines Sonntags, d. h. wir glaubten
es; denn ſeit acht Tagen hatten wir weder Sonne noch Mond
oder Sterne geſehen und keine Beobachtung gemacht. Unſere
Koppelscursrechnung nach dem geſteuerten Curſe und der durch-
laufenen Diſtanz war auch ſehr unſicher, da ſie ſich bei dem
ſo häufigen und plötzlichen Wechſel der Richtung und Stärke
des Windes ſchwer führen ließ. Natürlich entging ich nebſt den
Andern, die den Aequator noch nicht paſſirt hatten, nicht der
üblichen Taufe, jedoch wurde ſie, wie auf den meiſten Kauffartei-
ſchiffen, in ziemlich roher Weiſe ausgeführt, die einer näheren
Beſchreibung nicht werth iſt. Man wurde mit einer Miſchung
von Fett und Theer im Geſicht eingeſeift und mit einem Raſir-
meſſer aus Bandeiſen raſirt. Dabei verband man dem Be-
treffenden die Augen und ſetzte ihn auf ein Brett, das über
einer mit Waſſer gefüllten Tonne lag. Nach Beendigung des
Raſſirens zog man das Brett fort und der Täufling fiel in’s
Waſſer. Das war die ganze Procedur und, wie man ſieht,
wenig Humor dabei. Eingeweicht wurden wir ohnehin genug
bei dem permanenten Regen und das Untertauchen hatte deshalb
nicht einmal den Reiz der Neuheit. Das Intereſſanteſte bei
der ganzen ſogenannten Taufe waren wohl einige Flaſchen Rum,
die der Kapitän zur Feier des Tages ſpendete und aus denen
ein ſteifer Grog gebraut wurde, dem dann natürlich Geſang folgte.


Einige Tage darauf ſah ich auch zum erſten Male Waſſer-
hoſen und zwar zu gleicher Zeit zwei, während eine dritte ſich
etwas ſpäter bildete. Sie waren einige Meilen entfernt und
nahmen ihren Weg ſeitwärts von uns, ſo daß wir ſie ohne
weitere Sorge beobachten konnten. Aus einer dunkelgefärbten
und ſcheinbar ſehr tiefziehenden Regenwolke ſchoß zuerſt eine
[88]Werner
trichterförmige Spitze hervor, die jedoch nicht grade, ſondern
etwas gebogen war. Nach einigen Minuten ſah man in dieſer
Spitze Bewegung; die Ränder veränderten ſich, der Trichter
wurde zuſehends ſtärker und zuckte auf und nieder, bald bis
ganz nahe auf die Waſſerfläche, bald in größerer Höhe. Dann
nahm man Bewegung in dem Meerestheile unter der Spitze
wahr, als ob das Waſſer kochend aufwallte und es war deut-
lich zu ſehen, wie ſich allmälig ein runder Waſſerberg bildete,
der ſich ſcharf gegen ſeine Umgebung abhob. Das Auf- und
Niederzucken des Trichters wurde nun heftiger, bis er ſich plötz-
lich mit dem Berge vereinigte und die Waſſerhoſe als ſchräg-
ſtehende und etwas gebogene Säule langſam wanderte, um
nach 20 bis 30 Minuten ſich wieder ebenſo zurückzubilden und
zu verſchwinden. Donnerähnliche Geräuſche, wie ſie dieſe Er-
ſcheinungen oft begleiten ſollen, hatten wir nicht vernommen;
vielleicht war die Entfernung zu groß. Jedenfalls iſt aber
kleineren Schiffen zu rathen, ihnen aus dem Wege zu gehen,
oder bei ihrer Annäherung ſie durch einen Kanonenſchuß recht-
zeitig zu ſprengen, da ſie ſchon öfter durch ihre wirbelnde Be-
wegung die Maſten gebrochen haben.


Endlich näherten wir uns der ſüdlichen Grenze des
unangenehmen Stillgürtels, der uns mit ſeinen Attributen
wochenlang ſo ſchwer gepeinigt hatte. Nur eine Annehm-
lichkeit wies er für uns auf. Bei dem ſtrömenden Regen
konnten wir nach Herzensluſt uns in friſchem Waſſer gründlich
reinigen und auch unſere Kleider waſchen. Zum Trinken war
das Waſſer allerdings nicht zu gebrauchen, da es durch Herunter-
laufen an Tauwerk und Segeln einen widerlichen Theergeſchmack
angenommen hatte. Dafür ſammelten wir es aber ſorgſam für
Wäſchebedarf. Jedes leere Waſſerfaß oder ſonſtige Gefäß, das
ſich nur irgend dafür eignete, wurde gefüllt, und auf dieſe Weiſe
reichte der Vorrath faſt für die ganze übrige Reiſe, um uns
täglich einmal den Luxus einer Abſeifung zu geſtatten.


[89]Eine erſte Seereiſe

In der letzten Woche hatte der Regen nachgelaſſen, die
Sonne brach auf Stunden durch, aber mit dem Aufhören der
Gewitterböen verloren wir auch die ſtärkeren oder ſchwächeren
Windſtöße, die uns vorwärs gebracht. Wir lagen bisweilen
48 Stunden in vollkommener Windſtille und dies war um ſo
ärgerlicher, als wir uns nur noch höchſtens zwei bis drei Meilen
von der Grenze des Südoſtpaſſates befanden und aus den
Toppen den dunklen Streifen zu erkennen glaubten, den an-
kommende Brieſe auf dem Waſſer macht. Das war eine Ge-
duldsprobe und auch das Kratzen am Maſt und Pfeifen wollte
keinen Wind bringen. Es erſchien mir wahrhaft komiſch, mit
welchem Ernſt die alten Matroſen an die Wirkſamkeit dieſer
beiden Mittel glaubten. Das Pfeifen iſt ſonſt an Bord voll-
ſtändig verpönt; aus Langeweile hatte ich es einige Male Nachts
auf der Wache gethan, doch war es mir ſtets mit der unwirſchen
Bemerkung unterſagt, auf einem Schiffe müſſe man nicht pfeifen.
Jetzt begriff ich den Grund des Verbotes. Pfeifen giebt Wind;
damals hatten wir aber ſo viel davon, daß wir nicht mehr
gebrauchen konnten.


Nachdem übrigens die Sonne wieder zum Vorſchein ge-
kommen war und jetzt der kühlfächelnde Hauch des Windes fehlte,
merkten wir doch die tropiſche Hitze ganz bedeutend. Der „rothe
Hund“, eine Ausſchlagskrankheit, die faſt jeder Nordeuropäer
beim Uebergang in heiße Klimate durchzumachen hat, zeigte ſich
in unangenehmer Weiſe. Man mußte ſich in Acht nehmen,
nicht außer dem abgehärteten Geſicht und den Händen, andere
Körpertheile der Sonne auszuſetzen, weil dieſe ſofort Blaſen zog,
und die Hitze erſchlaffte die Muskeln, namentlich der jüngeren
Leute, ſo, daß man ſich gar nicht rühren mochte.


Ach, wie ſchwer wurde es mir in dieſer Zeit, wenn ich zu
irgend welchem Zwecke nach der Bramraa hinauf mußte und
wie oft wurde ich, wenn das Klettern ſehr langſam ging, durch
die höhnenden Worte angeſpornt: „Du kommſt ja nicht aus
[90]Werner
der Stelle, Dich hat gewiß Jan Looi gepackt.“ Wie die
Matroſen gern perſonificiren und z. B. die See, d. h. wenn
ſie in unbequemer Weiſe ſich fühlbar macht, „Rasmus“* nennen,
ſo bezeichnen ſie die durch die Hitze erzeugte Schlaffheit des
Körpers mit „Jan Looi“; das letztere Wort ſtammt aus dem
niederdeutſchen und bedeutet „träge, faul“. Dieſer Hohn wirkte
beſſer, als andere Mittel, um die Ermattung zu überwinden
und ich kam auch bald darüber fort.


Am letzten Tage, an dem wir uns im Stillgürtel befanden,
erlebte ich noch ein wunderbares und höchſt intereſſantes Schau-
ſpiel, das uns alle in die höchſte Aufregung verſetzte und über-
dies nur ſelten beobachtet wird.


Es war klarer ſchöner Sonnenſchein; kein Hauch trübte
die Fläche des Meeres und die Sonnenſtrahlen tauchten ſich ſchim-
mernd in ſeinen tiefblauen Schooß. Ich hatte Freiwache und war
grade in die Lectüre eines alten Kalenders vertieft, der ſich in
der Seekiſte des Kochs aufgefunden und deſſen Inhalt ich den
Kameraden vorlas, als wir durch den Ruf eines in der Takelage
beſchäftigten Matroſen: „Brandung voraus, zwei Strich an
Steuerbord“ aufgeſchreckt wurden.


Alle ſprangen auf und richteten die Blicke nach der be-
zeichneten Stelle, die etwa zwei Meilen weit entfernt war.
Der Kapitän ſchaute lange und aufmerkſam mit dem Fernrohr
hin. „Unbegreiflich!“ äußerte er kopfſchüttelnd, „Auf hundert
Meilen in der Runde zeigen die Karten nirgends eine Gefahr;
ich bin hier ſchon zehnmal durchgekommen, habe davon weder
etwas gehört noch geſehen, und doch ſind es richtige Klippen,
die wir dort vor uns haben.“ Fünf bis ſechs dunkle Felſen
ragten über die Waſſerfläche empor und die Brandung ſpritzte
ſchäumend an ihnen hinauf.


Unterdeſſen war auch der Bootsmann an Deck gekommen,
[91]Eine erſte Seereiſe
und nahm die Sache in Augenſchein. „Das ſind weder Klippen
noch Brandung“ ſagte er nach einer Weile ſehr beſtimmt.


„Was ſoll es denn ſein?“ fragte ziemlich pikirt der
Kapitän.


„Das ſind Walfiſche,“ erwiederte der Bootsmaun, „Was
Ihr für Klippen anſeht, ſind Floſſen und Schwänze. Sie
ſpielen und ſchlagen damit auf das Waſſer, daß es wie Bran-
dung erſcheint.“


Zuerſt begegnete die Bemerkung nur ungläubigem Lächeln,
aber bald überzeugten wir uns, daß der alte Harpunier, der
zwanzig Jahre in allen Welttheilen dem Walfiſchfang obgelegen,
Recht hatte.


„Das iſt eine ganze Schule!“ fuhr er fort, indem der
ſonſt ſo ruhige Mann in Erinnerung an die früheren Kämpfe
mit den Rieſen des Meeres immer lebendiger wurde. „Seht
dort die gewaltige Floſſe in der Mitte, die alle anderen überragt,
das iſt der alte Schulmeiſter, der mit der Heerde von Weibchen
zieht. Wie ſchade, daß wir keine Leinen haben — da wäre
ein Fang zu machen, der uns ein paar Tauſend Thaler ein-
brächte. Sie ſind luſtig, und man kann bis auf fünf Schritte
herankommen, ohne daß ſie es merken. Da! jetzt bläſt der Bulle!
Was ein Kerl muß das ſein — der mißt mindeſtens ſeine
60 Fuß!“ rief der Bootsmann in voller Extaſe. Ein mächtiger
Strahl von feinem Waſſerdampf ſtieg in die Lüfte und die
Sonne malte einen prachtvollen Regenbogen hinein. Als ob
dies ein Signal geweſen wäre, verſchwand jedoch plötzlich die
ganze Schaar von der Oberfläche. Faſt gleichzeitig hoben ſich
acht bis zehn gewaltige Schwänze aus dem Waſſer und die
rieſigen Körper tauchten von uns abgewandt in die Tiefe.


„Sie kommen wieder auf,“ verhieß der Bootsmann, als
wir unſer Bedauern darüber ausſprachen, „und wir werden ſie
bald ganz in der Nähe haben. Der Walfiſch ſteigt immer in
der entgegengeſetzten Richtung wieder in die Höhe, in der er
[92]Werner
hinuntergegangen. Die Thiere müſſen übrigens durch etwas
erſchreckt worden ſein, ſonſt iſt das nicht ihre Art, ſo plötzlich
das Spiel abzubrechen.“


Wir warteten in Spannung wohl eine Viertelſtunde, da
blies es wieder, erſt einmal und wieder ſo mächtig wie vorhin,
dann in kleinen Zwiſchenräumen noch fünf- bis ſechsmal, aber
mit ſchwächerem und niedrigerem Strahl. Wie der Bootsmann
vorausgeſagt, tauchte die Heerde wieder auf und zwar ganz
nahe bei unſerm Schiffe, keine 300 Schritte von uns entfernt.


Wie auf Commando liefen wir Alle, der Kapitän voran,
nach oben in die Takelage, um beſſer zu ſehen. Ich hielt mich
zum Bootsmann, der mir über Alles am beſten Auskunft geben
konnte und ſaß mit ihm auf der Vormarsraa. Die Fiſche
waren bei der geringen Entfernung und in dem klaren durch-
ſichtigen Waſſer ſo deutlich zu ſehen, als ob ſie vor uns lägen.
Jeden ihrer Körpertheile, den gewaltigen Kopf mit dem Ein-
ſchnitte des coloſſalen Rachens, das Blasloch, die Floſſen unter-
ſchieden wir klar, ja ſogar die Muſchelklumpen, die ſich auf
den ungeſchlachten Rücken angeſetzt, konnten wir genau wahr-
nehmen.


Mich feſſelte die Neuheit des Anblicks natürlich auf das
höchſte und ich zitterte förmlich vor Erregung. Die Heerde
beſtand aus acht Stück, dem Bullen und ſieben Kühen; Kälber
waren nicht dabei. Der Bulle war ein gewaltiges Thier und
eher noch länger als ihn der Bootsmann geſchätzt hatte. Die
Weibchen erſchienen dagegen bedeutend kleiner und hatten unge-
fähr gleiche Größe. Alle waren ſehr nahe an einander gedrängt,
der Bulle auf dem linken Flügel etwas ſchräg vorgeſchoben, als
wollte er die Heerde gegen etwas decken. Sie blieben ziemlich
auf demſelben Flecke, bewegten faſt unmerklich Floſſen und
Schwanz und nur dann und wann neigte ſich einer oder der
andere etwas auf die Seite, ſo daß wir ein Stück des weißen
Bauches ſehen konnten.


[93]Eine erſte Seereiſe

„Ich ſage Dir, Schweizer, da iſt etwas unklar,“ hub der
Bootsmann wieder an, „das iſt nicht die Manier der Wale,
ſo auf einem Fleck zu hocken, das habe ich noch nie geſehen.“


„Vielleicht ſehen ſie unſer Schiff und ängſtigen ſich davor,“
erwiederte ich.


„O, Gott bewahre, vor Schiffen haben ſie keine Furcht,
das habe ich einmal in der Südſee auf eine Weiſe erfahren,
an die ich noch heute mit Schaudern denke — nein, es muß
etwas anderes ſein! Sieh! ſieh! was der Bulle macht!“


Das Thier flog aus ſeiner ſchrägen Lage, wie ein Blitz,
nach links, faſt um einen Viertelkreis herum und ſchoß dabei
etwa 50 Schritt voraus, gegen unſer Schiff hin, ſo daß wir
ihn noch viel deutlicher als vorhin ſahen. Gleichzeitig hoben
ſich wieder die Schwänze der Kühe in die Luft; wie ein Lauf-
feuer von Geſchützen ſchlugen ſie krachend damit das Waſſer,
daß es hoch aufſchäumte und ſchoſſen dann faſt perpendiculär in
die Tiefe.


„Das iſt kein Spiel mehr,“ ſagte der Bootsmann, „das
iſt bitterer Ernſt — es muß ein ſchrecklicher Feind in der
Nähe ſein. — Ah, ich habe mich nicht geirrt, dort iſt er!
Schwertfiſche!“


Ich folgte der Richtung der Hand und ſah jetzt die vom
Bootsmann entdeckten Fiſche. Es waren ſechs, von 15 bis
16 Fuß Länge; ſie kamen mit fliegender Fahrt unter unſerm
Schiffsboden hervorgeſchoſſen und nahmen ihre Richtung auf
den ſie offenbar erwartenden Bullen. In dem Augenblicke
jedoch, als wir ſie ſahen, theilten ſie ſich, nur zwei behielten
ihren Curs bei, die übrigen bogen nach rechts ab, wahrſcheinlich
um den fliehenden Kühen zu folgen. Die beiden erſteren, etwa
zehn Schritt von einander entfernt, nahmen ihren Weg auf die
Flanke des Walfiſches — in wenigen Secunden mußten ſie ihn
erreichen und dann war er verloren. Da erfolgte wieder die
unbegreiflich blitzſchnelle Drehung, diesmal nach rechts; der Kopf
[94]Werner
des gewaltigen Thieres ſenkte ſich und es führte mit dem Schwanze
nahe an der Oberfläche des Waſſers einen furchtbaren Schlag.


Der Angriff der Schwertfiſche war mißlungen und der
eine von ihnen kampfunfähig gemacht; er lag auf der Seite,
bewegte zwar noch die Floſſen, mußte aber ſchwer beſchädigt
ſein, denn er ſtrich nur langſam ſeitwärts in die Tiefe. Der
zweite war unverletzt; wir ſahen ihn aus dem ſchäumenden
Waſſer, das der Schwanzſchlag verurſacht, mit pfeilartiger Ge-
ſchwindigkeit hervorkommen und nach links ſchwimmen, um ſehr
bald unſern Blicken zu entſchwinden.


Der Walfiſch ſtand regungslos im Waſſer und uns ſo
nahe, daß wir faſt direct auf ihn niederſahen. Er blies, als
ob er zur Fortſetzung des Kampfes Athem ſchöpfen wollte. Es
klang wie ein übernatürlicher Poſaunenton, aber wir ſahen in
der großen Nähe auch deutlich, daß es kein Waſſer war, was
er von ſich gab, ſondern nur mit nebelartigem Dampf vermiſchte
Luft. Es fielen keine Tropfen auf die Waſſerfläche zurück.


„Bravo, bravo,“ ertönte es laut von den Toppen und
Raaen aus unſer aller Munde, die wir Zuſchauer des wunder-
baren Kampfes waren. „Hurrah! der Wal hat geſiegt.“


Als ob dieſer unſere Beifallsrufe verſtanden, drehte er
den Kopf etwas nach uns zu, blieb aber ſonſt auf der Stelle
und ſein mächtiger Rücken ſtand einige Fuß aus dem Waſſer
hervor.


„Wartet, wartet,“ mahnte der Bootsmann, „die Sache iſt
noch nicht zu Ende. Ihr kennt die Schwertfiſche nicht, ſo leicht
geben ſie den Kampf nicht auf. Der alte Schulmeiſter weiß
das auch ganz genau; ſeht nur, wie er den Kopf dreht und
die Augen überall hin ſcharfen Ausguck halten.“


Kaum waren die Worte verhallt, als auch ſchon ein neuer
Angriff erfolgte, diesmal aber augenſcheinlich von der andern
Seite, als woher ihn der Walfiſch erwartete. Der Schwertfiſch
hatte einen völligen Halbkreis gemacht und ſich Hülfe geholt,
[95]Eine erſte Seereiſe
um ſeinen Angriff zu erneuern. Den letzteren ſelbſt ſahen wir
nicht, ſondern nur ſeine großartige Wirkung. Der Wal ſprang
mit ſeinem ganzen Körper ſo hoch aus dem Waſſer, daß der
Bauch ſich noch einige Fuß über der Oberfläche befand und
ſchlug dann mit einem donnerähnlichen Krach und ſo furchtbarer
Gewalt in ſein Element zurück, daß der Fall ein Meer von
ſchäumenden Giſcht bildete und hohe Wellen bis zu unſerm
Schiff trug.


Im ſelben Augenblicke, als der verzweifelte Luftſprung
gethan wurde, ſahen wir drei Schwertfiſche in ſechs bis acht Fuß
Abſtand und parallel neben einander unter dem Walfiſch hervor-
ſchießen und gleich darauf in dem Schaum verſchwinden. Offen-
bar hatte der Wal keine Zeit mehr gehabt, der Attaque mit
einem Schwanzſchlage zu begegnen, wie vorhin und ſich nur
durch Herausſchnellen aus dem Waſſer retten können. Die
Schwertfiſche hatten ſo ihr Ziel verfehlt und waren unter ihm
durchgegangen. Der zweite Gang des merkwürdigen Kampfes
war beendet, und wiederum ertönte aus dem Munde der Be-
ſatzung ein „Hurrah“ für den Wal.


„Er iſt doch verloren,“ ſagte der Bootsmann; „es ſind
drei gegen einen, die beiden andern werden auch noch zurück-
kommen und dann iſt er unbedingt fertig. Schade um den
ſchönen Thran,“ fügte er bedauernd hinzu. Er ſah die Sache
weniger vom chevaleresken, als vom Standpunkte des Harpuniers
an, während wir andern alle Partei für den Wal nahmen.
Die Prophezeihung ſollte nur zu bald in Erfüllung gehen. Der
Kampf begann auf’s neue und wurde von beiden Seiten mit
der größten Wuth und Erbitterung geführt. Leider entgingen
uns jetzt die meiſten Details, aber wie heiß der Streit entbrannt
war, das ſahen wir an den heftigen Bewegungen des Wal-
fiſches, an dem Wogen und Schäumen des gepeitſchten Waſſers,
wenn letzterer ſeine Schwanzſchläge austheilte, an dem ſchnellen
Wechſel des Kampfplatzes, bald unmittelbar beim Schiffe, bald
[96]Werner
500 Schritt und mehr davon entfernt. Die Schwertfiſche ſelbſt
ſahen wir faſt gar nicht mehr; ſie ſchwammen bedeutend tiefer
als der Wal, weil die Angriffe ſtets auf deſſen verwundbarſten
Theil unterhalb der Bauchfloſſen gerichtet waren, und die raſenden
Sprünge und Stöße des letzteren machten die Waſſerfläche ſo
trübe und undurchſichtig, daß wir zu unſerm großen Bedauern
ihren Bewegungen nicht folgen konnten. Nur einmal machte
auch einer von ihnen einen Satz aus dem Waſſer, offenbar um
einem ſofort darauf erfolgenden Schwanzſchlage zu entgehen.


So wogte der furchtbare Kampf hin und her. Wir folgten,
ſo weit wir konnten, ſeinen Einzelheiten in athemloſer Spannung
wohl zehn Minuten lang, dann trat die Kataſtrophe ein. Jener
mächtige Poſaunenton von vorhin ertönte wieder, aus dem
Blasloch ſtieg die Dunſtſäule hoch in die Lüfte, aber diesmal
ſpiegelten ſich die Sonnenſtrahlen nicht in Regenbogenfarben in
ihr wieder, denn der Dunſt zeigte ſich mit Blut gemiſcht und
roth gefärbt. Der tapfere Wal war tödtlich von ſeinen Feinden
getroffen. Wie raſend jagte er im Kreiſe umher, bisweilen bis
zu ſeiner halben Höhe aus dem Waſſer hervorragend und es mit
gewaltigen Schlägen peitſchend. Dann erhob ſich der Leviathan
wieder mit einem furchtbaren Satze aus dem Waſſer, aber neben
ihm hing ein Schwertfiſch, den er mit ſich in die Luft empor-
genommen, um ihn beim Fall mit der Wucht ſeines Körpers
zu zerſchmettern und, ſelbſt ſterbend, ſeinem Feinde den Tod zu
geben. Noch einmal warf der Gigant einen Blutſtrahl hoch —
dann folgten drei bis vier furchtbare Schwanzſchläge und alles
war ſtill. Das Waſſer glättete ſich und der mächtige Körper des
tapfern Wal ſchwamm leblos an der Oberfläche. Nach ſeiner
erſten Verwundung hatte er ſich ſo weit von unſerm Schiffe
entfernt, daß wir das Letzte der ſubmarinen Schlacht nur noch
undeutlich ſahen, aber wir konnten uns eines ſchmerzlichen Ge-
fühls des Bedauerns nicht erwehren, daß der Held der Tiefe,
der ſo brav geſtritten, am Ende doch hatte unterliegen müſſen.


[97]Eine erſte Seereiſe

Auch der Bootsmann ſprach ſein Bedauern aus, aber nur
darüber, daß wir keine Fäſſer an Bord hatten, um den koſt-
baren Speck zu retten.


„Der hat mindeſtens ſeine dreihundert Tonnen, es iſt ein
Capitalbulle, und nun geht all’ der Blubber vor die Haie“,
klagte er. „Da ſind rund 1500 Thaler zum Teufel, und
nun muß es gar ein Potwal ſein, ſonſt könnte man in einer
Stunde doch noch eine Maſſe Geld an ihm verdienen.“


„Wie ſo?“ fragte ich, da ich den Sinn der letzten Be-
merkung nicht verſtand.


„Der Potwal hat keine Barten,“ erwiederte er, „ſondern
nur Zähne im Unterkiefer, und die haben wenig Werth, wenn-
gleich er damit Unglück genug anrichten kann. Ich hab’s erlebt
und kann davon ein Liedchen ſingen; aber jetzt wollen wir
niederentern und den Alten um ein Boot fragen. Wir wollen
uns wenigſtens ein Stück von der Zunge holen, die ſchmeckt
ganz vortrefflich und eine ſolche Abwechſelung bei dem ewigen
Torniſterfleiſch thut wohl.“


In meinem Eifer, recht ſchnell an Deck zu kommen und
auch wol mit einer gewiſſen Eitelkeit, um vor dem Bootsmann
meine Gewandtheit zu zeigen, benutzte ich nicht die Strickleitern
der Wanten, ſondern rutſchte an der Stenge-Pardune herunter,
aber leider bekam es mir ſchlecht. Ich machte es zu ſchnell und
verbrannte mir ſo das Innere der Handfläche, daß ganze Stücke
von der Haut abgeriſſen wurden.


„Bravo Schweizer, das nenne ich flink!“ rief der Boots-
mann. „Siehſt du, mit der Zeit kann noch ein ganz tüchtiger
Kerl aus Dir werden.“


Das Lob war theuer erkauft; ich biß vor Schmerz die
Zähne aufeinander, ließ aber natürlich von meinem Mißgeſchick
nichts verlauten, um nicht ausgelacht zu werden. Der Kapitän
erlaubte, daß der Bootsmann die Gig nahm, um ein Stück
von der Zunge zu holen, und ich durfte mitfahren. Selten
R. Werner, Erinnerungen. 7
[98]Werner
habe ich ſolche Schmerzen ausgeſtanden, als bei dieſer Fahrt,
weil das Holz der Bootsriemen beim Rudern ſtets mit dem
rohen Fleiſch meiner geſchundenen Hände in Berührung kam,
aber mit einem eines Indianers würdigen Stoicismus ertrug
ich die heilloſe Pein, um für die Zukunft eine Lehre daraus
zu ziehen.


Wir fanden den Walfiſch auf der Seite liegend und die
ganze Waſſerfläche in ſeiner Umgebung von Blut geröthet. Er
hatte eine Länge von über 60 Fuß und namentlich imponirte
mir der rieſige Kopf, der ein Drittheil des ganzen Körpers
auszumachen ſchien. Am Bauche hatte er vier ſchwere Wunden,
drei davon mehr horizontal, die vierte tödtliche jedoch durch
einen wohlgezielten Stoß von unten verurſacht. Sie war es
wol, die den Wal zu ſeinem letzten verzweifelten Luftſprunge
getrieben hatte, bei dem er den Schwertfiſch mit in die Höhe
riß. Das abgebrochene Schwert ſtak in der Wunde, war
aber ſo feſt zwiſchen die Rippen eingekeilt, daß es nicht möglich
war, daſſelbe mit den Händen herauszuziehen. Als wir dann
mit dem Boote zum Rachen hinholten, um ein Stück der Zunge
herauszuſchneiden, fanden wir erſteren krampfhaft geſchloſſen,
aber zwiſchen den Kiefern einen vollſtändig zermalmten Schwert-
fiſch. Der Wal mußte ihn wahrſcheinlich noch unmittelbar vor
ſeinem Tode recht quer erfaßt und ihn mit ſeiner gewaltigen
Reihe von 48, ſechs bis ſieben Zoll langen, kegelförmigen Zähnen
förmlich zu Brei zerquetſcht haben; nur der Kopf mit dem
Schwert hing an der oben liegenden Seite des Rachens noch
unverletzt, ſo daß wir ihn abſchneiden und in das Boot nehmen
konnten.


Damit war dem Bootsmann jedoch nicht gedient, er war
auf die Zunge verſeſſen und wollte ſie durchaus haben. Das
ließ ſich aber nur machen, wenn wir den Fiſch langſeit des
Schiffes brachten, und wir bugſirten ihn deshalb bis dorthin.
Als der Koloß einmal in Bewegung geſetzt war, glitt er leicht
[99]Eine erſte Seereiſe
durch das Waſſer, und nach kaum einer Stunde war er an der
Seite des Schiffes befeſtigt. Doch alle Mühe, den Rachen zu
öffnen, war vergebens und zum großen Kummer des Boots-
mannes und unſrer ſelbſt mußten wir uns den Appetit auf den
ſo hoch gerühmten Leckerbiſſen vergehen laſſen. Als der Fiſch
bei dieſen Verſuchen mit Tauen herumgedreht wurde, fanden
wir zu unſerem Erſtaunen drei alte verroſtete Harpunen in ſeinem
Rücken. Zwei davon trugen denſelben Schiffsnamen, die dritte
jedoch einen andern; das Thier mußte alſo ſchon früher von
zwei verſchiedenen Walfiſchfängern gejagt und ihnen entronnen
ſein. Sowohl die Harpunen, als auch die abgebrochene Säge
wurden zum Andenken an den merkwürdigen Tag heraus-
geſchnitten; dann aber mußte der Wal losgeworfen werden, denn
es ſprang etwas Wind auf und der Kapitän wollte dies
ausnutzen.


Wie um ein Aas die Raben, ſo hatten ſich in der letzten
Stunde eine ganze Reihe Haie um den todten Wal geſammelt.
Woher ſie ſo ſchnell kamen mochte der liebe Gott wiſſen, aber
wir zählten wohl zwölf von den verſchiedenſten Größen, die mit
ihren dreieckigen Rückenfloſſen die Waſſerfläche ſchneidend bis auf
20 bis 30 Schritt Entfernung das Schiff umkreiſten und auf den
Augenblick zu warten ſchienen, wo ihnen die ſelten reiche Beute
zufallen mußte. Als wir den Fiſch loswarfen und er kaum
eine Schiffslänge von uns entfernt war, ſchoſſen ſie von allen
Seiten auf ihn zu und riſſen mit ihren furchtbaren Gebiſſen
mächtige Stücke aus dem Kadaver.


Den Kopf des Schwertfiſches ließ der Kapitän für ſich
ſkelettiren; das abgebrochene Schwert erhielt der Bootsmann,
ſchenkte es aber mir, und ich habe es als ein Andenken, ſowol an
den alten Mann, dem ich außer ſo vielen andern Wohlthaten,
auch mein Leben verdankte, als auch an das furchtbare Schau-
ſpiel aufbewahrt, das zu ſehen und namentlich in ſolcher Nähe
ſelten Jemandem vergönnt iſt.


7*
[100]Werner

Das Merkwürdigſte bei dieſen Kämpfen zwiſchen Schwert-
fiſch oder Narwal und den Walen ſoll aber ſein, daß erſtere
die letzteren nicht etwa angreifen, um ſie zu freſſen, ſondern
aus reiner Mordluſt. Ein anderer, etwa zwanzig Fuß langer
Raubfiſch, der ſogenannte Dreſcher, und ſelbſt zum Geſchlecht der
Wale gehörig, iſt ebenfalls Todfeind ſeiner großen Brüder, ver-
nichtet ſie aber, um wenigſtens ihre Zunge zu freſſen, die auch
ſein alleiniges Angriffsobject bildet. Wie er das anfängt, iſt
mir allerdings nicht klar geworden und ich kann mir auch nicht
denken, daß er das bei den mit ſo gewaltigen Zähnen bewaff-
neten Potfiſchen verſucht, nachdem ich geſehen, wie ein Schwert-
fiſch zermalmt worden war.


Der leiſe Windhauch, welcher den Kapitän veranlaßte, den
todten Fiſch loszuwerfen, zeigte ſich endlich als der ſo lang er-
ſehnte Südoſtpaſſat. Ganz allmälig friſchte er zu einer ſchönen
Brieſe auf, und gegen Abend glitt unſere „Alma“ wieder leicht-
füßig mit rundgeſchwellten Segeln durch die Fluthen, deren
gleichmäßige Wellen mit leiſem Rauſchen überköpften. Alles
Ungemach der letzten drei Wochen war vergeſſen und wiederum
genoſſen wir für eben ſo lange Zeit die Annehmlichkeiten des See-
lebens wie im Norden der Linie, die noch dadurch erhöht wurden,
daß wir jetzt am Winde ſegelten, dieſer einen ſeitlichen Druck
auf die Segel übte und daß in Folge deſſen das Schlingern auf-
hörte, das bisweilen recht unbequem geworden war.


Auf Grund der Windrichtung, die im Beginn des Paſſats
noch ſüdlicher iſt als Südoſt, müſſen Segelſchiffe einen ganz
bedeutenden Bogen nach Weſten machen und kommen ziemlich
weit nach der ſüdamerikaniſchen Küſte hinüber. Erſt auf un-
gefähr 30 Grad ſüdlicher Breite wechſelt der Paſſat mit ver-
änderlichen Winden, mit denen man in ſüdöſtlicher Richtung bis
über den 40. Grad ſüdlicher Breite ſteuert, um die dort herr-
ſchenden Weſtwinde aufzuſuchen. Mit ihnen ſegelt man dann um
das Cap der guten Hoffnung und ſo weit nach Oſten, bis man
[101]Eine erſte Seereiſe
nach Norden umbiegen und mit dem Südoſtpaſſat die Sunda-
ſtraße erreichen kann.


Wir kamen an der auf der Höhe des Caps der guten
Hoffnung, aber etwa 350 Meilen weſtlich davon gelegenen Inſel
Triſtan d’Acunha vorbei und wollten ſie in Sicht laufen, um
unſere Schiffsrechnung zu verificiren. Es ging uns aber gerade ſo,
wie mit Madeira. Wir ſollten ſie nach unſrem Beſteck auf eine
Meile Entfernung paſſiren; es war das ſchönſte ſichtigſte Wetter,
aber wir ſpähten vergebens; die Segeltuchhoſe blieb wiederum un-
verdient. Wir waren alſo mindeſtens 20 bis 25 Meilen aus dem
Wege, denn bei der außerordentlich klaren Luft hätten wir den
hohen ſpitzen Bergkegel, der die Inſel bildet, ſehen müſſen. Es
konnten aber eben ſo gut hundert Meilen ſein und da offenbar
unſer irdiſcher Chronometer, mit deſſen Hülfe man die geogra-
phiſche Länge berechnet, falſch zeigte, ſo mußten wir ſchon auf
die nie fehlgehende himmliſche Uhr zurückgreifen und uns an die
Monddiſtanzen halten, die den Chronometer erſetzen.


Nun iſt aber ſowol die Beobachtung wie die Berechnung
der Diſtanzen zwiſchen Mond und Sonne reſp. Sternen eins
der ſchwierigſten Probleme, welche die Nautik kennt, und beides
war namentlich für die Kapitäne alten Schlages, zu denen der
unſere gehörte, eine böſe Nuß.


Sie zeigten ſich im allgemeinen als außerordentlich tüchtige
Seeleute, die mit ihren Schiffen leſen und ſchreiben konnten, wie
man zu ſagen pflegte, und in Drangſal und Noth bei Sturm
und Wetter den Kopf oben zu behalten wußten, aber mit der
theoretiſchen Navigation fand es ſich bei ihnen, namentlich auf
den frieſiſchen Inſeln, nur ſchwach beſtellt. Staatliche Navi-
gationsſchulen exiſtirten dort nicht, und ſo wurden die jungen
Seeleute, wenn ſie einmal einen Winter zu Hauſe waren, von
alten invaliden Kapitänen in die Geheimniſſe der nautiſchen Be-
rechnungen eingeweiht, die ſich allerdings auf ein Minimum be-
ſchränkten. Mit den verſchiedenen Methoden, die Breite aufzu-
[102]Werner
finden, ging es noch. Weder die Beobachtung noch die Berech-
nung erforderte beſonderes Kopfzerbrechen, und auch das Berech-
nen von Chronometerlängen war nicht übermäßig ſchwierig, aber
auf Diſtanzen ließen ſich die alten Seebären nicht ein, und erſt
der neueren Zeit war es vorbehalten, die Erlernung dieſer
Methoden für Kapitäne und Steuerleute der Handelsmarine
obligatoriſch zu machen.


Unſerm Kapitän war die Sache jedenfalls ſehr unklar und
er befand ſich in einem unangenehmen Dilemma. Wir hatten
von Schiffswegen zwar einen Sextant an Bord, aber ich war
überzeugt, daß er noch nie ein ſolches ſubtiles Inſtrument in
der Hand gehabt hatte und gar nicht damit umzugehen verſtand,
ſo gut er ſeinen mächtigen handfeſten Octanten zur einfachen
Höhenmeſſung auch handhaben konnte. Von der Berechnung
war natürlich bei ihm gar keine Rede, und ſo hätte er ſich vor
ſeinen Untergebenen nur blamirt, wenn er ſich überhaupt auf
einen Verſuch nach dieſer Richtung einließ. Und doch mußte er
gemacht werden, denn ſo irrten wir auf dem großen Ocean um-
her, ohne auch nur annähernd zu wiſſen, wo wir uns befanden.
Er ſtellte ſich deshalb klüglicher Weiſe auf den Standpunkt des
Vorgeſetzten und befahl einfach den Steuerleuten, die betreffen-
den Beobachtungen anzuſtellen. Dieſe hatten beide die Navi-
gationsſchule beſucht, wußten wenigſtens wie es anzufangen war
und begannen mit der heikeln Aufgabe.


Nun gehören aber zum Ausmeſſen einer Diſtanz für gewöhn-
lich zwei Beobachter und ein Dritter, der die Beobachtungen
niederſchreibt und die Zeit notirt. Zu dieſem Dritten beſtimmte
der Kapitän mich, da ich ohnehin nach meinem Contract in
der Navigation unterrichtet werden ſollte, und auf dieſe Weiſe
wurde ich dann in die Myſterien der Letzteren eingeführt. Natür-
lich ergriff ich dieſe Gelegenheit mit dem größten Eifer und
Intereſſe, die Steuerleute unterwieſen mich in der Behandlung
der Inſtrumente und in den Regeln der Berechnung; ich ſtudirte,
[103]Eine erſte Seereiſe
beobachtete und rechnete, wann ſich nur irgend Gelegenheit und
Zeit bot, und meine ſichtbaren Fortſchritte ſpornten mich zu immer
größerer Thätigkeit an. Von einem wiſſenſchaftlichen Verſtänd-
niß der Berechnungen konnte zwar keine Rede ſein, ich lernte
ſie nur mechaniſch, aber das genügte für den vorliegenden Zweck
vollſtändig. Die Hauptſache blieb genaues Beobachten, weil da-
von die Richtigkeit des Reſultates abhing und darin hatte ich es
in nicht zu langer Zeit durch unermüdliche Uebung ſo weit ge-
bracht, daß ich mir ohne Ueberhebung darauf etwas zu Gute
thun konnte. Auch in der ausführenden Rechnung war ich den
Steuerleuten bald überlegen, was übrigens gar nicht auffallen
konnte, da ich eben das Gymnaſium abſolvirt hatte und jene
Beiden ihre Elementarkenntniſſe nur von einer gewöhnlichen
Volksſchule ableiteten.


Anfänglich haperte es mit den Beobachtungen ſehr und wir
gelangten zu wunderbaren Ergebniſſen; der Eine rechnete den
Standpunkt des Schiffes oft zehn Meilen anders heraus als der
Andere, aber Uebung macht den Meiſter. Allmälig näherten
wir uns, und nach Ablauf von drei bis vier Wochen ſtimmten
wir ſo überein, daß, wenn wir unſere drei Beobachtungen mittel-
ten, wir mit ziemlicher Genauigkeit, d. h. auf 2 bis 3 Meilen,
was für die Praxis ausreicht, ſagen konnten: das und das iſt
unſere Länge und daß wir ſpäter darauf hin auch die Sunda-
ſtraße auf den Kopf anſegelten.


Ehe ich zur See ging, hatte ich ſchon vielfach von der
Pracht des ſüdlichen geſtirnten Himmels gehört und geleſen und
fand dieſelben Schilderungen auch ſpäter in Reiſebeſchreibungen.
Mir ſelbſt iſt es jedoch nicht möglich geweſen, dies beſtätigt zu
finden, und ich bin noch heute der Meinung, daß unſer nordi-
ſcher Himmel in dieſer Beziehung den ſüdlichen weit übertrifft
und ſeine Sternbilder viel glänzender und ſchöner ſind. In
meiner Knabenphantaſie leuchtete namentlich das ſüdliche Kreuz
in märchenhaftem Glanze, übergroß und feurig dachte ich mir
[104]Werner
die Geſtirne, wurde aber ſehr enttäuſcht. Auf ſpäteren Reiſen
habe ich mir oft den Spaß gemacht, nach Ankunft des Schiffes
auf der ſüdlichen Hemiſphäre, Kameraden, die noch nicht dort
geweſen, das ſüdliche Kreuz aufſuchen zu laſſen, aber keiner von
ihnen vermochte es zu finden. Wenn ich es ihnen dann zeigte,
ertönte regelmäßig ein enttäuſchtes „Ach, das iſt es!“ und ich
hatte die Genugthuung, den poetiſchen Reiſebeſchreibern gegenüber
nicht der alleinige Proſaiker zu ſein. Das Bild iſt ein regel-
mäßiges aus fünf Sternen beſtehendes Kreuz, aber nur einer
von ihnen iſt zweiter, die übrigen ſind fünfter und ſech-
ſter Größe — woher ſollte deshalb ein beſonderer Glanz
kommen?


Einen Vorzug hat allerdings die ſüdliche Halbkugel vor
der unſeren, wenigſtens in der Nähe des Caps der guten Hoff-
nung: das iſt die wunderbare Klarheit und Durchſichtigkeit der
Luft. Wir haben bei hellſtem Sonnenſchein bis Mittags 11 Uhr
und dann wieder von zwei Uhr an öfter Planeten ſo deutlich
am Himmel geſehen, daß wir mit den Inſtrumenten ihre Höhe
meſſen konnten. Die Urſache dieſer eigenthümlichen Erſcheinung
mag darin zu ſuchen ſein, daß es im Süden des Caps kein
Land giebt, deſſen Dünſte die Atmoſphäre trüben.


Als wir über den vierzigſten Grad ſüdlicher Breite hinaus-
kamen, fing die Schlecht-Wetter-Periode wieder an und wir ver-
blieben darin nicht weniger als ſechs Wochen. Wir ſegelten
zwar immer mit günſtigem Weſtwinde, der hier den atmoſphäri-
ſchen Gegenſtrom zum Südoſtpaſſat bildet, aber wir hatten leider
beſtändig mehr davon, als wir gebrauchen konnten. Selten ver-
mochten wir größere als doppelt gereefte Marsſegel zu führen,
und oft wehte es ſo hart, daß wir tagelang vor Sturmſegeln
beigedreht liegen mußten. Für ein Schiff giebt es eine gewiſſe
Grenze, über die hinaus es nicht mehr ſegeln kann, ſondern
beidrehen, d. h. unter kleinen Sturmſegeln am Winde liegen
und langſam ſeitwärts treiben muß. Es iſt weniger die Stärke
[105]Eine erſte Seereiſe
des Windes, als die Gewalt der aufgewühlten See, welche zu
dieſem Manöver zwingt. Dieſe erhält bei ſchweren Winden
eine ſolche Schnelligkeit, daß ſie die vor ihr laufenden Schiffe
überholt oder bei ſeitlichem Sturme quer über ſie hinbricht und
in beiden Fällen als verheerende Sturzſee nicht nur alles nieder-
reißen, ſondern die Fahrzeuge geradezu vernichten kann.


Höchſtwahrſcheinlich ſind der preußiſche Kriegsſchooner
„Frauenlob“, welcher 1860 bei einem Teufun im chineſiſchen Meere
und die Korvette „Amazone“, die ein Jahr ſpäter bei einem ähnlichen
Wirbelſturme in der Nordſee mit Mann und Maus unterging,
von einem ſolchen Geſchick ereilt und von einer Sturzſee be-
graben worden. Wenn man vor dem Winde ſegelt, iſt der
Moment des Beidrehens immer ein gefährlicher und man darf
damit nicht ſo lange warten, bis die See zu ſchwer geworden
iſt. Es iſt eine eigenthümliche Erſcheinung, daß bei Stürmen
faſt immer drei große überbrechende Wellen ſich in kurzen
Zwiſchenräumen folgen und dann eine längere Pauſe von ver-
hältnißmäßig ruhigerem Waſſer eintritt. Dieſe Pauſe muß wo-
möglich zum Beidrehen benutzt werden. Gelingt es dem Schiffe
nicht, während ihrer Dauer mit dem Kopfe an den Wind zu
kommen, ſo ſetzt es ſich der Gefahr aus, von einer der nächſten
drei ſchweren Wellen erreicht und überflutet zu werden. Liegt
es aber am Winde, dann hat es in der Regel nichts von Sturm
und See zu fürchten, wenn es ſich in offenem Waſſer befindet.
Es treibt dann vor den kleinen Sturmſegeln ſeitwärts, macht
mit ſeinem Rumpfe ein ſehr breites und ziemlich glattes Kiel-
waſſer und an dieſem brechen und verlaufen ſich die gefürchteten
Kämme der heranrollenden Sturzſeen.


Zu den erwünſchten nautiſchen Eigenſchaften eines Schiffes
gehört, daß es gut beiliegt und mit dem Kopfe immer auf
60—70 Grad am Winde liegt. Thut es dies nicht und
fällt es öfter 20—30 Grad mehr ab, ſo fängt es an, Fahrt
durch das Waſſer zu machen, weil dann der Wind mehr von
[106]Werner
hinten auf Maſten, Raaen und Segel wirkt, es verliert das
ſchützende Kielwaſſer und iſt Sturzſeen ausgeſetzt. Unſere „Alma“
lag vortrefflich bei, und eigentlich zogen wir dieſe Poſition dem
Segeln vor ſtürmiſchen Winden vor. Bei letzterem ſchlingerten
wir in der hohen See, gegen welche die Segel keine ſeitliche
Stütze gaben, oft ſo entſetzlich, daß faſt die Spitzen der Unter-
raaen in das Waſſer tauchten, wir von beiden Seiten über die
Verſchanzung Waſſer ſchöpften und beſtändig ein naſſes, ſchlüpfe-
riges Deck hatten.


Bei ſolchen Gelegenheiten lernt man zwar den Werth der
Seebeine ſchätzen, auf die Dauer aber wird es wahrhaft un-
erträglich, wenn man Tage und Wochen lang ſich nur an auf-
geſpannten Tauen von einer Stelle des Schiffes nach der anderen
bewegen kann, bei den Mahlzeiten ſich auf das platte Deck mit
irgendwo feſtgeſtemmten Füßen ſetzen und dann noch den Suppen-
napf mit großer Kunſt balanciren muß, um nicht durch ein
heftiges Ueberholen kopfüber in eine Ecke geſchleudert zu werden.
Unter ſolchen Verhältniſſen war das Beidrehen eine ordentliche
Erholung. Das ſchreckliche Schlingern hörte auf, wir bekamen
ein trockenes Deck und fühlten uns einigermaßen als Menſchen.
Wenn das Schiff bei der gewaltig hohen See auch bisweilen ſo
tief ſtampfte, daß uns der Athem ſtockte, ſo war das lange nicht
ſo unangenehm, wie das ununterbrochene Hin- und Herſchleu-
dern. Die Wellen, welche ich bisher in der Nordſee und im
Biscayiſchen Meerbuſen geſehen, waren Kinderſpiel gegen
den Seegang beim Cap der guten Hoffnung. Ich hätte
nicht geglaubt, daß ſich ſolche Waſſerberge aufthürmen könnten,
und wenn einzelne derſelben angerollt kamen, zuerſt den Bug
des Schiffes und dann das Heck ſo hoch empor hoben, daß es
unter einem Winkel von 45 Grad zum Horizonte auf- oder
niederwärts zeigte, dann mußte man ſich an ſolche gewaltſame
Bewegungen erſt gewöhnen, um nicht durch ſie erſchreckt und
ſchwindlich zu werden.


[107]Eine erſte Seereiſe

Wenn wir beigedreht lagen, wurde wenig gearbeitet, höch-
ſtens Werg gezupft oder Flechtwerk aus Kabelgarnen gefertigt,
eine Beſchäftigung, bei der man ſich in eine möglichſt geſchützte
Ecke drückte und die Zeit durch Erzählungen kürzte. Der Kapi-
tän hatte aber auch nichts dagegen, wenn wir an ſolchen Tagen
Albatroſſe und Captauben angelten, die zu Hunderten unſer
Schiff umſchwärmten und mit großem Geſchrei um jeden Biſſen
Abfall kämpften, der aus der Kombüſe über Bord ging. Sie
biſſen wie die Fiſche auf die mit etwas Speck geköderten Angel-
haken und wir fingen ſie dutzendweiſe. Die Captauben ſind
etwas größer als unſere Tauben, die Albatroſſe erreichen jedoch
ein Gewicht von 15—20 Pfund; einzelne derſelben maßen
mit ausgeſpannten Flügeln 10—12 Fuß. Dieſe außergewöhn-
lich langen Flügel machen es ihnen unmöglich, ſich von einer
glatten Fläche, wie z. B. von einem Schiffsdeck zu erheben.
Wenn ſie ſchwimmen, müſſen ſie ſtets abwarten, bis ſie ſich auf
der Spitze einer Welle befinden, ehe ſie in die Höhe fliegen
können. Sobald wir ſie aber auf das Deck ſetzten, wurden ſie
ſowie auch die Captauben ſichtlich ſeekrank. Als Speiſe ſind
beide Vogelarten nicht zu verwerthen; das Fleiſch iſt ſo hart
und thranig, daß nur der größte Hunger es verzehrbar macht,
und man fängt ſie nur wegen der Federn. Dieſe decken in ſo
ungemeiner Fülle namentlich die Bruſt, daß der Körper von
der Größe eines Schwanes erſcheint, aber gerupft nicht viel
größer als ein Hahn iſt. Als ſparſamer Hausvater ließ unſer
Kapitän die gefangenen Thiere ſorgſam rupfen, und da wir
während der Reiſe einige zwanzig Albatroſſe angelten, ſo hat
er ſeiner Frau gewiß das nöthige Federmaterial für ein paar
vollſtändige Betten mitgebracht; der Bruſtpelz gab den ſchönſten
Eiderdunen nichts nach. Sonſt bot die Reiſe auf dieſer Strecke
wenig Abwechſelung und war ungemein eintönig. Schiffe hatten
wir ſeit dem Paſſiren des Aequators, d. h. ſeit einigen Mona-
ten nicht geſehen; nach Eisbergen hielten wir ſcharfen Ausguck
[108]Werner
und öfter ſpornten uns eiskalte Nebel, die ihre Nähe
zu verkünden ſchienen, noch zu erhöhter Wachſamkeit an, aber
wir bekamen keine in Sicht. Sie können gerade wegen ihrer
Nebelatmoſphäre und beſonders Nachts den Schiffen ſehr ge-
fährlich werden. Der Kapitän war gewiß mit ihrem Nicht-
erſcheinen zufrieden, ich jedoch hätte gar zu gern eine ſolche
ſchwimmende Kryſtallinſel, von deren Schönheit ſelbſt mein alter
proſaiſcher Bootsmann in ſeiner Weiſe ſchwärmte, geſehen.


Als wir ungefähr auf der Höhe der beiden unbewohnten
und nur zeitweiſe von Walfiſchfängern zum Auskochen des
Thranes beſuchten Inſeln Amſterdam und St. Paul angekommen
waren, von wo aus man allmälig die ſüdlichen Breiten verläßt,
um nordwärts den Südoſtpaſſat aufzuſuchen und damit die
Sundaſtraße anzuſteuern, wurden wir abermals von Nebel heim-
geſucht. Gleichzeitig hatte ſich jedoch endlich der ſtürmiſche Wind
gelegt, der ſo lange unſer unbequemer Begleiter geweſen, ebenſo
war die gewaltige See niedergegangen und wir konnten zum erſten
Male nach vielen Wochen wieder die kleineren Segel führen.
Nach einigen Tagen erreichten wir den Südoſtpaſſat und
ſteuerten damit die Sundaſtraße an. Unſere Beobachtungen er-
wieſen ſich als richtig, und man kann ſich denken, daß ich nicht
wenig ſtolz war, in der Navigation ſolche Fortſchritte gemacht
und Kenntniſſe gewonnen zu haben, die man ſich ſonſt erſt er-
wirbt, wenn man als Steuermann fährt. Wir kamen Nachts
vor die Straße. Das Land ſelbſt hatten wir Tags zuvor noch
nicht geſehen, doch ſeine Nähe war uns bereits durch mehrere
Landvögel angekündigt, die ſich auf unſer Schiff verirrten. Es
war ſehr dunkel, aber mit der ſchönen ſtetigen Brieſe keine Ge-
fahr, Nachts die Küſte anzuſegeln. Sie hebt ſich ſteil aus
dem Meere ohne weiter vorliegende Klippen oder Untiefen, iſt
ſo hoch, daß wir ſie auf eine Meile ſehen mußten und ſchlimm-
ſten Falls konnten wir mit dem ablandigen Winde immer wieder
abkommen.


[109]Eine erſte Seereiſe

Gegen Mitternacht ſchlief die Brieſe ein und es wurde
eine kleine Weile ſtill. Daß wir ganz nahe unter der Küſte
ſein mußten, merkten wir an dem ruhigen Waſſer, auf dem ſich
das Schiff faſt gar nicht bewegte, bald aber auch an den koſt-
baren Blumendüften, die der leiſe Hauch des jetzt ankommenden
Landwindes zu uns herüberführte. In der Nähe von größeren
Landgebieten hört der Paſſat auf und wird durch die täglich
regelmäßig wechſelnde See- und Landbrieſe verdrängt, welche
das Reſultat der Einwirkung der Sonne ſind. Am Tage er-
wärmt ſie durch ihre Strahlen das Land bedeutend ſchneller
und intenſiver als das umgebende Meer, deſſen Temperatur
nur unmerklich dadurch geändert wird. Die Folge iſt, daß ſich
die Luft über dem Lande verdünnt und die Luft vom kälteren
Meere zur Ausgleichung als Seebrieſe herbeiſtrömt. Nachts
findet dagegen der umgekehrte Proceß ſtatt. Durch Ausſtrah-
lung wird das Land zu einer niedrigeren Temperatur abgekühlt,
als ſie das Meer bewahrt. In Folge deſſen ſtrömt die Luft
von erſterem ſeewärts und trägt das Aroma, das Blumen und
Blüthen mit Eintritt der Abendkühle ausſtrömen, viele Meilen
weit mit ſich hinaus.


Am andern Morgen mit Tagesanbruch liefen wir in die
Sundaſtraße ein. Wir hatten für damalige Zeiten eine ziemlich
ſchnelle Reiſe gehabt, 105 Tage von Helvetsluys, aber ſeit
100 Tagen ſahen wir zum erſten Male wieder Land. Mit
welcher Freude begrüßte ich den ſo lang entbehrten Anblick und
weidete meine Augen an dem prachtvollen Grün der Waldungen.
In ungeahnter Fülle und Ueppigkeit bedeckten ſie das ſchöne
Java, an deſſen Küſte wir auf kaum tauſend Schritt Entfernung
hinſegelten, während zur Linken die mächtigen Bergkegel der
Inſel Cracatoa und Sumatras ſich in die Lüfte erhoben und in
jenem bläulichen Dufte ſchwammen, der den ſüdlichen Gegenden
eigenthümlich iſt. Aber die ganze wunderbare Schönheit einer
tropiſchen Landſchaft enthüllte ſich meinem trunkenen Blicke erſt,
[110]Werner
als wir am andern Tage auf der Rhede von Anjer, einem
kleinen malayiſchen Städtchen der Javaniſchen Provinz Bantam
ankerten. Wir blieben zwar nur wenige Stunden, lediglich zu
dem Zwecke, Erfriſchungen zu kaufen und kamen deshalb
nicht an das Land, waren jedoch ſo nahe dem Ufer, daß wir
mit bloßem Auge alles unterſcheiden konnten. Die Hütten der
Eingeborenen lagen maleriſch in dem dichten Grün am Abhange
eines Hügels zerſtreut, deſſen Rücken Anpflanzungen von Kokos-
palmen krönten. Unten am Strande auf einem freien Platze
erhob ſich ein gewaltiger Baum von ſo gigantiſchen Dimenſionen,
als ſei er dort hingeſtellt, um Zeugniß zu geben von der un-
erſchöpflichen Kraft und dem Reichthum des Bodens. Weiter-
hin wiegten ſich die Blätter der Bananen im lauen Winde und
ihr helles Grün zeichnete deutlich die Conturen gegen den dunk-
len Hintergrund ab. Ich war wie bezaubert von der ebenſo
ſchönen wie lieblichen Scenerie, deren Fremdartigkeit den Reiz
noch erhöhte, doch dann wurde meine Aufmerkſamkeit durch
Näherliegendes in Anſpruch genommen. Sechs bis acht ma-
layiſche Boote kamen herangerudert bis an den Rand mit Er-
zeugniſſen der Tropenzone, mit Früchten und Thieren der ver-
ſchiedenſten Art gefüllt, und ich wußte nicht, wohin ich das Auge
zuerſt wenden ſollte. Hier waren es die mächtigen Dolden
goldiger Bananen, dort Ananas, Mangoſtin, Pampelmus, die
meine Aufmerkſamkeit feſſelten und das Verlangen nach ihrem
Beſitze wachriefen, während anderwärts Hunderte von kleinen
Vögeln, bunte javaniſche Sperlinge in Käfigen zwitſcherten,
Papageien ihr glänzendes Gefieder zeigten, blendend weiße Kaka-
dus ihren hochrothen Kamm aufſetzten, wenn die in ihrer
Nähe befindlichen Affen verſuchten, ihnen das Gefieder zu zer-
zauſen. Unten im Boote lagen große Schildkröten, daneben
wurden allerliebſte Zwerghirſche von der Größe eines Lammes
feilgeboten und auch an mordgierigen Tigerkatzen und anderem
Raubzeuge fehlte es nicht. Dazwiſchen ſah man Korallen und
[111]Eine erſte Seereiſe
Muſcheln in den verſchiedenartigſten Formen und Farben auf-
geſtapelt und die braunen Geſtalten der Malayen prieſen in
einem Gemiſch aller möglichen Sprachbrocken ihre Waare
an. Anjer iſt ein Halteplatz für faſt alle Schiffe, welche ein-
oder ausgehend die Sundaſtraße paſſiren und deshalb hat ſich
hier ein ſo lebhafter Markt herausgebildet, bei dem die Ver-
käufer glänzende Geſchäfte machen, weil der ſorgloſe Seemann
nicht nur alles mögliche kauft, ſo lange er einen Pfennig in der
Taſche hat, ſondern auch nicht um den Preis feilſcht. Oft
kommt es vor, daß auf größeren Schiffen, die heimwärts gehen,
für Hunderte von Thalern allein an Thieren gekauft wird und
es dann dort in der erſten Zeit wie in einer großen Menagerie
ausſieht. So ſtörend dies in mancher Beziehung für den Dienſt
iſt, läßt man doch den Leuten darin ziemlich viel Freiheit, denn
die Sache dauert nicht lange. Ungunſt der Witterung, Mangel
an der richtigen Nahrung und Pflege räumen ſehr bald auf,
und nicht der zwanzigſte Theil der mitgenommenen Thiere wird
wirklich bis zur Heimath gebracht. In der Ausſicht, auf der
Rückreiſe den Ort wieder anzulaufen, begnügten wir uns mit
dem bewundernden Anſchauen der lebenden und todten Selten-
heiten und verwendeten das uns verabfolgte Geld nur zum Ein-
kauf von Früchten, um darin nach Herzensluſt zu ſchwelgen.
Vier bis fünf Dutzend Hühner wurden vom Kapitän acquirirt,
um nach faſt viermonatlicher Seekoſt der Mannſchaft den Ge-
nuß von friſchem Fleiſch zu gewähren und die Spuren des
Scorbuts zu beſeitigen, die ſich, wenn auch noch in leichter
Form, bei einigen von uns in aufgelockertem, leicht blutendem
Zahnfleiſch zu zeigen begannen.


Dann wurde Anker gelichtet und mit der leichten Land-
brieſe, die Abends wieder den Duft von Millionen Blüthen
vom Lande zu uns herüber trug, ſteuerten wir weiter unſerm
Ziele, der Rhede von Batavia zu. Am andern Morgen paſſir-
ten wir eine Menge kleiner Inſeln, welche die öſtliche Hälfte der
[112]Werner
Sundaſtraße und weiterhin die Java-See kennzeichnen. Viele
Hunderte von ihnen ſchwimmen wie lichtgrüne mit einem Silber-
reif eingefaßte Perlen auf dem tiefblauen Waſſer. Ein ſchmaler
Sandſtrand umſäumt ſie und die vom milden Windhauch be-
wegten Wellen rauſchen leiſe und ſchaumglänzend zu ihm hin-
auf. Ein idylliſcher Friede ruht über ihnen, doch wie paradie-
ſiſch ſchön ſie auch von außen erſcheinen, iſt faſt keine von ihnen
bewohnt, weil ihnen noch die Bedingungen für die menſchliche
Exiſtenz fehlen. Einſt, vor Jahrtauſenden, nahm hohes Feſtland
ihre Stelle ein; dann ſank es unmerklich tiefer und tiefer, bis
die Fluten des Meeres es bedeckten und es für immer in
ihrem Schooße begruben. Aber jene kleinen Inſeln ſind die
Wahrzeichen ſeines ehemaligen Daſeins; in geheimnißvoller und
geräuſchloſer Weiſe ſind ſie auf den Spitzen der verſunkenen
Berge aufgebaut und ununterbrochen arbeiten Milliarden winziger
Arbeiter weiter an ihnen, um auf das Geheiß des Schöpfers
Continente zu ſchaffen und der Menſchheit neue Wohnſtätten an
Stelle der verſchwundenen zu bereiten.


Jene wunderbaren Baumeiſter ſind die Korallenthiere, deren
hervorragendſte Typen die Actinien oder See-Anemonen bilden.
Ihre Structur und mannigfaltige lebhafte Färbung verleiht ihnen
das Ausſehen lebendiger Blumen, und ſie feſſeln in den Aquarien
vorzugsweiſe durch ihre Schönheit die Aufmerkſamkeit und das
Intereſſe des Beſchauers. Ein transparenter Schlauch, mit
deſſen unterer Fläche ſie ſich an den Meeresboden heften, bildet
ihre äußere Körperhülle und in ihm iſt ſtrahlenförmig durch
Scheidewände ein zweiter unten offner Schlauch, der Magen,
befeſtigt, deſſen oberes Ende den mit einem dichten Büſchel
ſeiner Saug- und Fühlfäden beſetzten Mund trägt. Bei den
ungeſtörten Thieren ſind dieſe Fäden in unaufhörlicher Be-
wegung, um aus dem umgebenden Seewaſſer ſowol die nöthige
Nahrung aufzunehmen, als auch aus ihm kohlenſauren Kalk
abzuſcheiden, denſelben Atom für Atom von ihrem Körper wieder
[113]Eine erſte Seereiſe
abzuſetzen und daraus jene Gerüſte zu bilden, deren unendlich
vielfache und ſchöne Formen wir als Korallen bewundern.


Licht und Wärme ſind die Lebensbedingungen der bauenden
Korallenthiere; deshalb finden wir ſie nur innerhalb der Tropen
an ihrer nie endenden Arbeit und nicht tiefer als 200 Fuß unter
dem Meeresſpiegel. In wie großartiger Weiſe ſie aber dort eine
Rolle im Haushalt der Schöpfung ſpielen, dafür mögen die That-
ſachen ſprechen, daß es an der Weſtküſte von Neucaledonien ein
Korallenriff von über vierzig Meilen und an der Nordoſtküſte
von Auſtralien ein ſolches von über dreihundert Meilen Länge
giebt. Faſt alle die prachtvollen Inſeln des Stillen Meeres
und ein großer Theil derer im Indiſchen Ocean innerhalb der
Tropen ſind Producte der Korallen.


Dieſe Bildungen treten in verſchiedenen Formen auf, die
charakteriſtiſche iſt jedoch der Atoll oder die Lagunen Inſel. Die
Korallenthiere ſetzen ſich an die Seiten eines ſich ſenkenden
Bergkegels und bauen mit nie irrendem Inſtinkt aufwärts,
wohin die belebenden und erwärmenden Strahlen der Sonne ſie
locken, bis ſie als ringförmiges Riff die Oberfläche des Meeres
erreichen, die ihrer Arbeit eine Grenze ſetzt. Die brandenden
Wogen zerbrechen theilweiſe an der Außenſeite das ſpröde Ge-
äſt und werfen die Trümmer nach innen; im Laufe der Jahr-
hunderte füllt ſich allmälig die eingeſchloſſene Lagune, das Riff
wird erhöht, die Verwitterung der Bruchſtücke ſchafft fruchtbaren
Boden, Wind und Strömung tragen Samen herbei und die
neugeſchaffene Inſel deckt ſich mit Pflanzen- und Baumwuchs.


Zuerſt ſind es freilich nur Mangroven und anderes Ge-
ſträuch, welche Wurzel faſſen in dem noch von Seewaſſer durch-
feuchteten Grunde; doch ihr abſterbendes Laub ſchichtet mit-
helfend den Humus, der der anſchwemmenden Kokosnuß geſtattet,
zu keimen, als ſchlanke Palme ihre Blätterkrone hoch in die
Lüfte zu erheben und als fruchttragender Baum dem Menſchen
zu künden, daß wiedererſtandenes Land ſich zur Cultur bereitet.
R. Werner, Erinnerungen. 8
[114]Werner
Die Inſeln der Javaniſchen Gewäſſer ſind, wie bemerkt, meiſtens
noch nicht ſo weit vorgeſchritten und nur auf wenigen größeren
überragt die Kokospalme das Unterholz, deſſen wirres Durch-
einander von Luftwurzeln in den bracken Gewäſſern der noch
nicht ganz aufgefüllten Lagune Nahrung ſucht und findet. Für
den Menſchen können ſie deshalb noch nicht als dauernde Heim-
ſtätte dienen, und nur hier und dort hat ein Malaye an ihren Ufern
eine zerbrechliche Hütte aufgeſchlagen, um darin ſeine Sieſta zu
halten, wenn die glühenden Strahlen der Sonne ihn von dem
ergiebigen Fiſchgrunde vertreiben, den er in der Nähe entdeckt hat.


Die Fahrt zwiſchen dieſen Inſeln, in deren Namen ſämmt-
liche Städte Hollands vertreten ſind, bei dem ruhigen Waſſer
und der linden Brieſe war reizend, die vielen malayiſchen Han-
dels- und Fiſcher-Praue, Boote von zierlichem, feinem Schnitt
mit ſchön gebogenen Voluten an ihren beiden Enden und dem
mächtigen Baſtſegel an ſchlanken Bambus-Maſten und Raaen,
bildeten eine belebende Staffage des friedlichen Bildes. Am
andern Mittage erreichten wir mit der Seebrieſe die Rhede von
Batavia, aber ſie entſprach nicht meinen Erwartungen, die durch
das bisher Geſehene ſich noch geſteigert hatten. Man liegt faſt
eine Stunde weit von der Stadt, ſieht nichts von ihr und ſelbſt
ihre landſchaftliche Umgebung bietet wenig Schönes. Eine große
gleichmäßig mit Baumwuchs beſtandene Ebene, nach Süden zu
leiſe aufſteigend, breitet ſich vor dem Blicke aus und wird nur
in weiter Ferne durch die Spitzen der Vulkane im Innern der
Inſel überhöht, aus deren Krater man bei blauem Himmel
ſchwache Rauchwolken aufwirbeln ſieht, ein Zeichen, daß ihr unter-
irdiſches Feuer noch nicht erloſchen iſt und jeden Augenblick mit
vernichtender Gewalt wieder hervorbrechen kann.


Wir fanden eine ziemliche Anzahl Schiffe vor, meiſtens
natürlich Holländer, doch auch einige Deutſche, in deren Nähe
wir ankerten. Auch chineſiſche Dſchunken, jene ungeheuerlichen
Fahrzeuge, die ſeit Jahrtauſenden ihre Form behalten haben
[115]Eine erſte Seereiſe
und an denen die Fortſchritte der Zeit wie an dem Reiche der
Mitte ſelbſt, ſpurlos vorübergegangen ſind, waren da. Vorn
und hinten thürmen ſich auf ihnen hohe Kaſtelle; an ihren
Pfahlmaſten hängen ſchwerfällige Mattenſegel, nach Art unſerer
hölzernen Jalouſien conſtruirt, und ihre ganze Erſcheinung macht
den Eindruck der größten Ungeſchicklichkeit und Unbeholfenheit,
der nirgends durch gefällige Linien, wie man ſie bei den Fahr-
zeugen aller übrigen Nationen trifft, gemildert wird. Das
Segeln am Winde und Laviren, welches unſere Altvorderen,
die Sachſen, bereits vor mehr als anderthalb Tauſend Jahren
erfanden, iſt ihnen noch heute eine unverſtandene Kunſt; ſie ver-
mögen deshalb nur mit günſtigem Winde zu ſegeln und können
trotz der geringen Entfernung zwiſchen China und Java jährlich
nicht mehr als eine Reiſe machen. Es wehen auf dieſer Strecke
halbjährliche Winde, die Monſune, mit entgegengeſetzten Rich-
tungen; mit dem Oſt-Monſun kommen ſie ſüdwärts, und kehren
nach vier- bis fünfmonatlichem Stillliegen mit dem Weſtwinde
in ihre Heimath zurück. Von aſtronomiſchen Ortsbeſtimmungen
haben ſie kein Verſtändniß; wie die alten Phönicier nur längs
der Küſte ſegelnd, ſuchen ſie von Vorgebirge zu Vorgebirge ihren
Weg und glauben ihn ohne die beiden großen am Bug jeder
Dſchunke gemalten Augen, die den plumpen Fahrzeugen ein noch
groteskeres Ausſehen verleihen, nicht finden zu können. Von
Schiffahrts-Inſtrumenten beſitzen ſie nur den Compaß. Es iſt
hiſtoriſch nachgewieſen, daß die Chineſen ihn bereits 500 Jahre
früher erfunden hatten, als er in Europa in Gebrauch kam, aber
er iſt noch eben ſo primitiv wie damals und hat es nicht vermocht,
ihre Navigation zu Verbeſſerungen anzuſpornen, obwohl China
ſo viel Fahrzeuge zählt, wie faſt die ganze übrige Welt zu-
ſammen genommen. Es iſt deshalb nicht zu verwundern, wenn
wir bei einem plötzlich ausbrechenden Sturme an der chineſiſchen
Küſte von Unglücksfällen hören, die uns kaum begreiflich ſind
und daß an einem Tage bisweilen 6—800 Dſchunken mit
8*
[116]Werner
10—12000 Menſchen und mehr Beſatzung von den Wellen
begraben werden.


Bald nach dem Ankern ging der Kapitän ans Land und
ich wurde mit in die Gig geſchickt. Wir ſegelten mit der
friſchen Seebrieſe hinein und gelangten ziemlich ſchnell bis an
den ſchmalen Kanal, der die Rhede mit der Stadt verbindet
und durch niedriges ſumpfiges Land führt. Hier mußte wegen
Windſtille zu den Rudern gegriffen werden, und da wir faſt
noch eine halbe Stunde gebrauchten, ehe wir den Anlegeplatz
erreichten, kamen wir bei der ſengenden Sonnengluth in Schweiß
gebadet an. Die Landungsſtelle war nicht ſehr einladend; eine
Menge Boote mit ſchreienden und geſticulirenden Malayen,
Chineſen und Laskaren lag dicht zuſammengedrängt dort, ſo
daß wir nur mit Mühe uns einen Weg zu bahnen vermochten;
daneben wühlten ein paar Dutzend Kambaun, javaniſche Ochſen,
in dem ſchlammigen Waſſer, um ſich gegen Fliegen zu ſchützen,
ſo daß nur ihr ungeſchlachter Kopf herausſah, und zwiſchen
ihnen badeten eben ſo viel Malayen jeden Alters und Ge-
ſchlechtes. Die nächſte Umgebung bildeten große todtblickende
Speicher, der Beginn der ohne alle architektoniſche Schönheit
nur nach dem Nützlichkeitsprincip gebauten Stadt, und ihnen
gegenüber erhob ſich der niedrige Erdwall einer Befeſtigung,
der ſtatt der Palliſaden durch eine allerdings eben ſo wirkſame
lebendige und ſechs Fuß dicke Hecke von Cactus geſchützt wurde.
Ueber dieſem wenig erquicklichen Bilde zitterte der Broden er-
hitzter Luft wie über einem Glühofen, und ein widerlich pene-
tranter Geruch von verweſenden Körpern beleidigte die Naſe.
Der Kapitän beſtieg einen der am Platze haltenden und mit
feurigen Ponies beſpannten Miethwagen, um nach Welltefreden,
der Villenvorſtadt, zu fahren, wo die Europäer in reinerer Luft
und reizvollerer Umgebung wohnen, während in Batavia ſelbſt
ſich nur die Geſchäfts- und Waarenhäuſer befinden. Unſere
neidenden Blicke flogen ihm nach, dann aber führten wir den
[117]Eine erſte Seereiſe
erhaltenen Befehl aus, uns wieder an Bord zu begeben, und die
folgende Stunde angeſtrengten Ruderns vermochte nicht meine
Stimmung zu verbeſſern.


Wo waren die Träume geblieben, denen ich mich früher
hingegeben, wenn meine Phantaſie mir die Schönheiten der
Tropenländer ausmalte, in deren Genuß ich zu ſchwelgen hoffte,
indem ich Seemann wurde? — Zerſtoben, verweht, wie ſchon ſo
viele andere in den letzten fünf Monaten! Der Kauffahrtei-
ſeemann, mit Ausnahme des Kapitäns, ſieht wenig oder nichts
von den meiſten fremden Ländern; die viele Arbeit, welche grade
in den Häfen ſich häuft und ſeine ganzen Kräfte in Anſpruch
nimmt, ſo daß er Abends erſchöpft nur Ruhe ſucht, die wenigen
Stunden Urlaub, die er höchſtens Sonntags einmal erhält, und
andere Umſtände ſind ebenſo viele Hinderniſſe für ihn, und für
mich gab es keine Ausnahme. Alle Romantik war dahin; wir
trafen an einem Sonntage ein und es lagen zunächſt vierzehn
Tage ſchwerer Arbeit des Löſchens und Ladens vor mir. Es
wird bei größerer Entfernung vom Land nur immer eine Hälfte
der Mannſchaft auf einmal beurlaubt; nach altem Herkommen
hat Steuerbord-Wache, die vom Oberſteuermann commandirt
wird, bei ſolchen Anläſſen den Vorzug und ich gehörte zur
Backbordwache.


Das Bootsrudern hörte glücklicher Weiſe auf. Europäer
erkranken zu leicht dadurch und es werden deshalb für die Dauer
des Aufenthaltes malayiſche Ruderer angenommen, mit denen
der am Lande wohnende Kapitän täglich an Bord kommt, um
Anordnungen zu treffen. Die materiellen Genüſſe, welche ſich
uns boten, beſchränkten ſich auf die ſchönen Südfrüchte, an denen
ich mich allerdings hoch erquickte, die geiſtigen auf Austauſch
von abendlichen Beſuchen bei unſern Landsleuten auf den deut-
ſchen Schiffen. Eine große Freude, die allerdings für mich viel
Trübes aufwog, bereitete die unerwartete Ankunft von Briefen
aus der Heimath. Die Nachrichten waren zwar ſchon Monate
[118]Werner
alt, denn damals gebrauchte die Ueberlandpoſt noch acht Wochen
bis Java, während jetzt kaum mehr als die Hälfte Zeit dazu
erforderlich iſt, aber ſie lauteten erfreulich und wurden von mir
Vereinſamten mit Jubel begrüßt. Wie manche abendliche Stunde
verging mir trotz der Ermüdung von des Tages Laſt und Hitze
in angenehmſter Befriedigung, wenn ich vor meiner Kiſte knieend
bei dem Stümpfchen eines mir vom Steuermanne geſchenkten
Lichtes an der Beantwortung der Briefe ſchrieb und dieſe, Bogen
an Bogen reihend, ſich faſt zu einem Buche geſtaltete. Ich hatte
ſo viel zu ſagen und zu erzählen, was die Lieben daheim inter-
eſſirte — freilich wie es auf dem Grunde meines Herzens aus-
ſah, mit welcher Sehnſucht und Reue meine Gedanken hinflogen
zu ihnen, das verſchloß ich nach wie vor ſorgſam in meinem
Innern und ſie ſollten es mit meinem Willen nie erfahren.


Eine ſehr unangenehme Zugabe für uns war in der erſten
Zeit das Verbot des Trinkens von rohem Waſſer aus Geſund-
heitsrückſichten; es durfte nur Theewaſſer genoſſen werden.
Jeden Morgen wurden einige Eimer gekocht, aber bei der Hitze
kühlte der Thee nur ſehr langſam ab und ſo hatten wir zum
Löſchen des brennenden Durſtes nur warmes Waſſer. Merk-
würdiger Weiſe gewöhnte man ſich jedoch ſehr bald daran und
trank es ſchließlich gern. Im übrigen war unſere Verpflegung
ſehr gut. Es gab täglich friſchen Proviant, abwechſelnd Hühner,
Schildkröte- und Hammelfleiſch, dazu ſüße Kartoffeln und Yams.
Morgens kam ein chineſiſcher Händler mit Eiern und Früchten
zu mäßigen Preiſen an Bord, von welchen letzteren für mich in
Butter gebratene Bananen damals und ſeitdem den größten
Leckerbiſſen bildeten, und wir hatten nach dieſer Richtung nicht
zu klagen. Die Witterung war während der ganzen Zeit am
Tage ſchön, jedoch faſt jede Nacht hatten wir Gewitter, die ge-
wöhnlich gegen Mitternacht begannen, zwei bis drei Stunden
anhielten und ſich oft mit furchtbarer Wuth entluden.


Unten im Logis konnte man vor Hitze, namentlich aber
[119]Eine erſte Seereiſe
vor Wanzen kein Auge ſchließen. Letztere ſind auf älteren Kauf-
fahrteiſchiffen eine häufige Plage und es giebt kein Mittel, um
ſie mit Erfolg zu vertreiben. Da flüchteten wir dann auf das
Deck und ſchliefen in ſelbſt gefertigten Hängematten, zu denen
der Kapitän uns altes Segeltuch verabfolgen ließ, vorn auf
der Back unter dem Sonnenſegel. So lange es von oben
trocken war, ging es, aber wenn die Gewitterregen losbrachen,
bot das Sonnenſegel gegen ihre Gewalt wenig Schutz. Wir
zogen zwar noch ein Tau über unſere Hängematten und hingen
eine wollene Decke zeltartig darüber, aber auch ſie half nicht
immer und wir wurden bisweilen trotzdem gründlich durchnäßt,
was wir indeſſen den Wanzen bedeutend vorzogen.


Eines Abends ſtanden wir, von der Arbeit todtmüde,
im Begriff, in unſere luftige Schlafſtätte zu klettern, als wieder
eine heftige Gewitterbö einfiel. Es war eine ganze Menge
Wind dabei und obwol er über Land kam, wühlte er doch
rauhe See auf, ſo daß das Schiff ziemlich heftig vor ſeinem
Anker ſtampfte. Unſer Großboot war ausgeſetzt und hinter dem
Schiffe befeſtigt, wie dies auf Handelsſchiffen üblich iſt, wenn
ſie laden oder löſchen, um die zum Laderaum führende große
Luke freizumachen, auf der in See das Boot ſonſt ſteht. Durch
die heftigen Stöße, mit denen letzteres in die kurze See ruckte,
brach die Fangleine und das Boot trieb ſeewärts. Der wach-
habende Matroſe meldete den Verluſt dem Steuermann und
dieſer befahl, eins der Seitenboote, die Schaluppe, zu Waſſer zu
laſſen und zu bemannen, um den Flüchtling wieder einzufangen.
Bei der beſchränkten Bemannungszahl eines gewöhnlichen Handels-
ſchiffes können die Boote natürlich nicht wie auf Kriegsſchiffen
eine beſonders abgetheilte Beſatzung haben, aber es iſt Gebrauch,
daß bei ſolchen Gelegenheiten ohne beſonderen Befehl die Jünge-
ren ſtets voran ſind, und ſomit ſprang auch ich mit drei anderen
Leichtmatroſen und dem Unterſteuermann in die Schaluppe. Letzte-
rer ging an das Steuer, während wir vier anderen rudern ſollten.


[120]Werner

Kaum war das Boot jedoch zu Waſſer, als dieſes von
allen Seiten in das Fahrzeug eindrang. Durch langes Hängen
an den Davids (Krähnen) in der brennenden Sonne waren die
Planken ganz zuſammengetrocknet und die Näthe klafften. Auf
Grund der vielen ſonſtigen und drängenden Arbeiten an Bord
hatte man verſäumt, wie es ſich ſonſt gehört, in die hängenden
Boote ſo viel Waſſer zu gießen, daß ihr Boden bedeckt und
gegen Auftrocknen geſchützt wurde. In der Hoffnung, daß die
Näthe ſich im Waſſer bald wieder zuſammenziehen würden,
ließen wir uns in aller Eile noch ein paar Eimer zum Aus-
ſchöpfen heruntergeben, ohne uns weitere Sorge zu machen und
ſtießen vom Schiffe ab. Trotz anhaltenden Schöpfens durch
zwei von uns füllte ſich aber das Boot zuſehends, und wir
hatten uns noch keine hundert Schritte von der „Alma“ entfernt,
als das Waſſer faſt bis unter die Sitzbänke geſtiegen war und
wir bei dem Seegange kaum noch die Ruder gebrauchen konnten.


Wir befanden uns in einer höchſt kritiſchen Lage. Unter
ſolchen Umſtänden war es unmöglich, gegen Wind und See das
Schiff wieder zu erreichen und wir trieben mit dem allmälig
tiefer ſinkenden Boote bei ſtockfinſterer Nacht, ſcharfem Winde
und ſtrömendem Regen in die offene See hinaus. Um unſere
Situation noch ſchauriger zu machen, ſahen wir, wie neben dem
Boote ſich im Waſſer zwei feurige Streifen bewegten — es war
das Kielwaſſer von zwei Haien, das in unheimlich grünlichem
Lichte ſchimmerte. Von dieſen ſchrecklichen Räubern der Tiefe
wimmelt es auf der Rhede von Batavia und ſie mochten wol
Beute wittern.


Es galt die Schaluppe unter allen Umſtänden flott zu halten.
Sank ſie noch einige Zoll tiefer, ſo waren wir gänzlich hilflos.
Die See ſpülte dann hinein und wir gingen unter allen Um-
ſtänden verloren, ſei es, um unſern Tod in den Fluthen oder
im Rachen der Haie zu finden. Wir gaben deshalb das Rudern
auf, ließen uns treiben und ſchöpften ſämmtlich mit Eimern,
[121]Eine erſte Seereiſe
Südweſtern und Händen unter Aufbietung aller Kräfte. Unſere
Anſtrengungen wurden glücklicher Weiſe mit Erfolg gekrönt.
Das Waſſer minderte ſich nach und nach, die Planken hatten ſich
auch wol etwas zuſammengezogen, und nach einer Viertelſtunde
war erſteres ſoweit bewältigt, daß fernerhin zwei von uns ge-
nügten, um das Boot flott zu halten. Wir waren inzwiſchen
ſo weit getrieben, daß wir die Laterne, welche man auf dem
Schiffe für uns als Erkennungszeichen ausgehängt, aus Sicht
verloren. Die Bö hatte nicht nachgelaſſen; die Blitze flammten
ohne Unterlaß, der Donner rollte und krachte betäubend und
der Wind wehte ſo ſtürmiſch, daß unſer Boot vor ihm und der
See ohne Segel und Maſten förmlich dahinflog — wohin?
das wußte Niemand. Wir hatten keinen Compaß; durch die
ſchwarze Decke des Himmels brach kein Stern, um uns die
Richtung anzugeben, wir irrten umher auf dem pfadloſen Meere
und konnten nur muthmaßen, daß wir gegen Sumatra hin ver-
ſchlagen wurden. Aber wie ſchnell auch das Boot die branden-
den Wellen durchſchnitt und durch die Nacht dahinſauſte — die
Haie hielten mit uns Schritt. Bald liefen ſie neben einander,
bald umkreiſten ſie getrennt in nächſter Nähe das Boot, als
wollten ſie uns andeuten: „Ihr ſeid uns doch verfallen“. Der
Sturm wuchs, anſtatt, wie wir gehofft, nachzulaſſen. Wir waren
in unſerem gebrechlichen, lecken Fahrzeuge machtlos gegen ihn.
Alles, was wir vermochten, war, letzteres recht vor dem Winde
zu halten, um es nicht quer zur See kommen zu laſſen und
dann durch die erſte Sturzſee gekentert zu werden. Trotzdem
lief die See dann und wann an den Seiten über und wir Alle
mußten ſchöpfen, um flott zu bleiben. Doch, was half das?
Wenn der Wind ſich nicht mäßigte, hatten wir nur noch eine
kurze Spanne Zeit zum Leben. Die fünf Meilen bis zur Küſte
von Sumatra waren in wenigen Stunden zurückgelegt und
unſerer harrte dann das Geſchick, an den die Inſel umſäumen-
den Klippen zerſchellt zu werden.


[122]Werner

In dumpfem Schweigen ſtarrten wir in die ſchwarze Nacht
hinaus und erwarteten die nächſte Zukunft. Am ganzen Hori-
zonte wetterleuchtete es ununterbrochen; dazwiſchen fuhren zackige
Blitze blendend und grell hernieder; faſt unaufhörlich rollte der
Donner und ſeine Schläge ertönten immer lauter und näher.
Die Köpfe der überbrechenden Wellen rauſchten hohl, ſie ſchim-
merten phosphorescirend, wälzten ſich aufthürmend neben unſerem
Boote her, bereit, uns jeden Augenblick zu verſchlingen, und
mitten in dieſem Aufruhr der Natur wurde unſer ſchwankes
Boot auf der düſteren, mitleidsloſen Waſſerfläche wie ein Ball
von Woge zu Woge dahin gepeitſcht.


Da ſchien ſich die ganze Maſſe der in der Atmoſphäre
angehäuften Elektricität auf einmal entladen zu wollen. Das
Firmament verwandelte ſich plötzlich in ein Flammenmeer und
es war einen Augenblick tageshell. Unmittelbar danach erfolgte
ein ſo furchtbarer Donnerſchlag, daß er uns vollſtändig betäubte.
Das Boot wurde ſo gewaltig erſchüttert, daß wir im erſten
Momente glaubten, es ſei vom Blitze getroffen und zerſchmettert.
Aber jene kurze Tageshelle hatte hingereicht, um unſere ganze
ſchreckliche Lage mit einem Schlage zu ändern. Das verlorene
Großboot war ganz in unſerer Nähe, rechts voraus; wir alle
hatten es geſehen und eine Täuſchung war ausgeſchloſſen. Eben-
ſo hatten wir auch Inſeln vor uns erblickt; das konnten nur
die Inſeln der Sundaſtraße ſein, die wenige Meilen von der
Rhede von Batavia entfernt liegen.


Wir trieben alſo nicht nordweſtlich nach Sumatra, ſondern
weſtlich und der Wind mußte ſich etwas gedreht haben. Dieſe
Wahrnehmung gab uns unſere ganze Energie zurück. Wenn
wir das Großboot erreichten, ſo hatten wir ein feſtes nicht
leckendes und der See gewachſenes Fahrzeug unter den Füßen
und die Hoffnung, es ſo zu dirigiren, daß es von den kleinen
Inſeln frei ging, hinter denen wir Schutz gegen Wind und See
fanden. Aber ſelbſt wenn uns dies nicht gelang, ſo lagen vor
[123]Eine erſte Seereiſe
den Inſeln keine Klippen; die See hätte das Boot direct
gegen den Sandſtrand geworfen und wir konnten uns retten.
Sobald unſere Augen ſich von der Blendung des furchtbaren
Blitzes etwas erholt, richteten ſie ſich ſuchend nach vorn, und
nach kurzer Zeit hatten wir auch das Boot gefunden. Da es
weniger Windfang, als unſere mit fünf Menſchen gefüllte Scha-
luppe beſaß und deshalb langſamer trieb, erreichten wir es bald.
Der Steuermann ſteuerte geſchickt längſeit deſſelben; ich ſprang
mit der Fangleine hinein, belegte ſie um eine Bootsducht, und
ſo waren wir geborgen.


Alles, was ſich loſe in der Schaluppe befand, wurde hinüber
gegeben. Der Leichtmatroſe, welcher die Sachen zugereicht, wollte
eben, als Letzter, die neben dem Großboot liegende Schaluppe ver-
laſſen und hatte ſchon einen Fuß in erſteres geſetzt, als plötzlich
eine ſchwere See heranrollte, ſich zwiſchen die Vordertheile beider
Boote drängte und dieſe um 4—5 Fuß, ſo weit die Fangleine
geſtattete, auseinander riß. Dadurch verlor der Mann das
Gleichgewicht und ſtürzte zwiſchen den Booten in’s Waſſer.
Wir alle ſprangen ſofort hinzu, um dem Verunglückten Boots-
haken und Riemen hinzureichen, doch er ergriff ſie nicht.


Ein markdurchdringender Schrei erfüllte die Luft und ließ
uns faſt das Blut in den Adern gerinnen. Die Haie waren
dem Boote nicht umſonſt gefolgt — dort unten zogen ſie wieder
ihre beiden mattleuchtenden Streifen, aber zwiſchen ihnen zeigte
ſich noch ein dritter; es war unſer armer Kamerad, der zer-
fleiſcht in die Tiefe ſank!


Als ob mit dieſem traurigen Opfer unſer Leben erkauft
wäre, ließ das furchtbare Wetter nach. Noch immer zwar
zuckten die Blitze und rollte der Donner, allein das Gewitter
verzog ſich in die Ferne, die ſchwarze Wolkendecke zerriß, der
ſtrömende Regen hörte auf, es wurde etwas heller und der Wind
ſchwächer. Ganz nahe vor uns erblickten wir jetzt eine Inſel,
welche die auf den Strand rollende Brandung mit einem glühen-
[124]Werner
den Kranze umſäumte. Es gelang uns, dieſelbe ganz nahe zu
umſteuern, hinter ihr in dem ſtillen Waſſer mit den Booten das
Ufer zu erreichen und ſie mit den Fangleinen an einem Baume
zu befeſtigen. Wir waren gerettet und hatten die Hoffnung,
am anderen Morgen mit der Seebrieſe an Bord unſeres Schiffes
zurückkehren zu können.


So lange wir uns im Boote und in ſo großer geiſtiger
Aufregung befanden, merkten wir nichts von körperlicher Er-
mattung, nun aber begann ſie ſich fühlbar zu machen. Uns
quälte Durſt, aber wo war Waſſer zu finden? Auf keiner
dieſer kleinen Inſeln giebt es Trinkwaſſer. Wahrſcheinlich hatten
ſich irgendwo im Innern nach dem ſchweren Regen Pfützen ge-
bildet, doch mit Ausnahme des ſchmalen Küſtenrandes, war die
Inſel mit ſo dichtem Gebüſch bedeckt, daß wir bei der Dunkel-
heit unmöglich hineindringen konnten und uns auf den andern
Morgen vertröſten mußten. Wir ſtreckten uns in unſeren naſſen
Kleidern auf dem naſſen Boden aus und verſuchten zu ſchlafen.
Mich floh lange der Schlummer; ich mußte immer an den ver-
lorenen Kameraden denken, und wenn ein Windſtoß durch die
Bäume zu unſeren Häupten pfiff, dann ſchreckte ich auf und
glaubte wieder den gellenden Schrei des Armen zu hören.


Das war nun ſchon der zweite, der in der Zeit von
wenigen Monaten gewaltſam aus unſerer kleinen Schaar her-
ausgeriſſen wurde. Wen würde das nächſte Todesloos tref-
fen? Der Verunglückte hatte mir nicht nahe geſtanden, viel
weniger nahe, als Heinrich Peterſen, den die See vom Klüver-
baum nahm, aber ein Tod auf dem Meere iſt ſo ganz anders,
wie am Lande, ſo viel trauriger und ergreifender. Wenn Je-
mand am Lande ſtirbt, ſo iſt man immer mehr oder minder
darauf vorbereitet und wäre es ſelbſt nicht der Fall, ſo
ſind wenigſtens ſeine ſterblichen Reſte vorhanden; man folgt
ihm zu Grabe und der Denkſtein erinnert uns an ihn. Doch
auf See bei einem ſolchen Unglücksfalle fehlt alles das. Der
[125]Eine erſte Seereiſe
Betreffende iſt uns nahe — wir hören ſeine Stimme, wir
ſcherzen oder ſprechen mit ihm, und plötzlich iſt er von unſerer
Seite verſchwunden, ohne eine Spur zu hinterlaſſen. Jung,
kräftig und geſund ſteht er vor uns und im nächſten Augenblick
ruht er in dem weiten naſſen Grabe. Kein äußeres Zeichen
irgend welcher Art erinnert mehr an ihn — nur ſein leerer
Platz iſt ſein Grabſtein, und dieſe Leere, die er hinterläßt, hat
etwas ſo tief trauriges.


Mit Tagesanbruch wurden wir wach. Das Wetter zeigte
ſich wieder prachtvoll, der Himmel wolkenlos und das Meer
lag ruhig und ſpiegelglatt vor unſeren Blicken. Unſer Durſt
war brennend geworden und wir bahnten uns einen Weg durch
das Gebüſch, um Waſſer zu ſuchen. Es gelang; in einer Lich-
tung hatte ſich Waſſer in einem Tümpel geſammelt, aber ein
breiter Streifen Moraſt umgab ihn. Wir ſanken ſo tief ein,
daß keine Möglichkeit war, das Waſſer zu erreichen, und doch
mußten wir auf irgend eine Weiſe dazu gelangen. Sein Anblick
hatte uns erſt recht fühlbar gemacht, was wir litten; die Zunge
klebte am Gaumen und wir erduldeten Tantalusqualen.


Endlich kam uns der Gedanke, den Moraſt zu überbrücken.
Wir ſchnitten mit unſeren Meſſern Zweige, banden ſie zu
Faſchinen, warfen ſie in die weiche Maſſe und legten die Boots-
riemen und die loſen Ruderbänke ſowie die Ruder und Boden-
bretter der Boote darauf. Auf dieſe Weiſe gelang es uns, nach
ſtundenlanger mühſamer Arbeit, einzeln und auf dem Bauche
vorſichtig uns vorſchiebend, bis an das Waſſer zu kommen. Es
war lauwarm, bräunlich und von einer Haut überzogen, die
wir erſt abſtreifen mußten; aber mit welcher Gier wir trotzdem
die widrige Flüſſigkeit einſchlürften, mit der wir möglicher
Weiſe das tödtliche Klimafieber uns einimpften, vermag
nur der zu ermeſſen, der die Qualen des Durſtes ſelbſt em-
pfunden.


Die Inſel, auf der wir uns befanden, lag ungefähr drei
[126]Werner
Meilen von der Rhede entfernt; wir konnten eben die Maſt-
ſpitzen der dort ankernden Schiffe über dem Horizonte erblicken.
Gegen zehn Uhr Morgens ſchlief die ſchwache Landbrieſe ein,
dann kam Stille und brennende Sonnengluth, gegen die wir
im Gebüſch Schutz ſuchten. Mit unendlicher Mühe ſchöpften
wir noch aus dem flachen Tümpel mit den Händen einen Eimer
Waſſer, um auf der bevorſtehenden langen Rücktour nicht wie-
der Durſt zu leiden. Eßbares war auf der Inſel nicht vor-
handen außer einigen Schnecken und an den Strand geworfenen
Muſcheln; unſer Hunger war jedoch noch nicht groß genug, um
dieſe roh zu verſpeiſen. Die Seebrieſe ließ lange auf ſich warten;
erſt kurz vor Mittag trat ſie ein und wir machten uns auf den
Weg. Wir ruderten in der Schaluppe und hatten das Großboot
im Schlepptau. Wir kamen nur ſehr langſam vorwärts und
fühlten allmälig unſere Kräfte ſchwinden. Da die Brieſe kräftig
auffriſchte, verſuchten wir, Maſt und Segel zu improviſiren.
Die zu den Booten gehörige Betakelung war nicht darin; wie
ſo oft auf Kauffahrteiſchiffen war ſie aus falſcher Sparſamkeit
irgendwo im Schiffe verſtaut, anſtatt ſich ſtets in den Booten
zu befinden, wie auf Kriegsſchiffen. Einige zuſammengebundene
Bootsriemen mußten den Maſt, ein anderer die Raa abgeben,
die aufgerebbelte Fangleine lieferte das nöthige Bendſelwerk und
das Material zu dem Segel bildeten unſere Hemden, die wir
mit den Kabelgarnen der Fangleine an die Raa und zuſammen-
nähten, während wir mit nacktem Oberkörper im Boot ſaßen.
Es war eine wunderliche Takelage; da wir aber platt vor dem
Winde ſegelten, erfüllte ſie ihren Zweck. Gegen Abend, nach
faſt 24ſtündiger Abweſenheit, trafen wir von unſerer Irrfahrt
wieder an Bord ein.


Es war Feierabend und die Beſatzung ſtand am Fallreep,
um uns zu empfangen. Sie hatte ſchon von weitem geſehen,
daß einer fehlte und die Begrüßung war keine laute. Als ich
an Deck kam, drückte mir der Bootsmann ſtumm die Hand,
[127]Eine erſte Seereiſe
aber auch ohne daß er ſprach, las ich in ſeinen treuen Augen
die Freude, daß ich glücklich zurückgekommen. Ich ging mit ihm
nach vorn. „Die Andern dachten, Ihr wäret alle verloren“
ſagte er nach einer Weile. „Sie meinten, die Schaluppe
hätte in ſolcher See nicht leben können, aber ich glaubte nicht
daran, ich hätte Euch ſonſt wol heute Nacht im Traume ge-
ſehen — doch als Ihr hinter dem Heck vor der Holländiſchen
Bark vorkamt und nur mit Vieren im Boot waret, da wußte
ich auch, daß kein anderer als Jens Jenſſen fehlen konnte.“


„Denkſt Du noch daran, als Ihr beide in jener ſchreck-
lichen Gewitternacht bei der Linie die Bramſegel feſt machtet
und das Elmsfeuer erſt bei Dir im Großtop war und dann
zu Jens nach dem Vortop flog? Das war der Heinrich, denn
jene blauen Feuerkugeln zeigen ſich nur auf ſolchen Schiffen,
die durch Unglück einen Mann verloren haben. Es ſind die
Seelen der Abgeſtorbenen, die herumirren, weil ſie kein chriſt-
liches Begräbniß erhalten haben und deshalb nicht zur Ruhe
kommen können. Und als die Flamme ſich dann Jens auf die
Schulter ſetzte und ſein Geſicht ſo fahl beleuchtete, als hätte er
ſchon lange im Grabe gelegen, da war es uns allen, die wir
es ſahen, klar, daß Heinrich ihn rief und er zunächſt an die
Reihe kommen würde. Armer Jens! Seine Mutter wird’s
ſchwer überleben; er war der letzte von ihren vier Söhnen.
Zwei gingen mitſammt dem Vater auf dem kleinen Schuner
verloren, den dieſer als Kapitän fuhr. Das Fahrzeug ſoll im
Kanal übergeſegelt worden ſein und man hat nie wieder etwas
davon gehört. Der dritte kenterte mit dem Boote, als er
einem geſtrandeten Schiffe zu Hülfe kommen wollte und ertrank.
Nun auch noch den letzten zu verlieren, das iſt hart —
arme Mutter!“


Er wandte ſich ab von mir, lehnte ſich an die Verſchanzung
und blickte über Bord. Das that er immer, wenn er nicht weiter
ſprechen wollte und ich ließ ihn deshalb allein.


[128]Werner

Die übrigen Leute redeten auch nur wenig von dem Todten.
Es iſt das immer ſo an Bord, ohne daß Mangel an Gefühl
daran die Schuld trägt. Der gewöhnliche Seemann hat eine
gewiſſe Scheu vor ſolchen Geſprächen, die wol mit einer Art
Aberglauben zuſammenhängt. Wenige Tage darauf wurden wir
jedoch auf eine ſchreckliche Art an den Unglücksfall wieder er-
innert.


Ein Bremer Schiff kam auf die Rhede und ankerte in
unſerer unmittelbaren Nähe. Am Abend ging die ganze Be-
ſatzung über Bord, um ſich zu baden und ſchwamm luſtig um-
her. Andern Tages kamen die Leute zu uns zum Beſuch und
wir warnten ſie auf das Eindringlichſte vor dem Baden. Kurz
vor unſerer Ankunft war ein engliſcher Matroſe von einem Hai
erfaßt worden und ein Kaiman hatte einen holländiſchen Steuer-
mann, der auf dem Rande des Bootes ſaß und deſſen Rock-
ſchöße nahe über Waſſer hingen, an den letzteren erfaßt, ihn
über Bord gezogen und verſchlungen. Sie ſchienen unſere War-
nung jedoch in den Wind zu ſchlagen, denn zwei Tage darauf
ſahen wir ſie zu unſerem Schrecken wieder ſämmtlich baden und
um das an der Backſpiere liegende Boot herumſchwimmen.
Einer der Matroſen hielt ſich an der Fangleine des Bootes feſt,
als er plötzlich den Kameraden zurief: „Leute geht ins Boot,
hier iſt ein Hai. Er iſt bei mir geweſen, hat mir aber nichts
gethan.“ Die Leute kletterten ſchnell in das Boot, ſahen jedoch
gleichzeitig, wie Jener ſich zwar noch krampfhaft an dem er-
faßten Taue feſthielt, aber auch, wie ſein Kopf auf die Seite
fiel und ſich das Waſſer in ſeiner Umgebung blutig färbte.
Sie holten auf das ſchleunigſte das Boot zu ihm hin und
hoben ihn hinein, doch nur noch den Rumpf. Beide Beine
waren zwiſchen Knie und Hüfte abgebiſſen, ob durch einen der
coloſſalen Grundhaie von 14—16 Fuß Länge, wie man ſie in
jenen Gegenden trifft, oder durch einen Kaiman, blieb unent-
ſchieden. Nach zehn Minuten war der Aermſte verblutet und
[129]Eine erſte Seereiſe
eine Leiche. Wir ſahen den ganzen Vorgang mit an und man
kann ſich denken, welchen furchtbaren Eindruck er auf uns
machte.


Das Löſchen und Laden des Schiffes ging ziemlich ſchnell
vor ſich. Letzteres ſollte ſobald wie möglich nach Deutſchland
expedirt werden, um noch vor Winter wieder auszulaufen und
es waren deshalb zwanzig malayiſche Kulis zur Hülfe an Bord
geſchickt. Sie leiſteten zwar nicht ſehr viel, aber immerhin be-
ſchleunigte ihre große Zahl doch die Arbeit merklich und unſer
Aufenthalt dauerte vorausſichtlich nicht länger als drei Wochen.
Wegen der großen Entfernung unſeres Ankerplatzes vom Lande
blieben die Kulis auch Nachts an Bord und es intereſſirte mich,
ihre Lebensgewohnheiten zu beobachten. Tages über hielten ſie
ſich auf dem Oberdeck auf, wo für ſie eine Art Zelt mit einem
proviſoriſchen Herd zum Kochen ihrer Mahlzeiten errichtet war.
Letztere beſtanden der Hauptſache nach unveränderlich aus Reis,
den ſie mit zerſtampften Schoten von ſpaniſchem Pfeffer würz-
ten, während einige Yams und ohne Fett am Feuer geröſtete
Fiſche die Zuthaten bildeten. Fleiſch ſchafften ſie für ſich ſelbſt
nicht an, nahmen aber gern, was von unſerem Mittagseſſen
übrig blieb; Spirituoſen lehnten ſie dagegen, als den Satzungen
ihres mahomedaniſchen Glaubens widerſprechend, ab.


Ihre Geſtalten waren klein und wenig muskelkräftig, ihre
Hautfarbe hellbraun, das lange ſchwarze Haar unter einem
turbanähnlich gewundenen Kopftuche verſteckt. Der landesübliche
von beiden Geſchlechtern getragene Sarong, ein weiter geſchloſſe-
ner Rock von buntem Kattun, hüllte den unteren Körper, eine
enge Jacke von gleichem Stoff den oberen ein. Hervorſtehende
Backenknochen und wulſtige Lippen machen die Geſichtszüge un-
ſchön und durch die Folgen des Betelkauens erſcheinen ſie noch
abſtoßender. Das Betelkauen iſt allgemein und wird nur wäh-
rend der Mahlzeiten unterbrochen; die Erneuerung der ziemlich
ſchnell verbrauchten Packete nimmt im täglichen Leben des Ma-
R. Werner, Erinnerungen. 9
[130]Werner
layen viel Zeit in Anſpruch und wird mit einer Sorgfalt und
Wichtigkeit betrieben, als wäre es ein höchſt wichtiger Act.
Etwas zerkleinerte Betelnuß, Tabak und Gambir (Katechu)
werden dazu in ein mit kalkiger Maſſe beſtrichenes Betelblatt
gewickelt. Die adſtringirenden Stoffe ſondern einen ätzenden
rothen Saft ab, der die Zähne ſchwarz beizt und das Innere
des Mundes blutig roth färbt. Nebenbei ſind die Malayen
jedoch auch leidenſchaftliche Raucher und für eine Cigarre kann
man viel von ihnen erreichen.


Abends ſammelten ſich die Kulis regelmäßig unter ihrem
Zelte, auf deſſen Herde eine improviſirte Lampe aus einer
Kokosnußſchale mit einem unſicheren matten Schein die Um-
gebung beleuchtete. Einer von ihnen blies eine Bambusflöte
und ein anderer begleitete die Töne unisono mit Fiſtelſtimme,
während die Uebrigen im Kreiſe hockend mit geſpannter Auf-
merkſamkeit den eigenthümlichen Geſangsweiſen lauſchten. Dieſe
Unterhaltungen dauerten allabendlich Stunden lang, und die
vorgetragenen Lieder mußten wohl ernſten Inhaltes ſein, denn
man hörte nie lachen oder laute Heiterkeit. Ich denke mir, es
waren epiſche Verherrlichungen ihrer Volkshelden, deren Thaten
ſich hauptſächlich auf dem Felde des Seeraubes vollzogen
haben. Wenn uns auch die Bedeutung der Geſänge ver-
borgen bleiben mußte, eigneten wir uns doch bald ſo viel
Brocken der Sprache an, daß wir uns nothdürftig mit den
Kulis verſtändigen konnten. Die malayiſche Sprache iſt über-
haupt leicht zu erlernen; ſie iſt in ihrem Bau ungemein ein-
fach, hat wenig Wortflexionen und einen großen Reichthum von
Vocalen, der ſie wolklingend und leicht in’s Gehör fallend macht.
Alle auf Java anſäſſigen Holländer ſprechen malayiſch und ver-
kehren mit der einheimiſchen Bevölkerung nur in dieſem Idiom.


Mein Urlaubsſonntag ſtand vor der Thür und er ver-
ſprach mehr, als ich bisher zu hoffen gewagt hatte. Das hol-
ländiſche Linienſchiff „Kortenaar“, in deſſen Nähe wir in Hel-
[131]Eine erſte Seereiſe
voetsluys gelegen, war vor kurzem eingetroffen und zu meiner
großen Freude auf ihm mein junger Freund, der Sohn unſeres
Conſuls, als Kadett eingeſchifft. Er hatte mich nicht vergeſſen,
ſondern ſobald er konnte, mich aufgeſucht, um mich zu ſeinen
Verwandten nach Welltefreden einzuladen; vom Kapitän war
mir ein 48ſtündiger Urlaub bewilligt worden. Die Ausſicht,
unter ſo unerwartet günſtigen Umſtänden an Land zu gehen und
die wunderſchöne Inſel kennen zu lernen, entzückte mich begreif-
licher Weiſe auf das höchſte — leider ſollte ſie aber unter ganz
anderen Umſtänden ſich verwirklichen, als meine Phantaſie ſich
geträumt hatte. Ich wurde an’s Land geſchafft, aber ohne Be-
wußtſein und nur um in das Hoſpital aufgenommen zu werden.
Am Sonnabend Abend fühlte ich mich plötzlich ſehr unwol,
alle meine Glieder ſchmerzten, ich mußte mich zur Coje legen,
und mein Zuſtand verſchlimmerte ſich ſo ſchnell, daß ſchon nach
wenigen Stunden meine Gedanken zu wandern begannen und
heiße Gluth meine Kräfte verzehrte. Ich war vom Klimafieber
befallen und es trat gleich mit ſolcher Heftigkeit auf, daß der
am andern Morgen vom „Kortenaar“ geholte Arzt meine ſo-
fortige Ueberführung in das Hoſpital anordnete. Wie man
mir ſpäter mittheilte, hatte Niemand an Bord geglaubt, mich
lebend wiederzuſehen. Mein jugendlich kräftiger Körper leiſtete
jedoch dem Anfalle erfolgreichen Widerſtand, und als ich am
dritten Tage wieder zu mir kam, war ich wol todesmatt, aber
die größte Gefahr beſeitigt. Der Oberarzt war ein Deutſcher,
von dem ich ſehr freundlich behandelt wurde, das Hoſpital ſelbſt
ließ nichts zu wünſchen übrig; mein Freund, der Kadett, be-
ſuchte mich verſchiedene Male, ſeine Verwandten ſandten mir auf
ſeine Veranlaſſung Bücher, und da meine Kräfte allmälig zurück-
kehrten, fand ſich auch die Elaſticität meines Geiſtes wieder ein
und ich blickte nicht mehr ſo trübe in die Zukunft.


Am ſechſten Tage hatte ich mich ſo weit erholt, daß ich
das Bett verlaſſen konnte. Es war wieder Sonntag geworden
9*
[132]Werner
und ich hatte ganz beſtimmt gehofft, daß der alte Bootsmann
mich beſuchen würde, aber er blieb aus. Das ſchmerzte mich
tief; fremde Leute erwieſen ſich freundlich gegen mich in meiner
Verlaſſenheit, doch an Bord des eigenen Schiffes ſchien ſich
Niemand um mich zu kümmern. Der Kapitän war einmal in
der erſten Zeit dageweſen, als ich noch ohne Beſinnung lag,
dann nicht wieder. Andern Morgens erſchien er nochmals, doch
hauptſächlich nur, um den Arzt zu fragen, ob ich nicht am
nächſten Tage entlaſſen werden könne, da das Schiff am Mitt-
woch ſegeln ſolle. Der Doctor gab ſein Einverſtändniß unter
der Bedingung, daß ich noch längere Zeit geſchont würde und
ſo brachte mich die Gig an Bord zurück. Dabei fühlte ich je-
doch, wie ſehr ſchwach und angegriffen ich noch war, ich konnte
ohne Hülfe nicht die Fallreepstreppe erſteigen. Den Bootsmann
fand ich in der Coje, auch er hatte ſeit drei Tagen das Fieber.
„Wäre ich nicht ſelbſt ſo elendiglich auf den Strand gelau-
fen, Schweizer“ ſagte er mit matter Stimme zu mir, als ich
an ſein Bett trat „dann hätte ich Dich ganz beſtimmt beſucht.“
Ich drückte ihm ſtumm die Hand und mir traten die Thränen
in die Augen, als ich den kräftigen Mann jetzt ſo hülflos da-
liegen ſah. In das Hoſpital hatte er abſolut nicht gewollt; in
wenigen Tagen werde alles wieder gut ſein, meinte er, und in
der That ſchien ſich ſein Zuſtand auch etwas zu beſſern.


Von Krankenpflege in gewöhnlichem Sinne iſt auf Kauf-
farteiſchiffen nicht die Rede. Die ſo knapp bemeſſene und durch
die Kranken noch mehr geſchwächte Beſatzungszahl geſtattet nicht
die Stellung beſonderer Wärter; die Kameraden thun wol hier
und dort gern eine Handreichung, aber oft iſt Niemand von ihnen
in der Nähe, wenn das Bedürfniß dazu gerade am dringend-
ſten iſt. Heilmittel verabreicht der Kapitän aus der an Bord
befindlichen Medicinkiſte, nach Anleitung eines kleinen zu dieſem
Zwecke mitgegebenen Buches und nach beſtem Wiſſen. Ob dieſes
beſte Wiſſen auch das richtige iſt, hängt mehr oder minder von
[133]Eine erſte Seereiſe
einem glücklichen Ungefähr ab. Eben ſo wenig giebt es paſſende
Krankenkoſt; wer nicht Erbſen und Salzfleiſch vertragen kann,
für den wird etwas Reisſuppe gekocht, in vielen Fällen freilich
zutreffend, aber für Reconvalescenten doch nur kraftloſes Eſſen.
Ich war, wie der Doctor verordnet, vorläufig von allem Dienſte
dispenſirt, und wenn auch ſehr matt, doch im Stande auf zu
ſein und es drängte mich mein Herz, den Mann, welchem ich
ſo viel ſchuldete und der ſtets in väterlicher Weiſe ſeine Hand
ſchützend über mir gehalten, nach beſten Kräften zu pflegen und
ihm dadurch meine Dankbarkeit zu beweiſen.


Am beſtimmten Tage traten wir unſere Rückreiſe an. Der
Gedanke, daß fortan jede zurückgelegte Meile mich der geliebten Hei-
math näher brachte, würde unter anderen Umſtänden mein Herz
freudiger haben klopfen laſſen, als es der Fall war. Mein Be-
finden hatte ſich in den letzten Tagen eher verſchlechtert, als ge-
beſſert; ich war wol zu früh aus dem Hoſpital entlaſſen worden und
der Aufenthalt an Bord in der dumpfen, unreinen Luft des Logis
mir nicht zuträglich geweſen. Ich fühlte mich ſehr gedrückt und zu-
gleich apathiſch, ſo daß ſelbſt die Naturſchönheiten von Anjer, wo
wir behufs Einnehmen von Erfriſchungen noch einmal einen kurzen
Aufenthalt nahmen, mich gleichgiltig ließen. Dazu kam, daß die
Krankheit des Bootsmanns ſich ſichtlich verſchlimmerte. In den
erſten Tagen hatte er noch öfter in ſeiner gewohnten gutmüthig
ſcherzhaften Weiſe zu mir geſprochen, doch dann war er ſtiller
geworden; das Fieber trat heftiger auf und er lag vielfach ohne
Beſinnung oder redete irre. Er nahm nichts zu ſich, als etwas
Wein mit Waſſer, das ich ihm löffelweiſe einflößte, um ſeine
brennende Zunge zu kühlen. Ich ſah, daß es mit ihm zu Ende
ging und eine tiefe Traurigkeit ergriff mich bei dem Gedanken,
den einzigen Menſchen an Bord zu verlieren, der es wahr-
haft gut mit mir meinte und dann ganz einſam und verlaſſen
zu ſein.


Am vierten Tage unſerer Reiſe auf der Abendwache hatte
[134]Werner
er wieder einen heftigen Anfall gehabt. Danach war er ruhiger
geworden und ſchien einzuſchlafen. Als ich eine Zeit lang ſeinen
Athemzügen gelauſcht, die ſo regelmäßig waren, daß ich auf den
Eintritt einer günſtigen Kriſe hoffte, ſuchte ich meine Coje auf,
um auch ein wenig zu ſchlummern, doch ſchon nach wenigen
Minuten hörte ich leiſe meinen Namen rufen und ſprang wieder
auf, um nach dem Kranken zu ſehen. „Reinhold“ ſagte er,
indem er die Worte nur mit Mühe und abgebrochen hervor-
ſtieß, „es iſt vorbei mit mir, ich fühle es und morgen werde
ich in Gottes Keller liegen. Sage dem Zimmermann, er ſolle
von den zweizölligen Planken zum Sarge nehmen und es be-
ſchweren, damit die Haie nicht heran können und es gut ſinkt.
Was ich hinterlaſſe bekommen die Armen, da ich keine Ange-
hörigen habe; der Kapitän weiß ſchon davon. Weiter iſt nichts
zu beſtellen, das andere habe ich vorhin mit dem lieben Gott
ſelbſt alles klar gemacht. Leb wol mein Junge, Du haſt mich
treu gepflegt und ich danke Dir. Werde ein fixer Kerl und
wenn Du nach oben gehſt, dann halte Dich immer an den
Wanten feſt, aber nie an den Webeleinen, ſie können leicht
brechen.“ Er ſchwieg und hielt meine Hand in der ſeinen.
Trotz meines von Thränen getrübten Blickes nahm ich jetzt eine
große Veränderung in ſeinen Geſichtszügen wahr. Der Tod
trat an ihn heran, einige röchelnde Töne drangen aus der Bruſt
hervor, die Glieder ſtreckten ſich und — alles war vorbei! Als
der letzte Seufzer des Sterbenden verhallte, da ſchlug es acht
Glas — Mitternacht, und der Ruf des die Freiwache wecken-
den Matroſen „Reiß aus Quartier in Gottes Namen!“ ſchallte
in die Logiskappe hinunter. Der Ruf galt den Lebenden, aber
auch der Todte folgte ihm; ſeine Seele verließ ihr irdiſches
Quartier, um ſich zum Himmel emporzuſchwingen in Gottes
Namen. Ich drückte ihm die Augen zu.


Am andern Nachmittage übergaben wir ihn ſeinem weiten
Grabe. Als der nach ſeinen letzten Wünſchen gefertigte Sarg
[135]Eine erſte Seereiſe
zur Fallreepstreppe geſchafft war, wurde als Zeichen der Trauer
die Flagge halbſtocks geheißt und im Großtop back gebraßt, um
das Schiff zum Stillſtande zu bringen. Die Beſatzung ver-
ſammelte ſich um die Leiche und der Kapitän betete ein Vater-
unſer. Dann wurde der Sarg auf die Reiling gehoben und
langſam in die blaue Fluth hinabgelaſſen. Tiefer und tiefer
ſank er, ſeine Formen wurden undeutlicher, zuletzt ſah man noch
einen dunkeln Schimmer, dann war er verſchwunden und nur
noch einige Blaſen ſtiegen empor zur Oberfläche, um ſich mit
dem Perlenſchaum der nächſten Welle zu miſchen. Ruhe ſanft,
alter Mann, ich habe Dich nicht vergeſſen und werde Dir ſtets
ein treues Andenken bewahren.


Leiſe rauſchend durch die Wogen

Zieht das Schiff im ebnen Lauf,

An dem lichten Himmelsbogen

Flammt des Tages Kön’gin auf.

Unverhüllet, purpurglühend

Taucht ſie aus der Fluth hervor,

Tauſend gold’ne Strahlen ſprühend

Steigt im Aether ſie empor.

Neues Treiben, neues Leben

Wird erweckt durch ihren Glanz,

Und die blauen Wellen heben

Koſend ſich zum Morgentanz.

Doch an Bord iſt’s trüb und ſtille

Trotz der Sonne gold’nem Licht,

Denn der Landesflagge Hülle

Deckt ein Todtenangeſicht.

Aus der Kameraden Kreiſe

Rief es Gott zur ew’gen Ruh,

Nach der langen Lebensreiſe

Schloß er ihm die Augen zu.

[136]Werner
Von dem Quarterdeck erſchallet:

„Braßt die Hinterraaen back!“

Von der Gaffel niederwallet

Halben Stock’s die Trauerflagg’.

In dem Sarg, nach Seemanns Weiſe

Nur aus rohem Holz gemacht,

Wird er zu der letzten Reiſe

An die Fallreep hingebracht.

Einfach und mit ſchlichten Worten

Betet jetzt der Kapitän,

Und man ſiehet aller Orten

Thränen in den Augen ſtehn.

Leiſe rauſcht es an der Stelle,

Wo man ſenkt den Sarg hinab,

Tändelnd ſpielen Wind und Welle

Auf des Seemanns weitem Grab.

Es wurde voll gebraßt und das Schiff lenkte wieder in
ſeinen Curs. Die Leute gingen ſtill an ihre Arbeit; einige
Tage lag es wie ein trüber Schatten über dem Schiffe, dann
nahm alles wieder ſein gewohntes Ausſehen an. Bisweilen
wurde des Verſtorbenen mit einigen ehrenden Worten gedacht,
dann ſprach man nicht weiter von ihm.


Von der Rückreiſe habe ich nicht viel zu erzählen, als daß
ſie für mich ſehr traurig verlief. Das Fieber kehrte von Zeit
zu Zeit zurück und ließ mich nicht zu Kräften kommen. Bis-
weilen konnte ich eine Woche lang leichten Dienſt thun, dann
warf mich ein Rückfall wieder auf das Krankenlager und ich
durchkoſtete all’ das Schwere, was damit in den meiſten Fällen
auf Kauffarteiſchiffen verbunden iſt und von dem man oft nicht
begreifen kann, wie man es überhaupt überſteht. Je länger ſich
mein Leiden hinzog, deſto gleichgiltiger wurden die Uebrigen und
deſto weniger Rückſicht nahmen ſie auf mich. Als wir das Cap
der guten Hoffnung paſſirten war es Winterzeit und deshalb
[137]Eine erſte Seereiſe
kalt und ſtürmiſch. Wenn ich dann Nachts in Fieberhitze lag
und brennender Durſt mich verzehrte, war Niemand da, um
mir einen Trunk zu reichen. Ich mußte aufſtehen, um mir ihn
ſelbſt aus den Waſſerfäſſern an Deck zu holen, wenn auch der
kalte Wind mich eiſig durchſchauerte und ich von überſpritzendem
Seewaſſer durchnäßt in meine Coje zurückkehrte. Der menſch-
liche Körper vermag oft wunderbar viel zu ertragen, das er-
probte ich damals an mir.


Auf der Heimreiſe von Oſtindien nach Europa wird man
mehr vom Winde begünſtigt als auf dem Hinwege und hat im
Durchſchnitt beſſeres Wetter. Faſt die ganze Strecke von der
Sundaſtraße bis zum Cap durchläuft man mit dem Paſſat in
grader Richtung und wird außerdem noch durch bedeutende
Strömung unterſtützt. Beim Cap hat man zwar gewöhnlich
8 bis 14 Tage mit Stürmen zu kämpfen, doch bringt auch hier
ſtarker Strom helfend das Schiff vorwärts und es erreicht des-
halb bald aufs neue den Südoſtpaſſat, um mit ihm bis zum
Aequator, von dort nach Ueberwindung der Stillen mit dem
Nordoſt bis zu den Azoren zu gehen und dann die Weſtwinde
zum Anſegeln des Kanals aufzuſuchen. Nur einmal wurde die
Einförmigkeit des Bordlebens, bei der man ſchließlich faſt die
Namen der Tage vergaß, durch das Anſegeln von St. Helena
unterbrochen, um Trinkwaſſer einzunehmen. Die Inſel liegt auf
dem directen Wege und wird deshalb von faſt allen heimkehren-
den Schiffen zu jenem Zwecke angelaufen. Mein Geſundheits-
zuſtand hatte ſich in der letzten Zeit wieder ſo weit gebeſſert,
daß ich bei dem ſchönen Wetter auf ſein konnte, und ſo durfte
ich mich wenigſtens an dem äußeren Anblicke der als Napoleons
Gefängniß ſo berühmt gewordenen einſamen Felſeninſel zer-
ſtreuen. Des Kaiſers Gebeine waren im Jahre zuvor nach
Frankreich zurückgeholt worden, um im Invalidendome beigeſetzt
zu werden. Longwood, das Haus, in dem er bis zu ſeinem
Tode gewohnt, ein einſtöckiges, ſchmuckloſes Gebäude, liegt auf
[138]Werner
einer kleinen Hochebene im Innern der Inſel; man ſieht es
von der Rhede aus. An Land kam natürlich Niemand von
der Beſatzung, da wir nur einen halben Tag blieben, und die
Geſundheitsbehörde wollte zuerſt überhaupt keine Communication
mit dem Lande geſtatten, weil wir einen Todten gehabt und ich
krank war. Als mich der Quarantänearzt jedoch unterſucht hatte,
erklärte er mein Leiden als nicht anſteckend und ließ freien Ver-
kehr zu. Von mir wurde keine weitere Notiz genommen; ich
blieb nach wie vor mir allein überlaſſen — meine Natur mußte
ſich ſelbſt helfen.


St. Helena iſt eine ſteil aus dem Ocean aufſteigende
Felſeninſel, deren höchſte Spitze ſich bis zu 500 Meter erhebt
und die eine Länge von 2½ bei einer Breite von 1½ Meilen
hat. Ihre kleine Hauptſtadt Jamestown liegt in einem roman-
tiſchen Thale an der Nordoſtſeite der Inſel, mithin leewärts und
geſchützt vor dem Südoſtpaſſat. Die begrenzte Bucht vor dieſem
Thale iſt auch der einzige Ankerplatz, die ganze übrige Küſte,
welche den Eindruck einer gigantiſchen Felſenmauer macht, ſtürzt
eben ſo ſenkrecht in die unergründliche Tiefe hinab, wie ſie über
Waſſer in die Lüfte ſtrebt. Man ankert etwa 1000 Schritte
von der Stadt, aber bei der Durchſichtigkeit der Atmoſphäre
und der Höhe der Felſen glaubt man kaum 100 Schritt ent-
fernt zu ſein. Schiffe liegen völlig ſicher auf der Rhede; dann
und wann kommt ein Windſtoß über die Berge, der jedoch nur
oben durch die Maſtſpitzen pfeift und die Waſſerfläche kaum
kräuſelt. Boote können deshalb immer fahren, wenn auch der
Seegang des atlantiſchen Oceans ſich ununterbrochen an den
Baſaltwänden der Inſel bricht und der ſtete Donner der Bran-
dung an das Ohr ſchlägt. Das Landen bei der Stadt, wo
weder eine Mole noch ſonſtige Einrichtungen den Booten ein
ruhiges Anlegen geſtattet, iſt ſehr ſchwierig, weil die Fahrzeuge
durch den Seegang beſtändig 3 bis 4 Meter auf und nieder
wogen. Die dafür eingerichteten Boote haben hinten einen kurzen
[139]Eine erſte Seereiſe
Maſt, an dem der Landende ſich feſthält, bis er entweder auf
die nach dem Waſſer leitenden Stufen ſpringen, oder die Platt-
form erreichen kann, welche an einem weit ausliegenden Dreh-
kahne hängt, mit der er dann auf das Ufer geſchwungen wird.


Eine Menge Boote mit Früchten, Seltenheiten und Reli-
quien von Napoleons Grabe kamen längſeit. Namentlich wur-
den kleine muſchelbeklebte Doſen mit Erde daher, ſowie Zweige
und Blätter von der das Grab beſchattenden Trauerweide feil
geboten. Obwol die Sachen, wie meiſtens dergleichen, wahr-
ſcheinlich anderwärts herſtammten, nahm ich doch in gutem
Glauben ein Andenken mit.


Nicht weit von uns lag eine engliſche Kriegsbrigg, die
Tags zuvor einen an der afrikaniſchen Küſte genommenen Sclaven-
fahrer eingebracht hatte. Die Priſe war eine Brigg von ganz
ähnlichem Ausſehen, wie jene, die uns damals auf der Hinreiſe
Schrecken einjagte. Sie hatte 500 Neger an Bord, die grade
ausgeſchifft wurden. Zu dieſem Zwecke kamen große Barken
mit flachem Boden längſeit und die Schwarzen wurden wie Waaren
darin verſtaut. Sie mußten ſich mit ausgeſpreizten Beinen
niederlegen und der nächſte wurde dann immer mit dem Kopfe
zwiſchen die Schenkel des anderen gepackt. Man erzählte uns,
daß jährlich durchſchnittlich 2 bis 3000 Sclaven von den eng-
liſchen Kreuzern aufgebracht und befreit würden. Mit dieſem
„Befreien“ hatte es nun allerdings ſeine eigene Bewandtniß und
bei aller Menſchenfreundlichkeit machten die Engländer dabei ein
gutes Geſchäft. Die Mannſchaft der Kriegsſchiffe erhielt für
jeden aufgebrachten Neger 1 £; dies mußten aber letztere ſelbſt
bezahlen und zwar durch zehnjährige Arbeit in den engliſchen
Weſtindiſchen Kolonien als Aprentices „Lehrlinge“. Erſt nach
dieſer Zeit erhielten ſie ihre volle Freiheit, ſahen jedoch ihr Vater-
land nicht wieder.


Die Bucht von Jamestown iſt ganz ungemein fiſchreich,
namentlich an Makrelen und dieſe bilden das Hauptnahrungs-
[140]Werner
mittel der niederen Volksklaſſen. Ich hatte früher gehört, daß
Heringszüge in ſo dichten Maſſen wie Mauern erſchienen, ohne
recht daran glauben zu wollen, hier aber überzeugte ich mich
von der Wahrheit. Eine ſolche Makrelenmauer näherte ſich
unſerem Schiffe und wir fingen in kaum einer Viertelſtunde,
während welcher die Fiſche in unmittelbarer Nähe blieben, viele
Hunderte, indem wir drei bis vier zuſammengebundene Makrelen-
haken zwiſchen die Maſſe warfen und die daran irgendwie an-
gehakten Fiſche an Bord holten. Was nicht friſch gegeſſen wer-
den konnte, wurde geräuchert und für die nächſten Tage als
willkommener Leckerbiſſen mitgenommen.


Gegen Abend war unſer Trinkwaſſer ergänzt und wir
traten unſere Weiterreiſe an, um abermals zwei Monate lang
mit Himmel und Meer allein zu ſein.


Es paſſirte nichts Außergewöhnliches, nur wurde das Leben
an Bord noch eintöniger, als es bisher geweſen war. Gewöhn-
liche Seeleute haben nur einen engen Geſichtskreis und ihre
Unterhaltung beſchränkt ſich auf eine verhältnißmäßig geringe
Zahl von Gegenſtänden. Auf einer ſo langen Reiſe erſchöpfen ſich
dieſelben und es bleibt nichts als Dreſchen deſſelben Strohes,
das ſchon bei der erſten Bearbeitung nicht ſchmackhaft war.
Nach dem Tode des Bootsmannes fühlte ich mehr als je, wie
wenig ich zu den Uebrigen paßte; oft vergingen Tage, an denen
ich kaum ein gleichgiltiges Wort mit ihnen wechſelte, und es
konnte nicht ausbleiben, daß auch ſie mir keinerlei Entgegen-
kommen zeigten. Seit Batavia waren unſere Chronometer regu-
lirt. Monddiſtanzen, bei denen ich hätte behülflich ſein können,
wurden nicht mehr beobachtet, und da ich wegen meiner Krank-
heit nur ſehr ſelten Wache gehen konnte, kam ich mit Kapitän
und Steuerleuten faſt nicht in Berührung. Die wenigen Bücher,
welche mir der Kadett zum Abſchiede mitgegeben, waren längſt
mehrfach geleſen, meine einzige Zerſtreuung bildete Schreiben
und Zeichnen. O wie entſetzlich lang wurden mir die vier
[141]Eine erſte Seereiſe
Monate der Rückreiſe und um ſo mehr, als das Gefühl der
körperlichen Schwäche nothwendig auch auf meinen Geiſt zurück-
wirkte. Mit bleiernen Füßen ſchlichen die Tage dahin ohne jede
Abwechſelung.


Endlich waren die Azoren erreicht und wir fanden den er-
warteten Weſtwind. Die Inſeln Corvo und Flores zeichneten
ihre Conturen in weiter Ferne am Horizont, acht Tage darauf
kamen wir auf die „Gründe“ und das tiefe Blau des Oceans
wandelte ſich in dunkles Grün, das allmälig heller wurde und
die Nähe des Landes verkündete. Dann tauchte die Küſte von
England auf und der günſtige Weſt führte uns ſchnell durch
Kanal und Nordſee. Bei Helgoland erhielten wir einen Loot-
ſen; in ununterbrochener fliegender Fahrt ging es hinein in die
Elbe bis Glückſtadt und dann anderen Tages nach Hamburg. —
Es war, als ob wir für das Mißgeſchick der Ausreiſe entſchädigt
werden ſollten und eine geheimnißvolle Macht uns zur Heimath
zöge. Mit Ausnahme weniger Tage am Cap der guten Hoff-
nung hatten wir keinen Sturm gehabt und waren ſtets von
gutem Winde begünſtigt geweſen.


Bei dem Anblick der Thürme der alten Hanſeſtadt über-
wältigte mich der Anſturm der verſchiedenſten Gefühle. Freude
und Wehmuth kämpften in meiner Bruſt und machten meine
Augen feucht. Meine Gedanken ſchweiften in die Vergangen-
heit um ein Jahr zurück. Als ich damals zuerſt den Maſten-
wald im Hafen ſah, war mir das Herz in der Ausſicht aufge-
gangen, nun bald ſelbſt mit einem der Schiffe hinauszuziehen
über den weiten Ocean in ferne Welten und meine Jugend-
träume zu verwirklichen. Wie hoffnungsvoll war mir zu jener
Zeit die Zukunft erſchienen, wie ſchön hatte ich es mir gedacht,
nach langer Reiſe heimzukehren zu den Meinen, ſtolz und be-
friedigt von meinem Berufe ſie zu begrüßen, mich von meinen
Jugendgenoſſen um all’ das Große und Wunderbare beneiden
zu laſſen, das ich geſehn und erlebt — und nun war alles ſo
[142]Werner
ganz anders geworden! Krank und gebrochen kam ich zurück
und meine Zukunft lag ſchwer und traurig vor mir.


Der Anker fiel; der Hafenmeiſter ließ das Schiff an den
Pfählen im Hafen feſt machen; Boote legten an und brachten
Freunde und Bekannte der Mannſchaft zur Bewillkommnung.
Ich ſtand abſeit und wurde von Niemand begrüßt. Mein Herz
ſchnürte ſich zuſammen, doch bald ſollte es auch durch einen
Freudenſtrahl erhellt werden. Der Kapitän rief mich und hatte
einen Brief in der Hand; er kam von den Eltern und war
von den Rhedern an Bord geſandt. Er hatte zwar ſchon
mehrere Wochen auf mich gewartet, aber er enthielt gute Nach-
richten und das Liebeszeichen erquickte und ſtärkte mich wunder-
bar. Als die Rheder von meiner Krankheit hörten, ließen ſie
mich ärztlich unterſuchen; das Fieber war ſeit einem Monate
nicht wiedergekehrt, ich litt nur noch an den Nachwehen. Ein
längerer Aufenthalt am Lande und gute Pflege würden mich un-
zweifelhaft wieder herſtellen, meinte der Doctor, und ſo erhielt
ich unbeſtimmten Urlaub, um mich im Elternhauſe zu erholen.
Mit der „Alma“ ging ich vorausſichtlich nicht wieder fort, da
ſie ſchon nach vier Wochen auslaufen ſollte, doch darüber em-
pfand ich kein Bedauern; das auf ihr verlebte Jahr ſchloß zu
viel trübe Erinnerungen in ſich.


Die zweitägige Reiſe mit der Poſt bis zu meinem Heimaths-
orte hatte mich ungemein angegriffen und ich kam ſo elend und
todesmatt an, wie ich mich noch nie gefühlt hatte. Ich war
am Tage nach unſerem Eintreffen in Hamburg abgereiſt, hatte
vorher nicht geſchrieben und die Meinen erwarteten mich des-
halb nicht. Ich war in dem Jahre bedeutend gewachſen, meine
Geſichtsfarbe zeigte das krankhafte Gelb der Leberleidenden und
meine ſeemänniſche Kleidung mochte mich noch unkenntlicher machen,
denn die Bekannten, welche mir begegneten, als ich die wenigen
Schritte von der Poſt bis zur elterlichen Wohnung über die
Straße wankte, ſahen neugierig der fremden Erſcheinung nach.


[143]Eine erſte Seereiſe

Der Vater war nicht zu Hauſe, und auf mein Anklopfen
öffnete mir die Mutter die Thür. „Wünſchen Sie meinen
Mann zu ſprechen?“ fragte ſie mich.


„Mutter!“ ſchrie ich auf, indem es mir wie ein Stich
durch’s Herz ging, „auch Du kennſt mich nicht wieder?“ und
dann ſank ich ohnmächtig zuſammen.


Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf dem Bette und
die Augen der Meinen waren in liebender Sorge auf mich ge-
richtet. Das letzte Jahr ſchwand wie ein düſterer Traum vor
den leuchtenden Bildern der Gegenwart; unter der Pflege der
Mutter kehrten bald meine Kräfte zurück, und nach acht Wochen
blühten die Roſen der Geſundheit wieder auf meinen Wangen.
Bis dahin hatten die Eltern kein Wort über meine Zukunft
geſprochen; dann fragte mich der Vater eines Tages: „Willſt
Du wieder auf die Schule oder Seemann bleiben?“ Ich hatte
die Frage vorausgeſehen; die Antwort ſtand ſeit jener erſten
Nacht an Bord feſt. Sie lautete: „Ich gehe wieder zur See,
Vater.“


Wenige Tage ſpäter reiſte ich nach Hamburg, um bald
darauf mich an Bord des Vollſchiffes „Malwine“ einzuſchiffen.
Die ferneren Jahre wurden mir nicht ſo ſchwer und mein Körper
litt nicht mehr unter den Einflüſſen des tropiſchen Klimas. Ich
machte noch ſechs Reiſen nach den oſtindiſchen Gewäſſern. Als
ich von der letzten zu Ende des Jahres 1848 zurückkehrte, da
war eine deutſche Flotte erſtanden. Ich trat als Officier in
dieſelbe ein und meine Jugendträume hatten endlich ihre Er-
füllung gefunden.


[[144]]
[figure]

Die deutſche Marine 1848—1852.


Gründung.


Es war Völkerfrühling geworden, Deutſchland wenigſtens
glaubte zu jener Zeit ernſtlich daran, daß er gekommen
ſei. Unter dem Jubel von Millionen war er geboren;
aber leider als Frühgeburt ohne nachhaltige Lebenskraft und den
Keim des Todes bereits in ſich tragend. Er trieb eine Menge
vielverſprechender Knospen, doch keine entfaltete ſich zur Blüthe,
viel weniger noch zur Frucht; ſie welkten alle vor der Zeit da-
hin und verdorrten. Freiheit, Einheit, Größe und Macht des
Vaterlandes — das waren die Schlagworte der Schwärmer,
welche damals mit Phraſen Weltgeſchichte zu machen hofften und
nicht fühlten, daß grade die Weltgeſchichte ihnen hohnvoll in das
Geſicht ſchlug, daß kein Land unfreier, zerriſſener und machtloſer
war als Deutſchland.


Und dennoch! nach einer Richtung wurde dieſe Macht-
loſigkeit ſelbſt von jenen Schwärmern tief empfunden und trieb
ihnen die Schamröthe in das Geſicht. Mit wenigen ſchwach
bemannten Kriegsſchiffen hielt das winzige Dänemark das große
Deutſchland in Schach. Es blockirte ſeine Häfen, lähmte ſeinen
Handel und caperte ſeine Kauffarteiſchiffe.


[145]Die deutſche Marine 1848—1852

Auch die nüchternen Leute fühlten die Schmach und der
verlangende Ruf nach einer deutſchen Flotte, nach einer Geltung
zur See ertönte laut und allgemein im ganzen Lande, in allen
Schichten des Volkes. Ueberall ſprach, ſchrieb, ſang und ſammelte
man dafür, aber man war faſt ohne Ausnahme ſo naiv zu
glauben, daß ſich eine Flotte in wenigen Monaten herſtellen
laſſe und lieferte damit den Beweis, daß man in Deutſchland
von Marineſachen nur wenig verſtand. Man hatte keine Ahnung
davon, was zur Schaffung einer Marine gehöre und hielt den
guten Willen für ausreichend. Selbſt in den Hanſeſtädten ſchien
dieſe Einſicht zu fehlen, und die Schwärmerei über den practi-
ſchen Verſtand den Sieg davon zu tragen. Man erinnerte ſich
dort wohl der eigenen Seemächtigkeit, die einſt ſo lange Zeit
die nordiſchen Kronen ſich botmäßig gemacht und glaubte, ſie
durch Energie ſofort wieder in das Leben rufen zu können.
Man vergaß aber völlig, daß vier Jahrhunderte zwiſchen da-
mals und jetzt lagen, daß die 77 Städte, welche einſt König
Waldemar von Dänemark den Fehdebrief ſandten und deren
Flotten ſein Reich zertrümmerten, den Kern und die Thatkraft
Norddeutſchlands darſtellten, daß ſie, von gleichem Intereſſe
geleitet und demſelben Willen beſeelt, Deutſchland nach außen
als einiges Reich erſcheinen ließen, daß jetzt aber die poli-
tiſchen Verhältniſſe ſo ganz anders lagen.


Bartholdt, Verfaſſer der „Geſchichte der deutſchen See-
macht“ *, hatte die Dinge richtiger erfaßt, als die Nach-
kommen der alten Hanſen, wenn er ſeine Abhandlung mit
folgenden Worten ſchloß: „Wir haben Eiſen und Kupfer in
unſeren Bergwerken, hochgewipfelte Tannen im Schwarzwald,
die als Maſtbäume und Stangen jährlich nach Holland hin-
unter ſchwimmen. Wir haben in den Oſtſeeprovinzen rieſige
R. Werner, Erinnerungen. 10
[146]Werner
Eichen zu Kielen und Planken und knorriges Krummholz zu
Schiffsrippen in Fülle, die alljährlich ſelbſt nach dem Norden
ausgeführt werden. Hanf gedeiht bei uns in Menge zu Tau-
werk und Segeln. Wir haben lernbegierige Schiffsbaumeiſter
und Zimmerer, Anker- und Kettenſchmiede, Stückgießer. Wir
haben vom Samlande bis nach Oſtfriesland ein zahlloſes
Fiſcher- und Schiffervolk, breit von Bruſt und Schultern, mit
markvollen Knochen, ſcharfen Auges; Piloten, deren wetterge-
bräuntes Geſicht trotzig in den Sturm blickt und die die Pfade
des Meeres, ſeine Tiefen überall kennen. Wir haben geſchütz-
kundige Meiſter, Soldaten, die den Tod nicht ſcheuen, mehr
als wir brauchen; entſchloſſene unerſchrockene Schiffsführer.
Wir haben die Wiſſenſchaft, welche die Sternenbahnen mißt
und die geheimen Geſetze der Natur ergründet und — dennoch
kein Kriegsſchiff, um einen übermüthigen kleinen Nachbar hinter
ſeinen ſchmalen Belten aufzuſuchen, und unter dem weiten
Himmelsgewölbe kein Fleckchen freien Landes zur Aufnahme
darbender fleißiger Menge. Täuſcht uns unſere Prüfung alter
Geſchichten und der deutſchen Volksnatur nicht, ſo bleibt uns
nur ein Mittel, aber ein wie unerreichbares! um jeder Seemacht
der Welt gewachſen zu ſein: ſtarke Territorialeinheit
an unſeren Meeren
.“


In der Hauptſache ſind die Worte des Geſchichtsforſchers
prophetiſch geweſen. Die Bedeutung unſerer Flotte beginnt erſt
mit der Schaffung jener ſtarken Territorialeinheit an unſeren
Meeren. Daß der Zeitpunkt dafür ſchon nach zwei Jahrzehn-
ten kommen ſollte, hat Bartholdt ſich freilich nicht gedacht.
Ebenſo irrte er in der Annahme, daß die deutſche Flotte unter
jener Vorbedingung jeder Seemacht der Welt gewachſen ſein
werde. Das iſt ſie weder jetzt, noch wird ſie es vorausſichtlich
werden, weil Deutſchland dazu zu arm iſt und ſeiner geogra-
phiſchen Lage nach den militäriſchen Schwerpunkt ſtets in der
Armee ſuchen muß; aber die Marine kann bei verſtändiger Be-
[147]Die deutſche Marine 1848—1852
handlung und Verwerthung vollauf die Zwecke erfüllen, für
welche Deutſchland ſie nöthig hat.


Sie kann unſere beiden deutſchen Meere gegen jeden feind-
lichen Seeangriff wirkſam vertheidigen, ſo daß unſere Seeflanken
gedeckt ſind. In zweiter Reihe genügt ſie im Frieden ſo
weit zum Schutze unſeres Handels, um den Deutſchen im Aus-
lande das Bewußtſein zu verſchaffen, daß das Vaterland ihre
Rechte wahre. Unſere Flotte iſt Deutſchlands Größe und Macht-
ſtellung angemeſſen, aber nicht provocirend; ſie überſteigt nicht
unſere Mittel und flößt Achtung ein — mit einer ſolchen Gel-
tung zur See darf unſer Volk ſich ſchon zufrieden ſtellen.


Konnte die Flotte zu ihrer jetzigen Bedeutung aber auch
erſt nach Aufrichtung des deutſchen Reichs kommen, ſo be-
ſtanden ihre Grundlagen doch bereits lange, und dieſem Umſtande
iſt es zu danken, daß ſie gegenwärtig ſchon einen verhältnißmäßig
hohen Standpunkt einnimmt. Jene Grundlagen ſtammten aus
dem Jahre 1848 und fanden ihre Verkörperung in der damals
in das Leben gerufenen deutſchen Marine, deren größter Theil
zwar leider an unſeren derzeitigen traurigen politiſchen Verhält-
niſſen ſchmachvoll zu Grunde ging, deren kleinerer aber in der
preußiſchen Marine glücklicher Weiſe für eine beſſere Zukunft ge-
rettet wurde. Aus dieſer preußiſchen iſt unſere Reichsmarine
hervorgegangen und die deutſche Flotte von 1848 iſt deshalb
die Wiege unſerer heutigen Seemacht.


Bei den regen Sympathien, welche der letzteren im ganzen
Lande entgegengebracht werden, dürfte es deshalb nicht ohne
Intereſſe ſein, einen Blick auf die Marine von 1848 zu werfen,
auf welche einſt die Augen des deutſchen Volkes mit ſo viel
Liebe ſchauten und in deren ſchwarzrothgoldenem Banner ſich auch
eine kurze Spanne Zeit ſeine Einheitsträume verwirklichen zu
wollen ſchienen. Ein ſolcher Rückblick wird zwar das Eingangs
Ausgeſprochene beſtätigen, daß man in Deutſchland wenig Begriff
davon hatte, was zur Schaffung einer Flotte nöthig ſei, gleich-
10*
[148]Werner
zeitig aber auch darthun, was Thatkraft und Patriotismus in
kurzer Zeit und unter den größten Schwierigkeiten zu ſchaffen
vermochten, und er wird dazu beitragen, das Andenken derjenigen
Männer im Volke lebendig zu erhalten, die damals in ſelbſtloſer
Hingabe ungemein Großes leiſteten und denen das Land zu
Dank verpflichtet iſt.


Mitte Mai 1848 trat in Frankfurt a/M. die deutſche
Nationalverſammlung zuſammen. Sowohl unter dem Drucke
der öffentlichen Meinung wie auch aus eigener Initiative war
eine ihrer erſten politiſchen Thaten die Bildung eines Marine-
ausſchuſſes mit dem practiſchen Hintergrunde einer Bewilligung
von ſechs Millionen Thalern für die Gründung einer Flotte. Ob
dieſe Bewilligung auch die Zahlung bedingte, darüber wurde man
ſich freilich damals nicht klar. Der Hanſeatiſchen Energie ging
es mit der Sache jedoch nicht ſchnell genug vorwärts. Hamburg
erinnerte ſich, wie bereits bemerkt, der Thaten ſeiner Vorfahren;
die Dänen ſollten ſofort von unſern deutſchen Küſten verjagt
werden und am 8. Mai conſtituirte ſich dort ein Marinecomité,
das aus den Chefs der drei großen Rhedereien Godeffroy u.
Comp., Roſs Bidal u. Comp. und Sloman beſtand und es
ſich zur Aufgabe machte, in kürzeſter Friſt dem Feinde eine See-
macht entgegenzuſtellen.


Es handelte ſich zunächſt um die Beſchaffung von geeig-
neten Schiffen und Perſonal. Die deutſche Küſte war blockirt;
von außerhalb konnte kein Material hereingebracht werden
und man mußte ſich im Inlande danach umſehen. Kurzer Ent-
ſchluß führte zum Ankauf des dem Hauſe Godeffroy gehörigen
dreimaſtigen Segelſchiffes gleichen Namens. Die Kaufſumme
betrug nahe an 30,000 Thaler und Deutſchland war damit in
den Beſitz einer „Fregatte“ gelangt, die auch ſofort „Deutſch-
land“ getauft wurde. Darob großer Jubel und Enthuſiasmus
[149]Die deutſche Marine 1848—1852
im ganzen Lande; man erkannte, was Energie und feſter Wille
vermochten. Die Beſchaffungskoſten wurden aus den eingegangenen
freiwilligen Beiträgen beſtritten, die wenigſtens in den erſten
Wochen der Sammlungen ziemlich reichlich gefloſſen waren. Der
Enthuſiasmus erhöhte ſich noch, als der Rheder Sloman in
ehrenvoll patriotiſcher Weiſe ſein dreimaſtiges Segelſchiff „Frank-
lin“ dem Comité unentgeltlich zur Dispoſition ſtellte, und die
Vorſtadt St. Pauli auf ihre Koſten ein Ruderkanonenboot
bauen ließ.


Die „Deutſchland“ hatte für ein Schiff zwar ſchon ein
ehrwürdiges Alter und durfte von ſich ſagen: „Schier dreißig
Jahre bin ich alt,“ da ſie 1819 in Bombay das Licht der
Welt erblickte, aber jedenfalls war ſie ſehr gut und vom beſten
Oſtindiſchen Teakholz gebaut, größer als irgend eins der deut-
ſchen Kauffarteiſchiffe und deshalb der Gedanke, ſie in ein Kriegs-
ſchiff umzuwandeln, an und für ſich nicht ſo verkehrt. Nur
beging man den großen Fehler, ſie „Fregatte“ zu taufen und da-
durch die in Marineangelegenheiten ſo unkundigen Binnenländern
glauben zu machen, es ſei ein den däniſchen Fregatten eben-
bürtiges Schiff aus dem Boden geſtampft. „Leichte Corvette“
wäre eine anſpruchloſere aber paſſendere Bezeichnung dafür ge-
weſen. Eine Fregatte, wie z. B. die „Gefion“, war, abgeſehen
von allen ſonſtigen Unterſchieden, damals noch einmal ſo groß,
noch einmal ſo ſtark, wie die „Deutſchland“ und koſtete die zehn-
fache Summe.


Ohne Zeitverluſt wurde ſeitens des Comité an die Um-
wandlung der beiden Schiffe zu Kriegsfahrzeugen gegangen,
allein ſchon jetzt kam ein empfindlicher Rückſchlag. Man ſah,
daß das eigene Können überſchätzt war. Trotz des beſten Willens
begegnete man bei der Arbeit den größten Schwierigkeiten, weil
es gänzlich an Sachverſtändigen fehlte und in der Eile auch
keine aus dem Auslande herangezogen werden konnten. Das
alte Sprüchwort „Viel Köpfe, viel Sinne“ brachte ſich nach-
[150]Werner
theilig zur Geltung und der Mangel an Sachkunde zeigte ſich
beſonders in einer Ueberladung des Schiffes mit Geſchützen.


Nicht weniger als zwei und dreißig Geſchütze, davon vier-
zehn 32-Pfünder — zur damaligen Zeit die ſchwerſten Kanonen
der Segelfregatten — außerdem ſechs 18-Pfünder und zwölf
18-pfündige Karronaden (mit kürzerem, ſchwächerem Rohr und
geringerer Pulverladung, als die gleichkalibrigen Kanonen) bilde-
ten die Armirung, während das Schiff ſchon für die Hälfte
dieſer Geſchütze zu klein und zu ſchwach war.


Erſt kurz vor Beendigung des Umbaues gelang es dem
Comité, einen wirklichen Marineofficier in ſeine Dienſte zu ziehen.
Es war ein Engländer, mit Namen Strutt; er hatte früher in
der engliſchen Flotte als sailing master gedient, war aber ſchon
ſeit längerer Zeit nicht mehr activ. Beſonders glücklich konnte
man dieſe Wahl nicht nennen, denn viel Sachkunde brachte der
neue Chef der Hamburger Marine nicht mit. Die sailing
masters
waren früher in der engliſchen Marine Officiere zweiten
Ranges mit beſchränktem Avancement (Kapitäne konnten ſie nicht
werden) und von den eigentlichen Seeofficieren über die Achſel
angeſehen. Ihr Dienſt beſchränkte ſich lediglich auf die Navigi-
rung des Schiffes, auf dem ſie ſich befanden; den militäriſchen
Aufgaben ſtanden ſie aber ganz fremd, und ein ſolcher Mann,
der plötzlich als Organiſator einer, wenn auch kleinen Marine
auftreten ſollte, war deshalb deplacirt. Es dauerte auch nicht
lange, bis ſeine Schwächen völlig erkannt wurden und er von
der Schaubühne wieder abtreten mußte.


Mit der vollendeten Neueinrichtung der Schiffe erſtand
eine andere Schwierigkeit. Die bereiten Mittel waren erſchöpft,
die Sammlungen hatten aufgehört und man machte die Erfah-
rung, daß, trotz aller Begeiſterung eines Volkes, aus freiwilligen
Beiträgen ſich kaum ein wirkliches Kriegsſchiff geſchweige denn
eine Flotte ſchaffen laſſe. Das Comité ließ ſich dadurch jedoch
nicht entmuthigen. Im Hinblick auf die von der Nationalver-
[151]Die deutſche Marine 1848—1852
ſammlung bewilligten ſechs Millionen Thaler, wandte es ſich
ſowohl an jene, wie auch an den Bundestag mit dem Antrage,
drei kleine Handelsdampfer anzukaufen und zu armiren, um mit
ihnen und den beiden Segelſchiffen einen Handſtreich auf das
däniſche Blockadegeſchwader zu unternehmen.


Man ſieht, der alte unternehmende Geiſt ihrer Vorväter
war noch nicht von den Hamburgern gewichen, aber der Marine-
ausſchuß der Nationalverſammlung glaubte vorſichtiger ſein zu
müſſen. Er zweifelte ſtark an dem Gelingen eines ſolchen Unter-
nehmens, weil, abgeſehen von dem mangelhaften Material der
Schiffe, er mit Recht auf das Fehlen geeigneter Führer, ſo wie
auf den Umſtand hinwies, daß weder Officiere noch Mannſchaften
mit den Geſchützen umzugehen verſtänden. Der Ausſchuß ver-
hielt ſich deshalb gegen das Project ablehnend. Der Bundes-
tag theilte dieſe Bedenken jedoch nicht. Ganz im Widerſpruch
mit der ihm ſonſt eigenen übergroßen Ruhe und Bedachtſamkeit
ging er ſofort auf die Vorſchläge des Hamburger Comités ein
und überwies dem letzteren am 6. Juni 1848 und zwar ohne
Wiſſen des Marineausſchuſſes
die verlangte Summe
von 300,000 Thalern. Dies Verfahren kennzeichnete allerdings
ſchon zur Genüge den Stand der Dinge in Frankfurt und illu-
ſtrirte die „Einheit“ des deutſchen Reichs. Das Geld wurde
dem Feſtungsbaufonds entnommen, denn von den ſechs Millio-
nen Thalern war noch nichts vorhanden. Die Nationalver-
ſammlung hatte ſie decretirt, aber die Eincaſſirung machte zu
große Schwierigkeiten.


Für jene 300,000 Thaler wurden Ende Juni drei Dampf-
ſchiffe der Hamburg-Huller Dampfſchiffahrtgeſellſchaft angekauft,
armirt und ausgerüſtet und ſie erhielten die Namen „Hamburg“,
„Bremen“ und „Lübeck“. Zwei von den früheren Kapitänen
dieſer Dampfer — beide Engländer — wurden mit übernommen,
ebenſo das Maſchinenperſonal. Die Stellen der noch fehlenden
Officiere beſetzte man mit Kapitänen und Steuerleuten aus der
[152]Werner
deutſchen Handelsflotte. Es meldete ſich eine ſolche Menge,
daß unter den tüchtigſten und intelligenteſten eine Wahl getroffen
werden konnte und im allgemeinen wenig Mißgriffe gemacht
wurden. Die Werbung der Matroſen machte mehr Schwierig-
keiten und die Schiffe hatten keineswegs volle Beſatzungen. Da
indeſſen ſehr bald die Unterhandlungen wegen eines Waffenſtill-
ſtandes begannen und dieſer ſchon Ende Auguſt in Malmö auf
ſieben Monate abgeſchloſſen wurde, mäßigte ſich damit auch die
bisherige Eile der Flottenrüſtungen. Sie verfielen in ein lang-
ſameres Tempo, und um ſo mehr, als mit dem Einſetzen einer
deutſchen Centralgewalt und der Schaffung eines Reichsmini-
ſteriums auch die Angelegenheit der deutſchen Flotte aus den
Händen des Hamburger Comité’s in die des neuen Reichs-
miniſteriums überging, wenngleich dieſes Uebergangsſtadium
mehrere Monate beanſpruchte und erſt im October been-
det war.


Anfang October wurden die Schiffe der Hamburger Flo-
tille von einer Reichscommiſſion, der auch ein engliſcher Marine-
Ingenieur angehörte, behufs Uebernahme auf ihren Zuſtand
unterſucht, jedoch fiel der Bericht nicht ſehr glänzend aus. Der-
ſelbe hob hervor, daß die „Deutſchland“ nicht fünf Minuten
lang dem Angriffe der Breitſeite einer ſchweren Corvette zu
widerſtehen vermöge. Der „Franklin“ wurde überhaupt nach
jeder Richtung als zu ſchwach für ein Kriegsſchiff gefunden, von
ſeiner Uebernahme deshalb von vornherein abgeſehen und das
Fahrzeug mit Dank ſeinem patriotiſchen Eigenthümer Sloman
zurückgegeben.


Die drei Dampfcorvetten ſtellten ſich ebenfalls als ſehr
mangelhaft heraus. Die Commiſſion befürwortete nur deshalb
ihre Uebernahme, weil bereits ſo viel Geld dafür verausgabt
war und der eingetretene Waffenſtillſtand ſie während des Win-
ters ſo umzubauen und zu verſtärken erlaubte, daß ſie im näch-
ſten Frühjahre ziemlich kriegstüchtig ſein konnten.


[153]Die deutſche Marine 1848—1852

So gingen denn im October 1848 die Anfänge der deut-
ſchen Flotte, die allerdings noch vieles zu wünſchen übrig ließen,
in den Beſitz des Reiches über. Die ſchwarzrothgoldene Flagge
mit dem Reichsadler entfaltete ſich an ihren Gaffeln und der
Gedanke deutſcher Seemächtigkeit ſchien ſich ſeiner Verwirklichung
nähern zu wollen. Daß dies vorläufig nur ein frommer Wunſch
bleiben, daß der eingeſetzten Centralgewalt nicht ſehr bald die
definitive Geſtaltung einer einheitlichen ſtarken Reichsregierung
folgen würde, glaubten damals noch Wenige befürchten zu müſſen.


Im Reichsminiſterium befand man ſich indeſſen der zu-
künftigen deutſchen Flotte gegenüber in nicht geringer Verlegen-
heit. Es war Niemand da, der auch nur das geringſte Ver-
ſtändniß von der Organiſation einer Marine gehabt hätte, und
doch verlangte das Volk, daß beim Wiederausbruch des Krieges
im nächſten Frühjahre die ſchwarzrothgoldene Flagge dem Danne-
brog auf dem Meere entgegentreten und ihn von unſeren Küſten
verjagen ſollte. Man forſchte im In- und Auslande nach ge-
eigneten Perſönlichkeiten, namentlich deutſcher Nationalität, denen
man die Marineangelegenheiten übertragen könne, allein lange
Zeit vergebens. Der öſterreichiſche Admiral Sourdeau, den man
zuerſt im Auge hatte, antwortete nicht einmal auf das deshalb
an ihn gerichtete Schreiben des Reichsminiſters Schmerling,
ſeines Landsmannes, ein Umſtand, der durchblicken ließ, wie
Oeſterreich ſich zum zukünftigen deutſchen Reich zu ſtellen beab-
ſichtigte. Nordamerika, der einzige auswärtige Staat, der über-
haupt die deutſche Centralgewalt anerkannte, war geneigt, einen
höheren Marineofficier nach Frankfurt zu ſenden, aber darüber
mußten, wegen der Entfernung, noch Monate vergehen, während
es nöthig war, daß Jemand ſofort die Angelegenheit in die
Hand nahm, um die einleitenden Schritte zu thun.


Der Bremer Großkaufmann Duckwitz war als Reichs-
Handelsminiſter berufen. Weil er ſich als Bremer natürlich
lebhafter für Schiffahrtsangelegenheiten intereſſirte und man ihm
[154]Werner
auch mehr Kenntniß nautiſcher Dinge zutraute, als den übrigen
Miniſtern, ſo wurde ihm die Marine übertragen. Es fiel ihm
eine ſchwere, undankbare Aufgabe zu; aber er unterzog ſich der-
ſelben mit patriotiſcher Hingebung und die Gerechtigkeit erfordert,
anzuerkennen, daß er trotz der großen entgegenſtehenden Schwie-
rigkeiten in der kurzen Zeit ſeiner Amtsführung (bis Mai 1849)
ungemein viel geſchaffen und der deutſchen Marine eine Grund-
lage gegeben hatte, die ſich, wenn es erſterer vergönnt geweſen,
ſich darauf emporzubauen, als eine gute und ſolide bewährt
haben würde.


Duckwitz erinnerte lebhaft an jene alten Patriciernaturen,
wie ſie uns in der ruhmvollen Geſchichte der Hanſa ſo glänzend
entgegentreten; vornehme Männer, aber practiſche kluge Kauf-
leute, zugleich gewiegte Diplomaten und wenn es ſein mußte,
tapfere und geſcheite Heerführer zu Waſſer und zu Lande, die
zu ſiegen oder zu ſterben wußten, ſtets und überall als leuch-
tendes Beiſpiel vorangehend und auf jedem Poſten, den das
Vertrauen ihrer Mitbürger ihnen übertrug, Großes leiſtend.


Als Hauptaufgabe betrachtete der neue Marineminiſter die
Heranziehung von ſachkundigen Männern, welche bei der Or-
ganiſation mitwirken konnten. Er wandte ſich zunächſt an den
Geſandten der Vereinigten Staaten und erhielt bei deren freund-
lichen Geſinnungen für Deutſchland auch ſogleich bereitwillige
Zuſage für die Sendung eines hervorragenden Marineofficiers.
Sein zweiter Schritt war durch Vermittlung des Erzherzog-
Reichsverweſers den Prinz Adalbert von Preußen zu einer thäti-
gen Theilnahme an dem Organiſationswerke zu vermögen.


Dieſer ritterliche Hohenzoller hatte ſeit ſeiner früheſten
Jugend das größte Intereſſe für Marineangelegenheiten an den
Tag gelegt und ſich nicht nur mit dem Studium derſelben auf
das eingehendſte beſchäftigt, ſondern war, wo ſich ihm irgend die
Gelegenheit bot, bemüht geweſen, das Seeweſen nach allen Rich-
tungen auch practiſch kennen zu lernen. Sein Enthuſiasmus
[155]Die deutſche Marine 1848—1852
für das letztere war ſo groß, daß er als funfzehnjähriger Knabe
von Stralſund aus mit einem Vertrauten auf eigene Fauſt in
einem größeren Segelboote eine Seereiſe nach Schweden unter-
nommen haben ſoll, ſo daß die Eltern durch ſein ſpurloſes Ver-
ſchwinden in die größte Trauer verſetzt wurden, bis er durch
ſeine Rückkunft die Beſorgniſſe zerſtreute und ſich Verzeihung
für ſeine Eigenmächtigkeit erwirkte. Einige Jahre ſpäter er-
hielt der junge Prinz die Erlaubniß, eine längere Seereiſe auf
einer ſardiniſchen Fregatte nach Braſilien und zurück zu machen.
Dadurch gewann er einen genauen Einblick in das Kriegsſchiffs-
weſen, und bei ſeinen hervorragenden Geiſtesgaben konnte es nicht
fehlen, daß er ſich das Verſtändniß deſſelben völlig zu eigen
machte. Er war in Deutſchland der einzige Mann, der ein
competentes Urtheil in Marineſachen beſaß und bei Begründung
einer deutſchen Flotte konnte deshalb nichts erwünſchter ſein, als
den Prinzen, deſſen Specialwaffe die Artillerie war, mit welcher
die Marine als Waffe vornehmlich zu rechnen hatte, an ihrer
Spitze zu ſehen; nur ließ ſich für die Verwirklichung dieſer
Idee leider ſehr ſchwer eine Form finden.


Als königlicher Prinz konnte er weder ſelbſt Miniſter ſein,
noch irgend eine amtliche Stellung unter einem Miniſter beklei-
den. Guter Rath war theuer, jedoch gelang es dem findigen
Geiſte des Marineminiſters auch dieſe Schwierigkeit glücklich zu
beſeitigen und in Uebereinſtimmung mit dem Prinzen, der mit
Freuden bereit war, ſeine Kräfte dem Vaterlande zu weihen,
dem Letzteren bei Geſtaltung der Marine eine entſprechende Mit-
wirkung zu ſichern.


Duckwitz reichte unter dem 30. October 1848 dem Erz-
herzog-Reichsverweſer einen Vorſchlag ein, bis zur definitiven
Geſtaltung der Reichsgewalt, die man damals noch in nicht zu
ferner Zeit als beſtimmt vorausſetzte, zwei Behörden zu bilden,
welche befähigt und befugt ſeien, ſolche Vorbereitungen und Ein-
leitungen zu treffen, daß die definitive Organiſation der Marine
[156]Werner
mit der der Reichsgewalt zugleich in’s Leben treten könne. Dieſe
Behörden waren eine Marine-Abtheilung und eine techniſche
Marine-Commiſſion.


Die aus einigen Räthen und Schreibern beſtehende Marine-
Abtheilung ſollte unter Verantwortlichkeit des Miniſters das
Rechnungsweſen und die Verwaltung beſorgen, wozu auch der
Ankauf von Schiffen und Material gehörte, der jedoch nicht
ohne Billigung der techniſchen Commiſſion erfolgen durfte.


Als Aufgaben der letzteren wurden dagegen hauptſächlich
die nachſtehenden bezeichnet:


  • 1) Gutachtliche Aeußerungen über techniſche Fragen.
  • 2) Anträge an die Marine-Abtheilung bezüglich Kauf oder
    Bau von Schiffen ꝛc.
  • 3) Unterſuchung der deutſchen Häfen zu Kriegszwecken be-
    hufs Anlegung von Arſenalen, Werften ꝛc.
  • 4) Ausarbeitung eines Planes für die deutſche Marine
    und die künftige Geſtaltung der Marinebehörden.

Der Erzherzog-Reichsverweſer genehmigte dieſe Anträge,
und damit war der richtige Weg eingeſchlagen, um dem zum
Vorſitzenden der techniſchen Commiſſion ernannten Prinzen Adal-
bert von Preußen einen maßgebenden Einfluß auf die zukünftige
Geſtaltung der deutſchen Flotte üben zu laſſen und ſeine reich-
haltigen maritimen Kenntniſſe zu ihren Gunſten zu verwerthen,
ohne durch ſeine exceptionelle Stellung als königlicher Prinz be-
hindert zu ſein.


Inzwiſchen hatte man noch andere höhere Marineoffi-
ciere, davon zwei geborne und einen naturaliſirten Deutſchen
ermittelt und Duckwitz ſie zum Eintritt in die techniſche Com-
miſſion bewogen. Es waren dies der in griechiſchen Dienſten
befindlich geweſene Kapitän Brommy oder Bromme, ein gebor-
ner Leipziger, der Kapitän Donner, früher in däniſchen, damals
in ſchleswig-holſteiniſchen Dienſten und der Kapitänlieutenant
Schröder, von Geburt ein Holländer, ſeit einigen Jahren aber
[157]Die deutſche Marine 1848—1852
als Director des preußiſchen Navigationsſchulweſens in preußiſchen
Dienſten ſtehend. Außerdem wurden aus dem Marineausſchuß
der Nationalverſammlung noch General v. Radowitz, Major Tei-
chert und einige andere Perſönlichkeiten, ſo wie der engliſche Marine-
Ingenieur Morgan, der Major von Wangenheim, der öſterreichi-
ſche Oberſt von Kudriaffsky und endlich die Waſſerbaudirectoren
Hübbe und Blome der Commiſſion beigegeben, ſo daß in ihr
Seeofficiere, Infanterie, Artillerie und Waſſerbau ſich vertreten
fanden und ſie leiſten konnte, was unter den obwaltenden Ver-
hältniſſen möglich war.


In die Marine-Abtheilung berief Duckwitz als Räthe Kerſt
und Jordan ſo wie ſpäter noch den hannoverſchen Hauptmann
Marcard. Kerſt war mit Marineangelegenheiten von früher her
ſchon etwas vertraut, da er als Artillerieofficier auf einem braſi-
lianiſchen Kriegsſchiffe einen achtmonatlichen Krieg gegen Buenos-
Ayres mitgemacht hatte. Auf Jordan wurde Duckwitz durch
das rege Intereſſe aufmerkſam, welches jener im Marineausſchuß
für die Flottenangelegenheiten an den Tag legte. Jedenfalls be-
wieſen die nachherigen Leiſtungen dieſer beiden Männer, welche
nach dem Rücktritt von Duckwitz als die Seele der Marinever-
waltung gelten konnten, daß der letztere mit ihrer Wahl einen
ſehr glücklichen Griff gethan hatte.


Jede der beiden neugeſchaffenen Behörden widmete ſich mit
vollſtem Eifer ihren Aufgaben und war bemüht, ihren Wirkungs-
kreis, ihre Beziehungen nach außen und unter ſich, ſo wie den
Geſchäftsgang feſtzuſtellen. Dabei traten nun zwar ſogleich große
Mängel in der getroffenen Organiſation zu Tage, aber der gute
Wille beſeitigte bald alle vorhandenen Schwierigkeiten. Das
Hauptaugenmerk richtete man auf die Beſchaffung von brauch-
baren Streitmitteln, um beim Wiederausbruch des Krieges den
Dänen wirklich entgegentreten zu können.


Es wurden deshalb zunächſt die nothwendigen Umbauten
der Schiffe der Hamburger Flotille angeordnet und auch ſo ge-
[158]Werner
fördert, daß wenigſtens die beiden Dampfer „Hamburg“ und
„Lübeck“ im April 1849 ſee- und kriegsbereit waren. Mit
der „Bremen“ dauerte es einige Monate länger, weil es ſich
herausſtellte, daß auch deren Dampfkeſſel einer Erneuerung be-
durfte. Von einer activen Verwendung der „Fregatte“ Deutſch-
land wurde jedoch abgeſehen. Die techniſche Commiſſion gewann
ſehr bald die Ueberzeugung, daß ſie als Kriegsſchiff im Ernſt-
falle und als Gegner von däniſchen Linienſchiffen und Fregatten
völlig unzulänglich ſei. Man nahm ihr deshalb ſpäter die
Ueberzahl der Geſchütze, mit der ſie ausgerüſtet war, und be-
ſtimmte ſie zum Schulſchiffe für die Kadetten oder Seejunker,
wie erſtere in der deutſchen Marine hießen, wozu ſie ſich aller-
dings ſehr gut eignete.


Ein weiterer Schritt des thatkräftigen Duckwitz war die
auf Vorſchlag der Commiſſion erfolgende Beſchaffung von mehr
Schiffen. Da in Deutſchland alle Vorausſetzungen dafür fehlten,
konnte dies natürlich nur im Auslande geſchehen, obwohl dem
Reichsminiſterium von beſchränkten Localpatrioten Vorwürfe ge-
nug gemacht wurden, daß das Geld nicht im Lande bliebe.
Man richtete die Blicke auf Nordamerika und England. Beide
Länder beſaßen eine Reihe von großen Poſtdampfern, die nach
den beſtehenden Landesgeſetzen gleich ſo gebaut werden mußten,
daß ſie bei Ausbruch eines Krieges mit geringen Aenderungen
als Kriegsſchiffe gebraucht werden konnten. Es wurde deshalb
beſchloſſen, drei ſolcher großer Schiffe anzukaufen und drei
andere, eine große und zwei kleinere Dampfcorvetten, in England
in Bau zu geben, deren Fertigſtellung man bis zum Juni 1849
contrahiren wollte.


Man entſandte ſofort die nöthigen Techniker nach England,
und dieſe kauften noch vor Schluß des Jahres die beiden der
Cunard-Linie gehörigen und zu Dampffregatten geeigneten trans-
atlantiſchen Poſtſchiffe „Britannia“ und „Acadia“, ebenſo wie
ſie den Contract zum Bau von einer größeren und zwei kleine-
[159]Die deutſche Marine 1848—1852
ren Dampfcorvetten, alle drei zum Juni 1849 lieferbar, ab-
ſchloſſen. Eine dritte ſehr große Dampffregatte, die United
States,
wurde in New-York angekauft. Auf Erſuchen der Reichs-
regierung geſtattete der nordamerikaniſche Marineminiſter nicht
nur, daß ein Officier der dortigen Marine den Umbau des
Dampfers zu einem Kriegsſchiffe leitete, ſondern auch, daß die
amerikaniſchen Arſenale alle Bedürfniſſe wie Geſchütze, Muni-
tion ꝛc. lieferten.


Mehr Vorſicht mußte bei den in England gekauften Schiffen
beobachtet werden, um nicht gegen die engliſchen Neutralitätsge-
ſetze zu verſtoßen, um ſo mehr, als die engliſchen Sympathien
nicht auf deutſcher, ſondern auf däniſcher Seite lagen. Da
„Britannia“ und „Acadia“ wegen der Eisverhältniſſe noch nicht
nach der Weſer abgehen konnten, wurden ſie, um keine Zeit zu
verlieren, in England im Innern für ihre zukünftige Beſtim-
mung umgebaut. So discret dies auch geſchah, blieb es dem
Auge der däniſchen Agenten nicht verborgen und Dänemark
ſetzte bei der engliſchen Regierung alle Hebel an, um den Ab-
gang der Schiffe zu hindern. Ehe jedoch jene die darauf
bezüglichen Befehle ertheilte, kam die Reichsregierung ihr dadurch
zuvor, daß die Schiffe Ende Februar 1849 Ordre erhielten,
ſofort nach der Weſer abzugehen. Sie hatten weder Geſchütze
noch Munition; die im Innern vorgenommenen Aenderungen
konnten ebenſogut anderen, als Kriegszwecken gelten; ihre Be-
ſatzung hatte eine normale Zahl und beſtand aus Engländern;
es vermochten deshalb die Behörden keinen legalen Grund für
die Zurückhaltung zu finden und mußten ſie ungehindert ziehen
laſſen.


So weit war alles gut gegangen, allein nun begann
eine Reihe von Unglücksfällen und Gegenſchlägen, die wohl ge-
eignet waren, einem weniger energiſchen Manne, als Duckwitz
es war, allen Muth zu nehmen. Zunächſt langte zwar die
„Britannia“ glücklich auf der Weſer an, aber die „Acadia“ nur mit
[160]Werner
ſchwerer Havarie. Durch Unkenntniß ihres engliſchen Lootſen
war ſie auf Terſchelling feſt gekommen, und man konnte es
als ein beſonderes Glück anſehen, daß ſie nicht gänzlich ver-
loren gegangen war. Ihre Beſchädigungen ſtellten ſich jedoch
als ſo bedeutend heraus, daß eine Grundreparatur nöthig wurde,
die ſich nur in einem Trockendock ausführen ließ. Docks von
einer Größe, um ſo lange Schiffe wie die „Acadia“ aufzunehmen,
beſaß Deutſchland damals noch nicht. Es mußte deshalb bei
Brake erſt ein ſolches proviſoriſch ausgegraben werden, und da-
mit war zugleich ausgeſprochen, daß die „Acadia“, jetzt in
„Erzherzog Johann“ umgetauft, während die „Britannia“ den
Namen „Barbaroſſa“ erhielt, vor Ablauf eines Jahres nicht
wieder ſeefertig gemacht werden konnte.


Das war ein höchſt unangenehmer Strich durch die Rech-
nung; aber mit deſto mehr Energie wurde nun an die Ein-
richtung und Ausrüſtung des „Barbaroſſa“ gegangen. Man
wollte wenigſtens dies Schiff rechtzeitig fertig ſtellen, doch auch
hier ging alles quer. Geſchütze, Munition und die ſonſtige in
England beſchaffte Kriegsausrüſtung für „Barbaroſſa“ und
„Erzherzog Johann“ waren in einem Segelſchiffe verladen, das
im Februar nach der Weſer abging, aber, durch Havarie ge-
zwungen, wieder nach England zurückkehren mußte. Nun ver-
packte man die Gegenſtände in drei andere Schiffe, aber als
dieſe ſegelfertig waren, hatten die Dänen wieder die Blockade
der deutſchen Küſten eröffnet. Trotzdem erreichten zwei der
Schiffe noch mit Noth ihre Beſtimmung, während das dritte
nach England zurückging. Hier wurden die Sachen abermals
gelöſcht und dann über Oſtende nach Bremerhafen geſchickt, ſo
daß faſt der Monat Mai darüber hinging, bis endlich die Ein-
richtung des „Barbaroſſa“ vollendet werden konnte.


Mußten dieſe Gegenſchläge ſchon höchſt niederdrückend wir-
ken, ſo war die Enttäuſchung, welche Duckwitz mit Bezug auf
die faſt ſicher erhoffte Acquiſition fremdländiſcher Marineofficiere
[161]Die deutſche Marine 1848—1852
erfuhr, noch bei weitem ſchmerzlicher. Wie oben bemerkt, hatte
er ſich gleich bei Antritt ſeines Amtes an den Präſidenten der
Vereinigten Staaten von Nordamerika wegen Entſendung eines
höheren Marineofficiers nach Frankfurt gewandt. Dieſem Wunſche
war auch auf das Bereitwilligſte entſprochen worden und der
Commodore Parker traf Ende Januar in Frankfurt ein, nicht
allein, um bei der Organiſation der deutſchen Flotte werth-
vollen Rath zu ertheilen, ſondern auch im Auftrage des Präſi-
denten nach den beſonderen Wünſchen der deutſchen Centralge-
walt und danach zu fragen, wie viel Officiere der amerikani-
ſchen Marine, von welchem Range, auf wie lange Zeit und
unter welchen Bedingungen dieſelben verlangt würden.


Somit konnte der Reichsmarineminiſter nicht anders an-
nehmen, als daß Deutſchland über den ſchwierigſten Punkt bei
Gründung einer Marine, über die Officiersfrage glücklich fort
ſei. Nach eingehender Berathung mit Commodore Parker
wünſchte Duckwitz vierzig Officiere verſchiedener Grade, darunter
einen Commodore, der als Contreadmiral in deutſche Dienſte
und an die Spitze der Marine treten ſollte, ſowie einen Marine-
ſchiffbau-Ingenieur von Ruf. Wenn es nicht auf länger mög-
lich ſei, wurde ihre Dienſtleiſtung auf neun Monate erbeten und
ihnen Gehalt, ſowie eventuell Penſion nach amerikaniſchen Sätzen
zugeſichert.


Dieſen Antrag hatte Duckwitz am 25. Januar 1849 *
ſchriftlich an Parker gerichtet und zwar mit deſſen vorbehaltlicher
Zuſtimmung. Er durfte deshalb wol mit Recht die baldige
und ſichere Ankunft der gewünſchten Officiere erwarten. Wie
niederſchmetternd war aber die Erfahrung, als ſtatt der Offi-
R. Werner, Erinnerungen. 11
[162]Werner
ciere durch den deutſchen Geſandten in Waſhington, von Rönne,
die ihm amtlich mitgetheilte Abſchrift eines Berichtes vom
Commodore Parker einging, den dieſer am 24. Januar, alſo
einen Tag vor Entgegennahme des von Duckwitz verfaßten und
mit ihm verabredeten Antrags, an ſeinen Marineminiſter Maſon
eingereicht hatte.


In dieſem Berichte wurde die deutſche Flotte höchſt abfällig
beurtheilt. Es ſei bis jetzt nur ſehr wenig geſchehen, hieß es
darin, und nicht einmal Geſetze über die Marine ſeien erlaſſen
worden. Dann wurden die geringen Streitkräfte Deutſchlands
im Gegenſatze zur däniſchen Seemacht aufgezählt, die Parker in
höchſt übertriebener Weiſe auf 1035 Kanonen mit 9755 Mann
berechnete. Er erwähnte dabei unter anderen fünf Linienſchiffe
mit je 84 Kanonen, die allerdings in der däniſchen Marine-
liſte auf dem Papier figurirten, von denen aber nur eins, der
ſpäter bei Eckernförde in die Luft geflogene Chriſtian VIII. als
dienſttauglich in Betracht kommen konnte.


„Ich ſehe,“ fährt Parker dann in ſeinem Berichte fort,
„daher kein Feld, auf welchem amerikaniſche Officiere Ehre für
ſich oder ihr Land gewinnen könnten. Bei dieſer Sachlage
ſcheint es mir unweiſe zu ſein, daß amerikaniſche Officiere irgend
etwas mit Deutſchland zu thun haben, bis die Centralgewalt
definitiv errichtet iſt, es ſei denn im Wege des guten Rathes.“


Mit Recht ſagt Duckwitz über dieſes Schreiben: „Herr
Parker iſt alſo von der Anſicht ausgegangen, daß nur in dem
Falle amerikaniſche Officiere in unſere Dienſte treten könnten,
wenn unſere Flotte eben ſo groß wäre, wie die däniſche. In
dieſem Falle würden wir aber amerikaniſcher Officiere nicht be-
dürfen. Es handelte ſich grade um Bildung der Anfänge einer
Flotte; nur zu dieſer fehlten uns die Officiere und die Organi-
ſatoren.“


Mit Bezug auf den Mangel an Geſetzen über die Marine
hatte Parker freilich Recht und war dies nur eine Conſequenz
[163]Die deutſche Marine 1848—1852
der zerfahrenen deutſchen Verhältniſſe. Man wartete von Woche
zu Woche auf eine definitive Geſtaltung des Reichs und damit
auch auf die Emanirung der betreffenden Geſetze über Wehr-
pflicht, Rang- und Soldverhältniſſe, Invalidenverſorgung u. ſ. w.
Nach dieſer Richtung ließ ſich deshalb gegen ſeinen Bericht
nichts einwenden, nur war das Benehmen Parkers ſelbſt in
Behandlung der Angelegenheit durchaus kein loyales und hätte
eine härtere Beurtheilung verdient, als Duckwitz ihm zu Theil
werden ließ.


Eine weitere höchſt unangenehme Folge des Berichtes war
noch der verzögerte Abgang der „United States.“ Die Regie-
rung in Waſhington ſtellte ſich nämlich jetzt plötzlich auf den
Standpunkt ſtricter Neutralität. Die Erlaubniß, den Kriegsbe-
darf des Schiffes aus dem Arſenal der Marine zu beziehen,
wurde zurückgenommen und ſo mußten alle Gegenſtände auf
Privatwege beſchafft werden. Außerdem wurde auch noch der
Abgang des Schiffes überhaupt beanſtandet und nach langen
Verhandlungen nur gegen eine Bürgſchaft von 300,000 $ ge-
ſtattet, um eine Garantie zu haben, daß das Schiff keinen feind-
ſeligen Act gegen eine mit Nordamerika in Frieden befindliche
Nation beginge.


Alles dies hatte ſo viel Zeit in Anſpruch genommen, daß
die „United States“ (ſpäter in „Hanſa“ umgetauft) nicht zur
beſtimmten Zeit eintreffen konnte. Anfänglich war der Termin
ihrer völligen Fertigſtellung und ihres Abganges auf den 15.
Mai verabredet worden und das Schiff ſollte dann, vollſtändig
kriegsmäßig eingerichtet, aber als Handelsſchiff mit Geſchützen
und Munition als Ladung, ſowie mit der vollen Beſatzung und
den erwarteten vierzig Officieren als Paſſagiere, nach Deutſch-
land abgehen und noch vor Ende des Waffenſtillſtandes dort
eintreffen. Dieſer Plan war nun vereitelt. Die „Hanſa“ ging
zwar im April von Amerika ab, kam aber nur bis England,
weil inzwiſchen wieder die Blockade eingetreten war. Deutſch-
11*
[164]Werner
land gelangte erſt im Spätherbſt 1849 in den wirklichen Beſitz
des Schiffes.


Das war viel Unglück auf einmal, aber es kam noch ande-
res hinzu, um die gehegten Hoffnungen auf ein zum Frühjahr
kriegsbereites deutſches Geſchwader gründlich zu zerſtören.


Die preußiſche Regierung weigerte ſich, den Anträgen der
Centralgewalt Folge zu leiſten und ihre Poſtdampfſchiffe
„Preußiſcher Adler“ und „Eliſabeth“ zur Dispoſition zu ſtellen
und gab außerdem die Erklärung ab, daß die ihr gehörigen
Kriegsſchiffe und Kanonenboote nicht die ſchwarzrothgoldene,
ſondern die preußiſche Flagge führen würden. Das war wol
der härteſte Schlag, den die junge deutſche Flotte empfing und
ſah einem Todesſtreich erſchreckend ähnlich.


Auf materiellem Gebiete ſtellten ſich die Sachen nicht
günſtiger.


Die von der Nationalverſammlung für Gründung einer
Flotte bewilligten ſechs Millionen Thaler ſollten in zwei Raten,
am 1. October 1848 und am 1. Mai 1849 eingezahlt werden.
Oeſterreich weigerte jedoch überhaupt Zahlung; Bayern, Sach-
ſen, Luxemburg und Limburg blieben im Rückſtande. Ebenſo
behielt Preußen ſeine zweite fällige Rate zur Deckung der Koſten
für die 1848 übernommene Geſtellung von 39 Kanonenbooten
ein. Die letzteren waren fertig, aber wie Preußen die Führung
der deutſchen Flagge verweigerte, hielt es auch die Kanonenboote
von der Reichsflotte und für ſich zurück.


So ſchmolzen die bewilligten ſechs Millionen auf 2½ Mil-
lionen zuſammen und die Marineverwaltung, welche bereits drei
Millionen verausgabt, befand ſich im Mai mit einer halben
Million im Vorſchuß, die vorläufig aus anderen Fonds ent-
nommen wurden. Die geſammten freiwilligen Beiträge
Deutſchlands hatten noch nicht einmal die Höhe von 100,000
Thalern erreicht.


Daß unter ſolchen Umſtänden die leitenden Perſönlichkeiten,
[165]Die deutſche Marine 1848—1852
vor allem aber Duckwitz, auf deſſen Schultern die ganze Ver-
antwortung ruhte, nicht alle Luſt verloren, ſondern mit unge-
brochenem Muthe weiter arbeiteten, beweiſt mehr als alles andere
ihren Patriotismus, ihre Thatkraft und Selbſtloſigkeit.


Neben dem Ankauf und contrahirten Bau von größeren
Kriegsſchiffen hatte die Reichsmarineverwaltung aber auch die
Küſtenvertheidigung in’s Auge gefaßt und war mit derſelben
ebenſo energiſch vorgegangen. Von der techniſchen Commiſſion
waren nebſt einer Anzahl von Küſtenbatterien auch achtzig Kano-
nenboote zum Küſtenſchutze als erforderlich erachtet worden.
Preußen hatte bereits den Bau von 39 Kanonenbooten, Schles-
wig-Holſtein den von zwölf eingeleitet. Einige ſolcher Fahrzeuge
wurden von Städten geſchenkt und der Reſt von der deutſchen
Marineverwaltung in Bau gegeben. Zum Frühjahr 1849
waren dieſe Boote bis auf die Armirung fertig.


Zur Lieferung der Geſchützrohre, ſowol für die Kanonen-
boote wie für die Küſtenbatterien waren auch deutſche Eiſen-
gießereien aufgefordert, um nach dieſer Richtung die Marine
vom Auslande unabhängig zu machen. Zwei derſelben, die
Fabrik von Frerichs u. Comp. in Rönnebeck und die Sayner
Hütte, erboten ſich zur Lieferung. Mit der erſten wurde con-
trahirt, außerdem mit einer Lütticher Fabrik. Die Laffetten gab
man in Hamburg auf und die preußiſche Regierung übernahm
die Lieferung von Geſchoſſen ꝛc. Die Lütticher lieferten recht-
zeitig und gut, die Rönnebecker dagegen nicht. Bei der erſten
Lieferung ſprangen beim Probeſchießen mehrere Geſchütze; es
mußte daher die ganze Lieferung caſſirt werden, weshalb ſich
die Schlagfertigkeit der Kanonenboote nicht zur beſtimmten Zeit
erreichen ließ.


Am 10. Februar 1849 waren von der techniſchen Com-
miſſion die ihr geſtellten Aufgaben vollendet und ſie löſte ſich
auf. Während ihrer faſt dreimonatlichen Thätigkeit hatte ſie
durch ihre Arbeiten auf dem Gebiete der Organiſation, durch
[166]Werner
die von ihr entworfenen Reglements und ihre Gutachten unge-
mein viel Gutes geleiſtet und dadurch der jungen Marine einen
feſten inneren Halt gegeben. Es waren Dienſtvorſchriften er-
laſſen, ein Geſchützexercirreglement ausgearbeitet, Beſtimmungen
über die Uniformirung gegeben und eine Disciplinar-Strafordnung
geſchaffen worden, die bis auf geringe Aenderungen, welche 1870
bei Reviſion der Militärſtrafrechtspflege gemacht wurden, noch
heute in der Reichsmarine gilt. Mit dem Auseinandergehen
der Commiſſion erwuchſen der Marineverwaltung jedoch neue
Schwierigkeiten.


Von den als ihre Mitglieder fungirenden Seeofficieren ging
Commodore Schröder in preußiſche, Kapitän Donner in ſchles-
wig-holſteiniſche Dienſte zurück, und ſo blieb als einziger wirk-
licher Seeofficier nur der Kapitän Brommy übrig. Wahrlich
ein ſchlimmeres Zuſammentreffen von ungünſtigen Umſtänden,
zu denen noch die gänzlich unſicheren politiſchen Zuſtände des
Reichs traten, konnte für die junge deutſche Marine kaum ge-
dacht werden. Sie war ein wahres Schmerzenskind und wurde
unter den trübſeligſten Verhältniſſen geboren.


Als Duckwitz die Marine im October übernahm, glaubte
ſelbſt er, der nüchterne, practiſche Mann, an eine ſehr baldige
definitive Geſtaltung der Reichsregierung. Statt deſſen zögerte
ſich dieſelbe von Monat zu Monat hin, und als das Miniſte-
rium Gagern und mit ihm Duckwitz Anfangs Mai 1849
zurücktrat, da hatte auch er wol ſchon längere Zeit allen Glau-
ben an ein einiges deutſches Reich verloren; aber bis zum letz-
ten Augenblicke verzweifelte er wenigſtens noch nicht an der
Marine. Er hoffte, daß wenn nur erſt eine Anzahl brauch-
barer Kriegsſchiffe angeſchafft, armirt, bemannt und damit ein
feſter Kern gegeben ſei, ſich das ſo ohne weiteres nicht wieder
fortwiſchen laſſe und daß ſich irgend eine Form finden werde,
die neue und vor allen Dingen ſo nöthige Waffe dem Vater-
lande zu erhalten. Deshalb ließ Duckwitz ſich durch keine
[167]Die deutſche Marine 1848—1852
Gegenſchläge entmuthigen, ſondern ſtrebte unbeirrt dem Ziele
zu, das er ſich geſteckt.


Es war inzwiſchen eine ſolche Maſſe Materials jeder Art
für die Marine beſchafft worden und bei Bremerhafen zuſammen-
gefloſſen, daß nothwendiger Weiſe eine beſondere Verwaltung da-
für in das Leben treten und ein Seezeugmeiſteramt für die
Nordſee geſchaffen werden mußte.


Die Organiſation dieſer Behörde konnte, als der Haupt-
ſache nach rein techniſcher Natur, nur durch einen dazu geeig-
neten Seeofficier geſchehen und ebenſo mußte ihr Chef wenigſtens
anfänglich ein Seeofficier ſein. Außer Kapitän Brommy war
kein ſolcher vorhanden und er im Miniſterium beſchäftigt. So
dringend erwünſcht aber auch ſein Verbleiben in dieſer Behörde
war, mußte dennoch die practiſche Seite vorgehen. Er wurde
deshalb von Duckwitz nach Bremerhafen geſandt, um nicht allein
die Seezeugmeiſterei zu organiſiren, ſondern auch das active
Commando über die ganze Marine zu übernehmen, Officiere
und Mannſchaften zu ſchulen, die letzteren zu discipliniren und
auch die Fertigſtellung der Schiffe zu betreiben.


Das Miniſterium mußte indeſſen für ſich ſelbſt ſorgen.
Kerſt und Jordan waren jedoch ſo gute Kräfte, gleich von vorn-
herein mit ſo gutem Willen an die Sache herangegangen und
hatten ſich ſo trefflich in ſie hineingearbeitet, daß alles glatt
ging und Brommy’s Fortgang nicht ſo empfunden wurde, wie
man anfangs gefürchtet. Für Brommy waren die ihm über-
tragenen Functionen nahezu erdrückend. Wenn er ſich denſelben
auch willig unterzog und ſie mit eben ſo großem Eifer wie Ge-
ſchick und Thatkraft in Angriff nahm, ſo konnte er doch allein
auf die Dauer das Geforderte nicht leiſten und es galt deshalb,
nachdem die Acquiſition amerikaniſcher Officiere ſo traurig ge-
ſcheitert, andere geeignete Kräfte zu des Seezeugmeiſters Unter-
ſtützung heranzuziehen.


Es gelang dies auch durch Engagement von ſechs älteren
[168]Werner
belgiſchen Seeofficieren, welche als Lieutenants zur See I. Claſſe
(Hauptmannsrang) in den Reichsdienſt traten. Ein glücklicher
Zufall wollte, daß Belgien grade zu jener Zeit ſeine Marine
als nutzlos und zu koſtſpielig für ein ſo kleines Land aufgab,
ſeine Seeofficiere penſionirte und dieſe als Privatleute nun ohne
weitere Schwierigkeiten in fremde Dienſte treten konnten. Die
Unſicherheit der deutſchen Verhältniſſe war für ſie von keiner
weiteren Bedeutung. Hatte die deutſche Marine keine Zukunft,
ſo gingen ſie einfach nach Belgien zurück, um ihre Penſion
weiter zu beziehen und ſie ſetzten deshalb nichts auf das Spiel.


Mit der Ankunft der Belgier, die außerdem den Vorzug
hatten, deutſch zu verſtehen und deutſches Commando führen zu
können, erhielt Brommy eine weſentliche Unterſtützung für alle
Commando-Angelegenheiten, während ſich auch für die Verwal-
tung der Seezeugmeiſterei allmälig tüchtiges Perſonal fand.
Namentlich war es der ſpäter an die Spitze dieſer Behörde be-
rufene damalige Oberlieutenant Weber, ein Darmſtädter, und
wie Brommy bisher in griechiſchen Dienſten, der es verſtand
ſich in überraſchend kurzer Zeit in die ihm übertragene neue
Stellung hinein zu arbeiten und die Seezeugmeiſterei auf eine
Stufe der Vollkommenheit zu bringen, die wenig zu wünſchen
übrig ließ.


So kam denn bald alles in das richtige Gleis und bei
dem im Allgemeinen herrſchenden guten Geiſte und dem feſten
Willen, die Sache vorwärts zu bringen, wurde in kurzer Zeit
ganz Außerordentliches geleiſtet und ſehr bald eine Ordnung in
allen Angelegenheiten geſchaffen, die wirklich muſterhaft genannt
werden konnte.


Schwierigkeiten gab es ja trotzdem noch genug zu über-
winden und eine der ſchlimmſten war die Mannſchaftsfrage.
Dieſelbe war in keiner Weiſe geregelt und wie bereits weiter
oben erwähnt, fehlte es an allen einſchlägigen Geſetzen. Statt
der erwarteten feſten Geſtaltung der Reichsverhältniſſe, welche
[169]Die deutſche Marine 1848—1852
jene Geſetze bringen ſollte, trat nur noch größere Zerfahrenheit
ein. Verſchiedene Staaten wollten gar nichts von der Marine
wiſſen und von einer Wehrpflicht für dieſelbe war keine Rede.
Ebenſo bedenklich ſtand es mit der Kriegsflagge. Ein einziger
Seeſtaat, Nordamerika, hatte die deutſche Centralgewalt aner-
kannt, alle übrigen nicht; deshalb war auch nur jenem eine
Mittheilung über die deutſche Kriegsflagge gemacht worden.


Da indeſſen die fertigen Schiffe bemannt werden mußten,
ſo ſchritt man zur Werbung. Bei der wegen der Blockade da-
nieder liegenden Schiffahrt waren Seeleute genug am Lande,
und da der Matroſe ein Kind des Augenblicks iſt und ſich
wegen ſeiner Zukunft keine große Sorge macht, ſo gelang es,
trotz mangelnder Geſetze über Invalidenverſorgung, allmälig ſo-
wol im Inlande wie in England die nöthige Zahl Matroſen
zur Beſetzung der fertigen oder in nächſter Zeit fertig werdenden
Schiffe anzuwerben, während auch ein kleiner Theil officiell von
Oldenburg geſtellt wurde, das ſich überhaupt echt deutſch und
der Marine wolgeſinnt zeigte.


Die Anwerbung von Marineſoldaten machte ſich dagegen
nicht ſo leicht. Der Verlegenheit half man jedoch dadurch ab,
daß durch die Einwirkung von Duckwitz eine Compagnie des
Bremiſchen Contingents zur Marine commandirt wurde und
den Dienſt der Seeſoldaten verſah.


Mit dem 1. April 1849 konnte man die Gründungs-
periode der deutſchen Marine ungefähr als abgeſchloſſen betrach-
ten. Es waren in den fünf Wintermonaten neun Kriegsdampf-
ſchiffe übernommen, gekauft reſp. in Bau gegeben und zwar
„Hanſa“, „Barbaroſſa“, „Erzherzog Johann“, „Ernſt Auguſt“,
„Oldenburg“, „Frankfurt“, „Hamburg“, „Bremen“ und „Lü-
beck“, ferner die Segelfregatte „Deutſchland“ und 27 Kanonen-
boote. Die Marine hatte eine Organiſation, die nothwendig-
ſten Reglements waren geſchaffen, die Verwaltung geordnet, die
ſeefertigen Schiffe mit einer vollen exercirten und disciplinirten
[170]Werner
Beſatzung verſehen. Der Mangel an wirklichen Seeofficieren,
welche als Lehrmeiſter dienen konnten, war durch die Belgier
gehoben; die deutſchen aus der Handelsmarine hervorgegangenen
Officiere füllten ihre Poſten voll aus, die Mehrzahl verſprach
ſehr bald tüchtiges zu leiſten und nur mit den Engländern, die
man mit den angekauften Schiffen übernommen hatte, war keine
glückliche Acquiſition gemacht.


Daß alles dies in der kurzen Zeit und trotz der oben
dargelegten Schwierigkeiten hatte in das Leben gerufen und
durchgeführt werden können, bleibt das unantaſtbare Verdienſt
von Duckwitz und Brommy.


Eine wirkliche Flotte, wie ſie die Majorität des deutſchen
Volkes in ihrer Unkenntniß maritimer Verhältniſſe verlangte,
konnten ſie allerdings nicht herzaubern, aber das Mögliche war
von ihnen vollbracht. Sie hatten eine ſolide Grundlage ge-
ſchaffen und dafür geſorgt, daß diejenigen Elemente vorhanden
waren, aus denen ſich eine Flotte aufbaut. Es iſt deshalb
nur eine Forderung der Gerechtigkeit, das Andenken dieſer
beiden Männer zu ehren, welche ſich voll einſetzten, um ein
großes nationales Werk zu ſchaffen. Daß dieſes Werk kein
bleibendes war, daß es ſchmachvoll untergehen mußte, war nicht
ihre Schuld und ſchmälert nicht ihren Ruhm. Ihnen hat wol
das Herz am meiſten dabei geblutet, als die deutſche Flotte
unter den Hammer kam.


Eine verdiente und ihn hochehrende Anerkennung für ſeine
Thätigkeit erhielt Brommy noch kurz vor dem Rücktritt des
Erzherzog-Reichsverweſers durch ſeine Ernennung zum Contre-
admiral, die von dem nachſtehenden Handbillet begleitet war:


„Unter den meiner Fürſorge anvertrauten Angelegen-
heiten hat die Gründung einer deutſchen Flotte meine Auf-
merkſamkeit ſtets in beſonderem Grade auf ſich gezogen.


Je größer die Schwierigkeiten und Hinderniſſe waren,
mit welchen die Ausführung dieſes Planes zu kämpfen hatte,
[171]Die deutſche Marine 1848—1852
deſto mehr mußte es mich freuen, daß die junge Flotte in
Ihnen, Herr Commodore Brommy, einen Chef gefunden
hatte, deſſen Umſicht und Energie ſo manche Schwierigkeiten
zu beſiegen wußte, für ſo manches Fehlende Erſatz leiſtete.


Ich will daher nicht aus meiner jetzigen Stellung ſchei-
den, ohne Ihnen einen beſonderen Beweis meiner Zufrieden-
heit mit Ihrer Ausführung zu geben und habe zu dieſem
Zwecke Sie unter heutigem Datum zum Contreadmiral ernannt.


Frankfurt, den 11. November 1849.


Der Reichsverweſer
gez. Erzherzog Johann.


Schließlich ſei noch kurz der Schleswig-Holſtein’ſchen Ma-
rine erwähnt, die zwar ſelbſtändig neben der deutſchen exiſtirte,
aber in gewiſſer Beziehung doch wieder einen Theil derſelben
bildete. Sie beſtand aus zwölf Ruder-Kanonenbooten, aus dem
Dampfer „Bonin“ — ein früheres Kauffarteiſchiff, das von
der Größe der Dampfcorvette „Hamburg“, wie dieſe umgebaut
und armirt war — und aus dem Schuner „Elbe“, der bei
Ausbruch des Krieges als däniſches Wachtſchiff bei Altona ge-
legen hatte und von den Schleswig-Holſteinern genommen war.


Die zwölf Kanonenboote bildeten das Contingent, welches
Schleswig-Holſtein auf Requiſition der Centralgewalt zum deut-
ſchen Küſtenſchutz ſtellte. Außerdem bauten die Herzogthümer
aber noch ein Dampfkanonenboot, „von der Tann“, und zwar
war dies das erſte dieſer Claſſe von Fahrzeugen, das über-
haupt conſtruirt wurde und anderen Marinen nach dieſer Rich-
tung den Weg zeigte. Während des Krimkrieges ſchufen Eng-
land und Frankreich Hunderte von dieſen Booten, einige Jahre
danach folgte auch Preußen, und damit wurden die bisher zum
Küſtenſchutz verwendeten Ruderkanonenboote aus der Welt ge-
ſchafft, welche einer ſehr großen Beſatzung bedurften, ungemein
langſam und ſchwerfällig in der Bewegung und nur in ſtillem
[172]Werner
Waſſer zu gebrauchen waren. Leider nahm der „von der Tann“
ein trauriges Ende. Im Jahre 1851 wurde er in der Neu-
ſtädter Bucht von einer däniſchen Fregatte gejagt und mußte ſich
vor der Uebermacht nach der Trave zurückziehen. Er konnte
dieſe jedoch nicht mehr erreichen, und um das Boot nicht in die
Hände des Feindes fallen zu laſſen, wurde es von ſeinem
Commandanten auf den Strand geſetzt und verbrannt.


Noch in einer anderen Hinſicht ging Schleswig-Holſtein
allen anderen Nationen voran: in der Vertheidigung der Häfen
mit Torpedos, die jetzt in der Seekriegführung eine ſo hervor-
ragende Rolle ſpielen. Am 24. März 1848 wurde die provi-
ſoriſche Regierung für Schleswig-Holſtein proclamirt. Am 26.
März brachte der däniſche Kriegsdampfer „Hecla“ die Schleswig-
Holſteiniſche Deputation nach Kiel zurück, welche dem König
von Dänemark die Wünſche der Herzogthümer vorgetragen hatte.
Dieſe Wünſche waren zurückgewieſen und damit der Krieg er-
klärt. Friedrichsort war verlaſſen und nicht befeſtigt. Da galt
es, den Hafen von Kiel gegen feindliche Angriffe zu ſchützen
und Profeſſor Himly, Chemiker an der Kieler Univerſität, machte
den Vorſchlag, dies durch Torpedos zu thun. Der Vorſchlag
wurde von der proviſoriſchen Regierung angenommen und Himly
legte im Fahrwaſſer in der Gegend der Düſternbrooker Badean-
ſtalt zwei ſolcher Waſſerminen. Die eine beſtand aus einem
Kautſchuckſack, die andere aus einer doppelten Tonne, beide
waren mit Pulver gefüllt. Die Zündung ſollte auf electriſchem
Wege, d. h. in der Weiſe geſchehen, wie es jetzt allgemein ge-
bräuchlich iſt, während z. B. die Ruſſen im Krimkriege noch
die weit unzuverläſſigere Contactzündung anwandten. Dabei
mußte das feindliche Schiff gegen den Torpedo ſtoßen und eine
Röhre zerbrechen, deren Säureinhalt ſich auf ein chemiſches Ele-
ment ergoß und die Zündung herbeiführte.


Die Lage der Himly’ſchen Waſſerminen war durch genaue
Viſirung feſtgeſtellt. Beim Paſſiren derſelben durch ein feind-
[173]Die deutſche Marine 1848—1852
liches Kriegsſchiff ſollten ſie auf ein betreffendes Signal geſprengt
werden. Ob ihre Wirkſamkeit den Erwartungen entſprochen hätte,
mag dahin geſtellt bleiben, jedenfalls erreichten die Torpedos
aber völlig ihren Zweck, denn die Dänen, welche davon gehört,
wagten ſich mit ihren Schiffen nicht innerhalb Friedrichsorts.


Noch für eine andere unterſeeiſche Vertheidigungs- reſp.
Angriffswaffe wurde Schleswig-Holſtein zu jener Zeit: das Ver-
ſuchsfeld für Taucherboote.


Bei dem 1848 in Holſtein eingerückten Bairiſchen Contin-
gent ſtand der durch ſeine ſubmarinen Erfindungen ſpäter be-
kannt gewordene Wilhelm Bauer als Unterofficier. Nach dem
Waffenſtillſtande von Malmö trat er in die Schleswig-Holſtei-
niſche Armee und kam hier zuerſt auf die Idee, ein Taucher-
ſchiff zu conſtruiren. Es gelang ihm, ſeine Pläne einigen ein-
flußreichen Leuten vorzulegen, und dieſe veranlaßten eine Begut-
achtung der Principien durch verſchiedene Kieler Profeſſoren.
Das Gutachten fiel günſtig aus und geſtützt auf daſſelbe wandte
ſich Bauer nun an die proviſoriſche Regierung der Herzogthümer,
welche jedoch erklärte, für dergleichen Projecte keine Mittel zu
haben. Als indeſſen darauf eine öffentliche Subſcription eine
namhafte Summe ergab, entſchloß ſich die Regierung, den zum
Bau eines ſolchen ſubmarinen Bootes erforderlichen Reſtbetrag
herzugeben.


Daſſelbe wurde nun in Kiel bei Schweffel und Howaldt
gebaut. Es war ungefähr 36 Fuß lang, mit einer Schraube
zur Fortbewegung verſehen und aus Eiſen conſtruirt. Nach
ſeiner Form war es unten ſcharf, oben etwas abgerundet; in-
wendig hatte es eine kräftige Pumpe und vorn oben eine
waſſerdichte Lucke, in der eine ſehr ſtarke Glasſcheibe eingeſetzt
war. Dieſe diente dazu, um ſowol Licht in das Boot zu
laſſen, als auch aus dem Boote nach außen ſehen zu können.
Unmittelbar neben der Luke befanden ſich zwei Guttaperchaärmel,
die nach außenbords mündeten, aber kein Waſſer in das Boot
[174]Werner
ließen. Durch dieſe Aermel ſollte ein Mann die Arme ſtecken,
um ein am Bug des Bootes feſtgeſchrobenes Exploſionsobject
zu löſen und an dem Kiel des feindlichen Schiffes zu befeſtigen.
Die bewegende Kraft war die von Menſchen; die Schraube
wurde mit den Händen durch eine Kurbel in Thätigkeit geſetzt.


Als das fertiggeſtellte Boot ſeine Probefahrt machen ſollte,
ging Bauer mit zwei Leuten hinein. Er ſchloß die waſſerdichte
Luke, öffnete ein Ventil im Boden, um durch Waſſerballaſt das
Boot zum Tauchen zu bringen, und es ſank. Danach wurde
die Pumpe probirt, und es gelang durch Auspumpen des
Waſſers das Boot wieder an die Oberfläche zu bringen. Bauer
rief den ihn begleitenden Booten zu, daß die Pumpen zu
ſchwach ſchienen, ſchloß dann aber die Luke wieder, ſetzte die
Probefahrt fort — und das Fahrzeug iſt nie wieder an das
Tageslicht gekommen.


Es war etwa elf Uhr Morgens, als Bauer zum zweiten
Male unter Waſſer ging. Die Fortbewegung mittels der Schraube
gelang, wenn auch nur in mäßiger Weiſe; doch die Pumpen
waren zu ſchwach, um das eingelaſſene Waſſer ſchnell zu be-
wältigen und das Boot ſank deshalb 40 Fuß tief bis auf den
Grund.


Bauer ſchien das Boot für eine ſolche Tiefe und den ſich
daraus ergebenden Waſſerdruck zu ſchwach conſtruirt zu haben.
Die Erbauer hatten ihn gleich beim Bau auf dieſen Umſtand
aufmerkſam gemacht, aber ohne daß er darauf Rückſicht genommen
hätte. In Folge dieſer Schwäche ſog das Fahrzeug ziemlich
Waſſer. Die Pumpe genügte nicht, daſſelbe zu entfernen, aber
der Waſſerdruck von außen beſchwerte auch die Luke der Art,
daß Bauer ſie nicht öffnen konnte. Seine Lage war eine un-
gemein kritiſche. Das eindringende Waſſer ſtieg immer höher;
von außerhalb war auf keine Rettung zu hoffen und ſo ſchien
das Schickſal der drei Leute beſiegelt.


Oben auf der Waſſerfläche hatte ſich inzwiſchen eine
[175]Die deutſche Marine 1848—1852
Menge Boote mit Zuſchauern angeſammelt, welche vergebens
auf das Wiedererſcheinen Bauers warteten und nach ſtunden-
langem Harren ihn als verloren betrachteten. Da endlich, um
drei Uhr Nachmittags, alſo vier volle Stunden nach dem Tauchen,
wurden plötzlich alle drei Leute mit einer ungemeinen Vehemenz
an die Oberfläche geſchleudert und von den wartenden Booten
aufgenommen. Ihre Rettung ſchien durch ein Wunder bewerk-
ſtelligt zu ſein, erklärte ſich aber durch die Compreſſion der Luft
in dem Boote. Letztere war durch das höher ſteigende Waſſer
allmälig immer gewachſen, bis ſie dem äußeren Waſſerdruck das
Gleichgewicht hielt. Dieſen Moment hatte Bauer wahrgenommen,
um die Luke zu öffnen und war dann mit den beiden Leuten,
die er mit großer Geiſtesgegenwart vorher zu dem Zwecke unter
der Luke richtig placirt, in die Höhe geſchleudert worden.


Das Experiment war an der zu ſchwachen Conſtruction
des Bootes und an der zu geringen Kraft der Pumpe geſchei-
tert. Dagegen hatte Bauer den Beweis geliefert, daß das Boot
ſich heben und ſenken konnte, daß es ſich fortbewegen ließ und
daß die Inſaſſen ohne Gefahr für ihre Geſundheit vier Stunden
unter Waſſer hatten aushalten können.


Wenn aber das Unglück auch nicht eingetreten wäre und
das Boot gut functionirt hätte, ſo würde ſein Nutzen doch höchſt
problematiſcher Natur geweſen ſein. Das anzugreifende Schiff
hätte zunächſt vor Anker liegen müſſen, um irgend eine Chance
des Gelingens zu bieten. Sodann erwuchs für das Boot aber
noch eine andere Schwierigkeit, die es aller Wahrſcheinlichkeit
nach nicht überwunden hätte.


Bei Nacht war ein Angriff ziemlich ausgeſchloſſen, da
man in dem Boote unter Waſſer nichts ſehen konnte. Bei
Tage hätte es aber ſchon in einer ſehr großen Entfernung von
dem Feinde tauchen müſſen, um gegen deſſen Schußwaffen ge-
ſichert zu ſein. Den richtigen Weg auf eine ſo weite Strecke
zu finden, war kaum möglich oder wenigſtens ſo unſicher, daß
[176]Werner
das Gelingen gänzlich vom Zufall abhängig blieb. Außerdem
kam endlich noch ein Umſtand in Betracht, an dem bisher alle
ſubmarinen Fahrzeuge geſcheitert ſind und gegen den auch das
Bauer’ſche Boot nicht geſichert war, die Innehaltung einer be-
ſtimmten Tiefe unter Waſſer. Bereits Fulton hatte im An-
fange dieſes Jahrhunderts zu demſelben Zwecke wie Bauer ein
ſubmarines Boot conſtruirt, mit dem er tauchte, einen Explo-
ſionskörper am Kiele eines alten dazu hergegebenen Schiffes
befeſtigte und es in die Luft ſprengte, aber es gelang ihm eben-
ſowenig eine beſtimmte Tiefe zu halten. Einem Mitte der
fünfziger Jahre in Cherbourg erbauten Taucherſchiffe „Plon-
geur“, von dem man ſich die großartigſten Erfolge verſprach, er-
ging es ebenſo.


Nur ein Mann hat bis jetzt dies Problem gelöſt, der Er-
finder der Fiſchtorpedos, Whitehead in Fiume, jedoch auch nur
für die Torpedos und ſelbſt für dieſe nicht einmal mit unbe-
dingter Sicherheit, da einzelne derſelben immer noch in den
Grund gehen und dort ſtecken bleiben. Ein äußerſt geringer
Einfluß, das Verbiegen irgend eines kleinen Gegenſtandes am
Torpedo, oder eine ſonſtige ganz unbedeutende Formveränderung
iſt im Stande, erſterem eine falſche Richtung zu geben und ihn
ſtatt in einer beſtimmten Tiefe grade aus, mit einer Curve nach
unten gehen zu laſſen.


Bauer hat ſpäter noch vielfach mit ſubmarinen Booten
ſowol in Deutſchland wie in Rußland experimentirt, aber es iſt
ihm nicht gelungen, etwas Zweckmäßiges zu ſchaffen. Es ſcheint
nach dem Mißlingen ſo vieler in dieſer Richtung unternomme-
ner Verſuche, als ob das ſichere Fahren unter Waſſer dem
Menſchen verſchloſſen bleiben ſoll.


[177]Die deutſche Marine 1848—1852

Bewegte Zeit.


Der Malmöer Waffenſtillſtand war abgelaufen. Das kleine
muthige Dänemark hatte ohne Furcht vor dem großen freilich
uneinigen Gegner den unterbrochenen Kampf und die Blockade
unſerer Küſten wiederaufgenommen. Wenn die deutſchen Ma-
rinebeſtrebungen ihm bis jetzt auch nicht gefährlich geworden
waren, ſo hatte es dieſelben thatſächlich doch nicht unberückſich-
tigt gelaſſen und ihnen dadurch wider Willen eine gewiſſe Be-
deutung und Anerkennung zugeſtehen müſſen. Es hatte für
nöthig befunden, ſeine bisherigen Seerüſtungen zu vermehren
und außer den vorjährigen Schiffen noch ein Linienſchiff und
einige Raddampfer mehr in Dienſt zu ſtellen, ſowie ſeine
Blockadeſchiffe vollzählig zu bemannen.


Anfang April 1849 zog Dänemark im Belt ein Geſchwa-
der zuſammen. Es beſtand aus dem erwähnten Linienſchiffe,
dem Zweidecker „Chriſtian VIII.“ von 84, aus der neuen, als
beſonderer Schnellſegler berühmten Fregatte „Gefion,“ von 48
Kanonen und aus den beiden mit je ſechs Geſchützen armirten
Raddampfcorvetten „Geyſer“ und „Hecla“. Den Oberbefehl über
die Schiffe führte der auf dem Geyſer eingeſchiffte Commandeur
Garde. „Chriſtian VIII.“ wurde vom Kapitän Paludan, die
„Gefion“ vom Kapitän Meyer commandirt. Die Beſatzungs-
ſtärke des Geſchwaders belief ſich auf ungefähr 1500 Mann;
ſeine Beſtimmung war, mit den däniſchen Landtruppen zu coope-
riren, die von den Schleswig-Holſteinern bei Eckernförde provi-
ſoriſch erbauten beiden Strandbatterien zu zerſtören und danach
im Rücken der nach Jütland vorgedrungenen deutſchen Truppen
Eckernförde ſelbſt zu beſetzen.


Am 4. April erſchienen gegen Abend plötzlich „Chriſtian
VIII.“ und „Gefion“ in der Mündung der Bucht und unter-
warfen die Ufer einer genauen Recognoscirung. Sie näherten
ſich jedoch den Schanzen und der Stadt nicht bis auf Schuß-
R. Werner, Erinnerungen. 12
[178]Werner
weite, ſondern kreuzten nach Erreichung ihres Zweckes gegen den
herrſchenden Oſtwind wieder aus der Bucht, um ſich draußen
mit den beiden wartenden Dampfſchiffen zu vereinigen.


Die Bewohner der Stadt geriethen natürlich in große Auf-
regung. Es war als gewiß anzunehmen, daß die Dänen am
andern Morgen wiederkehren und daß dann ein harter Kampf
bevorſtehen würde, deſſen Ausgang für Eckernförde verhängniß-
voll werden konnte und vorausſichtlich werden mußte. Die beiden
großen Schiffe führten zuſammen 132 Geſchütze ſchwerſten Ka-
libers und es ſtanden ihnen nur zwei kleine Erdwerke von zu-
ſammen zehn Geſchützen gegenüber.


Nach den bisherigen Erfahrungen von Schiffskämpfen
gegen Strandbatterien würden dieſe durch das feindliche
Maſſenfeuer vernichtet und dem Erdboden gleich gemacht werden,
und dann war auch Eckernförde verloren. Zwar wurde durch
den Herzog Ernſt von Coburg-Gotha, der den Oberbefehl
über die in und um Eckernförde ſtehenden deutſchen Streitkräfte
führte, noch eine naſſauiſche Feldbatterie herangezogen, aber was
bedeuteten ihre ſchwachen Sechspfünder gegen die gewaltigen
Feuerſchlünde der Schiffscoloſſe, und ebenſo wenig vermochte das
zum Schutze der Stadt beſtimmte Thüringiſche Infanteriebatail-
lon irgendwie das drohende Unheil abzuwenden.


Nach Zerſtörung der Schanzen konnten die Dänen, unter
dem Schutze ihrer Kanonen, eine beliebige Anzahl Truppen an
jedem ihnen convenirenden Punkte der Bucht landen. Die
Beſorgniß der Bevölkerung war deshalb nicht unbegründet,
wenngleich die braven Truppen das bange Gefühl der Stadt-
bewohner keineswegs theilten. Sie brannten im Gegentheil
vor Kampfbegier und konnten die Zeit nicht erwarten, um
ſich trotz ihrer Schwäche mit dem ſo gewaltig überlegenen Feinde
zu meſſen.


Am andern Morgen mit Tagesanbruch raſſelten Trom-
melwirbel in den Straßen der Stadt, deren geängſtigte Ein-
[179]Die deutſche Marine 1848—1852
wohner größtentheils gar nicht zur Ruhe gegangen waren. Es
ward Generalmarſch geſchlagen, die Infanterie eilte zu ihren
Sammelplätzen, die Kanoniere beſetzten ihre Schanzen. Die
nördliche wurde vom Hauptmann Jungmann, einem früheren
preußiſchen Artillerieofficier, die ſüdliche von dem Unterofficier
von Preußer, einem Schleswig-Holſteiner, befehligt; die Bedie-
nungsmannſchaften waren Schleswig-Holſteiner, deren größter
Theil erſt ſeit wenigen Monaten diente. Der Tag verſprach
ſchön zu werden. Der Himmel war unbewölkt, die Sonne ent-
ſtieg ſtrahlend dem Meere, der Oſtwind blies in die Bucht und
die lichtgrünen Wellen tanzten luſtig und von weißem Schaum
gekrönt in der friſchen Brieſe. Es war ein Bild des Friedens,
das ſich dem Blicke bot — doch wie bald ſollte es ſich wandeln
in wildes Kampfgewühl, wie bald ſollten die klaren Wogen ſich
röthen vom Blut und das goldne Antlitz der Sonne in ſchwar-
zem Pulverdampf ſich trauernd verhüllen!


Gegen ſechs Uhr Morgens ſah man die vier feindlichen
Schiffe am fernen Horizonte aus dem leichten Morgennebel
emportauchen. Die beiden Dampfer blieben im Eingange der
Bucht zurück; die Segler nahmen Curs auf die Stadt, „Chri-
ſtian VIII.“ leitete, „die Gefion“ folgte in ſeinem Kielwaſſer.
Stolz flatterte der Dannebrog im Winde und drohend blickten
die Geſchützrohre aus den Pforten. Näher und näher kamen
die beiden Schiffe, bange Stille herrſchte in der Stadt, auf
den Gemüthern lagerte es wie Gewitterſchwüle; in den Schan-
zen jedoch erwartete man muthigen Herzens und feſten Auges
den Feind, der unter vollen Segeln heranſteuerte.


Gegen ſieben Uhr hatte dieſer ſein Ziel erreicht und war
nur noch wenige Hundert Schritte von der Nordſchanze ent-
fernt. Da erkrachte es auf einmal, als ob die Erde ſich ſpalten
ſollte. Die zweiundvierzig Feuerſchlünde der Steuerbordſeite
des Linienſchiffes entluden ſich gleichzeitig, ein Hagel von Ge-
ſchoſſen ſauſte pfeifend und ziſchend gegen die Schanze und einige
12*
[180]Werner
Minuten ſpäter folgte, kaum weniger furchtbar, die Breitſeite der
„Gefion.“ Die Schlacht hatte begonnen, der eherne Tritt des
Kriegsgottes ließ die Luft erdröhnen und erfüllte die Herzen
der Zuſchauer mit bangem Schrecken. Jetzt bogen beide Schiffe
um, gaben der etwas weiter entfernten Südſchanze eine andere
Breitſeite und entzogen ſich dann für kurze Zeit in einer dichten
Wolke den angſterfüllten Blicken der Stadtbewohner.


Als der Wind den Pulverdampf verwehte, lagen ſie vor
Anker, „Chriſtian VIII.“ weiter ſüdlich, die „Gefion“ in Kernſchuß-
weite der Nordſchanze. Offenbar hatte man nicht anders ge-
glaubt, als daß die beiden Werke durch das Höllenfeuer vom
Erdboden vertilgt oder wenigſtens gänzlich kampfunfähig gemacht
worden ſeien, da ſie ſonſt wohl nicht ein ſo gewagtes Manöver
ausgeführt und mit auflandigem Winde an einer Stelle ſo tief
in der Bucht vor Anker gegangen wären, wo die Nähe des
Ufers ein nothwendig werdendes Unterſegel-Gehen ſehr erſchweren
mußte.


Bald ſahen die Dänen auch den gemachten ſchweren Fehler
ein. Beim Ankern war das Linienſchiff etwas getrieben und
dem Ufer ſo nahe gekommen, daß ſein Steuerruder bereits den
Grund berührte, und als ſich auch von den Schanzen die ſchwarze
Rauchwolke hob, da zeigten ſich dieſe zwar nicht unverletzt, ver-
ſchiedene ihrer Geſchütze waren beſchädigt, auch ihre Erdwälle
hatten gelitten — indeß keineswegs in dem Maße, wie die Dänen
in Ueberſchätzung ihrer Streitmittel erwartet.


Von den Bedienungsmannſchaften war Niemand gefallen,
nur ein kleiner Theil verwundet, und bald zeigten die tapferen
Kanoniere, daß Furcht und Muthloſigkeit, auch einer ſo gewalti-
gen Macht gegenüber, in ihrer Bruſt keinen Raum hatte. Ihre
Geſchütze ſpieen auf die kurze Entfernung Tod und Verderben
und riſſen in die dichtgedrängte Mannſchaft an Bord der Schiffe
furchtbare Lücken. Die Dänen kämpften verzweiflungsvoll; Lage
um Lage ſchmetterten ſie den Schanzen entgegen, aber es ſchien,
[181]Die deutſche Marine 1848—1852
als ob dieſe gefeit ſeien. Trotz der Tauſende von Geſchoſſen,
die ſie überſchütteten, wurden ſie weder zum Schweigen gebracht
noch eines ihrer Geſchütze dauernd außer Gefecht geſetzt. Gar
oft zwar wurde eines oder das andere getroffen, aber immer
gelang es, den Schaden wieder auszubeſſern und von Neuem
ſprühte es dem erſchreckten Feinde ſeinen tödtlichen Inhalt ent-
gegen.


Gegen elf Uhr hatte die „Gefion“ ſchon bedeutend gelitten;
ſie lag im Kreuzfeuer beider Batterien und ihre Todten und
Verwundeten beliefen ſich bereits auf ein Viertheil der Beſatzung.
Auf ein Signal von ihr kam der Geſchwaderchef Garde mit dem
„Geyſer“ in die Bucht hinein, um die Fregatte aus ihrer ver-
zweifelten Lage zu befreien. Schon befand ſich der Dampfer in
nächſter Nähe des unglücklichen Schiffes; es wurden Anſtalten
gemacht, um das Bugſiertau an Bord zu geben; wenige Minu-
ten länger und die „Gefion“ wäre gerettet geweſen — da ſchlug
eine aus der Nordſchanze kommende Kugel in den Radkaſten
des „Geyſer“ und vereitelte den Verſuch. Der Schuß war
von dem Gefreiten Wommelsdorf gegeben worden, er beſiegelte
das Schickſal der „Gefion“. Der „Geyſer“ war ſo beſchädigt, daß
er ſofort Kehrt machen und von dem „Hecla“ in’s Schlepptau
genommen werden mußte.


Kapitän Paludan gewann die Ueberzeugung, daß ſowol ſein
Schiff, wie die „Gefion“ verloren waren; Hauptmann Jungmann
hatte begonnen, mit glühenden Kugeln zu feuern und mehrere der-
ſelben waren nur mit großer Mühe aus dem Rumpf des
„Chriſtian VIII.“ zu entfernen geweſen. Paludan ließ deshalb
kurz nach zwölf Uhr die Parlamentärflagge aufziehen und ſandte
nach Einſtellung des Feuers einen Seeofficier mit der peremptori
ſchen Forderung an’s Land, ſofort die Schanzen zu räumen und die
beiden Schiffe ungehindert ziehen zu laſſen, widrigenfalls die Stadt
in Brand geſchoſſen werden würde. Doch die Botſchaft ver-
fehlte ihren Zweck; trotz der drohenden Form erklang es aus
[182]Werner
ihr wie ein letzter Schrei der Verzweiflung. Es mußte ſchlimm
mit den Schiffen ſtehen, wenn man einen völkerrechtswidrigen Act
in Ausſicht ſtellte, um ihren Abzug zu erzwingen. Die Bürger
von Eckernförde legten deshalb, ſelbſt auf die Gefahr hin, ihre
ſchutzloſe Stadt in einen rauchenden Trümmerhaufen verwandelt
zu ſehen, die Entſcheidung über die Forderung der Dänen in
die Hände der oberſten Militärbehörde, und ſahen reſignirt der
Zukunft entgegen.


Der Herzog von Coburg wies die Forderung entſchieden
ab und bewilligte Paludan nur eine zweiſtündige Waffenruhe,
die von beiden Seiten zur Ausbeſſerung der erlittenen Schäden
benutzt wurde. Dann begann der Kampf auf’s Neue und
heftiger als zuvor, aber das Geſchick wandte ſich immer ver-
hängnißvoller gegen die Dänen. Die Südſchanze feuerte eben-
falls mit glühenden Kugeln auf das Linienſchiff und weihte es
damit dem Verderben. Der Wind war etwas nördlicher gegangen,
und die „Gefion“ drehte der Preußerſchen Batterie mehr ihr Heck
zu. Infolge deſſen wurde ſie der Länge nach beſchoſſen und
verlor furchtbar an Menſchen; von ihren beiden hintern Ge-
ſchützen mähten die Kugeln der Südſchanze dreimal die Be-
dienungen nieder. Auch die Naſſauer Feldbatterie griff ver-
heerend mit ihrem Feuer ein, obwol ſie wegen des kleinen
Kalibers ihrer Geſchütze nicht ſo todtbringend wirkte, wie die
der beiden Schanzen.


Alle Bemühungen Paludan’s, um ſein Schiff wieder in
tieferes Waſſer zu bringen, blieben erfolglos. Er ſignaliſirte der
„Gefion,“ ihm ein Kabeltau zu ſchicken, um ſich damit vom Strande
abzuholen, dem der ſtets wachſende Oſtwind das Linienſchiff
immer näher gedrängt hatte. Das Boot mit dem Tau hatte
bereits den größten Theil des Wegs zurückgelegt, da wurde es
von einer Kugel aus der Südbatterie getroffen und ſank mit
ſeiner Laſt und ſeiner Bemannung in die Tiefe.


Auch der letzte Verſuch Paludan’s mißlang und das Un-
[183]Die deutſche Marine 1848—1852
glück heftete ſich immer drohender an ſeine Ferſen. Der Wind
war zwar ſtärker geworden, aber, wie bemerkt, etwas nach
Norden herumgegangen, ſo daß es möglich ſchien, mit dem
Schiffe abzukreuzen und das freie Fahrwaſſer der Bucht zu ge-
winnen. Unter dem heftigſten Feuer der deutſchen Batterien
wurden Segel geſetzt und die Ankerkette gelöſt, da wollte es
das böſe Geſchick der Dänen, daß auch dieſe letzte Hoffnung
vereitelt werden ſollte. Im hinterſten Maſte des „Chriſtian VIII.
waren Scharfſchützen poſtirt worden, um auf die Geſchütz-
bedienungen am Lande zu feuern. Namentlich wurde die ohne
Deckung zwiſchen Stadt und Nordſchanze aufgeſtellte Naſſauiſche
Feldbatterie unter Hauptmann Müller ſehr von ihnen beläſtigt.
Um ſich ihrer zu entledigen, ließ der Batteriechef ein Geſchütz mit
Kartätſchen laden und auf die Kreuzmars richten, wo jene ſtan-
den. Dieſer Schuß fiel gerade in dem Augenblicke, als das
Linienſchiff ſich vorwärts zu bewegen begann, und er war es,
der letzteres in die Gewalt der Deutſchen brachte. Die Kartät-
ſchen erfüllten nicht nur ihren Zweck, die Scharfſchützen zu ver-
treiben, ſondern ſie zerriſſen auch verſchiedene wichtige Taue
und Segel. Dadurch verlor das Schiff ſeine Segel- und
Steuerkraft, drehte infolge deſſen mit dem Vordertheile ver-
kehrt in den Wind und gerieth ſo feſt auf den Grund,
daß an ein Wiederabkommen nicht zu denken war und es auch
mit ſeinen Geſchützen die Schanzen nicht mehr beſtreichen konnte,
während es ſelbſt ſich im heftigſten Kreuzfeuer derſelben befand.


Die glühenden Kugeln hatten „Chriſtian VIII.“ an ver-
ſchiedenen Stellen in Brand geſteckt, ohne daß es gelungen war,
an den Heerd des Feuers zu kommen und daſſelbe zu löſchen.
Wurde der Kampf fortgeſetzt, ſo ſtand auch der „Gefion“ daſſelbe
Schickſal bevor. Die Todten und Verwundeten zählten, nament-
lich auf letzterem Schiffe, bereits nach Hunderten, die deut-
ſchen Schanzen aber hatten nicht viel mehr gelitten, als am
Vormittage und faſt jeder ihrer Schüſſe brachte Vernichtung.
[184]Werner
Was half alle Tapferkeit und Todesverachtung der Schiffs-
beſatzungen, die im Blute ihrer Kameraden thatſächlich wateten
und dennoch willig und ohne Zagen die geriſſenen Lücken aus-
füllten, um mit zerſchmetterten Gliedern in den nächſten Minuten
ſelbſt einen zwar heldenhaften aber nutzloſen Tod zu finden.
Zuſehends erfüllte ſich das traurige Geſchick, Rettung war nicht
möglich, an Hülfe von außen nicht zu denken; es wäre ein Ver-
brechen geweſen, das Gefecht länger fortzuführen und noch mehr
Menſchen zu opfern, und ſo gab denn der unglückliche Kapitän
um fünfeinhalb Uhr Abends den Befehl, die Flagge zu ſtreichen.


Der ſtolze Dannebrog ſenkte ſich von der Gaffel, der Ge-
ſchützdonner verſtummte, die Schlacht war für die Deutſchen
gewonnen. Vieltauſendſtimmiger Jubel der am Lande ver-
ſammelten Zuſchauer erſchallte; aus Schleswig, Rendsburg,
Kiel und der ganzen Umgegend waren ſie gekommen, herbei-
gerufen durch die furchtbare Kanonade, die den ganzen Tag auf
viele Meilen weit den Donner der Geſchütze durch das Land
getragen. Stundenlang hatten ſie zwiſchen Furcht und Hoff-
nung geſchwebt, gar oft hatte es geſchienen, als ob die Schanzen
unterliegen ſollten und nun waren ſie glänzend als Sieger aus
dem wüthenden ungleichen Kampfe hervorgegangen und hatten
die deutſchen Waffen mit unvergänglichem Ruhme bedeckt.


Und die Sieger ſelbſt? Wie ſeltſam contraſtirte mit dem
lauten Jubel die ſchweigende Ruhe der Kanoniere! Mit ver-
ſchränkten Armen und von Pulverrauch geſchwärzten Geſichtern
ſtanden ſie da an ihren Geſchützen und blickten mit ſtiller Be-
friedigung auf die Trophäen, die ſie durch ihre Kaltblütigkeit
und Tapferkeit unter der Leitung ihrer heldenmüthigen Führer
heute dem Vaterlande errungen hatten, wenngleich die Mehrzahl
die ganze Größe und Bedeutung des erfochtenen Sieges gar
nicht zu verſtehen ſchien.


Die bisherige Seekriegsgeſchichte hatte ſolche Reſultate, wie
der 5. April ſie gebracht, noch nicht aufzuweiſen. Zwei Schlacht-
[185]Die deutſche Marine 1848—1852
ſchiffe, welche in damaliger Zeit Strandbatterien gegenüber für
unüberwindlich gehalten wurden, mußten ſich einer Hand voll
kühner Artilleriſten ergeben, und dieſe hatten nicht einmal nam-
hafte Verluſte erlitten. Freilich war dabei in Betracht zu ziehen,
daß die Dänen von ſeltenem Unglück verfolgt wurden. Ein
verhängnißvoller Fehler war es geweſen, daß Paludan die
Schiffe bei einem grade in die Bucht wehendem Winde gleich
ſoweit hineinführte und dadurch ihre Bewegungsfähigkeit lähmte,
aber als ganz beſonderes Mißgeſchick muß es bezeichnet werden,
daß der „Geyſer“ zerſchoſſen, das Boot der „Gefion“ mit dem
Bugſirtau in den Grund gebohrt ward und ſchließlich der
Kartätſchſchuß der Naſſauiſchen Batterie das Entkommen des
Linienſchiffes unmöglich machte.


Inzwiſchen verrieth die aus letzterem in immer größerer
Dichtigkeit hervorquellende Rauchwolke, daß das an Bord aus-
gebrochene Feuer bedeutender ſei, als man geglaubt. Schleunige
Hülfe war geboten und nach gethaner Blutarbeit galt es die
von ihr verſchonten Feinde dem Leben zu erhalten. Alle vor-
handenen Boote wurden in Thätigkeit geſetzt, um zunächſt die
am meiſten gefährdete Beſatzung des Linienſchiffes an’s Land zu
ſchaffen und der tapfere Unterofficier Preußer ſtand dabei mit
ſeinen Kanonieren in erſter Reihe.


Erſchütternd war der Anblick, als die von dem heißen Kampfe
des Tages bis zum Tode erſchöpften däniſchen Kriegsgefangenen
durch die glänzend illuminirten Straßen der Stadt geführt wur-
den, um in Kirche und Schule einquartiert zu werden. Von
allen Seiten eilten die Bürger herbei, um ſie mit Speiſe und
Trank zu erquicken. Paludan hatte ſeine Drohung nicht wahr
gemacht und kein einziges Geſchoß war abſichtlich in die Stadt
gefallen; deshalb herrſchte auch keinerlei Erbitterung gegen die
Beſiegten, man ſchenkte vielmehr ihrem herben Geſchick Be-
dauern und ehrte ihre Tapferkeit. Bevor jedoch noch alle Ge-
fangenen ausgeſchifft waren, erdröhnte plötzlich ein furchtbarer
[186]Werner
Knall. Aus einer dunklen Rauchwolke züngelte eine gewaltige
Feuergarbe zum Firmament empor, Tauſende von Granaten,
Raketen und andern Munitionskörpern durchſauſten die Luft und
zogen wie Meteore glühende Streifen durch die Nacht —
„Chriſtian VIII.“ war in die Luft geflogen. Das Feuer hatte die
Pulverkammer erreicht und die furchtbare Kataſtrophe herbei-
geführt. Zweihundert Mann der Beſatzung, welche noch nicht
hatten abgeholt werden können, verloren durch die Exploſion ihr
Leben. Doch auch mit dieſem ſchweren Opfer war der Kriegs-
gott noch nicht zufrieden geweſen — Preußer, der mit ſeinen
Kanonieren bereits Hunderte von Gefangenen an’s Land gebracht,
war eben im Begriff, wieder mit einer Anzahl derſelben von
dem brennenden Schiffe abzuſtoßen, als ihn der Tod ereilte.
Mit den Trümmern der Boote ſanken er und ſeine Leute zer-
ſchmettert in die Tiefe.


Die Exploſion war eine ſo gewaltige geweſen, daß man
ſogar in der Stadt Schleswig den Luftdruck deutlich fühlte.
Am nächſten Tage fand man Schiffstheile, Waffen und andere
Gegenſtände, die bis zu unglaublichen Entfernungen weſtwärts von
der Stadt geflogen waren.


Die Neugierigen, welche aus der Umgebung Nachts und
früh Morgens am 6. April nach Eckernförde kamen, fanden die
Stadt wie ausgeſtorben. Die Abſpannung der Bevölkerung war
nach den ungemeinen Aufregungen der letzten 48 Stunden eine
ſo große, daß Alles ſich todtmüde zur Ruhe begeben hatte und
unbeſorgt um die däniſchen Kriegsgefangenen im tiefſten Schlum-
mer lag. Den Letzteren wäre es ein Leichtes geweſen, die
beiden ſchlaftrunkenen Poſten, von denen ſie allein bewacht wur-
den, zu überwältigen und unbehelligt durch die Stadt nach Nor-
den zu marſchiren.


Die „Gefion“, deren Batterie ein grauenvolles Bild der
Zerſtörung bot und in dem ſich Leiche auf Leiche thürmte, wurde
zunächſt von Officieren und Mannſchaften der im Kieler Hafen
[187]Die deutſche Marine 1848—1852
ſtationirten Schleswig-Holſteiniſchen Flotille beſetzt. Sie hatte
weit mehr als „Chriſtian VIII.“ gelitten und über 80 Todte,
während erſterer bis zur Exploſion nur einige 60 zählte. Auf
beiden Schiffen befanden ſich außerdem noch nahe an 100 Ver-
wundete und über 900 Mann wurden zu Gefangenen gemacht.
Der deutſche Verluſt war dagegen verſchwindend zu nennen; er belief
ſich nur auf 4 Todte und 17 Verwundete, und ſeine Geringfügigkeit
iſt faſt unbegreiflich zu nennen, wenn man bedenkt, daß die Be-
ſatzungen der beiden deutſchen Schanzen faſt acht Stunden lang
dem mörderiſchen Feuer von 132 ſchweren Geſchützen auf wenige
Hundert Schritte Entfernung ausgeſetzt waren.


In ganz Deutſchland rief der Tag von Eckernförde eine enthu-
ſiaſtiſche Freude hervor und nicht am wenigſten auf der deutſchen
Marine. War der Verluſt ſeiner beiden ſchönſten und kriegstüchtig-
ſten Schiffe für Dänemark ein Schlag, den es nicht ſo bald ver-
winden konnte und der ſeine Seemächtigkeit Deutſchland gegen-
über wenigſtens auf längere Zeit hinaus weſentlich ſchwächte,
ſo durfte der uns daraus erwachſende Gewinn ſowol in materiel-
ler wie moraliſcher Beziehung nicht hoch genug veranſchlagt werden.


Durch die glorreiche Action wurde das faſt erkaltete
Intereſſe für die deutſche Marine in der Bevölkerung wieder
lebhaft angeregt und dadurch ein Druck auf die Regierun-
gen ausgeübt. Ein großer Theil derſelben hatte, unter dem
Einfluſſe der herrſchenden reactionären Strömung, mit ſcheelem
Auge auf die nach ihrer Anſicht revolutionäre Schöpfung geblickt,
und ſich aus dieſen wie aus andern Gründen der Verpflich-
tung zur Beitragsleiſtung entzogen. Ende März war es bereits ſo
weit gekommen, daß der fällige Sold für die Marinemannſchaften
nicht mehr ausgezahlt werden konnte. Infolge deſſen gaben
ſich auf verſchiedenen Schiffen Zeichen der Indisciplin kund, und
nur mit großer Mühe gelang es den Officieren, die Leute zu
beſchwichtigen und zu ihrer Pflicht zurückzuführen.


Jetzt nach dem glänzenden Siege, den die ganze Nation
[188]Werner
auf das Lebhafteſte mitempfand, hielten es die verſchiede-
nen ſäumigen Staaten doch für angemeſſen, die rückſtändigen
Matricularbeiträge einzuliefern, und ſo wurde die Klippe, an
der ſchon damals die Marine zu ſcheitern drohte, noch einmal
glücklich umſchifft. Für uns in der Marine Stehende war der
5. April aber auch deshalb von größter Wichtigkeit, weil wir
damit in den Beſitz eines Kriegsſchiffes gelangten, das, abge-
ſehen von ſeiner Größe und ſeinem für damalige Verhältniſſe
bedeutenden Kriegswerthe, nach allen Richtungen hin als Modell
gelten durfte. Die „Gefion“ war deshalb für die deutſche Flotte
eine koſtbare Aquiſition. Sie hatte zwar in dem Kampfe ſo
bedeutend gelitten, daß ſie in den nächſten Monaten nicht activ
verwendet werden konnte, allein das beeinträchtigte ihren ſpäteren
Werth für uns nicht, und als ſie bald darauf von der
Centralgewalt übernommen und die ſchwarzrothgoldene Flagge
auf ihr geheißt wurde, da war das ein Jubel- und Freudentag
für die ganze Marine.


Wir glaubten in der ſo heiß erſtrittenen Trophäe deutſcher
Tapferkeit ein Pfand zu beſitzen, das die deutſche Nation nicht
wieder von ſich laſſen würde und hielten jetzt die Fortexiſtenz
der Flotte, an der ſelbſt wir jüngeren Officiere bisweilen
leiſe Zweifel zu hegen begannen, für geſichert. Dies Gefühl
wirkte auf alle Verhältniſſe günſtig zurück. Wir brannten vor
Verlangen, uns mit den Dänen zu meſſen und, wie wir natür-
lich vorausſetzten, ebenfalls Lorbeeren zu pflücken. Mit wahrem
Feuereifer wurde das neue Geſchütz-Exercirreglement auswendig
gelernt, und Jeder that ſein Beſtes, um ſich nach allen Rich-
tungen für die kommenden Gefechte vorzubereiten. An Bord
der fertig ausgerüſteten Corvetten „Hamburg“ und „Lübeck“ gelang
dies auch völlig, und Ende April waren dieſe beiden Schiffe,
wenigſtens was ihre Beſatzung betraf, ſo kriegstüchtig, daß ſie
unbedingt in den Kampf ziehen konnten, da ſie auch ſchon eine
Schießübung abgehalten hatten. Auf dem „Barbaroſſa“ zögerte
[189]Die deutſche Marine 1848—1852
ſich jedoch die Sache wegen verſpäteten Eintreffens der in Eng-
land gefertigten Kriegsausrüſtung noch länger hin und erſt Ende
Mai wurde das Schiff einigermaßen ſeefertig. Leider ſtand es
mit der Kriegsbereitſchaft nicht ſo gut. Der Commandant des
„Barbaroſſa“ war ein alter gutmüthiger, aber ſonſt ziemlich un-
fähiger Engländer. Er war Kapitän eines der vom Hamburger
Comité angekauften Dampfer geweſen und mit übernommen wor-
den, weil er in früheren Zeiten einmal, wenn auch in untergeordne-
ter Stellung, in der engliſchen Kriegsmarine gedient hatte. Als
die amerikaniſchen Officiere ausblieben und ehe die Belgier ein-
trafen, hatte man ihn zum Commandanten des „Barbaroſſa“ ge-
macht. Von dem militäriſchen Dienſte verſtand er jedoch herz-
lich wenig, die Bedienung der Geſchütze war ihm gänzlich un-
bekannt und blieb es deshalb Sache der Officiere, zu denen
auch ich gehörte, ſich und die Mannſchaft weiter aus- und fort-
zubilden.


Auf der „Deutſchland“, „Hamburg“ und „Lübeck“ befanden
ſich die gewöhnlichen glattläufigen Geſchütze, welche nur Vollkugeln
ſchoſſen und deren Bedienung verhältnißmäßig wenig Schwierig-
keiten machte. Der „Barbaroſſa“ war dagegen mit 68-Pfünder-
Bombengeſchützen neuen Modells armirt, die von uns noch
Niemand kannte. Wir ſuchten uns natürlich ſo gut wie möglich
damit abzufinden und glaubten auch das Exercitium unſern
Leuten in verhältnißmäßig kurzer Zeit ganz vortrefflich bei-
gebracht zu haben, ſollten aber bald die unangenehme Erfahrung
machen, daß Autodidacten trotz allen Fleißes leicht in verhängniß-
volle Fehler verfallen.


Anfang Juni meldete unſer alter Kapitän, den wir trotz
ſeiner Unbedeutendheit doch alle gern mochten, dem inzwiſchen
zum Commodore ernannten Kapitän Brommy, unſerem Ober-
befehlshaber, den „Barbaroſſa“ kriegsbereit, und dieſer beſchloß am
4. Juni mit den drei Schiffen eine Recognoscirungsfahrt in See
zu unternehmen. Daß für einen Ernſtkampf eine Schießübung,
[190]Werner
namentlich mit Geſchützen neuen Modelles, eine unerläßliche Vor-
bedingung ſei, davon hatte unſer Kapitän keine Ahnung; der
Commodore hatte ſie wol vorausgeſetzt und wir jüngeren Offi-
ciere waren artilleriſtiſch noch zu unerfahren, und glaubten,
gutes Exercitium und Richtübungen ſeien genügend.


Es war ein herrlicher Sommertag und die Sonne ſchien
warm vom wolkenloſen Himmel herab, als wir unter dem Hurrah
Tauſender von Zuſchauern, welche die Ufer der Weſer beſäum-
ten, die Rhede von Bremerhafen verließen, um ſeewärts zu
dampfen. Der „Barbaroſſa,“ das Flaggſchiff, mit dem Com-
modore-Stander an der Spitze des Großmaſtes, führte,
„Hamburg“ und „Lübeck“ folgten zu beiden Seiten, mit erſterem
ein gleichſeitiges Dreieck bildend. Mit ſchneller Fahrt ging es
den Strom hinab, aus den Schornſteinen quollen dunkle Rauch-
ſäulen, die Radſchaufeln peitſchten die Fluthen und die Schiffe
zogen ein breites ſchäumendes Kielwaſſer.


Um dem Feinde ein etwaiges Einlaufen in die Weſer zu
wehren, waren alle Seezeichen entfernt, aber unſere tüchtigen
Lootſen kannten trotzdem an ihren Landmarken das Fahrwaſſer
ſo genau, daß wir mit ungehemmter Fahrt zwiſchen den Un-
tiefen dahinflogen und bald die an der veränderten Waſſer-
färbung kenntliche Mündung erreichten.


Die Nordſee — das deutſche Meer, wie es die Eng-
länder richtig bezeichnen, lag vor uns. Es herrſchte faſt völlige
Windſtille; nur ein leiſer ſüdlicher Hauch kräuſelte hier und
dort ganz leicht die ſonſt wie ein Spiegel ſich dehnende Meeres-
fläche, in deren Smaragdgrün die Sonnenſtrahlen ſich badeten.
Ein eigenthümlich erhebendes Gefühl ſchwellte unſere Bruſt.
Das ſchwarzrothgoldene Banner mit dem Reichsadler, das
Symbol neuerſtandener deutſcher Seemächtigkeit, flatterte zum erſten
Male auf dem Meere und patriotiſcher Stolz ſchwellte unſere
Herzen in dem Gedanken, daß wir uns möglicher Weiſe noch
[191]Die deutſche Marine 1848—1852
heute mit dem Feinde meſſen ſollten. Helgoland tauchte am
fernen Horizonte auf; mit voller Kraft ſteuerten wir darauf hin.


„Segler voraus“, meldete der im Vortop des „Barbaroſſa“
ſtationirte Ausguck, und Aller Augen richteten ſich auf den be-
zeichneten Punkt. Nur drei Maſtſpitzen ragten aus dem Waſſer,
aber bei unſerer ſchnellen Fahrt wuchſen ſie zuſehends empor.
Bald hob ſich der Rumpf über die Meeresfläche und ließ keinen
Zweifel, daß wir ein Kriegsſchiff vor uns hatten. Durch die
Fernröhre unterſchieden wir die Flagge; es war der Dannebrog,
das weiße Kreuz im rothen Felde, der von der Gaffel der
Segel-Corvette „Volkyrien“ wehte. Sie lag eine Meile ſüdlich
von Helgoland; bei den ſchwankenden Bewegungen des Schiffes ſahen
wir ihre Segel gegen Maſten und Stengen ſchlagen, ein Zeichen,
daß ſie ſich in Windſtille befand und nicht manövrirfähig war.


Wie klopfte uns das Herz und mit welchem Jubel wurde
das Signal des Flaggſchiffes aufgenommen, Curs auf den
Feind zu ſetzen. Die Corvette war nur mit 12 kurzen
18-Pfündern armirt und ihre Beſatzung zählte noch nicht 200
Mann. Unſere drei Schiffe hatten zwar auch nur 12 Ge-
ſchütze, aber davon führte der Barbaroſſa acht 68-pfündige
Bombenkanonen, jede der beiden Corvetten einen langen 56- und
einen 32-Pfünder und unſere geſammte Beſatzung belief ſich
nahe auf 400 Köpfe. Unter ſolchen Umſtänden unterlag es
keinem Zweifel, daß ein Angriff unſrerſeits auf die „Valkyrien“
mit vollem Erfolg gekrönt ſein mußte. Wir hatten es in der
Hand, den faſt unbeweglichen Feind mit unſern weittragenden
Geſchützen aus ſolcher Entfernung zu beſchießen, daß ſeine Ge-
ſchoſſe uns nicht erreichten, um gegen die leichte Verletzbarkeit
unſerer Maſchine geſichert zu ſein, und konnten ihn auf dieſe
Weiſe zum Flaggenſtreichen zwingen.


Die Aufregung wuchs von Minute zu Minute je näher
wir kamen und erreichte ihren Höhepunkt, als der Befehl ge-
geben ward, die Schiffe fertig zum Gefecht zu machen. Der
[192]Werner
Generalmarſch ertönte; die Mannſchaften waren wie electriſirt
durch den Gedanken, an den Feind zu kommen und die Deutſch-
land durch die Blockade angethanene Schmach zu rächen. Sie
flogen förmlich auf ihre Poſten, unter ihren nervigen Armen
bewegten ſich die ſchweren Geſchütze wie Kinderſpielzeug und
waren im Nu fertig zum Laden.


Etwa zwei Meilen nördlich von Helgoland kamen noch
zwei däniſche Fregatten in Sicht, und noch weiter hin zeichnete
ſich die Rauchwolke eines Dampfers am Himmel ab, aber auch
dort war Windſtille, die Segelſchiffe konnten nicht herankommen,
dem Dampfer waren wir gewachſen und es wurde deshalb keine
weitere Notiz davon genommen. Die Kartuſchen und Granaten
wurden gebracht. Es ſollte von uns zum erſten Male ſcharf
geſchoſſen werden.


„Geladen!“ tönte das Commando.


Die Kartuſchen wurden in die Mündung geführt und die
Anſetzer fertig gehalten.


„Setzt an!“ Die beiden Lader ſchoben die Kartuſchen bis
auf den Boden des Rohres und ſetzten ſie mit einem kurzen
Stoße an.


Die Bewegungen waren ſo gleichmäßig und prompt wie
bei der beſtexercirten Mannſchaft — da aber ſtockte auf ein-
mal das ganze Manöver. Die Anſetzer ſaßen in den Ge-
ſchützen wie feſtgenagelt und waren auf keine Weiſe wieder
herauszubekommen. Der zur Aufnahme der Kartuſche beſtimmte
Ladungsraum im Rohr der Bombengeſchütze war koniſch geformt,
der Kopf der Anſetzer aber cylindriſch. Die Exercirkartuſche
füllte dieſen koniſchen Raum voll aus, die wirkliche Kartuſche
aber nicht, und durch den Stoß hatten ſich die Anſetzer ſo ver-
zweifelt feſtgeklemmt. Beim Exerciren kam dies nicht vor und
unſere artilleriſtiſchen Erfahrungen waren, wie bemerkt, noch zu
gering, um den Unterſchied vorher zu bedenken. Unter anderen
Verhältniſſen würde die Situation lächerlich geweſen ſein, hier
[193]Die deutſche Marine 1848—1852
Angeſichts des Feindes war ſie jedoch ſehr ernſt; unſere Ent-
fernung von ihm betrug kaum noch eine halbe Meile.


Die Maſchinen wurden geſtoppt und alle möglichen Mittel
angewandt, um die Anſetzer wieder heraus zu holen, aber ver-
gebens. Es blieb nichts übrig, als ſie heraus zu ſchießen.
Was wol die Dänen gedacht haben mögen, als auf dem deut-
ſchen Flaggſchiffe plötzlich ſämmtliche Geſchütze nach allen Himmels-
richtungen abgefeuert wurden, ohne daß irgend wo das Ein-
ſchlagen eines Geſchoſſes auf der glatten Meeresfläche ſich bemerk-
lich machte? Das Manöver muß ihnen als unerklärliches
Räthſel erſchienen ſein. Der Commodore machte ein ſehr
zweifelhaftes Geſicht, die Meldung der Schlagfertigkeit des
Schiffes ſtimmte gar nicht mit der eben gemachten Wahr-
nehmung.


Die Anſetzer flogen natürlich zerſplittert in das Waſſer,
doch glücklicher Weiſe fand ſich ein zweiter Satz an Bord. Im
Augenblick waren die neuen an Deck gebracht und nach weni-
gen Minuten hatten die Hobel der Zimmerleute ihnen die nöthige
koniſche Form gegeben; der Schaden war damit reparirt. Aber-
mals wurden die Kartuſchen angeſetzt; alles war jetzt in Ord-
nung und die Maſchinen ſetzten ſich langſam in Bewegung, bis
wir auf etwa 3500 Schritt herangekommen waren. Dann
ſtoppten die Schiffe, das Feuer begann und wurde von der
„Valkyrien“ erwidert. Es war jedoch von beiden Seiten un-
gefährlich. Die däniſchen Geſchoſſe erreichten uns lange nicht
und unſere Granaten verfehlten auf die große Entfernung eben-
falls ihr Ziel, was ja auch bei der Ungeübtheit der Mann-
ſchaft im Scharfſchießen trotz allen Eifers und guten Willens
nicht anders zu erwarten war. Uns Officieren gefiel aber dieſe
Munitionsverſchwendung durchaus nicht. Voll Kampfesmuth
wollten wir näher an den Feind und mit größter Ungeduld er-
warteten wir den Befehl „Voll Dampf voraus,“ der jedoch
ausblieb.


R. Werner, Erinnerungen. 13
[194]Werner

Das Geſchwader lief in offener Ordnung, d. h. es war
den Schiffen nicht die Innehaltung einer genauen Poſition zu
einander vorgeſchrieben. Dieſen Umſtand glaubte der Comman-
dant der „Hamburg“ benutzen zu dürfen, um ſich dem Feinde
mehr zu nähern und ließ die Maſchine ſchneller anſchlagen.
In dem Augenblicke jedoch, als die Corvette das Flaggſchiff
paſſirte, fiel ein Kanonenſchuß von Helgoland.


„Wo wollen ſie hin, Lieutenant Reichert?“ rief Brommy
nach der „Hamburg“ hinüber.


„Ich will entern, Herr Commodore,“ tönte die Antwort
des thatendurſtigen Commandanten zurück.


„Machen Sie Signal: In die Elbe einlaufen,“ wandte
Brommy ſich an ſeinen Flagglieutenant und das betreffende
Signal „Flagge No. 4“ wehte nach wenigen Secunden vom
Top des Maſtes.


Als der Befehl verſtanden war, folgte das Signal „Feuer
einſtellen.“ Das Ruder wurde Backbord gelegt, der Kopf der
Schiffe drehte vom Feinde ab und der Elbmündung zu.


Wir ſtanden ſtarr und trauten kaum unſern Augen. Vor weni-
gen Minuten noch war Jeder von uns feſt überzeugt, daß die „Val-
kyrien“ unſer ſei und jetzt ließen wir die ſichere Priſe ſchmählich im
Stich und zogen wie kläffende Hunde von dannen. War das die
Kraftprobe deutſcher Seemächtigkeit und durften wir nun noch ſtolz
ſein, unter der ſchwarzrothgoldenen Flagge zu dienen? Wir koch-
ten innerlich vor Wuth, übten äußerlich aber natürlich nur ſtum-
men Gehorſam; dieſe Selbſtüberwindung unter den obwalten-
den Umſtänden war gewiß ein Beweis für die gute Disciplin,
welche an Bord der Schiffe herrſchte. Vergebens fragten wir
uns, was der Grund dieſer plötzlichen Umkehr ſein könne und
der Commodore mochte wol ſelbſt fühlen, daß er uns eine
gewiſſe Aufklärung ſeiner uns unbegreiflichen Handlungsweiſe
ſchuldig ſei. Wie erſtaunt und gleichzeitig im Innerſten empört
waren wir aber, als wir von ihm erfuhren, daß der vorhin
[195]Die deutſche Marine 1848—1852
von Helgoland gefallene Schuß ihn zum Abbrechen des Gefechts
beſtimmt habe. Jener Schuß hatte verkündet, daß die „Valkyrien“
ſich auf neutralem Grunde, auf engliſchem Territorium befinde
und hatte uns gewarnt, letzteres in feindlicher Abſicht zu be-
ſchreiten.


Nach unſer aller Meinung und nach den genommenen
Peilungen war der Däne fünf Seemeilen von der Inſel ent-
fernt geweſen und von uns Officieren hätte ſich deshalb gewiß
Niemand an den Schuß gekehrt, da nach den damaligen inter-
nationalen Principien die Neutralitätsgrenze ſich nur bis auf
Kanonenſchußweite erſtreckte, allein wir waren leider nicht maß-
gebend und Brommy mußte wol anderer Meinung ſein. Viel-
leicht hatte er ja auch Befehl von Frankfurt, den Engländern,
welche mit ihren Sympathien ganz auf Seiten der Dänen ſtan-
den, keinerlei Anlaß zu irgend welchen begründeten Klagen zu
geben. Von Mangel an Muth konnte bei dem energiſchen
Charakter des Mannes um ſo weniger die Rede ſein, als wir
ſo bedeutend in der Uebermacht waren und der einzige Vorwurf,
der ihm mit Berechtigung gemacht werden konnte, war wol der
einer übertriebenen politiſchen Vorſicht, um der nach Innen ſchon
ſo ohnmächtigen Centralgewalt nicht auch noch einen Conflict
mit einer fremden Macht aufzuladen. Uns Officieren wollte
freilich dieſer Standpunkt nicht einleuchten und wir waren der
Anſicht, daß Brommy es darauf ankommen laſſen und die
„Valkyrien“ nehmen mußte.


Unſer Gefühl ſagte uns, daß der Commodore ſich eine
Chance hatte entgehen laſſen, welche ſchwerlich je ſo günſtig wieder-
kehren würde und dies Gefühl hatte uns nicht getäuſcht. Es
war die einzige Chance, die ſich überhaupt bot, und daß wir ſie
aus irgend welchen Gründen nicht benutzten, gab Anlaß, daß
der deutſchen Marine ein Schimpf angethan wurde, der uns die
Schamröthe in das Geſicht trieb.


Lord Palmerſton, der Freund Dänemarks, ließ wenige Tage
13*
[196]Werner
nach der für uns ſo kläglich abgelaufenen Affaire durch die
„Times“ verkünden, es hätten ſich Schiffe mit ſchwarzrothgoldener
Flagge in der Nähe von Helgoland gezeigt; ließen ſie ſich noch
einmal ſehen, ſo würde er ſie durch engliſche Kriegsſchiffe als
Piraten aufbringen laſſen.


Wahrlich, die Beleidigung war tödtlich und ſie brannte uns
deutſchen Seeofficieren auf der Seele!


Die Centralgewalt nahm ſie ohne Weiteres hin und wagte
nicht einmal einen papiernen Proteſt gegen dieſe Beſchimpfung
der deutſchen Flagge. Damit war aber auch das Todesurtheil
der Marine geſprochen. Sie mußte ſich verkriechen, durfte ſich
nicht auf dem Meere ſehen laſſen, der Fluch der Lächerlichkeit
ruhte auf ihr und ihre Auflöſung war nur noch eine Frage
der Zeit.


Wie ganz anders geſtaltete ſich menſchlicher Vorausſicht nach
aber die Sache, wenn Brommy die däniſche Corvette genommen
und ſie in die Elbe gebracht hätte. Wie würde die Marine hoch
in den Augen Deutſchlands dageſtanden haben! Nach einer
ſolchen kriegeriſchen That würde es wenigſtens unmöglich ge-
worden ſein, ſie unter den Hammer zu bringen und England,
das vor allem mit Thatſachen zu rechnen und kriegeriſchen Muth
zu würdigen verſteht, hätte es auch nicht gewagt, uns jene tödt-
liche Beleidigung in das Geſicht zu ſchleudern.


Vierundzwanzig Jahre ſpäter hatten ſich freilich die Ver-
hältniſſe weſentlich geändert. 1873 ſtellte ſich der Kapitän
eines engliſchen Panzerſchiffes an der ſpaniſchen Küſte unter die
Befehle eines Kapitäns, von deſſen Schiffe zwar nicht die
ſchwarzrothgoldene, aber die ſchwarzweißrothe Flagge des deut-
ſchen Reiches wehte. Dieſer Kapitän war damals Officier auf
dem „Barbaroſſa“ geweſen; er hatte den angethanen Schimpf
nicht vergeſſen, erhielt aber jetzt eine Genugthuung dafür.


Wann wird endlich auch jene Schmach geſühnt werden,
[197]Die deutſche Marine 1848—1852
die dem deutſchen Reiche durch den engliſchen Beſitz Helgoland’s
angethan iſt?


Ein Stück deutſcher Erde, von einem echt deutſchen Volks-
ſtamme, den Frieſen, bewohnt, ſtets zu Schleswig-Holſtein ge-
hörig, unmittelbar an unſerer Küſte gelegen und einſt ein Theil
derſelben, der Schlüſſel zu unſeren größten Strömen — befindet
ſich in den Händen einer fremden Macht!


Nicht etwa materielle Gründe haben dieſe Macht bewogen,
ſich 1814 die Inſel vom König von Dänemark, der gar kein
Recht dazu beſaß, abtreten zu laſſen, denn ſie birgt keine Schätze,
ſie iſt ein armes Fleckchen Fels und bringt nichts ein. Nein,
lediglich das Verlangen an unſerer Nordſeeküſte eine feſte Poſition
zu gewinnen, von der aus erſtere vollſtändig beherrſcht werden
konnte, war der Grund der Annexion.


Damals war Deutſchland macht- und kraftlos und mußte
ſich den Pfahl im Fleiſche gefallen laſſen — ſeitdem aber hat
es ſich Macht und Kraft erworben. Es iſt ein einiges Reich
und eine Großmacht erſten Ranges geworden, und es dürfte
deshalb wol an der Zeit ſein, die Inſel zurückzufordern, nicht
allein aus nationalen, ſondern auch aus militäriſchen Gründen.


Helgoland iſt, wie bemerkt, der Schlüſſel zu unſern drei
großen Waſſerſtraßen: Elbe, Weſer und Jade und beherrſcht
überdies noch das Emsgebiet. Wird Deutſchland mit einer See-
macht in einen Krieg verwickelt, ſo bildet die Inſel der letzteren
die wirkſamſte Stütze für maritime Operationen gegen unſere
Küſte. So lange das Leuchtfeuer auf Helgoland brennt, wird
dem Feinde die Navigirung in der Helgoländer Bucht und eine
Blockade unſerer Nordſeeküſte ungemein erleichtert. Ohne in
unſerm Beſitze und geeignet armirt zu ſein, ſo daß wir unter
dem Schutze ſeiner Batterien eine Abtheilung Kriegsfahrzeuge
(Panzerkanonenboote und Torpedoboote) ſtationiren können,
bietet die Inſel dem Gegner — wenigſtens in der guten Jahres-
zeit — verhältnißmäßig geſicherte Ankerplätze, wo er Kohlen
[198]Werner
auffüllen, Transportſchiffe hinlegen, ſeine Flotte ſammeln und
von dort aus er in größerem Maßſtabe gegen unſere Ströme
operiren kann, ſei es, um zunächſt deren äußere Rheden zu ge-
winnen oder eine Landung zu verſuchen. Wir ſind gezwungen,
zum Schutze unſerer Nordſeeküſte ganz bedeutend größere Ver-
theidigungsmittel an Material und Perſonal zu unterhalten,
und die Beſorgniß vor einer Forcirung unſerer Ströme und
einer Invaſion kann gleichzeitig einen großen Theil unſerer Land-
ſtreitkräfte lahm legen.


Dies alles änderte ſich aber ungemein zu unſern Gunſten,
wenn Helgoland uns gehört und zweckmäßig armirt wird. Wir
könnten nach Belieben das Feuer löſchen, mit Hülfe der Batterien
und einer unter der Inſel, oder zwiſchen ihr und den Dünen
ſtationirten Flottenabtheilung dem Feinde den einzigen Ankerplatz
verbieten, den er an unſerer Nordſeeküſte findet. Wir hinderten
ihn dadurch am Ergänzen ſeiner Kohlen, zwängen ihn, beſtän-
dig unter Dampf zu liegen und nähmen ihm jede Operations-
baſis für einen Angriff auf unſere Küſte und für eine Invaſion,
da er unmöglich wagen darf, mit einer Transportflotte vor
unſern Flußmündungen zu erſcheinen, wenn er unſere Torpedo-
fahrzeuge und Panzerkanonenboote im Rücken hat. Den ſchlagend-
ſten Beweis für dieſe Ausführungen hat der letzte franzöſiſche
Krieg gegeben. Die franzöſiſche Flotte hielt ſich ſtets in un-
mittelbarer Nähe der Inſel auf, Tags über gewöhnlich ſüdöſtlich
von ihr und wenn die Witterung es erlaubte, vor Anker. Da-
durch ſparte ſie Kohlen und ermöglichte ein längeres in See-
bleiben, während ſie Nachts meiſtens nordweſtlich von der Inſel
in drei bis vier Meilen Entfernung, aber in Sicht des Leucht-
thurmes, die offene See hielt, gegen überraſchende Nachtangriffe
unſererſeits ſich ziemlich geſichert ſah und doch — was unge-
mein wichtig für ſie war — mit Hülfe des Feuers immer genau
ihre Poſition kannte. Ebenſo konnten die Kohlenſchiffe ſüdlich
von der Inſel ankern und die Panzerſchiffe mit friſchen Kohlen
[199]Die deutſche Marine 1848—1852
verſorgen. Dies ſetzte die Franzoſen in den Stand, mit den-
ſelben zehn bis zwölf Schiffen Monate lang die Blockade der
Elbe, Weſer und Jade aufrecht zu erhalten. War Helgoland
jedoch in unſerem Beſitz, ſo lag die Sache ganz anders. Von
Ankern und Kohlennehmen konnte dann keine Rede ſein und mit
dem ausgelöſchten Leuchtfeuer wäre die Schiffahrt in der Helgo-
länder Bucht für die Franzoſen Nachts nicht nur eine höchſt
unbequeme, ſondern auch gefährliche geworden. Ohne Ankern
und Kohlenergänzen hätten ſich ihre Panzer höchſtens acht
bis zehn Tage in der Nähe unſerer Küſte halten können.
Wollten ſie die Blockade aufrecht erhalten, ſo mußten ſie
die doppelte Zahl von Schiffen haben, um ſich abzulöſen.
Hatte es unſer Gegner aber damals ſchon für nöthig erachtet,
den drei Panzerſchiffen, die 1870 unſern ganzen Reichthum
ausmachten, die dreifache Anzahl entgegenzuſtellen, um uns
in Schach zu halten, würde es ihm ſchwer geworden ſein,
noch eine zweite ablöſende Flotte in Dienſt zu ſtellen, und
wie die Stärkenverhältniſſe unſerer Marine jetzt ſind, könnte
davon erſt recht nicht die Rede ſein.


In militäriſcher Beziehung liegen die Sachen mithin für
uns folgendermaßen: So lange ſich Helgoland in fremden
Händen befindet, ſind wir gezwungen, zur Sicherſtellung unſerer
Nordſeeküſte eine verhältnißmäßig große Seemacht aufzuſtellen
und trotzdem in zweiter Reihe noch Landtruppen zur Abwehr
einer möglichen Invaſion in Reſerve zu halten, wenn wir es
mit einem mächtigen Feinde oder einer Coalition zu thun haben.


Gehört dagegen die Inſel uns, ſo genügt ein Theil der
jetzt nothwendigen maritimen Streitkräfte, um ſowol eine Blockade
unmöglich zu machen, als auch einer Invaſion von der Nord-
ſee aus jede Chance eines Gelingens zu nehmen, und dem-
gemäß wird die Aufſtellung von Landtruppen entbehrlich. Da-
durch erſpart im Frieden unſer Land nicht nur beträchtliche
Summen, weil wir die Zahl der Schlachtſchiffe beſchränken
[200]Werner
können, ſondern wir ſind im Kriege auch in der glücklichen Lage,
der Flotte allein die erfolgreiche Vertheidigung der Nordſeeküſte
zu überlaſſen und die ſonſt dazu erforderlichen Landtruppen dem
zu Land angreifenden Feinde entgegenzuwerfen.


Die militäriſche Aufgabe unſerer Flotte kann naturgemäß über-
haupt nur die Sicherung unſerer Küſten und die Freihaltung unſerer
beiden deutſchen Meere von Invaſion und Blockade ſein. Dar-
über hinauszugehen wäre ein folgenſchwerer Irrthum. Außer-
halb der Oſt- und Nordſee haben wir mit unſern Schlacht-
ſchiffen für gewöhnlich nichts zu thun. Wir beſitzen keine
Colonien, die wir gegen feindliche Angriffe zu vertheidigen
hätten, noch können wir uns mit einer größeren Seemacht jen-
ſeits des Canals im Ocean ſchlagen, da wir dort weder eine
Operationsbaſis noch eine geſicherte Rückzugslinie haben. So-
mit wird der Thätigkeit unſerer Flotte im Kriege zwar eine
ziemlich enge Schranke gezogen, aber ihre Bedeutung für das
Land nicht abgeſchwächt. Werden wir mit einer oder mehreren
Landmächten, die zugleich Seemächte ſind, in Krieg verwickelt,
ſo wird die Flotte nie direct eine Entſcheidung herbeiführen
können. Dies muß ſtets der Armee vorbehalten bleiben, aber
jene muß im Stande ſein, indirect ganz weſentlich zu einer
ſolchen Entſcheidung beizutragen. Kann ſie unſere Küſten
von Invaſion frei halten, ſo erfüllt ſie vollſtändig ihren Zweck;
denn ſobald die Armee, möge ſie nach Oſten, Weſten oder Süden
Front machen, ihre ganze Nordflanke durch die Marine gedeckt
weiß, kann ſie 100,000 Mann mehr dem Feinde entgegen-
ſtellen, und wir wiſſen aus dem letzten franzöſiſchen Kriege, was
das bedeutet!


Unſere Flotte wird aber dieſer ihrer natürlichen Aufgabe
gewachſen ſein, wenn die Vertheidigung der Nordſeeküſte nicht
zu ſchwer auf ihr laſtet, und deshalb iſt für Deutſchland der
Beſitz von Helgoland von ſo großer Bedeutung.


Außer dieſer militäriſchen fällt aber auch noch die handels-
[201]Die deutſche Marine 1848—1852
politiſche Seite ſehr in’s Gewicht. Die Anſeglung unſerer
großen Ströme Elbe und Weſer, ſowie auch der Eider, welche
letztere alljährlich von Tauſenden kleinerer Schiffe angelaufen
wird, die ihren Weg durch den Eidercanal nach Oſten nehmen,
iſt ſo gefährlich und koſtet ſo ſehr viel Opfer an Schiffen und
Menſchenleben, daß es im dringenden Intereſſe des Handels
und der Schiffahrt liegt, dort einen leicht zugänglichen Noth-
und Zufluchtshafen zu haben, wo die Schiffe Schutz gegen
ſchweres Wetter finden. Dies Bedürfniß wird ſich in noch weit
dringenderer Weiſe nach dem Bau des Nordoſtſeecanals geltend
machen, der doch nur eine Frage der Zeit iſt und der die jetzige
Frequenz der Helgolander Bucht verzehnfacht.


Für einen ſolchen Zufluchtshafen iſt aber Helgoland nicht
nur der geeignetſte, ſondern der einzig mögliche Punkt. So lange
es ſich unter engliſcher Herrſchaft befindet, iſt natürlich nicht
daran zu denken. Wie ſollte England auch dazu kommen, Mil-
lionen für eine Anlage auszugeben, die immer nur zum kleine-
ren Theile der eigenen Schiffahrt, im übrigen aber dem Concur-
renten Deutſchland und andern Nationen zu Gute käme! Ein
ſolcher Hafen iſt deshalb nur möglich, wenn Helgoland deutſch
iſt, und auch nach dieſer Richtung koſtet uns die in fremdem
Beſitz befindliche Inſel jährlich Hunderttauſende, die durch
Strandungen und Havarien unſerm Nationalvermögen verloren
gehen.


Deutſchland kann natürlich Helgolands halber keinen Krieg
mit England anfangen. Wenn aber das deutſche Volk davon
durchdrungen wäre, daß der engliſche Beſitz der Inſel für
unſer Nationalgefühl nicht länger erträglich iſt, weil er eine
beſtändige Drohung gegen uns ausſpricht, wenn es ſich bewußt
bliebe, daß Helgoland in unſern Händen die Sicherheit unſerer
Küſten gegen jeden feindlichen Angriff ganz ungemein erhöht,
und daß uns dadurch, ſowie durch die Erbauung eines Noth-
hafens im Laufe der Zeit Hunderte von Millionen erſpart
[202]Werner
werden, während England nichts dadurch verliert, ſo würde es
gewiß einmüthig die Inſel fordern.


Mit einem ſolchen Rückhalte würde es der Diplomatie
nicht ſchwer fallen, einen Weg zu ermitteln, der auf friedliche
Weiſe zum Ziele führt, und England würde ſich auch ſchließlich
nicht weigern, dem ſo berechtigten Verlangen einer befreundeten
Nation Rechnung zu tragen. England hat Griechenland wieder
in Beſitz der joniſchen Inſeln geſetzt, ebenſo gut kann es Helgo-
land an Deutſchland zurückgeben, ohne daß ſein Preſtige dar-
unter leidet.


Möchte das Lied vom deutſchen Helgoland, das Karl
Tannen in Bremen bereits vor zwölf Jahren ſang, überall in
ganz Deutſchland erklingen und jeden Deutſchen daran erinnern,
daß die Inſel ein verlorenes Kind unſerer Mutter Germania
iſt, welches wir zurückfordern müſſen und wollen.


Im Meer, im herrlich deutſchen Meer

Klagt Wind und Woge laut und ſchwer,

Und jede Welle trägt es fort

Von dem verlor’nen Kind das Wort

Roth is de Kant,

Witt is dat Sand,

Das iſt das deutſche Helgoland!

Germania, du Mutter mein!

Du ſammelſt deine Glieder ein;

Vergiß auch nicht dein kleinſtes Kind,

Umbrauſt von Wogendrang und Wind.

Roth is de Kant,

Witt is dat Sand,

Das iſt das deutſche Helgoland!

Und wie das Meer im Wandern ſchwillt,

Und wie die Fluth die Ströme füllt,

So ſchwillt das Wort und füllt das Herz

Mit Sehnſucht an und tiefem Schmerz.

[203]Die deutſche Marine 1848—1852
Roth is de Kant,

Witt is dat Sand,

Das iſt das deutſche Helgoland!

Biſt du auch arm, biſt du auch klein,

Denk ich als gute, Mutter dein,

Bis ich dich ſicher weiß da drauß’,

Verlorenes Kind im Vaterhaus.

Roth is de Kant,

Witt is dat Sand *,

Das iſt das deutſche Helgoland!

Unſer Geſchwader lief in die Elbe ein und wir kamen
gegen Abend bei Cuxhafen an. Mit wie hochfliegenden Hoff-
nungen war der Tag von uns begonnen und mit welchen bitte-
ren Enttäuſchungen endete er. Unſere Stimmung war eine ſehr
gedrückte und auch der Mannſchaft merkte man es deutlich an,
daß ſie die Ereigniſſe des Tages ſchmerzlich empfand.


Wir blieben einige Tage auf der Elbe. Der däniſche
Admiral Steen Bille hatte gelobt, er wolle uns nicht wieder
hinauslaſſen, aber er konnte ſein Gelöbniß nicht halten; eine
Liſt des Commodore machte ihm einen Strich durch die Rech-
nung. Trotz der großen nautiſchen Unbequemlichkeiten hielt ſich
Steen Bille mit zwei Fregatten und dem „Geyſer“ ganz nahe
vor der Elbmündung und uns unter ſcharfer Blockade, außer-
dem wurde letzterer täglich bis in die Nähe von Cuxhafen
geſchickt, um zu recognosciren. Ein Auslaufen war für uns
deshalb ſchwierig, jedoch eine baldige Rückkehr nach Bremerhafen,
[204]Werner
unſerem Stationsorte, aus verſchiedenen Gründen ſehr wünſchens-
werth, und zwar mußte es am Tage geſchehen, da bei dem
Fehlen aller Seezeichen Nachts die Paſſage der Strommündungen
zu gefährlich war.


Leider hatten wir Urſache anzunehmen, daß die Dänen
durch Spione von allen unſern Bewegungen genau unterrichtet
waren und daß der „Geyſer“ nur täglich in die Elbe lief, um
von Fiſchern oder Leuten, die ſich dafür ausgaben, Nachrichten
über unſer Geſchwader zu erhalten. Darauf baute jedoch Brommy
gerade ſeinen Plan, der auch gelang.


Vom Auslaufen war keine Rede. Im Gegentheil, ſo ſchien
es, beabſichtigten wir in der Elbe lange zu bleiben und uns
den Aufenthalt recht angenehm zu machen, denn an Bord
des Flaggſchiffes wurden große Vorbereitungen zu einem Balle
getroffen, der am 14. Juni ſtattfinden ſollte und zu dem ſchon
Hunderte von Einladungen nach Cuxhafen und Umgegend einige
Tage zuvor ergangen waren. Die Feſtlichkeit verſprach glänzend
zu werden; Bootsladungen voll Blumen und grüner Zweige
wurden vom Lande geholt, um zur Ausſchmückung des auf dem
Verdeck des „Barbaroſſa“ improviſirten Ballſaales zu dienen,
die Matroſen wanden Guirlanden und die Damen am
Lande ſchwelgten im Vorgefühl des ſie erwartenden Ver-
gnügens.


Bereits am Abend des 13. legte ſich die ebenfalls feſtlich
geſchmückte Corvette „Lübeck“ an das Bollwerk von Cuxhafen,
um am andern Tage die geladene Geſellſchaft zunächſt zu einer
Waſſerparthie einige Meilen ſtromaufwärts und dann auf den
„Barbaroſſa“ zu führen. Wie bitter war aber am nächſten
Morgen die Enttäuſchung der Gäſte, als ſowol die „Lübeck“
wie die beiden andern Schiffe ſpurlos verſchwunden waren. Wie
zürnten die ſo ſchmählich hintergangenen ſchönen Tänzerinnen
dem böſen Commodore, der ſolchen Spott mit ihnen getrieben,
und erſt die Mittheilungen des in das Geheimniß eingeweihten
[205]Die deutſche Marine 1848—1852
Amtmanns von Cuxhafen vermochten die allgemeine Entrüſtung
zu dämpfen und Troſt zu ſpenden.


Das angeſagte Ballfeſt war nur eine Kriegsliſt von
Brommy geweſen. Wie er vorausgeſetzt, war Steen Bille, durch
ſeine Spione davon benachrichtigt, in die Falle gegangen und
hatte unter ſolchen Umſtänden geglaubt, ſich am 13. in etwas
freieres Waſſer zurückziehen zu können, was ihm um ſo er-
wünſchter kam, als friſcher Nordwind mit unſichtigem regneri-
ſchem Wetter eingeſetzt hatte und den Aufenthalt nahe vor der
Elbmündung ſehr unangenehm machte.


Das Geheimniß war von Brommy ſo gut bewahrt worden,
daß auch von uns Officieren Niemand eine Ahnung davon hatte,
und die Ueberraſchung für das ganze Geſchwader eben ſo groß
war, wie für die Damen, als um Mitternacht ein Officier mit
dem Befehle an die beiden andern Schiffe entſandt wurde, Dampf
aufzumachen und ſich zum Fortgehen fertig zu halten.


Als der erſte Tagesſchimmer den Horizont färbte, lichteten
wir Anker und dampften die Elbe hinunter. Das Wetter blieb
uns günſtig, der Regen dauerte fort und der Ausblick war be-
ſchränkt. Trotzdem war der däniſche Admiral nicht ſo weit zurück-
gegangen, als Brommy gehofft hatte. Auf halbem Wege, zwi-
ſchen der Elbe und Helgoland, trafen wir auf die Dänen und
ſie machten ſofort Jagd auf uns.


Es waren die beiden Fregatten, welche wir am 4. geſehen
hatten und der „Geyſer“. Sie verſäumten nichts, um uns zu
erreichen und ſetzten ſo viel Segel, wie ſich irgend darauf
hängen ließen, trotzdem gelang es ihnen nicht. Eine Zeit lang
war die Jagd ſehr aufregend, und wir glaubten diesmal zu
einem Nahgefechte gezwungen zu werden. Die Fregatten kamen
mit halbem Winde auf uns herunter und näherten ſich zu-
ſehends, da ſie bei der ſteifen Briſe ſchneller liefen als wir,
aber ehe ſie auf Schußweite herangekommen waren, mußten ſie
wegen der zwiſchen Elbe und Weſer liegenden Gründe, denen
[206]Werner
wir mit unſern flacher gehenden Schiffen näher kommen konnten,
ſchärfer an den Wind gehen und verloren dadurch an Fahrt.
Der „Geyſer“ verſuchte nun mit aller Kraft uns aufzulaufen
und feuerte auf 4—5000 Schritt Granaten, die aber eben ſo
wie die unſeren den Gegner nicht erreichten, ſondern in der Luft
platzten und harmlos in das Waſſer fielen. Vor der Weſer
drehte das däniſche Geſchwader um.


Daß Brommy diesmal das Gefecht nicht annahm, war
ihm nicht zu verdenken. Wenn es den Fregatten gelang, uns
unter ihre Breitſeiten zu bekommen, was bei der ſteifen Briſe
leicht möglich war, ſo hätte eine glatte Lage wahrſcheinlich unſer
Schickſal beſiegelt, da unſere Maſchinen ungeſchützt und größten-
theils über Waſſer lagen — allein trotz dieſer Ueberzeugung
trug der ruhmloſe Tag nicht dazu bei, unſere Stimmung zu
verbeſſern. Das Debüt der deutſchen Flotte war ein zu trau-
riges geweſen, als daß wir noch mit Hoffnung und Vertrauen
in die Zukunft hätten blicken können.


Wir thaten auch fernerhin unſere Schuldigkeit, aber jeder
höhere geiſtige Schwung war gelähmt. Die deutſche Flotte vegetirte
ferner nur noch. Mit den Dänen kam ſie nicht wieder in Be-
rührung, und ſo lange der Krieg währte, zeigte ſich die ſchwarz-
rothgoldene Flagge nicht mehr in der Nordſee. Die Drohung
Palmerſton’s hatte ihren Zweck erreicht. Die Centralgewalt
und nachher der Bundestag beugten ihr Haupt vor dem eng-
liſchen Premierminiſter und Brommy erhielt Befehl, mit ſeinen
Schiffen hübſch fein zu Hauſe zu bleiben.


Die von Frankfurt übernommene und in „Eckernförde“
umgetaufte „Gefion“ war inzwiſchen dem Nordſeegeſchwader zu-
getheilt worden. Bei näherer Unterſuchung nach dem Kampfe
ſtellte ſich heraus, daß ſie doch ärger zuſammengeſchoſſen war,
als es anfänglich den Anſchein hatte, und ſo verging bis zu
ihrer völligen Reparatur eine geraume Zeit. Danach war ſie
aber einige Male nahe daran, für Deutſchland wieder verloren
[207]Die deutſche Marine 1848—1852
zu gehen. In dem einen Falle wurde ſie nur durch eine
energiſche That ihres erſten Officiers, in dem andern durch die
ſchützende Hand Preußens vor dem ſichern Untergange bewahrt.


Ich habe bereits früher erwähnt, daß mit dem Ankauf der
Corvetten „Hamburg“, „Lübeck“ und „Bremen“ auch zwei von
den engliſchen Kapitänen übernommen wurden, von denen der
eine Commandant des „Barbaroſſa“ war. Dem zweiten über-
trug Brommy den Befehl über die „Eckernförde“ nach ihrer
Wiederherſtellung. Nach Anſicht von uns deutſchen Officieren
war dies aber ein entſchiedener Mißgriff, denn wir alle hatten
Gelegenheit gehabt, den Engländer als einen wenig fähigen
Mann kennen zu lernen, der mindeſtens für das ihm be-
ſtimmte ſchwierige Commando gänzlich ungeeignet war. Glück-
licher Weiſe wurde ihm ein erſter Officier zur Seite geſtellt,
dem es nicht an Energie und Tüchtigkeit gebrach, der Schiffs-
fähnrich Thaulow, ein geborner Nordſchleswiger. Daß Brommy
ſelbſt dem Engländer nicht unbedingt Vertrauen ſchenkte, geht
aus den an Thaulow gerichteten Abſchiedsworten hervor, als
dieſer ſich zur Uebernahme ſeiner neuen Stellung bei ihm ab-
meldete. „Mit Ihrer Ehre und Ihrem Leben ſind Sie ver-
antwortlich für die Erhaltung der „Eckernförde““, ſagte er zu ihm.
Von einem Ausländer konnte er das freilich nicht verlangen,
namentlich nicht unter ſo kritiſchen Umſtänden, unter denen die
Fregatte, nur auf ſich ſelbſt angewieſen, unbeſchützt, in einem
vom Feinde occupirten Lande und unter einer Flagge lag, hinter
der nur die ohnmächtige Centralgewalt ſtand und der ſelbſt die
neutralen Mächte die Anerkennung verſagten.


Und dennoch wäre auch der tüchtigſte Commandant den
Verhältniſſen nicht gewachſen und das Schiff unbedingt verloren
geweſen, wenn ihm nicht König Friedrich Wilhelm IV. nach der
für Schleswig-Holſtein ſo unglücklichen Schlacht von Idſtedt die
Genehmigung zur Führung der preußiſchen Kriegsflagge ertheilt
und ein Detachement von hundert Soldaten unter Oberſt von
[208]Werner
Szymborski an Bord commandirt hätte, durch welche das Schiff
bis zur Entſcheidung über das Beſitzrecht gegen däniſche Angriffe
geſchützt werden ſollte.


Am 12. September 1850 machte General von Williſen
einen letzten Verſuch, mit der ſchleswig-holſteiniſchen Armee
bei Miſſunde den Uebergang über die Schlei zu forciren und
die däniſche Armee aus Schleswig zu werfen. Dieſer Verſuch
mißlang jedoch gänzlich, und ſchon gegen Abend drangen einzelne
däniſche Soldaten mit den ſich nach Süden zurückziehenden
ſchleswig-holſteiniſchen Truppen in die Stadt Eckernförde ein,
während däniſche Kanonenboote ſich dicht vor die Fregatte „Eckern-
förde“ legten.


Am jenſeitigen nördlichen Ufer des Hafens fuhren die
Dänen eine Feldbatterie auf, deren Geſchütze auf „ihre Gefion“
gerichtet wurden, während dieſe, zur Documentirung ſtricter Neu-
tralität, alle Geſchütze aus den Pforten gezogen und dieſelben
längsſchiffs aufgeſtellt hatte. Als der däniſche Batteriechef je-
doch unerwartet die preußiſche Flagge ſtatt der deutſchen an der
Gaffel wehen ſah, nahm er Anſtand, das Schiff zu beſchießen.
Dagegen eröffneten plötzlich die däniſchen Kanonenboote das
Feuer aus ihren ſchweren Bombengeſchützen, ſcheinbar zunächſt
auf die vor der „Eckernförde“ über den Hafen führende Schwimm-
brücke, dann aber direct auf die Fregatte, deren Bug von mehre-
ren im Unterraum des Schiffes platzenden Granaten durchſchla-
gen wurde, wenn es auch glücklicher Weiſe den Anſtrengungen
der Officiere und Mannſchaften gelang die daraus entſtehende
Feuersgefahr abzuwenden.


Als die Dänen ſahen, daß ihr Plan, die „Eckernförde“ von
ungefähr in Brand zu ſchießen, mißlang, ſteckten ſie ein unmittel-
bar neben dem Schiffe befindliches großes Holzlager in Brand.
Die Situation war eine höchſt gefährliche. Die dem Lande zu-
gekehrte Seite der unmittelbar am Ufer liegenden Fregatte be-
gann zu glühen, die Enden der Raaen und das Tauwerk fingen
[209]Die deutſche Marine 1848—1852
Feuer und nur die aufopferndſten Bemühungen der Beſatzung
vermochten der beginnenden Zerſtörung Einhalt zu thun.


Der Commandant ſchien jedoch unbegreiflicher Weiſe alles
aufzubieten, um die Abſichten der Dänen zu fördern. Den
Oberſt von Szymborski veranlaßte er, unter dem Vorgeben, das
Schiff ſei nicht mehr zu retten, mit ſeinem Detachement an Land
zu gehen, um den bald zu erwartenden Rückzug der Beſatzung
zu decken und dieſe aufzunehmen. Den in der Takelage mit
Löſchverſuchen beſchäftigten Matroſen rief er auf engliſch (deutſch
hatte er noch nicht gelernt) zu: „Kommt herunter und laßt das
Schiff zum Teufel brennen“ und dem erſten Officier verbot er,
das Schiff weiter von der Brandſtätte abzuholen, wozu dieſer
Ordre ertheilt hatte.


Das Schiff war unbedingt verloren, wenn den Befehlen
des Commandanten Folge geleiſtet wurde. Der erſte Officier
erkannte, daß der Moment gekommen ſei, wo er „mit ſeiner Ehre
und ſeinem Leben“ für die Erhaltung der Fregatte einzuſtehen
habe, wie Admiral Brommy von ihm verlangt. Der Comman-
dant hatte, wollte man nichts ſchlimmeres annehmen, unbe-
dingt den Kopf verloren — es war die höchſte Zeit zu han-
deln, und Thaulow handelte. Er beſann ſich nicht lange; ein-
gedenk ſeiner Pflicht gegen das Vaterland, kündigte er ohne
weiteres dem Engländer den Gehorſam. Dieſer verſuchte den
erſten Officier unter Deck und in Arreſt zu ſchicken, aber auch
der zweite Officier, Schiffsfähnrich Neynaber, ſagte ihm den Ge-
horſam auf; die Mannſchaft ſtand zu ihren deutſchen Officieren
und der Commandant ſah, daß es um ſeine Autorität geſchehen
ſei. Er war klug genug, die Sache nicht weiter zu treiben und
ließ ſtillſchweigend die Fregatte aus dem Bereiche des brennenden
Holzfeldes holen. Die Beſatzung arbeitete mit Aufbietung aller
Kräfte an dem Löſchen des bereits an verſchiedenen Stellen
brennenden Schiffes, und ſo gelang es, daſſelbe zu retten.


Am andern Morgen wurde zwiſchen Oberſt von Szym-
R. Werner, Erinnerungen. 14
[210]Werner
borski und dem Befehlshaber der däniſchen Artillerie die Ver-
einbarung getroffen, daß die Neutralität der „Eckernförde“ re-
ſpectirt, das Schiff nebſt Beſatzung aber als blockirt angeſehen
und vom Lande aus ſtreng bewacht werden ſolle. Am 15. Oc-
tober 1850 wurde endlich über das fernere Geſchick des Schiffes
Entſcheidung getroffen. An dieſem Tage traf an Bord ein von
König Friedrich Wilhelm IV. entſandter preußiſcher Officier mit
der für Officiere und Mannſchaft des Schiffes hoch erfreulichen
Nachricht ein, daß laut eines zwiſchen Kopenhagen und Frank-
furt abgeſchloſſenen Separatvertrages die „Eckernförde“ deutſches
Eigenthum bleiben ſolle.


Kurze Zeit darauf wurde das Schiff von Eckernförde nach
der Lübecker Bucht übergeführt. In Lübeck ſchiffte ſich das
preußiſche Detachement aus, aber die preußiſche Flagge blieb auf
dem Schiffe zu ſeinem Schutze wehen. Gegen Ende November
ging es nach der Nordſee ab und wurde am 30. d. M. unter
Helgoland von der deutſchen Dampfcorvette „Ernſt Auguſt“,
unter Commando des Lieutenants I. Claſſe Reichardt, in Em-
pfang genommen, der zugleich den Befehl überbrachte, die
deutſche Flagge ſtatt der preußiſchen zu heißen. Am 1. Decem-
ber traf die „Eckernförde“ in Bremerhafen ein und kündete mit
einundzwanzig Kanonenſchüſſen ſeine Ankunft.


Wir Officiere empfanden eine gewiſſe Freude, daß die
Fregatte nach ſo vielen Fährlichkeiten endlich ſicher in einem
deutſchen Hafen war, aber dieſe Freude war ſtark von Wehmuth
und Bitterkeit durchſetzt. Niemand von uns verhehlte ſich, daß
die Tage der deutſchen Flotte gezählt ſeien, von dem frühe-
ren Enthuſtasmus war keine Spur mehr vorhanden. Wir alle
fühlten, daß der ſchöne Traum deutſcher Einheit und deutſcher
Seemächtigkeit bald ausgeträumt ſei.


Die Schiffsfähnriche Thaulow und Neynaber wurden wegen
Gehorſamsverweigerung vor ein Kriegsgericht geſtellt, aber glän-
zend freigeſprochen, was einer moraliſchen Verurtheilung ihres
[211]Die deutſche Marine 1848—1852
Commandanten gleichkam, der aber wunderbarer Weiſe bis zur
Auflöſung der Flotte in Dienſt blieb, wenn er auch das Com-
mando der „Eckernförde“ verlor.


Auflöſung.


Das bange Vorgefühl von dem bevorſtehenden Ende der
deutſchen Flotte, das ſich allen innerhalb derſelben Stehenden
unwillkürlich ſchon bei dem Ausgange des Jahres 1850 aufdrängte,
war leider ein berechtigtes. Wenngleich die endgültige ſchmach-
volle Thatſache der öffentlichen Verſteigerung der nationalen
Schöpfung ſich noch faſt 1½ Jahre hinzögerte, ſo gleich dieſe
ganze Zeit doch nur einer beſtändigen Agonie für die Betheiligten.


Es wurden zwar verſchiedene Verſuche gemacht, die Flotte
für Deutſchland zu erhalten, aber ſie ſcheiterten ſämmtlich an
den zerfahrenen politiſchen Verhältniſſen und namentlich an dem
Ringen der beiden Großmächte Preußen und Oeſterreich um die
Oberherrſchaft.


Nachdem der deutſche Bund wiederhergeſtellt und ſeit Mai
1851 die Bundesverſammlung ſowol von Preußen und der Union,
wie von Oeſterreich für einen Theil ſeiner Länder beſchickt war,
beſchäftigte man ſich in ihr auch mit der Zukunft der deutſchen
Flotte und ſuchte eine Form für ihre ſichere Exiſtenz zu finden.


Eine Reihe der deutſchen Mittel- und Kleinſtaaten meinte
es aufrichtig gut mit der Marine und trat ohne Hinterge-
danken für ſie als eine allgemeine deutſche Inſtitution ein,
aber ohne Erfolg. Die Lage der Bundesverhältniſſe war eine
derartige, das politiſche Band der Bundesmitglieder ſo locker
und die Ausſicht auf ſeine größere Befeſtigung und Einheit eine
ſo geringe, daß von der Idee einer dem Bunde als ſolchem ge-
hörigen, durch Matricularbeiträge zu unterhaltenden und dem
14*
[212]Werner
Bunde allein unterſtellten Flotte als unausführbar Abſtand ge-
nommen werden mußte.


Man machte deshalb den Vorſchlag einer Dreitheilung, in
eine öſterreichiſche, preußiſche und in eine Nordſeeflotte, welche
letztere von den übrigen deutſchen Staaten erhalten werden ſollte.
Obwol dieſer von Oeſterreich ausgehende Vorſchlag nicht viel
Lebensfähigkeit verſprach, wurde er doch von der Bundesverſamm-
lung eingehend erwogen und ein Ausſchuß ernannt, der unter
Zuziehung von Sachverſtändigen den Plan und ſeine Einzelheiten
prüfen und dem Bunde darüber Bericht erſtatten ſollte. Das
letztere geſchah in der Sitzung der Bundesverſammlung vom 25.
November 1851.


Dieſer Bericht formulirte die Angelegenheit, unter Zugrunde-
legung des von der Sachverſtändigen-Commiſſion geſammelten
Materials, folgendermaßen:


1. Zum Schutze des Handels, der Schiffahrt und der
Küſten Deutſchlands wird eine deutſche Bundesflotte gebildet,
welche aus drei Abtheilungen beſteht:


a. aus einer öſterreichiſchen, nach Analogie des Bundes-
heeres, ausgeſchieden aus der mit einem Ordinarium von 1½
Millionen Gulden und einem Extraordinarium von zwei Mil-
lionen Gulden bis 1854 und 1½ Millionen Gulden bis 1860
ausgeſtatteten Marine;


b. aus einer preußiſchen, dotirt mit einer Million Tha-
ler jährlich;


c. aus einer Nordſeeflotte, für welche von den übrigen
deutſchen Staaten in einem näher zu vereinbarenden Verhältniſſe
für die nächſten ſechs Jahre wenigſtens ebenfalls eine Million
Thaler aufzubringen ſind.


Die Zahl und Stärke der Schiffe jeder Abtheilung bleibt
näherer Vereinbarung vorbehalten und ſind jene ausgeworfenen
Summen vorerſt nur als Anhaltspunkte zu betrachten.


2. Die gleichmäßige Feſtſtellung des Zuſammenwirkens der
[213]Die deutſche Marine 1848—1852
drei Flottenabtheilungen im Frieden, ſo wie die Beſetzung der
ausländiſchen Stationen unterliegt ebenfalls der näheren Ver-
einbarung.


3. Dem Bund ſteht zu im Frieden: Ueberwachung der
contingentmäßigen Leiſtung, gegenſeitige Inſpectionen, Veran-
laſſung gemeinſchaftlicher Uebungen und Expeditionen, jedoch
letztere nur im Einverſtändniß mit den betreffenden Regie-
rungen.


4. Für den Fall eines Bundeskrieges ſteht dem Bunde
die Verfügung über die Flotte zu.


5. Oeſterreich, Preußen und die Staaten der Nordſeeflotte
behalten die Organiſation und Verwaltung und, außer dem Falle
des Bundeskrieges, auch die unbeſchränkte Verfügung über ihre
Flottenabtheilungen, ſo weit dieſelbe nicht durch die unter 2 er-
wähnte Vereinbarung beſchränkt werden ſollte.


6. Die Befugniſſe des Bundes werden durch eine der
Bundesverſammlung unterzuordnende Marinecommiſſion aus-
geübt.


7. Die Staaten der Nordſeeflotte werden ſich über die
Errichtung der zur Organiſation und Verwaltung der Flotte
erforderlichen Behörden vereinigen.


8. Die Staaten, welche künftig zur Nordſeeflotte gehören,
übernehmen die geſammte Nordſeeflotte mit Material und Per-
ſonal, erwerben ſämmtliche Rechte des Bundes über dieſelbe,
befriedigen dagegen die von der Bundeskaſſe oder einzelnen
Bundesgliedern bisher geleiſteten Vorſchüſſe und entſchädigen
Preußen für ſeine bisher zur Nordſeeflotte gezahlten Beiträge.


9. Zu einem raſchen Abſchluſſe der vorbehaltenen Verein-
barungen und Feſtſtellungen ertheilen die Bundesregierungen
ihren Geſandten ſchleunigſt die nöthigen Vollmachten und In-
ſtructionen.


Schließlich beantragte der Ausſchuß, der Bund wolle ſämmt-
liche Regierungen erſuchen, ihre Meinung über die weſentlichen
[214]Werner
Punkte, namentlich über ihre Betheiligung an der Nordſeeflotten-
abtheilung abzugeben und, zur Verhinderung der factiſchen Auf-
löſung der vorhandenen Flotte, mit Ablauf des Jahres Mittel
zur ferneren Erhaltung derſelben herbeizuſchaffen, ſei es durch
Vorſchüſſe, Matricularbeiträge oder durch Aufnahme von An-
leihen gegen Verpfändung der Schiffe.


Die Bundesverſammlung beſchloß hierauf über die vor-
ſtehenden Anträge die Inſtructionen der Regierungen binnen drei
Wochen einzuholen.


Wie der Unbefangene aus dem Obigen erſieht, verſprach
eine Verwirklichung dieſer Anträge der deutſchen Flotte keine
lebensfähige Zukunft. Wenn irgendwo eine einheitliche Leitung
erforderlich wird, um Leiſtungsfähigkeit zu ſichern, ſo iſt dies
bei Heer und Flotte der Fall. Der unglücklichen deutſchen Flotte
war es aber nicht nur vorbehalten, in drei Contingente zu
zerfallen, jede mit eigener Organiſation und Verwaltung,
in welche weder der Bund noch irgend eine Centralbehörde
hineinreden durfte, ſondern eines dieſer Contingente ſollte
ſogar von dreißig Souveränen abhängig ſein. Eine ſolche Ein-
richtung trug ſchon den Keim des Todes in ſich, und vom
patriotiſchen Standpunkte war es deshalb nicht zu bedauern,
daß ſie nicht ins Leben trat. Das Project ſcheiterte denn auch
an dem Widerſtande Preußens ſo wie der mitteldeutſchen Staa-
ten. Als die Geſandten ihre Inſtructionen empfangen hatten,
ſprachen ſich die erwähnten Staaten in der Bundesſitzung vom
27. December 1851 entſchieden gegen den öſterreichiſchen Vor-
ſchlag der Dreitheiligkeit der deutſchen Flotte aus, und da auch
eine anderweitige Einigung über deren ferneres Schickſal nicht
erreicht werden konnte, ſo wurde in der nächſten Sitzung, am
31. December, definitiv der Stab über ſie gebrochen.


An dieſem Tage hörte die deutſche Flotte auf,
Bundesflotte zu ſein und es wurde ihre Verwer-
thung reſp. Veräußerung beſchloſſen
.


[215]Die deutſche Marine 1848—1852

Da dieſer Beſchluß ſich indeſſen nicht ſofort ausführen ließ,
andererſeits aber der Mangel an Geld zur ferneren Unterhal-
tung der Flotte den Bund in nicht geringe Verlegenheit ſetzte,
ſo erbarmte ſich Preußen der jetzt von allen Seiten Verlaſſenen
und erklärte ſich bereit, ihr Daſein durch Nachzahlung ſeines
Theiles an der letzten Matricularumlage im Betrage von
532,000 Gulden noch eine Zeitlang zu friſten.


Es wurden nun bundesſeitig die Einleitungen zur Ver-
werthung der Flotte getroffen, und unter dem 12. Januar 1852
theilte der Bundespräſidial-Geſandte Graf von Thun dem
Contreadmiral Brommy das traurige Reſultat des letzten Bundes-
beſchluſſes mit.


Dieſes Schreiben enthielt zugleich die Aufforderung, bei
der bevorſtehenden Kataſtrophe Alles zu verhindern, was das
Anſehen und die Würde des Bundes gefährden könne, eine
Mahnung durch die ſich der Oberbefehlshaber mit Recht verletzt
fühlen mußte, da ſie einen Zweifel an ſeinem Willen einſchloß,
bis zum letzten Augenblicke ſeine Pflicht zu thun.


Sein Antwortſchreiben wies dieſe Unterſtellung in würde-
voller Weiſe zurück.


„Daß ich bis zum letzten Augenblicke,“ ſchrieb er, „die
Disciplin ſtreng aufrecht erhalten werde, dafür darf Euer Ex-
cellenz dasjenige als Bürgſchaft dienen, was ich in den von
mir ausgearbeiteten Dienſtvorſchriften niedergeſchrieben habe. Die
Vorſchriften, welche ich meinen Untergebenen als Richtſchnur
vorzeichnete, werde ich ſelbſt pünktlich auszuführen wiſſen.


„Alles zu verhindern, was in der zu befürchtenden Kata-
ſtrophe das Anſehn und die Würde des Bundes gefährden
könnte, ſoll alsdann meine Aufgabe ſein, damit mir im allge-
meinen Schiffbruche wenigſtens der Ruhm zu Theil werde, ein
während anarchiſcher Zuſtände geſchaffenes Werk aus dem Chaos
in Ordnung gebracht, es als Muſter von Subordination und
Disciplin unter den ſchwierigſten und verwickeltſten Umſtänden
[216]Werner
hingeſtellt und es als ſolches bis zur vollkommenen Auflöſung
erhalten zu haben, damit die Alles richtende Zeit nicht unſere
Marine in gleiche Kategorie mit andern Erzeugniſſen des Jahres
Achtundvierzig ſtelle.“


Dieſer Ruhm iſt dem Admiral geworden und ungeſchmä-
lert verblieben. Bis zum letzten Augenblicke hat er es ver-
ſtanden, jede Unordnung fern zu halten, trotz der rückſichtsloſen
und der Würde des Bundes ſo wenig angemeſſenen Art, wie
Officiere und Mannſchaften bei der Entlaſſung behandelt wurden
und die ſpäter noch näher erwähnt werden wird.


Unter dem 27. Januar wurde von der Bundesverſamm-
lung an die verſchiedenen Regierungen die Anfrage gerichtet,
welche Schiffe ſie eventuell gegen den Taxwerth zu übernehmen
geneigt ſeien, jedoch nur Preußen erklärte auf die Segelfregatte
„Eckernförde“ und die Dampffregatte „Barbaroſſa“ zu reflec-
tiren; alle übrigen Staaten lehnten ab.


Ehe dieſe Uebernahme indeſſen zur Thatſache wurde und
trotz der vom Bunde beſchloſſenen Auflöſung, machten einige
Staaten noch einen letzten Verſuch, die vorhandene Flotte vor
dem ihr drohenden Schickſale zu retten, und zwar ging die erſte
Anregung hierzu von Bayern aus. Leider war jedoch nicht der
nationale Gedanke das Motiv des Vorſchlags, ſondern es ſollte
dadurch nur ein Druck zu Gunſten des von Oeſterreich erſtreb-
ten allgemeinen Zollvereins ausgeübt werden.


Preußen hatte den bis dahin beſtandenen Zollverein nach
Abſchluß eines beſonderen Vertrages mit Hannover und Gewäh-
rung eines Präcipuums an daſſelbe gekündigt, um ihn auf er-
weiterter Grundlage wieder neu aufzurichten.


Oeſterreich ſah und nicht mit Unrecht voraus, daß die
Zolleinheit Norddeutſchlands der erſte Schritt auch zu deſſen
politiſcher Einheit unter preußiſcher Führung ſein werde und
glaubte dieſem Schachzuge ſeines Rivalen nur dadurch wirkſam
begegnen zu können, ſo wie ſeine gefährdete Suprematie in
[217]Die deutſche Marine 1848—1852
Deutſchland wiederhergeſtellt und befeſtigt zu ſehen, wenn es
ihm gelänge, mit Geſammtöſterreich in den neuen Zollverein
einzutreten.


Es ſuchte Bayern für ſeine Anſicht zu gewinnen. Dieſes
ließ ſich auch zu ihm hinüberziehen und es ſollte die Flotten-
frage zur Förderung der beiderſeitigen Beſtrebungen ausgebeutet
werden. Das warme Intereſſe, welches faſt ungetheilt das ganze
deutſche Volk und auch eine größere Zahl der Regierungen für
Erhaltung der Flotte hegte, ſollte als Hebel für die politiſchen
Pläne Oeſterreichs benutzt und zum wirkſamen Alliirten in der
Machtfrage gemacht werden.


Der bayriſche Vorſchlag, deſſen eigentliche Natur freilich
erſt ſpäter zu Tage trat, fand bei Hannover bereitwillig Auf-
nahme. Letzteres erließ an die deutſchen Staaten, mit Ausnahme
der beiden Großmächte Preußen und Oeſterreich, eine Einladung
zur Beſchickung eines Flottencongreſſes zum 20. März in Han-
nover. Die Aufgabe dieſes Congreſſes ſollte die Gründung
eines Flottenvereins ſowie Berathung und Beſchlußfaſſung über
die Herbeiſchaffung der für Gründung und Erhaltung einer
lebensfähigen Nordſeeflotte erforderlichen Mittel ſein.


Preußen und Oeſterreich waren zur Theilnahme nicht auf-
gefordert, weil, nach der Anſicht Hannovers, eine ſolche Einladung
durch das den bisherigen Bundesverhandlungen zur Voraus-
ſetzung und Grundlage dienende Contingentsverhältniß zum
Bunde ausgeſchloſſen ſei. Von den übrigen deutſchen Staaten
hatten zwanzig der Einladung durch Entſendung von Bevoll-
mächtigten Folge geleiſtet, die übrigen theils direct abge-
lehnt, theils keine Vertreter geſandt. Unter den Fehlenden
befanden ſich auch Württemberg und Baden, wodurch ſchon
von vorn herein dem Congreſſe kein günſtiges Prognoſtikon ge-
ſtellt wurde.


Der Vorſitzende, der hannoverſche Miniſterpräſident von
Scheele, eröffnete die Verſammlung mit einer Anrede, die ihrem
[218]Werner
Wortlaute nach jeden Hintergedanken ausſchloß und nur den
deutſch-patriotiſchen Gefühlen Hannovers in dieſer nationalen
Angelegenheit Ausdruck gab. Er ſprach aus, daß Hannover ſich
gedrungen gefühlt habe, in letzter Stunde noch einen Verſuch
anzuſtellen, durch Erhaltung der Flotte der Gegenwart das be-
klagenswerthe Schauſpiel der Auflöſung einer Inſtitution zu er-
ſparen, die von dem Bunde der ſouveränen Fürſten und freien
Städte Deutſchlands vor kurzem als Bundeseigenthum förmlich
anerkannt worden und nach ſeiner Anſicht den organiſchen Ein-
richtungen des Bundes zugehörig und mit den Hoffnungen und
Wünſchen der ganzen Nation auf das Engſte verknüpft ſei.


Sollte dieſer Verſuch, das letzte Mittel zur Abwendung
der drohenden Gefahr, ſcheitern, dann werde gewiß in nicht
ferner Zukunft die Reue herankommen und das richtende Urtheil
der Geſchichte diejenigen Staaten nicht verſchonen, durch deren
Theilnahmsloſigkeit jenes nationale Inſtitut zu Grunde gegangen
ſei; darum möge man an der Hoffnung des Gelingens um ſo
feſter bis zum letzten Augenblicke halten.


Um jeden Zweifel an der Loyalität Hannovers gegen den
Bund von vornherein auszuſchließen, erklärte der Vorſitzende dann,
daß die zu gründende Flotte nur im Bundesverhältniſſe zu er-
halten ſei. Zu einer andern, als zu einer Einrichtung im
Bundesverbande werde Hannover nie die Hand zu bieten ver-
mögen, weil eine von der Einwirkung und Verfügung des
Bundes unabhängige Kriegsmacht ſich immer zu einem die
Bundesgemeinſamkeit löſenden Elemente geſtalten müſſe. Des-
halb ſei es auch nur die Abſicht, auf dem Congreſſe die zur
Vorbereitung der weiteren Entſchließung des Bundes nothwendige
vorgängige Einigung der Staaten unter einander über die Bil-
dung des Contingents zu erſtreben.


Dann zu dem als nothwendig erkannten Beſtande der be-
abſichtigten Flotte übergehend, wurde als Minimalgrundlage eines
kräftigen Organismus ein Geſchwader von zwei Segelfregatten,
[219]Die deutſche Marine 1848—1852
zwei Segelcorvetten, drei Dampfſchiffen nebſt einer Anzahl von
Kanonenbooten, ſo wie zur nachhaltigen Unterhaltung eines
ſolchen Beſtandes, einſchließlich der Koſten der erſten Gründung
und der Erbauung eines Kriegshafens, ein jährlicher Aufwand
von etwa einer Million Thaler als nothwendig erachtet.


Zur Deckung dieſer Summe ſchlug Hannover den Satz
von zwei Groſchen pro Kopf der auf zwölf Millionen Seelen
geſchätzten Bevölkerung der eingeladenen Staaten und daneben
eine Präcipualleiſtung der Küſtenſtaaten in demſelben Betrage
pro Kopf vor, was zuſammen 927,000 Thaler pro Jahr ergebe,
wobei durch die Theilnehmer dann noch die Lücken zu ergänzen
ſeien, da einige Staaten ſich über ihren Beitritt zum Flotten-
verein noch nicht entſchieden hätten.


Bei der Abſtimmung über dieſe Vorſchläge ergaben ſich
leider ſofort ſehr divergirende Anſichten. Es zeigte ſich der
innige Zuſammenhang, in den die Flottenfrage mit der damaligen
Zoll- und Handelskriſe gebracht werden ſollte und wie die ein-
zelnen Staaten ſich zur letzteren ſtellten.


Die Bereitwilligkeit, ſich durch Geldbeiträge an der Er-
haltung der Flotte zu betheiligen, wenn auch nicht überall in
Höhe der als nothwendig erkannten Summen, ſprachen alle
verſammelten Vertreter aus, nur machten ſie dieſelbe von ver-
ſchiedenen Bedingungen abhängig. Braunſchweig, Oldenburg,
die Hanſeſtädte, Coburg-Gotha, Anhalt-Deſſau und Schaum-
burg-Lippe ſtimmten den hannover’ſchen Vorſchlägen ohne Vor-
behalt bei; Sachſen-Weimar, Sachſen-Altenburg, Anhalt-Bern-
burg und Lippe-Detmold knüpften ihre Zuſtimmung an den
Beitritt Preußens zum Flottenvereine; Bayern, Sachſen, Groß-
herzogthum Heſſen, Naſſau und Sachſen-Meiningen machten ihre
Theilnahme von einer befriedigenden Löſung der Zoll- und
Handelsfrage abhängig. Was aber unter dieſer „befriedigenden
Löſung“ zu verſtehen war, ergab ſich deutlich aus der vom
bayriſchen Geſandten abgegebenen Erklärung.


[220]Werner

Dieſelbe lautete folgendermaßen: Bayern habe zu jeder
Zeit und bei allen Anläſſen, wo es ſich um gemeinnützige
Schöpfungen und Einrichtungen für das Wohl des geſammten
deutſchen Vaterlandes handelte, ſeine Opferbereitwilligkeit in
ſolchem Maße bethätigt, daß es ſich des allſeitigen Anerkennt-
niſſes hierüber verſichert halten dürfe. In Bezug auf die vor-
liegende Angelegenheit habe es bereits in der Bundestagsſitzung
vom 27. December v. J. ſeine Mitwirkung zur Bildung einer
Nordſeeflotte auf der Grundlage eines dreitheiligen Flottencon-
tingents zugeſagt und ſich anheiſchig gemacht, für die erſte Grün-
dung einen einmaligen Beitrag von 800,000 Gulden und für
deren Erhaltung jährlich 200,000 Gulden zu zahlen. Indeſſen
ſei es dabei überall von der eben ſo wichtigen als in den Ver-
hältniſſen begründeten Vorausſetzung ausgegangen, daß die über
die deutſchen Zoll- und Handelsverhältniſſe ſchwebenden Ver-
handlungen in befriedigender Weiſe gelöſt würden. Ein
Binnenſtaat wie Bayern könne ſo lange, als eine Trennung von
der Nordſee durch eine Zollgrenze beſtehe, und ſo lange nicht
die Gewißheit gegeben ſei, dieſe Grenze durch Vereinigung in
ein gemeinſchaftliches Zollgebiet beſeitigt zu ſehen, ſich von dem
Beſtande einer Nordſeeflotte für ſeine materiellen Intereſſen einen
mit den bedeutenden Opfern, welche dieſelbe fordere, im Ver-
hältniſſe ſtehenden Nutzen nicht verſprechen. Ebenſo müſſe
es wiederholt darauf aufmerkſam machen, daß
auch, ſo lange zwiſchen Oeſterreich und dem übrigen
Deutſchland die Trennung der Zoll- und Handels-
verhältniſſe fortdauere, der Bildung einer deut-
ſchen Flotte durch drei Contingente nicht minder
eine der weſentlichſten Grundlagen für die ge-
meinſamen, durch dieſe Flotte zu ſchützenden Inter-
eſſen fehlen würde
.


Indem Bayern dieſen Standpunkt feſt halte, könne es an
keiner Vereinigung Theil nehmen, an welcher nur eine der
[221]Die deutſche Marine 1848—1852
beiden Großmächte betheiligt ſei, da dies immer nur eine Quelle
von Irrungen und Verwickelungen bilden würde. Dieſen Er-
klärungen ſchloſſen ſich, wie bereits bemerkt, Sachſen, Groß-
herzogthum Heſſen, Naſſau und Sachſen-Meiningen an.


Es hatten ſich mithin im Schooße des Congreſſes drei
Gruppen gebildet, deren Anſichten ſich principiell gegenüber-
ſtanden. Die weiteren Verhandlungen führten weder eine Eini-
gung in den Differenzpunkten noch eine Annäherung der ab-
weichenden Meinungen herbei. Da auch die Frage des Geld-
bedarfs nicht genügend erledigt werden konnte, weil nach Er-
klärung des zur Conferenz zugezogenen Admiral Brommy die
von den Staaten eventuell zu bewilligende Unterhaltungsſumme
dem wirklichen Bedarf nicht entſprach und die Mehrzahl der
Staaten eine höhere Beitragsquote nicht zu geben geſonnen
war, ſo kam am dritten Congreßtage das Präſidium zu der
traurigen Ueberzeugung, daß die von der Hannover’ſchen Regie-
rung erſtrebten Verſuche als geſcheitert zu betrachten ſeien.


Damit war das endgültige Todesurtheil der Flotte ge-
ſprochen und der letzte Act des Dramas begann.


Acht Tage nach dem Auseinandergehen des Congreſſes,
am 2. April 1852, erhielt Brommy vom Bundespräſidium den
Befehl, die Schiffe „Eckernförde“ und „Barbaroſſa“ an den
Commiſſar der preußiſchen Regierung, Commodore Schröder,
auszuliefern, und dieſer Befehl wurde am 5. April, dem Jahres-
tage der Eroberung der „Gefion“, vollzogen.


Welcher Contraſt zwiſchen dem 5. April 1849 und dem
von 1852! Damals erfüllte Jubel und Begeiſterung alle Ge-
müther, die Hoffnung auf ein einiges Deutſchland und eine
ſeiner Größe und Würde angemeſſene Flotte ſchwellte die Bruſt
eines jeden Patrioten. Mit Stolz blickten alle Angehörigen der
Marine zu dem ſchwarzrothgoldenen Banner empor, das über
ihren Häuptern wehte und die Wiederkehr mächtiger Geltung
zur See verhieß, wie ſie einſt vor Jahrhunderten Deutſchland
[222]Werner
beſeſſen — und heute? Alle jene ſchönen Hoffnungen waren ge-
knickt und zu Grabe getragen. Mit tiefer Trauer im Herzen
ſahen Officiere und Mannſchaften der Flotte die Flagge, der ſie
Treue geſchworen, langſam herniederſinken von den Maſten der
Schiffe, um nie wieder emporzuſteigen. Der ſchöne Traum war
ausgeträumt und Thränen der Wehmuth rannen über die ge-
bräunten Wangen Derer, die damit ihren Lebenshoffnungen ent-
ſagten und in eine trübe unſichere Zukunft blickten.


Die weitere Auflöſung ging nun ſchrittweiſe vor ſich. Der
als Bundescommiſſar beſtellte Staatsrath Dr. Hannibal Fiſcher
traf im Mai 1852 in Bremerhafen ein, um den Materialbe-
ſtand der Flotte zu übernehmen und denſelben zu veräußern,
was ſich in Bezug auf die Schiffe jedoch erſt im Laufe des
Jahres vollzog.


Alle ohne Patent angeſtellten Officiere wurden mit der
Abfindung eines dreimonatlichen Gehalts bereits im Mai ent-
laſſen und von den Mannſchaften nur ſo viele zurückbehalten,
als zur Bewachung der noch nicht verkauften Schiffe unumgäng-
lich nöthig waren. Am 29. Juli ordnete ein Bundesbeſchluß
auch die Entlaſſung der mit Patent und ohne Vorbehalt ange-
ſtellten Officiere und Beamten an, indem man ihnen ein Jahres-
gehalt als vollſtändige Abfindungsſumme offerirte, ein Beſchluß,
der kein günſtiges Zeugniß für das Rechtsgefühl des Bundes
ausſtellte und allgemeine Entrüſtung hervorrief.


Bereits im Januar, als Graf Thun den Admiral Brommy
von dem bevorſtehenden Aufhören der Flotte in Kenntniß geſetzt
und ihn aufgefordert hatte, Alles zu verhindern, was die Würde
und das Anſehen des Bundes beeinträchtigen könne, hatte Brommy
dieſen Punkt zur Sprache gebracht. Er ſchrieb damals an den
Bundespräſidialgeſandten: „Um aber dieſe ſchwierige Aufgabe
(nämlich die Auflöſung der Flotte) zu erleichtern, dürfte es wol
geeignet erſcheinen, dafür Sorge zu tragen, daß dem Officier-
corps, welches dem Dienſte der deutſchen Marine ſich mit dem
[223]Die deutſche Marine 1848—1852
vollen Vertrauen widmete, das der an die Spitze der Regie-
rung geſtellte Kaiſerliche Fürſt erweckte — ein Beweis, daß die
neue Schöpfung keine revolutionären Tendenzen haben ſolle —
irgend eine Garantie für die Zukunft gegeben werde, die durch
eine plötzliche Auflöſung der Flotte gefährdet ſei.


„Wenn Eure Excellenz in geneigte Berückſichtigung ziehen,
daß ein Theil der Officiere durch diplomatiſche Verhandlungen
herübergezogen, andere aber veranlaßt wurden, lucrative Stel-
lungen aufzugeben, um ſich dem Dienſte des Vaterlandes zu
widmen, welches ihrer Kräfte bedurfte, daß alle dieſe im vollen
Glauben an die Decrete des Erzherzogs-Reichsverweſers in den
Dienſt traten, ſo iſt es gewiß nur billig, zu erwarten, daß eben
dieſe Decrete auch in Kraft verbleiben und die Zukunft derer
ſichern, die ſich plötzlich der Mittel ihrer Exiſtenz beraubt ſehen.


„Der frühere Bundestag übertrug dem Reichsverweſer ſeine
Machtvollkommenheiten, dieſer der Bundescentralcommiſſion, von
welcher die Bundesverſammlung ſie wieder übernahm. Legal
war alſo die Marine von dem Augenblicke an, wo der Reichs-
verweſer dieſelbe ſanctionirte, denn in einen revolutionären Dienſt
würden weder ich noch die andern Officiere getreten ſein.


„Ich hoffe keine Fehlbitte zu thun, wenn ich mich ver-
trauensvoll an Eure Excellenz mit dem Geſuche wende, bei
Auflöſung der Flotte die gerechten und billigen Anſprüche der
Officiere bei der hohen Bundesverſammlung vertreten zu wollen.“


Aber weder dieſer noch wiederholte Anträge des Admirals
nach dieſer Richtung vermochten, trotz ihrer völligen Berechtigung,
lange Zeit eine Aenderung des bezüglichen Bundesbeſchluſſes nicht
herbeizuführen, und wenn ſpäter den patentirten Officieren eine
kärgliche Penſion, von der allein ſie nicht leben konnten und
auch nur ſo lange gezahlt wurde, bis ſie ſich eine andere Lebens-
ſtellung verſchafft hatten, ſo war dies auch nicht einmal Ver-
dienſt des Bundestags als ſolchen, ſondern der Dank dafür
gebührte Preußen, deſſen Geſandter, Herr von Bismarck-Schön-
[224]Werner
hauſen, mit ſeiner bekannten Energie für die ſo ungerecht be-
handelten Officiere eintrat.


Der Bundescommiſſar Fiſcher war in vielen Beziehungen
nicht der geeignete Mann, um den ihm gewordenen allerdings
peinlichen Auftrag in einer Weiſe zu erledigen, wie es im Inter-
eſſe aller Betheiligten erwünſcht war.


Eine ſehr unliebſame Verzögerung der Angelegenheit war
die Folge, und erſt am 31. März 1853 der letzte Act des
nationalen Dramas ausgeſpielt. Ein Generalbefehl des Ad-
miral Brommy von dieſem Tage verkündete dem deutſchen Volke,
daß die deutſche Flotte aufgehört hatte, zu exiſtiren und nur
noch der Erinnerung angehörte.


Dieſer Befehl lautete folgendermaßen:


„Dem ſämmtlichen Perſonal der deutſchen Bundesmarine
wird hiermit bekannt gegeben, daß im Anſchluß an die bezüg-
lichen früheren Verfügungen zur Ausſcheidung von Schiffen und
Material ſowie zur Entlaſſung von Perſonal nunmehr unter
dem 15. d. M. die Auflöſung der Marinebehörden und da-
mit die Entlaſſung des geſammten bei Abwickelung der Geſchäfte
noch betheiligt geweſenen Perſonals zum 31. März d. J. höch-
ſten Ortes beſchloſſen worden iſt und durch das Obercommando
zur Ausführung wird gebracht werden.


„Schmerzlich iſt es dem Obercommando, dieſen inhaltſchwe-
ren Act zur allgemeinen Kenntniß bringen zu müſſen, einen
Act, durch welchen nicht nur das mit nationaler Begeiſterung
in’s Leben gerufene und unter den ſchönſten Erwartungen
emporgeblühte Inſtitut einer deutſchen Marine den bloßen Er-
innerungen anheimgegeben wird, ſondern durch welchen auch
die Hoffnungen ſo vieler tüchtiger Männer, die dem Vaterlande
ihre Kräfte und Leben zu weihen nicht anſtanden, vernichtet
worden ſind.


„Dagegen bleibt es dem Obercommando ein wohlthuendes
Gefühl, den von dieſen trüben Verhältniſſen abgewendeten Blick
[225]Die deutſche Marine 1848—1852
mit der Ueberzeugung in die Vergangenheit zurückwerfen zu
können, daß dieſelbe ein glänzendes Beiſpiel dafür geweſen, was
unbedingte Hingabe an eine große Idee und Vertrauen in die
Oberleitung, der ihre Ausführung anvertraut war, ungeachtet
aller entgegenſtehenden Hinderniſſe hervorzubringen vermögen.


Mit Stolz darf das Obercommando es ausſprechen, daß
die deutſche Marine innerhalb der ihrer Ausbildung geſteckten
engen Grenzen und unter den ſchwierigſten Verhältniſſen einen
Höhepunkt erreicht hatte, welchem Sachkundige die vollſte Aner-
kennung zollen mußten und der den Beweis lieferte, was Deutſch-
land hinſichtlich ſeiner Wehrkraft zur See unter günſtigen Um-
ſtänden zu leiſten vermöchte!


Indem das Obercommando ſämmtlichen Officieren, Be-
amten und Mannſchaften der Marine Lebewohl ſagt, fühlt es
ſich gedrungen, denſelben für ihre geleiſteten Dienſte ſeine volle
Anerkennung und Zufriedenheit hiermit ausdrücklich und dankend
auszuſprechen.


Bremerhafen, den 31. März 1853.


Das Obercommando der Marine.
Rudolph Brommy,
Contreadmiral.


Als im Monat März 1849 das erſte große deutſche
Kriegsſchiff auf der Weſer eintraf und den Namen „Barba-
roſſa“ empfing, da beſeelte jeden Deutſchen das erhebende Be-
wußtſein, einer großen Nation anzugehören und erfüllte ſeine
Bruſt mit froher Hoffnung für die Ehre, Größe, Einheit, Frei-
heit und wachſende Herrlichkeit des Vaterlandes.


Man glaubte dieſe Herrlichkeit neu errichtet und den alten
Kaiſer Barbaroſſa aus den Fluthen, in denen er ſeinen Tod
fand, auferſtanden, um auf den Fluthen des Meeres ſeine un-
ſterbliche Laufbahn neu zu beginnen.


Wie er bis dahin im Geiſte und in der Erinnerung ſeines
R. Werner, Erinnerungen. 15
[226]Werner
Volkes gelebt, das die Freiheit und Einheit wollte, ſo lebte er
jetzt weiter in der erſten thatſächlichen Erſcheinung und Ver-
körperung dieſer Einheit, in der deutſchen Flotte.


In der ſchwarzrothgoldenen Kriegsflagge zeigte ſich der
erſte deutſche Aar, der die Raben der Zwietracht von den
Pforten des deutſchen Vaterlandes mit gewaltigem Flügelſchlage
zurückſcheuchen, der ſie in alle Winde zerſtreuen, ſeine Schwingen
entfalten und mit mächtigen Fängen die Feinde zermalmen ſollte.


Solchen Gefühlen patriotiſcher Begeiſterung hatten auch die
Frauen und Jungfrauen der Stadt Brake, vor dem der
„Barbaroſſa“ zuerſt Anker geworfen, einen beredten Ausdruck
gegeben, als ſie im Mai 1849 dem damaligen Kapitän Brommy
eine koſtbare, von ihnen für jenes Schiff geſtickte Flagge über-
gaben und dieſe ſelbſt unter dem Hurrah der Flottenmannſchaft
und dem Donner der Kanonen hinaufzogen am Maſte, wo ſie
fortan zum Ruhme und zur Ehre Deutſchlands wehen ſollte.


In ſeinem Danke hatte Brommy verſprochen, ſie unentweiht
hoch zu halten in Krieg und Frieden und ſich nicht von ihr zu
trennen. Als dann nach ſo kurzer Zeit jene erträumte Herrlich-
keit des deutſchen Reiches ſo tief in den Staub ſank und der
deutſche Aar, anſtatt ſeinen Flug zur Sonne zu richten, aber-
mals, wenn auch glücklicher Weiſe auf nicht lange Zeit, trauernd
das ſtolze Haupt unter den Flügeln barg, da fragten jene deut-
ſchen Jungfrauen nach dem Schickſal ihrer Flagge, die für immer
ſich von der Gaffel niedergeſenkt hatte.


Die Antwort des Admirals lautete folgendermaßen:


„Meine Damen! Durchdrungen von demſelben Gefühle,
welches Sie in dieſem verhängnißvollen Augenblicke bewegt,
wagte ich es, Ihrem Wunſche zuvorzukommen, als ich ſah, daß
die Stunde der Entſcheidung für die deutſche Marine geſchla-
gen hatte.


Die mir in einer Zeit des Glaubens an ein einiges
Deutſchland von Ihnen an Bord des „Barbaroſſa“ überreichte
[227]Die deutſche Marine 1848—1852
Flagge, welche ich als Palladium zu ſchützen verſprach, darf
nicht von der Sache, der ſie gewidmet ward, getrennt werden.


So lange das deutſche Geſchwader noch beſteht, ſoll dieſe
Flagge nur auf dem Schiffe, das meine Flagge führt, über
meinem Haupte wehen, und hat endlich die Marine zu Deutſch-
lands unauslöſchlicher Schmach aufgehört zu beſtehen, dann
werde ich ſie als ein heiliges Zeichen der Erinnerung ver-
ſchwundener hehrer Tage, eines ſchönen Traumes, aufbewahren.


Einſt aber ſoll dieſe Flagge, welche ich ſo glücklich war,
den Feinden des Vaterlandes zuerſt im offenen Kampfe auf
unſerem deutſchen Meer entgegenzuführen, wenn die Täuſchungen
der Gegenwart auf immer entſchwunden ſind, meine irdiſchen
Reſte in kühlem Grabe ſchützend einhüllen, wie ich dieſelbe im
Leben und trotz aller Widerwärtigkeiten treu und redlich ge-
ſchützt habe.“


Admiral Brommy war es nicht vergönnt, das Morgenroth
beſſerer Tage anbrechen und, wenn auch nicht die ſchwarzroth-
goldene, ſo doch die ſchwarzweißrothe Flagge des einigen und
mächtigen deutſchen Reiches auf dem Ocean ſich entfalten und
die Achtung der Welt erringen zu ſehen.


Er ſtarb am 9. Januar 1860 in St. Magnus an den
Ufern der Weſer, wohin er ſich zurückgezogen, und jene Flagge
war das Leichentuch, mit dem man ihn, ſeinem Wunſche gemäß,
in das Grab legte. Sein einziger Sohn Rudolph fiel auf dem
Felde der Ehre für König und Vaterland im Feldzuge 1870
bei St. Privat.


Auch Duckwitz, jener unermüdliche Kämpfer für Deutſch-
lands Einheit und Geltung zur See, konnte nicht mehr das
neu erſtandene Reich begrüßen und wurde früher in das Jen-
ſeits berufen. Ehre ihrem Andenken!


Von den damaligen Officieren und Beamten der deutſchen
Marine exiſtirt nur noch eine kleine Zahl. Ein Theil derſelben
hat ſich zu ehrenvollen Stellungen emporgearbeitet, ein anderer
15*
[228]Werner
iſt geſtorben, ein anderer verdorben. „Das Alte ſtürzt und
neues Leben blüht aus den Ruinen.“ Der Traum deutſcher
Einheit und Seemächtigkeit, der damals ſo traurig zerfloß —
er hat ſich ſeit zehn Jahren zur freudigen Wirklichkeit geſtaltet.
Die Raben der Zwietracht ſind verſcheucht, Deutſchland hat nach
Jahrhunderten auch auf dem Meere wieder die Stellung einge-
nommen, die ihm gebührt; die Kiele ſeiner Kriegsſchiffe durch-
furchen die blauen Fluthen des Oceans und der deutſche Aar in
der Flagge ſeiner Flotte wird fortan den Feinden zeigen, daß
er jetzt Kraft genug in ſeinen Fängen beſitzt, um Unbill zu
rächen und Schmach abzuwehren.


[[229]]
[figure]

Ernſtes und Heiteres.
Bilder aus dem Stilleben der deutſchen Marine.


1. Auf der Weſer.


Wie der hiſtoriſche Rückblick auf Entſtehen und Vergehen
der erſten deutſchen Marine zeigt, war ſie während ihres
kurzen Lebenslaufes zu paſſiver Unthätigkeit verurtheilt und
arm an Ereigniſſen, die in die Annalen der Geſchichte gehören.
Die Ankunft der „Eckernförde“ auf der Weſer nach ſo viel Fähr-
lichkeiten und Hinderniſſen, die mehr als einmal die koſtbare
Trophäe uns wieder zu entreißen drohten, war das letzte von
einiger Aufregung begleitete Vorkommniß. Die fernere Exiſtenz
der Flotte während der nachfolgenden zwei Jahre bis zu ihrer
Auflöſung konnte nur noch ein Vegetiren genannt werden, bei
dem die Tage in gleicher Einförmigkeit und Bedeutungsloſigkeit
dahin ſchwanden. In der guten Jahreszeit lagen die Schiffe
am linken Weſerufer, unweit des oldenburgiſchen Dorfes Blexen,
Bremerhafen ſchräg gegenüber, vor Anker, in den Wintermona-
ten wurden ſie zum Schutze gegen Eis theils in dem Geeſte-
fluſſe bei Bremerhafen, theils in dem Hafen von Brake unter-
gebracht und es war kein erquickender Anblick, ſie dann bei der
Ebbe im Schlamme ſteckend und faſt trocken liegend zu ſehen.


[230]Werner

Weitere Bewegungen gab es für ſie ſonſt faſt nicht. Der
Dienſt an Bord ging ſeinen Gang, aber brachte bei dem Still-
liegen natürlich keine Abwechſelung. Wir Officiere ſtrebten da-
hin, die Schiffe in möglichſt gute Ordnung zu bringen und
einer dem andern darin den Rang abzulaufen, aber die gleich-
förmige Tagesroutine wurde dadurch nicht verändert. Dieſes
ewige Einerlei konnte weder uns noch den Mannſchaften zumal
bei den infolge der Verhältniſſe ſehr herabgeſtimmten Anſprüchen
Befriedigung gewähren und es war daher erklärlich, wenn die
Langeweile Blaſen trieb.


Eine ſchwere Aufgabe war unter ſolchen Umſtänden die
Aufrechterhaltung der Disciplin. Bis zum Jahre 1851 bildete
die Disciplinarverordnung für die Reichsmarine unſer einziges
Machtmittel, um 1500—1600 Mann in Ordnung zu halten.
Es konnte weder ein Stand- noch ein Kriegsgericht abgehalten
werden, weil es für die Flotte kein Strafgeſetzbuch und ebenſo-
wenig eine Feſtung, ein Gefängniß oder ein Zuchthaus gab, in
dem die zu längeren Freiheitsſtrafen Verurtheilten hätten Auf-
nahme finden können. Selbſt in dieſer ſo höchſt wichtigen
Beziehung ſchwebte die arme Marine in der Luft und war
auf ſich ſelbſt angewieſen, bis endlich um jene Zeit Olden-
burg ſich erbarmte, ſein Militärſtrafgeſetzbuch einführen ließ
und auch der Marine ſeine Strafanſtalten zur Verfügung ſtellte.
Wenn es trotzdem den Officieren gelang, einen guten Geiſt
unter der Mannſchaft zu bewahren, jeder Lockerung der Dis-
ciplin vorzubeugen und ſelbſt die unbändigſten Elemente zu
zügeln, ſo iſt dies gewiß ein ſprechendes Zeugniß für ihre
moraliſche Kraft, für den Ernſt, mit dem ſie ihren ſchweren
Pflichten nachzukommen ſuchten und für den guten Einfluß, den
ſie auf die Mannſchaften zu üben verſtanden.


Im erſten Jahre waren die Schwierigkeiten noch geringer,
denn unſere damaligen Beſatzungen beſtanden aus ganz vorzüg-
lichen Leuten, ſowol in fachlicher wie in moraliſcher Beziehung,
[231]Ernſtes und Heiteres
aus tüchtigen und braven Oldenburgern, Mecklenburgern, Schles-
wig-Holſteinern und Hannoveranern, die ſich ungemein leicht lenken
ließen, und ſelten wol haben Kriegsſchiffe ein ſo gutes Perſonal
aufzuweiſen, wie es die deutſche Flotte damals beſaß. Nur ein
bedenkliches Element, das wir uns aufgehalſt, befand ſich dar-
unter, doch gelang es ſchon binnen Kurzem, es wieder auszu-
merzen. Dies waren etwa fünfzig angeworbene engliſche Matro-
ſen, die früher auf Kriegsſchiffen gedient hatten und militäriſche
Lehrer unſerer Leute werden ſollten. Sehr bald zeigte ſich je-
doch, daß ſie zu letzterem Zwecke ganz untauglich und außer-
dem abſolut nicht zu zügeln waren. Der billige deutſche
Branntwein war für ſie ein ſchlimmer Verführer, und um ihm
wirkſam entgegenzutreten, hätten wir ſtatt über die beſchränkten
Strafmittel unſerer humanen Disciplinarverordnung über dis-
cretionäre Anwendung der neunſchwänzigen Katze verfügen
müſſen. Beſtialiſche Trunkenheit, Gehorſamsverweigerung,
blutige Raufereien unter ſich und mit unſern Leuten, die je-
doch ſtets von den Engländern ausgingen, waren an der
Tagesordnung, und wir mußten deshalb trachten, ſie auf das
ſchleunigſte wieder los zu werden. Glücklicher Weiſe waren ſie
nicht auf beſtimmte längere Zeit engagirt, und wir ſchickten ſie
bis auf zwei oder drei gute Matroſen, innerhalb weniger Monate
wieder fort.


Bei dieſer Gelegenheit trat der Characterunterſchied zwi-
ſchen engliſchen und deutſchen Matroſen klar zu Tage, den
ich ſpäter ſtets von neuem beobachtet habe und der die Wag-
ſchale ſehr zu Gunſten der letzteren neigt. Der Engländer
gilt im allgemeinen und namentlich auch bei uns in Deutſchland
für den tüchtigſten Seemann der Welt. Es liegt mir fern,
ihm ſeine fachliche Tüchtigkeit abzuſprechen, aber der Deutſche
ſteht ihm darin wenigſtens nicht nach und iſt ihm in morali-
ſcher Beziehung jedenfalls vorzuziehen. Der gewöhnliche eng-
liſche Matroſe iſt innerlich viel roher und brutaler als der
[232]Werner
unſere; der Branntwein bildet den Fluch ſeines Lebens; er
bietet alles auf, um ihn ſich zu verſchaffen und ſich darin zu
übernehmen. In Momenten der Gefahr iſt er weniger zuver-
läſſig als der unſere und ſeine Führer verlieren leicht die Gewalt
über ihn. Natürlich giebt es auch unter den deutſchen See-
leuten Subjecte, die den Engländern darin nichts nachgeben, aber
ſie bilden nur einen kleinen Bruchtheil der Geſammtheit, und
dieſe hat auch im Auslande einen ſo guten Ruf, daß jeder
Kapitän, namentlich aber der engliſche, deutſche Matroſen lieber
wirbt, als ſeine Landsleute, weil er, neben ihren fachlichen Vor-
zügen, ihre Zuverläſſigkeit, ihr ruhiges fleißiges Weſen und ihre
Nüchternheit zu ſchätzen weiß.


Während wir anfangs mit unſern deutſchen Mannſchaften,
was Disciplin und Kriegsſchiffszucht anbetraf, eine verhältniß-
mäßig leichte Aufgabe hatten, wurde die Sache ſpäterhin doch
etwas ſchwieriger. Nach Ablauf ihres Engagements gingen die
guten mecklenburgiſchen und frieſiſchen Seeleute zum größten
Theile fort, weil ihnen das ruhm- und thatenloſe Stillliegen
der Schiffe nicht behagte. Was ſich ſtatt ihrer zum Eintritt
meldete, war oft ziemlich zweifelhafter Natur und beſtand viel-
fach aus Nichtſeeleuten. In Ermangelung beſſerer Elemente
und um zur ungeſtörten Handhabung des Dienſtes unſere
Mannſchaftsſtärke vollzählig zu halten, wurde bei der An-
nahme nicht ſehr ſcrupulös verfahren. Wenn das ſeemänniſche
Intereſſe an die ſich Meldenden ſtets die erſte Frage richten
ließ „Wie lange haben Sie gefahren?“ ſo begnügten wir uns
doch auch mit ſolchen, die keine Fahrzeit hatten, da auf feſt
verankerten Räderdampfſchiffen, die außerdem nur mit einer
ſehr dürftigen Betakelung verſehen waren, eigentliche Seemann-
ſchaft weniger in das Gewicht fiel.


Bei jener ſtereotypen Frage lief jedoch bisweilen ein draſti-
ſches qui pro quo unter. So erinnere ich mich, daß ſich eines
Tages auf unſerem Schiffe ein junger kräftiger Mann an-
[233]Ernſtes und Heiteres
werben laſſen wollte, deſſen ganze Erſcheinung einen ſehr guten
Eindruck machte.


„Wie lange haben Sie gefahren?“ lautete wieder die Frage
des erſten Officiers.


„Sieben Jahre!“ war die prompte und ſichere Erwide-
rung des jungen Mannes.


„Gut!“ ſagte der Officier, der ſich nicht wenig freute, nach
langer Pauſe wieder einmal einen befahrenen Seemann gekapert
zu haben, und ohne ſich weiter nach deſſen Papieren zu erkun-
digen ſetzte er hinzu, „wenn der Doctor Sie geſund befindet,
können Sie als Matroſe I. Claſſe eingeſtellt werden und es
bald zum Unterofficier bringen, wenn Sie ſich gut machen.“


Die ärztliche Unterſuchung ergab ein günſtiges Reſultat,
der Betreffende wurde vereidet und eingekleidet. Auch der
Bootsmann gab ſeiner Freude über die ungewohnte Acquiſition
Ausdruck. Er war ein Mecklenburger und der Typus eines
eingefleiſchten alten Seemanns. „Gott ſei Dank!“ äußerte er,
„nun bekommt man doch endlich einmal wieder einen vernünfti-
gen Kerl zu allen den Landlubbern, den man bei einem
ordentlichen Stück Matroſenarbeit anſtellen kann.“


Am andern Tage gab es ein ſolches Stück Arbeit, und
Mohr, ſo hieß der neu angeworbene Matroſe I. Claſſe, wurde
vom Bootsmann damit betraut. Wie ſtaunte der Letztere
aber, als er ſah, daß Mohr offenbar nicht die leiſeſte Ah-
nung von der Behandlung des ihm gewordenen Auftrages
hatte und dieſer auch ganz unbefangen erklärte, davon verſtehe
er nichts.


„Was? Mann!“ rief der Bootsmann in heller Entrüſtung,
„das verſtehſt Du nicht und Du willſt ſieben Jahre gefahren
haben! Wo haſt Du denn gefahren?“


„Auf dem Bock,“ lautete die Antwort.


„Was war das für ein Fahrzeug, ein ordentliches Schiff
oder ein Stein Ewer?“


[234]Werner

„Das war gar kein Schiff.“


„Gar kein Schiff?“ donnerte jetzt der Bootsmann ganz
wild. „Was in des Teufels und ſeines Pumpſtocks Namen
war es denn?“


„Ich habe als Kutſcher gefahren“.


Der Bootsmann war ſtarr über dieſe vermeintliche Frech-
heit und lief ſpornſtreichs zum erſten Officier, um das uner-
hörte Verbrechen zu melden. Was war aber zu machen? Mohr
hatte durchaus keine Schuld an dem Mißverſtändniſſe; als
Kutſcher konnte er mit demſelben Rechte wie die Seeleute das
Wort „fahren“ mit „haben“ conſtruiren, da er wie ſie activ
an der Bewegung betheiligt iſt und hatte deshalb die an ihn
gerichtete Frage nach beſter Ueberzeugung wahrheitsgemäß beant-
wortet. Man konnte ihm weiter nichts anhaben, als daß er
als „Unbefahrener“ in die dritte Matroſenklaſſe verſetzt wurde.
Was ihm aber damals an wirklicher Fahrzeit fehlte, das iſt von
ihm inzwiſchen redlich nachgeholt worden. Jetzt hat er nicht
nur ſieben, ſondern über zwanzig Jahre ſich den Wind in allen
Welttheilen um die Naſe wehen laſſen. Bei Auflöſung der
deutſchen Marine trat er mit in die preußiſche über und wurde
mit der Zeit ein ungemein tüchtiger Seemann. Später war er
drei Jahre lang mein Bootsmann, und man konnte ſich für
dieſen ſchwierigen Poſten, der an Bord eines großen Kriegs-
ſchiffes ſo viel Erfahrung, Umſicht, Fachkenntniß und unermüd-
liche Thätigkeit erheiſcht, keinen beſſeren und zuverläſſigeren
Mann wünſchen.


Nicht immer ſchlugen jedoch die Unbefahrenen ſo gut ein.
Oefters waren es gar bösartige Geſellen, mit denen man zu
thun hatte, und es mußten außergewöhnliche Mittel angewendet
werden, um ſie unſchädlich zu machen und zu verhüten, daß ihr
Beiſpiel nicht nachtheilig und anſteckend auf die übrigen Mann-
ſchaften zurückwirkte.


So befand ſich an Bord der „Hamburg“ ein ſolches Sub-
[235]Ernſtes und Heiteres
ject, mit dem abſolut nichts anzufangen war. Nichts fruchtete
bei ihm, weder Güte noch Strenge; die ganze Scala der Strafen,
welche den Vorgeſetzten zu Gebote ſtanden, war erſchöpft, ohne
irgend welchen Eindruck zu machen. Der Mann war längſt
reif für zehn Jahre Zuchthaus, zu denen er aber aus den oben
angeführten Gründen nicht verurtheilt werden konnte. Er ſtahl
nicht nur wie ein Rabe, ſondern war auch einer der ungeber-
digſten und boshafteſten Menſchen, die es geben konnte.


Eines Tages erhielt er einen Befehl vom erſten Officier,
aber anſtatt denſelben zu befolgen, kletterte er in die Bemaſtung
bis in die Bramſaling — das Holzgerüſt, in welchem der Fuß
der zweiten Verlängerung der Maſten, der Bramſtenge, befeſtigt
iſt — ſetzte ſich dort hin und begann in der gemeinſten
Weiſe auf Commandant und erſten Officier zu ſchimpfen, ſo
daß Alle an Bord auf das Höchſte empört waren. Ihn von
dort oben herunterzuholen war bei dem verzweifelten Character
des Mannes ein Wagſtück, das der Commandant Niemandem
zumuthen mochte; als ſich jedoch ein Unterofficier freiwillig er-
bot, den Menſchen an Deck zu bringen, erhielt er die Erlaub-
niß dazu und enterte nach oben. Der Miſſethäter erwartete
augenſcheinlich, von ihm angefaßt zu werden, retirirte auf die
äußerſte Spitze der Bramſaling und machte ſich bereit, ſich zur
Wehre zu ſetzen. Uns wurde bei dieſer Ausſicht gar nicht wohl
zu Muthe, denn ein Kampf dort in den Lüften, wo die Füße
nur auf den ſchmalen Balken der Saling einen Halt fanden,
mußte aller Wahrſcheinlichkeit nach mit dem Herabſturze des
Einen oder Beider enden. Der Unterofficier jedoch, zu unſerm
Erſtaunen, that, als ob er ſich gar nicht um den Mann
kümmerte, kletterte an ihm vorbei bis er die Spitze der Bram-
ſtenge erreicht hatte und machte ſich dort einige Zeit lang an
dem Tauwerk zu thun. Dann ließ er ſich an den Pardunen,
den Haltetauen der Bramſtengen, welche von deren Spitze bis
an Deck fahren, wieder ganz gemächlich herunter, bis er ſich
[236]Werner
nahe über dem Matroſen befand, der offenbar nichts von der
wirklichen Abſicht des Unterofficiers ahnte und ſein Schimpfen
fortſetzte.


Plötzlich ließ Letzterer jedoch die Füße los, ſchlang ſie
blitzſchnell um den Hals des erſchreckten Mannes und riß ihn
mit einem gewaltigen Ruck von der Saling, ſo daß er jetzt
zwiſchen den zuſammengekniffenen Beinen wie in einer Schlinge
faſt achtzig Fuß über Deck in freier Luft hing. Uns Zuſchauern
ſtanden bei dieſem unerwarteten Manöver die Haare zu Berge,
aber es ging alles gut. Der ebenſo kräftige wie wunderbar
gewandte Unterofficier preßte zwar abſichtlich den Hals ſeines
Gefangenen etwas ſcharf zuſammen, um ihn unſchädlich zu
machen, kam dann aber Hand über Hand mit ſeiner Laſt den
langen Weg an der Pardune herunter und lieferte ihn mit den
Worten „da iſt er“ an den wartenden Profoß ab. Der Menſch
geberdete ſich jetzt aber ſo raſend, daß er in den polniſchen Bock
geſpannt und mit einem Knebel im Munde unten in den Raum
auf den Eiſenballaſt geworfen werden mußte, da ſich keine
Arreſtlocale an Bord befanden, die auf Schiffen erſt eine Ein-
richtung neuerer Zeit ſind. Das Verbleiben in dieſer Poſi-
tion bis zum andern Morgen hatte ihn jedoch endlich zahm
gemacht und bis zu ſeiner nach einigen Monaten erfolgenden
Entlaſſung ließ er ſich nichts wieder zu Schulden kommen. Die
über ihn verhängte Maßregel ſtand zwar in keinem Paragraphen
der Disciplinarverordnung, aber ſolchen Menſchen zu bewäl-
tigen, blieb nichts anderes übrig.


Ueberhaupt hat es mit den Strafen an Bord eine eigene
Bewandtniß und es kann an dieſe nicht der Maßſtab gelegt
werden, wie am Lande, weil die Verhältniſſe ſo ganz andere
ſind. Wenn in einer Compagnie auf irgend eine Weiſe zehn
oder mehr Mann ſich eines Vergehens ſchuldig machen, das
ihnen einige Tage Arreſt einbringt, ſo können ſie alle zehn
ſofort eingeſperrt werden, ohne daß der Dienſt oder die
[237]Ernſtes und Heiteres
Kameraden im geringſten darunter leiden — ganz anders
an Bord. Auf einem Schiffe iſt für die auszuführenden
Leiſtungen die Mannſchaft auf die geringſte Zahl bemeſſen, jede
Hand berechnet und das Fehlen eines Mannes am Geſchütz,
auf der Raa, beim Bedienen der Segel oder ſonſt macht ſich
ſofort fühlbar und zwar um ſo mehr, je kleiner das Schiff und
je geringer demgemäß ſeine Beſatzung iſt. Man nehme z. B.
ein von Deutſchland auf der Reiſe nach Oſtaſien befindliches
Kanonenboot, das eine Beſatzung von der ungefähren Stärke
einer Compagnie hat und durch einen Kapitänlieutenant mit
Hauptmannsrang commandirt wird. Wenn im Allgemeinen
unſere Leute ſich gut halten, ſo iſt es doch möglich, daß ſich
unter hundert Mann drei bis vier oder wol noch mehr
ſchlechte Subjecte befinden. Das Schiff kommt nun nach Eng-
land, die Leute erhalten Urlaub, und jene vier oder ſechs Mann
bleiben nicht nur ein paar Tage über Urlaub aus, ſo daß das
Schiff ihretwegen aufgehalten wird, ſondern ſie verüben auch
noch Exceſſe. Was ſoll dann der Commandant mit ihnen
anfangen? Seine Strafcompetenz erſtreckt ſich nur auf ſieben
Tage Arreſt; aber ſelbſt davon abgeſehen, daß die Leute viel-
leicht ſchon früher wegen derſelben Vergehen ſtrenger beſtraft
ſind, entſtehen bei Vollſtreckung der Strafe alle möglichen
Schwierigkeiten. Zunächſt giebt es auf kleineren Schiffen keine
Arreſtlocale, weil es an Raum fehlt; wohin alſo mit den
Leuten? Man kann ſie nur auf dem Deck placiren, denn im
Zwiſchendeck würden ſie ſich im Wohnraume der Mannſchaft
und in engſter Berührung mit derſelben befinden, was durchaus
dem Geiſte der Strafvollſtreckung zuwiderläuft und ſie illu-
ſoriſch macht. Es wird alſo auf dem engen Deck irgendwo ein
Vorhang gezogen, der Arreſtant dahinter geſperrt und ein Poſten
davor geſtellt, wie dies geſetzlich vorgeſchrieben und nöthig iſt.
Alle ſechs Straffällige kann der Commandant aber nicht zugleich
einſtecken, denn nicht allein ſie, ſondern auch noch die Poſten
[238]Werner
gehen von der Mannſchaft ab und dieſe würde zu ſehr geſchwächt
werden, da man immer auch auf Kranke zu rechnen hat. Es ver-
büßen alſo höchſtens zwei ihre Strafe zugleich und die letzten
beiden kommen erſt nach vierzehn Tagen an die Reihe. Dabei ſtellt
ſich die Sache ſo: der Arreſtant ſitzt, ſtatt wie das Geſetz vor-
ſchreibt, in einer dunklen Zelle, auf dem hellen Deck, hört alles
und ſieht das Meiſte, was um ihn vorgeht, faullenzt den Tag
über und ſchläft unter Deck die ganze Nacht zwiſchen den Kame-
raden, die ſeine Arbeit verrichten, ihn bewachen und außerdem
Nachtwache thun müſſen.


Eine moraliſche Einwirkung der Arreſtſtrafe kann bei der-
gleichen Subjecten wol nicht in Rede kommen, und deshalb
bleibt die Thatſache beſtehen, daß ein nichtsnutziger Menſch
ſich oft abſichtlich ein Vergehen zu Schulden kommen läßt,
um in einen Zuſtand verſetzt zu werden, der den Namen
„Strafe“ trägt, in Wirklichkeit aber ihn auf Koſten ſeiner
Kameraden von der Arbeit und läſtigen Nachtwachen befreit.
Die Abſicht des Geſetzgebers wird alſo nicht erreicht, wobei noch
nicht einmal der Fall berückſichtigt iſt, daß die Strafvollſtreckung
durch ſchlechtes Wetter drei vier Mal ja auf Wochen unterbrochen
werden kann, ſo daß der Betreffende, um z. B. ſieben Tage
abzuſitzen, dazu vielleicht der dreifachen Zeit bedarf. Auf großen
Schiffen, wo ſich ein paar Arreſtzellen befinden, ſtellen ſich die
Verhältniſſe etwas günſtiger, doch nicht viel, und um dieſen Miß-
ſtänden entgegenzutreten, müſſen an Bord von in See befind-
lichen Kriegsſchiffen andere kürzere, aber dafür wirkſamere
Strafen verhängt werden, als bei der Armee, wenn die Abſicht
der Geſetzgeber erreicht werden ſoll. Aus dieſen Gründen er-
klärt es ſich, weshalb körperliche Züchtigung auf den Marinen
ſo lange beibehalten iſt. Unſere humaniſirende Zeitſtrömung er-
blickt in dieſer Strafe Verletzung des Ehrgefühls und ſie iſt
deshalb in neuerer Zeit meiſtens abgeſchafft. Darüber haben
Practiker vielfach andere Anſichten und ſind der Meinung, daß
[239]Ernſtes und Heiteres
wo kein Ehrgefühl iſt, es auch nicht verletzt werden kann. Doch
es mag auch ohne Prügelſtrafen gehen, wenn man dafür an
Bord ein Aequivalent ſchafft, das ähnlich empfindlich wirkt und
möglichſt kurze Zeit in Anſpruch nimmt. So lange aber ein
ſolcher Erſatz nicht gefunden iſt, kann den Vorſchriften des Ge-
ſetzes nicht genügt werden und der Beſtrafte hat es auf Koſten
ſeiner Kameraden und des Dienſtes verhältnißmäßig gut. Dem
Officiercorps der jungen deutſchen Flotte fehlte es unter den
obwaltenden Umſtänden natürlich an jener Homogenität, welche
für eine ſolche Körperſchaft zwar ſehr wünſchenswerth und noth-
wendig iſt, aber naturgemäß nur das Ergebniß einer verhältniß-
mäßig langen Dienſtzeit bei gleichmäßiger Erziehung und gemein-
ſamen Traditionen ſein kann. Daraus entſtanden denn mancher-
lei Unzuträglichkeiten, die jedoch glücklicher Weiſe weniger un-
günſtigen Einfluß auf das Ganze übten, als man hätte annehmen
ſollen. In dem Corps waren vier verſchiedene Nationalitäten
vertreten: Deutſche, Engländer, Amerikaner und Belgier; wenig-
ſtens ſtand ein Deutſcher an der Spitze.


Mit den belgiſchen Officieren, im Ganzen ſechs, hatten
wir unbedingt eine gute Acquiſition gemacht; es waren Männer
von ſehr guter Erziehung, feinen Manieren und wiſſenſchaft-
licher Bildung. Den Kriegsſchiffsdienſt verſtanden ſie aus
dem Grunde, da ſie ſämmtlich Jahre lang auf der franzöſiſchen
Flotte zur Dienſtleiſtung commandirt geweſen waren, und wir
jungen deutſchen Officiere erhielten in ihnen treffliche Lehrmeiſter
für das, was uns fehlte, d. h. für die Kenntniß des inneren
Dienſtes und alles deſſen, was damit zuſammenhing. Bei den
wenigen Gelegenheiten, wo wir mit den Schiffen in Bewegung
waren, ſahen wir freilich, daß practiſche Seemannſchaft ihre
ſchwache Seite war, allein dann traten wir Deutſchen ergänzend
ein. Die Belgier erkannten auch unſere Ueberlegenheit darin an,
hielten ſich vorſichtig zurück, und bei ſolchen Anſchauungen und
gutem Willen von beiden Seiten konnte es nicht fehlen, daß
[240]Werner
ſich die innere Organiſation der Flotte in überraſchend ſchneller
Zeit entwickelte.


Was die Handhabung des Dienſtes, die Exercitien, Ord-
nung und Reinlichkeit betraf, konnten die Schiffe ſchon nach
Jahresfriſt ohne irgend welche Ueberhebung muſterhaft genannt
werden, und ihr Zuſtand lieferte jedenfalls den Beweis, daß die
Bedingungen für eine deutſche Flotte vorhanden waren und daß
dieſe nur der Pflege und Weiterbildung bedurfte. Im Sommer
1850 kam die amerikaniſche Fregatte „St. Lawrence“ nach
Bremerhafen und blieb dort einige Wochen. Wir verkehrten
viel mit den Officieren, ſtatteten uns gegenſeitig oft Beſuche an
Bord ab und bemerkten mit großer Genugthuung, daß wir mit
unſeren Schiffen ſowol wie mit der Ausbildung der Mann-
ſchaften hinter den Amerikanern nicht zurückſtanden. Freilich
hatten wir zu jener Zeit noch den größten Theil unſeres vor-
züglichen Perſonals an Mannſchaften, die unſere Bemühungen
ſehr erleichterten.


Unſer deutſches Officiercorps war, in Bezug auf ſeine
innere Beſchaffenheit, auf Erziehung und Bildung, aus ſehr
verſchiedenen Elementen zuſammengeſetzt. Bei der Gründung
der Flotte, wo es ſich um möglichſt ſchnelle Heranziehung von
Officieren handelte und es dafür nur eine Quelle die Kauf-
farteimarine gab, konnte es für die Auswahl zunächſt weniger
auf Wiſſenſchaftlichkeit und vollendete äußere Formen, als auf
practiſche Tüchtigkeit für die neu zu ſchaffenden Poſten an-
kommen, und beides fand man in den Kapitänen und Steuer-
leuten der Handelsſchiffe nicht oft vereint. Es blieb deshalb
nicht aus, daß in dieſer Richtung mancherlei Mißgriffe ge-
macht und Perſönlichkeiten dem neuen Officiercorps einver-
leibt wurden, die grade nicht als Vorbilder für daſſelbe
gelten konnten, wenn ſie ſonſt auch ganz biedere gute Menſchen
waren. Uebrigens war vom Marineminiſter Duckwitz gleich von
vornherein dafür geſorgt, daß diejenigen, deren Herkunft und
[241]Ernſtes und Heiteres
Erziehung nicht die Wahrſcheinlichkeit bot, für die Dauer ge-
eignete Mitglieder eines Officiercorps zu ſein, ohne weitere
Schwierigkeit bald wieder entlaſſen werden konnten. Er hatte
zu dieſem Zwecke zwei Kategorien von Seeofficieren geſchaffen,
die Hülfsofficiere und die Fähnriche, die beide zwar denſelben
militäriſchen Rang als Secondelientenant bekleideten, von denen
erſtere aber höheres Gehalt bezogen. Dagegen war den Hülfs-
officieren keinerlei Zukunft in der Marine garantirt und in
ihrem Anſtellungsdecret ausgeſprochen, daß eine Beförderung
eventuell wol erfolgen könne, aber nicht müſſe. Dieſer Klaſſe
wurden diejenigen eingereiht, die, um das höhere Gehalt
zu beziehen, entweder ſelbſt auf die erwähnten Vortheile ver-
zichteten oder denen practiſche Tüchtigkeit allein als Empfehlung
zur Seite ſtand. Als Fähnriche dagegen wurden, mit Patent
und Ausſicht auf Avancement, ſolche jüngeren Leute einge-
ſtellt, welche von guter Herkunft waren, neben fachlicher auch
wiſſenſchaftliche Bildung beſaßen und deshalb brauchbare See-
officiere zu werden verſprachen. Bei den ungeregelten Zu-
ſtänden, welche bei Gründung der Flotte begreiflicher Weiſe in
Frankfurt herrſchten, kamen bisweilen auch Verwechſelungen
vor; Einzelne erhielten Patente als Fähnriche, die ſich nur zu
Hülfsofficieren eigneten, andere wieder ſahen ſich plötzlich als
Hülfsofficiere angeſtellt, die ſich zu Fähnrichen gemeldet hatten
und ſich auch vollſtändig dazu qualificirten.


Außer den eigentlichen Seeofficieren beſtand der Stab der
Schiffe noch aus den Aerzten, den Zahlmeiſtern, Secretären
und auf den Dampfſchiffen aus den Maſchinen-Ingenieuren. Die
letzteren waren ſämmtlich Engländer, da Deutſchland damals
im Schiffsmaſchinenweſen noch nicht auf eigenen Füßen ſtand;
ſie zeigten ſich, im Gegenſatze zu ihren als Officiere fungirenden
Landsleuten, in ihrem Fache als ſehr tüchtig, wenn man in
anderer Beziehung auch öfter ein Auge zudrücken mußte.


Aerzte, Zahlmeiſter und Secretäre ſtammten aus den ver-
R. Werner, Erinnerungen. 16
[242]Werner
ſchiedenſten Theilen Deutſchlands, und letztere beiden Beamten-
klaſſen auch aus den verſchiedenſten Lebensverhältniſſen. Enthu-
ſiasmus für die neuerſtandene deutſche Seemacht, romantiſche
Veranlagung, die auf erträumten Reiſen über den weiten Ocean
Befriedigung zu finden gedachte, vielfach aber auch proſaiſchere
Hoffnungen auf eine gute Carriere oder den Wiederaufbau einer
zuſammengebrochenen Exiſtenz waren die Motive, welche Bewerber
um jene Stellungen ſchaarenweis herbeiführte. Es fanden ſich
Juriſten, ehemalige Kaufleute, Landwirthe, Apotheker und ver-
floſſene Bürgermeiſter zuſammen, Perſönlichkeiten, die theilweiſe
ſchon viel in der Welt umhergeſchweift waren, ohne feſten Boden
gewinnen zu können und in der Marine auf beſſeres Glück
hofften. Dies ſchloß jedoch nicht aus, daß ſelbſt von der letzte-
ren Klaſſe Mehrere ſich in dem neuen Fache als tüchtige
Menſchen und außerdem als prächtige Charactere zeigten und
ſich bald überall Liebe und Achtung zu erwerben wußten. Ich
that eine Zeit lang auf dem „Barbaroſſa“, dem Flaggſchiffe
Brommy’s, Dienſt. Auf ihm eingeſchifft zu ſein, wurde als ein
Vorzug betrachtet und beneidet. Unſer Officiercorps war ziem-
lich groß; es beſtand aus acht Hülfsofficieren und Fähnrichen,
ferner aus dem Arzt, Zahlmeiſter, Secretär und Ingenieur. Es
wurde nicht viel an Land gegangen, da Bremerhafen dazu
wenig anreizte; dagegen hatten wir oft Beſuch von unſern
Kameraden und verbrachten mit ihnen manche gemüthliche
Stunde bei Bowle und Cigarre. Unſer Zahlmeiſter lieferte
beides in vorzüglicher Güte; er war Meſſevorſtand und hatte
als ſolcher in der Flotte einen beſonderen Ruf. Niemand
wußte, wie er es anfing, aber wir führten von unſeren Tafel-
geldern nicht nur einen ausgezeichneten Tiſch, ſondern konnten
auch ausgedehnte Gaſtfreiheit üben. Unſer Zuſammenleben war
ein ſehr angenehmes, wenngleich bei der Verſchiedenartigkeit der
Charactere kleine Frictionen nicht fehlten. Dieſelben wurden
jedoch nie ſtörend, und vorzugsweiſe dankten wir dies der liebens-
[243]Ernſtes und Heiteres
würdigen Vermittelung des Zahlmeiſters, der mit gutmüthigem
Humor jedem ernſteren Conflicte ſofort die Spitze abzubrechen
und die gereizten Gemüther in ruhiges Fahrwaſſer zurückzu-
leiten verſtand.


Zahlmeiſter Albert war überhaupt auch nach anderen Rich-
tungen ſeines Faches ein Muſterknabe und hatte ſich als binnen-
ländiſche Landratte wunderbar ſchnell in die anfänglich ihm ſo
fremden Schiffsverhältniſſe zu finden gewußt. Er war Süd-
deutſcher, hatte Jura ſtudirt und ſoeben ſein Referendarexamen
gemacht, als der Ruf nach einer deutſchen Flotte im Vaterlande
erſchallte. Da kam es auf einmal wie eine Erleuchtung über
ihn, daß er bisher ſeinen Beruf verfehlt habe und falſchen
Göttern huldige. Nicht Themis, ſondern Neptun rief ihn zur
Heeresfolge; nicht der grüne Tiſch, ſondern der blaue, wogende
Ocean war die Arena, auf der er fernerhin kämpfen und ſiegen
ſollte. Die Pandecten flogen in die Ecke; der angehende See-
held ſtürmte nach Frankfurt, um ſich zu einer Kadettenſtelle zu
melden, wurde aber auf das Schmerzlichſte enttäuſcht, als man
ihn für die Seeofficiercarriere zu alt erklärte. Seine durch
dieſen Beſcheid ſchon geknickten Lebenshoffnungen richteten ſich
jedoch wieder auf, als ſich ihm Ausſicht auf eine Zahlmeiſter-
ſtellung eröffnete. Dankbar nahm er die letztere an, und ſchon
wenige Tage darauf befand er ſich auf dem Wege nach Bre-
merhafen.


Mit glühendem Eifer ergriff er jede ſich bietende Gelegen-
heit, um ſich für ſeinen Beruf vorzubilden. Bereits auf der
Reiſe nach ſeinem neuen Beſtimmungsorte, zuerſt auf dem Rhein-
dampfer bis Cöln, dann auf dem Paſſagierdampfer von Bremen
nach Bremerhafen ſuchte er nautiſche Studien zu machen. Er
plagte Kapitäne und Mannſchaften mit Fragen nach allen möglichen
Dingen bis auf’s Blut und hielt ſich Stunden lang in der mit
Auswanderern letzter Claſſe vollgepfropften zweiten Kajüte auf, um
in deren Stickluft die Naſe gegen zu erwartende Schiffsgerüche
16*
[244]Werner
abzuhärten. Alsbald nach ſeiner Ankunft in Bremerhafen be-
gann er auch Cognac mit Waſſer zu trinken und Tabak zu
kauen, da er beides für nothwendige Requiſiten eines Seemannes
hielt. Doch nur in erſterem brachte er es zu einiger Fertigkeit;
das Tabakskauen wollte ihm trotz aller Willensfeſtigkeit und
Uebelkeit nicht gelingen und er tröſtete ſich ſchließlich damit, daß
ein Zahlmeiſter allenfalls auch ohne daſſelbe leben könne. Zwar
harrte ſeiner eine abermalige Enttäuſchung, als er bei ſeinem
Eintritte in die Marine nicht an Bord eines Schiffes, ſondern
in das Arſenal commandirt wurde, um in ſein neues Fach ein-
geführt zu werden, jedoch fand er hier einen Kameraden, den
Zahlmeiſter Wollweber, der ihn in die Obliegenheiten und Ge-
heimniſſe ſeines Dienſtes einweihte.


Wollweber war bereits ein älterer Mann, der zwar die
Zahlmeiſtergeſchäfte ebenfalls erſt ſeit einigen Wochen über-
nommen hatte, dem dafür aber mancherlei Lebenserfahrungen
zu Gebote ſtanden. Urſprünglich auch Juriſt von Fach und
nebenbei ein vorzüglicher Muſiker, war er in die Göttinger
Univerſitätsaffaire von 1831 verwickelt worden, nach Amerika
ausgewandert, hatte dort eine Reihe von Jahren gelebt und
nach ſeiner Rückkehr die Stellung als Zahlmeiſter und Vor-
ſtand des Arſenals gefunden. Sein muſikaliſches Talent,
ſeine gediegene Bildung und ſein wohlwollendes Weſen, dem
das wechſelvolle Leben nicht den angeborenen Humor geraubt,
hatte ihn im Kreiſe aller Kameraden ſehr beliebt gemacht.


Das „Arſenal“ beſtand damals bei Gründung der Flotte
vorläufig noch aus einem gemietheten Schuppen, in dem die
von allen Seiten beſchafften und herbeiſtrömenden Vorraths-
gegenſtände, namentlich artilleriſtiſcher Natur, gelagert wurden,
und es war die Aufgabe der beiden ehemaligen Rechtskundigen,
ſie zu verwalten und Ordnung in dies Chaos der heterogenſten
und zum größten Theile ihnen unbekannten Dinge zu bringen.
Wollweber hatte jedoch bereits einige Fortſchritte in der Kennt-
[245]Ernſtes und Heiteres
niß des vielſeitigen Materials gemacht und belehrte in der ihm
eigenen humoriſtiſchen und gemüthlichen Weiſe ſeinen Aſſiſtenten
über daſſelbe.


„Für was würden Sie wol dieſe Dinger halten, verehr-
ter Herr Kamerad,“ fragte er den eifrig lauſchenden Albert, in-
dem er auf einige Tauſend in einander gepackter Näpfe von
verſchiedener Größe wies, die in einer Ecke aufgeſtapelt waren.


„Für Spucknäpfe,“ lautete nach einigem Beſinnen die
Antwort.


„Ganz richtig, Herr Kamerad; ich bewundere Ihren Scharf-
ſinn. Es könnten Spucknäpfe ſein, die größeren für die Ma-
troſen, die kleineren für die Schiffsjungen. Im Vertrauen
geſagt,“ flüſterte er geheimnißvoll, „ſind ſie jedoch im Haupt-
buche unter einem andern Namen verzeichnet. Dort heißen ſie
Granatſpiegel, und wie mir der Feuerwerker Baſſermann unter
dem Siegel der Verſchwiegenheit mitgetheilt, ſollen ſie nur ge-
legentlich als Spucknäpfe Verwendung finden. Ihre Hauptbe-
ſtimmung iſt jedoch, als Unterſatz für die Granaten zu dienen,
damit dieſe nicht umfallen.“


Albert verbeugte ſich verſtändnißvoll vor ſeinem Vorge-
ſetzten.


„Apropos,“ fuhr dieſer fort, „Sie ſchreiben gewiß eine
deutlichere Handſchrift als ich, Herr Kamerad. Haben Sie doch
die Güte, ein Placat anzufertigen, welches das Rauchen im
Arſenale verbietet. Wir werden es dann an die Thüre nageln
und ſobald es fertig iſt, auch unſere Cigarren fortlegen, um
mit gutem Beiſpiele voranzugehen, denn dort in jenen Metall-
kiſten befinden ſich ſehr feuergefährliche Dinger. Sehen Sie
hier, für was würden Sie dieſe Röhrchen wohl halten?“


Albert hatte keine Ahnung von dem Zwecke der ihm völlig
fremden Gegenſtände, die das Ausſehen von Pfeifenräumern
hatten und inſofern eine Ergänzung der Spucknäpfe ſein konnten.


„Das ſind königlich hannoverſche gefüllte kupferne Fric-
[246]Werner
tionsſchlagröhren nach amerikaniſchem Modell,“ erklärte Woll-
weber. „Sie ſind mir ſehr antipathiſch, denn ich liebe Kürze
und ihr Verzeichnen im Hauptbuche beanſprucht ſtets drei ganze
Zeilen. Nach der Autorität meines artilleriſtiſchen ad latus
Baſſermann werden ſie zum Abfeuern der Kanonen gebraucht.
Er hat mir auch gezeigt, wie man ſie zur Exploſion bringt,
und nach dem Frühſtück wollen wir einige derſelben zur Er-
weiterung unſerer artilleriſtiſchen Kenntniſſe abfeuern.“


Hiernach gelangte Wollweber an eine wolverſchloſſene
Kiſte. Er öffnete ſie ſehr behutſam und enthüllte einen darin
enthaltenen und in Werg verpackten Gegenſtand. Es war eine
viereckige Meſſingplatte mit Gradeintheilung und beweglichem
Zeiger.


„Was iſt dies, verehrter Herr Kamerad? Merken Sie
ſich’s,“ fuhr er in feierlichem Tone fort, als Albert kopfſchüttelnd
ſchwieg, „das iſt der wichtigſte Gegenſtand in der ganzen Ar-
tillerie. Es iſt ein Pendelquadrant! Zwar ſind mir ſeine
Functionen bis jetzt noch nicht ganz klar, aber infolge von
Baſſermann’s Mittheilungen habe ich eine ſolche Hochachtung
davor bekommen, daß ich ſtets ſalutirend an die Mütze greife,
wenn in meiner Gegenwart das Wort „Pendelquadrant“ aus-
geſprochen wird.“


Wollweber ſalutirte, Albert folgte ſeinem Beiſpiele und
beide kamen überein, daß der „Pendelquadrant“ in Zukunft den
„nicht zur Zunft gehörigen“ Beſuchern des Arſenals nur unter
der Bedingung gezeigt werden ſollte, wenn ſie zuvor ihr Haupt
entblößten. Indiscrete Fragen aber nach der eigentlichen Natur
des merkwürdigen Gegenſtandes ſollten ebenſo wie die nach
andern Dingen, deren Erklärung mehr Kenntniß erforderte, als
die beiden Arſenalvorſtände beſaßen, mit der Antwort „Geheim-
niß“ abgewehrt werden.


Nach dem Pendelquadranten kamen die verſchiedenen
Schiffshandwaffen, als Enterſäbel, Enterbeile und Enterpiken
[247]Ernſtes und Heiteres
an die Reihe. Sie bedurften keiner längeren Erklärung, doch
machten Wollweber und Albert mit erſteren einige Gänge und
gelangten beide bei dieſer Gelegenheit zu der befriedigenden Ge-
wißheit, daß ſie ſich doch nicht ganz umſonſt auf deutſchen Hoch-
ſchulen aufgehalten hatten.


Die etwas ungewohnte Bewegung hatte den Appetit ge-
reizt und nach Stärkung durch ein ſolides Frühſtück und dem
Abfeuern einiger Schlagröhren wurde die Belehrung fortgeſetzt.
In Anbetracht der guten Cigarren, welche ſich noch in den
Taſchen vorfanden, beſchloß man jedoch, das Placat wegen
„Nichtrauchens“ noch einige Tage auszuſetzen.


Es kam jetzt der wichtigſte Punkt zur Verhandlung, die
Einweihung in die Geheimniſſe des ominöſen Hauptbuches, das
bereits mehrmals erwähnt war und für Albert fortan an die
Stelle des Corpus juris treten ſollte.


„Auf eine gute Führung des Hauptbuches, verehrter Herr
Kamerad,“ begann Wollweber, „kommt ſehr viel an, mehr als
Sie denken. Hätte ich früher dieſem Grundſatze gehuldigt,
würde ich jetzt nicht in dieſem ungeheizten Arſenale zu frieren
brauchen, obwol ich ſonſt ganz gern hier bin. Ich habe es mir
deshalb zur Aufgabe gemacht, dieſes wichtige Buch wirklich gut
zu führen, aber gleichzeitig dabei auch practiſch zu verfahren.
Wie ich ſchon andeutete, iſt mein Motto „Einfachheit und
Kürze“ und ich habe es auch hier zur Anwendung gebracht.
Sehen Sie,“ fuhr er fort, indem er das Hauptbuch aufſchlug,
„etwas Einfacheres kann es kaum geben. Hier ſteht die Ein-
nahme, alles dicht beiſammen, ungeheuer überſichtlich!“


„In der That! ſehr einfach und überſichtlich,“ beſtätigte
anerkennend Albert, „und die Ausgabe?“


Mit großer Gewandtheit warf Wollweber das Buch wie
einen auf einer Seite gebackenen Eierkuchen in der Luft herum
und ſchlug die Rückſeite auf. „Hier ſteht die Ausgabe!“ zeigte
er triumphirend.


[248]Werner

„Ich mache Ihnen mein Compliment über dieſe practiſche
Einrichtung,“ äußerte Albert bewundernd; „das haben Sie ge-
wiß in Amerika gelernt.“


„Keineswegs,“ erwiderte Wollweber. „Es iſt mir im
Gegentheil gar nicht gut bekommen, daß ich dort kein Haupt-
buch führte. Vor fünfzehn Jahren ging ich mit zwei Lands-
leuten, gleich mir ehemaligen Studenten, nach Amerika und wir
kauften uns in Wisconſin eine Farm. Anfangs verlief alles
vortrefflich. Wir waren bald Herren eines Grundbeſitzes, faſt
ſo groß, wie ihn mancher kleine Fürſt in Deutſchland hat. Doch
wir lebten ſehr flott und gaben mehr aus, als wir einnahmen;
die Herrlichkeit nahm ein Ende und bald beſaßen wir nichts
mehr als das nackte Leben.


„Wie kam das? Wir hatten kein Hauptbuch geführt!


„Jeder von uns ging nun ſeiner Wege. Ich wurde Muſik-
lehrer in Boſton und fand auch mein reichliches Auskommen.
Da ich aber als ſolcher durch meine Schülerinnen der fort-
währenden Verführung zum Heirathen ausgeſetzt war und ich
ein abgeſagter Feind des ehelichen Joches bin, verzichtete ich
auf meinen neuen Erwerbszweig und begab mich nach dem
Süden. Obwol ich mit Unterrichtgeben und Concerten glän-
zende Geſchäfte gemacht, waren mir dennoch nur wenige Hundert
Dollars übrig geblieben.


„Wie kam das? Ich hatte kein Hauptbuch geführt!


„In New-Orleans machte mir ein Amerikaner den Vor-
ſchlag, mit ihm eine Seifenfabrik zu etabliren. Wir gewannen
und verloren abwechſelnd. Eines Nachts — wir hatten kurz
zuvor grade ſehr gute Geſchäfte gemacht — brannte die Fabrik
mit allen ihren Vorräthen ab. Das vorhandene Geld ſteckte
mein Compagnon zu ſich und behauptete, es ſei ſein Antheil.
Ich verklagte ihn, wurde aber mit meiner Klage abgewieſen.


„Weshalb? Wir hatten kein Hauptbuch geführt.


„Aus dieſer kurzen Skizze mögen Sie, verehrter Herr
[249]Ernſtes und Heiteres
Kamerad, entnehmen, wie wichtig ein ſolches Hauptbuch für
unſer Leben iſt und ich habe deshalb das unſere ſo practiſch
eingerichtet.“


„Sehnen Sie ſich aber trotzdem nicht nach Amerika zurück,
das in der langen Zeit doch Ihr zweites Vaterland geworden?“
fragte Albert.


„Nein,“ lautete die Antwort, „es gefällt mir in Deutſch-
land doch beſſer und auch meine jetzige Stellung ſagt mir zu.
Nur eins kränkt mich tief,“ fügte er mit einem Seufzer hinzu,
von dem man nicht wußte, ob er ernſt oder komiſch gemeint war.


„Und darf ich fragen, was das iſt?“ bemerkte ſein Aſſi-
ſtent theilnehmend.


„Daß Herr von Bismarck-Schönhauſen es bis zum Ge-
ſandten gebracht hat, während derſelbe in Göttingen beim Corps
der Hannoveraner doch nur mein Leibfuchs war. Wahrſchein-
lich hat er ſtets ein Hauptbuch geführt,“ ſetzte er als Troſt für
ſich hinzu.


Albert blieb noch einige Monate unter Wollwebers Aegide
im Arſenal. Dann wurde er als Schiffszahlmeiſter geeignet
befunden, zuerſt auf eine der kleineren Corvetten und dann
auf das Flaggſchiff commandirt. Luſt und natürliche Anlagen
entwickelten ſchnell bei ihm ein nicht gewöhnliches Verwaltungs-
talent, und wenn er ſpäter auch Einnahme und Ausgabe etwas
anders gruppirte als im Hauptbuche des Arſenals, gedachte er
doch ſtets dankbar ſeines welterfahrenen Vorgeſetzten, aus deſſen
Lehren er ſo manches profitirt hatte. An Bord unſeres Schiffes
zeigte er ſich als ein ebenſo umſichtiger und practiſcher Beamter,
wie als liebenswürdiger und überall gern geſehener Kamerad.


[250]Werner

2. In der Officiermeſſe.


In dem hinteren Theile des Schiffes, je nachdem daſſelbe
nur über oder auch unter Deck Geſchütze führt — auf dem
erſten oder zweiten Deck, liegt der gemeinſame Wohnraum für
die Officiere, die Officiersmeſſe oder auch einfach Meſſe ge-
nannt. In damaligen Zeiten, bei Gründung der Flotte, war
ſie ein ſchmuckloſer, gewöhnlich weiß geſtrichener viereckiger Raum
ohne weiteren Comfort. Ein Eßtiſch und die nothwendige
Anzahl Stühle, beide handfeſt und lediglich nach dem Nützlich-
keitsprincipe gebaut, bildeten das ganze Mobiliar, zu dem ſich
vielleicht noch einige Bilder in beſcheidenen Goldleiſtenrahmen
geſellten, wenn der mit Führung der Menage betraute Officier,
der Meſſevorſtand, gut wirthſchaftete und kleine Ueberſchüſſe aus
den Tafelgeldern erzielte, welche die Koſten für ſolche Zierrathen
decken konnten. Das paſſirte jedoch ſelten und nur wenn routi-
nirte Zahlmeiſter Meſſevorſtände waren; die Seeofficiere machten
nach dieſer Richtung gewöhnlich Fiasko. Trotz Milchſuppe, Fiſch
und Kohlſalat, die aus Sparſamkeit öfter das alleinige Menü bilde-
ten, meldete ſich doch am letzten des Monats häufig ein Defi-
cit und trug dem ungewandten Haushalter unliebſame Bemer-
kungen und meiſtens mit Einſtimmigkeit ausgeſprochene feierliche
Abſetzung von ſeinem Vertrauenspoſten ein.


Ihr Licht empfängt die Meſſe von oben, da ſie an den
Seiten von den Kammern der Officiere umgeben wird. Dieſe
Kammern ſind Räume von durchſchnittlich zwei Meter Länge und
etwas mehr Tiefe. Wenn die Bauart des Schiffes es geſtattet,
giebt man ihnen Seitenfenſter und auf den neueren, namentlich
auf den Panzerſchiffen, ſind jene ſo groß, daß der Bewohner
hinlänglich Luft und Licht hat, um ſo mehr, als hier auch die
Höhe der Kammern 2½ bis 3 Meter beträgt.


Vor dreißig Jahren kannte man jedoch ſolchen Luxus noch
nicht und glaubte weniger anſpruchsvoll ſein zu müſſen. Die
[251]Ernſtes und Heiteres
Kammern waren niedrige, dunkle, ſchlecht ventilirte Räume, in
denen man auf kleineren Schiffen ſich nur gebückt bewegen konnte
und wo man auch zur Mittagszeit Licht brennen mußte, um
zu leſen oder zu ſchreiben. Vielfach hatten ſie nicht einmal
Seitenfenſter, ſondern nur ein in das Deck eingelaſſenes Glas-
prisma, durch welches ein matter Lichtſchimmer fiel. Waren
erſtere auf Fregatten und größeren Corvetten vorhanden, ſo be-
ſtanden ſie aus runden dicken Glaslinſen von zehn bis zwölf
Centimeter Durchmeſſer, die in Metallrahmen befeſtigt ſich öffnen
und ſchließen ließen. Im Hafen war es geſtattet, ſie offen zu
laſſen, ſobald aber das Schiff in See ging, durften ſie Nachts
nie und am Tage nur mit ſpecieller Erlaubniß des Comman-
danten oder erſten Officiers bei ſehr ſchönem Wetter und ruhiger
See geöffnet werden. Ihre niedrige Lage über der Waſſerfläche
ließ die Gefahr befürchten, daß bei Bewegungen des Schiffes
Waſſer durch ſie einſtrömte und man war deshalb für ihren ſo-
wie für den rechtzeitigen Verſchluß der unteren Geſchützpforten
auf Fregatten und Linienſchiffen ängſtlich beſorgt. Eine Ver-
nachläſſigung dieſer Vorſicht hat mehrfach furchtbares Unglück
herbeigeführt, ſo z. B. bei dem engliſchen Segellinienſchiffe
„Royal George“. Daſſelbe ſollte auf eine mehrjährige See-
reiſe ausgehen und lag auf der Rhede von Portsmouth zu
Anker. Um ein kleines Leck zu dichten, war das Schiff von
den Zimmerleuten etwas nach der einen Seite übergeholt worden.
Da ſtieg eine Gewitterbö auf; ein plötzlicher Windſtoß legte
das Schiff nach jener Seite über, die unbefeſtigten Geſchütze
rollten nach Lee, wodurch ſich das Fahrzeug noch mehr neigte;
das Waſſer ſtürzte durch die offenſtehenden Unterpforten in die
inneren Räume, in wenigen Minuten kenterte das mächtige
Schiff, ſank auf den Grund und von ſeiner 900 Mann ſtarken
Beſatzung wurde kaum der zwanzigſte Theil gerettet, während
auch noch gegen 300 Frauen und Kinder, Angehörige der
Mannſchaft, die den Ihrigen ein letztes Lebewol ſagen wollten
[252]Werner
und deshalb an Bord gekommen waren, in den Fluthen ihren
Tod fanden.


Daſſelbe furchtbare Schickſal ereilte vor 25 Jahren ein
ruſſiſches Linienſchiff in der Oſtſee. Es befand ſich unter
Segel, als es von einer heftigen Bö überraſcht wurde und ſich
infolge deſſen ſtark überlegte. Der wachehabende Officier hatte
nicht nur verſäumt, zeitig die Segel zu bergen, ſondern auch
die Unterpforten ſchließen zu laſſen und das unglückliche Schiff
verſchwand mit ſeiner geſammten Beſatzung in den Fluthen.
Einige in der Nähe ſegelnde Kauffarteiſchiffe eilten ſo ſchnell
wie möglich zur Unglücksſtätte, konnten aber nur noch drei
Mann retten.


In den Officierkammern der nicht ſehr großen Schiffe
herrſcht im Allgemeinen nicht viel mehr Comfort, als in der
Meſſe. Schon der beſchränkte Raum ſchließt dieſen Begriff aus.
Die eingebaute Coje, ein Waſchtiſch, eine Kommode, ein Bücher-
brett und vielleicht in einer günſtigen Ecke eine Art Kleider-
ſchrank, ſowie ein Feldſtuhl laſſen oft nur ſo viel Platz, daß
der Inhaber ſich mit Noth bewegen kann; hat er einen Kame-
raden zum Beſuch, ſo muß Einer auf der Coje ſitzen.


Und doch, trotz der Beſchränktheit, des Halbdunkels und
der dumpfen Luft — wie glücklich iſt der Seeofficier, nament-
lich auf längeren Reiſen, eine Kammer zu beſitzen. Wie lieb
und werth wird ihm oft das beſcheidene Plätzchen, das er ſein
eigen nennen darf, wohin er ſich in den ſpärlichen Freiſtunden,
die der ſo viel fordernde Dienſt ihm läßt, zurückziehen, wo er
ein Buch leſen, einen Brief ſchreiben oder auch nur ungeſtört
ſeinen Gedanken nachhängen kann. Bei Commandirung eines
Officiercorps an Bord eines Schiffes iſt es in den meiſten
Fällen nicht möglich, Rückſicht darauf zu nehmen, ob auch die
Perſönlichkeiten zu einander paſſen, da die dienſtlichen Anforde-
rungen in erſter Reihe maßgebend ſind. Wie leicht kann es
dann aber geſchehen und wie oft tritt der Fall in Wirklichkeit
[253]Ernſtes und Heiteres
ein, daß die einzelnen Charactere durchaus nicht zu einander
ſtimmen.


In einem Regimente oder Bataillon kommen ſolche Ver-
hältniſſe weniger in Betracht; dort kann Einer dem Andern
aus dem Wege gehen; nach Beendigung des Dienſtes iſt jeder
Landofficier ſein eigener Herr. Er hat ſeine bequeme Wohnung,
ſeine Familie, Geſellſchaften, Theater, einen Spaziergang in
Wald und Feld oder andere Genüſſe, die ihm Erholung von
den Anſtrengungen des Dienſtes bieten, durch die er die em-
pfangenen unangenehmen Eindrücke von ſich abſtreifen und ſich
die Elaſticität ſeines Geiſtes bewahren kann. Wie viel un-
günſtiger iſt dagegen der Seeofficier geſtellt! Für Jahre wird
er mit Kameraden, die ihm vielleicht antipathiſch ſind, auf den-
ſelben kleinen Raum beſchränkt. Er kann ihnen nicht entfliehen,
er iſt gezwungen, ſie faſt immer zu ſehen, er muß mit ihnen an
demſelben Tiſche ſpeiſen, Luft, Licht, Schlimmes und Gutes mit
ihnen theilen. Keinerlei Zerſtreuung zieht ſeine Gedanken ab,
kein freudiges Ereigniß muntert ihn auf — Himmel, Waſſer,
die Bordwände und der Dienſt ſind ſeine Geſellſchafter und ein-
zigen Begleiter. So iſt es denn natürlich, daß ſeine Stimmung
von Tage zu Tage trüber wird, daß erbärmliche Kleinigkeiten,
über die der Menſch in normalen Verhältniſſen leicht und gleich-
gültig hinweggeht, ihn reizen und bohrende Gedanken veranlaſſen.


Dann iſt es die Kammer, in deren Einſamkeit er Zuflucht
vor ſich ſelbſt ſucht, die er zur Vertrauten des an ihm nagen-
den Kummers macht und die ihm Troſt ſpendet. Dort kann
er die Maske abwerfen, die er draußen zu tragen genöthigt iſt
und ſeinen Gefühlen freien Lauf laſſen — ja dann iſt der
kleine enge Raum ein Schatz, deſſen Werth nicht hoch genug
veranſchlagt werden kann, das Paradies, in dem er die traurige
Gegenwart vergeſſen und träumen darf, träumen von der Ver-
gangenheit, deren ſchöne Erinnerungen milden Balſam auf ſein
wundes Herz träufeln, träumen von der Zukunft, die ihm im
[254]Werner
Kreiſe ſeiner Lieben reiche Entſchädigung verſpricht und aus den
trauten Bildern, die vor ſeiner Seele vorüberziehen, ſchöpft er
friſchen Muth.


Es giebt nicht viel Schiffe, auf denen das Zuſammenleben
in der Meſſe nicht mehr oder minder durch ſolche Verhältniſſe
beeinträchtigt würde, wenn die Reiſen mehrere Jahre dauern.
Leider muß man den Grund in der Schwäche des menſchlichen
Characters ſelbſt ſuchen und darf es als einen beſonderen Glücks-
fall bezeichnen, wenn die Harmonie bis zum letzten Augenblicke
ungeſtört bleibt. Sehr viel freilich können zu ihrer Aufrechterhal-
tung der Commandant und der erſte Officier beitragen. Letzterer
lebt mit in der Meſſe, und wenn er beobachtet, kann er leicht den
Anläſſen auf die Spur kommen, welche den erſten Grund zu
den Zerwürfniſſen legen. Meiſtens ſind ſie ſo geringfügiger
Natur, daß ein gutes Wort zur richtigen Zeit, ein Scherz, eine
freundliche Mahnung ſie ſpurlos verwiſchen würden, während
ſonſt, bei der gereizten Stimmung der Gemüther, leicht die Hydra
der Zwietracht aus ihnen erwächſt und ſie ſich zur Quelle ſtets
intenſiver werdenden Zornes und Haſſes geſtalten. Der erſte
Officier iſt aber vor Allen die geeignetſte Perſönlichkeit, um es
nicht ſo weit kommen zu laſſen. Er hat das Recht und die
Verpflichtung dazu; er ſteht über den Parteien und kann ver-
möge ſeiner Stellung, viel eher als jeder Andere, vermittelnd,
beſchwichtigend und ausgleichend eintreten und in Verbindung
mit richtigem Tactgefühl ſeine Autorität nach dieſer Richtung
hin in wolthätiger Weiſe zur Geltung bringen.


In noch höherem Grade aber wird das Leben in der Meſſe
und überhaupt an Bord durch den Commandanten bedingt. Dieſer
hat es in der Hand, Allen den Aufenthalt auf dem Schiffe
lieb und angenehm zu machen und dadurch am meiſten zur
Fernhaltung von Zerwürfniſſen beizutragen, indem er nicht nur
ſelbſt, ſoweit dies die eigentlichen Schiffsverhältniſſe geſtatten,
mit den Officieren in kameradſchaftlicher Weiſe verkehrt, ſondern
[255]Ernſtes und Heiteres
ihnen auch das Leben auf jede Weiſe erleichtert und freundlich
geſtaltet. Leider iſt das nicht immer der Fall; es giebt Schiffs-
commandanten, die in Folge unrichtiger Auffaſſung ihrer Stel-
lung oder tadelnswerther Charactereigenſchaften ihr Schiff für
Jeden unleidlich machen können, weil ſie die ihnen verliehene
große Macht, die nicht mit Unrecht öfter mit der eines abſoluten
Herrſchers verglichen wird, mißbrauchen, wenngleich ihnen keine
Ueberſchreitung ihrer weitgehenden Befugniſſe nachzuweiſen iſt.
Niemand kann einem Commandanten etwas anhaben, wenn er
unter Berufung auf irgend welche dienſtliche Gründe Officieren
und Mannſchaften den Urlaub verweigert oder ſo beſchränkt,
daß es einem Verbote gleichkommt, wenn er die Exercitien ſo
weit treibt, daß ſie zur Tortur werden, wenn er die Beſatzung
ohne zwingende Urſache auf ſcharfe Waſſerration ſetzt, ſo daß
die lechzende Zunge am Gaumen klebt, wenn er ſeinen Unter-
gebenen die geringen Freuden, welche ihnen ihr ſchwerer Beruf
gewährt, vergällt und vergiftet.


Glücklicher Weiſe ſind derartige Charactere ſelten, aber es
hat deren gegeben und Lavandelle in ſeinem „Vie navale“ er-
zählt von einem ſolchen, der ſeinen Untergebenen das Schiff
zur wahren Hölle machte, ſie zur Verzweiflung trieb und da-
durch für ſich und ſie ein furchtbares, tragiſches Schickſal her-
aufbeſchwor.


Es war dies der Commandant einer franzöſiſchen Kriegs-
brigg, mit der er im Jahre 1836 auf zwei Jahre nach der
Antillenſtation ging, eine jener niedrigen Seelen, deren Gemein-
heit und Niedertracht ſich in ihrem wahren Lichte erſt zeigt,
wenn ſie glauben, die Macht in Händen zu haben. So lange
er Subalternofficier war, ſchmeichelte er Jedem, von dem er
irgendwie Vortheile erhoffte, und namentlich den Vorgeſetzten.
Vorwürfe nahm er von ihnen wie eine Gunſt entgegen, Grob-
heiten und Ungerechtigkeiten mit ſanftem Lächeln. Er ſuchte ſich
einen hohen Beſchützer aus, deſſen verdammte Seele er ſpielte,
[256]Werner
er überſprang Kameraden, weil er kriechen konnte, erhielt
Decorationen als Pflaſter für hingenommene Beleidigungen und
endlich das Commando der Brigg als Belohnung für Speichel-
leckerei.


Sein Ziel war erreicht; er ſtreifte die Maske ab, warf
ſeinen beſpuckten Rock hinter ſich und zeigte ſein wahres Geſicht,
das nicht erröthen konnte, weil es keine Scham mehr kannte.
Seine Kameraden von geſtern, heute ſeine Untergebenen, wurden
ſeine Opfer. Sie hatten ſeine Natur erkannt, es bis dahin
unter ihrer Würde gehalten, ihm die Hand zu reichen, an Bord
ihn unter Quarantäne geſtellt und ſeinen Namen nur mit einem
verächtlichen Achſelzucken genannt. Er hatte alles gefühlt, aber
mit lächelndem Munde auf ſeine Zeit gewartet; jetzt endlich war
ſie gekommen und fortan wurde Rache die Triebfeder aller
ſeiner Handlungen.


Die Brigg hatte zwei Jahre auf der Station in Weſt-
indien gelegen, und dieſe ganze Zeit war für die Beſatzung nur
ein hartes Gefängniß, eine ununterbrochene geiſtige und körper-
liche Quälerei geweſen. Der Kapitän wohnte am Lande, aber
übte von dort ſeine Gewalt über die Untergebenen aus; er hatte
an Bord ſeine Spione, die ihm alles hinterbrachten. Faſt täglich
erſchienen Befehle, die die härteſte Tyrannei übten, aber befolgt
werden mußten, weil ſie die dienſtlichen Schranken inne hielten,
und ſo wurden hundert Menſchen durch einen unſichtbaren Ver-
folger allmälig zur Verzweiflung getrieben. Die Brigg war
1½ Meilen vom Ufer verankert, Niemand erhielt Urlaub und
nur Einzelne kamen an’s Land, wenn der Dienſt es durchaus
erforderte. Tödtlicher Haß gegen den Peiniger erwuchs in den
Herzen der Officiere und Mannſchaften; er wurde nicht aus-
geſprochen, aber deſto glühender flammte er in der verſchloſſenen
Bruſt und drohte ſie zu ſprengen.


Endlich erſcheint der Tag der Heimkehr und der Kapitän
kommt mit heiterer Miene an Bord. Seine Miſſion iſt beendet,
[257]Ernſtes und Heiteres
ein höherer Grad erwartet ihn bei ſeiner Rückkehr. Auf den
bleichen und abgezehrten Geſichtern der Mannſchaft zeigt ſich
jedoch kein Freudenſtrahl, obwol es heimwärts geht; unheilver-
heißender Ernſt lagert auf ihren Zügen und finſtere Wuth zieht
ihr Herz krampfhaft zuſammen als ſie lautlos um das Gang-
ſpill marſchiren, um den Anker zu lichten. Der Kapitän lieſt
eine unbeſtimmte Drohung in ihren Mienen und es wird ihm
unheimlich zu Muthe. Er ſucht mit den Officieren ein Ge-
ſpräch anzuknüpfen, doch vergebens; ſie befolgen nur ſtumm die
erhaltenen Befehle, ſonſt weichen ſie ihm ſcheu aus, wie dem
böſen Feind.


Im Bahamacanal ſteigt eine Bö auf, eine von jenen, die
der Schrecken der Seefahrer ſind und den Orkan in ihrem
Schooße tragen. Der Officier der Wache benachrichtigt den
Kapitän von der nahenden Gefahr; er kommt an Deck und
ertheilt den Befehl, Segel zu kürzen. Der Officier läßt „Alle
Mann“ aufpfeifen und wiederholt das erhaltene Commando,
doch die Ausführung unterbleibt. Stumm und drohend ſteht
die Mannſchaft auf dem Vorderdeck, der Bootsmann wirft ſeine
Signalpfeife über Bord, reißt ſich die Abzeichen von der Jacke
und ſtellt ſich ſchweigend an das Bugſpriet. Die Bande der
Disciplin ſind geſprengt und der Gehorſam iſt gekündigt, wäh-
rend der Sturm heulend über das Waſſer daherfährt.


„Gei auf Marsſegel,“ ruft der erſchreckte Kapitän, indem
Leichenbläſſe ſein Geſicht überzieht; er fühlt, daß die Nemeſis naht.


„Wir werden die Segel nicht fortnehmen,“ erwidern
hundert Stimmen zugleich.


„Holen Sie Ihre Waffen!“ wendet ſich der Kapitän zu
den Officieren, „das iſt Meuterei!“ Der Angſtſchweiß perlt dem
Feigling von der Stirn.


Die Angeredeten ziehen ſich nach dem Hinterdeck zurück;
nur der Wachehabende bleibt auf der Commandobank; ſein
glanzloſes Auge blickt dem Sturme entgegen, der pfeifend und
R. Werner, Erinnerungen. 17
[258]Werner
brauſend hereinbricht und das Schiff durch die Wellen peitſcht,
die von allen Seiten es zu verſchlingen drohen.


Einige wenige Nichtſeeleute und Matroſen begeben ſich
zum Kapitän auf das Hinterdeck.


„Was ſollen wir machen,“ ſprechen ſie mit ſchlotternden
Knieen zu ihm, „wir werden untergehen!“


„Nieder mit den Spionen!“ ruft die Mannſchaft, „wir
wollen ſterben.“


Der Kapitän ſteht bleich und zitternd; er nimmt dem
Officier der Wache das Sprachrohr ab, er hofft noch auf
Wiederkehr der Ordnung, wenn er ſelbſt commandirt; aber die
Antwort der Mannſchaft iſt nur höhniſches Lachen, das ſich mit
dem Grollen des Sturmes miſcht. Dann verſchwindet auf eine
Minute Alles im dampfenden Giſcht; die Brigg ſcheint unter-
zugehen, ſie legt ſich auf die Seite und die See bricht dar-
über fort.


„Kappt die Maſten um Gottes Willen!“ tönt es heiſer
aus der Bruſt des Kapitäns hervor. Seine Spione wollen
hinunter und Beile holen, doch die Mannſchaft treibt ſie von
den Luken zurück.


„Wir wollen ſterben und er ſoll mit uns gehen,“ ruft
es wieder vorn, und die Officiere bewahren ein düſteres
Schweigen. Da kracht es, die Bemaſtung geht über Bord; die
Brigg richtet ſich wieder auf, aber jetzt rammen die Maſten
gegen die Bordwände und drohen Löcher zu brechen.


„Ich verſpreche Euch Allen Begnadigung, ich ſchwöre es
auf meine Ehre!“ bittet der Kapitän in höchſter Angſt, „aber
kappt die Taue!“


„Deine Ehre? Ha, wer glaubt daran?“ höhnen die
Matroſen.


Der Kapitän fleht, wüthet und droht; die Mannſchaft
ſchwelgt im Gefühl befriedigter Rache, aber es genügt ihr nicht
mehr, aus Haß gegen einen verabſcheuten Vorgeſetzten Schiff
[259]Ernſtes und Heiteres
und Leben zu verlieren; ſie will mehr, ſie lechzt nach Blut und
dringt in drohender Haltung zum Hinterdeck.


„Du mußt ſterben, Hyäne!“ ziſcht es in ſein Ohr, „ſterben
mit uns, aber Du zuerſt und mit Dir Deine Spione.“


„Zu Hülfe, meine Herren Officiere, zu Hülfe! ich gelobe
Ihnen meine Fürſprache, Beförderung, Orden“ — die Angſt er-
ſtickt ſeine Stimme — aber die Officiere verhalten ſich ſchweigend
wie bisher; nur der erſte Officier begiebt ſich in das Zwiſchen-
deck hinunter. Der Kapitän glaubt, er wolle Waffen holen;
ein ſchwacher Hoffnungsſchimmer leuchtet auf dem verzerrten Ge-
ſicht, doch vergebens harrt er auf die Rückkehr. Die Sturzſeen
überfluthen inzwiſchen das Deck, der Orkan heult und das
Schiff erzittert unter den heftigen Stößen der gebrochenen
Maſten gegen Bug und Seite. Mit dieſen Schrecken miſcht
ſich der Angſtſchrei von Menſchen; es ſind die Spione des
Kapitäns, die Mannſchaft hat ſich ihrer bemächtigt, ihnen die
Kleider vom Leibe geriſſen und peitſcht ſie erbarmungslos.
Blutgieriger Wahnſinn leuchtet aus den Augen der Matroſen,
die Officiere ſchauen gleichgültig der furchtbaren Vergeltung
zu; der Kapitän bricht in die Kniee und fleht um Gnade.
In dieſem Augenblicke öffnet der erſte Officier die Thür zur
Pulverkammer; ein Blitz und Donner wie von hundert Ge-
wittern und das Schiff fliegt zerſchellt in die Lüfte — Opfer
und Henker werden von den Wellen verſchlungen.


Die Bö iſt vorüber, der Sturm ſchweigt, die aufgeregten
Wogen glätten ſich und die Sonne ſendet wieder friedlich ihre
leuchtenden Strahlen zum blauen Ocean hernieder. Eine Stunde
ſpäter paſſirt ein amerikaniſches Schiff die Stelle, wo das Grauſige
ſich vollzogen. Auf einer zerbrochenen Spiere treibt der einzig Ueber-
lebende der erſchütternden Kataſtrophe und wird von den Ameri-
kanern aufgenommen; es iſt ein Schiffsjunge, halbtodt und mit
ſchweren Brandwunden bedeckt. Er erzählte den Zuſammenhang,
aber am andern Tage war auch er ſeinen Leiden erlegen.


17*
[260]Werner

Ziehen wir einen Schleier über das düſtere Bild, das
glücklicher Weiſe in der Geſchichte der Marine vereinzelt da-
ſteht und wenden wir uns freundlicheren Scenen zu, wie ſie
z. B. die Officiersmeſſe des „Barbaroſſa“ bot. Abgeſehen da-
von, daß das Stillliegen der Schiffe im Hafen dem Einzelnen
geſtattet hätte, unerquicklichen Reibungen aus dem Wege zu
gehen, ſtanden die Meſſemitglieder trotz der großen Verſchieden-
heit des Characters, der Lebensanſchauungen und des Bildungs-
grades auf einem ſehr guten kameradſchaftlichen Fuße und es
herrſchte ein ſehr gemüthlicher Ton an Bord. Das hauptſäch-
lich belebende Element war Fähnrich Mathy. Er hatte ein
ſehr gewandtes Weſen, beſaß Humor und verband damit ein
großes Erzählertalent, das die Unterhaltung ſelten in’s Stocken
gerathen ließ. Er war ziemlich viel in der Welt umhergekommen
und wußte bei jeder Gelegenheit irgend ein Erlebniß anzu-
knüpfen, von dem es nur zweifelhaft blieb, ob er es ſelbſt er-
lebt, adoptirt oder ganz oder theilweiſe erfunden hatte. Dabei
nahm er es jedoch keineswegs übel, wenn man bisweilen in ſeine
Erzählungen leiſen Zweifel ſetzte, ſondern tröſtete ſich damit, daß
er die Lacher ſtets auf ſeiner Seite hatte.


Ein ähnlicher Character, wenigſtens was das Erzählen an-
betraf, war Fähnrich Frank, nur waren ſeine Geſchichten weniger
intereſſant als lang und behandelten vorzugsweiſe Spukthemata.
Wehe dem Unglücklichen, der dieſen Erzählungen zum Opfer fiel;
unter zwei bis drei Stunden kamen ſie nicht zu Ende und
unter den Nebenumſtänden ging überdies regelmäßig die Pointe
verloren. An ein Entkommen war gar nicht zu denken, wenn
man ſich mit ihm allein befand und Lieutenant W., der mit
Frank zuſammen die Wache hatte, mußte ſchwer darunter leiden.
Keine Unterbrechung half; nach Beſeitigung einer Störung ſetzte
Frank genau wieder bei den Worten ein, mit denen er aufgehört,
bis der Lieutenant ſich in ſein Schickſal ergab und ihn zu Ende
ſprechen ließ.


[261]Ernſtes und Heiteres

Nur in der Meſſe gelang es ihm ſehr ſelten, zu Worte zu
kommen. Mathy’s Suade gegenüber war er machtlos und dieſer
kappte regelmäßig Frank’s langen Faden ſo oft, bis dieſer es
aufgab, ihn weiter zu ſpinnen und ſich verdrießlich in ſeine
Kammer zurückzog. Gewöhnlich gelang es ihm jedoch, Mr.
Roberts, den engliſchen Maſchineningenieur, mit ſich zu bug-
ſiren und ihn zu einem Glaſe Grog einzuladen. Mr. Roberts
war ein dankbarer Zuhörer; er verſtand zwar kein Deutſch, da
Jeder mit ihm engliſch ſprach, aber dies hielt ihn nicht ab, den
Geſprächen der Uebrigen in der Meſſe mit größter Aufmerk-
ſamkeit zu lauſchen und dann und wann den bewundernden
Ausruf „how funny“ — wie komiſch! dazwiſchen zu werfen.
Als Frank’s Gaſt hatte er den doppelten Genuß, deſſen Spuk-
geſchichten in Engliſch anzuhören, wodurch ſie noch länger wurden
und dazu bei einem ſteifen Grog zu ſitzen; was von beiden ihm
beſſer gefiel, blieb unentſchieden.


Eine tonangebende Perſönlichkeit war auch der Arzt des
Schiffes, Dr. Altmanns, ein Süddeutſcher von queckſilberner Be-
weglichkeit. Dem militäriſchen Range nach war er als Marine-
arzt II. Claſſe der Aelteſte der Meſſe und von Anfang an mit
Erfolg beſtrebt geweſen, dieſen Standpunkt zur Geltung zu
bringen. Er war ein ſtarker Dialectiker und geiſtig ſehr ge-
wandt. Die Seeofficiere waren ihm in dieſer Richtung nicht
gewachſen, er ſprach ſie im Wortkampf ſehr bald todt und hatte
dadurch ſo ziemlich die Alleinherrſchaft an ſich geriſſen. Eines
Tages war dieſe Herrſchaft aber erſchüttert worden, die Autori-
tät hatte einige arge Stöße erlitten und der Doctor hielt ſich
infolge deſſen etwas mehr im Hintergrunde.


Bei einer ſonſt liebenswürdigen Außenſeite, die den Ver-
kehr mit ihm erleichterte, hatte Altmanns einige Schwächen,
die ſeinen Kameraden eine Handhabe boten, ſich für die in den
Wortgefechten ſtets erlittenen Niederlagen zu rächen. Er war
ziemlich eitel, und nicht nur auf ſeine vermeintliche geiſtige Ueber-
[262]Werner
legenheit, ſondern auch auf ſeine Perſon, namentlich aber auf
ſeine wirklich ſehr kleinen und zarten Hände, die er deshalb
auch mit beſonderer Sorgfalt pflegte. Sie und die Epauletten
mit den glänzenden goldenen Troddeln trug er gar zu gern zur
Schau und ging deshalb viel an Land. Selten verſäumte er
einen Ball, machte allen hübſchen Mädchen den Hof, tanzte ſehr
flott und hielt tapfer bis zuletzt aus, ſo daß er dann erſt ſpät
Nachts an Bord zurückkehrte. Auf dieſen Umſtand hin war
ihm ein unangenehmer Streich geſpielt worden.


Bei der Rückkunft in einer bitterkalten Winternacht fand
er zu ſeinem Schrecken in ſeiner Coje ſechs 68pfündige Kugeln
fein ſäuberlich in eine Reihe gelegt. Vergebens gab er ſich die
erdenklichſte Mühe, ſie herauszuheben. Seine ſchönen und ſorg-
ſam gepflegten Hände waren nicht im Staude, die Koloſſe zu
umſpannen und hartnäckig entglitten die letzteren bei jedem Ver-
ſuche. Jemand von der Wache um Hülfe zu bitten, wagte der
Doctor nicht, aus Beſorgniß, am nächſten Tage der allgemeine
Gegenſtand kauſtiſchen Matroſenwitzes zu werden; ſeinen treuen
Burſchen konnte er nicht wecken, da er deſſen Hängematten-
nummer im Zwiſchendeck nicht kannte, und ſo blieb ihm nichts
übrig, als den Reſt der Nacht auf einem Stuhle zuzubringen.
Ofen hatten die Kammern nicht; wollten die Inhaber ſich ein-
mal auf eine Viertelſtunde die Illuſion behaglicher Wärme
gönnen, dann wurde in der Küche eine 32-Pfünder-Kugel glühend
gemacht, in einen mit Sand gefüllten Eimer gelegt und damit
ein Ofen improviſirt. Doch Nachts brannte kein Feuer in der
Küche, und ſo ließen Aerger und Kälte den Doctor kein Auge
ſchließen, bis endlich mit der Reveille der treue Burſche erſchien
und ihn aus der fatalen Situation befreite.


Kurze Zeit darauf wurde ſeine Eitelkeit jedoch noch em-
pfindlicher beſtraft. Ein Meſſevorſtand an Bord hat eine
ſchlimme Stellung; er muß ſehr geduldig ſein, um ſich durch
die ſtets geübte Kritik der übrigen Kameraden nicht den Appe-
[263]Ernſtes und Heiteres
tit verderben zu laſſen und fährt nur dann gut, wenn er ſich
an nichts kehrt, ſondern lediglich das kochen läßt, was ihm ſelbſt
ſchmeckt. Trotzdem giebt es Ehrgeizige, die nach dieſer viel-
geſchmähten Stellung ſtreben, und zu ihnen gehörte auch Alt-
manns. Er war einer der ſchärfſten Kritiker und brachte es
auch endlich ſo weit, daß er ſeine eigene Wahl durchſetzte. Als
ſein Vorgänger ihm die vorhandenen Vorräthe übergab, fanden
ſich unter denſelben auch mehrere Blechbüchſen, dem Anſcheine
nach Conſerven, die zu jener Zeit ſich an Bord der Schiffe
einzuführen begannen. Auf die Frage nach dem Inhalte, er-
hielt der Doctor die Antwort: „Grüne Erbſen; ſie müſſen drei
Stunden in der Büchſe kochen und erſt kurz vor dem Anrichten
geöffnet werden, dann ſchmecken ſie aber wie friſch gepflückt.“


Der neue Meſſevorſtand war über die Ausſicht auf friſches
Gemüſe mitten im Winter ſehr erfreut. Am nächſten Sonntag
wurden mehrere Gäſte zu Mittag geladen, und Altmanns gedachte,
ſie nicht wenig mit den Conſerven zu überraſchen. Er inſtruirte
den Koch genau und machte es ihm zur Pflicht, ihn zur rich-
tigen Zeit zu rufen, um ſelbſt beim Oeffnen zugegen ſein zu
können. Kurz vor Tiſch kam denn auch die betreffende Meldung;
die Büchſen wurden aufgeſchnitten, aber man denke ſich des
Doctors Entrüſtung — die Erbſen hatten ſich in Eiſen ver-
wandelt! Die vermeintlichen Conſerven waren Kartätſchbüchſen
für die Salutgeſchütze des „Barbaroſſa“. Für Spott brauchte
Altmanns nicht zu ſorgen; er heimſte mehr als wünſchenswerth
davon ein, umſomehr, als auch der Reſt des Diners kläglich
ſcheiterte und die Gäſte hungrig vom Tiſche aufſtehen mußten.


Um das Beſtmögliche zu leiſten, hatte nämlich der neue
Meſſevorſtand den Koch durch eine Flaſche Madeira anzuſpornen
verſucht, aber ſie ihm unvorſichtiger Weiſe ſchon vor ſtatt
nach Tiſche geſchickt. Die Bouillon, noch vor Einwirkung des
Madeira gekocht, war ausgezeichnet. Dann aber paſſirte die
unangenehme Geſchichte mit den Kartätſchen. Wäre Altmanns
[264]Werner
nicht ſelbſt ſo aufgeregt geweſen, hätte er ſchon beim Oeffnen
der Büchſen die bedenkliche Weinlaune des Kochs bemerken
müſſen, doch ſo war ihm dies gänzlich entgangen. Nach Aus-
fall des Zwiſchengerichtes ſetzte er ſeine Hoffnung auf den Reh-
rücken. Er hatte ihn ſelbſt ausgeſucht, ihn drei Tage in ſaure
Sahne legen laſſen, da mußte er ja vorzüglich ſein. Nach
ſehr langer Pauſe, während der der Doctor auf Nadeln ſaß,
erſchien endlich der Braten — aber o Himmel! vollſtändig ver-
kohlt und ungenießbar. Die Gäſte mußten ſich mit Compot
und Pickles begnügen. Altmanns war zerſchmettert, ſein Re-
nommée ſtand auf dem Spiel, ja es war zum großen Theil
ſchon verloren, malitiöſe Bemerkungen ſchlugen an ſein Ohr —
nur der letzte Gang, der Pudding, weckte noch einen ſchwachen
Hoffnungsſchimmer.


Wieder nach ſehr langer Pauſe, in der ſich die Unter-
haltung nur mühſam fortſchleppte, erſchien er. Stolz und
ſtattlich prangte er auf einer mächtigen Schüſſel in ſo rieſiger
Größe, daß die Geſellſchaft ſich unbedingt daran ſatt eſſen
konnte; doch die Freude war nur von kurzer Dauer und ein
Blick auf das Prachtſtück in der Nähe ließ den armen Meſſe-
vorſtand erbleichen. Was war das für eine ſonderbare Garni-
rung? Ueberall ſchauten verdächtige weiße Zierrathen aus der
Oberfläche hervor. Der Anſchnitt gab die Erklärung, aber ſie
war vernichtend.


„Nimm vierundzwanzig ganze Eier,“ hatte in dem vom
Doctor ausgeſuchten Recept geſtanden. Infolge des Madeira
hatte der Koch doppelt geſehen und achtundvierzig geleſen, im
übrigen aber die „ganzen Eier“ buchſtäblich genommen und nicht
nur Gelbes und Weißes, ſondern auch die Schalen in den
Pudding geſchlagen.


Das war für den armen Meſſevorſtand ein harter Schlag,
ſein Debüt ein über alle Maßen trauriges geweſen. Noch am
ſelben Abend legte er die neue Würde nieder, die dann endlich
[265]Ernſtes und Heiteres
in die richtigen Hände, in die des Zahlmeiſters kam. Für die
nächſten Monate hielt er ſich aber ſehr zurück und die Seeoffi-
ciere hatten Aufwaſſer. Fähnrich Mathy, der das Artillerie-
material an Bord zu verwalten hatte, war höchlich erſtaunt, daß
Kartätſchbüchſen unter die Vorräthe der Officiersmeſſe gerathen
waren. Er ließ die drei gekochten wieder löthen, neu anſtreichen
und ſie, um ſpäteren Mißverſtändniſſen vorzubeugen, dorthin ver-
ſtauen, wohin ſie gehörten, in die Kugelracken um die Maſten.


An ſchönen Sommerabenden pflegten ſich nach Beendi-
gung des Dienſtes die meiſten Meſſemitglieder auf dem Ober-
deck, mittſchiffs, in der Nähe des Maſchinenſchornſteins zu
verſammeln, um bei einer Cigarre ein Plauderſtündchen zu
halten. Unten in der Meſſe durfte nämlich nicht geraucht
werden; der Commandant betrachtete das als ein Capitalver-
brechen. An Bord der Kriegsſchiffe herrſcht mancherlei ſonder-
bare Etikette, die vielfach berechtigt iſt, aber aus früheren
Zeiten auch eine Menge zopfigen Ballaſtes mit ſich führt, der
an und für ſich keinen weiteren Sinn hat, als Unterofficieren
und Mannſchaften einen unnöthigen Zwang aufzulegen und
ihnen dadurch das Leben zu erſchweren. In neuerer Zeit hat
man verſtändiger Weiſe Verſchiedenes von dieſem Zopf abge-
ſchafft und dabei in Betracht gezogen, daß ein Wohlfühlen der
Beſatzung an Bord und Gewähren harmloſer und gewohnter
Genüſſe viel mehr zur Aufrechterhaltung der Disciplin und
eines guten Geiſtes beiträgt, als alle Strenge und zweckloſe
Etikette. Unſer Kapitän vermochte die Sache jedoch nicht
von dieſem weiteren Geſichtspunkte aufzufaſſen; je weniger der
alte Mann vom eigentlichen Dienſte verſtand, deſto mehr ſuchte
er ihn in der peinlichen Beobachtung von Aeußerlichkeiten. Das
Nichtrauchen in der Meſſe war ihm noch aus ſeiner kurzen
Dienſtzeit vor drei Jahrzehnten als Maſter in der engliſchen
Marine erinnerlich und nun ritt er es als Steckenpferd.


An einem prachtvollen warmen Sommerabend ſaßen Offi-
[266]Werner
ciere und Beamte auf dem Rauchplatze. Die Unterhaltung
drehte ſich um ein großes Herrenfrühſtück, das der Commandant
des „Ernſt Auguſt“ am Tage zuvor zur Feier ſeines Geburts-
tages an Bord ſeines Schiffes gegeben hatte und zu dem eine
große Anzahl Gäſte, wie auch verſchiedene Officiere des „Barba-
roſſa“ eingeladen geweſen waren. Daß es dabei ſehr heiter
hergegangen und mancher am andern Morgen mit ſchmerzenden
Haaren aufgewacht war, kann man ſich denken, da dergleichen
auch anderwärts vorkommt.


Mathy war wie gewöhnlich der Vortragende; die Wunden,
welche die Kartätſchbüchſen und die 68-Pfünder dem Doctor
Altmanns geſchlagen, waren noch nicht vernarbt und er beſchränkte
ſich auf das Zuhören. Fähnrich Frank hatte ſchon verſchiedene
Male vergebens verſucht, auch zu Worte zu kommen und den
Erzähler in ſeinem Referate zu ergänzen, allein es war ihm
nicht gelungen und er rückte infolge deſſen ſehr unruhig mit
ſeinem Stuhle hin und her.


„So ſcheint alſo das Amüſement ein allgemeines geweſen
zu ſein,“ bemerkte Zahlmeiſter Albert.


„Sicher,“ erwiderte Mathy. „Sie können es daraus ent-
nehmen, daß das Frühſtück netto zwölf Stunden dauerte, von
ein Uhr Mittags bis ein Uhr Nachts. Es fing an Bord mit
ſechszig Gäſten an und endete ſchließlich in Schillings Hotel
mit ſechs der tapferſten Streiter; der Verbrauch von achtzig
Flaſchen Champagner erklärt dieſen Ausfall zur Genüge.“


Eine kurze Pauſe, welche Mathy machte, ſchien Frank eine
günſtige Gelegenheit zu bieten, den Zuhörern eine ſeiner Ge-
ſchichten zu verſetzen. „Ja,“ bekräftigte er, „es war eine ſolenne
Fête, wie ich ſie nur noch einmal in meinem Leben mitgemacht
habe. Nun, meine Herren, das war eine ganz famoſe Ge-
ſchichte, die ich Ihnen doch erzählen muß. Als ich noch in
Hamburg auf der Schule war . . . .“


„Aber Frank,“ unterbrach Mathy ſeinen Rivalen bei dieſen
[267]Ernſtes und Heiteres
Worten, die den ſteten Anfang ſeiner „Geſchichten“ bildete,
„nehmen Sie mir’s nicht übel; erſtens iſt das ſchon lange her
und dann haben Sie auch herzlich wenig vom geſtrigen Früh-
ſtück geſehen und können eigentlich nicht gut darüber urtheilen.“


„Wie ſo?“ fragte Frank in komiſchem Zorn.


„Nun,“ erwiderte Mathy lachend, „nach dem Braten
wurden Sie ſentimental, beim Deſſert fingen Sie an zu ſingen,
und als wir vom Tiſch aufſtanden, verſuchten Sie, den Adjutanten
des alten Hauptmanns von Kapernaum in Brand zu ſtecken.“


„Was ſagen Sie?“ äußerte Frank auf das Höchſte er-
ſtaunt, „davon iſt mir ja nicht das Geringſte bekannt. Als ich
in Hamburg . . . .“


„How funny!“ warf Mr. Roberts dazwiſchen. Er hatte
die Uebrigen lachen ſehen und daraus geſchloſſen, daß es ſich
um etwas Komiſches handelte. Die Bemerkung verſtärkte natür-
lich noch die Heiterkeit und Frank ſtockte einen Augenblick.


„Eben darum,“ fiel Mathy ein. „Sie erinnern ſich der
Sache nicht mehr; daran trug der Champagner Schuld und
deswegen ſagte ich, Sie hätten wenig vom Verlaufe geſehen.“


Frank ſchien die Ueberzeugung zu gewinnen, daß er heute
ſeine Geſchichte nicht an den Mann bringen würde, verſchwand
in ſeine Kammer und der getreue Mr. Roberts mit ihm.


„Was war das mit dem Inbrandſtecken des Lieutenant
Decker?“ fragte der Zahlmeiſter.


„Nun,“ erzählte Mathy weiter, „der Champagner war
ausgezeichnet und that ſeine Schuldigkeit; beim Deſſert wurde
die Sache ſchon etwas bunt; die leidigen Toaſte wollten kein
Ende nehmen, den Meiſten ging das Mundwerk mit Voll-
dampf und ſelbſt der ſonſt ſo ſchweigſame alte Kapitän Traſſer
von der „Deutſchland“ kletterte auf den Tiſch und hielt eine lange
Rede in flämiſcher Sprache, von der Niemand etwas verſtand.


Der Marineſtabsarzt und der Secretär des Admirals ge-
riethen in heftigen Disput wegen ihrer Journalnummern und
[268]Werner
Jeder wollte aus deren Zahl nachweiſen, daß es in ſeinem
Reſſort viel mehr zu thun gebe, als in dem des andern. Der
Stabsarzt behauptete, der Secretär hätte gleich mit Nr. 500
begonnen und dieſer wieder warf dem Doctor vor, daß er alle
Einladungs- und Viſitenkarten, die bei ihm abgegeben würden,
mit journaliſiren laſſe. Ihren Streit überſchrie dann der taube
Hauptmann von Kapernaum wieder. Er erzählte, daß die
Jungens von Bremerhafen auf der Lünette „Fuchs“, wo das
geſammte Pulver für ſein Fort „Wilhelm“ lagere, ein mächtiges
Johannisfeuer angezündet hätten. Wenn das in Hannover
bekannt würde, ſo könnten wol noch drei Jahre darüber ver-
gehen, bis er Major würde. Das ſei aber nach 27jähriger
tadelloſer Dienſtzeit als Hauptmann eine um ſo traurigere Aus-
ſicht, als es mit ſeinem Gehör, wegen deſſen er bis jetzt nicht
befördert ſei, doch täglich entſchieden beſſer werde. Neulich, als
an ſeinem Geburtstage der Adjutant und der Unterofficier der
Feſtungsbeſatzung zur Gratulation gekommen, habe er ſchon ganz
deutlich ihr Klopfen an der Thür vernommen. Wie mir jedoch
Decker vor einiger Zeit mittheilte, war ihm ein Böller vor die
Stubenthür geſetzt und abgefeuert worden; das hatte dann der
Hauptmann für Klopfen gehalten und „Herein“ gerufen.


Um dieſe Zeit wurde nun die Tafel aufgehoben und die
Geſellſchaft vertheilte ſich auf dem Deck. Frank verſuchte auch
ſpazieren zu gehen, hatte aber ſeine Rundhölzer nicht mehr recht
unter Commando, beſaß etwas zu viel Topgewicht und ſchlingerte
deshalb ziemlich ſtark. Aehnlich ging es dem Adjutanten und
ſo kamen beide von einander unklar. Das gab dann eine höchſt
ergötzliche Scene. Frank drehte ſich um, ſchaute den Lieutenant
eine Weile mit durchbohrenden Blicken ſtumm an und ſagte dann
in dem feierlichen Tone, den Sie an ihn kennen, „Herr, Sie
ſind der verwerflichſte Character des neunzehnten Jahrhunderts,“
und ſchlingerte langſam weiter auf das Vordeck zu. Der Lieute-
nant drehte ſich auch um und es überkam ihn ein unbeſtimmtes
[269]Ernſtes und Heiteres
Gefühl, daß er ſich eine Erklärung der geäußerten Worte aus-
bitten müſſe.


„Was wollen Sie damit ſagen, Herr F — ähnrich?“
interpellirte er Frank, als es ihm gelungen war, dieſen einzuholen.


Dieſer ſah ihm wieder eine Weile ſtarr in’s Geſicht wie
vorhin und ſprach in demſelben feierlichen Tone: „Herr, es wäre
beſſer für Sie, Sie wären nie geboren worden.“


Wir Umſtehenden lachten natürlich laut, doch ſchien dies
Decker nur noch mehr zu reizen. „Soll das eine Be — leidigung
ſein?“ ſtotterte er hervor.


„Beleidigung?“ erwiderte Frank nach einigem Beſinnen,
indem ſein bisheriger Ernſt allmälig dem vergnügteſten Lachen
wich, „nein! Ich habe nur einmal in meinem Leben einen
Menſchen beleidigt, als ich in Hamburg auf der Schule war,
ſeitdem nicht wieder, am allerwenigſten aber Dich, zugeknöpfter
Waffenbruder. Komm an mein Herz, dann wirſt Du fühlen,
wie ich Dich liebe!“ rief er dann gerührt, breitete die Arme
aus und umſchlang zu unſerm Gaudium inbrünſtig den ver-
blüfften Lieutenant, der aber plötzlich aufſchrie und mit
Händen und Füßen arbeitete, um ſich aus der Umarmung zu
befreien.


Wir ſprangen hinzu, um zu ſehen, was geſchehen ſei und
fanden allerdings den Schrei ſehr gerechtfertigt. Frank hatte
in ſeiner Rührſeligkeit die brennende Cigarre im Munde ver-
geſſen und dieſe ſo gegen den Hals des von ihm umfangenen
Adjutanten gepreßt, daß letzterer ein tüchtiges Brandmal davon
trug. Nun gab es natürlich etwas Aufregung, und wir hatten
genug zu thun, um den Lieutenant zu beruhigen und ihm zu
beweiſen, daß nur ein unglücklicher Zufall an dem Vorgange
Schuld ſei. Kaum war dies gelungen, als ſich eine andere
merkwürdige Scene abſpielte. Wir hörten plötzlich Hülferufe im
Zwiſchendeck, als ob Jemand umgebracht würde. Ich ſprang
voll Beſorgniß durch die Vorluke hinunter und ſah dort vier
[270]Werner
oder fünf Kranke mit angſterfüllten Mienen auf zwei Aerzte
deuten, die im Lazareth ſtanden. Es waren Aſcheberg vom
„Ernſt Auguſt“ und Bell von der „Hamburg“. Letzterer hielt,
wie Sie wiſſen, von ſeiner Fahrt auf holländiſchen Kriegsſchiffen
her, grundſätzlich alle kranken Matroſen für Simulanten, wenn
ſie nicht wenigſtens ein Bein gebrochen haben. Er ſteht deshalb
mit ſeinen Collegen ſehr viel in Conflict, weil dieſe unſere
deutſchen Matroſen nicht mit dem Auswurf auf holländiſchen
Schiffen auf gleiche Stufe ſtellen wollten. Geſtern war er durch
den Champagner noch mehr in ſeiner Anſicht beſtärkt worden und
hatte durch Anwendung eines neuen Heilverfahrens die Kranken
ſo in Schrecken geſetzt. Nach Tiſch forderte er Aſcheberg auf,
ihm ſeine Patienten zu zeigen, unter denen ſich einige hochinter-
eſſante Fälle befinden ſollten. Beide kamen auch glücklich die
Treppe hinunter bis in das Lazareth, wo die Kranken bei der
großen Hitze ihre Hängematten verlaſſen hatten und auf den
Bänken an Bord ſaßen oder lagen.


„Wie viel haſt Du heute?“ fragte Bell.


„Drei innere und vier äußere,“ erwiderte Aſcheberg.


„So, und was fehlt dieſem hier?“ examinirte Bell weiter,
indem er auf einen Mann deutete, der ausgeſtreckt auf der Bank
lag und ſchlief.


„Febris intermittens mit bedeutender Leberanſchwellung.“


„Was haſt Du ihm gegeben?“


„Zwanzig Gramm Chinin.“


„Chinin?“ lallte Bell, „das w — irkt viel zu langſam,
da w — eiß ich ein beſſeres Mittel von Holland her, das augen-
blicklich hilft. Paß einmal auf.“ Dabei holte er mit der
Hand aus und verſetzte dem nichts ahnenden Fieberkranken einen
ſo wuchtigen Schlag auf deſſen Rücken, daß dieſer pfeilſchnell in
die Höhe fuhr und auf den Beinen ſtand. Als er den Doctor
zum zweiten Schlage ausholen ſah, ſtürzte er aber hülfe-
ſchreiend und in der Meinung, er habe es mit einem Wahn-
[271]Ernſtes und Heiteres
ſinnigen zu thun, in das Zwiſchendeck und die übrigen Kranken
hinter ihm her.


„Siehſt Du, College,“ rief Bell lachend dem ganz perplex
daſtehenden Aſcheberg zu, „wie probat mein Mittel iſt! Alles
auf einmal curirt; das kenne ich von Holland her — lauter
Simulanten die Kerle. Ich weiß mit ihnen umzugehen, ha,
ha! alles — Si — mu — lan —“


Das letzte Wort kam nur noch in Gurgeltönen zu Tage,
dann ſank Bell auf die Bank, wo der Kranke gelegen, und
verfiel in einen Todtenſchlaf.


Ein lautſchallendes Gelächter veranlaßte den draſtiſchen
Erzähler, eine kleine Pauſe zu machen. „Was ſagte denn aber
Aſcheberg zu dem Experiment?“ fragte Fähnrich Neuland, als
wieder etwas Ruhe eintrat.


„Nun er war völlig außer ſich, da Sie ja wiſſen, wie
ungemein beſorgt er um ſeine Kranken iſt, und hat Bell radical
die Freundſchaft gekündigt. Uebrigens hörte ich heute, daß dieſer
ſelbſt von ſeiner geſtrigen Kur ſehr angegriffen iſt. Sein Kapi-
tän hat ihm heute Morgen deshalb in Gegenwart des erſten
Officiers gerathen, acht Tage lang ſeine Kammer zu hüten, und
zwar ſoll dies infolge eines Schreibens vom Admiral geſchehen
ſein, der alſo wol Kenntniß von dem ſonderbaren Heilverfahren
erhalten haben muß.“


Der Bootsmannsmaat der Wache pfiff die Seite, und die
Ankunft eines Officiers unterbrach einen Augenblick die Unter-
haltung.


„Ah, guten Abend Flamberg, wie geht es Ihnen? das
iſt nett, daß Sie ſich einmal wieder ſehen laſſen!“ tönte es
ihm von allen Seiten entgegen, und die Bewillkommnung zeigte,
ein wie gern geſehener Kamerad der Neuangekommene ſein
mußte. Er war Lieutenant bei den Marinieren, wie damals
die Seeſoldaten hießen, und ein fideles Haus, deſſen Humor
jede geſellige Unterhaltung, an der er ſich betheiligte, zu würzen
[272]Werner
und zu beleben verſtand. Heute jedoch lagerte ein ſinnender
Ernſt auf ſeinen Zügen.


„Was haben Sie, Flamberg?“ fragte der ihm ſpeciell be-
freundete Zahlmeiſter. „Sie machen ja ein Geſicht wie drei Tage
Regenwetter.“


„Laſſen Sie ſich nicht ſtören, meine Herren,“ erwiderte
der Lieutenant; „es iſt eine Erinnerung, die mich den ganzen
Tag ernſt geſtimmt hat. Ich fühle das Bedürfniß, mich etwas
aufzuheitern, deshalb kam ich. Ich ſehe es Ihnen an, Mathy,
Sie ſind am Erzählen. Fahren Sie fort, ich höre zu, dann
wird ſich meine Stimmung wol beſſern.“


„Ich machte meinen Rapport über das geſtrige Feſt,“ ſagte
dieſer, „war aber ziemlich damit zu Ende gekommen, denn viel
bleibt nicht mehr zu erzählen. Es wurde von der Geſellſchaft
noch das Theater beſucht, deſſen ſämmtliche Plätze der Kapitän
des „Ernſt Auguſt“ für ſeine Gäſte belegt hatte, und wir ſpielten
ein wenig mit, wogegen der durch das ausverkaufte Haus über-
glückliche Director natürlich nichts einzuwenden hatte. Dann wurde
Kurs auf Schillings Hôtel geſetzt und daſſelbe trotz des con-
trären Windes wenigſtens von einem Theile der fröhlichen Ge-
ſellſchaft erreicht, die ſich indeſſen allmälig immer mehr ver-
kleinerte. Nur ſechs von uns behaupteten ſchließlich das Feld
bis Mitternacht, wenngleich uns heute Morgen beim Erwachen
etwas Kopfſchmerzen plagten.“


„Bei dieſen ſechs waren auch Sie, Flamberg, nicht wahr?“
fragte ein Officier, „dann kann ich mir allerdings Ihre heutige
trübe Stimmung erklären.“


„Ach nein,“ erwiderte dieſer elegiſch, „das iſt’s nicht. Sie
wiſſen, dergleichen ficht mich nicht ſo ſehr an. Wie ich Ihnen
ſagte, es iſt eine Erinnerung,“ und dabei blies der Sprecher
gedankenvoll dichte Rauchwolken in die Luft.


„Nun heraus damit, alter Freund,“ rief Albert, „Sie
halten doch ſonſt nicht hinterm Berge.“


[273]Ernſtes und Heiteres

„Wenn Sie es denn durchaus erfahren wollen, es iſt heute
der Jahrestag einer Begebenheit, die — ich möchte ſagen —
meinem ganzen Leben eine höhere Weihe gegeben hat,“ begann
Flamberg feierlich, was jedoch nicht hinderte, daß Alle, die den
flotten, leichtlebigen Lieutenant näher kannten, laut auflachten.


„Lachen Sie nicht, meine Herren,“ fuhr der Letztere in
demſelben Tone fort, „es iſt eine ernſte Geſchichte. Es iſt
Ihnen bekannt, daß ich 1848 bei den Preußen ſtand. Mein
altes frommes Mütterchen, die nach ſchwerem Kampfe endlich
ihre Einwilligung ertheilte, daß ich als Freiwilliger eintreten
durfte, übergab mir beim Abſchiede noch ein Büchelchen, den
Thomas a Kempis, und ich mußte ihr geloben, denſelben ſtets
bei mir zu tragen und ſo oft ich Zeit fände, darin zu leſen.
Dies Verſprechen habe ich auch erfüllt und trage ſeitdem das
Buch ſtets in meiner Bruſttaſche.


Es war bei den Dannewerken, meine Herren! Ich befand
mich in den vorderſten Reihen der Stürmenden und wir drangen
mit ſolchem Ungeſtüm vorwärts, daß, wie Gefangene ſpäter
ausſagten, die Dänen geglaubt hatten, wir rennten wie die
Stiere mit den Köpfen voran, um unſere Gegner mit der Pickel-
haube aufzuſpießen.“


Allgemeine Heiterkeit der Zuhörer.


„Ja, wahrhaftig,“ bekräftigte der Erzähler, „ſo war es;
aber die Dänen ſchoſſen auch verteufelt gut hinter ihren Schanzen
und der Tod hielt furchtbare Ernte unter uns. Meine Com-
pagnie litt ganz beſonders. Mit den Wenigen, die noch übrig
geblieben, ſtürmte ich unaufhaltſam vorwärts. Ich hatte das
Glück, die erſte preußiſche Fahne auf den Wällen aufzupflanzen;
im ſelben Augenblicke war es mir, als ob ich von unſichtbarer
Fauſt einen Schlag vor die Bruſt erhielt. Ich taumelte zurück,
raffte mich aber ſchnell wieder auf und fand mich merkwürdiger
Weiſe unverletzt. Die Dannewerke waren genommen; die Preußen
hatten einen ihrer ſchönſten Siege errungen.


R. Werner, Erinnerungen. 18
[274]Werner

Gegen Abend bezogen wir Quartiere und ich kam auf
einen einzeln gelegenen Bauernhof. Ehe ich mich ſchlafen legte,
zog ich meinen Thomas a Kempis hervor, um darin zu leſen —
ich hatte es lange nicht gethan — da denken Sie ſich mein
Erſtaunen, meine Herren! das Buch war von einer Kugel durch-
löchert, die innere Seite aber unverletzt, ſo daß die Kugel noch
im Buche ſtecken mußte, wo ich ſie auch richtig zwiſchen den
Blättern fand. Auf dem erſten unverletzten Blatte begann das
achtzehnte Capitel des vierten Buches und an der Stelle, wo
die Kugel einen ſichtbaren Bleiabdruck hinterlaſſen, ſtanden die
Worte: „es geſchieht bisweilen Mehreres, als der Menſch be-
greifen kann.“


„Bravo Flamberg,“ gut erzählt, „bravo!“ riefen die Zu-
hörer, „aber zeigen Sie uns das Buch, da Sie es ja ſtets bei
ſich tragen.“


„Das Buch? Ja ſo, ich erinnere, als ich an Bord ging,
wechſelte ich den Rock und es iſt in der Taſche ſtecken geblieben.
Nun das nächſte Mal bringe ich es mit, aber die Kugel habe
ich hier, die können Sie ſehen.“ Dabei holte er eine alte Mus-
ketenkugel aus der Geldbörſe, doch vermochte ſie nicht die auf-
tauchenden Zweifel zu beſchwichtigen. Flamberg war es jedoch
gewohnt, dergleichen öfter zu hören und ſteckte daher die
Kugel gleichmüthig wieder in ſeine Börſe. Der Thomas a
Kempis war natürlich auch ſpäter nicht zur Hand, wenn Nach-
frage kam; daß der Lieutenant aber den Jahrestag des Sturmes
der Dannewerke vom 23. April auf den Juli verlegt hatte,
wurde von ſeinem Auditorium nicht bemerkt, da deſſen Aufmerk-
ſamkeit in dieſem Augenblicke ein anderer Gegenſtand voll in
Anſpruch nahm.


Ein dreimaſtiger Schuner unter nordamerikaniſcher Flagge
kreuzte die Weſer herauf und ſchoß mit der friſchen Brieſe in
unmittelbarer Nähe der „Hanſa“ vorüber. Aller Augen richte-
ten ſich auf denſelben, denn der Seemann hat nicht nur für
[275]Ernſtes und Heiteres
ſein eigenes, ſondern auch für jedes fremde Schiff hohes Inter-
eſſe. Er muſtert es mit kritiſchem Blicke, ſucht Vorzüge und
Nachtheile im Belauf der Planken oder in der Takelage und
zieht in Gedanken oder laut Parallelen mit den Eigenſchaften
ihm bekannter Fahrzeuge.


Der Schuner übte aber eine ganz beſondere Anziehungs-
kraft, denn ſeine äußere Erſcheinung wich von den gebräuch-
lichen Formen, namentlich von den in deutſchen Gewäſſern vor-
kommenden, weſentlich ab. Sein langgeſtreckter Rumpf, der
ungemein ſcharfe und oben ausfallende Bug, die ſchrägſtehenden
Maſten, ſowie überhaupt der ganze Schnitt waren etwas Neues
und Ungewohntes.


Man ſah es dem Fahrzeuge ſogleich an, daß es ein ebenſo
tüchtiges Seeſchiff wie vorzüglicher Segler ſein mußte. Es war
ein ſogenannter „Klipper“, ein Schnellſegler par excellence
und ein Modell, von deſſen nautiſchen Leiſtungen man ſich
Wunderdinge in ſeemänniſchen Kreiſen erzählte.


Zu damaliger Zeit begann man gerade beim Schiffbau ſich
von dem alten Schlendrian loszumachen, der ihn ſeit vielen Jahr-
zehnten gefangen hielt, und zwar war es Nordamerika, das in
dieſer Richtung zuerſt mit gutem Beiſpiele voranging. Sein
aufblühender Seehandel und die Concurrenz mit dem bis dahin
meerbeherrſchenden England wirkten als Sporn, mit ſeinen
Schiffen dem Gegner den Rang abzulaufen, und das gelungene
Reſultat dieſes Strebens wurden die Klipper. Es waren mög-
lichſt vollkommene Segelſchiffe von früher für unmöglich ge-
haltener Schnelligkeit, mit vorzüglichen nautiſchen Eigenſchaften,
großer Ladefähigkeit und gleichzeitig ſehr eleganten Formen.


„Wie ſchön er auf dem Waſſer liegt — wie eine Möwe!“


„Und der Bug, ſcharf wie ein Meſſer! er macht nicht
einmal Schaum, wenn er durch das Waſſer ſchneidet!“


„Dieſe hängenden Maſten gefallen mir beſonders!“


„Ja! und wie die Segel ſtehen — wie ein Brett!“


18*
[276]Werner

„Paßt auf! Jetzt geht er über Stag; ich wette, er liegt
auf vier Strich am Winde!“


„Richtig, jetzt iſt er herum; er kreuzt wahrhaftig im rechten
Winkel!“


„Welch’ ein prachtvolles Fahrzeug!“


Dieſe und ähnliche Bemerkungen tönten von allen Seiten
und zeigten, wie lebhaft die Erſcheinung des ſchönen Schiffes
das fachmänniſche Intereſſe feſſelte.


Nachdem der Schuner gewendet, zeigte er den Nachblicken-
den ſein Heck, auf dem in goldenen Buchſtaben Name und
Heimathsort ſtand.


Mathy hatte das Fernrohr genommen, um den Namen
zu leſen. „Dachte ich’s mir doch, daß er es ſein mußte!“
rief er aus, „das iſt der „Grey-Hound“ von New-Orleans,
meine Herren, ich kenne ihn, denn ich habe auf ſeinem Schweſter-
ſchiffe, dem „Bugbear“, zwei Jahre gefahren und mit ihm ver-
ſchiedene Reiſen nach Archangel und St. Petersburg gemacht.
Ja,“ fuhr er wie begeiſtert fort, „das ſind Schiffe, wie man
ſie wol nicht wieder trifft. Sie ſegeln nicht, ſie fliegen, und
bei dem ſchlechteſten Wetter liegen ſie ſo ruhig, daß man
Flaſchen und Gläſer getroſt auf den polirten Tiſchen ſtehen
laſſen kann.“


„Wenn man ſie feſthält,“ äußerte malitiös Frank, der
die Gelegenheit wahrnahm, um für den ſtets abgeſchnittenen
Faden eine kleine Rache zu nehmen und die Lacher auf ſeine
Seite zu bringen. Er hatte Mr. Roberts ſeine Geſchichte glück-
lich beigebracht und ſich den Uebrigen wieder angeſchloſſen.


„Pah! dieſe Klipper kommen doch nicht gegen die „Luiſe“
auf,“ fuhr er, um den errungenen Vortheil auszubeuten, ſchnell
fort; „das iſt ein Fruchtjager, meine Herren, auf dem ich ge-
fahren. Wiſſen Sie, den hatte der bekannte Schiffsbaumeiſter
Randow in Stettin gebaut und die Amerikaner haben ihn zum
Modell genommen, reichen ihm aber nicht das Waſſer. In
[277]Ernſtes und Heiteres
der Bucht von Biscaya ſegelten wir einmal mit ſehr ſtrammer
Brieſe, ſo daß kaum die Gaffeltopſegel ſtehen konnten. Ich
war Steuermann, hatte die Wache und ſah, hinten an der
Reiling ſtehend, über Bord in die vorbeirauſchenden Wellen.
Da bemerkte ich auf einmal eine Menge halber Fiſche vorbei
treiben, bald die Kopf-, bald die Schwanzſtücke. Denken Sie
ſich, wir waren zwiſchen eine Heerde Delphine gekommen und
unſer ſcharfer Vorſteven ſchnitt die Thiere hundertweiſe durch,
da die „Luiſe“ ſo ſchnell ſegelte, daß die Fiſche gar nicht aus-
weichen konnten.


So war das Fahrzeug auf der ganzen Reiſe noch nicht
gelaufen und ich dachte deshalb, du willſt doch einmal loggen *,
wir machen gewiß 15 bis 16 Knoten.


Ich logge alſo. Die Leine auf der Rolle war bis fünf-
zehn Knoten gemarkt, aber ehe nur das Logglas zur Hälfte
durchgelaufen, war die Leine ſchon ganz abgerollt und von der
Reibung quoll eine dicke Rauchwolke aus der Welle hervor. Der
ſie haltende Junge war darüber ganz perplex geworden; anſtatt
ſie los zu laſſen, hielt er ſie krampfhaft feſt und die Folge da-
von war, daß er mit ihr beinahe über Bord ging. Mit ge-
nauer Noth erfaßte ich noch gerade ſein Bein, um ihn zu retten,
aber ſeine beiden Hände waren durch die brennende Welle ganz
mit Brandblaſen bedeckt. Die „Luiſe“ mußte alſo mindeſtens
[278]Werner
dreißig Meilen gemacht haben. Wiſſen Sie, meine Herren, es
war wunderbar und etwas Aehnliches iſt mir nur noch einmal
paſſirt, als ich in Hamburg auf der . . . .“


Ein homeriſches Gelächter unterbrach Frank’s Redefluß
und auch Mr. Roberts glaubte ein „how very funny“ an-
bringen zu müſſen.


Nur Mathy blieb ernſt. Sobald ſich die Heiterkeit aber
etwas gelegt und Frank wieder anknüpfen wollte: „Schule war,“
fiel erſterer ihm in’s Wort: „Was Sie da von den Fiſchen
erzählen, war auf dem „Bugbear“ tägliches Vorkommniß und
wurde von uns gar nicht beachtet. Aber um Ihnen zu be-
weiſen, wie unſer Schiff ſegelte, führe ich einfach an, daß
wenn wir lenzten *, wir alle paar Stunden beidrehen mußten,
um auf den Wind zu warten, da wir ihn regelmäßig ausliefen.
Da nun, wie Ihnen Allen bekannt iſt, ein Sturm mindeſtens
48 Knoten macht, ſo können Sie ſich allein ausrechnen, wie
ſchnell der „Bugbear“ geſegelt haben muß. Wie wäre es auch
ſonſt möglich geweſen, daß wir von New-Orleans in elf Tagen
nach St. Petersburg gelangt wären. Der Kaiſer von Rußland
beſuchte gerade bei unſerer Ankunft auf der Rhede von Kron-
ſtadt die Flotte, wobei die famoſe Geſchichte mit dem Admiral
paſſirte, von der Sie wol gehört haben. Er kam ſelbſt an
Bord unſeres Schiffes, gab unſerem Kapitän einen höheren
Orden, mir eine prachtvolle goldene Uhr, die mir leider geſtohlen
iſt, und jedem von der Beſatzung hundert Rubel.“


Frank verſtummte. Er war übertrumpft. Gegen einen
ſolchen Beweis vermochte er nichts mehr anzuführen. Er ſah
ein, daß dagegen ſelbſt das „Wunderbare“, was er in Ham-
burg erlebt, abfiel und er gab deshalb weiteres Erzählen für
heute auf, während Mathy triumphirte.


„Was war das für eine Geſchichte mit dem ruſſiſchen
[279]Ernſtes und Heiteres
Admiral,“ fragte Flamberg, als die Gemüther ſich wieder etwas
beruhigt hatten.


„Die kennen Sie nicht? Sie lief ja damals durch alle
Zeitungen. Nun dann hören Sie; ich war Augenzeuge und
kann deshalb den Verlauf genau ſchildern. Die ruſſiſche Flotte
war auf der Rhede von Kronſtadt verſammelt und der Kaiſer
wollte ſie beſuchen, hatte ſich jedoch das übliche Salutiren und
Paradiren verbeten. Sei es, daß ein Mißverſtändniß obwaltete,
genug, der commandirende Admiral auf dem Flaggſchiffe, in
deſſen Nähe wir geankert hatten, glaubte es recht gut zu machen,
wenn er den ganzen Apparat des officiellen Empfanges in Scene
ſetzte. Der Kaiſer erblickte darin jedoch einen Ungehorſam gegen
ſeine Befehle und war bei ſeiner autokratiſchen Natur darüber
ſehr aufgebracht. Einen Officier von niedrigerem Range hätte
er wahrſcheinlich gleich zum Matroſen degradirt; hier glaubte er
jedoch etwas Rückſicht nehmen zu müſſen und ſchickte den un-
glücklichen Admiral zur Strafe nur bis Sonnenuntergang in
den Top. Es war Morgens zehn Uhr, wir befanden uns im
Juli und die Sonne ging um zehn Uhr Abends unter.


Im erſten Augenblick wagte natürlich Niemand, eine Für-
bitte einzulegen und den Zorn des Kaiſers noch mehr zu reizen,
und ſo ſahen wir denn den alten Herrn in voller Uniform die
Wanten hinauf und in die Großmars* klettern. Langſam genug
ging es, und um die Puttingswanten herum kam er auch nicht,
dazu war er zu ſteif, ſondern er kroch durch das Soldatenloch.
Als er eine Stunde dort geſeſſen, der Kaiſer ſich zur Abfahrt
bereit machte und ſein Zorn etwas verraucht war, riskirte ſeine
Umgebung, ihn auf die Härte der verfügten Strafe aufmerkſam
zu machen, die ſonſt ja nur über Kadetten verhängt wurde, und
um Erlaß zu bitten.


„Was ich befohlen, das kann ich nicht gleich wieder rück-
[280]Werner
gängig machen,“ erwiderte der Kaiſer. „Er muß deshalb bis
Sonnenuntergang oben bleiben.“


„Majeſtät, dann iſt aber nichts im Wege, daß der Ad-
miral gleich herunterkommt,“ ſagte einer der Admirale.


„Wie ſo?“ fragte der Kaiſer erſtaunt.


„Majeſtät befehlen einfach, daß die Sonne jetzt, ſtatt heute
Abend um zehn Uhr, untergeht. Es wird nur Signal zur
Flaggenparade gemacht.“


Dem Kaiſer leuchtete dieſer Ausweg ein, der ihm das
Mittel bot, ſeine Uebereilung gut zu machen, ohne ſeinen Be-
fehl direct zurücknehmen zu müſſen. Das Signal zur Flaggen-
parade ging in die Höhe und die Flaggen wurden ſämmtlich in
aller Form niedergeholt. Obwol die Sonne noch hoch am
Himmel leuchtete, ging ſie für die ruſſiſche Flotte officiell unter,
und als der Kaiſer von Bord fuhr, um unſern „Bugbear“ in
Augenſchein zu nehmen, enterte auch der Admiral aus dem Top
nieder, um wieder das Commando der Flotte zu übernehmen.


Der kaiſerliche Beſuch war ja für uns eine große Ehre,“
fuhr Mathy fort, indem er unmerklich auf ein anderes ſeiner
„Erlebniſſe“ überging, „aber mir perſönlich kam er ſehr theuer
zu ſtehen und ich hatte dabei einen großen Verluſt, den auch
die koſtbare goldene Uhr nicht aufwiegen konnte, um ſo mehr,
als ſie mir nachher geſtohlen wurde.“


„Wie ſo? Erzählen Sie!“ riefen die neugierig gemachten
Zuhörer und Mathy ließ ſich auch nicht lange bitten.


„Ich beſaß einen wundervollen Papagei, den ich auf
eigenthümliche Weiſe in Braſilien erhalten und der mir unge-
mein viel werth war, nicht allein als Andenken an einen Freund,
dem er früher gehörte, ſondern weil er ganz außergewöhnlich
ſprach und ſang, wie wol nicht ſo leicht ein zweiter. Dieſen
ſah einer der jungen Großfürſten, hörte ihn ſingen und war ſo
entzückt von ihm, daß er ihn mir durchaus abkaufen wollte.
Daß ich darauf nicht einging, können Sie ſich denken, aber
[281]Ernſtes und Heiteres
was blieb mir übrig, als ihn zum Geſchenk anzubieten, und
ſo kam ich um das ſchöne ſeltene Thier, das ſchon ein Jahr
lang mein ſteter Begleiter geweſen und das unter ſo höchſt
wunderbaren Umſtänden in meinen Beſitz gelangt war, ſo
wunderbaren, daß ſie kaum glaublich ſind.“


„Was waren denn das für wunderbare Umſtände?“
fragte Albert. „Rücken Sie doch endlich damit heraus, nachdem
Sie uns den Mund ſo wäſſerig gemacht.“


„Gedulden Sie ſich doch nur,“ erwiderte Mathy, der mit
Befriedigung ſah, daß ſeine Zuhörerſchaft ſich in der geeigneten
Stimmung befand, „ich komme ja ſchon darauf hin. Es iſt
nebenbei auch eine traurige Geſchichte. Vor vier Jahren war
ich mit der „Wespe“, einer amerikaniſchen Kriegsbrigg, in Rio-
de-Janeiro. Wir lagen mehrere Monate dort, machten allerlei
Bekanntſchaften, und unter andern lernte ich auch eines Tages
einen deutſchen Herrn kennen, der etwa fünf Meilen von Rio
nach dem Innern zu ſich angeſiedelt hatte. Wir fanden Ge-
fallen an einander und wurden bald recht befreundet. Er lud
mich dringend zu einem Beſuche auf ſeiner Beſitzung ein, und
als er das nächſte Mal zur Stadt kam, ritt ich mit ihm hin-
aus. Unſer Weg führte uns durch ein prachtvolles Stück Ur-
wald, ehe wir an ſein Haus gelangten, das am Fuße eines
ziemlich ſteilen Berges gelegen und von üppigen Kaffee- und
Zuckerplantagen umgeben war. In dem Walde fielen mir große
Schaaren von ſchönen Papageien auf. Sie zeichneten ſich nicht
nur durch ihr wundervolles Gefieder, ſondern namentlich durch
den melodiſchen Klang ihrer Stimme aus, während man doch
ſonſt von dieſen Vögeln nur widerliches Gekreiſch vernimmt.
Ebenſo waren ſie gar nicht ſcheu, ſondern flogen ganz zutrau-
lich in unſerer Nähe umher, ſo daß man ſie faſt hätte greifen
können.“


„Sie werden ein ſchönes Exemplar in meinem Hauſe ſehen,“
erzählte mein Freund. „Ich habe es vor einem Jahre aus dem
[282]Werner
Neſte geholt und aufgezogen. Der Papagei iſt ſo zahm, daß er mir
auf Schritt und Tritt nachfliegt. Oefter macht er auch Beſuche
bei den Kameraden im Walde, kehrt aber regelmäßig bald zurück.
Das Merkwürdigſte iſt aber ſeine muſikaliſche Begabung und
ſeine klangvolle Stimme. Er verſucht, alle in meinem Hauſe
gehörten Lieder nachzuſingen oder vielmehr nachzupfeifen und bei
einigen gelingt ihm dies vortrefflich. Namentlich ſcheint ihm
„Wer hat Dich Du ſchöner Wald“ zu gefallen, das von mir
und meinen Kindern öfter als Quartett geſungen wird. Er
reproducirt es ohne den leiſeſten Fehler und vollkommen rein.“


„Als wir vor dem Hauſe meines Freundes ankamen, hatte
ich Gelegenheit, ſofort die Bekanntſchaft dieſes merkwürdigen
Vogels zu machen. Sobald er ſeines Herrn anſichtig wurde
und von der Kette am Fuße frei gemacht war, flog er auf
deſſen Schulter und drückte durch allerlei komiſche Bewegungen
die größte Freude über ſeine Rückkunft aus. Ich blieb einige
Tage auf der Hacienda und fand auch die übrigen gerühmten
Vorzüge des Thieres beſtätigt; es pfiff verſchiedene deutſche
Lieder glockenrein. Gar zu gern hätte ich den Papagei gehabt,
aber er war offenbar meinem Freunde ſo ans Herz gewachſen,
daß ich gar nicht wagte, ihn darum anzugehen.


Zwei Jahre darauf kam ich wieder mit dem „Bugbear“
nach Rio und beſchloß, da unſer Aufenthalt vorausſichtlich nur
kurze Zeit dauerte, ſo bald als thunlich die Beſitzung meines
Freundes aufzuſuchen. Ich miethete ein Maulthier und trat,
von einem Führer begleitet, meinen Ritt an. Da wir auf be-
wohnte Orte unterwegs nicht zu rechnen hatten und wir über-
haupt der Sonnengluth halber nur in den frühen Morgen- und
in den Abendſtunden reiten konnten, ſo nahm der Führer vor-
ſorglich nicht nur die nöthige Speiſe, ſondern auch Hängematten
mit, um ſie während der heißen Tageszeit im Schatten der Wälder
aufſchnüren und unſere Sieſta darin halten zu können. Eben
vor Dunkelwerden gelangten wir auch glücklich an den Ort
[283]Ernſtes und Heiteres
unſerer Beſtimmung, aber wer beſchreibt mein erſchreckendes Er-
ſtaunen, als wir aus dem Walde traten und uns ſtatt des
freundlich einladenden Hauſes, das mich vor zwei Jahren ſo
gaſtfrei aufgenommen, nur ein Trümmerhaufen entgegenſtarrte.


Ein Bergſturz hatte den größten Theil der Gebäude be-
graben, das Uebrige war niedergebrannt, alles öde und ver-
laſſen. Das Unglück mußte ſchon vor längerer Zeit ſtattge-
funden haben, denn üppige Schlinggewächſe überwucherten be-
reits die verkohlten Balken. Nirgends konnten wir ein Anzeichen
von der Nähe menſchlicher Bewohner entdecken; aller Wahr-
ſcheinlichkeit nach war mein Freund und ſeine Familie Nachts
von der Kataſtrophe überraſcht worden und Alle hatten unter
den Trümmern der Wohnung ihr Grab gefunden.


Mit tiefer Trauer im Herzen ſchickte ich mich an, den
Rückweg anzutreten. Es war jedoch ſo dunkel geworden, daß
wir den Pfad durch den Urwald nicht zu erkennen vermochten,
und ſo blieb uns nichts übrig, als die Nacht unter freiem
Himmel zuzubringen. Wir feſſelten unſere Maulthiere, nahmen
unſer Abendbrod ein, ſchnürten dann die Hängematten, die uns
jetzt vortrefflich zu ſtatten kamen, zwiſchen den Bäumen auf und
ruhten in der duftathmenden Atmoſphäre und unter dem dichten
Laubdach des Urwaldes, das uns auch gegen Regen vollſtändig
geſchützt haben würde, ganz behaglich.


Andern Morgens erweckte mich ein aus der Ferne er-
tönender Geſang. Im Halbſchlafe konnte ich mich zuerſt gar
nicht recht orientiren; als ich ganz wach wurde, erkannte ich
jedoch das Lied: „Wer hat Dich Du ſchöner Wald“. Es
wurde vierſtimmig geſungen, klang aber ſo voll, daß jede Stimme
wenigſtens zehnfach beſetzt ſein mußte. Vergebens ſah ich mich
nach den Sängern um, Niemand war zu entdecken. Die Sache
wurde mir unheimlich. Wie kam mitten in einen braſilianiſchen
Urwald ein deutſcher Sängerchor? Bei aufmerkſameren Hin-
hören unterſchied ich, daß die Stimmen aus der Höhe kamen.
[284]Werner
Die Sache wurde immer räthſelhafter! Ich weckte meinen
Führer; auch er war ſtarr vor Erſtaunen und meinte, es ſei
Hexerei. Da auf einmal verſtummte der Geſang. In den
Kronen der mächtigen Bäume über unſeren Häuptern rauſchte
es mit tauſendfachem Flügelſchlag.


Eine zahlloſe Schaar Papageien erhob ſich aus dem
dunklen Laube, um ſich weiter nach unten ganz in unſerer Nähe
auf den Zweigen niederzulaſſen. Ein beſonders ſchönes Exemplar
ſetzte ſich keine zehn Fuß von mir entfernt. Ich freute mich
über das prachtvolle Thier — da öffnet es den Schnabel und
intonirt. Mit wunderbarer Präciſion fallen die übrigen Papa-
geien vierſtimmig ein und der zweite Vers des Liedes erklingt
mit einer Schönheit und Fülle des Tones, wie ich es nie ge-
hört. Ich war aufs Tiefſte erregt; mein Führer glaubte an
Zauberei, lag auf den Knieen und betete ein Ave Maria. Auch
die Maulthiere waren wie wirr. Eine Zeit lang ſtanden ſie
mit geſpitzten Ohren und geblähten Nüſtern, dann ſtieß das eine
einen Laut aus, der wie ein ſchmetternder Trompetenton durch
den Wald klang. Die Papageien wurden dadurch ſo erſchreckt,
daß ſie plötzlich ihren Geſang unterbrachen und ſich in dichten
Schaaren erhoben, um davon zu fliegen.


Nur ein Thier blieb zurück; es war dasjenige, was into-
nirt hatte; aber ſein Bleiben war kein freiwilliges. In offen-
barer Angſt flatterte es auf dem Zweige, wo es ſaß, hin und
her. Ich ſprang hinzu und nun löſte ſich auch das Räthſel
des gehörten Quartetts. Es war der Papagei meines verun-
glückten Freundes. Er hatte noch die Kette am Fuß und ſich
mit dieſer in dem Aſte verſchlungen, ſo daß er nicht fort und
ich ihn greifen konnte. Wahrſcheinlich war er bei dem Bergſturz
entkommen und hatte nach dem Verluſt ſeines Herrn die alte
Waldesheimath aufgeſucht. Dort muß er dann in ſeiner außer-
ordentlichen Vorliebe für Muſik ſeinen Kameraden jenes Lied
vierſtimmig eingeübt haben.


[285]Ernſtes und Heiteres

Sie müſſen mir zugeben, meine Herren, daß das für einen
Vogel alles mögliche iſt, und wenn ich nicht Alles erlebt hätte,
würde ich es ſelbſt kaum glauben. Sie können ſich daher auch
denken, wie ſchwer es mir werden mußte, mich von ihm zu
trennen.“


„Heute haben Sie ſich ſelbſt übertroffen, Mathy,“ ſagte
Fähnrich Fix, während allgemeine Heiterkeit laut wurde. „Das
geht noch über den Thomas a Kempis.“


„Und über das Ausſegeln des Sturmes,“ fügte der Zahl-
meiſter hinzu.


„Very funny, indeed!“ bekräftigte Mr. Roberts.


Frank ſchüttelte nur ſchweigend den Kopf; er überzeugte
ſich endgültig, daß er einem ſolchen Rivalen im Erzählen nicht
gewachſen ſei.


„Ja, meine Herren,“ erwiderte Mathy gleichmüthig, „wenn
man ſo viel in der Welt herumgekommen iſt, wie ich, dann er-
lebt man auch viel und darunter mancherlei, das im erſten
Augenblicke wunderbar klingt, aber nichtsdeſtoweniger thatſäch-
lich iſt. Denken Sie an Flambergs Buch: „Es geſchieht bis-
weilen Mehreres, als der Menſch begreifen kann.““


Jean, der Steward, meldete jetzt, daß das Abendeſſen
ſervirt ſei, und die Geſellſchaft brach auf, um ſich wieder in die
Meſſe zu begeben. Das Plauderſtündchen war für heute vor-
bei, aber Mathy’s Vorrath an „Erlebniſſen“ noch lange nicht
erſchöpft. Wir haben ſpäter noch oft davon gehört und dar-
über gelacht.


[[286]]
[figure]

Die Seejunker.


Bei Gründung der deutſchen Flotte waren die Seejunker, wie
der officielle Titel der Kadetten lautete, auf den verſchiedenen
Schiffen vertheilt. Nach Lage der Umſtände konnten ſie
jedoch auf Raddampfern mit deren mangelhafter Bemaſtung
in practiſcher Beziehung wenig lernen; ſie wurden deshalb zum
größten Theile auf der „Deutſchland“ eingeſchifft. Das Schiff
mit ſeiner vollen Fregattentakelung bot wenigſtens Gelegenheit,
das Segelexercitium auf größeren Kriegsſchiffen und was damit
zuſammenhing kennen zu lernen, ebenſo geſtatteten ſeine Räum-
lichkeiten die Unterbringung von 25 bis 30 Junkern und
die Einrichtung eines regelrechten Lehrcurſes mit vorwiegend
theoretiſchem Unterrichte. Als Lehrer fungirten theils Officiere,
theils Civiliſten, und es wurde nach dieſer Seite nicht verſäumt,
die Schüler für ihr Fach möglichſt gut vor- und auszubilden.
Auch bei der Wahl der Meſſe war dieſe Rückſicht maßgebend
geweſen, und ſie befand ſich auf der „Deutſchland“ nicht, wie
ſonſt auf Fregatten, im Zwiſchendeck, ſondern in der hellen
Batterie, damit die Junker nicht bei Licht zu arbeiten brauchten.
Der Commandant des Schiffes, deſſen Obhut man die Er-
[287]Die Seejunker
ziehung der jungen Leute anvertraut hatte, war ein Belgier,
ein Mann in bereits vorgeſchrittenem Alter. Er that ſein
Beſtes, um die ihm gewordene Aufgabe zu erfüllen, aber dieſe
war nicht leicht und die übermüthigen Zöglinge ſchlugen oft
über die Stränge, um ſo mehr, als bei ihrer Einſtellung und
Auswahl nicht mit derjenigen Sorgfalt verfahren war, wie dies
ſpäter bei geordneteren Zuſtänden der Flotte geſchehen wäre.
Es erklärte ſich daher, wenn ſich unter dem Corps einzelne
Individuen befanden, die ihm nicht zur Zierde gereichten, dem
Commandanten das Leben ſehr ſauer machten und auf ihre
Kameraden keinen guten Einfluß übten, bis ſie ſich mit der
Zeit abſtießen. Den Reſt jedoch bildeten im Allgemeinen gut
erzogene Jünglinge, die gewiß zu tüchtigen Officieren herange-
bildet wären, wenn das Schickſal der deutſchen Flotte Dauer
verliehen hätte; ein großer Theil von ihnen hat ſich ſpäter einen
ehrenvollen Lebensweg gebahnt.


Dem Alter nach ſchwankten die Junker zwiſchen 15 und
18 Jahren, jedoch war auch ein Zwanzigjähriger von entſpre-
chender geiſtiger und körperlicher Entwickelung dabei, und es
konnte nicht fehlen, daß er ſich in jeder Beziehung die Herrſchaft
über ſeine Kameraden anmaßte. Sein Name war Fahrenholz;
er beſaß großes Zeichentalent, das er hauptſächlich zu Carri-
caturen verwerthete. In den meiſten Fällen war deren Gegen-
ſtand der Kapitän, deſſen Eigenheiten und ſtark mit Flämiſch
gemiſchtes Deutſch reichen Stoff zu ſolchen Zeichnungen liefer-
ten. Hatten ſich die Seejunker über letztere genügend amü-
ſirt, dann wurden ſie zu wirklichen „fliegenden Blättern“,
denn, von irgend einem geheimnißvollen Winde getrieben, flogen
ſie ſo lange im Schiffe umher, bis ſie in die Hände des erſten
Officiers oder in die des Commandanten ſelbſt fielen. Dieſer
war von Natur äußerſt gutmüthig, ſchien auch außerdem
ſeine eigene Jugend noch nicht vergeſſen zu haben, denn weit
entfernt zu zürnen, amüſirte er ſich vielmehr über die allerdings
[288]Werner
großes Talent verrathenden Carricaturen — wenigſtens wurde
nie nach dem Urheber geforſcht.


Des Kapitäns alter ego war ein von ihm aus Belgien
verſchriebener Profoß, der Ueberall und Nirgends an Bord
eines Kriegsſchiffes, bei uns Stabswachtmeiſter genannt. Er
übt die Polizei an Bord aus, hat auf die Befolgung von
tauſenderlei Vorſchriften und Beſtimmungen zu achten, die das
Getriebe des ſo complicirten inneren und äußeren Dienſtes regeln
und iſt deshalb eine gefürchtete, aber auch eine viel geplagte
Perſönlichkeit an Bord. Er hat die Ordnung und Reinlich-
keit in den Wohnräumen der Mannſchaft, ſowie Feuer und Licht
zu überwachen, und auch die Officiere müſſen ſich ſeiner Autori-
tät fügen, wenn er um zehn Uhr Abends in der Meſſe oder
in den Kammern erſcheint, um darauf aufmerkſam zu machen,
daß die Zeit zum Löſchen der Lichter gekommen. Bei der abend-
lichen Ronde, die der erſte Officier im ganzen Schiffe vornimmt,
iſt er eine Hauptperſon, und bei jedesmaligem Wachwechſel aller vier
Stunden hat er aufzuſtehen und danach zu ſehen, daß die Leute
ſchnell aus den Hängematten kommen. Er muß die Austhei-
lung des Eſſens und der Spirituoſen beaufſichtigen, die Arre-
ſtanten verſorgen, die Beurlaubten controlliren, die Ausbleiben-
den an Land aufſuchen und bei ihrer Rückkehr ſie und die
Boote dahin revidiren, daß nicht verbotene Getränke an Bord
geſchmuggelt werden. Bei dem täglichen Strafrapport meldet
er als öffentlicher Ankläger alle die Unglücklichen, die in den
letzten 24 Stunden ſich irgend ein Vergehen haben zu Schulden
kommen laſſen und wäre es auch nur, daß ſie einen Fettfleck
auf das reingeſcheuerte Deck gemacht haben oder eine Minute
länger in ihrer Hängematte geblieben ſind, nachdem die Pfiffe
der Bootsmannsmaate das Signal zum Wachwechſel gegeben
haben. Kurz die Stellung des Profoß iſt keine beneidenswerthe.


An Bord der „Deutſchland“ hatte er noch ſein beſonderes
Augenmerk auf die Seejunker zu richten; er war der unzer-
[289]Die Seejunker
trennliche Begleiter und Schatten des Commandanten, wo dieſer
irgendwo im Schiffe dienſtlich erſchien, und fehlte deshalb auch
nie auf den „fliegenden Blättern“, auf denen der Kapitän ſelbſt
verherrlicht wurde.


Letzterer muſterte jeden Morgen die Junker ſelbſt, ehe der
Unterricht begann und achtete ſehr genau darauf, daß ſich ihr
Aeußeres tadellos präſentirte. Eine aufgegangene Naht, ein
ungebürſtetes Kleidungsſtück oder ein „manquirender Knoop“
(fehlender Knopf) wurde unnachſichtlich mit 24 Stunden Arreſt
oder den Umſtänden nach mit mehr geahndet. Eine ſolche
Muſterung war auch der Gegenſtand einer ſehr gelungenen Zeich-
nung geworden. Die Seejunker ſtanden porträtähnlich und nach
ihrer Größe rangirt auf dem Hinterdeck aufgeſtellt. Der inſpi-
cirende Commandant, angethan mit einem franzöſiſchen Kapuzen-
mantel, den er bei rauhem Wetter regelmäßig trug, war bei
dem Kleinſten angelangt und ſchien ihm ſehr ernſte Vorhaltungen
gemacht zu haben. Der Profoß ſtand dabei und notirte in
ſeinem dickleibigen Taſchenbuche die verhängte Strafe. Als
Commentar dienten die Worte des Kapitäns: „Junker, manquirt
een Finger; conſignirt voor drie Dagen Arreſt und als es noch
eens gebührt, ſoll ich voor Ihren Abſcheid fragen.“ (Junker,
Ihnen fehlt ein Finger; dafür erhalten Sie drei Tage Arreſt
und wenn das noch einmal vorkommt, werde ich Sie zum Ab-
ſchiede eingeben.) Dem Angeredeten fehlte nämlich ein Finger-
glied an der linken Hand.


In den Mußeſtunden ließ man den jungen Leuten ziem-
lich viel Freiheit und in der Meſſe ging es deshalb bisweilen
laut und luſtig her. Der jugendliche Uebermuth wollte austoben
und machte ſich in mancherlei draſtiſchen Ausbrüchen Luft. Doch
werfen wir ſelbſt einen Blick in die Meſſe, um uns ein Bild
von dem Leben darin zu verſchaffen. Sie iſt wie die Officiers-
meſſe ein viereckiger ſchmuckloſer Raum, aber hell und luftig,
da ſie ihr Licht nicht nur von oben, ſondern auch von den
R. Werner, Erinnerungen. 19
[290]Werner
Seiten durch zwei Batteriepforten erhält. Die Wände ſind mit
Kalk geſtrichen, theils aus ſanitären Rückſichten, um die Luft
zu verbeſſern, deren Beſchaffenheit wegen des ſich im untern
Raume ſammelnden und oft übelriechenden Waſſers manches zu
wünſchen übrig läßt, theils aus öconomiſchen, da Kalk ſo viel
billiger als Farbe iſt und die abgeſtoßenen Stellen ſich Sonn-
abends nach der Generalwäſche des Schiffes leicht wieder repa-
riren laſſen.


Die Mitte nimmt ein ſchwerer Tiſch ein, um den ebenſo
maſſive Bänke laufen. Der Raum iſt zu gleicher Zeit Schul-,
Eß- und Schlafzimmer; oben an den Decksbalken ſind nume-
rirte Haken eingeſchroben, an denen Abends die Hängematten
aufgehängt werden. An den Wänden befinden ſich verſchiedene
Regale, auf denen in genialſter Unordnung die heterogenſten
Gegenſtände liegen, Bücher, Spiegel, Rappiere, Guitarren, Ci-
garrenkiſten und dergleichen. Unendlich oft hat der Profoß dar-
über ſchon Rapport erſtattet, unendlich oft ſind auf Geheiß des
erſten Officiers dieſe Regale aufgeräumt und ebenſo viele Male
hat das Chaos den Betheiligten Strafwachen, Urlaubsentziehung
oder auch Arreſt eingetragen, aber ohne nachhaltigen Erfolg.
Nach kurzer Zeit zeigen ſich die Regale wieder ebenſo und eine
gewiſſe Entſchuldigung dafür muß man allerdings gelten laſſen.


An Bord eines Kriegsſchiffes herrſcht bei der großen Be-
ſatzungsſtärke und all den Vorräthen, die es mit ſich ſchleppen
muß, um ſtets ſchlagfertig zu ſein, ein großer Raummangel,
und der Einzelne muß ſich deshalb mit dem nothdürftigſten
Platze zu ſeiner Exiſtenz begnügen. Von Kammern, wie ſie
die Officiere — und die jüngern auch nicht immer — haben,
kann aus dieſen Gründen für Kadetten nicht die Rede ſein.
Die Hängematten mit dünner Matratze, noch dünnerem Kopf-
kiſſen und wollener Decke bilden das Bett; für die Unterbrin-
gung ſeines ſonſtigen Eigenthums war dem Junker nur ein
hölzerner Koffer, die ſogenannte Seekiſte, von 3½ Fuß Länge
[291]Die Seejunker
und etwas weniger Tiefe und Höhe, bewilligt, in der ſogar ſein
blechernes Waſchgeräth verſtaut werden mußte. Dieſe Kiſte ſtand
unten in dem dunkeln Zwiſchendeck, und außerdem gebot Jeder
nur noch über ein Stückchen Regal von zwei Fuß Länge oben
in der Meſſe. Das war herzlich wenig und erklärte das Durch-
einander. Jetzt haben es die Kadetten etwas beſſer, ſie brauchen
ſich nicht mehr in oder auf der Kiſte zu waſchen, und Jedem
iſt außerdem ein Spind zugewieſen, in dem er wenigſtens ſeine
Kleider und Wäſche unterbringen kann, da die größer geworde-
nen Dimenſionen der neueren Schiffe dieſen Luxus geſtatten.
Von den zwanzig Junkern hatte, mit Ausnahme der Unterrichts-
ſtunden, der vierte Theil immer Wache auf dem Oberdeck, theils
um practiſchen Dienſt zu thun, theils um für die Uebrigen in
der immerhin für ſo viel Bewohner beſchränkten Meſſe Platz zu
gewinnen.


Es iſt gegen fünf Uhr Nachmittags und die heutigen Lehr-
ſtunden ſind vor kurzem beendet. Herr Freiſe, der Lehrer der
ſphäriſchen Trigonometrie, ein ſcharfer mathematiſcher Kopf,
aber für das übrige Leben ziemlich unbrauchbar und deshalb
von ſeinen Schülern als cosinus a-sinus … bezeichnet, hat
ſich ſehr viel Mühe gegeben, den Junkern das Verſtändniß
einiger ſchwieriger Formeln zu eröffnen. Die Anſtrengung iſt
deshalb ziemlich groß geweſen und eine Erholung nothwendig.
Der Kaffee iſt bereits getrunken und ein rieſiger Topfkuchen,
den der Steward Jean, — alle Stewards in der deutſchen
Marine trugen den Gattungsnamen Jean — ſeines Zeichens
ein Conditor, fabricirt, bis auf die Krümel verſchwunden. Nach
Erledigung der materiellen Seite will aber auch das Gemüth
bedacht ſein, es wird ein Lied intonirt und man hört ſchon von
weitem den Geſang. Der Text kommt uns zwar ſehr bekannt
vor, aber die Melodie klingt neu, ſcheint zu dem Inhalte nicht
recht zu paſſen und iſt wahrſcheinlich an Bord ſelbſt componirt.
Bei näherem Hinhören unterſcheiden wir denn auch deutlich die
19*
[292]Werner
Worte; es iſt die Schiller’ſche Ballade: „Ritter Toggenburg“,
und wir kommen noch gerade zur rechten Zeit, um den Schluß-
vers zu hören:


Und ſo ſaß er eine Leiche, eine Leiche

Eines Morgens da, Juchhe!

Eines Morgens da.

Nach dem Fenſter noch das bleiche, noch das bleiche,

Stille Antlitz ſah, Juchhe!

Stille Antlitz ſah.

Allgemeine Heiterkeit! Die Melodie ſcheint angeſprochen
zu haben und man ſchickt ſich an, das Lied zu wiederholen,
als ein mit Stentorſtimme gerufenes „Silentium!“ den Ge-
ſang unterbricht und lautloſe Stille hervorzaubert. Es iſt
der Senior Fahrenholz, der Schweigen gebietet, und Niemand
wagt ſeiner Autorität Widerſtand zu leiſten. Er hält ein
„Fliegendes Blatt“ hoch, das er ſoeben mit den letzten Blei-
federſtrichen vollendet hat, und alle Köpfe drängen ſich um den
Künſtler, um ſein neueſtes Werk zu bewundern.


„Famos, brillant, ausgezeichnet!“ ertönen die Lobſprüche
von allen Seiten. Die Ausrufe ſind gerechtfertigt; das Bild
verherrlicht in trefflichſter Ausführung eine Epiſode aus der
Seereiſe der ſtolzen Fregatte „Deutſchland“. Auf Helgoland
giebt es eine Kuh, die als einzige Vertreterin ihres Geſchlechtes
auf der Inſel, „die Kuh“ genannt wird. Nach dieſer Ana-
logie ſprechen die Seejunker auch nur von der Seereiſe, denn
es iſt die einzige, welche das Kadettſchiff als Fregatte und
unter ſchwarzrothgoldener Flagge gemacht hat. Die Reiſe er-
ſtreckte ſich zwar nur von der Elbe bis zur Weſer, war aber
reich an intereſſanten nautiſchen Erlebniſſen, bildete in dem bis-
herigen Stillleben ein Ereigniß, haftete deshalb mit den kleinſten
Einzelnheiten im Gedächtniſſe der Seejunker und gab immer
wieder neuen Stoff zu Unterhaltungen und techniſchen Disputen.
Seitdem trugen die jungen Leute ja ihren Namen erſt mit einer
[293]Die Seejunker
gewiſſen Berechtigung, denn ſie hatten wirklich die See geſehen,
wenn auch nur ein paar Stunden lang. Eine kurze Zeit war
ſogar die Küſte aus Sicht geweſen und einige von ihnen wären
beinah ſeekrank geworden, wenn man nicht leider ſo ſchönes
Wetter getroffen hätte. Und was für intereſſante Erinnerungen
knüpften ſich an die Tour, wie viel Neues hatte ſich den er-
ſtaunten Blicken geboten! Da war ein rothgemaltes Feuerſchiff
paſſirt, Delphine hatten um das Schiff geſpielt und draußen
in den Mündungen der Elbe und Weſer lebendige Seehunde
mit verwunderten Augen das große Schiff angeſtaunt, das ſo
verdächtig nahe an den Sänden vorbeiſtreifte, wo ſie ihre
Mittagsruhe halten wollten. Und was für Fährlichkeiten hatte
man trotz des ſchönen Wetters ausgeſtanden! Während man die
Reiſe bei günſtigem Winde und ruhiger See ſonſt bequem in
einem halben Tage macht, hatte ſie unter denſelben Umſtänden
drei Mal vierundzwanzig Stunden gedauert, das Schiff auf
der Strecke nicht weniger als drei Mal geſeſſen und drei ſchwere
Kabeltaue waren bei den Verſuchen, es wieder flott zu machen,
gebrochen. An Bord hatte ſich eine lebhafte Controverſe dar-
über entſponnen, wer eigentlich an dem Feſtkommen die Schuld
trage. Einige ſchoben es dem Commandanten in die Schuhe, der
ſelbſt alle Manöver commandirt habe, andere wieder dem Lootſen,
aber der Kapitän ſelbſt hatte die Sache ſehr ruhig genommen.
Die „Deutſchland“ war von gutem ſoliden Teakholz gebaut,
ihr hatte das verſchiedentliche „Aufbrummen“ nicht weiter ge-
ſchadet, als höchſtens etwas Kupfer vom Boden abgeſcheuert, und
ſo hatte der Commandant den Vorfall lediglich vom pädagogi-
ſchen Standpunkte aus betrachtet und ſchmunzelnd gemeint, die
Seejunker hätten viel Profit von der Reiſe gehabt und gelernt,
wie man ein an Grund gerathenes Schiff wieder abbrächte.
Darin hatte er zwar nun Recht, indeſſen wollte es ſelbſt den
Seejunkern nicht einleuchten, daß man Kriegsſchiffe zu dieſem
Zwecke ſo oft auf den Grund ſetze.


[294]Werner

Fahrenholz hatte nun dieſer Anſicht bildlichen Ausdruck
gegeben, wenn auch in etwas ausgeſchmückter Weiſe. Seine
Zeichnung ſtellte die „Deutſchland“ dar, wie ſie bemüht war,
unter einem Winkel von 45 Grad die Inſel Helgoland zu er-
klettern. Die Beſatzung des geſtrandeten Schiffes ſchien ſich
ſchon ſalvirt zu haben, denn man ſah nur noch zwei Menſchen
an Bord, den Kapitän und ſeinen Schatten, den Profoß. Letz-
terer war beſchäftigt, die Fregatte mit einem Bootshaken von
den Klippen, zwiſchen denen ſie feſtgeklemmt ſaß, abzuſchieben
und ſtand vorn auf der Back, der Commandant aber befand
ſich auf dem Hinterdeck, hatte die Kapuze ſeines Mantels über
den Kopf gezogen, hielt die Arme gen Himmel ausgebreitet und
dem Munde entfloß ſein Lieblingsausruf: „Jeſus Maria!“
Sämmtliche Seejunker waren am Lande aufmarſchirt und machten
der kletternden Fregatte höchſt deſpectirlich eine lange Naſe.


„Nehmen Sie ſich in Acht, Fahrenholz,“ ſagt Roſenſtock
zu dieſem, der ſich als Reſpectsperſon „Sie“ nennen läßt,
während er dagegen alle Kameraden duzt. „Wenn der Alte
das ſieht, könnte ihm doch die Galle überlaufen und Sie kommen
unter acht Tagen Kabelgat* nicht fort.“


„Ah bah!“ äußert der Zeichner nachläſſig, „hat nichts
auf ſich, obgleich ich mir ganz gern einmal wieder vom alten
Fölſch eins ſeiner langen Salzwaſſergarne vorſpinnen ließe. Ich
weiß, daß meine „Fliegenden Blätter“ dem Commandanten
Spaß machen und ſein Burſche hat mir geſagt, daß er ein be-
ſonderes Album für ſie angelegt hat.“


„Fahrenholz, wollen Sie nicht auch nächſtens Meyers be-
rühmte Nachtwache verewigen?“ fragt Koppen.


[295]Die Seejunker

Der kleine Meyer wird bei dieſen Worten feuerroth und
ſieht aus, als wolle er Koppen in das Geſicht ſpringen, wäh-
rend die Uebrigen laut lachen.


„Na, kleiner Ehrenritter, ſei nur gut,“ höhnt Koppen;
„ich werde es auch Deiner zukünftigen Braut nicht erzählen,
aber in des Commandanten Album mußt Du nothwendig hinein.“


Meyer ſieht ſich vergebens nach Hülfe um, findet aber
überall nur lachende Geſichter; er erwählt deshalb dem klüge-
ren Theil und entzieht ſich weiteren Neckereien durch die Flucht
auf das Deck.


„Wie war eigentlich die Geſchichte?“ fragt Fahrenholz.
„Wenn ich ſie zeichnen ſoll, muß ich auch die genaueren Um-
ſtände kennen. Roſenſtock, Du warſt ja dabei, ſtatte einmal
Rapport ab.“


„Nun,“ beginnt der Angeredete, „Ihr wißt doch, daß
Meyer in der letzten Zeit, als wir vor der Reiſe bei Glückſtadt
lagen, ſo fromm geworden war und jeden Sonntag Urlaub
nahm, um in die Kirche zu gehen, wie er ſagte. Der Alte
freute ſich über den guten Jungen, der ſo gern Predigten hörte,
aber ich kannte meine Pappenheimer und machte ſeine Frömmig-
keit ausfindig. Als ich eines Sonntags mit Briefen an Land
geſchickt wurde, nahm ich die Gelegenheit wahr und guckte im
„Blauen Anker“ beim alten Iverſen vor. Ich ging gleich durch
das Gaſtzimmer in die Nebenſtube, und richtig! es war wie
ich gedacht: da ſaß unſer Kleiner bei Schön Hannchen und
raspelte nach Kräften Süßholz. Er wurde ſchrecklich verlegen,
dann aber bat er mich dringend, ihn nicht zu verrathen und
lud mich zur Belohnung zu einer Bootfahrt nach Krautſand
ein, die er für den Nachmittag mit Hannchen verabredet und
zu der auch wirklich der alte Iverſen unter der Bedingung
ſeine Zuſtimmung gegeben hatte, daß man vor Abend wieder
zurück ſein ſollte.


Ich nahm die Einladung natürlich an; wir erbaten vom
[296]Werner
erſten Officier die Jolle für den Nachmittag zum Spazieren-
ſegeln, holten Hannchen gegen zwei Uhr ab, ließen die Boots-
gäſte an Land zurück, um nicht genirt zu ſein, und dachten
gegen ſechs Uhr nach Glückſtadt zurück zu kommen. Alles ging
auch ſehr ſchön; das Mädchen war allerliebſt, wir amüſirten
uns herrlich, tranken in Krautſand bei Hannchens Tante Kaffee
und fuhren gegen fünf Uhr vergnügt wieder ab.


Da mußte aber ein unglücklicher Nebel kommen, der ſo
dicht war, daß wir keine Bootslänge vor uns ſehen konnten.
Der Wind flaute ſo ab, daß an Segeln nicht weiter zu denken
war und ſo mußten wir zu den Riemen greifen. Wir ruderten,
was das Zeug halten wollte, da wir aber keinen Compaß mit
uns hatten, war die Sache ſchlimm, und nach etwa einer Stunde
ſaßen wir denn auch glücklich mit dem Boote feſt und zwar ſo
gründlich, daß wir daſſelbe nicht wieder abſchieben konnten. Wir
ſtiegen aus, um die Jolle zu erleichtern und ſie ſo vom Grunde
wieder abzubringen, ſanken aber gleich bis an die Bruſt in den
Schlick und mußten ſchleunigſt wieder in das Boot entern, um
nicht ganz in dem Moraſt zu verſchwinden. Hannchen weinte,
und wir beide ſaßen naß und ſchwarz bis faſt an den Hals
auf der Sitzbank und verſuchten, ſie zu tröſten, wobei uns aber
die Zähne bei der Ausſicht klapperten, die ganze lange Nacht
in dieſem Aufzuge verbringen zu müſſen. Gegen ſieben Uhr
waren wir feſtgekommen; ſeit einer Stunde lief die Ebbe, und
es bot ſich deshalb keine Hoffnung, ſelbſt wenn der Nebel auf-
klaren ſollte, vor dem nächſten Hochwaſſer am andern Morgen
wieder flott zu werden.


Das war eine ſchöne Beſcheerung; aber wir konnten nichts
dagegen thun, mußten uns ruhig in unſer Schickſal fügen
und die Kleider am Leibe trocknen laſſen. Ich that alles mög-
liche, um Hannchen zu beruhigen und ergriff dabei einmal ihre
Hand, aber da hättet Ihr den kleinen Meyer ſehen ſollen! Er
warf mir einen Blick zu, als ob er mich morden wollte,
[297]Die Seejunker
und ſo überließ ich ihm denn allein die Tröſtung; aber erſt
gegen Mitternacht hatte Hannchen ſich ſatt geweint und ließ ſich
bereden, etwas zu ſchlafen. Wir machten ihr hinten in der
Jolle, ſo gut es gehen wollte, ein Lager aus den Bootskiſſen
und deckten ſie mit dem Großſegel zu. Die Fock nahm ich,
um mich vorn im Boot zu lagern, und ich wollte auch Meyer
bereden, ſich niederzulegen, aber er weigerte ſich hartnäckig und
erklärte, unter jeder Bedingung wach bleiben zu wollen.


Nun ich ließ ihm ſeinen Willen, wickelte mich in die Fock
und ſchlief auch bald ein. Die ſcharfkantigen Inhölzer des
Bootes waren jedoch gerade nicht behaglich und ich wachte ſchon
gegen zwei Uhr wieder ſo kreuzlahm auf, als ob ich auf Latten
gelegen hätte. Trotz meiner Schmerzen mußte ich aber laut auf-
lachen, denn wahrhaftig, Meyer ſaß wie der Engel Gabriel vor
dem Paradieſe mit gezücktem Schwerte auf der Ruderbank mitt-
ſchiffs und hielt über Hannchen Wache.


Ich wollte ihn ablöſen, aber er lehnte entſchieden ab. „Ich
habe die Erlaubniß von Hannchens Vater zu der Fahrt einge-
holt und meine Pflicht iſt es, das Mädchen ſo wieder abzu-
liefern, wie ich ſie empfangen,“ ſprach er mit feierlichem Ernſt,
„und von dieſer Pflicht wird mich Niemand abwendig machen.“


Nun ich ließ ihn auf ſeinem Poſten, wählte mir die
weichſte Planke aus und verſuchte noch etwas zu ſchlafen. End-
lich wurde es Tag, der Nebel war gefallen und wir ſahen,
wo wir waren. Die Ebbe hatte uns ganz gehörig verſetzt,
und ſtatt an das Nordufer, waren wir an das ſüdliche, ganz
nahe bei Freiburg, gerathen. Gegen ſechs Uhr Morgens kamen
wir dann mit Hochwaſſer los und mit dem weſtlichen Winde
um acht Uhr in Glückſtadt an.“


„Und wie war der Empfang?“ fragte ein Junker.


„Nun Ihr könnt Euch denken, was der alte Iverſen für
ein Geſicht machte und welche Mühe es koſtete, ihm unſere Un-
ſchuld an dem Ausbleiben nachzuweiſen. Er wollte ſofort zur
[298]Werner
Polizei und uns als Entführer ſeiner Tochter arretiren laſſen.
Erſt als ſein Blick auf unſere mit zolldickem getrocknetem Schlick
bedeckten Beinkleider fiel, glaubte er uns, und als ich ihm dann
erzählte, daß Meyer die ganze Nacht mit gezogenem Säbel
über ſeiner Tochter gewacht und Meyer ſelbſt mit Pathos ſprach:
„Herr Iverſen, Ihre Tochter war Ehrenmännern anvertraut,
rein wie ein Engel iſt ſie zurückgekommen,“ obwol wir ſelbſt ſo
teufelmäßig ſchmutzig ausſahen, da wurde der Alte ganz gerührt
und ließ ſofort den Frühſtückstiſch zutakeln, um uns mit einem
guten Beefſteak und Glühwein zu ſtärken und zu wärmen. Als
wir an Bord zurückkehrten, gab es ja, wie Ihr wißt, vierund-
zwanzig Stunden „Kabelgat“, weil wir die Bootsgäſte an Land
gelaſſen und dieſe ſich in der Nacht umhergetrieben hatten; aber
mir war es ſchon recht, ich konnte gründlich ausſchlafen, da der
alte Fölſch mir heimlich eine Matratze beſorgte, und ich glaube,
Meyer war trotz ſeiner zarten Gefühle für Hannchen auch zu-
frieden, nicht noch eine Nacht Engel Gabriel auf der Boots-
ducht ſpielen zu müſſen.“


„Gut geſprochen, Roſenſtock!“ ſagt Fahrenholz unter dem
Gelächter der Uebrigen, „die Sache iſt werth, durch meinen
Griffel verewigt zu werden und es ſoll demnächſt geſchehen.
Bis dahin nehme ich aber Meyer unter meinen ſpeciellen Schutz.
Roſenſtock hat ihm verſprochen, über die Sache zu ſchweigen
und nur auf meinen Befehl darüber Rapport abgeſtattet. Bis auf
Weiteres habt Ihr deshalb nichts davon zu wiſſen und ich bitte
mir aus, daß Ihr meinen Befehl reſpectirt. Wer Meyer mit
der Geſchichte neckt, hat es mit mir zu thun — verſtanden?“


Die Junker erinnern ſich, wie Fahrenholz Ungehorſam
gegen ſeine Befehle ſtraft und nicken zuſtimmend. Wer nicht
gehorcht, der wird nicht nur am Tage gezwiebelt, ſondern auch
Nachts. Mitten im ſüßeſten Traume fühlt ſich der Betreffende
grauſam in die Wirklichkeit zurückgeführt, indem plötzlich das
Tau am untern Ende der Hängematte vom Haken losläßt und
[299]Die Seejunker
den ſchlummernden Inſaſſen mit einem höchſt unangenehmen
Ruck aus der horizontalen Lage in die vertikale verſetzt.


Die Unterhaltung nimmt eine andere Richtung. In Bre-
merhafen giebt ein Taſchenſpieler Vorſtellungen, welche kürzlich
von einem Theil der Seejunker beſucht worden, und es werden nun
ſeine Leiſtungen kritiſirt. Auf Böhrs haben ſie einen ungemein
imponirenden Eindruck hervorgebracht, während Andere weniger
davon erbaut ſind und Fahrenholz, der ſelbſt in dieſem Fache
dilettirt, ſie ſehr abfällig beurtheilt. Böhrs iſt ein ganz guter
Junge, denkt nur ein wenig langſam und muß deshalb oft als
Stichblatt für die Witze der Uebrigen dienen. Sein Enthuſias-
mus für den Taſchenſpieler giebt Fahrenholz eine Idee ein, die
Geſellſchaft auf ſeine Koſten zu amüſiren.


„Du biſt entzückt von dem Menſchen,“ wendet er ſich an
Böhrs; „ich will Dir zeigen, daß er ein Pfuſcher iſt. Ich
werde alle ſeine Kartenkunſtſtücke Euch vormachen und gebe eine
Bowle zum Beſten, wenn ich ihn nicht in Schatten ſtelle.“


Fahrenholz führt wirklich die Sachen elegant aus, erntet
reichen Beifall und Böhrs blickt mit wahrhafter Ehrfurcht zu
dem Künſtler empor. Dieſer hat inzwiſchen dem Steward Jean
leiſe einen Befehl gegeben.


„Jetzt ſollt Ihr aber etwas ſehen,“ ſagte er nun, „was
Ihr noch bei keinem Taſchenſpieler gefunden habt. In wenigen
Minuten werde ich ein Ei in eine Champagnerflaſche zaubern.“


Allgemeines Erſtaunen und kopfſchüttelnder Unglauben.


„Ihr zweifelt, nun ich werde Euch den Beweis liefern.
Jean, eine leere Champagnerflaſche und ein Ei!“


Der Spiritus familiaris erſcheint mit den verlangten
Gegenſtänden.


„So, nun ſcheert Euch auf fünf Minuten hinaus, wenn
es fertig iſt, werde ich Euch rufen,“ commandirt Fahrenholz.


Als dem Befehle Folge geleiſtet iſt, ſchält Fahrenholz das
vorher nicht ganz hart gekochte Ei, gießt etwas Spiritus in die
[300]Werner
Flaſche und zündet dieſen mittels eines in Terpentin getauchten
und an einem Draht befeſtigten Läppchens an. Dadurch wird
eine Luftleere in der Flaſche erzeugt, Fahrenholz ſetzt das ge-
ſchälte und mit etwas Oel geglättete Ei mit dem ſpitzen Ende
auf die Oeffnung und der äußere Luftdruck ſchiebt es glatt durch
den Flaſchenhals in das Innere, wo es vermöge ſeiner Elaſtici-
tät wieder ſeine vorherige Form annimmt. Die Schalen werden
ſorgfältig beſeitigt und dann die Geſellſchaft hereingerufen.
Triumphirend hält Fahrenholz ihnen die Flaſche entgegen. Wahr-
haftig, das Ei befindet ſich unverletzt darin. Daß es keine
Schale hat, beachtet Niemand.


Am lauteſten äußert Böhrs ſeine Bewunderung: „Nein,
wie iſt es nur möglich, Fahrenholz, daß Sie ſo etwas fertig
bringen, das iſt ja ganz unglaublich!“


„Bah! Kleinigkeit!“ erwidert dieſer. „Mit derſelben Leich-
tigkeit bringe ich alle möglichen Gegenſtände in die Flaſche;
Dich auch, es dauert nur ein paar Minuten länger!“


Böhrs ſteht mit offenem Munde. „Mich?“ fragt er end-
lich. „Sie ſcherzen wol nur.“


„Fällt mir gar nicht ein, ich ſpreche in vollem Ernſt.
Willſt Du um eine Flaſche Champagner wetten?“


Die Sicherheit, mit der Fahrenholz ſeine Behauptung auf-
ſtellt, verblüfft Böhrs zwar, aber er bleibt doch im Zweifel, ob
er die Wette annehmen ſoll. Die Uebrigen merken, daß irgend
ein ſchlechter Witz im Gange iſt. Zwar wiſſen ſie noch nicht
recht, wo Fahrenholz hinaus will, aber ſie halten es für ihre
Pflicht, ihn zu unterſtützen.


„Wette doch, Böhrs!“ rufen ſie dieſem von allen Seiten
zu, „Du mußt ja gewinnen! Er kann Dich unmöglich in die
Flaſche bringen, dazu biſt Du viel zu dick.“


Böhrs zögert noch ein Weilchen, dann aber leuchtet ihm
der letzte Grund ein und er nimmt die Wette an.


„Nun dann zieh’ Dich aus, mit dem Zeuge geht es nicht,“
[301]Die Seejunker
ſagt Fahrenholz, „der den größten Ernſt bewahrt und einen
ſtrafenden Blick über die Andern ſchweifen läßt, um ihre Lach-
muskeln im Zaume zu halten. Böhrs entkleidet ſich allmälig.
„Die Unterkleider kannſt Du anbehalten, ſie ſind ſo dünn, daß
das nichts ausmacht, nur die Strümpfe müſſen herunter. Jean!
Hole einmal aus dem Kabelgat einen Fetttopf!“


Jean ſtürzt hinaus und kommt nach wenigen Augenblicken
mit einem Topf voll Stengenſchmiere zurück.


„Gut, Du kannſt hinausgehen, Jean; wenn ich Dich brauche,
werde ich Dich rufen!“


Der Steward verſchwindet und wendet dabei ſchleunigſt
den Kopf ab, um nicht ſein Lachen ſehen zu laſſen.


„So, Böhrs,“ wendet ſich Fahrenholz an dieſen, „nun
ſchmiere Dir die Füße bis an die Knie ein, damit Du gut
gleiteſt, dann kann es losgehen.“


Der Angeredete thut wie ihm geheißen, aber lächelt un-
gläubig. Er iſt immer noch feſt überzeugt, daß er die Flaſche
Champagner gewinnt. Die Uebrigen beißen ſich faſt die Lippen
blutig, um nur einigermaßen ernſt zu bleiben.


„Biſt Du fertig?“ „Ja.“ Fahrenholz ſetzt die Flaſche
neben ihn auf das Deck und ſagt dann trocken: „Nun, dann
klettere hinein.“


Jetzt kann ſich aber die andere Geſellſchaft nicht mehr
halten und bricht in ein unauslöſchliches Gelächter aus. Böhrs
ſchaut unruhig umher. Es dämmert in ihm auf, daß er das
Opfer eines ihm geſpielten Streiches geworden. Bei ſeinem
langſamen Denken weiß er noch nicht recht, wie er ſich dabei
benehmen ſoll, als vor der Meſſethür verſchiedene Stimmen
laut werden.


„Pſt!“ commandirt Fahrenholz, und alles ſchweigt lauſchend.
Man unterſcheidet auch Damenſtimmen und eine derſelben fragt:
„Hier alſo wohnen die Seejunker; iſt es erlaubt hineinzugehen?“


„Gewiß,“ hört man den kleinen Meyer ſagen, „es wird
[302]Werner
uns eine beſondere Ehre ſein, Sie in unſerer Meſſe bewill-
kommen zu dürfen.“


„Himmel!“ ruft Roſenſtock, „da kommt Damenbeſuch,
Meyer führt umher; was ſollen wir anfangen?“


Der unglückliche Böhrs entkleidet und mit den eingeſalbten
Füßen, glaubt in die Erde ſinken zu müſſen und ſieht ſich
hülflos nach den Kameraden um. In dieſem Augenblicke wird
an die Thür geklopft.


„Unter den Tiſch, unter den Tiſch!“ commandirt Fahren-
holz. Es iſt der einzige Platz, wo Böhrs ſich verbergen kann,
und er gehorcht inſtinktmäßig; ſeine Kleider werden ihm nachge-
worfen und das noch vom Frühſtück her liegende Tiſchtuch als
ſchützender Vorhang etwas mehr heruntergezogen. Auf das in-
zwiſchen gerufene „Herein“ öffnet ſich die Thür und der kleine
Meyer nöthigt mit vielen Verbeugungen die von ihm geführte
Geſellſchaft in die Meſſe. Es ſind Bremerhafener Bekannte
und mehrere allerliebſte junge Tamen dabei, mit denen die
Seejunker auf dem letzten Balle getanzt haben. Meyer ladet
ſie daher unbefangen ein, etwas Platz zu nehmen, und weiß
die Rippenſtöße nicht zu deuten, die er deshalb von einigen
Kameraden erhält.


„Iſt Herr Böhrs nicht an Bord?“ fragt eine der jungen
Damen. „Er war bei dem letzten Balle mein Cotillontänzer
und ich habe mich ſo gut mit ihm unterhalten.“


„Er wird ſehr bedauern, ſich Ihnen nicht vorſtellen zu
können, mein gnädiges Fräulein,“ nimmt Fahrenholz das Wort,
„er iſt aber im Augenblick etwas unpäßlich.“


„Wie ſchade! Was fehlt ihm denn?“


„Oh, gerade nichts Bedenkliches. Er hatte nur etwas
Rheumatismus in den Füßen; da iſt ihm, kurz bevor Sie
kamen, eine Einreibung verordnet und er hat ſich auf kurze
Zeit hinlegen müſſen.“


Wol eine halbe Stunde lang bleibt die Geſellſchaft —
[303]Die Seejunker
man kann ſich die Tortur des armen Böhrs unter dem Tiſche
denken. Bei der lebhaften Unterhaltung über ſich, hat er es
riskirt, ſich wenigſtens die Beinkleider anzuziehen und es iſt
ihm gelungen. Kaum hat ſich die Meſſethür hinter der Geſell-
ſchaft geſchloſſen, ſo kriecht er, roth vor Zorn, aus ſeinem Ver-
ſteck hervor; aber was kann er thun? er wird nur mit einem
abermaligen Hohngelächter empfangen und iſt der Gefoppte.


Was hilft es ihm, daß er ſchwört, ſich nicht wieder an-
führen zu laſſen; bei der nächſten Gelegenheit zahlt er doch
wieder die Koſten. Von tiefem Groll erfüllt geht er in das
Zwiſchendeck an ſeine Kiſte, um ſich die Stengenſchmiere von
den Füßen zu waſchen.


Inzwiſchen wird zur abendlichen Geſchützmuſterung ange-
ſchlagen. Die Junker folgen eilends dem Trommelſignal und
begeben ſich auf ihre Poſten. Der arme Böhrs kommt jedoch
zu ſpät und eine ihm zudictirte Strafwache macht das Maaß
ſeines Schmerzes voll.


[[304]]
[figure]

Mit der Panzerfregatte „Friedrich Karl“
nach Weſtindien und dem Mittelmeer.


1872 bis 1873.


Im Jahre 1872 beabſichtigte die kaiſerliche Regierung ein
ſogenanntes „Fliegendes Geſchwader“ um die Erde zu
ſchicken. Es ſollte den überſeeiſchen Nationen die Flagge
des neu erſtandenen Deutſchen Reiches vorführen, den in fremden
Welttheilen angeſiedelten Deutſchen verkünden, daß jetzt das
Vaterland die Macht und den Willen habe, ſeinen über die
Erde zerſtreuten Kindern Schutz und Schirm gegen Willkühr
und Unbill zu gewähren und dadurch in ihnen das ſtolze Be-
wußtſein wecken und feſtigen, Angehörige eines einigen und
großen Volkes zu ſein. Die Reiſe war auf achtzehn Monate
berechnet. Da bei einer ſo knapp bemeſſenen Zeit der Aufent-
halt an den einzelnen Punkten der in Ausſicht genommenen
Route nur ein ſehr kurzer ſein konnte und die Schiffe ſich be-
eilen mußten, um überhaupt die Tour in achtzehn Monaten zu
vollenden, ſo hatte die Bezeichnung „Fliegendes Geſchwader“
eine gewiſſe Berechtigung.


Es beſtand aus drei Schiffen: der Panzerfregatte „Fried-
rich Karl“, der gedeckten Corvette „Eliſabeth“ und aus einem
[305]Nach Weſtindien und dem Mittelmeer
größeren Kanonenboote, dem „Albatroß“. Erſterer führte ſechs-
zehn 21 Centimeter-Geſchütze mit 500 Mann, die „Eliſabeth“
war mit vierzehn 15 Centimeter-Geſchützen bei 390 Mann Be-
ſatzung armirt und der „Albatroß“ mit vier Kanonen, von
12 reſp. 15 Centimeter Kaliber, bei einer Mannſchaft von 95
Köpfen.


In Weſtindien, dem erſten Reiſeziel, ſollten ſich dieſe
Schiffe mit den dort bereits ſeit längerer Zeit ſtationirenden
gedeckten Corvetten „Vineta“ und „Gazelle“ zum Zwecke ge-
meinſchaftlicher Geſchwaderübungen vereinigen und dann über
Braſilien und die La Plata Staaten um das Cap Horn gehen,
während die beiden Corvetten die Heimreiſe antraten. Der Be-
fehl über das Geſchwader wurde mir übertragen.


Der „Friedrich Karl“ war das erſte deutſche Panzerſchiff,
welches eine transatlantiſche Reiſe machte, und für ſeine Wahl
der Umſtand maßgebend geweſen, daß es auch ohne Maſchinen-
kraft unter Segel ziemlich gut manövrirte. Für ein nur auf
Dampf angewieſenes ſo großes Schiff wäre eine Reiſe um die
Erde eine zu koſtſpielige Sache geweſen, abgeſehen davon, daß
es, wenn ſeiner Maſchine etwas paſſirte, hülflos dalag.


Solche unter Segel manövrirende Panzerſchiffe gab es
damals und giebt es auch jetzt nur ſehr wenige. So groß-
artige Fortſchritte die Schiffsbautechnik auch in neuerer Zeit ge-
macht, ſo ſchwierige Probleme ſie in den letzten Jahrzehnten,
und zwar gerade bei Panzerſchiffen, gelöſt hat, iſt es ihr bis
jetzt doch nicht gelungen, dieſen Coloſſen auch nur annähernd
die Segelfähigkeit der früheren hölzernen Fregatten und Linien-
ſchiffe zu geben.


Wenn ein Panzer unter Segel manövrirt, ſo iſt das
weniger das Verdienſt des Baumeiſters, als ein glücklicher Zu-
fall. Woran es liegt, daß die Wiſſenſchaft in dieſem Punkte
die gewiegteſten Conſtructeure in Stich läßt, iſt noch nicht auf-
geklärt; wahrſcheinlich iſt die gegen früher veränderte Form
R. Werner, Erinnerungen. 20
[306]Werner
der Schiffe unter Waſſer die Urſache, und bei der Wichtigkeit,
welche Manövrir- und Drehfähigkeit für die Panzer namentlich
im Kampfe haben, iſt es merkwürdig genug, daß die Techniker
dieſem Punkte bisher ſo wenig Aufmerkſamkeit gewidmet haben.
Ein Panzerſchiff, das in vier Minuten einen Kreis beſchreibt,
wird auch einem ſtärkeren Gegner, der dazu der doppelten Zeit
bedarf, bedeutend überlegen ſein, da es ſeinen Sporn und ſeine
Artillerie ganz anders ausnutzen kann wie jener. Man kann
hier wirklich ſagen: „Wozu in die Ferne ſchweifen, ſieh das
Gute liegt ſo nah;“ etwas weniger Theorie und mehr Praxis
würde ganz angebracht ſein.


Auch der Laie wird es leicht verſtehen können, daß, wenn
es möglich wäre, dem Schiffskörper unter Waſſer die Form
eines mit der Spitze nach unten gerichteten Kegels zu geben,
dies das Ideal der Manövrirfähigkeit ſein müßte. Das iſt
nun zwar nicht angängig, aber je mehr man ſich dieſem Ideal
nähert, deſto beſſer wird das Schiff manövriren und deſto
weniger Zeit und Raum wird es zu einer Drehung gebrauchen,
während im entgegengeſetzten Falle das Umgekehrte eintritt. Bei
den alten Holzſchiffen fand eine Näherung ſtatt, das Verhältniß
ihrer Länge zur Breite war kleiner, ihr Vorſteven, die vordere
Fläche des Rumpfes, ſchrägte ſich nach unten und hinten ab
und letzterer erhielt dadurch die Form eines Trapezes, deſſen
Langſeite in der Waſſerlinie lag. Bei den jetzigen Panzerſchiffen
findet jedoch das Gegentheil ſtatt. Wegen des Sporns und
um größere Tragkraft für die ſchweren Gewichte des Panzers
zu gewinnen, ſpringt der Vorſteven vor, anſtatt zurückzuweichen;
es entſteht auch eine Trapezform, aber ſeine Langſeite liegt jetzt
nicht in der Waſſerlinie, ſondern im Kiel oder wenigſtens in
deſſen Nähe. Die Folge iſt, daß bei Drehungen mehr Waſſer
zu verdrängen iſt und erſtere dadurch erſchwert werden.


Nun läßt ſich zwar die Form des Rumpfes unter Waſſer
aus verſchiedenen Gründen nicht gut ändern, aber es liegt doch
[307]Nach Weſtindien und dem Mittelmeer
nahe, den Widerſtand des Waſſers dadurch bedeutend zu ver-
ringern, daß man letzterem einen Durchlaß durch das Schiff
verſchafft, indem man deſſen Schärfen hinten und vielleicht auch
vorn mit Löchern verſieht. Bei Eiſenſchiffen, wie es jetzt alle
Panzer ſind, macht dies vom baulichen Standpunkte keinerlei
Schwierigkeiten. Der Dampffährenbeſitzer Grell in Steinwärder,
ein reiner Practiker, iſt ſchon vor Jahren auf dieſen Gedanken
gekommen und hat mit dem von ihm erfundenen Gitterkiel die
günſtigſten Reſultate erzielt, allein unbegreiflicher Weiſe hat man
in den Marinen keine Notiz von dieſer Erfindung genommen
und einen Verſuch nicht der Mühe werth gehalten. Conſtruc-
tionsänderungen nach anderen Richtungen haben bisher aber
keine günſtigen Reſultate gegeben, und ſo bleibt es vor wie nach
dem Zufall überlaſſen, ob ein Panzerſchiff beſſer oder ſchlechter
manövrirt.


Außer dem „Friedrich Karl“ beſitzt unſere Marine nur
noch ein Panzerſchiff, die ziemlich kurze Corvette „Hanſa“,
welche einigermaßen unter Segel manövrirt, doch ſind allerdings
die übrigen ſeefahrenden Nationen nicht beſſer daran. Aus
dieſem Grunde nimmt man in neueſter Zeit derartigen Schiffen
vielfach die Bemaſtung ganz. Sie beanſprucht eine Menge
Menſchen zu ihrer Bedienung, koſtet viel Geld, belaſtet das
Schiff und iſt, ohne irgendwie zu nützen, durch ihren Windfang
nur der Schnelligkeit und Manövrirfähigkeit hinderlich. Unſere
neuen Ausfallcorvetten „Bayern“ und „Sachſen“ haben gar
keine Takelage.


Die „Eliſabeth“ iſt unſere ſchönſte und ſchnellſte Holzcor-
vette. Sie machte damals ihre erſte größere Reiſe, bewährte
ſich nach allen Richtungen vorzüglich und gereichte überall, wo
ſie erſchien, dem deutſchen Schiffbau zur Ehre.


Der kleine „Albatroß“ war der Erſtling einer neuen Claſſe
von Kriegsfahrzeugen von verhältnißmäßig ſchwerer Bewaffnung,
aber geringerem Tiefgange (noch nicht drei Meter). Er, wie
20*
[308]Werner
ſein Schweſterſchiff „Nautilus“, hatten die urſprüngliche Be-
ſtimmung, in den chineſiſchen Gewäſſern gegen Piraten Verwen-
dung zu finden und dieſe in ihre Schlupfwinkel auf ſeichten
Flüſſen zu verfolgen. Das kleine Schiff ſollte ſeine erſte
Hochſeeprobe beſtehen.


Die Ausrüſtung des Geſchwaders war bis Mitte October
beendet und es lief alsdann von Wilhelmshafen aus. Unſere
auf längere Expeditionen ausgehenden Schiffe trifft meiſtens
das Geſchick, im Spätherbſt die heimiſchen Geſtade zu verlaſſen
und ihre Reiſe mit dem dann in unſeren nordiſchen Gewäſſern
durchſchnittlich herrſchenden ſchlechten Wetter zu beginnen.
Für die Wahl dieſes Zeitpunktes, der auf der Flotte ſcherzweiſe
„Marinefrühling“ getauft iſt, werden verſchiedene Gründe an-
geführt, die zwar Manchem nicht einleuchten wollen, aber jeden-
falls die Folge haben, die erſte Zeit der Reiſe in verſchiede-
nen Richtungen höchſt unbehaglich zu machen und nicht ſelten
durch größere oder geringere Havarien Schaden und Aufenthalt
zu verurſachen. Wenn jedoch eine ſo ſchöne und intereſſante
Reiſe winkt, wie damals unſerem Geſchwader, dann nimmt man
dergleichen Unannehmlichkeiten gern mit in den Kauf. Die
Schiffe wurden nicht davon verſchont; ja gleich am erſten Tage
ſpielte Aeolus ſo heftig auf, daß ſie nicht einmal aus der Jade
kamen und in deren Mündung ankern mußten.


Dieſe Gegend iſt nun gerade nicht danach angethan, den
Abſchied von der Heimath zu erſchweren. Eine öde Fläche
ſchmutzig gelben Waſſers zeigt ſich, ſoweit das Auge reicht, nur
hier und dort unterbrochen durch die gerade Linie eines kahlen,
baumloſen Deiches. Einige kreiſchende Möven, ein Seehund
oder eine Taucherente, die einen Augenblick neugierig die unge-
wohnte Erſcheinung von Schiffen betrachten, um danach wieder
in dem trüben Elemente zu verſchwinden — das war die
lebende Staffage, und über dem Ganzen wölbte ſich ein ebenſo
trüber Herbſthimmel.


[309]Nach Weſtindien und dem Mittelmeer

Den Sachſen, Angeln, Bructern, Kaninefaten und wie ſonſt
unſere Altvordern hießen, deren Stämme an den Mündungen
unſerer Nordſeeſtröme ſaßen, war es wahrhaftig nicht zu ver-
denken, wenn ſie weſtwärts zogen, um ſich ein neues und nicht
ſo ſtiefmütterlich von der Natur behandeltes Heim zu ſuchen,
und auch wir waren herzlich froh, am nächſten Tage dem un-
wirthlichen Strande den Rücken zu kehren, als in der Nacht
der Sturm ſich gelegt hatte. Der Weſtwind erlaubte kein
Segeln, doch der Motor Dampf trieb das Geſchwader pfeil-
ſchnell durch die grünen Fluthen der Nordſee und nur alle paar
Stunden wurde ſein Lauf auf kurze Zeit gehemmt, um das Loth
zu werfen und nach Tiefe und Beſchaffenheit des Grundes den
geographiſchen Ort zu beſtimmen, da der graue Wolkenſchleier
die Geſtirne verdeckte.


Die Zahl der begegnenden Schiffe wurde größer, je mehr
wir uns dem Canale näherten und in der Nacht galt es ſchärfer
Ausguck halten, um ihnen auszuweichen. „Feuer voraus!“
„Grünes Licht, zwei Strich in Lee!“ „Rothes Licht, quer ab
an Backbord!“ Dergleichen Rufe ertönen in dieſer Gegend,
der Heerſtraße Tauſender von Schiffen, als Warnungen der
ausgeſtellten Poſten oft kurz nach einander und der Officier der
Wache muß die Regeln des Straßenrechts auf See genau im
Kopfe haben und dabei ſeine volle Ruhe und Geiſtesgegenwart
bewahren, um den drohenden Colliſionen aus dem Wege zu
gehen.


Bisweilen geräth man mitten in eine Fiſcherflotte und ſieht
plötzlich Hunderte von Blaulichten um ſich herum in der dunklen
Nacht aufleuchten. Die Fiſcher brauchen nicht wie alle anderen
Schiffe ſtändige farbige Laternen zu führen, ſondern ſind nur
gehalten, ihre Nähe durch eine Terpentinflamme, eine ſogenannte
Bluſe, kund zu geben. Aus Nachläſſigkeit zögern ſie oft ſo
lange damit, bis es faſt zu ſpät iſt und nur mit genauer Noth
einem Unglück vorgebeugt wird.


[310]Werner

Dunkelheit iſt der Schrecken des Seemanns in ſolchen
engen Fahrwaſſern. Man lebt in einer beſtändigen nervöſen
Aufregung; jeder Augenblick droht Unheil und ſelbſt bei der
größten Aufmerkſamkeit kann man ihm bisweilen nicht ent-
gehen.


Einige Jahre zuvor ſchleppte ich mit dem „Kronprinz“
den „Friedrich Karl“ nach Portsmouth. Letzterer hatte im Belt
auf einer Untiefe ſeine Schraube abgeſchlagen und mußte zu
ihrem Erſatze nach einem engliſchen Hafen, da wir damals noch
keine eigenen Anſtalten dazu beſaßen. In der Nähe der
Doggersbank in der Nordſee fiel Abends dichter Nebel ein, der
kaum hundert Schritt weit ſehen ließ. Plötzlich tauchte quer
vor uns ab eine Brigg unter vollen Segeln aus dem Dunkel
auf. Sie lief gegen unſer Bugſirtau und zerriß daſſelbe, trieb
dann aber gegen den „Friedrich Karl“, deſſen Krahnbalken ihr
beide Maſten abraſirte.


Die erſchreckende Zahl der Zuſammenſtöße giebt Zeugniß
von den großen Gefahren, welche die Schiffahrt nach dieſer
Richtung bedrohen, und man dankt ſeinem Schöpfer, wenn man
die engen Straßen hinter ſich hat und auf dem freien Ocean
ſchwimmt. Am andern Morgen näherten wir uns dem Ein-
gange des Canals. Für tiefgehende Schiffe, wie der „Friedrich
Karl“, iſt hier das Fahrwaſſer ſehr ſchmal, kaum drei See-
meilen breit; es wird durch ein Feuerſchiff auf dem „Gallo-
per Sand“ gekennzeichnet. Es war jedoch wieder ſo unſichtige
Witterung geworden, daß ein Anſegeln der ſchmalen Rinne ge-
fährlich geweſen wäre, und ſo gebot die Vorſicht, noch einmal in
das freie Waſſer der Nordſee zurückzukehren und dort günſtigere
Umſtände abzuwarten, inzwiſchen uns aber mit dem uns heim-
ſuchenden Sturme abzufinden.


Erſt 48 Stunden ſpäter beruhigte ſich der grimme Wind-
gott und gab uns einen Freipaß für die Weiterfahrt, ſo daß wir,
ſtatt der für Dampfſchiffe üblichen drei Tage, mehr als die
[311]Nach Weſtindien und dem Mittelmeer
doppelte Zeit bis Plymouth, unſerem erſten Stationsorte, be-
hufs Kohlenergänzung, gebrauchten.


Kohlenergänzung! Schreckliches Wort im nautiſchen Lexi-
con! Wie viele Commandanten und erſten Officiere hat es
ſchon zur Verzweiflung gebracht und obenein, wenn es un-
unterbrochen dabei regnet, wie wir es trafen. Von den Hun-
derten in dem engen Raum zuſammengedrängten Menſchen wird
der Schmutz überall hingetragen, jedes Fleckchen im ganzen
Schiffe mit einer ſchwarzen Kruſte überzogen und Jeder an
Bord ſieht aus wie ein Neger. Die moderne Seefahrt hat
durch den Dampf viel unerquickliche Zugaben erhalten, aber die
Kohlenergänzung iſt die unerquicklichſte. Wir waren herzlich
froh, damit zu Ende zu ſein, dem während der ganzen Zeit
in einen Regenſchleier gehüllten Plymouth den Rücken zu kehren
und unſere Schritte gen Süden nach Madeira zu richten.


Was nach gründlicher Wäſche im Hafen von Kohlenſchmutz
auf dem Schiffe noch ſitzen geblieben war, das ſpülte ſchon am
nächſten Tage der Weiterreiſe die See fort, denn die berüchtigte
Bai von Biscaya, für welche die Maury’ſchen Wind- und
Wetterkarten jeden dritten Tag einen Sturm vorzeichnen, ließ
uns nicht ungeſchoren.


Ein von jenſeits des Oceans herüberkommender Cyclon,
deſſen Centrum über uns fort ging, ſtellte die nautiſchen Eigen-
ſchaften der drei Schiffe auf eine ſehr ſcharfe Probe, ſchüttelte
ſie nach Herzensluſt und ſprengte ſie auseinander. Der „Fried-
rich Karl“ entwickelte dabei die „berechtigten Eigenthümlichkeiten“
faſt aller Panzerſchiffe in ſchwerer See und rollte eine Zeit lang
ſo heftig, daß man bisweilen verſucht war, ſich die Frage vor-
zulegen: „Wird er ſich wieder aufrichten?“ wenn er beim
Ueberholen faſt die Spitzen der Unterraaen in das Waſſer
tauchte. Indeſſen gewöhnte man ſich allmälig an das forcirte
Wiegen und gewann im Uebrigen die Ueberzeugung, ein gutes
feſtes Schiff unter den Füßen zu haben.


[312]Werner

„Eliſabeth“ und „Albatroß“ beſtanden die Schlechtwetter-
Probe ebenfalls auf das Beſte. Mit erſterer fanden wir uns
acht Tage ſpäter mitten auf dem großen Ocean wieder zu-
ſammen, letzterer, der nach dem Sturme nicht, wie wir, allein
geſegelt, ſondern auch gedampft hatte, war einen Tag vor uns
in Madeira eingetroffen.


Was für ein herrliches Stück Erde hat doch der liebe Gott
in Madeira geſchaffen! Wie eine koſtbare Perle ſchwimmt die
Inſel auf den Fluthen des Meeres, deſſen tiefes Blau mit dem
Azur des Himmels wetteifert, der ſich ſonnig und heiter über ihm
wölbt. Auf der Grenze der gemäßigten und heißen Zone gelegen,
iſt Madeira mit dem ſchönſten gleichmäßigen Klima geſegnet.
Weder Eis und Schnee, noch ſengende Gluth der Tropenſonne
ſind ſeinen Bewohnern bekannt, und neben der Weinrebe gedeiht
in üppiger Fülle die Palme, die Banane, der Mais und das
Zuckerrohr. Ein koſtbarer Blumenflor ziert Gärten und Feld,
ein ewiger Frühling lacht und ein zufriedenes arbeitſames
Volk genießt den Segen, den der Schöpfer mit vollen
Händen geſpendet. Aus allen Ländern kommen Kranke, um in
der milden Luft für die wunde Bruſt Heilung zu ſuchen und
gar viele, die am Rande des Grabes ſtanden, ſind dem Leben
und ihrer Familie wiedergegeben worden.


Drei Tage weilten wir an dem paradieſiſchen Orte und
genoſſen in vollen Zügen ſeine Schönheiten, die ein Ritt nach
dem Rio-Frio vor unſeren Blicken in vollſter Pracht entrollte.
Es iſt das ein Sturzbach, der vom höchſten Gipfel der Inſel,
dem Pico-Ruivo, herabkommend, bald in rauſchenden ſchäumen-
den Caskaden über wilde zerriſſene Felſen ſtürzt, bald im ebenen
Thalbett leiſe murmelnd und friedlich dahinfließt.


Ueber 4000 Fuß hoch hat man zu ſteigen, zuerſt durch
dichte Waldungen von Edeltannen und Lorbeerbäumen, dann
geht es durch baumartige Ericeen, bis auch ſie verſchwinden und
nur Heidelbeerſträucher an ihre Stelle treten. Der Weg ſchmiegt
[313]Nach Weſtindien und dem Mittelmeer
ſich im Zickzack an die Bergwände, und unwillkührlich drängt
man die Pferde ganz nahe an die letzteren, wenn ſich zur Linken
jähe Abgründe öffnen, die oft eine Tiefe von einigen Tauſend
Fuß haben.


Oben auf der Höhe wurde eine kurze Raſt gemacht, um
unſere Thiere verſchnaufen zu laſſen und uns ſelbſt an einem
Trunke Quellwaſſer zu erlaben, das in der Nähe aus einem
Felſen rieſelte. Ein großer Theil der Inſel wurde von uns
überſchaut, doch dem Panorama fehlte die Lieblichkeit; wir ſtanden
zu hoch, um in den Thälern etwas zu unterſcheiden. Auch das
umgebende Meer verſchwamm mit den Wolken zu einer farb-
loſen unendlichen Fläche, und ſo wanderte der Blick nur über
ſchroff abfallende Schluchten, zerklüftete Felſen und wilde Natur,
ohne ſich daran zu erquicken.


Der Thalritt entſchädigte uns reichlich. Faſt mit jedem
Schritte abwärts änderte ſich die Scenerie und wurde ſchöner,
der Wald dichter und üppiger. Die bis dahin kahlen Fels-
wände bekleideten ſich mit ſaftigem Grün, aus dem dunkel-
rothe Fuchſien hervorleuchteten; Schlingpflanzen hingen in zier-
lichen Feſtons von Baum und Stein herab. Schnell näherten
wir uns jetzt unſerem Ziel, dem idylliſchen Thal, durch welches
der Rio-Frio ſich auf ſeiner Bahn zum Meere ſchlängelt. Bald
hörten wir ſein Rauſchen und ſahen ihn aus weiter Ferne vom
Pico-Ruivo herabkommen. Wie ein neckender Nix ſpielt und
tanzt er hier in ſilbernen Wellen, verſchwindet dort hinter einem
Vorſprunge, bald als Waſſerfall, bald als Fontäne aus enger
Felsſpalte in blitzendem Sprühregen wieder hervorquellend, um
abermals ſich zu verbergen und endlich durch ſaftiges Wieſengrün
ruhig dahinzuſtrömen. Zart gefiedertes Farrenkraut bekränzt ſein
Bett, Waſſerlilien und duftige Feldblumen nicken träumeriſch
ihm zu. Goldiger Sonnenſchein ſpiegelt ſich in ihm wieder, ein
kühler Hauch fächelt uns und ſtiller Friede lagert über der
Stätte, die mit Recht der ſchönſte Punkt der ganzen Inſel ge-
[314]Werner
nannt werden kann und die gerade im Contraſt der ſie um-
gebenden wilden und großartigen Natur um ſo ſchöner und lieb-
licher erſcheint.


Stunden lang ſchwelgten wir nach Herzensluſt in dem
reizenden Idyll und erfriſchten Herz und Geiſt daran. Dann
mahnte die Zeit zum Aufbruch und es ging heimwärts, ein
Blümchen am Hut zur Erinnerung. Oben auf den Höhen
lagerten jetzt Wolken und umfingen uns mit dichtem Nebel, der
unheimlich auf uns laſtete. Dann ſtiegen wir über ſie hinaus,
die Sonne ſchien ſtrahlend aus dem tiefblauen Aether hernieder
auf die zackige Felsſpitze des mächtigen Pico-Ruivo und die
Gipfel der übrigen Berge. Aber ihre Körper, die Thäler und
Schluchten, die Wälder und das Meer, ſie waren in dem weiß-
lich grauen Wolkenſchleier verborgen, der unter uns die Inſel
bedeckte, und es war uns, als ob wir in unermeßlicher Höhe
über der Erde ſchwebten und jeden Augenblick hinabſtürzen
könnten in bodenloſe Abgründe.


Doch mit feſtem, ſicherem Schritt trugen uns unſere Pferde
thalwärts durch das Dunkel und wieder hinein in das ſonnige
helle Leben, mit ſeinen Bäumen und Blumen. Aus den Thä-
lern klangen die Glocken weidender Heerden zu uns herauf, das
Meer leuchtete im himmliſchen Blau und die Brandung zog ein
Silberband um die felſigen Ufer der Inſel. Aus dem dunkeln
Grün tauchten nach einander Häuſer auf; dann kamen wir an
das 2000 Fuß hoch gelegene Kloſter Signora dal Monte, deſſen
weiße Mauern den anſegelnden Schiffen auf viele Meilen als
ſichere Landmarke erſcheinen.


Hier verließen wir unſere Pferde, um in flachen breiten
Schlitten die letzte Strecke bis zur Stadt hinunter zu ſauſen.
Hui! Wie flogen wir dahin, „daß Roß und Reiter ſchnoben
und Kies und Funken ſtoben.“ Zuletzt mußten unſere Arrieros
gewaltſam hemmen, indem ſie hinten auf die Kufen ſprangen,
denn dieſe begannen zu brennen, ſo heftig war die Reibung auf
[315]Nach Weſtindien und dem Mittelmeer
den kleinen runden Kieſeln, mit denen der Weg gepflaſtert war.
Anfänglich ſtanden uns bei der wilden Jagd die Haare zu
Berge, aber bald gefiel uns die originelle Fahrt ſo, daß es nicht
ſchnell genug gehen konnte. In fünfzehn Minuten waren wir
unten und hatten in der Zeit vier deutſche Meilen zurückgelegt.


Für die deutſchen Seeofficiere hat Madeira faſt etwas
heimiſches; keines unſerer Schiffe, das auf längere Expeditionen
ausgeht, läßt es unbeſucht und manche der Herren ſind ſchon
ſechs bis acht Mal dort geweſen. Sie begrüßen deshalb die
liebliche Inſel wie eine alte Bekannte, und es iſt nicht nur ihre
prachtvolle Natur mit allen tropiſchen Schönheiten, ohne deren
unangenehme Zugaben, die ſie ſtets von neuem anzieht und
feſſelt, ſondern es hat ſich auch im Laufe der Zeit zwiſchen
ihnen und den Bewohnern ein freundſchaftliches Band geknüpft,
das nicht wenig dazu beiträgt, den Aufenthalt zu verſchönern
und mit beſonderen Reizen zu ſchmücken. Die herzliche und
liebenswürdige Gaſtfreundſchaft der anſäſſigen Deutſchen ſteht
dabei in erſter Reihe, doch auch die Madeirenſer ſelbſt erweiſen
ſich außergewöhnlich entgegenkommend. Der meiſtens nur kurz
bemeſſene Aufenthalt ſchwindet deshalb ſtets zu ſchnell und gar
oft werden an Bord und an Land Gründe und Vorwände ge-
ſucht und erfunden, um das Bleiben zu verlängern. Leider
werden dieſelben von den maßgebenden Perſönlichkeiten ſelten
als ſtichhaltig anerkannt und meines Wiſſens iſt es vor längeren
Jahren nur einmal gelungen, einen Commandanten dazu zu
bewegen.


Der Cadett Vogel, der liſtige, brachte das Kunſtſtück zu
Wege und zwar mit Hülfe von Fräulein Roſa. Welcher
Marineofficier kennt nicht Roſa, die privilegirte Wäſcherin
ſämmtlicher Kriegsſchiffe, welche Madeira berühren — Roſa, die
dreimal verheirathet war, eine Schaar Enkel beſitzt und trotzdem
ſtets „Fräulein“ betitelt wird, wie vor vierzig Jahren, als die
aufblühende Jungfrau ihre Carriere begann und für die Cadetten
[316]Werner
wuſch, die jetzt als ehrwürdige Admirale umherwandern! Ihre
einſtigen Reize ſind freilich inzwiſchen verloren gegangen, aber
ihre Vorliebe für die Cadetten, ihre erſten Kunden und Ver-
ehrer, hat ſie bewahrt, und Vogel ſtand bei ihr beſonders gut
angeſchrieben.


Die Abfahrt des Schiffes war auf den Nachmittag feſtge-
ſetzt, aber am Abend ſollte in Funchal ein großer Ball ſein.
Das harte Herz des Kapitäns war nicht zu erweichen, der
„blaue Peter“, das Zeichen der bevorſtehenden Abfahrt, wehte
bereits im Vortop, die Ankerwinde war bemannt und das Schiff
ſeefertig — nur eins fehlte noch: die Wäſche. Unbegreiflich!
Fräulein Roſa war ſonſt die Pünktlichkeit ſelbſt; drei Uhr war
ihr vom erſten Officier als der letzte Termin bezeichnet und
jetzt war es ſchon vier. Doch da kam ſie endlich am Strande
mit den Körben angeſchleppt und ließ ſie in ein Boot verladen,
das auf das Land geholt war. Madeira hat keinen Hafen,
ſondern nur offenen Strand und bei der ſteten Brandung macht
das Landen und Abkommen Schwierigkeiten, wenn es die heimi-
ſchen Bootführer auch meiſterhaft verſtehen, ſie zu überwinden
und ihre eigens dazu gebauten Fahrzeuge trocken zu halten.


Mit dem üblichen Geſchrei wurde das Boot abgeſchoben —
aber o weh! Plötzlich ſchlug es quer in die Brandung hinein und
füllte ſich bis an den Rand. Nur mit Mühe konnten es ſeine
Inſaſſen wieder auf den Strand ziehen und die ſchwimmenden
Körbe retten. Arme Roſa, arme Wäſche! Die des Kapitäns
war auch dabei. Er machte ein finſteres Geſicht, aber ohne
Wäſche konnte man doch nicht ſegeln. Roſa kam an Bord und
klagte verzweifelt ihre Noth über das unverſchuldete Unglück;
aber andern Morgens Schlag neun Uhr ſollte beſtimmt alles
wieder in Ordnung ſein. Der Kapitän fügte ſich in das Unver-
meidliche und das Schiff blieb. Roſa wechſelte mit Vogel beim
Fortgehen einen verſtändnißvollen Blick und dieſer war im Be-
wußtſein des gelungenen Streiches der flotteſte Tänzer auf dem
[317]Nach Weſtindien und dem Mittelmeer
Balle, zu dem natürlich alle Officiere und Cadetten geladen
waren. Später kam die Geſchichte heraus; der Unverbeſſerliche
war die Seele der Verſchwörung geweſen, welcher der Kapitän
zum Opfer fiel. Unter Connivenz von Fräulein Roſa und mit
Hülfe von fünf Dollars waren die Bootführer von ihm be-
ſtochen, das Boot abſichtlich voll Waſſer ſchlagen zu laſſen, das
nur leere Körbe enthielt, während die fertige Wäſche noch in
der Plättſtube ruhte. Um nachträglich noch eine Beſtrafung
eintreten zu laſſen, war zu lange Zeit verſtrichen und ſo kam
Vogel mit einem blauen Auge davon, aber ſeitdem ſind die
Kapitäne der deutſchen Marine unbarmherzig, wenn es ſich um
verſpätete Wäſche oder ähnliche Artikel handelt und die vorher
beſtimmte Abfahrtszeit wird pünktlich eingehalten.


Die drei Tage waren um. Aus den Schornſteinen der
Schiffe quollen ſchwarze Rauchwolken, auf dem Verdeck marſchir-
ten nach dem Tacte heiterer Muſik die Matroſen um das Gang-
ſpill. Der Anker hob ſich aus dem Grunde und der Bug des
Schiffes wandte ſich ſeewärts.


„Ruder Steuerbord! Langſam vorwärts!“ ertönte das
Commando.


Das Steuerrad drehte ſich unter den Händen der Ruder-
gänger und die mächtige Schraube ſetzte ſich in Bewegung. Adieu
Madeira!


Die Blicke wandern bedauernd über das zauberiſch ſchöne
Eiland mit ſeinen Bergen und Thälern, ſeinen Villen und
Gärten, über denen gigantiſch und himmelanſtrebend der Pico-
Ruivo thront. Die Schiffe ziehen ihre Bahn durch die wogen-
den Fluthen, günſtiger Nordoſtwind ſchwellt ihre Segel und mit
fliegender Fahrt geht es nach dem Süden. Die prachtvollen
Farbentöne der Inſel verſchwimmen, Noſſa Signora dal Monte’s
weißes Gemäuer ſchimmert nur noch matt aus dem Dunkel der
Umgebung hervor. Auf den Ruivo ſenkt ſich eine graue Wolke
hernieder und verhüllt ſein Haupt. Immer tiefer taucht die
[318]Werner
Inſel unter den Horizont — dann iſt ſie verſchwunden. Adieu
Madeira!


Unſere Reiſe ging nach der Cap Verdiſchen Inſel St.
Vincent, und nach acht Tagen trafen wir wohlbehalten dort ein.
Von der Fahrt ſelbſt waren wir jedoch wenig erbaut. Der
ſchöne Paſſatwind, mit dem wir von Madeira abſegelten, hatte
keinen Beſtand, ſtatt ſeiner wurden wir von Windſtillen und
tropiſchen Regen heimgeſucht.


Wir gingen zwiſchen den canariſchen Inſeln durch, ſahen
bei der trüben Luft aber kaum ihre Umriſſe und das ſchneebe-
deckte Haupt des Piks von Teneriffa zeigte ſich nur auf wenige
Minuten.


Die Witterung war in dieſer Gegend jedenfalls eine ganz
außergewöhnliche und das heftige Auf- und Niederſchwanken des
Barometers deutete auf eine irgendwo ſtattfindende bedeutende
atmoſphäriſche Störung. Wie wir ſpäter erfuhren, wüthete
zur ſelben Zeit in der Oſtſee ein ſchwerer Nordoſtſturm, verur-
ſachte dort eine heftige Ueberſchwemmung, und wahrſcheinlich
empfanden wir den Reflex dieſer Lufterſchütterung, die, über den
Ocean kommend, nicht fern von uns ihren verheerenden Weg
nach Norden genommen hatte.


Wir liefen St. Vincent lediglich zum Zweck der Kohlen-
ergänzung an, denn ſonſtiger Anziehungspunkte iſt es völlig bar.
Vulkaniſchen Urſprungs und faſt regenlos (es regnet im Jahre
nur ein höchſtens zwei Mal), nimmt der Verwitterungsproceß
ſeiner Felſen einen ſehr langſamen Verlauf. Ihre Conturen
ſind deshalb faſt noch eben ſo ſcharf und zerriſſen, wie ſie einſt
durch unterirdiſche Kräfte aus dem Schooße der Erde empor-
gehoben wurden. Aus demſelben Grunde fehlt es an Humus
und an jedweder Vegetation. Die Tropenſonne brennt glühend
hernieder auf das bräunlichrothe Geſtein und vergebens lechzt
man nach Schatten. Natürliches Trinkwaſſer, d. h. Quellen,
[319]Nach Weſtindien und dem Mittelmeer
giebt es auf der Inſel nicht. Mit ungemeiner Mühe ſucht man
in einigen großen Ciſternen den kargen Regen zu ſammeln, aber
er reicht bei Weitem nicht für die 2000 Einwohner der Inſel
aus. Man hat deshalb mehrere große Normandy’ſche Deſtillir-
apparate aufgeſtellt, welche auch aus Seewaſſer ſo viel Trink-
waſſer deſtilliren, daß davon — allerdings zu ziemlich hohen
Preiſen — ſelbſt an paſſirende Schiffe abgegeben werden kann.
Bekanntlich erhielt Normandy für ſeine ſegensreiche Erfindung
vom engliſchen Parlament eine Belohnung von 20,000 ₤.


Die Cap Verden ſind überhaupt eine traurige Gruppe von
Inſeln, und dieſer Eindruck tritt um ſo mehr hervor, wenn man
direct von Madeira kommt, aber die traurigſte von allen iſt
St. Vincent. Trotzdem iſt ſie die bevölkertſte, weil ſie den
Vorzug eines ſehr geräumigen und vollſtändig geſchützten Hafens
hat. Aus dieſem Grunde und wegen ihrer bequemen Lage für
alle ſüdwärts gehenden Dampfer, hat man auf ihr eine Kohlen-
ſtation errichtet. Der Verkehr iſt ein ſehr reger, denn man
kann rechnen, daß durchſchnittlich täglich ein größeres Dampf-
ſchiff mit Kohlen aufgefüllt wird und zwar geſchieht das un-
gemein ſchnell, was man in Portugal oder portugieſiſchen Be-
ſitzungen ſonſt nicht gewohnt iſt. Um unſern Bedarf von etwa
12,000 Centnern zu nehmen, brauchte das Geſchwader wenig
mehr als acht Stunden. Die Kohlenarbeiter ſind Neger und
Miſchlinge, die etwa zwei Drittel der Bevölkerung ausmachen,
in erbärmlichen Hütten wohnen und einen Taglohn von 50
Pfennigen nach unſerem Gelde erhalten. Da die Inſel ſelbſt
nichts producirt und ſämmtliche Lebensbedürfniſſe von auswärts,
größtentheils von dem ziemlich fruchtbaren St. Antonio ange-
bracht werden müſſen, ſo würde jener geringe Verdienſt völlig
unzureichend zum Unterhalte ſein, wenn der Hafen nicht ſo un-
gemein fiſchreich wäre. Für wenige Pfennige kauft man vier
bis fünf Kilo der ſchönſten Fiſche und die Neger leben des-
halb größtentheils davon. Wir ſelbſt mußten uns auch damit
[320]Werner
begnügen, denn an friſchem Fleiſche war nur ein Eſel zu haben,
für den wir dankten.


Wir blieben nur vierundzwanzig Stunden, d. h. gerade ſo
lange, wie wir nöthig hatten, um unſere Kohlen aufzufüllen
und dann die Schiffe wieder zu reinigen. Es wurde auch Ur-
laub gegeben, aber faſt Niemand benutzte ihn. Wir hatten
an dem äußeren Anblicke völlig genug gehabt und der Mann-
ſchaft ſchien es ebenſo zu gehen. Der Wirth des „Hôtel de
France“ war ſelbſt an Bord gekommen, um zu dem Fandango
einzuladen, der Abends bei ihm von Negerinnen getanzt werden
ſollte, allein auch dieſe Lockung verſagte und der Wirth machte
bei uns jedenfalls ſchlechte Geſchäfte. Ohne Bedauern ſchieden
wir von dem öden Platze und waren froh, als wir ſtatt der
ſtarren, kahlen Felſen wieder den tiefblauen, wogenden Ocean vor
Augen hatten, den unſere Kiele mit günſtigem Winde rauſchend
durchſchnitten. Es ging nach Barbados, wo wir uns mit
„Gazelle“ und „Vineta“ vereinigen ſollten. Die Reiſe dauerte
vierzehn Tage und verlief ohne weitere bemerkenswerthe Um-
ſtände. Nur ſchien die Natur immer noch nicht ihr Gleichge-
wicht wieder gefunden zu haben, denn der Paſſat wollte ſich
nicht einſtellen und Tage lang regnete es bei vielfacher Windſtille
ſo anhaltend und ſtundenweiſe ſo furchtbar, daß man ſich bei
uns kaum einen Begriff davon machen kann. Kein Gummirock
gewährte Schutz dagegen; nach einer halben Stunde war er
ebenſo wie der bewährte Südweſter vollſtändig durchweicht und
wir hätten ebenſo gut im Bademantel umhermarſchiren können.


Am dritten Tage endlich erſchien der erſehnte Paſſatwind
mit ſeinen den Seeleuten ſo willkommenen Attributen, die um
ſo höher geſchätzt werden, wenn die Schiffe, wie die unſeren, aus
nordiſchen Klimaten und zur Winterzeit kommen. Wie ange-
nehm empfindet man das beſtändige Gleichgewicht in der Atmo-
ſphäre, die ſchöne Witterung, die ruhige See und die wol-
thuende nicht übermäßige Wärme. Man hat das Gefühl einer
[321]Nach Weſtindien und dem Mittelmeer
behaglichen Sicherheit und überläßt ſich ihm ganz in dem Be-
wußtſein, alle die Plackereien, Unbequemlichkeiten und Schrecken
des Seelebens hinter ſich gelaſſen zu haben und nun eine ge-
raume Zeit lang deſſen Lichtſeiten genießen zu können. Die
von dunkeln Nächten, Nebeln, Stürmen und was damit zu-
ſammenhängt aufgeregten Nerven fangen an, ſich zu beruhigen
und das übt einen Rückſchlag auf alle Verhältniſſe an Bord
aus, denn das Schiffsleben wird mehr durch Stimmungen be-
einflußt, als das am Lande, wo ſich die Uebelgelaunten aus
dem Wege gehen können. Seeleute wiſſen freilich von vornher-
ein, daß ihr Beruf ein harter iſt und wenig Freuden bietet,
aber wenn ſie Wochen lang und ununterbrochen nur die Kehr-
ſeiten deſſelben vor Augen haben, dann kann es nicht ausbleiben,
daß auch die Gleichmüthigſten aus ihrer Ruhe gebracht und
in einen gereizten Gemüthszuſtand verſetzt werden, — ſie
ſind eben Menſchen. Die heftigen Bewegungen des Schiffes
machen jedes Gehen ſchwierig, ja gefährlich, beim Sitzen muß
man ſich irgendwo mit den Beinen feſtklammern und wenn man
nicht beſondere Vorſichtsmaßregeln trifft, kann man leicht
aus der Coje geſchleudert werden. Die Mahlzeiten, ſonſt die
Lichtpunkte des Bordlebens, weil bei ihnen allein der beſtändige
Dienſtzwang abgeſtreift wird, geſtalten ſich zu den ungemüth-
lichſten Sitzungen. Man iſt beſtrebt, ſie ſo bald wie möglich
aufzuheben, weil man in ſteter Beſorgniß ſchwebt, daß ſich der
Inhalt der Schüſſeln und Teller auf die Kleider ergießt, und
trotz aller Vorſicht und krampfhaften Feſthaltens geht bei
einem unerwarteten und ſchweren Ueberholen des Schiffes die
ganze Geſchichte über Stag, wonach dann Perſonen und
Speiſen ſich plötzlich in unliebſamer Miſchung an der Bordwand
in Lee wiederfinden. Die See ſpült beſtändig über Deck, bald
hinten, bald vorn und weicht Jeden gründlich ein, wenn es
nicht ſchon der unaufhörliche Regen gethan haben ſollte. Trocke-
nes Zeug zum Wechſeln giebt es ſchon ſeit langem nicht mehr
R. Werner, Erinnerungen. 21
[322]Werner
und auch das Bettzeug iſt naß von den am Eiſenbeſchlag der
Verdecke ſich verdichtenden Dünſten. Bei den geſchloſſenen Luken
herrſcht im Schiffe und in den Wohnräumen eine dumpfe übel-
riechende Luft, und endlich bleibt keine Nachtruhe ungeſtört, weil
bald dieſer bald jener unliebſame Anlaß ſie unterbricht.


Wenn ſolche Zuſtände vorübergehen, ſo läßt man ſie ſich
gefallen und macht gute Miene zum böſen Spiel, dauern ſie
aber Wochen, dann hilft auch der zäheſte Humor nicht mehr
darüber fort und eine höchſt gereizte Stimmung iſt die natür-
liche Folge, die nicht dazu beiträgt, das gezwungene Zuſammen-
leben angenehm zu machen.


Alle dieſe Mißtöne ſchwinden jedoch vor dem Hauche des
Paſſats und er wird auch dieſerhalb von den Betheiligten will-
kommen geheißen.


Für uns hatten die 14 Tage der Reiſe noch die beſondere
Annehmlichkeit, daß wir mit dem günſtigen Winde ſegeln konnten
und die Maſchine nicht gebrauchten. Wie wurde dieſer ſeltene
Umſtand vom Commandanten bis zum letzten Matroſen con
amore
genoſſen; wie wurde geputzt und das Schiff in allen
ſeinen Theilen mit wahrer Luſt auf den Höhepunkt der Rein-
lichkeit gebracht, weil man die Gewißheit hatte, nicht wieder alles
am nächſten Tage durch Kohlenſtaub beſchmutzt zu ſehen! Ich
glaube, der „Friedrich Karl“ hat niemals ſo hübſch und ſauber
ausgeſchaut wie in dieſer Zeit, und dem Aufenthalt in Bar-
bados wurde ſchon darum mit ungetrübter Freude entgegen
geſehen, weil keine Kohlen ergänzt zu werden brauchten. Ende
November trafen wir dort ein und fanden die beiden Cor-
vetten vor, ſodaß unſer Geſchwader jetzt eine anſehnliche Macht
bildete und aus fünf Schiffen mit achtzig Kanonen und 1800
Mann Beſatzung beſtand.


Barbados, die Bärtige, wie es von den entdeckenden
Portugieſen nach den mit Luftwurzeln verſehenen Banianenbäumen
genannt wurde, die ſie in großer Menge vorfanden, iſt die
[323]Nach Weſtindien und dem Mittelmeer
reichſte und ſchönſte der Inſeln über dem Winde und Sitz des
Generalgouverneurs der engliſchen Antillen. Bei 450 Quadrat-
kilometer Flächeninhalt zählt ſie 162,000 Einwohner, wovon
jedoch nur der zehnte Theil aus Weißen beſteht, die Uebrigen
ſind Neger und Miſchlinge.


Daß Barbados ſeit über 200 Jahren in engliſchem Beſitz
iſt, merkt man auf Schritt und Tritt. Die Inſel iſt ungemein
hoch cultivirt und deswegen auch ſo dicht bevölkert. Sie iſt
nicht vulkaniſchen Urſprungs, ſondern hat ſich langſam ge-
hoben. Ihre Höhenzüge ſind verhältnißmäßig abgeflacht und
faſt durchgängig culturfähig; die höchſte Spitze iſt nur 350
Meter hoch. Die Hauptſtadt Bridgetown liegt am Meere und
macht den Eindruck eines freundlichen Landſtädtchens ohne
irgend welche hervorragende Baulichkeiten. Sie iſt von Hügeln
umgeben, auf denen ſich die Europäer angebaut haben, um ſtets
die Kühlung des friſchen Paſſatwindes zu genießen, der über
die Inſel ſtreicht und ihr Klima zu einem ſehr angenehmen und
namentlich geſunden macht. Die epidemiſchen Fieber, welche in
Weſtindien oft mit ſo tödtlicher Gewalt auftreten, ſuchen Barba-
dos ſelten heim und ebenſo iſt es von Erdbeben verſchont, leidet
jedoch öfter durch Orkane. Das Hauptproduct der Inſel iſt
Zucker; überall ſieht man wogende Zuckerfelder und Fabriken
aus dem Grün auftauchen, und die über 25 Millionen Mark
betragende Ausfuhr giebt einen Maßſtab für den Bodenreich-
thum. Merkwürdiger Weiſe ſind auf Barbados keine Deutſchen;
überall in der Welt findet man ſie angeſiedelt und faſt immer
arbeiten ſie ſich zu angeſehenen Stellungen empor, nur hier nicht.


Neger und Farbige werden ſonſt von den Engländern
als tief unter ihnen ſtehende Weſen angeſehen und danach be-
handelt, oft ſo brutal, daß der humane Deutſche ſich dadurch
verletzt und empört fühlt. Auf Barbados iſt das jedoch nicht
der Fall; die Inſel hat eine ungemein freie Verfaſſung und
der farbige Menſchenbruder glaubt, die ihm gewährte Freiheit
21*
[324]Werner
durch eine Unverſchämtheit bethätigen zu müſſen, die ſich nament-
lich den Fremden gegenüber oft ſehr unangenehm geltend macht.
Es würde angemeſſen ſein, den Schwarzen das Uebermaß von
Freiheit etwas zu beſchneiden, wie es auf Jamaika geſchehen
iſt. Sie ſtehen auf einer zu niedrigen Stufe der Cultur, um
richtigen und verſtändigen Gebrauch von einer Freiheit machen
zu können, die für hochciviliſirte Nationen paſſen mag.


Unſer Aufenthalt währte acht Tage und wir genoſſen das
Schöne, was die Inſel bot, mit vollen Zügen. Sehr viel trug
dazu der freundliche Empfang bei, der uns von den Engländern,
namentlich aber von dem Gouverneur, Herrn Rawſon, wurde.
Er wohnt eine halbe Stunde außerhalb der Stadt und ſein
Haus liegt ebenfalls auf einer Anhöhe, von der man eine ſchöne
Ausſicht auf Bridgetown und einen Theil der Inſel genießt.


Herr Rawſon iſt ein Naturfreund und es treffen bei ihm
alle Bedingungen zuſammen, um dieſer Neigung vollen Spiel-
raum zu laſſen. Stellung, Mittel und Klima ſind ihm nach
jeder Richtung dazu behülflich. Ein prachtvoller Garten, in
europäiſcher Art und nicht in verwilderter Tropenweiſe gehalten,
umgiebt das Gouvernementsgebäude. In ihm wandelt man
„ungeſtraft unter Palmen,“ die ihn in allen Arten und Formen
zieren, während die duftigſten Blumen dem Spaziergänger ihr
Aroma ſpenden, die verſchiedenartigſten und wohlſchmeckendſten
Früchte, die Guave, die Anone, Ananas und hundert andere
mehr verlockend zum Genuſſe einladen und auch die bowling
greens
für croquet und cricket und anderen engliſchen Sport
nicht fehlen.


Das Sehenswertheſte und Lieblichſte iſt jedoch der Farren-
garten, ein Plätzchen, zu dem Herr Rawſon ſeine Beſucher gern
und mit einem gewiſſen Stolze führt. Was es an ſchönen und
zarten Pflanzengebilden aus den Familien der Farren und
Orchideen giebt, das iſt aus den Urwäldern Braſiliens und
Mittelamerikas hierher gebracht und wird mit liebevoller Sorg-
[325]Nach Weſtindien und dem Mittelmeer
falt gehegt und gepflegt. Eine dichte Hecke von Schlingpflanzen
hält den Wind ab, die Kronen mächtiger Palmen wölben ein
Dach, das den Sonnenſtrahlen den Eingang wehrt, und eine
Fontaine ſprüht feinen Staubregen, um den Gewächſen die-
jenigen Lebensbedingungen zu gewähren, unter denen ſie in der
ſchattigen Stille ihrer heimathlichen Wälder gedeihen. In
welcher Weiſe Herrn Rawſon dies gelungen, davon giebt die
üppige Entwickelung der Pflanzen und Blumen Zeugniß, und
dem Beſucher wird es ſchwer, ſich wieder von dieſem kleinen
Paradieſe zu trennen, indem man ebenſo die Schönheit und
Mannichfaltigkeit der Formen bewundert, als mit Behagen den
koſtbaren Duft einathmet, den die in allen Farben leuchtenden
Orchideen ausſtrömen. Ein ſüßer Friede ruht über dieſem
Pflanzeneden, das in ſolcher Lieblichkeit wol nicht zum zweiten
Male exiſtirt.


Noch eine andere ähnliche Sehenswürdigkeit birgt das
Gouvernementsgebäude in einer ſeiner großen Räumlichkeiten:
eine ſo ſchöne und reiche Sammlung von Korallen und Muſcheln,
wie ſie ebenfalls dem Beſchauer nicht oft geboten wird. Die
ſchöpferiſche Kraft der Natur zeigt ſich hier womöglich in
noch ſtaunenswertherer Weiſe als bei den Farren und Orchi-
deen und man ſteht ſtill bewundernd vor dieſem Reichthum
der wechſelndſten Formen, von dem man bisher keine Vor-
ſtellung gehabt.


Die Heimath dieſer wol einzig in ihrer Art daſtehenden
Sammlung iſt die nächſte Umgebung von Barbados ſelbſt und zwar
vornehmlich die dem herrſchenden Paſſatwinde abgewandte Süd-
weſtſeite der Inſel. Hier finden die Korallen die für ihre Ent-
wickelung günſtigſten Verhältniſſe, Ruhe und Wärme. Zwar
brauſt bisweilen ein Orkan über ſie dahin und wühlt das Meer
auf, doch tritt dieſer Fall immerhin nur ſelten ein. Für ge-
wöhnlich werden ſie nicht geſtört, keine Brandung hemmt ihr
Wachsthum und zerbricht ihr ſprödes Geäſt und tiefe Ruhe
[326]Werner
herrſcht im Gebiete der kleinen fleißigen Baumeiſter, die vom
dunkeln Meeresgrunde aufwärts ſtreben zum belebenden Lichte
der Sonne. In je größerer Tiefe ſie leben und je mehr ſie
gegen Bewegung des umgebenden Waſſers geſchützt ſind, deſto
feiner und zarter iſt ihre Structur, und gar mancher Zug mit
dem Schleppnetze muß vergeblich gemacht werden, ehe es ge-
lingt, die einzelnen Exemplare unbeſchädigt heraufzubringen.


Wir verſäumten nicht, auch für unſere heimiſchen Muſeen
dieſen ergiebigen Boden mit dem Schleppnetze zu durchſuchen
und die darauf verwandte Mühe wurde reich belohnt. Oefter
traf man freilich Strecken von Meilen Länge, wo das Netz
nichts ergab, dann aber wieder kam es bis an den Rand ge-
füllt herauf und brachte Seltenheiten mit, auf die ſelbſt Herr
Rawſon eiferſüchtig werden konnte. So z. B. fiſchten wir ein
großes Exemplar einer Seefeder in einer Tiefe von einigen acht-
zig Metern, das mit einem ſeiner ſchwachen Aeſte den Bügel
des Netzes gefaßt und den langen Weg ungefährdet zurückge-
legt hatte. Dieſe Koralline war für die Naturforſchung inſo-
fern von Bedeutung, als ſie auf das Anſchaulichſte darthat, wie
Thiere im Stande ſind, ſich in ihrer äußeren Erſcheinung will-
kührlich zu ändern, um dadurch ihnen drohenden Gefahren zu
entgehen.


Die Seefeder hatte eine bräunlich gelbe Färbung und war
mit weißen Pünktchen beſät, die bei näherer Unterſuchung ſich
als Mundöffnungen der die Koralline bewohnenden Polypen
herausſtellten und wie Sterne aus Blättchen von weißer muſchel-
artiger Subſtanz gebildet wurden. In ihrem Gezweig hatten ſich
eine Maſſe kleiner Seeſterne feſtgeſetzt, und es war ganz deutlich
wahrzunehmen, daß ſie ihren jetzigen Aufenthaltsort zu den ver-
ſchiedenſten Zeiten erwählt hatten. Dies ergab ſich aus den
Nüancen ihrer Färbung. Während etwa die Hälfte bereits voll-
ſtändig das Ausſehen der Seefeder angenommen hatte und ſelbſt
mit den weißen Punkten beſetzt war, die ſich jedoch unter der
[327]Nach Weſtindien und dem Mittelmeer
Lupe nicht als Mundöffnungen, ſondern nur als kalkige Secre-
tionen darſtellten, waren andere erſt in allmäliger Umwandlung
begriffen und die jüngſt Hinzugekommenen wieſen noch ihre
natürliche ſchwärzlich graue Farbe auf. Jedenfalls offenbarte
ſich hier ein wunderbarer Proceß der vorſorgenden Natur, um
die Seeſterne dadurch vor ihren Feinden zu verbergen, daß ſie
ſich genau die Farbe ihres Standortes aneigneten.


Die feſtgeſetzte Zeit unſeres Aufenthaltes ſchwand ſchnell
dahin. Wir wären gern länger geblieben, aber wir hatten noch
eine ganze Reihe von Plätzen zu beſuchen und es mußte ge-
ſchieden ſein. Wir nahmen von Barbados die angenehmſten
Eindrücke mit uns und werden uns der freundlichen Inſel und
ihrer gaſtfreien uns entgegenkommenden Bewohner gern und
dankbar erinnern.


Unſer nächſtes Ziel war Venezuela und zwar der öſtlichſte
ſeiner drei Häfen, La Guayra, das wir in wenigen Tagen, von
dem ſchönſten Paſſatwetter begünſtigt, erreichten. Der Ausdruck
„Hafen“ iſt für La Guayra jedoch eigentlich nicht zutreffend,
wenn man darunter einen gegen die Unbill der Witterung ge-
ſchützten Ankerplatz verſteht. Die Stadt liegt an der offenen
Küſte, auf welcher der Paſſatwind ſteht, und wenn derſelbe auch
ziemlich gleichmäßige Stärke hat, ſo erregt er doch ſo viel See-
gang, daß die Schiffe wie auf dem Meere ſich ſtets in ſchwan-
kender Bewegung befinden. Weit unangenehmer wird dadurch
aber die Verbindung mit dem Lande. Die Wellen rollen ſo
heftig an den Strand, daß man ſelten mit den Booten landen
kann, ohne durchnäßt zu werden und oft Tage lang gar keine
Communication ſtattfindet.


Es kennzeichnet die Zuſtände der Republik, daß nicht ein-
mal eine ſchützende Mole exiſtirt und man ſich mit einem ſoge-
nannten Wellenbrecher begnügt, der ſich einige Meter weit in
das Waſſer erſtreckt, aber ſo gut wie gar keinen Schutz gewährt.
In welchem anderen Lande der Welt würde eine Seehandels-
[328]Werner
ſtadt, die jährlich von Hunderten größerer Schiffe beſucht wird,
auf ſolche Weiſe vernachläſſigt ſein!


Ueberhaupt hat La Guayra eine ſehr ungünſtige Lage. Auf
einem ſchmalen Küſtenſaum erbaut, liegt es, von beiden Seiten
zwiſchen kahlen Felſen eingeklemmt, in glühendem Sonnen-
brande und iſt vom Hinterlande durch eine bis 2500 Meter hoch
ſteigende Gebirgskette abgeſchnitten, deren ſteile Wände ſich un-
mittelbar hinter der Stadt erheben und mit der Küſte parallel
laufen. Zwei ſchmale Reitwege und eine breitere Fahrſtraße
vermitteln die Communication mit dem Innern reſp. mit der
Hauptſtadt Caracas, die zwar in der Luftlinie nur 1 ½ Meilen
entfernt liegt, aber zu Wagen mit guten Pferden in nicht weniger
Zeit als vier Stunden erreicht werden kann.


Der Fahrweg iſt an den Bergabhängen ausgeſchnitten und
ſteigt im Zickzack bis zu 1300 Meter an, um dann allmälig
wieder abwärts zu gehen. Er iſt ſo breit, daß ſich zwei Wagen
paſſiren können, aber trotzdem kommen häufig Unglücksfälle vor,
und ſehr oft begegnet man roh gearbeiteten Kreuzen, welche die
Stelle bezeichnen, wo Menſchen oder ganze Gefährte in die ſteilen
Abgründe geſtürzt ſind.


La Guayra bietet nicht die mindeſten Reize; es beſitzt
weder hervorragende Gebäude noch ſonſtige Sehenswürdigkeiten.
Die Häuſer ſind im langweiligen Tropenſtyl nach demſelben
Schema gebaut und wegen der Erdbeben meiſtens einſtöckig. In
der Stadt ſelbſt fehlt jede Vegetation und nur die Umgebung
mit den reichbewaldeten Gebirgen als Hintergrund und deren
rechtwinklig auf die Küſte ſtoßenden Ausläufern, die ebenſo viele
Vorgebirge bilden, giebt La Guayra einen gewiſſen romantiſchen
Anſtrich. Jedenfalls iſt es aber nicht im Stande, den Beſucher
irgendwie zu feſſeln, und auch wir blieben nur ſo lange, um
eine Reiſe nach Caracas zu machen, deſſen Schönheit durch
Humboldts Schilderungen in uns hohe Erwartungen geweckt
hatte.


[329]Nach Weſtindien und dem Mittelmeer

Die Betheiligung an der Tour war eine ſehr rege und
nicht weniger als fünf Wagen mit zwanzig Perſonen, ſowie
verſchiedene Reiter bildeten eine ſtattliche Cavalcade. Leider
war der Beginn nicht ſehr günſtig. Um der Sonnenhitze zu
entgehen, ſollte ſchon um fünf Uhr Morgens aufgebrochen
werden; wir waren auch zeitig genug zur Stelle, aber bei der
herrſchenden Dunkelheit war die Landung ſehr ſchwierig, und
wenn wir auch ſelbſt trocken an Land kamen, ſchlug unmittelbar
nach unſerem Ausſteigen die See die Boote voll und unſere
Bagage wurde gründlich eingeweicht, was für Epauletten,
Hüte u. ſ. w. ſich nicht ſehr vortheilhaft erwies. Sodann waren
wir zwar reiſefertig, aber die Herren Kutſcher nicht. Sie ließen
uns ohne irgend welche Entſchuldigung oder auch nur Bemer-
kung 1 ½ Stunden warten, und ſo kamen wir erſt lange nach
Sonnenaufgang fort. Wir hatten eben mit Republikanern zu
thun. Der Weg führte zunächſt längs der Küſte und durch die
Vorſtadt Maiquetia, wo die Fremden ihre Wohnhäuſer haben,
während ſich die Geſchäftslocale in der Stadt befinden. Mai-
quetia iſt zwar auch ein höchſt unſchöner, langweiliger Ort mit
ſchrecklichem Straßenpflaſter, auf dem man ſich Hals und Beine
brechen kann, aber es bietet den dort Wohnenden wenigſtens
Schatten und die Häuſer liegen hinter Palmen, Bananen und
anderen üppig belaubten Tropenbäumen verſteckt.


Nach etwa einer Meile geht es dann aufwärts in das
Gebirge. Die Tour hatte große Aehnlichkeit mit unſerem
Ritt auf Madeira. Hier wie dort ſtiegen wir allmälig zu der-
ſelben Höhe empor, hier wie dort beſchlich uns zuerſt ein ängſt-
liches unbehagliches Gefühl, wenn ſich zu unſerer Seite jähe
Abgründe von immer wachſender Tiefe öffneten. Allmälig ließen
wir die mächtigen Baumgruppen der Ebene hinter uns, Aloe,
Cactus und niedriges Geſtrüpp bildete die Bewaldung der
Höhen und nur ab und zu erhob ſich aus letzterem die ſeltſame
Geſtalt eines Indio nudo — eines nackten Indianers, wie die
[330]Werner
Eingeborenen den Baum nennen. Er hat die kupferbraune
glänzende Farbe der Indianer, ſeine Zweige ſind faſt blattlos
und ſtrecken ſich wie nackte Arme horizontal aus. Die Aus-
ſicht von den Höhen war prachtvoll und kein neidiſcher Nebel
trübte ſie. Die Luft war ſo klar und durchſichtig, daß alle
Gegenſtände viel näher erſchienen und bei jeder Biegung des
Weges öffnete ſich ein neues Panorama, das unſere Blicke
feſſelte. Zu unſeren Füßen lagerten Hunderte von Bergkuppen,
deren dunkle Bewaldung öfter von lieblichen Thälern unter-
brochen wurde, durch welche ſich ein Bergſtrom wand und an
deſſen Ufern Bananen oder Brotfruchtbäume ihre Blätter im
Winde wiegten. In nächſter Nähe webte ein reicher Blumenflor
einen leuchtenden Teppich über die Erde, buntgefiederte Vögel
huſchten durch das Gezweig der Bäume und prachtvoll gefärbte
Schmetterlinge glänzten im Sonnenlichte und entzückten das
Auge.


Dieſer beſtändige Wechſel der Scenerie verkürzte uns
auf die angenehmſte Weiſe die Zeit, aber auch anderartige
neue Erſcheinungen zogen unſere Aufmerkſamkeit auf ſich. Die
Fahrſtraße vermittelt den ganzen Handelsverkehr zwiſchen dem
Inlande und La Guayra und es herrſcht deshalb auf ihr eine
ungemein lebhafte Communication. Endloſe Züge von beladenen
Maulthieren oder zweiräderigen Karren kommen dem Reiſenden
entgegen und die Glocken der Leitthiere klingen melodiſch ſchon
aus weiter Ferne zu ihm herüber. Mit bedächtigem Schritt
ſteigen die Thiere herunter und laſſen den begegnenden Wagen
die ſichere Bergſeite, dagegen verurſachen die im ſcharfen Trabe
thalwärts jagenden Miethwagen oft keinen geringen Schrecken,
wenn ſie, ohne daß man ihren Peitſchenknall vorher gehört,
plötzlich um eine der ſcharfen Ecken biegen und nun ausge-
wichen werden ſoll. Da heißt es aufpaſſen und geſchickt ſein,
und das muß man den Venezuelaner Kutſchern laſſen, ſie ver-
ſtehen ihr Fach aus dem Grunde. Unter dem Eindrucke ihrer
[331]Nach Weſtindien und dem Mittelmeer
ungemeinen Sicherheit beim Fahren ſchwand bei uns allmälig
die Aufregung bei ſolchen Begegnungen und bald achteten wir
auch nicht mehr auf die Kreuze, die meiſtens an ſolchen
Biegungen errichtet waren.


Die vier Stunden, in denen wir nach Caracas vertrags-
mäßig geſchafft werden ſollten, reckten ſich jedoch um ebenſoviel
weiter hinaus wie unſere verabredete Abfahrt am Morgen. Die
Kutſcher hatten offenbar viel Durſt oder auch das Bedürfniß
einer lebhafteren Unterhaltung, als wir mit ihnen pflogen, denn
ohne ſich an unſere Remonſtrationen zu kehren, hielten ſie bei
jeder Poſada, wenn auch der Ausdruck für ſolche Oertlichkeit oft
ſehr gewagt war. Vier Pfähle mit einem Dach von Palmen-
blättern lehnten ſich windſchief gegen die Felswand. In einer
Ecke befand ſich eine Feuerſtelle; ein Keſſel, zwei oder drei
irdene Gefäße und eine geflochtene Hürde, hinter welcher ſich die
Schlafſtellen verbargen — das war die geſammte Ausſtattung
dieſer „Gaſthöfe“. Unſereiner konnte in ihnen natürlich nichts
bekommen, denn das in den irdenen Gefäßen enthaltene un-
definirbare gegohrene Getränk war für Europäer ungenießbar.


Auf halbem Wege wurden wir jedoch in einer dieſen
Namen wirklich verdienenden Poſada, welche vier Wände und
mehrere Zimmer hatte, durch ein ganz vortreffliches Frühſtück
entſchädigt, das auch verhältnißmäßig nicht theuer war und,
was uns beſonders auffiel, merkwürdig reinlich ſervirt wurde.
Hier erhielten wir neue Pferde, und da wir den höchſten Punkt
unſerer Route überwunden hatten, ſo ging es jetzt im ſchärfſten
Trabe und ſehr ſchnell vorwärts. Noch eine Biegung, und die
ganze Hochebene von Caracas mit der Stadt in ihrer Mitte,
eingeſchloſſen von reichbewaldeten Höhenzügen, auf denen
der bläuliche Duft ſüdlicher Gegenden lagerte, zeigte ſich unſeren
Blicken.


So ſchön und romantiſch uns aber auch die Umgebung
erſchien, ſo wenig imponirte uns die Stadt ſelbſt. Möglicher-
[332]Werner
weiſe mag ſie im Anfange dieſes Jahrhunderts ein großartigeres
Ausſehen gehabt haben, aber bekanntlich wurde ſie 1812 durch
ein Erdbeben vollſtändig zerſtört, nur die Kathedrale und zwei
bis drei andere Gebäude blieben ſtehen, und bei dem Wieder-
aufbau hat man allein das Nützlichkeitsprincip gelten laſſen.
Mit Rückſicht auf Erdbeben ſind, mit ſehr wenigen Ausnahmen,
ſämmtliche Häuſer einſtöckig, ohne jede architektoniſche Schönheit,
aus rohen Bruchſteinen aufgeführt. Die Straßen durchſchneiden
ſich zwar wie in allen Tropenſtädten ſpaniſchen Urſprungs recht-
winklig in beſtimmten Entfernungen, ſind aber meiſtens ſehr
eng und ſchlecht gepflaſtert. Außer der Kathedrale ſind die
übrigen Kirchen niedrig und gedrückt und treten deshalb kaum
aus der eintönigen Häuſermaſſe hervor, ſo daß der Eindruck,
den man von Caracas gewinnt, ein höchſt mittelmäßiger iſt.


Die Kathedrale bildet ungefähr den Mittelpunkt der Stadt
und die eine Seite des einzigen größeren öffentlichen Platzes
(es giebt deren noch zwei andere), der zwar auch nur beſchränkte
Dimenſionen hat, ſonſt aber recht geſchmackvoll mit Gartenan-
lagen geſchmückt iſt. Erfahrungsmäßig treten an dieſen Punkten
die Erdbeben am ſchwächſten auf und deshalb finden ſich hier
auch die einzigen zweiſtöckigen Häuſer: das Congreßgebäude und
der erzbiſchöfliche Palaſt. Letzterer war zur Zeit unſerer An-
weſenheit jedoch unbewohnt und der Erzbiſchof befand ſich im
Exil. Venezuela hatte auch ſeinen Culturkampf, aber der Präſi-
dent der Republik, Guzman Blanco, machte mit dem geſammten
Clerus kurzen Proceß. Er ließ den widerſpenſtigen und den
Staatsgeſetzen den Gehorſam verſagenden Erzbiſchof ohne Weite-
res aufheben, mit einigen anderen unbotmäßigen Prälaten auf
ein Schiff und außer Landes bringen. Ebenſo entzog er den
Klöſtern die bislang gewährten ſtaatlichen Zuſchüſſe und wies
die Inſaſſen an, ſich ihren Lebensunterhalt durch eigene Arbeit
zu erwerben.


Die Kathedrale hinterläßt keinen ſchönen Eindruck. Sie
[333]Nach Weſtindien und dem Mittelmeer
iſt an und für ſich wegen der Erdbeben ziemlich niedrig und
ringsum von ſchweren aus Steinen gemauerten Strebe-
pfeilern umgeben, wodurch ſie etwas Maſſiges erhält und ihr
Styl nicht zur Geltung kommt. Auch ihr Inneres bietet nichts
Sehenswerthes, außer einer Statue des Bolivar, die von einem
italieniſchen Künſtler gefertigt iſt.


Unter den 50,000 Einwohnern der Stadt befinden ſich
gegen 3000 Fremde, darunter 600 Deutſche, die durchſchnittlich
in recht guten Verhältniſſen leben und eine ſehr geachtete Stel-
lung einnehmen. Venezuela iſt überhaupt das Land, wo Deutſche
vorzugsweiſe prosperiren und wo Anſiedlungen in größerem
Maße, namentlich auf der klimatiſch ſo günſtigen Hochebene des
Inlandes, ſehr zu empfehlen wären, wenn die politiſchen Ver-
hältniſſe des Landes ſich etwas mehr conſolidiren wollten. Durch
die häufigen Revolutionen aber wurde bis vor kurzem die Exi-
ſtenz der Anſiedler ſtets gefährdet.


In den letzten zehn Jahren iſt es in Venezuela verhältniß-
mäßig friedlich hergegangen und dies hauptſächlich dem erwähnten
Guzman Blanco zu danken. Ein ungemein energiſcher Mann,
wenn auch nicht ſcrupulös in der Wahl ſeiner Mittel, weiß er
ſeine Landsleute in der richtigen Weiſe zu behandeln, d. h. ihnen
gehörig den Daum auf das Auge zu drücken und dadurch
Frieden im Lande zu erhalten. Während ſeiner erſten Präſi-
dentſchaft 1871—75 erfreute ſich Venezuela vollkommener Ruhe.
Unter ſeinem Nachfolger fingen die alten Streitigkeiten zwiſchen
den beiden politiſchen Parteien, den conſervativen Blauen und
den liberalen Gelben wieder an. Zu den erſteren zählten die
Großgrundbeſitzer, zu den letzteren die Städte und mit ihnen
die Fremden.


Anfang 1879 kam es in Caracas von neuem zu einer
blutigen Revolution. Die Liberalen, auf deren Seite Guzman
ſtand, ſiegten und letzterer wurde aus Deutſchland, wo er ſich
mit ſeiner Familie längere Zeit aufhielt, zurückberufen, um zum
[334]Werner
zweiten Male den Präſidentenſtuhl zu beſteigen oder vielmehr,
er rief ſich ſelbſt zurück, da er den Augenblick für geeignet hielt.


Es iſt kaum zu bezweifeln, daß er diesmal nicht wieder
freiwillig zurücktreten wird, und dem Lande kann man es nur
wünſchen. Wir dürfen zwar an ihn nicht den Maßſtab legen,
wie wir es bei Regenten civiliſirter Länder zu thun gewohnt
ſind und er würde bei uns kaum acht Tage auf ſeinem Poſten
bleiben, allein dort iſt er — wenigſtens bis auf weiteres — der
rechte Mann am rechten Orte. Er iſt ein Deſpot vom reinſten
Waſſer, mit nach unſeren Begriffen eigenthümlichen Grundſätzen
über die Verwendung der Einkünfte, aber das Land fährt beſſer da-
bei, als bei irgend einem ſeiner Vorgänger und hebt ſich. Bei den
unerſchöpflichen Hülfsquellen, die es beſitzt, bedarf es nur Frieden,
um dieſelben auszubeuten, und dieſen Frieden weiß Guzman zu
erzwingen und die verkommenen, unruhigen Elemente niederzuhalten.


Nach den Landesgeſetzen herrſcht vollſtändige Preßfrei-
heit, aber nur ſo weit Guzman es für gut hält. Er ſelbſt
ſchreibt Zeitungsartikel über ſeine Perſon, nennt ſich darin
den berühmteſten Mann des Jahrhunderts, dem Napoleon
der Erſte, Kaiſer Wilhelm, Bismarck und Moltke nicht das
Waſſer reichen (wörtlich!) — wenn aber ein Anderer eine
ſeiner Maßnahmen in der Preſſe kritiſiren wollte, ſo wäre er
verloren. Ein Deutſcher, der ſonſt mit dem Präſidenten auf
ſehr gutem Fuße ſtand, beabſichtigte vor kurzem irgend einen
Uebelſtand öffentlich zur Sprache zu bringen und ſchickte zu dieſem
Zwecke einen Artikel an die erſte Zeitung von Caracas. Der-
ſelbe wurde nicht gedruckt, aber Guzman ließ dem Verfaſſer be-
deuten, ihn überhaupt nicht zu veröffentlichen, weil er ſonſt ge-
zwungen ſei, ihm die Freundſchaft zu kündigen und ihn einzuſtecken.
Im Uebrigen iſt er jedoch für Deutſchland ſehr eingenommen
und die Deutſchen haben in Venezuela jedenfalls mehr Einfluß,
als die Angehörigen irgend einer anderen Nation.


Wenn man auf das prachtvolle Land blickt mit ſeiner un-
[335]Nach Weſtindien und dem Mittelmeer
endlichen Fruchtbarkeit, die bei der geringſten Pflege des Bodens
hundertfachen Ertrag liefert, mit ſeinem Reichthum an edlen
und nützlichen Metallen, ſeinen großartigen Waldungen der
werthvollſten Holzarten mit Millionen Hectaren culturfähigen
aber unbebaut liegenden Landes, mit ſeinen Llanos, auf denen
unzählbare Viehheerden üppige Weide finden — und wenn
man daran denkt, daß eine Fläche von über 800 Quadratmeilen
dieſes geſegneten Striches faſt drei Jahrzehnte lang in deutſchem
Beſitze war, dann kann man ein Gefühl wehmüthiger Trauer
nicht unterdrücken, daß ein ſolcher Schatz für Deutſchland und
zwar durch eigene Schuld ſeiner damaligen Beſitzer wieder ver-
loren gehen mußte. Was hätte aus dieſem Lande bei ver-
ſtändiger Coloniſation und rationeller Ausbeutung ſeiner Boden-
erzeugniſſe und Mineralſchätze gemacht werden können, welche
unverſiegbare Quelle nationalen Wohlſtandes und Reichthumes
hätte ſich für Deutſchland daraus ſchaffen laſſen!


Im Jahre 1528 gab Kaiſer Karl V. Venezuela den
Augsburger Welſern, welchen er große Summen ſchuldete, zum
caſtiliſchen Erblehn. Das abgetretene Land erſtreckte ſich zwi-
ſchen Cap Maracapanos und de la Vela und dem 10. und 12.
Grade nördlicher Breite in einer Länge von 200 Leguas bis
zum See von Maracaibo und ſchloß den reichſten und frucht-
barſten Theil der jetzigen Republik ein.


Ambroſius Dalfinger, Geſchäftsträger der Welſer in Madrid,
ſegelte 1529 mit 400 deutſchen und ſpaniſchen Soldaten und
achtzig Pferden von Spanien aus über den Ocean, um das
Lehn für ſeine Herren in Beſitz zu nehmen. Er machte Züge
in das Innere, gründete auch eine Niederlaſſung an der Grenze
von Neu-Granada, allein die krankhafte Sucht nach Auffindung
von Gold und Silber, welche damals Alle beherrſchte, die nach
Amerika zogen, ließ auch ihm keine Ruhe. Anſtatt zu coloni-
ſiren, ſtreifte er mit ſeinen Truppen in den Cordilleren umher,
wo er Minen zu finden hoffte, und gerieth in verderbliche
[336]Werner
Kämpfe mit den Indianern. Geſchlagen und mit Verluſt ſeiner
meiſten Leute, mußte er ſich nach Coriana zurückziehen, wo er
ſeinen Wunden 1535 erlag.


Ihm folgten nach einander Allemann, Georg von Speyer
und Claus Federmann, aber auch ſie verfielen in dieſelben Fehler
wie ihr Vorgänger und für eine geregelte Coloniſation wurde
nicht einmal eine Grundlage geſchaffen. Dann entſtanden
Streitigkeiten über Zehnten und Abgaben mit den ſpaniſchen
Behörden und die Welſer zögerten eine Zeit lang mit Wieder-
beſetzung der Stelle eines Oberbefehlshabers. Dieſer Umſtand
bot Iſabella, der Gemahlin des Infanten Philipp II. eine will-
kommene Handhabe, ihre vermeintlichen Anrechte auf Venezuela
geltend zu machen. Sie wirkte auf den Indiſchen Rath in St.
Domingo ein und dieſer gab dem ausgeübten Drucke nach. Er
entſandte einen ſpaniſchen Statthalter und ſprach das Lehn im
Jahre 1555 überhaupt den Welſern ab. Damit war die ein-
zige und glänzende Gelegenheit für Deutſchland, eine Colonial-
macht zu werden und Theil an der Weltherrſchaft zu nehmen,
für immer verloren.


Von den 600,000 Einwohnern Venezuela’s ſind die Hälfte
Nachkommen der ſpaniſchen Eroberer, wenn auch in den meiſten
das europäiſche Blut nicht mehr rein erhalten iſt. Die andere
Hälfte beſteht aus prononcirten Miſchlingen und Indianern. Von
letzteren iſt faſt ein Drittheil noch ganz unabhängig, 200,000
ſind nominell civiliſirt, d. h. nicht in ſtetem Kampfe gegen die
Weißen begriffen, ſonſt aber ebenſo „wild“ wie ehedem. In-
folge Jahrhunderte langer Mißregierung iſt die große Maſſe
der Venezuelaner europäiſcher Abſtammung verkommen, träge
und unwiſſend und ſelbſt unter vorzüglichen Machthabern wird
es noch Generationen dauern, bis darin eine Wandlung zum
Beſſern geſchaffen werden kann.


Wie bereits bemerkt würde die Republik für deutſche Ein-
wanderung eins der geeignetſten Länder ſein, was Klima und
[337]Nach Weſtindien und dem Mittelmeer
Bodenbeſchaffenheit anbetrifft, jedoch iſt vorläufig nicht dazu zu
rathen. Die politiſchen Verhältniſſe ſind dafür noch zu unſicher
und die Behörden erfreuen ſich bis jetzt nicht eines ſolchen
Rufes, um ihren den Auswanderern gemachten Verſprechungen
unbedingt vertrauen zu dürfen. Eine Garantie für Fortkommen
und Prosperität würde nur dann zu erblicken ſein, wenn die
Anſiedler ſo zahlreich hinübergehen, daß ſie ſich ſelbſt ſchützen
können. Tauſend waffenfähige Männer würden dazu völlig
ausreichen, die natürlich nicht im ganzen Lande zerſtreut wohnen
dürften, ſondern größere und compactere Gemeinweſen bilden
müßten. Bis jetzt ſtellt die Regierung ſolchen Anſiedlungen,
obwol ſie das beſte Heilmittel gegen die ſtets wiederkehrenden
Revolutionen ſein würden, noch Hinderniſſe entgegen und des-
halb iſt von einer Einwanderung für Deutſche entſchieden ab-
zurathen.


Die Streitmacht Venezuela’s beläuft ſich nominell auf
6000 Soldaten, die auch wirklich vorhanden ſein mögen, an
die man jedoch nicht etwa unſeren militäriſchen Maßſtab legen
darf. Die Proben, welche wir in Caracas ſahen, erinnerten
ſehr an Falſtaff’s Recruten, ſowol in Bezug auf Körperbeſchaffen-
heit wie Uniform oder vielmehr Nichtuniform — wie mögen
die Truppen erſt in den Provinzen beſchaffen geweſen ſein! Das
Loos der Soldaten iſt ein trauriges, der Sold, noch nicht ein
Groſchen pro Tag, bleibt oft Monate lang rückſtändig; da
iſt es dann nicht auffällig, daß es bald dieſem bald jenem ehr-
geizigen und geldgierigen „General“ gelingt, die Truppen zu
einer Revolution zu verleiten oder daß letztere compagnieweiſe
marodiren. Die Officiere ſind ihren Untergebenen entſprechend
und bei dem geringen Solde kann auch nichts beſſeres erwartet
werden. Ein activer General ſteht ſich z. B. ſchlechter, als bei
uns ein Secondelieutenant, und wir bekamen keinen kleinen
Schrecken, als bei Beſichtigung der Artilleriekaſerne und des
dort aufgeſtellten verwahrloſten Geſchützparkes unſer Führer, der
R. Werner, Erinnerungen. 22
[338]Werner
in ſaloppem Negligée erſchien und von uns für einen Unter-
officier gehalten wurde, ſich plötzlich als General entpuppte.
Guzman ſoll das Militär etwas zu heben befliſſen ſein, aber
man merkt nicht viel davon und ſowol der Zuſtand der Truppen
wie der der beiden „Kriegsſchiffe“, ein Paar alter hölzerner
Dampfcorvetten mit reducirter Beſatzung, welche die Seemacht
der Republik bilden, geben Zeugniß für die ungeregelten ſtaat-
lichen Zuſtände Venezuela’s.


Unſer Aufenthalt in Caracas, während deſſen wir in
einer engliſchen Penſion ſehr preiswürdig und gut wohnten,
währte drei Tage. Von Seiten der Bewohner ſowie der Be-
hörden kam man uns überall freundlich und aufmerkſam ent-
gegen und bei einer Audienz hatten wir auch Gelegenheit, den
Präſidenten Guzman Blanco perſönlich kennen zu lernen. Er
war ein ſehr ſtattlicher Mann, jetzt wol Anfang der Vierziger,
und die ihm innewohnende Energie prägte ſich in ſeinen Ge-
ſichtszügen aus. Seine Gemahlin galt anerkannt für die ſchönſte
Frau in Caracas und das will unter vielen Tauſenden von
ſpaniſchen Creolinnen nicht wenig ſagen.


Das damalige Congreßgebäude, in dem wir empfangen
wurden, hatte etwas Stallähnliches und zeichnete ſich durch Un-
ſauberkeit aus. Eine Heerde zerlumpter Straßenjungen lungerte
im Flur und auf den Treppen und drängte ſich auch unge-
hindert mit in den Audienzſaal. Seit Kurzem iſt das jedoch
geändert; Guzman hat ein prachtvolles neues Congreßhaus bauen
laſſen, das eine Zierde der Stadt bildet und mit der Zeit wird
man auch wol die Straßenjungen hinausweiſen. Mag der
Präſident ſich aber auch in der Staatszeitung als den illustrisi-
mo Americano
bezeichnen, gegen deſſen Verdienſte der Ruhm
Napoleons und Kaiſer Wilhelms völlig in den Schatten tritt,
mag er in den Städten ſeines Landes Statuen von ſich er-
richten laſſen und bereits die fünfte Million zu ſeinen Erſpar-
niſſen in den fünf Jahren ſeiner Präſidentſchaft fügen — den-
[339]Nach Weſtindien und dem Mittelmeer
noch iſt dem Lande zu wünſchen, daß er an der Regierung bleibt.
Er deckt deſſen Hülfsquellen auf, baut Eiſenbahnen und Ver-
kehrswege, gründet Schulen und Univerſitäten, wenn dieſe auch
noch mancherlei zu wünſchen übrig laſſen und fördert dadurch
das materielle und ſittliche Wohl. Vor allem aber ſchafft er
Frieden im Innern und damit überhaupt die Grundlage eines
möglichen Gedeihens.


Von La Guayra ſegelten wir nach Puerto Cabello, dem
größten und für Deutſchland ſpeciell wichtigen Exporthafen
Venezuela’s, der, im Gegenſatz zu La Guayra, mit vollem Rechte
den Namen Hafen beanſpruchen darf. Er wird durch eine
mehrere Tauſend Meter lange und etwas gebogene Landzunge
gebildet, welche den in unmittelbarer Nähe des Landes ankern-
den Schiffen völlige Sicherheit gegen alle Unbill der Witterung
gewährt. Der Hafen hat eine Tiefe von acht bis zehn Metern,
die für die Handelsſchiffahrt genügt. Die Stadt ſelbſt zählt nur
6000 Einwohner und bietet, wie La Guayra, in ſich ſelbſt nichts
Schönes oder Anziehendes. Auch hier haben die Fremden,
unter denen die Deutſchen den hervorragendſten Platz einnehmen,
in der Stadt nur ihre Geſchäftslocale und wohnen außerhalb
derſelben, meiſtens in dem idylliſchen, etwa eine Stunde ent-
fernten Thale von St. Eſteban.


Letzteres iſt eine der lieblichſten Oertlichkeiten, denen wir
auf unſerer Reiſe begegnet ſind und der Inbegriff einer ſchönen
tropiſchen Landſchaft, wie ſie der Europäer ſich in ſeiner
Phantaſie vorzuſtellen pflegt, in Wirklichkeit jedoch nur höchſt
ſelten angetroffen wird. Das Thal erſtreckt ſich in der Breite
von durchſchnittlich 1500 Metern zwiſchen zwei Höhenzügen von
mäßiger Erhebung und wird ſeiner Länge nach von einem Flüß-
chen, dem Rio Eſteban, durchſtrömt. Die Berge ſind pracht-
voll bewaldet und der Urwald zeigt ſich hier noch in ſeiner
ganzen jungfräulichen Schönheit und Majeſtät. Das Thal
ſelbſt iſt cultivirt und gewährt ein Bild der ungemeinen Frucht-
22*
[340]Werner
barkeit, mit der Venezuela von der Natur geſegnet iſt. Was
die Tropen an nutzbaren Bäumen, Sträuchern und Früchten
bieten, das findet ſich hier in wunderbarer Fülle und Mannich-
faltigkeit vereinigt. Kaffee, Zucker, Cacao, Baumwolle, Indigo,
Vanille, Brodfrucht, Banane, Guave und hundert andere Pro-
ducte der heißen Zone wachſen in größter Ueppigkeit und er-
freuen das Auge.


Am meiſten wird jedoch Kaffee gebaut, der unter den zu
dieſem Zwecke angepflanzten und ihn gegen die Sonnenſtrahlen
ſchützenden Schattenbäumen vorzugsweiſe gedeiht und den Haupt-
ausfuhrartikel von Puerto Cabello bildet. Parallel dem Fluſſe
läuft eine breite und ſehr gut gehaltene Fahrſtraße, zu deren
beiden Seiten die Landhäuſer der Fremden, umgeben von Gärten,
liegen. Sie zeichnen ſich weniger durch ſchönen Bauſtyl aus,
als durch tropiſchen Comfort, der darin gipfelt, daß die
Zimmer möglichſt kühl ſind und der Wind überall freien Zu-
tritt hat. Wir empfanden keine übermäßige Hitze, und im
Winter iſt das Klima von Puerto Cabello überhaupt ein höchſt
angenehmes, ſo daß wir während des Tages, ſelbſt zur Mittags-
zeit, in der Umgebung von Eſteban umherſtreiften, ohne durch
die Sonne zu ſehr beläſtigt zu werden.


So reich und mannichfaltig wie die Flora iſt auch die
Fauna in dem Thale vertreten, namentlich an Vögeln und
Schmetterlingen, die an Farbenpracht mit einander wetteifern.
Hunderte von Kolibris ſchweben über den Blüthenkelchen der
Orchideen, die wie Feſtons von den Zweigen der Bäume herab-
hängen, und ſie ſind ſo wenig ſcheu, daß ſie ſich von den Menſchen
aus nächſter Nähe beobachten laſſen. Der metalliſche Glanz ihres
Gefieders blitzt und leuchtet in den Strahlen der Sonne wie Edel-
geſtein, bald wie Diamant, bald wie Topas, Rubin oder Smaragd,
je nachdem das Licht darauf fällt; man wird nicht müde, dem
Spiele der reizenden Thierchen zuzuſchauen, wie ſie von Blume
zu Blume huſchen, um duftenden Honig aus ihnen zu ſaugen.


[341]Nach Weſtindien und dem Mittelmeer

Und wie am Tage, ſo blitzt und leuchtet es in Baum und
Strauch auch Nachts. Wenn Vögel und Schmetterlinge zur
Ruhe gegangen, dann kommen Millionen Glühwürmer aus
ihrem Verſteck und erhellen das Dunkel mit ihrem phosphores-
cirenden Schein. Viele haben die Größe eines Maikäfers, und
das von ihnen ausſtrahlende Licht iſt ſo ſtark, daß man in dem
Umkreiſe von zwei bis drei Fuß die Gegenſtände gut erkennen kann.


Wie Urwald und cultivirter Boden hier ſich unver-
mittelt berühren, ſo tritt uns daſſelbe Schauſpiel auch mit Be-
zug auf die Menſchen entgegen. Wenige hundert Schritte von
Eſteban und ſeinen Villen entfernt haben Ureinwohner des Landes,
Indianer, ihre gebrechlichen Hütten errichtet und leben von
der Jagd und den Früchten des Waldes, wie vor Jahrhunder-
ten ihre Väter es gethan. Ihre Zahl ſchmilzt freilich von Jahr
zu Jahr beträchtlich zuſammen, und bald werden ſie aus den
von Europäern bevölkerten Gegenden ganz verſchwunden und
von dem Naturgeſetze ereilt ſein, demzufolge der rothe Mann
untergeht, wo er mit dem Weißen zuſammentrifft.


Der Metallreichthum Venezuela’s tritt beſonders unweit
Puerto Cabello in der Provinz Coro zu Tage und ſind vor
allem die Kupfererze ergiebig. Bis vor wenigen Jahren ſchaffte
man das Erz über zwanzig Meilen weit aus dem Diſtrict Aora
auf Maulthieren bis zu dem weſtlich von Puerto Cabello gelege-
nen Hafen Tucacas. Wenn trotzdem die Sache rentabel war,
ſo lag es nahe, eine Eiſenbahn zu bauen, und in der That
hatten die Engländer kurze Zeit vor unſerer Ankunft ein ſolches
Unternehmen in’s Leben zu rufen verſucht, waren aber ebenfalls
an den unſicheren Zuſtänden des Landes geſcheitert. Eines
Tages überfielen revolutionirende Soldaten das Bureau, er-
mordeten ſämmtliche Beamte, raubten das vorhandene Geld,
und damit war alles zu Ende.


Der in Ausſicht ſtehende Gewinn war indeſſen ſo ver-
lockend, daß, als Guzman Präſident geworden und damit Ruhe
[342]Werner
geſchaffen war, ſich abermals eine engliſche Geſellſchaft zur Be-
arbeitung der Kupferminen bildete, und unter den günſtigeren
Umſtänden iſt ſeit einigen Jahren die Bahn fertig geworden
und das Bergwerk in blühendem Betriebe.


Auch die Gold- und Silberminen, nach denen ſeit der
Entdeckung Venezuela’s ſo viele Abenteurer ſuchten und denen
die Statthalter der Welſer den Beſitz des Landes opferten, ſind
kürzlich am Orinoko aufgefunden worden und haben ſich in einer
Weiſe ergiebig gezeigt, die ſelbſt wol die kühnſten Hoffnungen
der Unternehmer übertroffen hat. Im letzten Jahre ſind den
Actionären einer Mine auf jede Actie von 1000 $ nicht weniger
als 16,000 $ Dividende gezahlt worden. Hier iſt alſo der
Speculation noch ein weites Feld geöffnet und es iſt zu hoffen,
daß auch deutſches Capital ſich jetzt daran betheiligen wird, da
durch Guzman eine Garantie friedlicher Zuſtände geboten iſt.


Wir blieben faſt vierzehn Tage in dem ſchönen Puerto
Cabello, wo wir auch den Weihnachtsabend feierten und wo die
deutſche Colonie alles aufbot, uns den Aufenthalt ſo angenehm
wie möglich zu machen; dann gingen wir nach der nahe gelegenen
Inſel Curaçao, um unſere Kohlenvorräthe zu ergänzen. Unſere
Reiſe dahin dauerte 24 Stunden und wir verweilten dort auch
nur wenige Tage. Bekanntlich gehört Curaçao den Holländern,
aber es machte auf uns den Eindruck, als wären ſie es gern
los, da die Inſel nichts einbringt, vielmehr einen jährlichen
Zuſchuß von 300,000 Mark erfordert. Curaçao iſt felſig und
mit einer ſo geringen Humusſchicht bedeckt, daß nur ſehr wenig
Bäume fortkommen und die Ernten den Bedarf kaum decken.
Da es keine Flüſſe und nur ſehr wenig Quellen giebt, ſo ſind
die 20,000 Bewohner der Inſel auf das in der Regenzeit in
Ciſternen angeſammelte Waſſer angewieſen. Von jenen Ein-
wohnern ſind faſt nur die Beamten und das Militär Holländer;
ein Viertel der Zahl bilden aus Portugal eingewanderte Juden,
die zur Zeit der Inquiſition hier Schutz fanden; der Reſt
[343]Nach Weſtindien und dem Mittelmeer
beſteht aus Negern und Miſchlingen. Deutſche trafen wir
nur zwei.


Die einzige und Hauptſtadt der Inſel, Willemſtadt, iſt in
europäiſchem Style erbaut. Sie macht einen freundlichen ſauberen
Eindruck und liegt in der Umgebung des Hafens. Letzterer
wird aus einem eine halbe Quadratmeile großen Baſſin, dem
Schottegat, und einem 1500 Meter langen Canal gebildet, der
das Baſſin mit dem Meere verbindet. Dieſer Hafen iſt voll-
kommen ſicher von der Natur geſchaffen, und hat ſo viel Tiefe,
daß die größten Schiffe darin ankern können.


In Curaçao iſt das commercielle Leben ſehr rege und
namentlich die Handelsverbindung mit Venezuela bedeutend.
Es herrſcht großer Wohlſtand auf der Inſel; das Haupt-
geſchäft iſt in den Händen der Juden, ſoll jedoch nicht immer
ganz reinlicher Natur ſein. Der auf allen Einfuhrartikeln in
Mittelamerika laſtende Zoll von 30 Procent reizt zum Schmuggel
und dieſer ſteht deshalb in hoher Blüthe. Auch noch ein anderes
unmoraliſches Geſchäft war bis vor kurzer Zeit in lebhaf-
tem Schwange. Geldmänner Curaçao’s verſorgten diejenigen,
welche in den mittelamerikaniſchen Republiken eine der chroniſchen
Revolutionen machen wollten, mit den nöthigen Baarmitteln und
mit Waffen. Gelangte dann der Betreffende auf den Präſi-
dentenſtuhl, ſo zahlte er die Vorſchüſſe mit hohen Zinſen zurück
und beide Contrahenten ſtanden ſich gut dabei. Mißlang die
Sache, ſo war allerdings das Geld verloren und mußte bei
nächſter Gelegenheit doppelt wieder eingebracht werden. An
ſolchen Gelegenheiten mangelte es aber bei der großen Zahl von
Prätendenten — Venezuela zählt allein 600 Generäle in parti-
bus
— keineswegs.


Das Klima der Inſel kann als ein geſundes bezeichnet
werden und der ungehindert über ſie hinſtreifende Paſſatwind
mildert die Hitze; ebenſo iſt ſie von Erdbeben und Orkanen frei.
Mit dieſen klimatiſchen Vorzügen, mit ihrer die Küſte von Vene-
[344]Werner
zuela beherrſchenden Lage, dem ſicheren und leicht vertheidigungs-
fähigen Hafen und bei den großen Handelsintereſſen, welche
Deutſchland gerade in dieſer Gegend hat, wäre die Acquiſition
von Curaçao für uns höchſt empfehlenswerth und nach alle dem,
was man damals darüber hörte, würden ſich derſelben keine
zu großen Schwierigkeiten entgegenſtellen.


Wenn auch eine eigentliche Colonialpolitik ſich bis jetzt in
unſeren maßgebenden Kreiſen noch keiner beſonderen Sympathien
zu erfreuen ſcheint, ſo hat man es andererſeits doch für nöthig
befunden, im ſtillen Ocean durch Erwerbung von Kohlenſtationen
unſeren dortigen Handelsbeziehungen einen Rückhalt zu geben.
Das iſt gewiß nur zu loben, denn Gründung von Colonien hat
in der Jetztzeit, wo die beſten Länder vergeben ſind, immer Be-
denkliches und der Erfolg iſt zweifelhaft. Es kann leicht eine
Schraube ohne Ende werden, dem Lande bedeutend mehr koſten,
als einbringen und allerlei unliebſame Conſequenzen nach ſich
ziehen. Laſſen ſich deshalb dieſelben Zwecke, d. h. Förderung
und Erweiterung unſerer Handelsintereſſen durch die Erwerbung
einer Flottenſtation, erreichen, ſo iſt letztere einer Colonie bei
weitem vorzuziehen. Und das würde bei Curaçao der Fall ſein.
Mit dem Beſitze der Inſel würden unſere Beziehungen zu
Mittelamerika einen ganz bedeutenden Aufſchwung nehmen,
namentlich aber zu Venezuela. Es könnte nicht ausbleiben, daß
Deutſchlands Einfluß auf letzteres Land mächtig wüchſe, wenn
es ſein ſo naher Nachbar würde, und unter ſolchen Verhältniſſen
müßte auch deutſche Einwanderung unter dem Schutze von Ver-
trägen ihre Rechnung finden. Der Ueberſchuß unſerer Bevölkerung,
den wir nach Nordamerika abgegeben haben und noch abgeben,
iſt für Deutſchland ſo gut wie verloren, wenigſtens hat unſer
Handel und unſere Induſtrie nur geringen Nutzen von dieſen
Auswanderern, die ſich ihrer neuen Heimath ſehr bald aſſimiliren.
Das iſt jedoch anders in Staaten mit romaniſcher Bevölkerung;
dort bewahrt der Deutſche ſeine Nationalität und den Zu-
[345]Nach Weſtindien und dem Mittelmeer
ſammenhang mit dem alten Vaterlande viel länger, und die
Ausſicht, daß er noch in gewiſſer Beziehung auf deſſen Schutz
und Unterſtützung rechnen darf, wird dieſen Zuſammenhang nur
feſtigen und erſprießlich auf Handel und Induſtrie zurückwirken.
Auf dieſe Weiſe können wir Colonien gründen, die uns materiell
nichts koſten, aber viel einbringen, und mit einer ſolchen Colo-
nialpolitik darf ſich auch unſer vorſichtigſter Staatsmann ein-
verſtanden erklären. Sie ſchützt uns vor bitteren Erfahrungen,
wie ſie die Franzoſen in Algier und Cochinchina gemacht, und
bewahrt uns vor überſeeiſchen Conflicten.


Am 4. Januar verließen wir Curaçao, wo wir ſowol bei
den Holländern als den übrigen Einwohnern der höheren Claſſen
die liebenswürdigſte und gaſtfreieſte Aufnahme gefunden hatten,
um Sabanilla, den bedeutendſten Hafen der Vereinigten Staaten
von Columbia — ehemals Republik Neu-Granada — anzulaufen.
Der günſtige Paſſatwind veranlaßte uns, Kohlen zu ſparen und
unter Segel dorthin zu gehen, was vier Tage in Anſpruch nahm.
Der ſchneebedeckte Gipfel der bis 5000 Meter aufſteigenden
Sierra Nevada kündete uns ſchon auf viele Meilen die Nähe
unſeres Beſtimmungsortes, der ſelbſt jedoch uns nicht ſonderlich
entzückte. Sabanilla iſt ein elendes Fiſcherdorf von wenigen
Hundert Einwohnern; man liegt faſt eine Meile von ihm ent-
fernt vor Anker. Ein Arm des Magdalenenſtromes, der bei
dem Orte mündet, führt ſo viel Schlamm mit ſich, daß er das
Fahrwaſſer auf eine ſolch’ bedeutende Strecke verflacht hat. Der
Stapelplatz des Hafens iſt das vier Meilen weiter hinauf am
Magdalenenſtrom liegende und mit Sabanilla durch eine Eiſen-
bahn verbundene Barranquilla, eine Stadt von 16—18,000
Einwohnern und Sitz des Gouverneurs der Provinz.


Dieſe Eiſenbahn iſt Eigenthum von Bremer Kaufleuten,
wie denn überhaupt die Deutſchen in Columbien ebenſo wie in
Venezuela den Haupthandel in Händen haben, obwol hier ihre
Zahl viel geringer iſt als dort. Die Bahn iſt ſeit 1871 in
[346]Werner
Betrieb und die Landesregierung hat dafür eine Zinsgarantie
übernommen. Verſchiedene Flußdampfer, von denen drei eben-
falls deutſches Eigenthum ſind und unter deutſcher Flagge
fahren, vermitteln auf dem Magdalenenſtrom den Verkehr mit
dem Innern; ſie gehen bis Honda, am Fuße der fruchtbaren
Hochebenen hinauf, auf denen die Hauptſtadt Bogota erbaut iſt
und die von zwei Drittheilen der drei Millionen betragenden
Einwohner Columbien’s bevölkert werden.


Baranquilla liegt in einer wenig Abwechſelung gewähren-
den gewellten Ebene und bietet weder von außen noch innen
einen bemerkenswerthen oder angenehmen Anblick. Mit Aus-
nahme der Wohnungen der Fremden ſind die Häuſer ſehr primi-
tiv und verdienen zum großen Theil nur die Bezeichnung von
Hütten. Die ſehr tief liegenden Straßen ſind nicht gepflaſtert;
bei trockenem Wetter watet man in knietiefem Sande, bei naſſem
im Waſſer. Aus dem Eindrucke, den die Erſcheinung der
Stadt auf den Fremden macht, ſchließt er mit Recht, daß er
es in Columbien in der großen Maſſe ungefähr mit derſelben
Sorte von Menſchen zu thun hat, wie in Venezuela: mit auf
niedriger Culturſtufe ſtehenden, verkommenen und faulen Creolen
und Miſchlingen, welche letztere jedoch noch häßlicher ſind, als
in dem Nachbarſtaate, da hier das Indianer- dort aber das
Negerblut vorwaltet. Man ſagt den Columbiern zum Lobe
nach, ſie ſeien weniger depravirt und friedfertiger als die Vene-
zuelaner; ich laſſe das dahingeſtellt, jedenfalls aber wetteifern
ſie mit ihnen in Trägheit. „Nur nicht arbeiten“ iſt ihre Parole,
und deshalb können ſich dieſe Länder durch ihre eigene Bevölke-
rung nicht heben, ſo lange dieſe ſelbſt nicht geiſtig gehoben wird.
Bis dahin wird bei aller Fruchtbarkeit des Bodens und dem
Reichthum an Mineralien, in denen Columbien mit Venezuela
wetteifert, Viehzüchterei die Hauptbeſchäftigung bleiben, weil ſie
die geringen Bedürfniſſe der Bewohner reichlich deckt, den Kopf
gar nicht und die Muskeln nur wenig anſtrengt. Wie ſauer
[347]Nach Weſtindien und dem Mittelmeer
dem gewöhnlichen Columbier die Arbeit ankommen muß, geht
aus den Lohnſätzen hervor, die für den Tagarbeiter vier bis
fünf Mark betragen. In europäiſchen Ländern beſteht ein ziem-
lich feſtes Verhältniß zwiſchen dem Taglohn und dem täg-
lichen Bedarf des Arbeiters und ſeiner Familie, und beide
decken ſich ungefähr. Dort iſt das aber keineswegs der Fall,
weil das Volk nur ein Minimum von Bedürfniſſen hat. Man
trete in die Wohnung eines ſolchen Taglöhners, die zunächſt
von ihm ſelbſt gebaut wird und nichts koſtet, als allerdings ein
paar Tage Arbeit. Das Holzgerüſt holt er ſich aus den
Wäldern, die Matten, mit denen er Dach und Seiten deckt,
flechten Frau und Kinder. Damit iſt die Wohnungsfrage er-
ledigt, die im Leben unſeres Arbeiters eine bedeutende Rolle
ſpielt. Betten kennt der columbiſche Taglöhner nicht; eine auf
dem Fußboden ausgebreitete Matte erſetzt ſie. Die Kleidung
beſteht aus einigen Lumpen für die Erwachſenen und aus
Schmutz für die ſonſt nackten Kinder. An Hausrath genügt
ein Topf zum Kochen der Speiſen, eine Kalebaſſe und ein Hack-
meſſer zum Hauen des für die Feuerung nöthigen Holzes.
Einige ſüße Kartoffeln, dann und wann auch etwas Fleiſchab-
fall und wildwachſende oder wenigſtens ſehr billige Bananen
und andere Früchte — das ſind die Bedürfniſſe der niederen
Volksclaſſen. Man ſieht, daß wenige Pfennige dafür ausreichen
und daß es den Fremden ſchwer werden muß, ſtändige Arbeiter
zu bekommen, weil der Lohn einer Woche genügt, um Monate
lang alle ihre Wünſche zu befriedigen. Im Innern, auf den
Hochebenen von Bogota, ſoll die Arbeitsſcheu nicht ganz ſo groß
ſein wie in den heißeren Strichen des Flachlandes und der Küſte;
von daher kommen die Hauptausfuhrartikel: Tabak, Kaffee,
Chinarinde, Gelbholz, Indigo, Elfenbeinnüſſe und Baumwolle.
Die Cultur der letzteren iſt noch nicht lange in Columbia ein-
geführt, rentirt aber, da Boden und Klima ſich gut dafür
eignen. Da Baumwollenpflanzungen verhältnißmäßig wenig
[348]Werner
Mühe machen, ſo haben die Fremden und namentlich die Deut-
ſchen ſolche auch in der Umgegend von Barranquilla angelegt. Nach
der Ernte ſchneidet man die Stauden ab; die neu aufſprießen-
den ſind im nächſten Jahre ertragsfähig — das koſtet nicht
viel Arbeit und iſt außerdem ſehr einträglich, wenn das Unglück
es nicht gerade will, daß es in die Blüthen regnet.


Das Klima des Landes iſt geſund, namentlich auf den
Hochebenen im Innern. Auch dieſe würden einen ungemein
günſtigen Punkt für deutſche Einwanderung bieten, ſobald die
ſchon lange projectirte Eiſenbahn zwiſchen der Hauptſtadt Bogota
und Honda erbaut ſein wird, deren Herſtellung bis jetzt noch
immer an Geldmangel ſcheitert. Die Bahn Sabanilla-Barran-
quilla erforderte nicht ſo viel Capital; ſie iſt nur vier Meilen
lang, führt durch ziemlich ebenes Land, die Baukoſten haben
nicht mehr als 375,000 Mark pro Meile betragen und die
Aufbringung der ganzen Bauſumme war deshalb nicht ſo ſchwierig.
Die Strecke Bogota-Honda hat jedoch die dreifache Länge, die
Terrainſchwierigkeiten ſind bedeutend größer, man wird die Meile
nicht unter einer halben Million Mark herſtellen können und
die Beſchaffung des Capitals iſt deshalb nicht ſo leicht. Im
Lande ſelbſt iſt kein Gedanke daran, dazu iſt es zu arm und
man erwartet den Bau mit deutſchem Gelde ausgeführt zu
ſehen, während die Regierung wie bei der andern Bahn eine
Zinsgarantie zuſichert. Jedenfalls wäre es das Natürlichſte, da
Deutſchland am meiſten dabei intereſſirt iſt und es den bei
weitem größten Antheil am Handel hat.


Nach Herſtellung der Bahn würde dann auch die Zeit ge-
kommen ſein für deutſche Anſiedlung auf den Hochebenen —
denn nur dort eignet ſich das Klima dazu. Ohne Bahn ſind
die gewonnenen Producte nicht zu verwerthen, da die Speſen
des Landtransportes bis zum Verſchiffungsorte Honda die
Waare zu ſehr vertheuern und jede Maulthierladung (250 Pfd.)
mit zehn bis zwölf Thalern belaſten. Vorläufig iſt deshalb
[349]Nach Weſtindien und dem Mittelmeer
auch hier von Einwanderung entſchieden abzurathen, obwol die
politiſchen Zuſtände des Landes viel ruhiger ſind als in Vene-
zuela und die Deutſchen bei der Regierung wie bei dem Volke
in Anſehen und Achtung ſtehen. Columbien hat eine große
Zukunft und birgt nach jeder Richtung unerſchöpflichen Reich-
thum an Producten. Es bietet ein unbegrenztes Feld für
deutſchen Unternehmungsgeiſt und eine Coloniſation in ähnlichem
Sinne, wie ſie oben für Venezuela empfohlen, würde für beide
Theile ſegensreich werden. Der Regierung iſt daran gelegen,
das Land zu heben und ſie ſetzt den Hebel an der rechten Stelle
an. Sie gründet Unterrichtsanſtalten und ruft dazu deutſche
Lehrkräfte ins Land; an der Spitze des neuerrichteten Schul-
lehrerſeminars in Bogota ſtand bei unſerer Anweſenheit ein
proteſtantiſcher Deutſcher, ein Beweis, daß Toleranz im
weiteſten Sinne geübt wird. Es kann deshalb nicht ſchwer
werden, in engere Beziehungen zu Columbien zu treten, dem
Lande deutſche Intelligenz, Arbeitskraft und Capital zur Hebung
ſeiner reichen Schätze zuzuführen und dieſelben zum Nutzen beider
Staaten auszubeuten. Curaçao als deutſche Flottenſtation würde
auch in dieſem Betracht von unberechenbarer Wichtigkeit ſein und
die vielfach ventilirte Frage: „Bedarf Deutſchland Colonien?“
auf dieſe Weiſe eine allſeitig befriedigende und willkommene
Löſung finden.


Der Magdalenenſtrom, etwa von der Größe unſeres Rheins
und die Hauptverkehrsader des Landes, galt bis vor einigen
Jahren in ſeiner Mündung für größere Schiffe als unpaſſirbar.
Dieſer Irrthum iſt 1875 durch die deutſche Dampfcorvette
„Auguſta“ berichtigt, die mit ſechzehn Fuß Tiefgang bis Barran-
quilla hinaufdampfte, eine Entdeckung, die dem Handel ſehr zu
Gute kommen muß, da ſie von Barranquilla aus eine directe
Verſchiffung der den Strom herabkommenden Güter ermöglicht
und die jetzige Umladung auf die Bahn unnöthig macht. In
welcher Weiſe die Verkehrserleichterung durch jene kurze Strecke
[350]Werner
Eiſenbahn dem Lande ſelbſt Vortheile bringt, geht deutlich genug
aus dem Umſtande hervor, daß die Zolleinnahmen Barranquilla’s
ſich nach zweijährigem Beſtehen der Bahn verzwölffacht haben;
man kann daraus abnehmen, welcher Steigerung der Handel mit
Columbien fähig iſt. Bis jetzt iſt letzterer zum größten Theile
in den Händen der Deutſchen, die Engländer erklären offen,
daß ſie unbegreiflicher Weiſe in jenen Ländern nicht mit den
Deutſchen concurriren können — ſorgen wir dafür, daß wir
auch in Zukunft die gewonnene Poſition halten, befeſtigen und
erweitern.


Wir blieben zehn Tage vor Sabanilla und benutzten die
Zeit, um durch Vermeſſungen die ziemlich falſchen Karten richtig
zu ſtellen, ſowie Land und Leute ſo viel wie möglich kennen zu
lernen. Durch Austauſch von Beſuchen und durch geſellige Zu-
ſammenkünfte an Land und an Bord kamen wir auch mit den
höheren Claſſen in Berührung. Sie waren ſehr freundlich und
zuvorkommend gegen uns, aber mein allgemeines Urtheil über
die Bevölkerung fand ich auch hier beſtätigt; Bildung und
Intelligenz waren mit ſehr wenigen Ausnahmen ungewöhnlich
karg bemeſſen. Jedenfalls wird es trotz der Anſtrengungen der
Regierung eine unabſehbare Zeit dauern, ehe das Land von
ſeinen Bewohnern aus einen Aufſchwung erwarten darf und der
Impuls dazu muß wol überhaupt von außen kommen.


Mit unſeren liebenswürdigen deutſchen Gaſtfreunden
machten wir zu Pferde mancherlei Touren in die Umgegend,
doch bietet dieſelbe dem Auge nicht viel Reiz oder Ab-
wechſelung, beſonders wenn man aus dem ſchönen Puerto Ca-
bello kommt. Mit Ausnahme der in weiter Entfernung auf-
ſteigenden Sierra Nevada hat man nur eine endloſe leicht
gewellte, wenig cultivirte Alluvialebene vor ſich, die hier und
dort mit Mimoſen und niedrigem Laubholz beſtanden iſt, aber
größerer Waldſtrecken entbehrt.


Unſer nächſtes Ziel war Hayti. Im Jahre 1872 hatte
[351]Nach Weſtindien und dem Mittelmeer
dort wegen eines gegen einen deutſchen Kaufmann in Jacmel
verübten Gewaltactes eine Differenz ſtattgefunden. Deutſcher-
ſeits war eine Entſchädigung gefordert, doch da die Regierung
von Hayti darauf einzugehen nicht für gut befand, zu Repreſſalien
gegriffen worden — die einzig richtige Art, wie man mit dergleichen
Völkerſchaften umgehen muß. Der damalige Kapitän zur See
Batſch, welcher den Befehl über die in den weſtindiſchen Ge-
wäſſern ſtationirten gedeckten Corvetten „Vineta“ und „Gazelle“
führte, wurde beauftragt, ein Ultimatum zu ſtellen. Als Hayti
ſich ablehnend verhielt, nahm Batſch im Hafen von Port au
Prince die beiden Dampfcorvetten in Beſchlag, welche die See-
ſtreitkräfte der Republik bildeten. Die Beſatzungen leiſteten
keinen Widerſtand und die Sache verlief unblutig, machte aber
den erhofften Eindruck, denn ſchon am andern Tage wurde die
bis dahin verweigerte Entſchädigungsſumme gezahlt und Hayti
erhielt ſeine Kriegsmarine zurück.


Der Präſident glaubte Grund zu haben, ſich über das
Verfahren des Kapitän Batſch beſchweren zu können, und ſchickte
zu dieſem Zwecke einen ſchwarzen General als außerordentlichen
Geſandten nach Berlin. Die Miſſion war jedoch nicht von
dem erwarteten Erfolg gekrönt geweſen und das Verhältniß
zwiſchen den beiden Ländern noch ein geſpanntes geblieben.
Unſererſeits wurde deshalb von einem längeren Aufenthalte in
Port an Prince abgeſehen, um jede officielle Begegnung auszu-
ſchließen; wir hielten uns nur anderthalb Tage dort auf, um
unſer Trinkwaſſer zu ergänzen, das wir uns ſelbſt aus einem
Flüßchen holten. Natürlich wurden die internationalen Förm-
lichkeiten trotzdem nicht außer Augen geſetzt und die üblichen
Salute von 21 Schuß ausgetauſcht.


Eine Anweſenheit von kaum 48 Stunden in einem fremden
Lande kann einem Reiſenden natürlich keine Berechtigung geben,
irgendwie ein erſchöpfendes Urtheil über daſſelbe zu fällen.
Selbſt der ſchärfſte Beobachter wird ſich darauf beſchränken
[352]Werner
müſſen, die empfangenen Eindrücke nur oberflächlich zu
ſkizziren, indeſſen gaben uns beſondere Verhältniſſe Gelegen-
heit, nach manchen Richtungen hin doch ein getreues Spiegel-
bild von den inneren Zuſtänden der ſchwarzen Republik
zu gewinnen. Der Seeofficier hat vor gewöhnlichen Reiſenden
meiſtens voraus, daß er keiner zeitraubenden Empfehlungen
und Einführungen an fremden Orten bedarf, und es gehört
nicht zu den geringſten Annehmlichkeiten ſeines Standes, daß
man ihn überall in den höheren Kreiſen der Geſellſchaft will-
kommen heißt und ihm unaufgefordert entgegenträgt, was andere
Reiſende meiſtens mühſam aufſuchen und erfragen müſſen.
Will deshalb ein Seeofficier über Land und Leute, wenigſtens
in großen Zügen, unterrichtet ſein, ſo reicht dazu auch ſchon
eine verhältnißmäßig kurze Zeit aus. Die verſchiedenen Con-
ſuln und fremden Kaufleute ſind faſt immer ſehr genaue Kenner
der Landesverhältniſſe, und da man mit ihnen zunächſt in Be-
rührung kommt, ſo kann man ſich leicht orientiren und aus den
betreffenden Unterhaltungen objectiv richtige Schlüſſe ziehen.
Dies kam mir auch hier zu Gute, außerdem ein vom Zufall
herbeigeführtes längeres Zuſammenſein mit Vertretern der höch-
ſten Kreiſe der ſouveränen Republik.


Vor längeren Jahren war ich in Monrovia, der Haupt-
ſtadt der von amerikaniſchen Philantropen gegründeten Neger-
republik Liberia geweſen. Es intereſſirte mich deshalb, Ver-
gleiche zu ziehen, aber alles, was ich hier ſah und hörte,
beſtätigte nur das dort ſchon gewonnene Urtheil, daß ſelbſt-
ſtändige ſogenannte civiliſirte Negerſtaaten nur ein künſtliches
Daſein friſten, ſo lange ſie ſich auf Weiße ſtützen oder an ſie
anlehnen können, daß ſie aber moraliſch und materiell zurück-
gehen und allmälig der alten Barbarei und Uncultur wieder
verfallen, ſobald man ſie ſich ſelbſt überläßt. Mag man ſagen,
was man will, der Neger ſteht nun einmal tief unter dem
Weißen und die Menſchenfreunde, welche ihn mit uns gleich
[353]Nach Weſtindien und dem Mittelmeer
ſtellen wollen, befinden ſich in einem Irrthum. Die Civiliſation
der Neger wächſt nicht von innen heraus, ſondern ſitzt nur wie
ein Firniß auf ihnen. Wird der letztere nicht wiederholt neu
aufgetragen, ſo bekommt er klaffende Riſſe, aus denen die ur-
ſprüngliche Barbarei hervorquillt.


Der Schwarze ahmt nach; er ſucht in der Form das
Weſen und wird in den meiſten Fällen dabei zur Carricatur,
aber geiſtig etwas Selbſtändiges zu ſchaffen, das iſt ihm im
allgemeinen verſagt. Die Richtigkeit dieſer Behauptung lehrt
ein Blick auf die Geſchichte. Haben jemals Schwarze in die-
ſelbe activ eingegriffen und irgend etwas gethan, was dem Vor-
wärtsſchreiten der Welt und der Civiliſation zu Gute gekommen
wäre? Es muß ihnen alſo doch wohl die Fähigkeit dazu ab-
gehen und ſie bilden im Schöpfungsplane nur Uebergangsfor-
men, wie alle farbigen Racen, welche die Culturſtufe der Weißen
nicht zu erreichen vermögen und deshalb ihnen Platz machen
müſſen, wo dieſe erſcheinen.


Hayti iſt die ſchönſte und fruchtbarſte der großen An-
tillen. Die ſie durchziehenden Bergketten ſind bis zu den höch-
ſten Gipfeln culturfähig; alle Erzeugniſſe der Tropen gedeihen
in üppigſter Weiſe; der Mineralreichthum iſt ſehr groß, überall
findet man ſchöne und ſichere Häfen und Buchten, welche die
Schiffahrt begünſtigen, — eine einigermaßen intelligente und
thätige freie Bevölkerung müßte deshalb längſt die Inſel zu
einem blühenden Emporium gemacht haben; aber was iſt ſie
unter den Händen der Schwarzen ſeit Anfang dieſes Jahr-
hunderts geworden? Sie bringt nicht mehr die Hälfte von dem
hervor, was ſie unter der Herrſchaft der Weißen mit kaum ein
Viertel ihrer jetzigen Bevölkerungszahl ausführte. Große Strecken
des früher ergiebigſten Bodens liegen brach, die reichen Berg-
werke werden gar nicht mehr bearbeitet und eigene Schiffahrt
exiſtirt nur in kümmerlichem Maße. Dagegen wird der prachtvolle
Waldbeſtand auf das Unverſtändigſte ruinirt, um das Blauholz,
R. Werner, Erinnerungen. 23
[354]Werner
Mahagoni und andere werthvolle Holzarten zu Gelde zu machen,
weil mit einer ſolchen Induſtrie die wenigſte Arbeit verknüpft
iſt. An Wiederpflanzen denkt natürlich Niemand und ſo geht
die prachtvolle Inſel langſam aber ſicher der Verödung durch
Sonnenbrand entgegen. Gedanken an die Zukunft hat der
Neger nicht, er lebt nur der Gegenwart — après nous le
déluge.
Dagegen laufen Herzöge, Grafen und Fürſten mit
goldſtrotzenden Uniformen dutzendweiſe umher, wenn ſie auch
zerriſſene Stiefel haben oder barfuß ſind.


Ich machte mit einigen Officieren in der Vorſtadt von
Port au Prince, dort wo das Flüßchen mündet, aus dem wir
Waſſer holten, einen Spaziergang. Das Ufer war ſo flach,
daß wir mit dem eigenen Boote nicht landen konnten und wir
riefen deshalb einen Neger an, der mit einer Stange einen flach-
bodigen Kahn ſchob, um uns an das Ufer zu ſetzen. Er kam
auch ſofort unſerem Rufe nach und in der Meinung, er ſei ein
Bootsführer, machten wir wenig Umſtände mit ihm. Wie er-
ſtaunten wir jedoch, als er, nachdem er beim Landen einen
Vierteldollar für ſeine Bemühungen zurückgewieſen, ſich als
General z. D. Telletier vorſtellte und das mit einer Grandezza,
die uns imponirte, wenngleich ſeine Kleidung etwas defect, ſein
ſchwarzer Cylinderhut voller Beulen war und er keine Strümpfe
in den Schuhen trug. Nachdem auch wir uns ihm genannt,
lud er uns auf die verbindlichſte Weiſe ein, ihm die Ehre
unſeres Beſuchs zu ſchenken. Um unſeren unbewußten Mißgriff
gut zu machen, nahmen wir die Einladung an und folgten dem
neuen Gaſtfreunde. Er war ein junger Mann von dreißig
Jahren, für einen Neger von recht einnehmendem Aeußeren und
gutem Wuchs. Nur die wadenloſen Beine und die Plattfüße
ſtörten etwas.


Seine Behauſung war für einen General ziemlich beſchei-
den und hatte etwas hüttenartiges. In den Zimmern drückten
die Decken den Kopf und das vordere, durch welches wir paſſir-
[355]Nach Weſtindien und dem Mittelmeer
ten, verrieth, daß unſer Wirth neben ſeiner militäriſchen Stellung
noch eine Privatbeſchäftigung habe, nämlich einen kleinen Brannt-
weinſchank ſowie eine Handlung mit Schwefelhölzern, Thon-
pfeifen und geräucherten Würſten. Im Hinterzimmer wurden
wir „Madame“ vorgeſtellt und zwar in vollendetſter Form. Sie
war eine kleine niedliche Frau mit glattem Haar und ziemlich
weiß, alſo mindeſtens eine Tercerone. Sie trug ein weißes
peignoir, obwol es Nachmittag war; doch bei einem Vergleich
der Farben fanden wir den Teint von Madame reiner und
weißer als die Robe, unter deren mit der Zeit ausgefranzten
Rockkante bisweilen ein paar zerriſſene Schuhe verſchämt her-
vorſchauten.


Mit größter Liebenswürdigkeit wurden wir befragt, ob wir
ſchon geſpeiſt hätten und ob man uns nicht eine kleine Erfri-
ſchung anbieten dürfte. Als wir das letztere nicht ablehnen zu
dürfen glaubten, flüſterte Monsieur le général Madame etwas
zu und dieſe verſchwand in der Küche.


Es dauerte eine geraume Weile, ehe die Erfriſchung kam,
wol anderthalb Stunden, jedoch wurde uns die Zeit nicht lang.
Unſer Wirth unterhielt uns auf das Lebhafteſte und beant-
wortete unſere, ich darf wol ſagen öfter indiscreten Fragen
über die Landesverhältniſſe mit einer rührenden Offenheit, ob-
ſchon wir bisweilen Mühe hatten, ſeinem etwas eigenthümlichen
Franzöſiſch zu folgen. Die Unterhaltung wurde noch anziehen-
der, als zwei ältere würdige Herren, ein Onkel und ein Freund
des Hausherrn, erſchienen, erſterer ebenfalls General und in
voller Uniform, letzterer Oberrichter. Auch durch ſie bereicher-
ten wir unſere Kenntniſſe von Hayti bedeutend. Ihre eigenen
Fragen an uns verriethen jedoch mehr Wißbegierde als Wiſſen.


Endlich erſchien Madame, um uns mit einer graziöſen
Handbewegung zum Imbiß zu laden. Die beiden älteren
Herren ſowie unſere Wirthe nahmen ebenfalls Theil. Die
Speiſen waren ganz gut bereitet, und ſo ließen wir uns die ge-
23*
[356]Werner
bratenen Hühner ſchmecken. Ein eigenartiges Getränk, ziemlich
trübe und von Geſchmack wie ſäuerliche mit Rum verſetzte Limo-
nade, wollte mir weniger zuſagen und ich begnügte mich mit
Waſſer. Bei einem Gange in den Garten, wo uns unſer Gaſt-
freund ſeine Tafia-Deſtillationsanſtalt zeigen wollte, in der er den
Schnaps für ſeinen Laden ſelbſt fabricirte, hatte er uns durch die
Küche geführt. Dort hatte ich Madame beſchäftigt geſehen, zwiſchen
ihren Händchen irgend etwas Undefinirbares in einem irdenen
Topf zu quetſchen und da in demſelben Topfe das zweifelhafte
Getränk ſervirt wurde, war mir der Appetit vergangen. Den
ſchwarzen Herren ſchien es jedoch ſehr zu behagen und es machte
ſie allmälig ſo aufgeräumt und zutraulich, daß uns ganz ſchwül
dabei zu Muthe wurde und wir es für angezeigt hielten, an
den Aufbruch zu denken.


Die dunkele Geſellſchaft hatte uns jedoch ſo in ihr Herz
geſchloſſen, daß ſchwer fortzukommen war, und wir wurden auch
nicht eher losgelaſſen, bis in Ermangelung von Photographien
ein Austauſch von Viſitenkarten ſtattgefunden hatte, von ge-
druckten allerdings nur von unſerer Seite. Für ſich und ſeine
beiden Verwandten ſchnitt Herr Telletier die Karten erſt aus
grauem Papier und ſchrieb dann mit einer gelblich braunen
Flüſſigkeit die Namen darauf. Auf meine Frage nach der Natur
dieſer Flüſſigkeit, erklärte er mir, es ſei die landesübliche Tinte
und ſie werde aus Apfelſinen hergeſtellt, die an der Nordſeite
der Gebirge wüchſen. Während die am Südabhange reifenden
ihre volle Süßigkeit hätten, ſeien jene ſo ſauer, daß man ihren
Saft nur zur Bereitung von Tinte und Schuhwichſe benutzen
könne.


Endlich riſſen wir uns von der Geſellſchaft los; jedoch war
uns die ganze Gaſtfreundſchaft ſo eigenthümlich vorgekommen,
daß ich es beim Fortgange noch einmal riskirte, nach unſerer
Schuld zu fragen. Diesmal erhielt ich keine Zurückweiſung
wie bei dem Boote. „Sechs Dollars,“ lautete die prompte
[357]Nach Weſtindien und dem Mittelmeer
Antwort des Generals, und er nahm die 1 ½ £ mit eleganter
[Verbeugung] entgegen. Wir waren unſerer drei, hatten jeder ein
halbes Küken mit Bratkartoffeln, etwas Gemüſe und ein Stück-
chen Käſe nebſt dem zweifelhaften Getränke gehabt. Dafür
waren drei Thaler pro Perſon immerhin ein ganz anſtändiger
Preis, aber die mehrſtündige Unterhaltung mit zwei Generälen
und einem Oberrichter, der auch der Senatskammer angehörte,
hatte jedenfalls einen höheren Werth für uns gehabt. Sie be-
ſtätigte meine anderwärts und in den verſchiedenſten Ländern
gewonnenen Anſichten über die Civiliſation der Neger und hatte
uns einen klaren Blick in die heilloſe Mißwirthſchaft auf Hayti
thun laſſen. Man kann darauf wetten, daß die Inſel inner-
halb weniger Jahrzehnte irgend einen Protector gefunden haben
wird, der aller Wahrſcheinlichkeit Nordamerika heißt. Schade,
daß Deutſchland wieder leer dabei ausgehen wird.


Als wir gegen Abend an Bord zurückfuhren, herrſchte
auf der ungefähr tauſend Schritte von unſeren Schiffen zu Anker
liegenden haytiſchen „Flotte“ reges Leben. Wir ſahen, daß
ſämmtliche Kanonen auf dem Oberdeck der Corvetten nach hinten
zu zuſammengefahren und auf den „Friedrich Karl“ gerichtet
wurden. Man ſchien offenbar einen neuen Handſtreich von
deutſcher Seite zu fürchten und ſich dagegen vorzubereiten. Wir
bedauerten, den Herren auf den Schiffen durch unſere An-
weſenheit eine ſchlafloſe Nacht bereitet zu haben, ließen uns ſelbſt
aber durch die auf uns gerichteten Geſchütze in unſerer Nacht-
ruhe nicht ſtören.


Am andern Tage verließen wir Port au Prince, um uns
in die nahe gelegene Samana Bay zu begeben und dort acht
Tage lang Uebungen in der Dampftaktik und mit Torpedos
vorzunehmen, wozu ſich in dem ruhigen Waſſer der geſchützten
Bucht vortreffliche Gelegenheit bot, die auf der Weiterreiſe vor-
ausſichtlich nicht wiederkehrte und deshalb ausgenutzt werden
mußte. Dieſe Taktik umfaßt die verſchiedenen Evolutionen eines
[358]Werner
Geſchwaders oder einer aus verſchiedenen Geſchwadern beſtehen-
den Flotte zum Zwecke des Kampfes und bezieht ſich vorzugs-
weiſe auf Panzerſchiffe, welche jetzt überall die eigentlichen Schlacht-
ſchiffe bilden und in die Stelle der früheren Linienſchiffe getreten
ſind. Ungepanzerte Kriegsſchiffe kommen, wie die Verhältniſſe
augenblicklich liegen, für die eigentliche Seeſchlacht weniger in
Betracht. Sie werden allerdings noch in Einzelkämpfen auf-
treten und auch an größeren Gefechten Theil nehmen, können
aber zur eigentlichen Entſcheidung nur verhältnißmäßig wenig
beitragen, es ſei denn, daß der Offenſivtorpedo zu einer ver-
hältnißmäßig ſo vollkommenen Waffe ausgebildet werde, wie das
Geſchütz, was bis jetzt aber noch nicht der Fall iſt.


Seit Einführung der Panzerſchiffe in die Flotten hat die
Aufſtellung einer zweckmäßigen Taktik die hervorragendſten See-
officiere aller Nationen beſchäftigt, ohne daß ſich mit Beſtimmt-
heit behaupten ließe, die Frage ſei endgültig gelöſt. Faſt jede
Marine hat ihre eigene Taktik, die ſie für die beſte hält, aber
erſt ein größerer Seekrieg kann darüber entſcheiden, ob Theorie
und Praxis ſich gegenſeitig decken. Eine Flotte iſt nämlich in
dieſer Beziehung bedeutend ungünſtiger geſtellt als eine Land-
armee. Letztere kann auch im Frieden eine neue Taktik practiſch
probiren, erſtere aber nicht. Bei Panzerſchiffen ſpielt für jeden
Angriff der Sporn eine Hauptrolle, und bei der großen Ge-
fährlichkeit dieſer Waffe, für welche die Kataſtrophe bei Folke-
ſtone auch für Deutſchland ein ſo trauriges Beiſpiel geliefert,
iſt es unmöglich, eine Gegenpartei aufzuſtellen und gegen dieſelbe
zu agiren. Bei einem Rencontre von Landtruppen kommt es
nicht darauf an, ob Menſchen und Pferde oder auch Geſchütze
an einander gerathen, aber bei Panzerſchiffen kann ſchon die
leiſeſte Berührung furchtbare Conſequenzen nach ſich ziehen. Eine
Flotte darf deshalb immer nur gegen einen markirten Feind
operiren und man gewinnt im Frieden nie ein auch nur an-
nähernd richtiges Bild von einem Ernſtkampfe zur See.


[359]Nach Weſtindien und dem Mittelmeer

Außerdem iſt auch das Evolutioniren mit modernen Schiffen
bedeutend ſchwieriger als mit den alten. Bei den Segelſchiffen
hatte man für alle Bewegungen als beſtimmenden Factor den
Wind und beide Parteien konnten deshalb innerhalb gewiſſer
Grenzen immer ungefähr wiſſen, was der Gegner thun würde
oder konnte. Ebenſo war es für die Kämpfer die Hauptauf-
gabe, ihre Geſchütze zur Geltung zu bringen, und daraus ergab
ſich von ſelbſt für alle ſeefahrenden Nationen dieſelbe Schlacht-
formation, die ſogenannte Kiellinie, bei der die Schiffe ziemlich
geſchloſſen hintereinander ſegelten und ihre Stärke, die Breit-
ſeite, dem Feinde zukehrten. Die damalige Taktik gipfelte da-
her darin, die feindliche Linie quer zu durchbrechen und ihre
Schiffe, deren Vorder- und Hintertheil nur ſchwach armirt war,
mit der Maſſe der Geſchütze der Länge nach zu beſtreichen,
reſpective einem ſolchen Verſuche des Feindes entgegenzutreten.


Die Anwendung des Dampfes, die Erfindung oder viel-
mehr die Wiedereinführung des Spornes, denn ſchon Jahr-
hunderte vor unſerer Zeitrechnung waren die römiſchen, griechi-
ſchen und puniſchen Flotten damit ausgerüſtet, und die Panze-
rung haben dieſe einfachen Gefechtsverhältniſſe jedoch gänzlich
umgewandelt. Die Bewegungen der Schiffe ſind jetzt vom
Winde unabhängig und der Gegner kann ſie nicht mehr mit
irgend welcher Sicherheit vorher wiſſen. Die offenſive Haupt-
ſtärke liegt nicht mehr in der Breitſeite, ſondern im Bug, da
ein gelungener Stoß verderblicher wirken kann als ein ſtunden-
langer Geſchützkampf. Ebenſo iſt der Bug defenſiv ſtärker als
die Breitſeite. Die auf letztere rechtwinklig aufſchlagenden Ge-
ſchoſſe äußern ihre ganze Durchſchlagskraft; von vorn kommend
treffen ſie jedoch ſtets unter einem Winkel auf den Panzer und
ihre Durchſchlagskraft wird geringer, je ſpitzer dieſer Winkel iſt.
Daſſelbe gilt von dem ähnlich ſcharf wie der Bug gebauten
Hintertheil des Schiffes, dem Heck.


Es kommt aber jetzt auch darauf an, dem feind-
[360]Werner
lichen Sporn nie die ſo leicht verwundbare Flanke, ſondern ſtets
den eigenen Sporn zu zeigen. Die moderne Taktik beſteht des-
halb in dem Beſtreben der Schiffe, ſtets direct auf den Feind
loszudampfen, in nächſter Nähe die Artillerie zur Wirkung zu
bringen, einen Spornſtoß zu verſuchen und dabei an dem An-
griffspunkte in der Uebermacht zu ſein. Die Angriffsforma-
tionen müſſen demnach ſo gewählt werden, daß ſie neben größter
Compactheit und Beweglichkeit auch die volle Geſchützwirkung
zur Geltung kommen laſſen. Den Schwerpunkt bildet dabei das
Manövriren, und man darf die Behauptung aufſtellen, daß ſelbſt
eine numeriſch ſchwächere Partei den Sieg davon tragen wird,
ſobald ſie mit ihren Schiffen beſſer zu manövriren verſteht. Dies
Manövriren mit Panzerſchiffen erfordert aber eben ſo viel ſee-
männiſches Geſchick wie lange Uebung.


In früheren Zeiten, wo ſich Kriegsſchiffe im Allgemeinen
nur durch ihre Größe unterſchieden, ſonſt aber nach denſelben
Principien gebaut waren und die bewegende Kraft, der Wind,
ſo ziemlich dieſelbe Wirkung auf alle übte, konnte der Comman-
dant, welcher heute eine kleine Corvette befehligte, morgen eben-
ſo gut mit dem größten Linienſchiffe manövriren. Das hat ſich
jetzt geändert; die modernen Panzercoloſſe ſind einmal ſehr ver-
ſchieden conſtruirt, um den ſich reißend ſchnell folgenden Er-
findungen und Verbeſſerungen Rechnung zu tragen und ſodann
manövriren ſie durchaus nicht gleichmäßig. Es iſt bis jetzt der
Technik nicht gelungen, ihnen mit Sicherheit diejenigen nautiſchen
Eigenſchaften zu geben, wie ſie die früheren Segelſchiffe beſaßen.
Von zwei gleich großen Panzern ſteuert der eine gut, der andere
ſchlecht, der erſte gebraucht vier Minuten zur Beſchreibung eines
Kreiſes, der zweite die doppelte Zeit, jener macht ſchon bei ge-
ringem Seegange ſehr tiefe ſeitliche Schwankungen, dieſer nicht.
Die modernen Schlachtſchiffe ſind Individuen, von denen jedes
ſeine beſonderen Eigenſchaften beſitzt; dieſe wollen gekannt ſein und
eine ſolche Kenntniß läßt ſich nur durch ſehr lange Uebung erreichen.


[361]Nach Weſtindien und dem Mittelmeer

Auf den Segelſchiffen war der Commandant beim Manöv-
riren viel unabhängiger als jetzt. Er gab ſeine Befehle über
Segelſtellung und Ruderlage und controlirte deren richtige Aus-
führung ſelbſt und mit einem Blicke. Jetzt iſt er von der
Maſchine abhängig und die Controle um ſo viel ſchwieriger.
Man ſucht ſie zwar durch alle möglichen mechaniſchen Vorrich-
tungen, Hubzähler, Sprachrohre, Telegraphen der verſchiedenſten
Art, zu erleichtern, aber jedenfalls wird ſie durch ſolche Hülfs-
mittel nicht vereinfacht. Ueberhaupt ſind auf den Kriegsſchiffen
überall die complicirteſten Verhältniſſe an Stelle der früheren
einfachen getreten und deshalb erfordert ihre richtige Behand-
lung ganz bedeutend mehr Kenntniſſe, Geſchick und namentlich
mehr Uebung als ſonſt. Auch genügt es nicht, daß der Comman-
dant allein ſein Schiff, deſſen Eigenſchaften und Eigenthümlich-
keiten genau kennt, ſondern daſſelbe muß von den Officieren
und dem größten Theile der Beſatzung gefordert werden, wenn
man die volle Ausnutzung jener im Kampfe erwartet. Die ge-
nannten Perſonen müſſen dauernd, wenn möglich Jahre lang
auf demſelben Schiffe bleiben und vollkommen mit ihm ver-
traut ſein; nur dann wird letzteres in der Schlacht das leiſten,
was es vermag.


Die achttägigen Uebungen in der Samana Bay hatten
den Kohlenvorrath des Geſchwaders ſo ziemlich erſchöpft und
zu ſeiner Ergänzung liefen wir den nahen Hafen von Kingſton
auf Jamaika an.


Das waren einmal wieder ſchöne Tage, die wir auf der
prachtvollen Inſel verlebten. Der gaſtfreundliche Gouverneur
lud uns auf ſeine Villa in den Bergen ein und wir genoſſen
von dort auf Ausflügen in die blauen Gebirge, was die herr-
liche Tropennatur bot. Bis über 2000 Meter erheben ſich die
Höhenzüge im Innern, aber nicht ſo wild, zerriſſen und jäh
wie auf Madeira oder Hayti, ſondern bequem aufſteigend und
überall mit breiten und gut gehaltenen Wegen verſehen. Wie
[362]Werner
in Barbados nimmt man auf den erſten Blick wahr, daß Eng-
länder die Herren der Inſel ſind und dieſe ſich ſchon Jahr-
hunderte lang in ihrem Beſitze befindet. Jedes Thal, jeder
nicht zu ſteile Abhang iſt cultivirt, bis zu 2000 Meter Höhe
trifft man Kaffeepflanzungen und überall in der Ebene liegen
Zucker- und Rumfabriken zerſtreut. Seit Freilaſſung der Neger,
von denen es über 300,000 auf Jamaika giebt, iſt der Ertrag
um zwei Drittel zurückgegangen; er beginnt aber ſeit Einfüh-
rung chineſiſcher Kulis, die hier wirklich freie Arbeiter ſind,
ſich allmälig zu heben. Der Neger faullenzt und nur der Hunger
treibt ihn, ein paar Tage im Monat zu arbeiten, um bei ſeinen
geringen Bedürfniſſen für den gewonnenen Lohn während der
übrigen Zeit in Nichtsthun zu ſchwelgen, das für ihn das
höchſte irdiſche Glück einſchließt. Der Kuli dagegen hat wie
alle Chineſen den Ehrgeiz, ein wohlhabender Mann zu werden
und als ſolcher in ſeine Heimath zurückzukehren, an der er mit
großer Liebe hängt und die er nur verlaſſen hat, weil in dem
übervölkerten Lande kein Raum mehr für ihn war und ihm der
Hungertod in’s Antlitz ſtarrte. In dieſem Gedanken arbeitet er
unverdroſſen von früh bis ſpät, trotz Fieber und Sonnengluth,
lebt überaus ſparſam und ärmlich und ſucht nur Geld zurück-
zulegen. Leider gelingt es nur Wenigen, das Ziel zu erreichen,
denn der verführende Teufel, das Opium, ſtiehlt ihnen das
ſchwer Erworbene und zugleich die körperlichen und geiſtigen
Kräfte. Aber ſie arbeiten ſo lange es möglich iſt, und unter
ihren fleißigen Händen und bei dem geringen Lohn, den ſie be-
anſpruchen, kommen die engliſchen Pflanzungen und Fabriken in
die Höhe.


In den Tropen iſt für europäiſche Anforderungen nur der
chineſiſche Kuli der gegebene Arbeiter, weil er aus eigenem An-
triebe fleißig iſt und außer dem Neger reſp. Eingeborenen allein
den ſchädlichen klimatiſchen Einflüſſen widerſteht. Wo in Colo-
nien Sclaverei geherrſcht hat, iſt lediglich er im Stande, durch
[363]Nach Weſtindien und dem Mittelmeer
ſeine körperliche Leiſtungsfähigkeit die frühere Sclavenarbeit zu
erſetzen und dem wirthſchaftlichen Ruin oder wenigſtens dem
Rückgange vorzubeugen, den die Aufhebung der Sclaverei noth-
wendig nach ſich zieht. In Ländern jedoch, deren Klima dem
weißen Manne dauernde Arbeit im Freien oder in Fabriken ge-
ſtattet, iſt die Einführung von Chineſen in größeren Maſſen
keineswegs wünſchenswerth, weil die Weißen mit ihnen durchaus
nicht concurriren können.


Faßt man nur die materielle Seite in’s Auge, ſo mag es
willkommen ſein, wenn die Arbeitskraft und infolge davon die
Productionskoſten ſich ſo viel billiger ſtellen, aber es iſt auch
das ethiſche Moment zu berückſichtigen. Die Fortſchritte der
Civiliſation ſind darauf gerichtet, ſelbſt dem Niedrigſtgeborenen
ein menſchenwürdiges Daſein zu ſichern, und wenn daſſelbe ſich
auch nur in den beſcheidenſten Anſprüchen bewegt, ſo erfordert
es für den weißen Arbeiter eine gewiſſe Summe für den Lebens-
unterhalt, nach der ſich ſeine Lohnforderungen richten müſſen.
Unter ein gewiſſes Minimum darf der weiße Arbeiter nicht hin-
abgehen, ohne geiſtig und körperlich zu verkommen und mit dem,
was der Kuli für ſich gebraucht, iſt es jenem unmöglich zu exi-
ſtiren. Der Chineſe miethet ſich mit acht bis zehn Kameraden
einen Raum als Wohnung, deſſen Kubikinhalt kaum für einen
Europäer genügt, in dem die ganze ſchmutzige Geſellſchaft lebt,
ſpeiſt, ſchläft und in deſſen für Weiße unerträglicher Atmo-
ſphäre ſich die Ausdünſtungen ſo vieler Menſchen mit dem
widerlich ſüßen Geruche des Opiumrauches miſchen. Die Bett-
ſtellen ſind wegen des beſchränkten Platzes, drei bis vier über
einander, an den Wänden aus alten Brettern zuſammengeſchlagen
und ein paar Strohmatten bilden das Lager. Die Kleidung
deckt nur auf das Dürftigſte die Blößen, Mobiliar wird als
überflüßig betrachtet, und die Chineſen begnügen ſich mit einer
Nahrung, die bei uns ſelbſt der hungrige Bettler verſchmähen
würde und bei der er auch nicht leben könnte. Dazu tritt
[364]Werner
dann noch der Umſtand, daß der in’s Ausland gehende Kuli
alle ſeine mit unſeren Anſchauungen oft ſo wenig vereinbarenden
Lebensgewohnheiten mit ſich nimmt und ſtarr an ihnen feſthält,
daß er ſich unſeren Begriffen von Civiliſation gegenüber völlig
ablehnend verhält, moraliſch ſehr tief ſteht und den verabſcheuungs-
würdigſten Laſtern fröhnt. Eine Familie gründet er nicht und
knüpft überhaupt kein feſteres Band mit ſeinem neuen Wohnſitze,
weil er ſtets hofft, entweder lebend in die alte Heimath zurück-
zukehren oder wenigſtens ſeine Leiche dahin übergeführt zu ſehen.
Dieſe Vaterlandsliebe iſt zwar ein verſöhnender Zug in ſeinem
Character, aber auch ſo ziemlich der einzige und er genügt
nicht, um die ſonſtigen Schattenſeiten ſeiner aſiatiſchen Uncultur
in helleres Licht zu ſtellen.


Unter ſolchen Umſtänden iſt es daher im Intereſſe der
Civiliſation nur zu wünſchen, daß ſolche ihr ſelbſt unzugäng-
lichen Elemente aus denjenigen Ländern fern gehalten werden,
wo ſie die Exiſtenz von Weißen bedrohen und es iſt z. B. den
Californiern nicht zu verdenken, wenn ſie alle Mittel aufbieten,
um dem verheerenden Strome der ſich in ihr Land ergießenden
chineſiſchen Einwanderung einen Damm entgegenzuſetzen.


Jamaika hat ſchon ſeit 200 Jahren eine Repräſentativ-
verfaſſung, freier als das Mutterland. In mißverſtandener
Menſchenliebe hatte man auch den freigelaſſenen Sclaven die-
ſelben politiſchen Rechte ertheilt, die ſie natürlich nicht zu ge-
brauchen verſtanden, und der Rückſchlag blieb nicht aus. Un-
verſchämtes freches Auftreten gegen die Weißen und endlich
Aufruhr und Empörung gegen die Engländer im Jahre 1865
war die natürliche Folge. Der damalige Gouverneur Eyre er-
griff die richtigen energiſchen Maßregeln und unterdrückte ſcho-
nungslos die Revolution; er wurde zwar abberufen, weil
ſchwächliche Sentimentalität im Mutterlande ſein Verfahren als
grauſam mißbilligte, indeſſen ſah man doch ein, daß die bis-
[365]Nach Weſtindien und dem Mittelmeer
herige Freiheit der Neger gefährlich ſei und ſo wurden durch
eine Verfaſſungsänderung ihre politiſchen Rechte beſchränkt.


Jamaika erhält durch ſeine Vegetation einen ganz beſonde-
ren Character. Es bietet nicht wie die meiſten und namentlich
die von hohen Gebirgen durchzogenen Tropenländer das Bild
einer durch ihre Großartigkeit und Wildheit imponirenden Natur,
ſondern hinterläßt den Eindruck einer ruhigen friedlichen Land-
ſchaft. Dazu tragen vor allem drei Baumformen bei, welche
in den bewohnten oder zugänglichen Gegenden das Gros der
Bewaldung bilden und ihr den das Auge ſo angenehm berüh-
renden idylliſchen Reiz verleihen. Es ſind dies die Farren,
der Bambus und der Mangobaum. Die Farren ſind heimiſch
auf der Inſel; in Hunderten von Arten vertreten, bedecken ſie
theils als Geſträuch große Strecken der von einer Menge Rinn-
ſalen durchſtrömten Niederungen und der ſich leiſe abflachenden
Abhänge, theils krönen ſie als mächtige Bäume von acht bis
zehn Meter Höhe die Berggipfel in dichten Waldungen. Ihre
in lichtem Grün ſtrahlenden Blattwedel mit den verſchiedenſten
feingeſchnittenen Muſtern haben etwas ſo Sanftes und Weiches
in ihrer Erſcheinung, daß der Blick unwillkührlich von ihnen
angezogen wird und gern auf ihnen weilt. Einen ähnlichen
erfreuenden Anblick gewähren die Bambusgebüſche mit ihren
ſchlanken hohen Stämmen und feingefiederten Blättern, die ſich
mit leiſem Rauſchen im Winde wiegen und flüſternd aus ihrer
Heimath im fernen Oſten erzählen, aus der dieſer ebenſo ſchöne
wie nützliche Strauch oder Baum — wie man ihn nennen
will — hier eingeführt iſt. Er hat auf Jamaika alle Lebens-
bedingungen gefunden, um in üppigſter Fülle zu gedeihen und
es iſt eine wahre Pracht, ihn in ſeiner Entfaltung zu ſehen.


Der Mango, mit ſeiner breiten Krone, ſeinen glänzenden
dunkelgrünen Blättern und goldgelben Früchten, iſt ebenfalls
aus Oſtindien im erſten Viertel unſeres Jahrhunderts eingeführt,
hat ſich aber bereits bis zu den mittleren Lagen der Höhenzüge
[366]Werner
ſo verbreitet, daß er ganze Waldungen bildet und die übrigen
Bäume verdrängt.


Das weidende Vieh frißt ſehr gern ſeine auch dem Menſchen
wohlſchmeckenden Früchte, welche die Größe eines Apfels und
gelbes ſäuerliches Fleiſch haben und verpflanzt dadurch die Kerne,
die wie Kokosnüſſe auf der Erdoberfläche liegen, keimen und
ſich bewurzeln. Nur der mächtige Baumwollenbaum, der Rieſe
der Pflanzenwelt auf der Inſel, weicht nicht vor den fremden
Eindringlingen zurück. Mit einem Stamme von oft 15 bis
20 Fuß Durchmeſſer feſten Holzes, umgeben von dichtem Ge-
flechte Tauſender von Luftwurzeln, die einen undurchdringlichen
Wald für ſich bilden, und geſchmückt mit einer Krone, deren üppiges
Blätterdach einem ganzen Regimente Schatten gewähren kann,
ſteht der gewaltige Baum da. Er iſt der Ariſtokrat des Waldes,
blickt ſtolz auf die Plebejer herab und duldet nicht ihre Nähe,
denn faſt immer erblickt man ihn einſam auf freien Plätzen in
Ebene und Thal und ſeine gigantiſchen Formen, in denen ſich
die ſchöpferiſche Kraft der Tropennatur ſo großartig bekundet,
fordern das Staunen und die Bewunderung der Menſchen
heraus.


In den Thälern und Niederungen Jamaika’s iſt das Klima
nicht geſund und oft hat das gelbe Fieber die Bevölkerung deci-
mirt, doch auf den Bergen verweht der friſche Hauch des Paſſat-
windes die bösartigen Miasmen und ſchafft einen ewigen
Frühling. Alle Europäer ſuchen deshalb die Höhen; in den
Städten an der Küſte weilt von ihnen nur, wen Geſchäfte dort
feſſeln. Der Gouverneur wohnt 2000 Fuß hoch mit einer
prachtvollen Ausſicht auf einen Theil der Inſel und das Meer.
Ein in europäiſchem Style angelegter und ſchön gehaltener
Garten überraſchte uns durch einen prachtvollen Roſenflor; zwei
Tauſend Fuß höher an den Gipfeln der blauen Berge pflückten
wir Walderdbeeren, deren aromatiſche Früchte uns bei unſeren
Spazierritten erquickten und uns an die Heimath erinnerten.
[367]Nach Weſtindien und dem Mittelmeer
Wer mag ſie hierher verpflanzt haben, dem nordiſchen Wandrer
zur Freude und zum Labſal? Und wiederum höher, an Kaffee-
pflanzungen vorbei, trugen uns unſere Pferde in dichte Wal-
dungen von Baumfarren, welche die Bergſpitzen krönten. Aber
ein Nebel lagerte auf ihnen und wob einen Schleier, durch den
die Formen der Stämme und Wedel nur undeutlich und ge-
ſpenſtiſch ſchimmerten. Es zog uns wieder thalwärts, hinab
zum Sonnenlicht und zu dem Garten des Gouverneurs, wo die
Roſen dufteten und die Kolibris um die Blüthenkelche ſchwirrten
und in köſtlichem Farbenſpiel durch das Grün der Bäume blitzten.


Vier Tage verweilten wir oben in dem lieblichen Eden
und genoſſen nach Herzensluſt die Schönheit und Pracht, die
es ſelbſt und ſeine Umgebung boten. Die liebenswürdige Gaſt-
freundſchaft des Gouverneurs trug nicht wenig dazu bei, dieſen
Genuß zu erhöhen und das Scheiden wurde ſchwer. Wir
blieben noch einige Tage unten in nächſter Nähe der Stadt.
Auf einem Hügel hatte dort unſer Conſul ſeine Villa erbaut
und ſich ein reizendes deutſches Heim geſchaffen, in dem wir
fröhliche Stunden verbrachten. Er und die jungen Leute in
ſeinem Comptoir waren die einzigen Deutſchen in Kingſton; in
den übrigen Städten der Inſel exiſtiren gar keine, aber man
findet auch ſonſt ſehr wenig Nichtengländer; die commerciellen
Verhältniſſe der Inſel ſcheinen für Fremde keine günſtigen
Chancen zu bieten.


Nach achttägigem Aufenthalte ſagten wir der uns ſo ſchnell
lieb gewordenen Inſel Lebewohl und ſteuerten der letzten Station,
Havannah, zu. Der Winter und damit die gute Jahreszeit
nahte ſich dem Ende und es war wünſchenswerth, bald den
geſunderen Süden aufzuſuchen. Die Reiſe bot nichts Bemerkens-
werthes; der Paſſat mit ſeinem ewig heiteren Himmel brachte
uns bald an den Ort unſerer Beſtimmung und wir waren nur
noch wenige Meilen von Havannah entfernt, als plötzlich ein
ungeahntes furchtbares Unglück uns bedrohte.


[368]Werner

Die Schiffe hatten eine neue Art Nachtſignale, die Coſton-
lichte, eine amerikaniſche Erfindung, an Bord, welche wie ähn-
liche Feuerwerkskörper, Racketen u. ſ. w., im Vorraum zur
Bombenkammer untergebracht waren. Dieſe Lichte ſind Cylinder
von zwei bis drei Centimeter Durchmeſſer und doppelter Höhe.
Ihr Satz beſteht aus Chemikalien und zum großen Theile aus
Phosphor. Je nach ihrer Miſchung brennen ſie in weißem,
grünem oder rothem Lichte mit ſehr intenſiver und weder durch
Wind noch Regen löſchbarer Flamme mehrere Minuten lang.
Combinationen der verſchiedenen Farben geben dann ſehr gute
und weit ſichtbare Nachtſignale. Vor einiger Zeit war bemerkt
worden, daß der Phosphor in einer Anzahl der Lichter Feuchtig-
keit angezogen hatte. Sie wurden deshalb zum Trocknen auf
das Oberdeck gebracht und in einem Gefäße in die Barkaſſe ge-
ſetzt. Plötzlich entzündeten ſie ſich jedoch von ſelbſt und
wurden brennend über Bord geworfen. Die große Feuergefähr-
lichkeit, welche ſich bei dieſer Gelegenheit zeigte, ward Veran-
laſſung, den Reſt der Lichte, etwa 1200, ſofort aus dem Vor-
raume zur Bombenkammer zu entfernen und ſie auf dem Ober-
deck in dem Commandothurm unterzubringen. Dieſer Thurm,
für den Commandanten im Gefecht beſtimmt, hat zehn Centi-
meter ſtarke Eiſenwände und ein eiſernes Dach. Zwiſchen letzte-
rem und den Wänden befindet ſich eine ebenfalls zehn Centi-
meter weite Spalte, durch welche der Commandant das Gefechts-
feld überblicken kann; innen iſt der Thurm mit Planken von
Teakholz gefüttert. Ein ſolcher eiſerner Behälter, der außerdem
unter ſteter Controle des wachehabenden Officiers ſtand, erſchien
als der geeignetſte Ort zur Aufbewahrung der Lichte, und ſie
hatten auch ſchon mehrere Wochen friedlich darin geruht.


Der Hafen von Havannah war bereits in Sicht und wir
dampften mit dem Geſchwader langſam darauf zu. Es herrſchte
faſt völlige Windſtille und die Sonnenſegel waren zum Schutze
gegen die Hitze überall ausgeholt. Innerhalb einer Stunde
[369]Nach Weſtindien und dem Mittelmeer
liefen wir vorausſichtlich in den Hafen ein, und unter ſolchen
Umſtänden wurde gewöhnlich die Zahl der zu gebrauchenden
Salutkartuſchen vorher aus der Pulverkammer genommen und in
den Thurm gebracht, da man erſtere nicht gern oft öffnet oder
länger offen hält, als durchaus nöthig iſt. Auch an jenem Tage war
ich durch den Batterieofficier gefragt, ob die Kartuſchen — etwa
Hundert zu einem halben Kilogramm Ladung — in den Thurm
gebracht werden ſollten, jedoch hatte ich befohlen, damit noch zu
warten, bis die Mannſchaften ihr Mittagseſſen eingenommen hätten.


Ich befand mich mit dem wachehabenden Officier auf
der vorderen Brücke; die übrigen Officiere waren beim Früh-
ſtück und von der Beſatzung nur die wachehabenden Unter-
officiere und die Poſten auf Deck, alle übrigen beim Eſſen.
Da erſchreckte uns auf einmal ein dumpfer Knall, und als
ich mich umſchaute, ſtand der Commandothurm in Flammen,
d. h. durch die Spalte zwiſchen Dach und Wänden und durch
die Thüre ſchlug das Feuer meterhoch empor und ſpielte in
allen Farben — die 1200 Coſtonlichte hatten ſich ſelbſt ent-
zündet. Es war ein kritiſcher Moment, denn wenn auch der
Thurm unter gewöhnlichen Umſtänden eine gewiſſe Sicherheit
gegen Verbreitung des Feuers gab, ſo gewann das letztere jetzt
in den Signallichtern eine außergewöhnliche Speiſe und es brach
aus den Oeffnungen mit ſolcher Gewalt hervor, daß die in der
Nähe ausgeſpannten Sonnenſegel auf das Aeußerſte gefährdet
waren. Es galt deshalb zunächſt, dieſe zu entfernen, denn
fingen ſie Feuer, ſo wurde die Sache ſchlimm.


Mit den auf dem Oberdeck von Kriegsſchiffen für der-
gleichen Fälle ſtets zur Hand befindlichen Beilen wurden augen-
blicklich die Haltetaue der Sonnenſegel gekappt und damit die
Hauptgefahr beſeitigt. Inzwiſchen ertönte auch das Feuerſignal,
kurze Doppelſchläge der Schiffsglocke, und die Mannſchaft flog
auf ihre Poſten. Der ſchlimmſte Feind des Seemannes iſt Feuer
im Schiff, und die erſte Rolle, in der er an Bord eingeübt
R. Werner, Erinnerungen. 24
[370]Werner
wird, iſt die Feuerrolle. Jeden Freitag Nachmittag, ob im
Hafen oder auf See, wird Feuerlärm exercirt; nach zwei bis
drei Minuten müſſen alle Löſchvorrichtungen getroffen ſein und
alle Schläuche Waſſer geben. An jenem Tage wußten die Leute
nun zwar ſofort, daß es diesmal ein Ernſtfeuer war, da ſie
ohne Noth nie bei ihren Mahlzeiten geſtört werden, aber ſie
erſchienen trotzdem ſo ruhig und geordnet wie zum Exercitium.
Nach zwei Minuten richteten ſich die Waſſerſtrahlen von fünf
Pumpen, darunter auch die von der Maſchine getriebene, auf
den Thurm. Außerdem ſchlugen Hunderte von Menſchen mit
Eimern Waſſer auf und bildeten Ketten, und ſo ergoß ſich eine
ſo gewaltige Fluth auf die Brandſtätte, daß in kurzer Zeit das
Feuer vollſtändig gelöſcht wurde.


Die Maſchinen waren auf allen Schiffen des Geſchwaders
ſofort geſtoppt und die meiſten Boote zur eventuellen Rettung
von Menſchenleben bereits zu Waſſer gelaſſen. Die gewaltige
Flamme, welche aus dem Thurme hervorlohte, hatte von draußen
die Gefahr noch größer erſcheinen laſſen, als ſie wirklich war
und in unſeren Kameraden der anderen Schiffe die Befürchtung
geweckt, daß das ganze Innere des Schiffes in Brand ſtehe.
Glücklicherweiſe war die Beſorgniß unbegründet; aber wie
dankbar konnten wir ſein, daß ein glücklicher Zufall es veran-
laßt hatte, ohne irgend welchen beſtimmten Grund das Depo-
niren der Hundert Kartuſchen noch eine Stunde auszuſetzen.
Wie ſicher wäre das Schickſal des „Friedrich Karl“ beſiegelt
geweſen, wenn fünfzig Kilogramm Pulver im Thurm explodirten.
Jetzt beſchränkte ſich der Schaden auf das Anbrennen der inneren
Holzbekleidung, das jedoch Dank den prompten Löſcharbeiten
nicht bedeutend war. Nur das Officiercorps trug einen empfind-
lichen pecuniären Verluſt davon; die neuen von ihm beſchafften
und im Thurm aufbewahrten Inſtrumente für das Muſikcorps
des Schiffes waren durch die große den Signallichtern entſtrö-
mende Hitze vollſtändig geſchmolzen reſp. verbrannt. Sie hatten
[371]Nach Weſtindien und dem Mittelmeer
einen Werth von mehreren Hundert Thalern, für welche nach
fiscaliſchen Grundſätzen kein Erſatz geleiſtet wurde. Angeſichts
des anderweitigen Schadens, der hätte entſtehen können, fiel dies
jedoch nicht in’s Gewicht, und wir verſchmerzten es leicht in
dem Gedanken, wie gnädig die Vorſehung ein furchtbares Un-
glück von uns abgewendet hatte.


Es war dies einmal wieder ein ſprechendes Beiſpiel der
großen Gefahren, die das Leben des Seemannes ſo unerwartet
und mitten in friedlicher Ruhe bedrohen und ihm mit ſchreck-
licher Deutlichkeit das ſtets neben ihm gähnende Grab zeigen.
Auf der andern Seite gab es aber auch einen erfreulichen Be-
weis für die Vortrefflichkeit unſerer Kriegsſchiffsbeſatzungen, die
ſich gerade in kritiſchen Momenten ſo glänzend bewährt und
von jeher ihren Führern Vertrauen eingeflößt hat. Angeſichts
der ſo plötzlich hereingebrochenen und grauſen Gefahr zeigte ſich
nirgends Unruhe, Zögern oder Verwirrung; kaltblütig, umſichtig
und geräuſchlos eilte Jedermann auf den ihm nach der Feuer-
rolle angewieſenen Poſten und harrte der Befehle der Vorge-
ſetzten, um ſie ſofort zur Ausführung zu bringen. So war es
möglich, alle Befürchtungen ſo bald zu beſeitigen und ſchon
nach fünfzehn Minuten konnten die Leute ſich hinunter be-
geben, um ihre unterbrochene Mahlzeit zu beenden. Die
Maſchinen ſetzten ſich wieder in Gang, und eine halbe Stunde
ſpäter liefen wir in den Hafen von Havannah ein, der einer
der ſchönſten und geräumigſten von ganz Weſtindien iſt. Ein
Maſtenwald von Hunderten von Handelsſchiffen kündet ſeine
große commercielle Wichtigkeit, und die ſich im Halbkreiſe an
einem ſanft anſteigenden Hügel erhebende Hauptſtadt, mit ihren
ſchönen monumentalen Gebäuden, ihren vielen öffentlichen von
Gartenanlagen, Springbrunnen und Palmengruppen geſchmückten
Plätzen und breiten geraden Straßen, macht ſchon von außen
den Eindruck der Großſtadt und verräth die Bedeutung der
„Perle“ der Antillen.


24*
[372]Werner

Dem einſt weltbeherrſchenden Spanien, deſſen Könige ſich
rühmen konnten, daß die Sonne nicht in ihrem Reiche unter-
gehe, iſt nur wenig transatlantiſcher Länderbeſitz geblieben, aber
in Cuba immer noch eine Colonie, die zu den herrlichſten und
ergiebigſten der Welt gehören würde, wenn ſie ſich in den
Händen einer energiſcheren und thätigeren Nation als die der
Spanier befände, wenn die Sclavenfrage auf glückliche Weiſe gelöſt
und die Corruption der Bewohner weniger groß wäre, die un-
bekümmert um die Zukunft nur dem Augenblicke des Genuſſes
leben und in denen die Schattenſeiten der Creolen ſich mehr
als anderwärts zeigen. Die Inſel zählt kaum den zehnten
Theil der Bevölkerung, welche ſie ernähren könnte, nicht der
zwanzigſte Theil ihres culturfähigen Bodens iſt bebaut; in dem
gebirgigen und im Gegenſatze zu den Küſtengegenden geſunden
Innern giebt es Strecken von 5—10,000 Quadratkilometer
Ausdehnung, die weder bewohnt noch überhaupt bekannt ſind.
Wenn trotzdem jährlich allein für weit über hundert Mil-
lionen Mark Zucker und Tabak ausgeführt werden, ſo mag man
daraus ermeſſen, welchen unerſchöpflichen Schatz Spanien in
Cuba noch aus dem Schiffbruche ſeiner früheren Macht gerettet
hat. Ebenſo iſt es zu begreifen, daß das Mutterland die ver-
zweifeltſten Anſtrengungen gemacht und außer vielen Millionen
an Geld auch nicht das Opfer von 80,000 Soldaten geſcheut
hat, um in dem bisherigen zehnjährigen Bürgerkriege die be-
drohte Herrſchaft zu behaupten. Ob dieſe Opfer trotzdem nicht
vergeblich gebracht ſind, ob nicht die Vereinigten Staaten von
Nordamerika über kurz oder lang eine Gelegenheit finden oder
vom Zaune brechen werden, um die Inſel, auf die ſich ſchon
ſo lange ihre begehrlichen Blicke richten, zu annectiren — wer
weiß es?


Wir fanden Kriegsſchiffe der verſchiedenſten Nationen im
Hafen vor und es dauerte Stunden lang, ehe die üblichen Be-
grüßungsſalute ausgetauſcht und der Kanonendonner verhallt
[373]Nach Weſtindien und dem Mittelmeer
war. Im Winter iſt Havannah der Sammelplatz der fremden
in Weſtindien ſtationirenden Flotten, und allerdings bietet es
Abwechſelungen und Annehmlichkeiten in Fülle, um als Magnet
zu wirken. Unſer Ankerplatz lag in unmittelbarer Nähe des
Bollwerkes, wenige Ruderſchläge der Boote vermittelten die
Communication; großartige Hotels und das Theater, deſſen
prachtvolle innere Ausſtattung ihm den Anſpruch giebt, zu den
erſten ſeiner Art zu zählen, waren unſere vis-à-vis, und ſomit
verſprach der Aufenthalt ein ſehr intereſſanter zu werden. In
dieſen Erwartungen wurden wir auch nicht getäuſcht und die
vier Wochen, auf welche ſich, in Veranlaſſung verſchiedener Um-
ſtände, unſer Verweilen ausdehnte, verflogen ſehr ſchnell. Die
Spanier und Creolen zeigten ſich freundlich und entgegen-
kommend; wir machten Bekanntſchaften mit liebenswürdigen ameri-
kaniſchen Familien, von denen Havannah um dieſe Jahreszeit
vielfach als klimatiſcher Kurort aufgeſucht wird. Ausflüge per
Wagen und Bahn in die Umgegend und das Innere, letztere
freilich wegen der häufigen Entgleiſungen ziemlich lebensgefährlich,
wurden unternommen. Bälle und Geſellſchaften auf den Schiffen
und am Lande, Theater und Stierkämpfe nahmen uns auf
das Lebhafteſte in Anſpruch und es wurde Zeit, daß wir end-
lich fortgingen, denn Havannah drohte uns ein modernes Capua
zu werden.


Der noch jetzt nicht beendete und unter der Aſche fort-
glimmende Bürgerkrieg wüthete damals ſtark, aber in Havannah
ſelbſt merkte man nichts davon. Man hörte wol öfter Klagen,
daß die Geſchäfte darnieder lägen, doch beeinträchtigte dies in
keiner Weiſe die heitere Phyſiognomie der Stadt und ihrer Be-
wohner. Man begegnete überall einer ſehr leichtfertigen Auf-
faſſung des Lebens und einer ausgeprägten Vergnügungs-
ſucht. Während unſerer Anweſenheit kamen zwei Bataillone
friſcher Truppen aus Spanien an; ihrer Ausſchiffung wohnten
viele Tauſende von Zuſchauern bei, obwol ſich ſolche ſeit Jahren
[374]Werner
faſt monatlich wiederholte. Wie kräftig und geſund ſchauten ſie
aus die jungen Soldaten, wie hoffnungsvoll blitzten die dunkeln
Augen in die Zukunft hinein, und wie bald ſollten ſie dem
Moloch des Krieges zum Opfer fallen. Kaum hat wol einer von
ihnen ſein Vaterland wiedergeſehen; bereits 50,000 ihrer Brüder
hatte der Tod ſeit dem Beginn der Inſurrection dahingerafft,
und noch 30,000 blühende Leben ſind ihnen bis heute ge-
folgt. Alle ſchlummern fern von der Heimath in fremder Erde,
und der Thau, der die ſchmuckloſe Raſendecke ihrer Maſſen-
gräber benetzt, bedeutet die Thränen, die jenſeits des Oceans
die einſamen Mütter ihren verlorenen Söhnen nachweinen. Doch
die in Schmuck und Toilettenglanz ſtrahlenden Zuſchauerinnen
trugen ſich nicht mit ſolchen Gedanken; für ſie war es ein
militäriſches Schauſpiel, das einige Stunden lang etwas Neues
und Stoff zu Bemerkungen, vielleicht auch Gelegenheit zur An-
knüpfung einer Liaiſon bot, denn an Koketterie und verlangen-
den Blicken fehlte es nicht.


In außerſpaniſchen Kreiſen erzählte man ſich allerlei
Trauriges über das Schickſal, das dieſe armen Soldaten er-
wartete; ſie ſollten weniger die feindlichen Kugeln als die eigene
Mißverwaltung zu fürchten haben und neun Zehntel von
ihnen lediglich daran zu Grunde gehen. Unter ungeſcheuter
Nennung von Namen wurde behauptet, daß die Truppen
ohne zureichende Kleidung und Nahrung in die unwegſamſten
Gegenden, wo ſich die Inſurgenten aufhielten, geſchickt würden.
Dann thaten die Sumpffieber ihr Werk, die von Strapazen und
Hunger erſchöpften Körper konnten keinen Widerſtand leiſten, der
Tod hielt hundertfältige Ernte und das Blutgeld für die nicht
gelieferten Vorräthe floß in die Taſchen ungetreuer Menſchen.


Es muß ſehr viel reiche Leute in Havannah geben; man
merkte es an dem überall und von Damen oft in unſinnigſter
Weiſe zur Schau getragenen Luxus. Auf Spazierfahrten ſah
man einige dieſer Creolinnen ihre neuen, ſoeben aus Paris be-
[375]Nach Weſtindien und dem Mittelmeer
zogenen Roben im Werthe von vielen Hundert Thalern über
die Räder ihrer Wagen breiten, um ſie in wenigen Minuten
total zu verderben, um dadurch mit ihrem Reichthum zu prunken.
In Gold- und Brillantſchmuck fand ein ſtetes gegenſeitiges
Ueberbieten ſtatt und beim Carneval, den wir mitmachten, bot
ſich in anderer Weiſe Gelegenheit dazu. An den Maskeraden
und Straßenaufzügen nahmen nur die mittleren und niederen
Claſſen Theil; ſie wieſen nichts Originelles oder Intereſſantes
auf, deſto größeren Glanz aber entwickelten die höheren Schichten
der Geſellſchaft in ihren Equipagen, mit denen ſie in den Haupt-
ſtraßen der Stadt Corſo fuhren. Sechs der prachtvollſten andaluſi-
ſchen Pferde von edelſter Race bildeten die Beſpannung. Auf jedem
zweiten Pferde ſaß ein Jockey in koſtbarer Livrée aus Sammt
in brillirenden Farben, mit Gold oder Silber bordirt, und die
Damen im Fond wetteiferten natürlich erſt recht in Reichthum
der Toiletten und ſtrahlenden Geſchmeides. Unter ihnen fielen
drei Schweſtern auf, Marquiſen, deren jede in einem beſonderen
Wagen fuhr. Sie ſollten zu den reichſten Damen Cuba’s ge-
hören, waren Beſitzerinnen großer Plantagen mit Tauſenden
von Sclaven und unverheirathet. Ohne hervorragend hübſch zu
ſein und trotz des Embonpoints, den die meiſten Creolinnen
erhalten, wenn ſie die erſte Jugend paſſirt haben, ſahen ſie
doch recht gut aus, und man wunderte ſich, daß ſie unver-
heirathet geblieben waren, bis man erfuhr, daß ſelbſt für
Havannah ihr Ruf mehr als zweifelhaft ſei. Man erzählte,
die älteſte Marquiſe, bereits eine ſtarke Dreißigerin, ſei bei der
unlängſt erfolgten Ankunft eines jungen europäiſchen Fürſten
auf Cuba mit den beiden jüngeren Schweſtern eine hohe Wette
eingegangen, daß ſie zuerſt den Prinzen in ihre Netze ziehen
werde. Sie hatte auch wirklich die Wette gewonnen, doch ſoll
es den beiden Schweſtern ſehr bald nachher gelungen ſein, den
hohen Herrn zum Abfall zu bewegen. Abends am erſten Carne-
valstage fand großer Maskenball im Theater ſtatt. Die Logen
[376]Werner
waren mit hölzernem Gitterwerk geſchloſſen, ſo daß es ausſah,
als ob Niemand darin anweſend ſei, doch das war ein Irr-
thum. Dahinter ſaßen dem Publicum unſichtbar die Damen
der erſten geſellſchaftlichen Kreiſe Havannah’s und bewahrten
auf dieſe Weiſe noch den Schein von Scham, wenn ſie letztere
in Wirklichkeit auch nicht mehr beſaßen; denn etwas Scham-
loſeres als die Tänze, Geſten und das ganze Auftreten der
Masken kann man ſich kaum denken. Selbſt uns Männern
wurde es zu viel, und man that einen tiefen Blick in die ſitt-
lichen Zuſtände der Bevölkerung.


Wie ich bereits erwähnte, gehört das von einem früheren
Generalkapitän Tacon erbaute und nach ihm benannte Theater zu
den ſchönſten ſeiner Art und Schauſpieler wie Sänger laſſen nichts
zu wünſchen übrig. In tropiſchen Städten dürfte ein ſolches
vortreffliches Enſemble zum zweiten Male kaum gefunden werden.


Auch der Beſuch der Arena, der Stiergefechte, wurde nicht
verſäumt, aber es ſind unerquickliche Schauſpiele und die portu-
gieſiſchen den ſpaniſchen bedeutend vorzuziehen. In jenen geht
es ritterlicher und weniger grauſam zu. Der Matador zeigt auf
prachtvollem Pferde ſeine außerordentliche Gewandtheit im Reiten.
Mit leiſem Zügel- und Schenkeldruck weiß er dem heranſtür-
menden Stiere auszuweichen, aber zugleich mit dem ſtumpfen
Degen die Stelle im Nacken des wüthenden Thieres zu mar-
kiren, wo der Stoß tödtlich ſein würde, um danach mit unnach-
ahmlicher Grandezza, leichtem Kopfneigen und lächelndem Munde
den jubelnden Zuſchauern für die Anerkennung ſeiner Geſchick-
lichkeit zu danken. Den Stieren ſind auf die abgeſchnittenen
Spitzen der Hörner Kugeln geſetzt, und wenn der Kampf auch
noch immer genug Nervenaufregung bringt, ſo zeugt er doch
von verfeinertem Gefühl im Vergleich zu der rohen Blutgier,
welche die Pointe der ſpaniſchen Stiergefechte iſt. Acht bis zehn
unglückliche Pferde werden dabei dem Tode geweiht; es ſind
elende Thiere, für den Abdecker reif und ſchon deshalb ein
[377]Nach Weſtindien und dem Mittelmeer
widerlicher Anblick. Das eine Auge iſt ihnen mit einem Tuche
verbunden und dieſe Seite halten die Reiter ſtets dem angreifen-
den Stiere zugewandt, weil ſonſt die Pferde nicht Stand halten
würden. Wenn dann fünf bis ſechs von den armen Thieren von
einem Stiere der Bauch aufgeriſſen worden, daß die Eingeweide
auf der Erde nachſchleppen, und man ſie hinausführt, dann ertönt
frenetiſcher Jubel von Seiten der Zuſchauer, als ob die größten
Heldenthaten verrichtet wären, und die danach erfolgende Tödtung
des Stieres durch den Matador wird kaum mit mehr Beifall
begrüßt. Nimmt der Stier jedoch das Pferd nicht an, dann
erſchallt von Seiten des Publicums der tauſendſtimmige Ruf:
„los perros, los perros! Die Hunde!“ Acht bis zehn Bull-
doggen werden in die Bahn gelaſſen, ſtürzen ſich mit wüthen-
dem Geheul auf ihren Gegner und verbeißen ſich in ſeiner Naſe,
im Bauch und im Schwanz. Es hilft ihm nicht, daß er ver-
ſchiedene auf die Hörner nimmt und hoch in die Luft wirft; in
dem weichen Sande thut ihnen der Fall wenig Schaden. Immer
wieder greifen die grimmen Beſtien ihn an, bis fünf oder ſechs
an ſeinem Kopfe hängen und das dadurch wehrlos gemachte
Thier dem Degen des Matador überliefern, der ihm den
Gnadenſtoß giebt. Der rauſchende Beifall der Zuſchauer zeigt
ihre innere Roheit und auf die Nachkommen des römiſchen
Plebs, der ſeine Schauluſt in den nicht weniger blutigen und
grauſamen Gladiatorenkämpfen ſättigte, haben zwei Tauſend
Jahre, wenn auch langſam fortſchreitender Cultur, und das
Chriſtenthum wenig veredelnden Einfluß zu üben vermocht. Fünf
bis ſechs Stunden lang dauern die Kämpfe, die nur in ſteten
Wiederholungen beſtehen, aber ſchon nach der erſten Scene
wandten wir uns mit Ekel davon ab.


Bis jetzt herrſcht auf Cuba noch Sclaverei; von den
1,300,000 Einwohnern ſollen 600,000, alſo faſt die Hälfte
Sclaven ſein. Seit 1870 ſind Geſetze erlaſſen, welche die all-
mälige Aufhebung der Sclaverei anzubahnen die Beſtimmung
[378]Werner
haben: alle nach jenem Jahre geborenen Kinder ſollen frei
ſein, alle über ſechzig Jahre alten Schwarzen ebenfalls. Aber
es fehlt jede Controle, die Geſetze werden von den Behörden
äußerſt lax gehandhabt und nach allen Richtungen umgangen,
ſo daß in den zehn Jahren faſt keine Wandelung in den früheren
Verhältniſſen eingetreten iſt; ja man behauptet, daß ſelbſt noch
Tauſende von Negern jährlich aus Afrika eingeführt werden,
obwol dies bei der ſcharfen Aufſicht, welche die Kreuzer der
Engländer an der afrikaniſchen Küſte führen, kaum denkbar iſt.
Nach officiellen Angaben ſollen ſich nur noch 250,000 Sclaven
auf der Inſel befinden, doch iſt das ſchwerlich richtig und die
obige Zahl wird zutreffender ſein. Es giebt auf Cuba allein
über dreiundert mit Dampf betriebene Zuckerfabriken, deren jede
Hunderte von Sclaven hält. Wir beſuchten eine derſelben, auf
der man fünfhundert Neger hielt; in ihrer unmittelbaren Nachbar-
ſchaft arbeitete eine Fabrik mit der doppelten Anzahl. Auf beiden
befand ſich nicht ein einziger freier Schwarzer; merkwürdiger
Weiſe waren ſelbſt die Säuglinge vor 1870 geboren, und Neger
über 60 Jahre nicht vorhanden. An jene Fabriken reihen ſich nun
noch alle mit Pferden oder Ochſen getriebenen Zuckermühlen alter
Art, von denen Tauſende auf den kleinen Plantagen exiſtiren,
auch der Tabaksbau, die im großen Maßſtabe getriebene Viehzucht
und die ſonſtige Plantagenwirthſchaft beſchäftigt viele Neger, alſo
wird die Zahl 600,000 nicht zu hoch gegriffen ſein. Außer-
dem ſind ſeit 1870 Tauſende von chineſiſchen Kulis als ſoge-
nannte freie Arbeiter eingeführt, da jedoch darüber ebenfalls
jede ſtaatliche Controle fehlt oder vernachläſſigt wird, ſo iſt der
Kulihandel nur eine andere Form der Sclaverei. Wie wir uns
durch den Augenſchein überzeugten, iſt das Loos der Chineſen
um kein Haar beſſer als das der Neger. Achtzehn bis zwanzig
Stunden harte Arbeit während der Zuckercampagne — ſo un-
glaublich das auch klingen mag — bei rückſichtsloſem Gebrauch der
Peitſche und eigener wenn auch ungeſetzlicher Gerichtsbarkeit der
[379]Nach Weſtindien und dem Mittelmeer
Pflanzer, Feſſelung mit ſchweren Ketten, Einſchließen des Nachts
und Aufſpürung mit Bluthunden, wenn ſie zu entfliehen ſuchen,
das iſt das Loos dieſer Unglücklichen während der acht Jahre
Plantagenarbeit, zu der ſie ſich bei ihrer Ankunft für die Ab-
zahlung des Paſſagepreiſes verpflichten müſſen.


Die Löſung der Sclavenfrage iſt ſowol für die Inſel wie
für das Mutterland eine Sache von ſchwerwiegender Bedeutung.
Auf der einen Seite bedroht wirthſchaftlicher Ruin die erſte und
ſchwere Schädigung das letztere, wenn die Sclaverei plötzlich
abgeſchafft wird, auf der andern iſt das jetzt gehandhabte Syſtem,
wo Neger und Kulis wiſſen, daß man ihnen entgegen den Geſetzen
ihre Freiheit vorenthält, auch nicht auf die Dauer haltbar. Es
führt zu maſſenhaften Deſertionen, Aufruhr, Niederbrennen der
Zuckerfelder und Fabriken, zur Bildung von Räuberbanden und
Ermordung von Weißen. Nur die genaue Ausführung der be-
ſtehenden Geſetze unter ſcharfer Controle der Regierung, ſowie
wirklich freie Arbeit der Kulis, wie in den engliſchen Colo-
nien, vermag einen Uebergang zu beſſeren Verhältniſſen herbei-
zuführen, wenngleich derſelbe vorausſichtlich nicht ohne Convul-
ſionen ſich vollziehen wird.


Wie ich ſchon bemerkt habe, empfing man uns in Ha-
vannah ſehr entgegenkommend, auch von Seiten der Behörden,
und wie überall, wo wir geweſen, fühlten wir auch hier, welches
hohe Preſtige das Jahr 1870 und ſeine Folgen dem deutſchen
Namen auch jenſeits des Oceans verſchafft hatte.


Auf dem ſpaniſchen Flaggſchiffe, der Dampffregatte
„Gerona“, wurde uns ein glänzender Ball gegeben, zu dem ſich
der ganze Damenflor der vornehmen Havannah verſammelte,
und bei der Danſa, jenem langſamen wiegenden Walzer, der
eigends für liebeathmende Creolinnen erfunden zu ſein ſcheint,
trug mancher junge Nordländer eine Herzenswunde davon, die
ihm die gluthvollen Augen ſeiner lieblichen Tänzerin ſchlugen.
In den ſpaniſchen Seeofficieren fanden wir ſehr ſympathiſche
[380]Werner
Kameraden und ein von uns gegebener Ball auf dem „Friedrich Karl“
befeſtigte das angebahnte freundliche Verhältniß. Wie wunder-
bar oft das Schickſal ſpielt! Kurz vor unſerem Abgange von
Havannah war die Nachricht eingetroffen, daß König Amadeus
die Krone niedergelegt hatte, ohne jedoch in der Colonie im
entfernteſten den Eindruck zu machen, den man von ſolchem
Ereigniſſe erwarten durfte. Wenige Monate ſpäter wurden
vom „Friedrich Karl“ den Intranſigenten drei ſpaniſche Kriegs-
ſchiffe abgenommen, um ſpäter der legitimen Regierung wieder
ausgeliefert zu werden. Wer von uns hätte das an jenem
Ballabende gedacht?


So ſchön und geſund das Klima von Havannah in den
Wintermonaten iſt, ſo gefährlich wird es namentlich Fremden
im Sommer. Gar oft wüthet dann das gelbe Fieber erbar-
mungslos und rafft Tauſende hinweg. Eine größere Reinlichkeit
und beſſere Handhabung der Geſundheitspolizei würde eine
Wandelung zum Beſſeren in dieſen Verhältniſſen herbeiführen,
allein daran iſt kaum zu denken. Für alle hygieniſchen Maßnahmen
fehlt den ſüdlichen Nationen die Energie und Schmutz in der
einen oder anderen Form ſcheint von ihnen unzertrennlich zu ſein.


Gegen Ende März beabſichtigten wir unſere Fahrt nach
dem Süden anzutreten, jedoch änderte ein telegraphiſcher Befehl
unerwartet die ganze Reiſeroute. Infolge der Abdankung des Königs
Amadeus war in Spanien die Republik proclamirt worden, die
carliſtiſche Erhebung machte Fortſchritte, franzöſiſche Communards
hatten ſich mit ſpaniſchen Revolutionären verbunden, wiegelten
den Süden gegen die Regierung in Madrid auf und die überall
in dem unglücklichen Lande auftretenden Unruhen ließen die
Sicherheit der dort angeſiedelten Deutſchen gefährdet erſcheinen.
Die Reichsregierung hielt es deshalb für nothwendig, letzteren
durch Entſendung von Schiffen an die ſpaniſche Küſte Schutz
zu gewähren und es wurden „Friedrich Karl“, „Eliſabeth“ und
das bereits im Mittelmeer ſtationirende Kanonenboot „Delphin“
dazu auserſehen.


[381]Nach Weſtindien und dem Mittelmeer

Unſer Geſchwader trat nach Empfang der neuen Segel-
ordre alsbald ſeine Rückreiſe nach Europa an, aber es lag auf
der Hand, daß der veränderte Reiſeplan nicht den ungetheilten
Beifall auf den Schiffen fand. Die Ausſicht auf eine Reiſe
um die Erde war für die Meiſten zu verlockend geweſen, als
daß ein wahrſcheinlich ſehr langweiliger Wachtdienſt an der
ſpaniſchen Küſte dafür Erſatz bieten konnte.


Wehmüthig wurde Havannah Adieu geſagt, und es ging
oſtwärts, während der „Albatroß“ in Weſtindien blieb. Die
Reiſe war nicht angenehm; wir trafen im Durchſchnitte nur
ſchlechtes Wetter und wurden von den Wellen des atlantiſchen
Oceans gehörig durchgeſchüttelt. Um unſere Kohlen zu ergänzen,
liefen wir Horta auf Fayal an, ſahen es jedoch nur von außen,
da wir, weil von Havannah kommend, Quarantäne halten mußten
und blieben auch nur einen Tag.


In England trennte ſich die „Eliſabeth“ vom Geſchwader
und ging direct nach Spanien. Der „Friedrich Karl“ war jedoch
gezwungen mit den beiden andern Schiffen nach Wilhelmshaven
zu ſegeln, theils um einige Reparaturen an ſeiner Maſchine
vorzunehmen, theils im Trockendock den Boden zu reinigen.
Es iſt das für Schiffe mit eiſernem Boden eine höchſt unan-
genehme Zugabe, und bis jetzt iſt es mit durchſchlagendem Er-
folg noch nicht gelungen, das Bewachſen des Bodens mit
Muſcheln und Pflanzen zu verhindern. Namentlich in den
Tropen findet letzteres mit rapider Schnelligkeit ſtatt und auch
bei dem „Friedrich Karl“ war es in einer Weiſe geſchehen,
daß derſelbe ein Dritttheil ſeiner Fahrgeſchwindigkeit einge-
büßt hatte.


Man hat allerlei Farbeanſtriche mit Metallgiften verſucht,
aber ſie haben immer nur auf kurze Zeit das Anſetzen ver-
hindern können. Kupferbeſchlag iſt zu gefährlich, weil er mit
unbedingter Sicherheit ſich von dem eiſernen Boden nicht iſoliren
läßt und dann der entſtehende galvaniſche Strom ſehr ſchnell
[382]Werner
das Eiſen zerſtört. Neuerlich iſt man deshalb zu Zinkbeſchlag
übergegangen, weil dabei jener Strom nicht das Eiſen ſondern
das Zink angreift und letzteres ſich dann gelegentlich erneuern
läßt. Die ſtete Oxydation des Zinks ſoll bei dieſem Verfahren
deſſen Oberfläche ſchlüpfrig erhalten und das Anſetzen von
Pflanzen und Thieren verhüten.


Anfang Mai 1873 traf das Schiff in Wilhelmshaven ein,
um vier Wochen darauf wieder nach dem Mittelmeere auszu-
laufen. Liſſabon war das erſte Ziel und wurde am 19. Juni
erreicht.


Es giebt wenige Städte, deren äußere Erſcheinung einen ſo
imponirenden Anblick bietet, wie Liſſabon. Die Hauptſtadt Portugals
wetteifert darin mit Konſtantinopel, Stockholm, Venedig und Rio-
de-Janeiro. Sie erhebt ſich am rechten Ufer des Tajo und etwa
zwei Meilen oberhalb deſſen Mündung auf ſieben Hügeln und
zeichnet ſich durch großartige und monumentale Gebäude aus.
Ebenſo trägt die reiche und fruchtbare Umgegend mit ihren Ge-
filden, Villen, Fabriken und Klöſtern nicht wenig dazu bei, die
Reize der Stadt zu erhöhen, und die ſcharfgezackten Spitzen der
Berge von Cintra mit dem gleichnamigen romantiſchen Kloſter,
das König Ferdinand, der Vater des regierenden Königs Dom
Luiz, zu ſeinem Wohnſitze erwählt, bildet einen prachtvollen
Hintergrund des bezaubernden Panoramas.


Weſtlich von der Stadt, in der Nähe der Vorſtadt Belen
mit ihrer ehrwürdigen Kathedrale, liegt auf einer Anhöhe der
königliche Palaſt Ajuda. Es iſt ein mächtiges Gebäude, das
beſtimmt war, durch ſeine Großartigkeit und Schönheit alle
Paläſte der Welt in den Schatten zu ſtellen, aber es iſt un-
vollendet geblieben und nur ein Viertel des urſprünglichen
Planes iſt fertig geſtellt. Ajuda wurde begonnen, als Braſilien
noch zu Portugal gehörte; nach deſſen Abfall fehlte es an Geld
und man begnügte ſich mit der jetzigen Größe, die immerhin
noch ganz bedeutend iſt.


[383]Nach Weſtindien und dem Mittelmeer

Wir blieben nur wenige Tage vor Liſſabon, um Kohlen
und Waſſer zu ergänzen, hatten aber die Ehre und Freude,
den König Dom Luiz an Bord unſeres Schiffes zu ſehen.
Sohn eines deutſchen Fürſten und ſympathiſch für Deutſchland
eingenommen, beehrte er den „Friedrich Karl“ mit einem länge-
ren Beſuche, um die Exercitien unſerer Mannſchaften anzuſehen.
Was wir ihm vorführten, fand ſeinen vollſten Beifall und dies
war für uns um ſo ſchmeichelhafter, da der König vor ſeiner
nicht erwarteten Thronbeſteigung Seeofficier war und wir ſein
Urtheil als ein competentes anzuſehen hatten.


Am 25. Juni wurde die Reiſe fortgeſetzt und zunächſt in
Malaga ein längerer Aufenthalt genommen. Die ſpaniſchen
Intranſigenten hatten die politiſche Maske abgeworfen und ſich
in ihrer wahren Geſtalt gezeigt. Unter Führung flüchtiger
franzöſiſcher Communiſten, hatten ſie in Sevilla wie in Alcoy
ſchreckliche Greuelthaten begangen und womöglich die Pariſer
Communards noch übertroffen. Es war gebrannt und geplündert
worden, man hatte Menſchen in Petroleum getränkt und dann
ihre Kleider angezündet.


In Malaga befindet ſich die größte deutſche Colonie an
der ſpaniſchen Küſte. Es wohnen dort über 200 Deutſche,
die einen ganz bedeutenden Theil des ſtädtiſchen Handels in
Händen haben. Wurde Malaga der Schauplatz ähnlicher
Scenen wie Alcoy, ſo ſtanden wichtige deutſche Intereſſen auf
dem Spiel und unſere Landsleute bedurften deshalb hier in erſter
Reihe des Schutzes. Und dieſer erſchien um ſo mehr geboten, als
Malaga die Autorität der Cortes nicht mehr anerkannte und
unter Caravajal, einem Volkstribun, der es mit den Intranſi-
genten hielt, aber keiner der ſchlimmſten war, einen eigenen
Canton bildete.


Während der vierzehn Tage, die wir in Malaga zubrachten,
blieb jedoch alles ruhig. Jeder ging ſeinen Geſchäften nach
und Caravajal begnügte ſich, mäßige Kriegsſteuern auszuſchrei-
[384]Werner
ben, dann und wann die Freiwilligen, welche in Stelle des
verjagten regulären Militärs getreten waren, zu muſtern oder
mit einem Gefolge von Straßenjungen auf einem Eſel durch
die Stadt zu reiten und ſich vom niederen Volk bewundern zu
laſſen. Er war ein ſtattlicher, ja man kann wol ſagen ein
ſchöner Mann und gar oft konnte man von Frauenlippen die
Worte hören: „bendita sea la madre, que te parió!“
„geſegnet ſei die Mutter, die Dich geboren!“ — eine Huldigung,
die der Tribun mit freundlichem Nicken entgegennahm. Sonſt
kümmerte ſich eigentlich Niemand viel um ihn. Es herrſchte
vollkommene Ruhe und auch die Deutſchen ſelbſt glaubten nicht an
eine ernſtliche Störung derſelben, um ſo weniger, als die Regie-
rungstruppen begannen, etwas Energie in Unterdrückung der
communiſtiſchen Bewegungen zu entwickeln. Unter Zurücklaſſung
der „Eliſabeth“ und des „Delphin“ ging deshalb der „Friedrich
Karl“ weiter oſtwärts, um die übrigen Hafenſtädte Spaniens
zu beſuchen und die deutſche Flagge zu zeigen, und zwar zu-
nächſt nach Barcelona. Auch dort herrſchte wie in Malaga
Ruhe, ſo daß bis auf weiteres keine Gefährdung der Deutſchen
zu fürchten war.


Nach achttägigem Aufenthalte ſteuerten wir nach Tarragona.
Hier befanden ſich zwar nur zwei Deutſche, unſer Conſul und
ſein Aſſocié, aber faſt der geſammte Exporthandel der Stadt
ruhte in ihren Händen. Sie ſind die Beſitzer einer Weinfabrik,
wie ſie in ſolcher Bedeutung wol kaum wieder zu finden iſt.
Tarragona iſt ganz von Weinbergen umgeben, deren ſämmtliche
Erträge vom deutſchen Conſul gepachtet ſind, in ſeinen Kellern
und Etabliſſements verarbeitet werden und mit den verſchieden-
ſten Marken daraus hervorgehen. Um einen Begriff von der
Größe dieſes Geſchäfts zu geben, ſei erwähnt, daß daſſelbe in
den letzten drei Monaten für 1 ¼ Million ſpaniſcher Thaler
Wein ausgeführt hatte. Das Wort „Weinfabrik“ klingt bei
uns zwar etwas anrüchig, iſt es aber in Spanien nicht. Man
[385]Nach Weſtindien und dem Mittelmeer
bearbeitet dort auch den Traubenſaft in der verſchiedenſten Weiſe,
aber was man ihm zuſetzt, darf nur vom Weinſtock ſelbſt
ſtammen — das iſt der große Unterſchied zwiſchen Weinfabriken
in Spanien und in manchen Orten Deutſchlands.


Von Tarragona ging es nach Valencia, wo wir am 21.
Juli Morgens eintrafen. Zwei Tage vorher hatte ſich die Pro-
vinz als unabhängiger Canton erklärt; Gouverneur und Militär
hatten die Stadt verlaſſen, aber die Ruhe noch nicht weiter ge-
ſtört worden. Auch meinte unſer Conſul, in den nächſten Tagen
würden Stiergefechte ſtattfinden und ein ſolches Schauſpiel
nehme jeden Spanier ſo gefangen, daß bis dahin und während
deſſelben alle politiſchen Verhältniſſe vollſtändig in den Hinter-
grund träten. Er ſelbſt, der einzige Deutſche am Orte, fürchte
nichts für ſeine Perſon, und ſo beabſichtigten wir, nur einige
Tage zu bleiben, als Mittags der engliſche Conſul und der
Commandant des in Valencia liegenden engliſchen Aviſos „Hart“
bei uns an Bord erſchienen.


Sie theilten mir ein Telegramm des engliſchen Conſuls
aus Alicante mit, wonach dieſer auf das dringendſte um ſo-
fortige Entſendung des „Hart“ erſuchte. Der Canton Murcia,
an deſſen Spitze ſich der General Contreras geſtellt, hatte aus
ſeiner Hauptſtadt Cartagena, dem vornehmſten Kriegshafen
Spaniens, am Tage zuvor die Panzerfregatte „Victoria“ unter
rother Flagge nach Alicante entſandt, zunächſt den Anſchluß der
Stadt an Murcia verlangt und nach Verweigerung dieſes An-
ſinnens Geld und Waffen gefordert.


Aber auch dies war abgelehnt worden und infolge deſſen
hatte der Commandant mit einem Bombardement gedroht. Dieſer
Commandant war kein wirklicher Marineofficier, ſondern der
Kapitän eines Handelsſchiffes. Als in Cartagena die Be-
ſatzungen der Kriegsſchiffe gemeutert und ſich für Contreras er-
klärt hatten, waren ſämmtliche Marineofficiere der rechtmäßigen
Regierung treu geblieben und nach Madrid gegangen, ebenſo
R. Werner, Erinnerungen. 25
[386]Werner
die meiſten Unterofficiere und ein Theil der Beſatzungen. Die
Mannſchaft der „Victoria“ beſtand deshalb aus zuſammenge-
würfelten und ziemlich unſauberen Elementen.


Infolge der Drohung war unter den Bewohnern Alicantes
eine große Panik ausgebrochen, Alles geflohen, der Gouverneur
mit der militäriſchen Beſatzung an der Spitze, und die Stadt
wie ausgeſtorben, daher der Nothruf des engliſchen Con-
ſuls nach Hülfe. In Valencia waren jedoch noch bedeutend
mehr britiſche Intereſſen zu ſchützen als in Alicante; der „Hart“
konnte deshalb nicht entbehrt werden, andere engliſche Kriegs-
ſchiffe waren nicht in der Nähe, und ſo wurde ich vom engliſchen
Conſul officiell und ſchriftlich erſucht, den Schutz der Engländer
in Alicante zu übernehmen, dagegen verpflichtete er ſich, unſern
Conſul in Valencia gegen jede etwaige Unbill zu ſichern.


Ich glaubte dieſer Aufforderung nachkommen zu müſſen
und ging infolge deſſen Nachmittags nach Alicante ab, während
der engliſche Conſul die bevorſtehende Ankunft des „Friedrich
Karl“ dorthin telegraphirte. Meiner Anſicht nach, handelt es
ſich dabei keineswegs um irgend eine politiſche Intervention oder
um eine Einmiſchung in die inneren Verhältniſſe eines fremden
Landes, ſondern lediglich um die Abwehr eines piratiſchen oder
wenigſtens eines gegen das Völkerrecht verſtoßenden Actes, zu
der jeder Commandant eines Kriegsſchiffes eo ipso verpflichtet
iſt. Ein Kriegsſchiff war durch Meuterei ſeiner Beſatzung in
die Hände einer ſich eine politiſche Partei nennenden Bande
von Communiſten übergegangen; es war von Officieren und
Mannſchaften beſetzt, die kein Mandat irgend einer rechtmäßigen
und anerkannten Regierung hatten, führte eine unbekannte Flagge,
ſuchte Geld zu erpreſſen und drohte, als dies mißlang, mit
dem Bombardement einer offenen, wehrloſen Stadt.


Deshalb nahm ich keinen Anſtand, der Requiſition des
engliſchen Conſuls nachzukommen und die Angehörigen einer be-
freundeten Macht gegen die Angriffe einer Leben und Eigenthum
[387]Nach Weſtindien und dem Mittelmeer
friedlicher Menſchen gefährdenden geſetzloſen Bande zu ſchützen.
Die Cortes hatten zwar ſelbſt dieſe Schiffe als Piraten erklärt
und die Kriegsſchiffe aller befreundeten Nationen waren durch einen
Erlaß der Regierung in Madrid aufgefordert worden, jene aufzu-
bringen, wo ſie ſie fänden, allein da die ſpaniſche Republik noch
nicht officiell vom deutſchen Reiche anerkannt war, obwol ein
deutſcher Geſchäftsträger in Madrid mit ihr officiöſe Beziehungen
unterhielt, ſo hätte ich auf Grund dieſes Erlaſſes und ohne
weitere Inſtructionen nichts gegen die Schiffe der Intranſigenten
unternehmen können, hielt mich aber in Anbetracht der oben
dargelegten Argumente dazu für berechtigt und verpflichtet.
Ich ging deshalb mit der Abſicht nach Alicante, nicht nur das
Bombardement nicht zu dulden, ſondern auch die „Victoria“
aufzubringen, wenn ich ſie unter rother Flagge träfe, und ſie
unſchädlich zu machen. Dazu kam es jedoch nicht; denn als
wir am andern Morgen früh vor Alicante anlangten, begegnete
uns von weitem die „Victoria“ und zeigte ihre Flagge, aber
nicht die rothe, ſondern die ſpaniſche. Da ich überdem nicht
wußte, ob das angedrohte Bombardement wirklich ſtattgefunden,
ſo fehlte mir jetzt ein legaler Grund zum Angriff und ich ließ
ſie auf ihrem ſüdwärts gerichteten Wege paſſiren.


In Alicante ſelbſt erfuhren wir, daß das Telegramm des
engliſchen Conſuls über die bevorſtehende Ankunft und Schutz-
leiſtung des „Friedrich Karl“ die Sachlage ganz bedeutend ver-
ändert hatte. Die Flüchtlinge waren größtentheils zurückgekehrt
und die „Victoria“ hatte ihre Drohung, die Stadt zu bombar-
diren, nicht ausgeführt, ſondern, im Bewußtſein ihres illegalen
Treibens, es vorgezogen, ſich zu entfernen, jedoch noch einen
auf der Rhede liegenden Aviſo, den „Vigilante“, mitgenommen.
Die „Victoria“ ſollte ſich nach Torre-vieja, einer kleinen auf
dem Wege nach Cartagena liegenden Hafenſtadt, begeben haben,
um dort ihre Erpreſſungen fortzuſetzen. Ich verließ deshalb
Abends Alicante, wo von den Schiffen der Intranſigenten keine
25*
[388]Werner
Gefahr mehr zu befürchten war, dampfte die Küſte entlang nahe
bei Torre-vieja vorbei, ohne indeſſen die „Victoria“ zu gewahren
und traf am 23. Juli früh vor dem Hafen von Cartagena ein.
Bei unſerer Annäherung fielen von dem Eingangsforts zwei
blinde Schüſſe. Da ich ihre Bedeutung nicht kannte, hielt ich
mich vorläufig einige Seemeilen von der Küſte entfernt und be-
abſichtigte zunächſt, ein Boot in den Hafen zu ſchicken, um bei
unſerem Conſul Erkundigungen über die Lage der Verhältniſſe
einzuziehen und danach meine weitere Handlungsweiſe einzurich-
ten. In Begriff dies anzuordnen, ſahen wir um die vor dem
Hafen von Cartagena liegende Inſel Escombrero einen Aviſo
biegen, der an der Gaffel eine rothe Flagge führte. Ich ver-
legte ihm den Weg und ſchickte ein unbewaffnetes Boot an
Bord, um anzufragen, was das für eine Flagge ſei und wer
das Fahrzeug commandire. Die erſte Frage wurde mit „Can-
ton Murcia“ beantwortet; ein Commandant konnte jedoch nicht
nachgewieſen werden, vielmehr wurde als befehlende Behörde
eine an Bord befindliche Deputation von fünf Perſonen be-
zeichnet. Das Fahrzeug war der Tags zuvor von der „Vic-
toria“ bei Alicante fortgenommene Aviſo „Vigilante“, führte
zwei Geſchütze, hatte fünfzig bewaffnete Menſchen ohne Uniform
oder militäriſche Organiſation als Beſatzung und kam von Torre-
vieja, wo es 72,000 Realen erpreßt hatte.


Hier lag nach meiner Auffaſſung eine dem Begriffe See-
raub zum Verwechſeln ähnliche Handlung eines Schiffes vor,
die unter keinen Umſtänden geduldet werden durfte, da ſie allen
Regeln des Völkerrechts widerſprach. Die Thatſache ließ keine
verſchiedenen Auslegungen zu und fiel unter das Rubrum „See-
polizei“, die ex officio von jedem Kriegsſchiffe auszuüben iſt.
Andererſeits hielt ich es aber auch aus dem Grunde für meine
Pflicht, dieſem Unweſen ſofort und energiſch entgegenzutreten, weil
faſt in allen ſpaniſchen Hafenſtädten eine kleinere oder größere
Anzahl Deutſche angeſiedelt waren, zu deren Schutz ich mit den
[389]Nach Weſtindien und dem Mittelmeer
Schiffen nach dem Mittelmeere entſandt war und die gegen
ſolche Erpreſſungen ſicher geſtellt werden mußten, da die legi-
time Landesregierung außer Stande war, Schutz zu gewähren.
Ich brachte daher das Fahrzeug auf, belegte es mit Beſchlag,
ließ die rothe Flagge herunterholen und die deutſche Kriegs-
flagge ſetzen. Ein blinder Kanonenſchuß über Deck, als die
„Vigilante“ Miene machte, zu entfliehen und in den Hafen zu
laufen, hatte jeden weiteren Widerſtand beſeitigt und die Sache
ging ſehr ruhig vor ſich, wenigſtens auf dem Waſſer.


Am Lande verlief ſie nicht ſo glatt. Nach einer Stunde
kam der Sohn unſeres Conſuls aus Cartagena mit dem Be-
richte an Bord, in der Stadt herrſche große Aufregung über
die Wegnahme des „Vigilante“ und Contreras habe infolge
deſſen Befehl gegeben, die ganze Familie des deutſchen Conſuls
Spottorno, der ſelbſt nicht am Orte anweſend war, zu verhaften.
Dies war wiederum ein völkerrechtswidriger Act, den ich nicht
dulden durfte. Ich dampfte deshalb ganz nahe an den Hafen,
ſchickte ein Boot mit einem Officier in die Stadt und ließ den
Behörden durch den Sohn unſeres Conſuls mittheilen, daß ich,
falls man der Familie des letzteren oder einem anderen Deut-
ſchen das leiſeſte Unrecht zufüge, in den Hafen kommen und
Repreſſalien ergreifen würde.


Der Hafen von Cartagena öffnet ſich ſeewärts in die Bucht
von Escombrero, die öſtlich vom Eingange liegt. Er wird
durch eine Reihe von Feſtungswerken gedeckt, von denen zwei
oben auf den Höhen und vier unten am Strande erbaut ſind.
Zwiſchen die beiden äußerſten Strandforts wurde unſer Schiff
gelegt, die Breitſeiten ihnen zugekehrt und den Bug gegen den
Hafen und die Stadt gerichtet. Von den beiden äußeren Forts
war der „Friedrich Karl“ gegen 300, von den beiden inneren
600, vom Hafen gegen 1000 Meter entfernt und konnte von
der ganzen Stadt aus geſehen werden, was bisher, ſo lange er
ſich in der Bucht von Escombrero befand, nicht der Fall war.
[390]Werner
Das Schiff war natürlich klar zum Gefecht gemacht, und auch
dies konnte den Landbewohnern nicht entgehen und zeigte ihnen
den Ernſt der Situation. Es ließ ſich nicht leugnen, daß die
Lage inmitten der ſechs Feſtungswerke etwas ſtark vorgeſchoben
war, wenn es zum Kampfe kam, allein die Verhältniſſe geboten
ſchnelles Handeln, und letzterem kamen verſchiedene günſtige Um-
ſtände zu Hülfe. Die Forts datirten aus alter Zeit; man
ſah ihnen ſchon von außen an, daß ſie vernachläſſigt waren
und 21 Centimeter Granaten nicht wirkungslos von ihnen ab-
prallen würden. Ebenſo war Grund zu der Annahme vor-
handen, daß ſie nicht voll armirt und beſetzt ſeien, ſowie daß
bei den politiſchen Zuſtänden in der Stadt ein energiſcher und
erfolgreicher Widerſtand nicht erwartet werden konnte. Nach den
erhaltenen Mittheilungen hatten auch alle anſtändigen Officiere
der Beſatzung die Stadt verlaſſen; es fehlte die Disciplin
unter den vorhandenen Truppen und ein energiſches Vorgehen
erſchien deshalb angezeigt und zweckentſprechend. Dieſe Vor-
ausſetzung erwies ſich in allen Punkten als zutreffend. In den
Feſtungswerken zeigte ſich nirgends der Verſuch eines Wider-
ſtandes und nicht einmal die Geſchütze wurden beſetzt. Die
von Contreras angedrohte Verhaftung der Familie des Conſuls
unterblieb und ich erhielt die Nachricht, es ſei den Deutſchen
geſtattet worden, ſich an Bord des „Friedrich Karl“ zu begeben.
Die im Hafen liegende „Victoria“, ein Panzerſchiff von der
Stärke und Bewaffnung unſeres „König Wilhelm“, alſo dem
„Friedrich Karl“ bedeutend überlegen, ſowie ein Raddampfer
„Fernando el Catolico“ machten zwar Dampf, allein die Demon-
ſtration verlief ſehr kläglich. Als unſer Schiff ſich mit geöff-
neten Geſchützpforten den Molen näherte und ſich ſo legte, um
jene Schiffe beim Verlaſſen des Hafens ſofort anzugreifen, be-
ruhigte ſich ihr Eifer und ſie ließen die Feuer wieder ausgehen.
Im Hafen lagen außerdem noch die Panzerſchiffe „Numancia“,
„Mendez Nu[fi]ez“ und „Tetuan“, aber auf ihnen rührte ſich
[391]Nach Weſtindien und dem Mittelmeer
nichts, und es ließ ſich daraus ſchließen, daß ſie keine Beſatzung
hatten. Auf allen Schiffen ſowie auf den Feſtungswerken wehte
ſtatt der ſpaniſchen die rothe Flagge, das neue Emblem des
ſouveränen Cantons Murcia.


Während ſich dieſe Vorgänge abſpielten, kam der Comman-
dant des engliſchen Kanonenbootes „Pigeon“, welches als ein-
ziges fremdes Kriegsſchiff auf der Rhede von Escombrero
ankerte, zu mir an Bord, um ſich unter meinen Befehl zu
ſtellen. Er theilte vollſtändig meine eigene Auffaſſung der
Sachlage, daß wir es hier nicht mit politiſchen Parteien zu thun,
ſondern nur Verſtöße gegen das Völkerrecht zu verhindern hatten,
er hielt ſich deshalb verpflichtet, mit uns gemeinſam zu handeln
und ſolidariſch für die bedrohten Intereſſen der Fremden in
Spanien einzutreten. Nach einiger Zeit erſchienen drei Abge-
ordnete der junta revolucional, wie ſich die oberſte Behörde
des Canton Murcia nannte, auf dem „Friedrich Karl“, um zu
unterhandeln.


Unter der Deputation, welche an Stelle eines Comman-
danten den Befehl über die „Vigilante“ geführt, befand ſich
auch ein gewiſſer Galvez Arce, der eigentliche Anſtifter und
Führer der ganzen revolutionären Bewegung von Cartagena.
Er war ein einfacher ungebildeter Mann, der kaum ſeinen
Namen ſchreiben konnte und ein unklarer Kopf, jedoch, wie wir
erfuhren, jedenfalls einer der wenigen Republikaner, die es ehr-
lich mit der von ihnen vertretenen Sache meinten und der beim
niederen Volke in hohem Anſehen ſtand.


Wenngleich es von vornherein meine Abſicht war, nur
das Schiff feſtzuhalten, dagegen die Beſatzung frei zu geben,
weil kein unzweideutiger piratiſcher Act von ihr begangen
war, der ihre gerichtliche Verurtheilung nothwendig machte und
weil ich jeden Schein einer Einmiſchung in die Parteiverhältniſſe
Spaniens vermeiden wollte, ſo bot doch die Gefangennahme von
Galvez eine willkommene Gelegenheit, um an ſeine Freigebung
[392]Werner
gewiſſe Bedingungen zu knüpfen, die namentlich den Deutſchen
in Cartagena und den übrigen Küſtenſtädten zu Gute kommen
ſollten. Dieſe Bedingungen wurden in einem ſchriftlichen Ab-
kommen formulirt und den drei Abgeordneten übergeben, um
ſie der Junta zur Genehmigung vorzulegen. Die Junta war
zwar keine vom deutſchen Reiche anerkannte, aber doch die augen-
blicklich factiſche Regierung. Vermöge der Kriegsſchiffe, welchen
die legitime Regierung in Madrid keine anderen entgegenzuſtellen
vermochte, dominirte ſie an der ganzen Südküſte und die dort
anſäſſigen Deutſchen und Fremden waren ihren etwaigen Ge-
waltacten Preis gegeben. Es mußte alſo mit den Thatſachen
gerechnet und wenn ſich eine Gelegenheit bot, ohne Blutvergießen
ſolche Gewaltacte zu hindern und unſeren deutſchen Landsleuten
wirkſamen Schutz zu gewähren, dieſe ergriffen werden.


Das Abkommen lautete ſeinem Sinne nach folgendermaßen:


1. Der Commodore Werner, Commandant S. M. Panzer-
fregatte „Friedrich Karl“, hat ſich genöthigt geſehen, den bewaff-
neten Dampfer „Vigilante“, auf Grund der von ihm geführten
und den Kriegsmarinen nicht bekannten Flagge, mit Beſchlag zu
belegen.


2. Der Herr Antonio Galvez Arce, Commandant (gefe)
der „Vigilante“, erkennt dieſe Beſchlagnahme als berechtigt an,
jedoch wird Commodore Werner die Beſatzung des genannten
Schiffes freilaſſen.


3. Herr Galvez und die übrigen Unterzeichner dieſes Ab-
kommens (die Vertreter der Junta) verpflichten ſich, Leben und
Gut aller Deutſchen oder ſonſtigen Fremden, die ſich in Carta-
gena oder unter Jurisdiction des am letzteren Orte gebildeten
Wohlfahrtsausſchuſſes (junta de salud publica) befinden, zu
reſpectiren.


4. Ebenſo verpflichtet ſich die genannte Junta, keines der
gegenwärtig im Hafen von Cartagena vor Anker liegenden
Kriegsſchiffe bis zum 28. d. M., bis wohin Inſtructionen der
[393]Nach Weſtindien und dem Mittelmeer
deutſchen und engliſchen Regierung für „Friedrich Karl“ und
„Pigeon“ eingetroffen ſein können, auslaufen zu laſſen.


5. Beide genannten Schiffe („Friedrich Karl“ und „Pigeon“)
ſowie andere, die etwa noch eintreffen ſollten, können, nach ihrer
Wahl, entweder auf der Rhede von Escombrero oder im Hafen
von Cartagena ankern und dürfen unter keinen Umſtänden in irgend
welcher Weiſe von den Bewohnern des Landes behelligt werden.


An Bord der deutſchen Panzerfregatte „Friedrich Karl“,
den 23. Juli 1873.


Dieſes Schriftſtück wurde von der Junta ſowie von General
Contreras, als Spitze der Militärbehörden, für bindend aner-
kannt und einerſeits von mir und dem Commandant Trotter
vom „Pigeon“, andererſeits von den Deputirten der Junta,
Moja, Sauvalle, Carvajal und Galvez, ſowie von dem ſtell-
vertretenden deutſchen Conſul Spottorno unterzeichnet.


Infolge deſſen ſetzte ich Galvez mit der Beſatzung in Frei-
heit und dämpfte damit die in der Stadt herrſchende Aufregung.


Der oben genannte Carvajal war der früher erwähnte
Volkstribun von Malaga, und ich war ſehr erſtaunt, ihn in
Cartagena wiederzuſehen, bis ich erfuhr, daß dort ſeine Herr-
lichkeit ein jähes Ende gefunden hatte. Der neue in Malaga
von der Cortes eingeſetzte Gouverneur Solier, ein energiſcher
Mann, hatte Carvajal und ſeine Freiwilligen aus der Stadt
zu drängen gewußt und dieſer hatte ſich nach Cartagena gerettet,
um mit Hülfe der Kriegsſchiffe und in Verbindung mit der
zurückgebliebenen Communiſtenpartei ſich am 24. d. M. Mala-
ga’s wieder zu bemächtigen. Dies erfuhr ich noch vor Abſchluß
der Verhandlungen aus ſeinem eigenen Munde. Er erzählte
überhaupt ſehr unbefangen alles mögliche und ſagte mir unter
anderem: „Ich wollte heute mit „Vigilante“, „Victoria“ und
„Fernando el Catolico“ nach Malaga abgehen.“ Ich erwiderte,
daß es mir leid thäte, ſeinem Vorhaben hindernd in den Weg
[394]Werner
treten zu müſſen, aber gleichzeitig bewog mich dieſe Aeußerung
noch den Paſſus 4 in das Abkommen mit aufzunehmen. Durch
das Feſthalten der Schiffe wurde Carvajals Unternehmen bis
auf weiteres vereitelt und der beſte Schutz gegen ſolche Aus-
ſchreitungen gewährt, unter denen die Deutſchen am meiſten ge-
litten hätten. Bis zum 28. hoffte ich präciſe Inſtructionen
von Berlin aus zu erhalten und danach meine weiteren Maß-
nahmen treffen zu können.


Die Annahme jener Bedingungen gab die Gewißheit, daß
das den Behörden des Cantons Murcia gegenüber inne ge-
haltene Verfahren ein zweckentſprechendes geweſen war. Der
gezeigte Ernſt hatte ſie offenbar eingeſchüchtert, und im Intereſſe
eines weiteren friedlichen Verlaufes der Angelegenheit kam es
darauf an, ſie zwar einerſeits in keiner Weiſe zu provociren,
andererſeits ſie aber in der Stimmung zu erhalten. Um ihnen
zunächſt den Hauptſtein des Anſtoßes aus den Augen zu ſchaffen,
wurde noch am ſelben Tage die „Vigilante“ mit einer Priſen-
mannſchaft und unter deutſcher Kriegsflagge nach Gibraltar ge-
ſchickt, um das Eintreffen weiterer Befehle von Berlin abzu-
warten. Dort machte zwar der engliſche Gouverneur den Verſuch,
das Schiff unter die Jurisdiction eines engliſchen Priſengerichts
zu bringen, allein ohne Erfolg. Das eigenthümliche Anſinnen
des Engländers wurde von dem commandirenden Officier der
Priſe ebenſo höflich wie entſchieden abgelehnt und die letztere,
auf Anweiſung des deutſchen Geſchäftsträgers in Madrid, ſpäter
an den ſpaniſchen Conſul für die republikaniſche Regierung aus-
geliefert, ſo daß ſie wieder in die Hände ihrer rechtmäßigen
Eigenthümer gelangte. Auf dem Wege nach Gibraltar lief die
„Vigilante“ Almeria an, wo die „Eliſabeth“ lag, und über-
brachte ihr meinen Befehl, nach Cartagena zu kommen, da die
Sachlage doch möglicherweiſe ihre Anweſenheit nöthig machen
konnte. Sie traf dort am 24. Juli Abends ein, mußte indeſſen
ſchon am andern Mittag wieder nach Cadix entſandt werden,
[395]Nach Weſtindien und dem Mittelmeer
da ſich die Communiſtenpartei unter Salvochea dieſer Stadt
zu bemeiſtern drohte und der deutſche Conſul auf das dringendſte
um die Hülfe eines Kriegsſchiffes bat.


In Cartagena ſchien man inzwiſchen durch die Fortnahme
der „Vigilante“ doch etwas vorſichtiger geworden zu ſein. Bei
Gelegenheit der Verhandlungen hatte ich die Erklärung abge-
geben, daß ich jedes bewaffnete Schiff unter rother Flagge fort-
nehmen würde, und das hatte Contreras wol bedenklich gemacht,
um ſo mehr als nun auch noch die „Eliſabeth“ eingetroffen war.
Am 25. Juli Morgens war deshalb auf allen Feſtungswerken
und Kriegsſchiffen im Hafen die rothe Flagge verſchwunden und
die ſpaniſche, wenn auch ohne die Krone darin, die ſich mit der
Republik nicht vertrug, wieder geheißt.


Damit fiel für mich ein Grund zur Aufbringung der
Schiffe fort; doch ſchien Contreras ſeiner Sache nicht ganz
ſicher zu ſein, denn am 28. Juli Morgens hatte er alle Con-
ſuln zuſammenberufen und in ihrer Gegenwart den unſrigen ge-
fragt, ob ich die Schiffe unter ſpaniſcher Flagge paſſiren laſſen
würde. Ich hatte dieſe Frage vorausgeſehen und unſeren Con-
ſul ſchon im Vorwege erſucht, dieſelbe eventuell dahin zu be-
antworten, daß ich die Schiffe ſo lange unbehelligt laſſen würde,
als ſie die internationalen Geſetze reſpectirten und keinem Deut-
ſchen ein Unrecht zufügten. Contreras gab darauf das feier-
liche Verſprechen, daß beides nicht geſchehen ſolle, und ich erfuhr,
daß er am 28. abends, nach Ablauf der in unſerem Vertrage
feſtgeſetzten Friſt, mit der Fregatte „Almanſa“ (60 Kanonen)
und dem Panzerſchiff „Victoria“ (23 Kanonen), mit einer Ge-
ſammtbeſatzung von 1400 Mann, nach Almeria und von dort
nach Malaga abgehen würde.


Von der deutſchen Regierung waren bis zu dieſem Tage
zwar keine weiteren directen Inſtructionen für mich eingetroffen,
indeſſen hatte ich durch unſeren Geſchäftsträger in Madrid die
Anweiſung erhalten, die Schiffe der Intranſigenten zu über-
[396]Werner
wachen und nicht zu dulden, daß ſie Gewaltacte gegen ſpaniſche
Küſtenſtädte begingen, wodurch deutſche Intereſſen gefährdet
werden könnten.


Abends am 28. verließen die beiden Schiffe Cartagena.
Contreras hatte ſich mit ſeinem Stabe und einem Deputirten
der föderaliſtiſchen Minorität der Cortes, dem Advocaten Torre,
auf der „Almanſa“ eingeſchifft und auf ihr die Admiralsflagge
geheißt. Der Canton Murcia oder vielmehr alle föderaliſtiſchen
Parteien copirten nämlich auch in allen Aeußerlichkeiten die
franzöſiſche Revolution von 1789. So wurde z. B. in den
Städten, wo ſie die Herrſchaft erhielten oder zu erhalten glaub-
ten, ſofort ein Wohlfahrtsausſchuß gebildet und den Militärbe-
fehlshabern ein Mitglied deſſelben als ad latus, d. h. zur
Ueberwachung beigegeben. Bei Contreras verſah der genannte
Torre dieſen Vertrauenspoſten.


Bei dem Auslaufen der Schiffe beſäumten Tauſende und
aber Tauſende von Zuſchauern das Ufer und gaben ihnen unter
donnernden Hurrahrufen und Muſik das Geleit.


Um ihre Herrſchaft zu feſtigen, bedurften die Intranſigenten
vor allen Dingen einer Ausbreitung ihrer Machtſphäre und
materieller Mittel, deren Mangel ſich bereits ſehr fühlbar machte.
Die reichen Seeſtädte waren nach beiden Richtungen hin ſehr
begehrenswerthe Objecte. Mit Hülfe der großen Kriegsſchiffe,
denen die Regierung von Madrid zur Zeit nichts entgegenzu-
ſtellen hatte, ließen ſich dieſe Städte, in denen ſich überall mehr
oder minder zahlreiche Communiſtenparteien befanden, nach An-
ſicht der Cantonaliſten leicht bewältigen, während der Mangel
einer Militärmacht zu Lande eine ſolche Offenſive ausſchloß.
Das lebhafte Intereſſe, welches die Cartagener an dem Aus-
laufen der Schiffe nahmen, war deshalb ſehr erklärlich. Letztere
bildeten die Hauptſtärke der Revolution und konnten allein die
Mittel ſchaffen, um dieſe zu nähren; ohne die Schiffe mußte
ſie bald zuſammenbrechen.


[397]Nach Weſtindien und dem Mittelmeer

Gleichzeitig mit Contreras verließ ich mit dem „Friedrich
Karl“ die Rhede von Escombrero, ging mit vollem Dampf
zwiſchen beiden Schiffen hindurch und ſetzte Curs auf Malaga,
da ſich in Almeria keine Deutſchen befanden und mich deshalb
die etwaigen Maßnahmen des Generals dort nichts angingen.


Am 29. Juli Mittags traf ich in Malaga ein und fand
die Stadt in größter Aufregung. Laut telegraphiſcher Nachricht
war Contreras mit beiden Schiffen vor Almeria erſchienen und
hatte, unter Androhung eines Bombardements, die Proclamirung
der Provinz als unabhängigen Canton und eine Contribution
von vier Millionen Realen verlangt. Bei einer verſuchten
Landung waren jedoch ſeine Leute von der regierungstreuen und
tapferen Beſatzung Almeria’s zurückgeſchlagen worden und er hatte
begonnen, die offene Stadt zu bombardiren. Daſſelbe Schickſal
ſollte er Malaga angedroht haben, weil der dortige Gouverneur
Solier mit ſeinen Milizen die Anhänger des nach Cartagena
entflohenen Carvajal gründlich geſchlagen, theilweiſe zu Gefange-
nen gemacht hatte und dieſe, ſowie den ohne weitere Umſchweife
aufgehobenen Wohlfahrtsausſchuß auf einem Regierungsdampfer
nach Ceuta hatte deportiren laſſen. Dies war am 25. geſchehen,
d. h. an dem Tage, wo „Victoria“ und „Vigilante“ ſich unter
Beiſtand der Communiſtenpartei der Stadt Malaga bemächtigen
ſollten, war aber durch unſere Blockade des Hafens von Car-
tagena vereitelt worden.


In der Nähe von Malaga befinden ſich zwar einige alte
Strandbefeſtigungen, doch waren dieſelben theilweiſe gar nicht
armirt und jedenfalls nicht im Stande, mit irgend welchem Er-
folg die ſonſt offene Stadt gegen ein Bombardement der Schiffe
zu vertheidigen. Die Deutſchen hegten deshalb große Beſorgniß;
jedoch konnte ich ſie, auf Grund meiner Inſtructionen, vollkommen
beruhigen und ihnen die Zuſicherung geben, daß ich ein Bom-
bardement der Stadt nicht dulden und außerdem die Schiffe
ſofort angreifen würde, ſobald ſie anderweitig Leben oder Gut
der Deutſchen gefährdeten.


[398]Werner

Am 31. Morgens kam die engliſche Panzerfregatte „Swift-
ſure“ vor Malaga an. Die Inſtructionen des Kapitän Ward
lauteten ähnlich wie die meinigen, und da er auch die Anſicht
theilte, daß man es hier nicht mit politiſchen Parteien, ſondern
mit Raubgeſindel zu thun hätte, ſo machte er mir den Vor-
ſchlag, gemeinſam dieſem geſetzloſen Treiben entgegenzutreten und
Malaga vor einem ähnlichen Schickſale, wie es Almeria be-
troffen, dadurch zu bewahren, daß wir die Schiffe der Intranſi-
genten zwangsweiſe nach Cartagena zurückescortirten und ſie dort
ſo lange blokirten, bis wir von unſeren Regierungen Verhal-
tungsmaßregeln für ihre weitere Behandlung empfangen würden.
Für den Fall der Widerſetzlichkeit wollten wir die Schiffe
nehmen und ſie nach Gibraltar bringen. Ich acceptirte dieſen
Vorſchlag; das Abkommen wurde ſchriftlich formulirt und da
ich der Anciennetät nach der ältere Officier war, ſtellte ſich der
„Swiftſure“ unter meine Befehle.


Wir forderten den Kapitän der vor Malaga liegenden
franzöſiſchen Panzercorvette „Jeanne d’Arc“ auf, mit uns ge-
meinſame Sache zu machen, jedoch lehnte er dies mit dem
Bemerken ab, ſeine Inſtruction gebiete ihm die Beobachtung
der ſtricteſten Neutralität. Als am Nachmittage die Nachricht
eintraf, die Schiffe ſeien nach dem Bombardement von Almeria
nach Motril, einer nur noch zehn Meilen von Malage entfernten
Stadt geſegelt, hätten dort ebenfalls, unter Androhung von Ge-
waltmaßregeln, große Geldſummen erpreßt und befänden ſich auf
dem Wege nach Malaga, dampfte die „Jeanne d’Arc“ merk-
würdiger Weiſe nach Cadix ab. Dies Verfahren des Franzoſen
gab zu denken und erweckte den Anſchein, als begünſtige Frank-
reich die Intranſigenten, die man in Spanien ſchon ganz offen
als Parteigänger von Don Carlos bezeichnete.


Am 1. Auguſt mit Tagesanbruch gingen „Swiftſure“
und „Friedrich Karl“ in See, um die Schiffe aufzuſuchen.
Kaum hatten ſie die Anker gelichtet, als ſie auch ſchon in vier
[399]Nach Weſtindien und dem Mittelmeer
Seemeilen Entfernung von Malaga die auf den Hafen zu-
ſteuernde Fregatte „Almanſa“, mit der Flagge von Contreras
im Top erblickten. Die beiden Panzer nahmen ſie in die Mitte,
dampften auf ſie zu und heißten auf etwa 2000 Meter Entfer-
nung Flagge, ohne daß dies jedoch erwidert wurde. Wenn ein
Kriegsſchiff einem anderen die Flagge zeigt, ſo verlangt die
internationale Höflichkeit, daß letzteres daſſelbe thut. Geſchieht
dies nicht, ſo iſt dies eine Nichtachtung, die kein Admiral oder
Commandant ſich gefallen laſſen darf.


Auf der „Almanſa“ ſchien man offenbar den Kopf ver-
loren zu haben, als man plötzlich unſere beiden Schiffe aus
dem Morgennebel emportauchen ſah, und gleichzeitig documen-
tirte ſich das ſchlechte Gewiſſen in der Unſicherheit des Steuerns.
Bald lag die Fregatte landwärts, bald ſeewärts, aber zeigte
noch immer keine Flagge. Ich ließ deshalb aus dem vorderen
Geſchütz des „Friedrich Karl“ eine 21 Centimeter Granate dicht
vor den Bug der „Almanſa“ feuern, eine Mahnung, die ſie
auch augenblicklich verſtand, denn die ſpaniſche Flagge flog
jetzt blitzſchnell in die Höhe. Gleichzeitig hoffte ich, die In-
tranſigenten durch den ſcharfen Schuß zu überzeugen, daß ich
inzwiſchen meine Anſichten nicht geändert hätte und ihnen
ſcharf auf die Finger ſehen würde. Er ſchien auch in dieſem Sinne
die beabſichtigte Wirkung nicht zu verfehlen, denn die „Al-
manſa“ ſtoppte die Maſchine und wir liefen mit unſeren
Schiffen bis auf Rufweite hinan. Als meine Frage, ob ſich
General Contreras und ein Deputirter an Bord befände, be-
jaht wurde, erſuchte ich beide an Bord des „Friedrich Karl“
zu kommen. Statt deſſen erſchien ein Landofficier, um mir
mitzutheilen, der General könne, da keine Fallreepstreppe aus-
gehängt ſei, wegen ſeiner großen Leibesſtärke nicht kommen. Ich
ließ dieſe Entſchuldigung jedoch nicht gelten, wiederholte den
Befehl und gab, um den General über unſere Abſichten nicht
in Zweifel zu laſſen, dem Officier eine ſpaniſche Ueberſetzung
[400]Werner
des zwiſchen Kapitän Ward und mir getroffenen Ueberein-
kommens zur Aushändigung an ſeinen Vorgeſetzten. Trotzdem
erſchien Contreras nicht, ſo daß ich mit Anwendung von Ge-
walt drohen mußte, für den Fall, daß er in zehn Minuten
nicht an Bord ſei.


Der „Friedrich Karl“ hatte ſich inzwiſchen der „Almanſa“
bis auf fünfzig Schritte genähert; es wurde Generalmarſch ge-
ſchlagen und die Leute eilten an die Geſchütze. Das half! die
ultima ratio ſchien überzeugende Beweiskraft zu beſitzen, denn
die Treppe wurde jetzt ſchleunigſt ausgeſetzt und Contreras er-
ſchien alsbald mit drei Adjutanten und dem Deputirten Torre.
Der General war wirklich außerordentlich dick und unbehülflich
und konnte kaum unſere Fallreepstreppe heraufklettern. Als er
das Deck des „Friedrich Karl“ betrat, war er vollſtändig er-
ſchöpft und ſein erſtes Wort lautete: „una silla“ (ein Stuhl).
Jedenfalls ſtrafte er das alte Wort Lügen, daß dicke Leute keine
Verſchwörer ſeien.


Kapitän Ward, der inzwiſchen zu mir an Bord gekommen,
und ich empfingen ihn am Fallreep. Um meiner Sache ganz
ſicher zu ſein, richtete ich zunächſt die Frage an ihn, wohin er
mit der „Almanſa“ wolle und wo die „Victoria“ ſei. Ich er-
hielt die Antwort: „Nach Malaga“, auch die „Victoria“ ſei
dorthin beſtimmt und müſſe bald eintreffen.


Darauf theilte ich dem General nochmals mündlich mit,
was Kapitän Ward und ich über ſeine Schiffe beſchloſſen und
eröffnete ihm gleichzeitig meine Abſicht, ihn ſelbſt bis zur weite-
ren Entſcheidung meiner Regierung als Geißel an Bord zu be-
halten, um die Gewähr zu haben, daß den Deutſchen in Carta-
gena kein Leid geſchähe. Bei Gelegenheit der „Vigilante“-Affaire
habe er bereits den Befehl zur Verhaftung der Familie des
Conſuls ertheilt und ihn nur auf meine Drohung, die Stadt
zu bombardiren, wieder rückgängig gemacht. Sodann habe er
in Gegenwart aller Conſuln das Verſprechen gegeben, nicht
[401]Nach Weſtindien und dem Mittelmeer
gegen internationale Geſetze zu handeln und keinen Deutſchen zu
ſchädigen. Dennoch ſei zwei Tage danach die offene Stadt Al-
meria von ihm bombardirt worden und Malaga daſſelbe Schick-
ſal zugedacht geweſen. Nach dieſen Erfahrungen könne ich
meine Landsleute nur dadurch gegen Wiederkehr ſolcher völker-
rechtswidrigen Maßregeln ſchützen, daß ich ihn bis auf weiteres
als Geißel zurückbehielte.


Contreras proteſtirte ſehr heftig gegen meine Anordnungen,
nannte ſich das Oberhaupt und den Repräſentanten Spaniens
und zeigte ſich ungemein hochfahrend. Ich nahm jedoch weiter
keine Notiz von ſeinem Verhalten, das ſich übrigens ſehr bald
von ſelbſt änderte. Gegen ſieben Uhr kam nämlich die „Vic-
toria“ in Sicht, und wenn ich auch nach den gemachten Er-
fahrungen keine Gegenwehr erwartete, ließ ich doch aus Vorſicht
den „Friedrich Karl“ wieder klar zum Gefecht machen. Als
nun der Generalmarſch ertönte, die Mannſchaften auf ihre
Stationen eilten, die ſchweren Granaten in unmittelbarer Nähe
des Generals auf den Geſchoßkarren zu den Geſchützen ge-
fahren wurden, ſchwand auf einmal ſeine bis dahin zur Schau
getragene ſittliche Entrüſtung. Trotz ſeiner Unbehülflichkeit,
ſprang er ſehr lebhaft von dem Stuhle auf und bat mich ſehr
dringend, an Bord der „Almanſa“ fahren zu dürfen, um der
„Victoria“ Signal zu geben, daß ſie nicht feuere. Obwol ich
nun dieſe Beſorgniß keineswegs theilte und den Intranſigenten
nicht den Muth zutraute, den ihr Vorgeſetzter dämpfen zu müſſen
glaubte, ſo geſtattete ich dennoch das Anſuchen des Generals,
nachdem er mir — und zwar ohne von mir dazu veranlaßt
zu ſein — freiwillig ſein Ehrenwort gegeben hatte, nach Aus-
führung des Signals ſofort wieder zurückzukehren. Das Signal
wurde gemacht, nach vieler Mühe auf der „Victoria“ ver-
ſtanden und dieſe heißte eine weiße Flagge, d. h. ſie ſprach
die Bitte aus, keine Feindſeligkeiten gegen ſie zu eröffnen. Um
R. Werner, Erinnerungen. 26
[402]Werner
uns gleichzeitig zu überzeugen, welchen Reſpect ſie vor uns
habe, dippte ſie vor jedem unſerer Schiffe wieder dreimal die
Flagge, wie beim Auslaufen aus Cartagena, als ich die Linie
durchbrach. Obwol dann beide Schiffe auf meinen Befehl mit
Curs auf Cartagena Kehrt gemacht und, von „Friedrich Karl“
und „Swiftſure“ escortirt, ruhig den vorgeſchriebenen Weg
dampften, kam Contreras nicht zurück. Ich wartete bis Mittag
und ſprach dann gegen den Deputirten Torre mein Erſtaunen
über eine ſolche Auffaſſung des Ehrenwortes ſeitens eines
Generals und Staatsoberhauptes aus. Torre ſuchte ihn auf
jede Weiſe zu vertheidigen, verſicherte, daß er beſtimmt kommen
würde und nur ein Mißverſtändniß vorliegen könne. Als der
General aber um zwei Uhr noch nicht zurückgekehrt war, ſchickte
ich ein Boot und ließ ihm durch einen ſeiner Adjutanten den
Befehl überbringen, ſich ſofort auf den „Friedrich Karl“ zurück-
zubegeben. Dieſem Befehle gehorchte er auch, aber ohne ſich mit
einem Worte zu entſchuldigen; ſein erſter Adjutant meinte,
der General habe in der Zerſtreuung das Ehrenwort vergeſſen.
Dies zur Characteriſtik eines Mannes, der ſich den Repräſen-
tanten Spaniens nannte.


Wie richtig wir darin gehandelt hatten, die beiden Schiffe
aufzubringen, ging aus einer unbewachten Aeußerung des Depu-
tirten hervor. Er war ſehr lebhafter Natur und im Geſpräche
mit einem unſerer Officiere entfuhr ihm der Ausruf: „Wehe
Malaga, wenn wir dorthin gekommen wären!“


Andererſeits war es wieder komiſch, ſeine Aufregung zu
ſehen, als die Rede darauf kam, daß beim Erſcheinen eines Kriegs-
ſchiffes der Centralregierung „Victoria“ und „Almanſa“ aus-
geliefert werden würden. In größter Angſt ſtürzte er auf mich
zu und beſchwor mich, ihn nicht an die Centralregierung aus-
zuliefern, er ſtelle ſich unter deutſchen Schutz. Er war ſo exal-
tirt, daß ich ihn kaum mit der Zuſicherung zu beruhigen ver-
[403]Nach Weſtindien und dem Mittelmeer
mochte, es ſei nicht im entfernteſten meine Abſicht, ihn auszu-
liefern, er könne vielmehr in Cartagena gehen, wohin er wolle.


Man ſieht, wes Geiſteskinder die Leiter der Intranſigen-
ten waren.


In der darauffolgenden Nacht begegneten wir der eng-
liſchen Mittelmeerflotte unter Befehl des Viceadmiral Yelverton,
zu welcher auch der „Swiftſure“ gehörte. Kapitän Ward fuhr
an Bord des Flaggſchiffes und meldete ſeinem Befehlshaber
die von uns gethanen Schritte. Der Admiral billigte dieſelben
vollſtändig, war jedoch der Anſicht, die Schiffe nicht im Hafen
von Cartagena zu blockiren, ſondern ſie und ſämmtliche Waffen
mit Beſchlag zu belegen, die Beſatzungen dagegen an Land zu
ſchicken, was wir infolge deſſen auch zu thun beſchloſſen.


Am nächſten Tage fand zwiſchen „Almanſa“ und „Fried-
rich Karl“ eine Colliſion ſtatt, bei der letzterem jedoch nur ein
Boot ruinirt wurde, während die „Almanſa“ ſich ihr ganzes
Vorgeſchirr zerbrach. Da ich Urſache zu der Annahme hatte,
der Zuſammenſtoß ſei von der „Almanſa“, wenn nicht abſicht-
lich, ſo doch aus ſtrafbarer Nachläſſigkeit herbeigeführt, ſo änderte
ich die Fahrordnung, gab beiden ſpaniſchen Schiffen die Weiſung,
voranzudampfen und drohte ihnen, eine Granate über Deck zu
feuern, ſobald ſie ſich wieder von dem aufgegebenen Curſe ent-
fernten. Gleichzeitig befahl ich, die ſpaniſche Flagge zu ſtreichen
und ſtatt derſelben die Quarantäneflagge zu ſetzen. Ich glaubte
kaum, daß man dieſem Befehle ohne weiteres nachkommen
würde und ließ deshalb beide Schiffe klar zum Gefecht machen,
aber es wurde ohne Widerſpruch gehorcht, und ſo langten wir
am 3. Auguſt Mittags auf der Rhede von Escombrero an.


Bei der großen Aufregung, welche ſchon die Fortnahme
der „Vigilante“ in Cartagena hervorgerufen, konnten wir
uns wol vorſtellen, welche Gefühle die der Revolution an-
hängenden Bewohner der Stadt bewegen mußten, wenn ſie
26*
[404]Werner
die beiden Schiffe, auf deren Miſſion ſie ſo große Hoff-
nungen geſetzt, für ſich verloren ſahen. Dieſe ſollten ja
nicht nur Geld und Waffen ſchaffen, ſondern auch die ganze
Südküſte Spaniens, ſowie den zweiten Kriegshafen, Cadix, wo
bereits zwiſchen Communiſten und Republikanern, und zwar
nachtheilig für die letzteren, gekämpft wurde, gewinnen. Das
war nun alles vorbei; die Truppen der Centralregierung mar-
ſchirten heran, es fehlte an Waffen, Munition und vor allem
an Geld. Alle wohlhabenden Bewohner Cartagena’s, 16,000 an
der Zahl, waren geflohen, ſodaß nichts mehr erpreßt werden
konnte, und ſo mußten die Cantonaliſten die Ueberzeugung ge-
winnen, daß mit der Fortnahme der Schiffe der Anfang vom
Ende gekommen ſei. Daß dieſe Ueberzeugung leicht dahin
führen konnte, Repreſſalien an den Fremden zu nehmen, war
nicht zu leugnen; es mußte deshalb unſererſeits dahin geſtrebt
werden, ſolchen Folgen vorzubeugen.


So wie wir den Character der Intranſigenten kennen ge-
lernt hatten, hielten Kapitän Ward und ich es für das Richtige,
auch fernerhin eine unbeugſame Energie zu zeigen, um da-
durch unſeren Zweck zu erreichen. Ehe wir noch ankerten,
hatte ich eine längere Unterredung mit dem Deputirten Torre,
um ihn auf die höchſt bedenklichen Folgen für die Stadt und
ihre Bewohner aufmerkſam zu machen, die ein etwaiger Angriff
auf die Fremden nach ſich ziehen würde. Dann ſandte ich ihn
mit der Botſchaft an die Junta an Land, daß wir die Civil-
und Militärbehörden für die Sicherheit der Fremden verantwort-
lich machten und auf das Unnachſichtlichſte einſchreiten würden,
wenn jene nicht den erwarteten Schutz fänden. Gleichzeitig
wurden ſämmtliche Conſuln aufgefordert, allen Fremden, die ſich
am Lande gefährdet glaubten, eine Zuflucht an Bord unſerer
Schiffe anzubieten.


Wie Kapitän Ward und ich vorausgeſetzt, erfüllten unſere
[405]Nach Weſtindien und dem Mittelmeer
Maßnahmen vollſtändig ihren Zweck. Der Deputirte hatte wol
die Ueberzeugung gewonnen, daß die von uns in Ausſicht
geſtellten, allerdings ſcharfen Maßregeln gegebenen Falles ohne
Zögern zur Ausführung gebracht werden würden und ſchien
dies den Behörden klar gemacht zu haben. Infolge deſſen
blieben die Fremden unbehelligt und die Conſuln waren
der Anſicht, daß ihre Schutzbefohlenen am Lande ſicher
ſeien. Daß ich Contreras als Geißel an Bord behielt, übte
jedoch weniger Einfluß, als wir anfänglich glaubten. Im
Gegentheil war es für ihn ſelbſt gut, daß er vorläufig nicht an
Land kam, da man ihm nicht traute und ſich das Gerücht ver-
breitet hatte, es ſei ſeine Abſicht geweſen, die beiden Schiffe an
die cubaniſchen Inſurgenten zu verkaufen.


Eine ſehr ſchwierige Aufgabe blieb uns jedoch noch: die
Entwaffnung und Ausſchiffung der ſpaniſchen Schiffsmann-
ſchaften. Es waren 1400 Mann, zur Hälfte Soldaten, wäh-
rend „Swiftſure“, „Friedrich Karl“ und die inzwiſchen einge-
troffenen deutſchen und engliſchen Kanonenboote „Delphin“ und
„Torch“ zuſammen nur wenig über 1100 Mann hatten. War
das Niederholen der ſpaniſchen Flagge auf See auch wider-
ſtandslos vor ſich gegangen, ſo ſtand doch die Sache hier weniger
günſtig. Die Schiffe lagen unter den Kanonen der eigenen
Feſtung verankert; kaum 1500 Schritt davon entfernt im Hafen
die ſpaniſchen Panzerfregatten „Mendez-Nuñez“, „Numancia“
und „Tetuan“, ſowie die Corvette „Fernando el Catolico“; unter
ſolchen Umſtänden eine Entwaffnung von 1400 Mann vorzu-
nehmen, die noch im Beſitz von zwei unter Dampf befindlichen
ſchweren Schiffen mit 83 Geſchützen waren, blieb immerhin eine
ſehr ernſte Angelegenheit.


Bis jetzt hatten alle unſere Maßregeln zu dem erwarteten
Erfolge geführt und den Beweis geliefert, daß wir den Charak-
ter der Intranſigenten richtig taxirt. Kapitän Ward und ich
[406]Werner
beſchloſſen deshalb auf dem eingeſchlagenen Wege weiterzugehen.
Zunächſt wurde bei unſerer Ankunft auf der Rhede jede
Communication der Schiffe unter ſich, wie auch mit dem Lande
durch Androhung der ſtrengſten Maßregeln unterſagt, um ge-
meinſchaftliches Handeln unmöglich zu machen reſp. zu erſchweren.
Ein Cordon von Wachtbooten umgab die Priſen und dieſen
wurde verboten, ohne meine ſpecielle Erlaubniß irgend ein Boot
zu Waſſer zu laſſen, während gleichzeitig die Commandanten
den Befehl erhielten, die Geſchütze zu entladen und die Feuer
in den Maſchinen zu löſchen. Beim Zuwiderhandeln gegen
dieſe Befehle ſollten die Schiffe ſofort von uns beſchoſſen werden.
Der Commandant der „Victoria“, bis zur Inſurrection Kapi-
tän eines Handelsſchiffes, hatte auch zum Stabe der „Vigilante“
gehört und war jetzt zum zweiten Male unſer Gefangener. Ich
rieth ihm ſpeciell an, keinerlei Anlaß zur Unzufriedenheit durch
Ungehorſam zu geben, da er ſonſt ſich dem Schickſal ausſetzte,
möglicher Weiſe bald an der Raa zu hängen. Dieſe Ausſicht
ſchien die beabſichtigte Wirkung nicht zu verfehlen und es fiel
nichts vor, was ein ernſtes Einſchreiten unſererſeits nöthig ge-
macht hätte.


Kurz nach dem Ankern bat eine Deputation der ſpaniſchen
Schiffsbeſatzungen durch ihre an Bord des „Friedrich Karl“
befohlenen Commandanten um Erlaubniß, mit dem General
Contreras ſprechen zu dürfen. Unter der Bedingung, Zeuge
der Unterredung zu ſein, geſtattete ich es, und etwa ſechszehn
Vertreter der verſchiedenen Chargen kamen an Bord. Sie hatten
offenbar geglaubt, Contreras ſei in Feſſeln und Banden ge-
ſchlagen und müſſe Hunger leiden, denn es war wahrhaft
rührend zu ſehen, wie einer der Matroſen ihm ein Stück Brod
und Wurſt brachte. Die Deputation überzeugte ſich jedoch bald,
daß es ihrem Vorgeſetzten nicht ſo ſchlecht ging, wie ſie gefürch-
tet. Ich hatte ihm das ganze geräumige Verwaltungsbureau
[407]Nach Weſtindien und dem Mittelmeer
des Schiffes als Wohnraum überwieſen, er war mit ſeinem
Stabe mein Gaſt und es freute mich, ſeine Erklärung den Leuten
gegenüber zu hören, daß er materiell nichts entbehre; was das
Uebrige betreffe, ſo ſei er der Gewalt gewichen und die weitere
Entwickelung der Dinge müſſe ruhig abgewartet werden.


Durch unſeren Conſul erfuhr ich, daß ſich an Bord der
Priſen nur noch für einen Tag Lebensmittel befänden; in
dieſem Umſtande glaubte ich, eine bedeutende Hülfe für die Löſung
der ſchwierigen Aufgabe zu erblicken, die Mannſchaften gutwillig
zum Verlaſſen der Schiffe zu bewegen. Bevor die Deputation
wieder an Bord der letzteren zurückkehrte, ſprach ich deshalb
eindringlich mit ihr über die Verhältniſſe und ſuchte ihr die-
ſelben klar zu machen. Ich betonte, wie es unerläßlich ſei, daß
die Beſatzungen ohne Waffen ausgeſchifft würden; da es aber
wol begreiflich ſei, wie ſchwer ihnen ein ſolcher Entſchluß
werden müſſe, ſo wolle ich ihnen 24 Stunden Bedenkzeit, bis
zum andern Abend fünf Uhr, geben. Dann aber müßten ſie
unbedingt von Bord und es würde mir ungemein leid thun,
Gewaltmaßregeln anzuwenden, nachdem bisher alles ohne Blut-
vergießen abgegangen ſei, um ſo mehr, als ein Widerſtand ihrer-
ſeits gegen unſere Uebermacht keinerlei vernünftigen Zweck haben
würde. Ihr geſammtes Privateigenthum könnten ſie ungehindert
mit von Bord nehmen, ſämmtliche Waffen müßten dagegen aus-
geliefert werden. Kapitän Ward, der ebenfalls der ſpaniſchen
Sprache mächtig war, redete in gleichem Sinne, und es ſchien,
als ob unſere Worte den Eindruck machten, den wir von ihnen
erhofften. Der nächſte Morgen ſchon brachte die Beſtätigung
unſerer Vorausſetzungen. Mit Tagesanbruch wurde auf beiden
Schiffen eine blaue Flagge geheißt, das verabredete Signal für
das Eingehen der Beſatzungen auf die geſtellten Bedingungen.
Der wohlwollende wenn auch ernſte Ton unſerer Anſprachen,
die ſcharfe Ueberwachung während der Nacht durch die Patrouillen-
[408]Werner
boote, das Abſchneiden jeder Communication und endlich das
Ausgehen des Proviantes hatten ihre Wirkung gethan.


Als die Flaggen an den Toppen erſchienen, fühlte ich mich
weſentlich erleichtert, daß alles ſo glatt abzugehen ſchien, aber
immer noch blieben bedeutende Schwierigkeiten zu beſeitigen,
da es ſich jetzt um die wirkliche Beſitznahme und um die Aus-
ſchiffung der Mannſchaften handelte. Die Commandanten der
beiden Priſen wurden an Bord des „Friedrich Karl“ beordert
und erhielten die bezüglichen Befehle über den am zweckmäßig-
ſten erſcheinenden Modus der Uebergabe. Zuerſt ſollte die
„Almanſa“ evacuirt werden. Fünfzig deutſche und ebenſo viel
engliſche Matroſen und Soldaten, unter Führung von je einem
Officier, wurden beſtimmt, das Schiff zu beſetzen. Die ge-
ſammte Mannſchaft ſollte vor Ankunft unſeres Detachements
vorn auf dem Oberdeck ohne Waffen mit ihren Privatſachen
und fertig zur Ausſchiffung angetreten ſein. Der Commandant
wurde angewieſen, mit den Schlüſſeln zur Pulverkammer in der
Hand, am Fallreep den commandirenden deutſchen reſp. eng-
liſchen Officier zu empfangen, ihm die Schlüſſel zu übergeben,
den Weg zu den Pulver- reſp. Bombenkammern zu zeigen und
nachzuweiſen, daß alles in Ordnung ſei. Währenddem ſollten
unſere Leute ſich mit ſcharfgeladenem Gewehr auf dem Hinter-
deck aufſtellen und ſtarke Patrouillen die unteren Räume dahin
abſuchen, daß ſich Niemand mehr von der Beſatzung dort auf-
halte, da ſich Verzeichniſſe der Mannſchaft nicht an Bord be-
fanden. Ebenſo ſollte von unſerem Maſchinenperſonal unter-
ſucht werden, ob nicht irgendwo ein Ventil geöffnet ſei, um das
Schiff voll Waſſer zu laſſen.


In dieſer Weiſe ging denn auch die Uebergabe ohne
weitere Störung vor ſich. Unmittelbar nach der Beſitznahme
wurden zwanzig Boote längſeit geſchickt, um die Mannſchaften
aufzunehmen. Danach formirten die Boote zwei Reihen (je
[409]Nach Weſtindien und dem Mittelmeer
zehn); eine armirte Dampfbarkaſſe nahm je eine Colonne in’s
Schlepptau, „Delphin“ und „Torch“ gaben mit zum Gefecht
fertig gemachten Schiffe zu beiden Seiten das Geleit, „Fried-
rich Karl“ und „Swiftſure“ lichteten Anker und legten ſich,
ebenfalls gefechtsbereit, ganz nahe an den inneren Hafen, um
anzudeuten, daß irgend welcher Widerſtand ſofort niederge-
ſchlagen werden würde. Dieſe Maßregeln verfehlten die beab-
ſichtigte Wirkung nicht. Die Boote landeten, unter dem ſtummen
Zuſchauen der eingeſchüchterten Bevölkerung, die Mannſchaften
an den Kaimauern der Stadt ohne irgend welche Unordnung
und kehrten ungefährdet an Bord zurück.


Mit der „Victoria“ wurde dann ebenſo verfahren, jedoch
ſchifften wir deren Mannſchaften nicht im Hafen, ſondern an
der Oſtſeite der Bucht von Escombrero aus. Wir bemerkten
nämlich, daß man von der Inſel Escombrero nach der „Vic-
toria“ lebhaft ſignaliſirte und gleichzeitig ſchickte unſer Conſul
Botſchaft, daß nach Ankunft der „Almanſa“-Mannſchaften
„Mendez-Nuñez“ und „Fernando el Catolico“ Dampf gemacht
hätten und uns anzugreifen beabſichtigten.


Nach allem, was wir bis jetzt von den Intranſigenten ge-
ſehen, konnte dies nur eine Bravade der Bevölkerung gegenüber
ſein, jedoch hielten wir es für richtig, die Gemüther etwas ab-
zukühlen. Das Kanonenboot „Torch“ wurde mit der ſchrift-
lichen Warnung an den „Mendez-Nuñez“ in den Hafen ge-
ſchickt, ſich nicht außerhalb ſehen zu laſſen, da wir jedes aus-
laufende Kriegsſchiff ſofort angreifen und fortnehmen würden.
Damit war die Komödie ausgeſpielt, denn die Schiffe ließen
nach Empfang der Botſchaft die Feuer alsbald wieder ausgehen.
Den Signaliſten auf der Inſel Escombrero legte ein ſcharfer
Schuß aus einem Krupp’ſchen Ballongeſchütz ſchleunigſt das
Handwerk, und als die kleine Granate in ihrer Nähe platzte,
räumten ſie Hals über Kopf das Feld. Die Mannſchaften der
26**
[410]Werner
„Victoria“ hatten von dem Ausſchiffungsorte mit ihren Kleider-
ſäcken zwei Stunden auf ungebahnten Sandwegen zu marſchi-
ren, ehe ſie Cartagena erreichten, und wir hofften ſie durch
dieſe Strapazen ebenfalls abzukühlen, wenn ſie infolge der Sig-
nale etwa Widerſtandsgedanken gehegt haben ſollten. Am
andern Tage gab es nochmals eine kleine Aufregung. Der
engliſche Conſul theilte Kapitän Ward mit, von Communiſten
ſeien Flugblätter mit der Aufforderung zur Ermordung ſämmt-
licher Conſuln unter das Volk vertheilt und er wünſche ſich
an Bord des „Swiftſure“ einzuſchiffen. Der „Torch“ wurde
deshalb in den Hafen geſchickt, um auch unſeren Conſul aufzu-
nehmen, doch nur der engliſche Conſul mit ſeinen Damen ſchiffte
ſich ein, der deutſche lehnte ab. Nach ſeiner Anſicht waren die
wenigen in Cartagena zurückgebliebenen Einwohner — etwa
25,000 Menſchen hatten ſeit der Revolution die Stadt ver-
laſſen — derart eingeſchüchtert, daß Niemand jener Aufforde-
rung Folge leiſten würde und deshalb ſei für die Fremden
nichts zu fürchten, was ſich auch voll beſtätigte.


„Almanſa“ und „Victoria“ ſahen innen ſchrecklich aus.
Sie ſtarrten von Schmutz und es herrſchte auf ihnen eine kaum
glaubliche Unordnung. Wir hatten ein paar Tage mit einigen
Hundert Mann zu thun, um ſie nur einigermaßen zu ſäubern.
Erſteres Schiff wurde von engliſcher, letzteres von deutſcher
Seite bewacht.


Am 6. Auguſt erhielt ich Befehl, Contreras freizulaſſen;
er ging in Cartagena an Land, aber ſeine Rolle war ausge-
ſpielt. Der Boden ſchwankte ſchon unter ſeinen Füßen und
die Tage der Intranſigenten waren gezählt. Die meiſten von
„Victoria“ und „Almanſa“ entlaſſenen Matroſen hatten nach
den gemachten bitteren Erfahrungen dem Canton Murcia den
Rücken gekehrt und waren theils nach Madrid gegangen, um
ſich dort reuig zu geſtellen, theils hatten ſie ſich in ihre
[411]Nach Weſtindien und dem Mittelmeer
Heimath geflüchtet. In Cartagena fehlte es ſowol an Lebens-
mitteln wie an Geld, in Valencia wie in Cadix waren die
Communiſten geſchlagen und vertrieben, und ſo hatte die rothe
Republik keine Zukunft mehr. Kurze Zeit darauf, als auch
Cartagena von den Truppen der Centralregierung angegriffen
wurde und bald darauf fiel, floh Contreras auf dem Panzer-
ſchiffe „Tetuan“ nach Oran, indem er das Cartagena blocki-
rende republikaniſche Geſchwader durchbrach. Seitdem iſt er
verſchollen.


Zur Characteriſtik der Leiter der ſogenannten föderaliſti-
ſchen Bewegung, die jedoch in der Nähe geſehen eine ſtarke
communiſtiſche Prägung hatte, ſei noch Folgendes erwähnt.
Contreras, unter Iſabella Feldmarſchall, war ein eidbrüchiger
General, der ſowol ſeiner legitimen Königin als auch ſpäter dem
König Amadeus die Treue brach und dem deshalb zweimal
Stellung, Rang, Orden und Ehrenzeichen aberkannt wurden.
Mir gegenüber brach er ſein Ehrenwort und ließ als einzige
Entſchuldigung vorbringen, er habe es vergeſſen. Der ſoge-
nannte Miniſter des Innern des Cantons Murcia, Sauvalle,
mit dem wir öfter zu thun hatten, war ſeines Zeichens ein
Commis und, wie wir ſpäter in Malaga hörten, dort vor
wenigen Monaten von ſeinem Principal wegen Veruntreuungen
entlaſſen worden. Der Präſident des Wohlfahrtsausſchuſſes in
Cartagena, Gutierrez, war ein früherer Sclavenhändler, die
wortführenden Rathgeber beſtanden zum großen Theil aus
flüchtigen franzöſiſchen Communards. Was alſo Spanien für
ein Loos gehabt hätte, wenn ſolche ſittlich verkommene Menſchen
zur Herrſchaft gelangt wären, mag ſich Jeder ſelbſt ſagen, und
im Intereſſe der Humanität und der Civiliſation kann man
ſich nur darüber freuen, daß jene Bewegung verhältnißmäßig
bald unterdrückt wurde, ehe ſie größeres Unheil anrichtete. In-
dem der „Friedrich Karl“ ſeine Aufgabe erfüllte, die gefährde-
[412]Werner
ten, an der ſpaniſchen Südküſte anſäſſigen Deutſchen wirkſam
zu ſchützen, wurde er unabſichtlich mit in die Bewegung hin-
eingezogen und gezwungen, darin eine gewiſſe Rolle zu ſpielen,
die allerdings mit dazu beitrug, die Sache der Intranſigenten
zu Fall zu bringen.


Am 9. Auguſt 1873 erhielt ich den Befehl, mit dem
„Friedrich Karl“ nach Gibraltar zu gehen, um dort durch den
Kapitän zur See Prczewiſinsky abgelöſt zu werden. Ich über-
gab deshalb die „Victoria“ an Kapitän Ward und führte den
mir ertheilten Befehl aus. Wie bekannt, wurden die beiden
Schiffe ſpäter von den Engländern nach Gibraltar gebracht und
der Centralregierung ausgeliefert.

Appendix A

Pierer’ſche Hofbuchdruckerei. Stephan Geibel \& Co. in Altenburg.


[][][]
Notes
*
Wenn der Wind links herumgeht, ſo ſagen die Seeleute „er
krümpt.“ Gewöhnlich hat er dann keinen Beſtand und das Wetter
wird ſchlecht.
*
Verkleinern der Segel.
*
Küche.
**
Dunkle Wolkenſtreifen am Horizont.
*
Der Tag an Bord iſt in vierſtündige Wachen getheilt. Die
Zeit derſelben wurde früher nach Halb-Stundengläſern bemeſſen. Um
12 Uhr beginnt eine neue Wache; wenn deshalb 4 „Glas“ ausgelaufen
waren, bedeutete dies 2 Uhr. Trotz Abſchaffung der Sanduhren hat
man die alte Bezeichnung beibehalten.
*
Gleichbedeutend hier mit dem engliſchen „rise“, aufſtehen.
**
Bemannt.
*
Land unter dem Winde.
**
Hinten.
***
Haltetaue des vorderſten (Fock) Maſtes.
*
Der Compaß reſp. der Horizont wird in 360 Grade oder 32
Striche getheilt, von denen einer 11¼ Grad enthält.
*
Eine Verdrehung im Tauwerk; figürlich auch auf „Ecke“
übertragen.
**
Eine Art Strebepfeiler, der vom Bugſpriet nach unten zeigt und
zum Straffhalten von Haltetauen des Klüverbaums dient.
***
Der vorderſte Theil des oberen Verdecks.
*
Die Segel ſo ſtellen, daß der Wind von vorn darauf fällt, ſo daß
das Schiff durch den Gegendruck zum Stillſtande gebracht wird.
*
Ein Schiff iſt ſteif, wenn ſein Schwerpunkt ſehr tief liegt; es
legt ſich dann nur ſchwer über. Das Gegentheil von ſteif nennt man
„rank“.
**
Der vorn und ſchräg über das Schiff herausragende Maſt.
*
Das Bugſprit mit Zubehör.
*
Die Winde für die Ankerkette.
*
Harpunen zum Fang kleinerer Fiſche. Sie ſind mit 6—9 Wider-
haken verſehen.
1.
Die geſchützte Seite unter dem Winde.
2.
Perſonificirte See.
3.
Verſchanzung.
4.
Die Oeffnungen vorn am Schiff, durch welche die
Ankerketten nach außenbord’s geleitet werden, hier figürlich für Augen.
5.
Eigentlich eine falſche Bucht in einem Tau, figürlich Ecke.
6.
Kau-
taback.
7.
Der Ruf, wenn bei Sturm die Leute zum Segelkürzen an
Deck kommen ſollen.
8.
Jede Wache von 4 Stunden wird in 8 halbe
Stunden (Glaſen, von den früher gebrauchten Sanduhren ſogenannt)
eingetheilt. Wenn ſechs Glaſen geſchlagen werden, ſo iſt nur noch eine
9.
Figürlich für „Schnapsaustheilen“. Das
Beſanſchrot iſt ein Tau, das auf dem Hinterdeck fährt und in ſeiner
Nähe treten die Leute an, um Schnaps zu empfangen.
10.
Schiffs-
zwieback, engliſch Biscuit.
11.
Tiſch.
12.
Graue Erbſen.
8.
Stunde der Wache übrig. Da die Arbeit des Reefens aber oft eine
Stunde und länger dauert, ſo haben die dazu verwendeten Leute der Frei-
wache keine Chance, noch einmal zur Coje zu gehen und kommen deshalb
in ihrem Schlafe zu kurz.
1.
Frack.
2.
Vatermörder.
3.
Hut.
4.
Phönix.
5.
Von der Fuß-
ſohle bis zum Scheitel.
6.
Umwenden.
7.
Bewegte.
8.
Stand ich ſtill.
9.
Rückwärts.
10.
Eau.
11.
Eau
de mille fleurs.
*
Zuſammenſchnüren.
*
Dieſer ehemalige Matroſe iſt jetzt Director einer Verſicherungs-
geſellſchaft in einer mitteldeutſchen Stadt.
*
Haltetaue der Maſten.
**
Haltetaue der Stengen.
*
Erasmus.
*
Hiſtoriſches Taſchenbuch von Raumer. Dritte Folge. Zweiter
Jahrgang.
*
S. Beantwortung der Interpellation des Abgeordneten von
Reden an das Reichsminiſterium, die Wirkſamkeit der Marineabtheilung
betreffend am 30. April 1849 von dem Reichsminiſter des Handels.
(Ueber die Gründung der deutſchen Kriegsmarine von A. Duckwitz.
Bremen 1849.)
*
Die Farben der Helgolander Flagge ſind grün, weiß, roth. Die
Inſelbewohner leiten ſie von der Färbung ihres Eilandes ab. Sie drücken
dies durch folgendes plattdeutſche Verschen aus:
Grön iſt de Strand,

Roth is de Kant,

Witt is dat Sand,

Dat ſind de Farben von Helgoland!
*
Die Fahrt des Schiffes meſſen. Dies geſchieht mit einer dünnen,
auf eine Welle gerollten Leine. An ihrem Endpunkte iſt ein im Waſſer
aufrechtſtehendes und Widerſtand leiſtendes Holzbrettchen befeſtigt. Die
ſich abrollende Leine iſt in Abtheilungen (Knoten) getheilt, die eine un-
gefähre Länge von 7,8 Meter (22½ Fuß) haben. So viel Knoten nun
während eines Zeitraumes von 14 Secunden (das Maaß dafür iſt eine
Sanduhr) auslaufen, ſo viel Seemeilen oder Knoten macht das Schiff in
einer, oder ſo viel geographiſche Meilen in vier Stunden. Eine Seemeile
iſt gleich 1854 Meter und unter Berechnung einiger practiſcher Fehler-
quellen verhält ſich 1854 Meter : 1 Stunde (3600 Secunden) = 7,8
Meter : 14 Secunden.
*
Vor einem Sturme ſegeln.
*
Maſtkorb.
*
Kabelgat war der zur Aufbewahrung von Tauwerk beſtimmte
Raum und diente gleichzeitig als Arreſtlocal für die Seejunker. Der
alte Fölſch war der mit Beaufſichtigung des Kabelgats betraute Unter-
officier.

Dieses Werk ist gemeinfrei.


Rechtsinhaber*in
Kolimo+

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2025). Collection 1. Erinnerungen und Bilder aus dem Seeleben. Erinnerungen und Bilder aus dem Seeleben. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bhsf.0