[][][][][][][]
Theophron,
oder
der erfahrne Rathgeber
fuͤr
die unerfahrne Jugend,


Ein Vermaͤchtniß
fuͤr ſeine geweſenen Pflegeſoͤhne,

und
fuͤr alle erwachsnere junge Leute,
welche Gebrauch davon machen wollen.

Inter opus monitusque maduere genae,
Et patriae tremuere manus.

(Ouidius.) ()

Zweiter Theil.

Hamburg: 1783
bei Karl Ernſt Bohn.
[]

III.
Merkwuͤrdige Lebensregeln
aus des
Grafen von Cheſterfield Briefen
an ſeinen Sohn,
in einem zwekmaͤßigen Auszuge
und mit noͤthigen Abaͤnderungen.


A 2
[[4]][[5]]

Der Wunſch, daß alle Menſchen ſich gefaͤllig
gegen uns beweiſen moͤgen, iſt algemein;
eben ſo algemein ſolte auch das Beſtreben ſein, ſich
andern gefaͤllig zu machen. Dis liegt mit in dem
großen Grundgeſez aller Moralitaͤt: thue andern,
was du wuͤnſcheſt, daß man dir thue. Zwar
gibt es wirklich einige hoͤhere, aber keine liebens-
wuͤrdigere Pflichten der Sittenlehre; und ich
glaube ſie ohne Bedenken an die Spize derjenigen
Tugenden ſezen zu duͤrfen, die Cicero die mil-
dern
virtutes leniores nent.


Ein wohlwollendes, fuͤhlendes Herz uͤbt dieſe
Pflicht mit Vergnuͤgen aus, und erwekt damit
zugleich Vergnuͤgen bei andern. Aber die Großen,
die Reichen, die Maͤchtigen der Erde ſpenden oft
ihre Gunſtbezeugungen ihren geringern Bruͤdern,
ſo wie ihre uͤbrigen Brokken den Hunden; weder
Menſch noch Hund weiß ihnen Dank dafuͤr.


Es iſt kein Wunder, wenn Gunſtbezeugungen,
Wohlthaten, und ſelbſt Almoſen, die man ſo un-
verbindlich ausſpendet, auch wenig oder gar nicht
erkant werden. Denn Dankbarkeit iſt fuͤr viele
A 3Menſchen
[6] Menſchen eine Buͤrde; ſie moͤgen nur zu gern
ſich davon losmachen, oder wenigſtens ſie ſich
erleichtern, ſo viel ſie koͤnnen.


Die Manier alſo, mit welcher wir Dienſte
oder Wohlthaten erweiſen, iſt in Anſehung der
Wirkung auf den Empfaͤnger eben ſo wichtig, als
die Sache ſelbſt. Wofern du demnach Gelegen-
heit haſt, dir andre verbindlich zu machen, ſo
huͤte dich, daß du nicht dieſe Verbindlichkeit durch
eine ſtolze Patronenmine, oder durch ein kaltes
unfreundliches Betragen wieder aufhebſt: denn
dieſes erſtikt die Erkentlichkeit in der Geburt.
Menſchlichkeit treibt uns, Religion fodert uns
auf, die Pflichten der Sittenlehre verbinden uns,
das Elend und die Leiden unſrer Mitgeſchoͤpfe zu
mildern, ſo viel wir koͤnnen; aber dis iſt noch
nicht alles: denn wenn unſer Herz wirklich von
Liebe und Wohlwollen durchdrungen iſt, ſo wer-
den wir gern auch zu ihrer Zufriedenheit, und
zu ihrem Vergnuͤgen ſo viel beitragen, als nur
immer auf eine unſchuldige Weiſe geſchehen kan.
Laß uns alſo nicht nur Wohlthaten um uns her
werfen, ſondern auch Blumen ſtreuen, fuͤr unſre
Reiſe-
[7] Reiſegefaͤhrten auf den rauhen Wegen dieſes muͤh-
ſeeligen Erdenlebens.


Es gibt Leute, (und beſonders in dieſem Lande
nur zu viel) welche, ohne die mindeſte ſichtbare
Spur von Bosheit und ſchlechter Gemuͤthsart,
doch dem Anſchein nach ganz und gar gleichguͤltig
ſind, und nie den geringſten Wunſch aͤuſſern, an-
dern zu gefallen, ſo wie ſie hingegen auch nie
mit Abſicht jemand beleidigen. Ob das Traͤgheit,
Nachlaͤßigkeit, Unachtſamkeit, ob es duͤſtres,
melancholiſches Temperament, ob es Kraͤnklich-
keit, Niedergeſchlagenheit, oder ob es ein ge-
heimer, muͤrriſcher Stolz ſei, der aus dem Be-
wußtſein einer eingebildeten Freiheit und Unab-
haͤngigkeit entſpringt, wage ich nicht, zu entſchei-
den; denn es gibt gar zu mannigfaltige Bewe-
gungen in dem Herzen des Menſchen, und eben
ſo ſonderbare Irthuͤmer in ſeinem Kopfe.


Was indes auch die Urſache davon ſein mag,
ſo iſt gewiß, daß die Neutralitaͤt, welche die
Folge davon iſt, ſolche Leute (wie jede Neutralitaͤt
immer thut) veraͤchtlich und zu bloßen Nullen in
der Geſelſchaft macht. Ganz gewiß wuͤrden ſie
A 4aus
[8] aus ihrer Traͤgheit erwachen, wenn ſie einmahl
eine ernſthafte Ueberlegung uͤber den unendlich
mannigfaltigen Nuzen anſtellen wolten, den das
Beſtreben zu gefallen ihnen gewaͤhren wuͤrde.


Dieſer Nuzen aber iſt, duͤnkt mich, von ſelbſt
klar, und braucht keines Beweiſes. Ich werde
mich daher auch nicht dabei aufhalten; ein Wink
daruͤber mag genug ſein. Derjenige, welcher ſich
unablaͤßig beſtrebt, zu gefallen, leihet ſein vielleicht
nur kleines Kapital von Verdienſt auf hohe Zinſen
aus. Welchen Gewin wird nun nicht erſt aͤchtes
Verdienſt unausbleiblich bringen, wenn es auch
noch in dieſem Schmuk erſcheint! Mit Freuden
wuͤrde ein kluger Wucherer auf ſo betraͤchtliche
Zinſen und gegen eine ſolche Sicherheit ſeinen
lezten Schilling austhun.


Derjenige, welcher die Kunſt verſteht, ſich
Liebe zu erwerben
, macht ſich beinahe ſo viel
Freunde, als er Bekantſchaften macht; Freunde
nemlich, im gangbaren Sin des Worts; nicht
eben ſolche innige Herzensfreunde, als Pylades
und Oreſtes, Nifus und Euryalus, u. ſ. w.
einan-
[9] einander waren; indes jederman wird ihm wohl-
wollen, wird geneigt ſein, ihm Dienſte zu er-
weiſen, ſo lange es ohne Aufopferung ſeines
eignen Vortheils geſchehen kan.


Hoͤflichkeit iſt die Haupterforderniß in der
Kunſt zu gefallen; ſie iſt die Frucht der Gutmuͤ-
thigkeit und des geſunden Verſtandes: aber gibt
der Hoͤflichkeit Glanz und feine Lebensart Zierde.
Man erwirbt ſie ſich nur durch Umgang und
die ſorgfaͤltigſte Aufmerkſamkeit auf das Betragen
der Leute in guten Geſelſchaften. Ein ehrlicher
Landman oder Fuchsjaͤger kan eben ſo wohl hoͤflich
ſein wollen, als der feinſte Hofman; aber bei den
erſten wird die Manier alles verderben; bei dem
Manne von Lebensart hingegen giebt die Manier
allem, was er ſagt oder thut, ſo viel Schmuk und
Wuͤrde, daß oft Muͤnze von ſchlechtem Gehalt
um des ſchoͤnen Gepraͤges willen gangbar wird.
Auch hier kan man mit allem Rechte ſagen: ma-
teriem ſuperat opus.


A 5Hoͤflich-
[10]

Hoͤflichkeit iſt oft mit einem zeremonioͤſen We-
ſen begleitet, welches durch Lebensart zwar gemil-
dert, aber nicht ganz zur Seite geſezt werden darf.
Ein gewiſſer Grad von Zeremonie iſt ein unent-
behrliches Auſſenwerk fuͤr die guten Sitten, ſo
wie fuͤr die Religion: ſie haͤlt den Muthwillen
und den Vorwiz in gehoͤriger Entfernung, und
der verſtaͤndigere und geſittetere Theil der Men-
ſchen dringt demohngeachtet durch dieſe Vormauer
leicht hindurch. Wir leſen in dem Maͤhrchen von
der Tonne, daß Peter von Pomp und Zeremonie
zu viel, Jakob zu wenig hatte; Martins Betra-
gen hingegen ſcheint ein nachahmungswuͤrdiges
Muſter in Anſehung des Gottesdienſtes ſo wohl
als der guten Sitten zu ſein, und eben dieſe Mit-
telſtraße betreten Verſtand und Lebensart.


Die Mittel zu gefallen, mein Lieber, veraͤn-
dern ſich, nach Zeit, Ort und Perſonen. Es gibt
indes eine algemeine Regel, die jederman kent.
Sie heißt: Bemuͤhe dich zu gefallen, und du
wirſt ſicher, wenigſtens in einem gewiſſen
Grade, gefallen
. Zeige, daß dirs darum zu
thun
[11] thun iſt, dir Freunde zu machen, ſo haſt du die
Eigenliebe der Leute ins Spiel gezogen, und an
ihr haſt du eine maͤchtige Fuͤrſprecherin. Dazu ge-
hoͤrt aber, wie faſt zu jedem andern Dinge, Auf-
merkſamkeit, oder eigentlicher zu reden, das, was
die Franzoſen les attentions genant haben. Ich
empfehle dir alſo die ſorgfaͤltigſte, genaueſte Auf-
merkſamkeit auf die Umſtaͤnde der Zeit, des Orts,
und der Perſon, denn ohne dieſe laͤufſt du Gefahr,
zu beleidigen, wo deine Abſicht war, zu gefallen:
denn die Menſchen verzeihen in Dingen, welche
unmittelbar ihre eigne Perſon betreffen, keinen
Verſtoß und keine Unachtſamkeit.


(Die beſtaͤndige Ausuͤbung dieſer ſogenanten
attentions iſt ein nothwendiger Theil der Kunſt
zu gefallen. Sie nimt mehr ein, und ruͤhrt ſtaͤr-
ker, als Dinge von weit groͤßrer Wichtigkeit. Zur
Volbringung der Pflichten des geſelligen Lebens
iſt jeder gehalten; dergleichen Aufmerkſamkeiten
aber ſind freiwillige Handlungen, willige Opfer
der Wohlanſtaͤndigkeit und Gutherzigkeit, und
werden als ſolche aufgenommen, behalten, und
erwiedert. Beſonders haben Frauenzimmer ein
Recht
[12] Recht darauf; und jede Unterlaſſung in dieſem
Stuͤkke iſt voͤllig ungeſittet.)


(Hier haſt du ein Beiſpiel von dergleichen Auf-
merkſamkeiten. Man beobachte z. E. die kleinen
Fertigkeiten, das Wohlgefallen, die Abneigung,
den Geſchmak derer, die man einnehmen wil, und
bemuͤhe ſich alsdan, ihnen das Gefaͤllige zu ver-
ſchaffen, und ſie vor dem Mißfaͤlligen zu verwah-
ren, indem man ihnen auf eine hoͤfliche Art zu
verſtehen gibt, man haͤtte bemerkt, es gefiele ih-
nen das und das Gerichte, das und das Zimmer,
daher haͤtte man es bereit gehalten; oder im
Gegentheile, man haͤtte bemerkt, das und das
Gerichte, die und die Perſon waͤren ihnen zuwi-
der, daher haͤtte man Sorge getragen, ſie wegzu-
laſſen. Die Aufmerkſamkeit auf ſolche Kleinig-
keiten ſchmeichelt, wie geſagt, der Eigenliebe mehr,
als groͤßere Dinge; denn ſie bringt die Leute auf
die Meinung, als waͤren ſie faſt das einzige Augen-
merk unſrer Gedanken und unſrer Sorgfalt.)


In Geſelſchaft zerſtreut zu ſein, iſt unverzeih-
lich, denn es beweiſt, daß man ſie verachte, und
iſt
[13] iſt oben drein eben ſo laͤcherlich als beleidigend.
Es iſt wenig Unterſchied zwiſchen einem Todten
und einem Zerſtreuten, und dieſer Unterſchied iſt
noch dazu ganz zum Vortheil des erſtern; denn
jederman weiß, daß ſeine Unempfindlichkeit nicht
wilkuͤhrlich iſt. Es gibt ſo gar Leute, welche ab-
geſchmakt genug ſind, Zerſtreuung zu affektiren;
ſie glauben nemlich, das ſei ein Merkmal von
Tiefſin und hoher Weisheit; aber ſie irren ſich
gewaltig; denn Zerſtreuung, (das weiß jeder)
zeugt, wenn ſie natuͤrlich iſt, von einer großen
Schwaͤche der Sele; und wird ſie gar affektirt,
ſo iſt ſie eine Narheit vom erſten Range.


(Aber ſie komme nun auch, woher ſie wolle,
ſo iſt gewiß, daß der Zerſtreute ein unangenehmer
Geſelſchafter iſt. Er laͤßt es an allen gewoͤhnlichen
Pflichten der Hoͤflichkeit fehlen; er ſcheint heute
diejenigen nicht mehr zu kennen, mit denen er geſtern
vertraut umging. Er nimt keinen Theil an der alge-
meinen Unterredung, ſondern unterbricht ſie viel-
mehr von Zeit zu Zeit mit einem ploͤzlichen Einfalle,
als ob er vom Traume erwachte. Das iſt ein ſicheres
Merkmal eines Gemuͤths, das entweder ſo ſchwach
iſt,
[14] iſt, daß es nicht mehr als eine Sache auf einmahl
faſſen kan, oder ſo leidenſchaftlich geruͤhrt, daß man
vermuthen muß, es wuͤrde von großen und wich-
tigen Dingen eingenommen und hingeriſſen. Iſaak
Newton, Locke
und vielleicht ſeit der Schoͤpfung
der Welt, noch fuͤnf bis ſechs andre, moͤgen wegen
der tiefſinnigen Gedanken, welche die Unterſuchung
der Wahrheit erforderte, auf dieſe Zerſtreuung
ein Recht gehabt haben. Wenn aber ein junger
Menſch, zumahl ein Weltman, der keine ſolche
Verhinderungen fuͤr ſich anzufuͤhren hat, dieſes
Recht auf Zerſtreuung in Geſelſchaft fodern und
ausuͤben wolte: ſo ſolte man ſeine Abweſenheit
des Geiſtes durch eine immerwaͤhrende Aus-
ſchließung aus aller Geſelſchaft, in eine wirkliche
Abweſenheit, auch dem Koͤrper nach, verwandeln.)


(So nichtsbedeutend auch eine Geſelſchaft ſein
mag, ſo zeige ihr doch nicht, ſo lange du darinne
biſt, daß du ſie dafuͤr haͤltſt; ſondern nim viel-
mehr ihren Ton an; bequeme dich in einigem
Grade nach ihrer Schwaͤche, anſtat deine Ver-
achtung fuͤr ſie zu aͤußern! Nichts koͤnnen die
Leute weniger ertragen oder verzeihen, als Ver-
achtung;
[15] achtung; und angethanes Unrecht wird eher ver-
geſſen, als Beſchimpfung. Wilſt du daher lieber
gefallen als beleidigen, wilſt du lieber wohl als
uͤbel von dir geredet haben, wilſt du lieber geliebt
als gehaßt ſein: ſo bedenke fein, daß du beſtaͤndig
diejenige Aufmerkſamkeit haben mußt, die jedes
Menſchen kleiner Eitelkeit ſchmeichelt, und deren
Abweſenheit, indem ſie ſeinen Stolz kraͤnkt, nie-
mahls ermangelt, ſeine Rachgier, wenigſtens ſeine
Ungunſt, rege zu machen.)


(Zum Beiſpiel! Die meiſten Leute, ich koͤnte
ſagen, alle, haben ihre Schwachheiten, ihre be-
ſondre Abneigung oder ihr beſonderes Wohlge-
fallen in Anſehung dieſer oder jener Dinge. Wol-
teſt du alſo einen Menſchen wegen ſeiner Abnei-
gung vor Kazen oder Kaͤſe (und dieſe iſt ſehr ge-
woͤhnlich) auslachen, oder ſie aus Muthwillen
oder Nachlaͤſſigkeit ihm in den Weg kommen laſſen,
wenn du es doch verhuͤten koͤnteſt: ſo wuͤrd’ er
im erſten Falle ſich fuͤr beleidigt, im zweiten fuͤr
geringgeſchaͤzt halten, und beides ahnden. Hin-
gegen deine Sorgfalt, ihm das, was ihm gefaͤlt,
zu verſchaffen, und das, was er haßt, von ihm
zu
[16] zu entfernen, gibt ihm zu erkennen, daß er wenig-
ſtens ein Gegenſtand deiner Aufmerkſamkeit ſei,
ſchmeichelt ſeiner Eitelkeit, und macht ihn mehr
zu deinem Freunde, als ein wichtiger Dienſt ge-
than haben koͤnte.)


Der weiſe Man iſt weit entfernt, die Sin-
nen, die er hat, ungebraucht zu laſſen; er moͤgte
ſie lieber vervielfaͤltigen, um alles auf einmahl
ſehen und hoͤren zu koͤnnen, was in Geſelſchaft
geſagt oder gethan wird.


Sei alſo aufmerkſam auf jeden kleinſten Vor-
fal in der Geſelſchaft worin du biſt; habe, wie
man zu ſagen pflegt, deine Augen und Ohren im-
mer bei der Hand. Es iſt eine ſehr naͤrriſche und
doch ſo gemeine Ausflucht: “in der That, ich dachte
nicht daran„ oder: “ich dachte gerade zu der Zeit
an ganz etwas anders.„ Die ſchiklichſte Antwort
auf ſolche ſinreiche Entſchuldigungen, und die keine
weitere Ausrede zulaͤßt, iſt: Warum dachtet ihr
nicht daran? Ihr wart doch gegenwaͤrtig, als
man das ſagte, oder that. “Ja! aber, (moͤg’t ihr
ſagen) ich dachte an etwas ganz anders.„ Wenn
das
[17] das iſt, warum wart ihr nicht an einem ganz an-
dern Orte, der dem wichtigen andern Dinge,
woran ihr gerade dachtet, angemeſſen geweſen
waͤre? Vielleicht werdet ihr ſagen: “die Geſelſchaft
war ſo einfaͤltig, daß ſie eure Aufmerkſamkeit nicht
verdiente.„ Aber glaube mir, mein Lieber, das iſt
das Geſchwaͤz eines noch einfaͤltigen Menſchen;
denn der Man von Verſtande weiß wohl, daß
keine Geſelſchaft ſo einfaͤltig iſt, die man nicht bei
gehoͤriger Aufmerkſamkeit auf eine oder die andre
Weiſe fuͤr ſich nuͤzlich machen koͤnte.


(Derjenige iſt weder zu Geſchaͤften noch zu
Vergnuͤgungen tuͤchtig, der nicht ſeine Aufmerkſam-
keit auf die jedesmalige gegenwaͤrtige Sache len-
ken, und in gewißer Maaße dieſe Zeit uͤber alle
andre Gedanken aus ſeiner Sele verbannen kan.
Wenn jemand auf einem Balle, bei Tiſche, oder
bei einer Luſtreiſe auf die Aufloͤſung einer Aufgabe
aus dem Euklid daͤchte: ſo wuͤrd’ er gar ein
ſchlechter Geſelſchafter ſein, und unter den andern
nur geringes Anſehen erlangen. Daͤcht’ er dage-
gen, wenn er in ſeinem Kabinette der Aufgabe
Theophron 2. Th. Bnachſint,
[18] nachſint, an die Menuet, ſo wuͤrd’ er, deucht
mich, einen armſeeligen Mathematiker abgeben.)


(Es iſt den Tag uͤber Zeit genug fuͤr alles, wenn
du nur eine Sache auf einmahl thuſt; wilſt du aber
zwei Dinge zugleich vornehmen, ſo iſt in dem ganzen
Jahre nicht Zeit genug. Der hollaͤndiſche Penſionaͤr
von Witt verwaltete die ganzen Geſchaͤfte der
Republik, und hatte doch noch Zeit genug uͤbrig,
Abends in Geſelſchaft zu gehen, und da zu ſpei-
ſen. Als man ihn nun fragte: wo er doch moͤg-
licher Weiſe Zeit hernaͤhme, ſo viele Geſchaͤfte zu
verrichten, und ſich doch auch des Abends zu belu-
ſtigen? gab er zur Antwort: nichts waͤre leichter;
man duͤrfte nur immer ein Ding auf einmahl thun,
und nichts auf morgen verſchieben, das heute koͤnte
verrichte werden.)


(Dieſe ſtandhafte, von Zerſtreuung entfernte
Aufmerkſamkeit auf eine einzige Sache iſt ein ſiche-
res Merkmal eines erhabnen Geiſtes; ſo wie
dagegen Uebereilung, Verwirrung und Unruhe
untriegliche Zeichen eines ſchwachen und albernen
Verſtandes ſind. Lieſeſt du den Horaz, ſo merke
auf die Richtigkeit ſeiner Gedanken, die gluͤckliche
Wahl
[19] Wahl ſeiner Ausdruͤcke, die Schoͤnheit ſeiner
Dichtkunſt; denke aber nicht zugleich an Puffen-
dorfs
Schrift von dem Menſchen und dem
Buͤrger
; und lieſeſt du den Puffendorf, ſo
denke nicht an die Frau von St. Germain; noch
auch an den Puffendorf, wenn du mit der Frau
von St. Germain redeſt.)


(Was du nur thuſt, das thue zu ſeinem End-
zwekke! Thue es voͤllig, und nicht obenhin!
Dringe bis unten auf den Grund der Dinge! Ein
halb gethanes oder halb gewußtes Ding wird, mei-
nes Erachtens, gar nicht gethan, gar nicht gewußt.
Ja, es iſt noch ſchlimmer; denn es fuͤhrt oft fehl.)


(Kaum gibt es einen Ort, oder eine Geſelſchaft,
wo du nicht Wiſſenſchaft erlangen kanſt, wenn du
wilſt. Faſt jeder weiß etwas, und redet gerne
von dem, was er weiß. Suche, ſo wirſt du finden;
in dieſer Welt ſowohl, als in der kuͤnftigen. Be-
ſieh alles, forſche nach allem! Deine Neugier
und deine gethanen Fragen kanſt du durch die Art
entſchuldigen mit der du ſie thuſt. Denn bei den
meiſten Dingen komt es großentheils auf die Art
und Weiſe an. Du kanſt zum Beiſpiel ſprechen,
B 2“ich
[20] “ich beſorge zwar, daß ich ihnen mit meinen Fra-
“gen beſchwerlich falle; niemand aber kan mich
“ſo gut belehren als Sie;„ oder etwas der-
gleichen.)


Deine Aufmerkſamkeit muß aber (und das
kan ſie, ſo bald du wilſt) eine gewiſſe Geſchmei-
digkeit haben, das iſt, du mußt ſie augenbliklich
von einem Gegenſtande auf den andern, von einer
Perſon auf die andere, ſo wie ſie vorkommen,
richten koͤnnen. Bedenke, daß du ohne eine ſolche
Aufmerkſamkeit nie geſchikt biſt, in guter Geſel-
ſchaft, oder nur in Geſelſchaft uͤberhaupt zu leben,
und das beſte was du in dieſem Falle thun koͤnteſt,
waͤre, ein Kartheuſer zu werden.


Wenn du zum erſtenmahl dich in einer Geſel-
ſchaft zeigſt, oder von andern eingefuͤhrt wirſt, ſo
thue dein Aeuſſerſtes, daß der erſte Eindruk, den
du machſt, ſo vortheilhaft, als moͤglich ſei. Was
du dazu thun kanſt, beſteht in Dingen, welche
gruͤndlich denkende Leute Kleinigkeiten zu nennen
pflegen, nemlich in der Mine, der Kleidung, der
Anrede. Hier, rathe ich dir, flehe die Grazien
um
[21] um Beiſtand an. Selbſt der an ſich geringfuͤgige
Umſtand, die Kleidung iſt keine Kleinigkeit bei
ſolchen Gelegenheiten.


Sei du weder der erſte, noch der lezte in der
Mode. Kleide dich ſo gut, als Leute von deinem
Range gewoͤhnlich thun, und lieber etwas beſſer,
als ſchlechter; und biſt du einmahl gekleidet, ſo
laß auch nicht merken, daß du weißt, du habeſt
ein Kleid an; vielmehr ſei jede deiner Bewegun-
gen ſo leicht und ungezwungen, als wenn du in
deinem Schlafrok waͤrſt. Nur ein Geck ſchaͤzt ſich
nach ſeinem Kleide; aber auch der Man von Ver-
ſtande wird ſeinen Anzug nicht vernachlaͤſſigen,
wenigſtens in ſeiner Jugend nicht. Der aͤrgſte
Gek, den ich je geſehen, war zugleich der groͤßte
Schlotterer; denn das affektierte Sonderbare in
der Kleidung, auf der einen oder der andern Seite,
macht eben den Gekken aus; und doch wird jeder-
man den alzuzierlich gekleideten Gekken noch dem
ſchlotterichten vorziehen.


(Die meiſten der hieſigen jungen Kerle geben
durch ihre Kleidung eine oder die andre Denkungs-
B 3art
[22] art zu erkennen. Einige ſtellen ſich fuͤrchterlich
an, tragen einen großen Hut mit einer gewaltigen
Schleife, einen ungeheuren Degen, eine kurze
Weſte und ſchwarze Halsbinde. Ich wuͤrde in
Verſuchung gerathen, mir wider ſie Wache zu
meiner Vertheidigung geben zu laſſen, wenn ich
nicht uͤberzeugt waͤre, daß es ſanftmuͤthige Eſel
in Loͤwenhaͤuten ſind.)


(Andre gehen in braunen Kitteln, ledernen Ho-
ſen, fuͤhren große eichene Pruͤgel in der Hand,
haben keine Schleife am Hute, keinen Puder
in den Haaren, und thun es den Stalknechten,
Kutſchern und Bauertoͤlpeln in ihrem Aeußerli-
chen ſo gut nach, daß ich nicht im geringſten zwei-
fle, ſie werden ihnen auch innerlich gleich ſein.)


(Ein verſtaͤndiger Man vermeidet alles Beſon-
dre in ſeiner Kleidung. Er iſt ſauber um ſeiner
ſelbſt willen; das uͤbrige alles geſchieht wegen
andrer Leute. Er kleidet ſich eben ſo gut und auf
die nemliche Art, als andre verſtaͤndige Leute ſei-
nes Standes an dem Orte, wo er iſt. Kleidet
er ſich beſſer, um es ihnen zuvorzuthun, ſo iſt er
ein Gek; kleidet er ſich ſchlechter, ſo iſt er auf eine
unver-
[23] unverzeihliche Art nachlaͤſſig. Unter beiden wolt’
ich doch lieber, daß ſich ein junger Kerl eher zu
gut, als zu ſchlecht kleidete. Das Uebermaaß
auf dieſer Seite wird wegfallen, wenn ein wenig
Alter und Betrachtung hinzukomt. Iſt er aber
nachlaͤſſig im zwanzigſten Jahre, ſo wird er eine
Sau im vierzigſten ſein, und im funfzigſten gar
ſtinken.)


Dein Eintrit in die Geſelſchaft ſei beſcheiden,
doch ohne alle Schuͤchternheit oder Bloͤdigkeit,
dreiſt, ohne Unverſchaͤmtheit, frei von Verlegen-
heit, als wenn du in deinem eignen Zimmer waͤ-
reſt. Es iſt ſchwer, ſich dieſe gluͤkliche Faſſung
zu verſchaffen; ſie erfodert daher die groͤßte Auf-
merkſamkeit; es iſt nicht wohl moͤglich, ſie ſich
anders, als durch langen Umgang mit der Welt
und fleißige Beſuchung der beſten Geſelſchaften
zu erwerben.


Wenn ein junger Man ohne Kentniß der
Welt zum erſten male in eine Geſelſchaft vorneh-
mer Leute trit, wo die meiſten von hoͤherm Range
ſind, als er: ſo iſt er entweder vor unzeitiger
B 4Schaam,
[24] Schaam, wie vernichtet, oder, wenn er ſich er-
mannet, und nun glaubt, ſich bis zu einer be-
ſcheidnen Dreiſtigkeit hinaufgearbeitet zu haben,
verfaͤlt er in Unverſchaͤmtheit, und wird abge-
ſchmakt; er beleidigt, indem er zu gefallen dachte.
Trage alſo immer, ſo viel du kanſt, dieſes air de
douceur
an dir, welches allemahl einen vortheil-
haften Eindruck macht, wofern es nicht in ein
ſchales Laͤcheln, oder in ein hoͤhniſches Grinzen
ausartet.


(Die Menſchen werden mehr durch den Schein
beherſcht, als durch die Wirklichkeit. Es iſt
daher nicht genug, ſanfte, duldſame und milde
Geſinnungen im Herzen zu haben; man muß das
innerliche Daſein derſelben auch durch ſein Aeuſſer-
liches an den Tag zu legen ſuchen. Wenige Leute
haben Scharfſichtigkeit genug, mehr als das
Aeuſſerliche zu entdekken, noch Aufmerkſamkeit
genug, mehr zu beobachten, noch Sorgfalt genug,
mehr zu unterſuchen. Ihre Begriffe nehmen ſie
von der Oberflaͤche; tiefer dringen ſie nicht. Sie
loben den, als den ſanfteſten, gutartigſten Men-
ſchen, der das einnehmendſte aͤuſſerliche Bezeigen
hat,
[25] hat, wiewohl ſie vielleicht nur einmahl in ſeiner
Geſelſchaft geweſen ſind. Sanftmuth in der Mie-
ne, in dem Tone, in den Geſichtszuͤgen, richtet
die Sache anfangs allein aus; und ohne weitere
Unterſuchung, vielleicht gar bei entgegengeſezten
Eigenſchaften, wird ein Menſch, der dieſes Aeuſ-
ſerliche beſizt, bis auf weitere Bekantſchaft, fuͤr
den Sanftmuͤthigſten, Beſcheidenſten und Gutar-
tigſten unter der Sonne ausgerufen.)


(Dieſe Sanftmuth iſt nicht ſo leicht zu beſchrei-
ben, als zu empfinden. Sie iſt die zuſammen-
geſezte Wirkung von verſchiedenen Dingen, von
Gefaͤlligkeit, Biegſamkeit der Sitten, die jedoch
nicht in knechtiſches Weſen ausartet; von einem
Anſehen von Milde in der Miene, der Gebehrde,
dem Ausdrukke; einem Anſehn, das ſich immer
gleich bleibt, man mag nun mit demjenigen, mit
welchem man umgeht, einſtimmig denken oder
nicht.)


(Beobachte ſorgfaͤltig die, welche dieſes Sanfte
an ſich haben, das dich und andere bezaubert; ſo
wird dir dein eigner guter Verſtand die verſchie-
denen Theile, woraus es zuſammengeſezt iſt, bald
B 5ent-
[26] entdekken helfen. Beſonders mußt du dieſes
Sanfte anzunehmen wiſſen, wenn du genoͤthigt
biſt, etwas von dir Verlangtes abzuſchlagen, oder
etwas vorzubringen, das an ſich ſelbſt den Zu-
hoͤrern nicht angenehm ſein kan. Alsdan iſt es
noͤthig, eine ekelhafte Pille zu vergolden.)


(Dieſes ſanfte, einnehmende und zugleich frei-
muͤthige Weſen iſt der große Vorzug derer, welche
jung in gute Geſelſchaft eingefuͤhrt, und zeitig
gewoͤhnt wurden, mit Hoͤhern umzugehen. Wie
viele habe ich geſehen, die, nachdem ſie die voͤllige
Wohlthat einer klaſſiſchen Erziehung, beides auf
niedrigen und hohen Schulen, genoſſen hatten,
wenn ſie dem Koͤnige vorgeſtelt wurden, nicht
wußten, ob ſie auf dem Kopfe oder auf den Fuͤßen
ſtanden! Redete der Koͤnig zu ihnen, ſo verſanken
ſie gleichſam in Nichts. Sie zitterten, ſuchten
die Haͤnde in die Taſche zu ſtekken, konten ſie
nicht hineinbringen, ließen den Hut fallen, ſchaͤm-
ten ſich, ihn wieder aufzuheben, und kurz, ſie
verſezten ſich in jede Stellung, nur nicht in die
rechte, das iſt, in die ungezwungne und natuͤrliche.)


Das
[27]

(Das Kenzeichen eines wohlerzognen Menſchen
iſt, gegen Geringere ohne Uebermuth, gegen Hoͤ-
here mit ungezwungner Ehrerbietung zu reden.
Er ſpricht unbeſorgt mit Koͤnigen, ſcherzt mit
Frauenzimmern vom erſten Range mit Vertrau-
lichkeit, Munterkeit, zugleich aber auch mit
Ehrerbietung, und ſchwazt mit ſeines Gleichen,
er ſei mit ihnen bekant oder nicht, von algemei-
nen, jedoch nicht ganz albernen Materien, ohne
die geringſte Unruhe des Gemuͤths, und ohne un-
ſchikliche Stellung des Leibes. Weder jenes noch
dieſer koͤnnen ſich mit Vortheile zeigen, als wenn
ſie volkommen ungezwungen ſind.)


Huͤte dich ſorgfaͤltig, mein Lieber, vor der
Sucht zu demonſtriren und zu disputiren, welche
manche Leute mit in die Geſelſchaft bringen, und
ſich wohl gar noch etwas darauf einbilden. Gehſt
du in deiner Meinung von andern ab, ſo behaupte
ſie mit Beſcheidenheit, Kaltbluͤtigkeit, und Sanft-
muth; werde nie hizig, vertheidige dich nie mit
Geſchrei. Findeſt du, daß dein Gegner anfaͤngt,
in Hize zu gerathen, ſo mache dem Streite durch
irgend
[28] irgend einen feinen Scherz ein Ende. Denn das
kanſt du fuͤr ausgemacht annehmen: wenn die
beiden beſten Freunde mit Hize uͤber eine noch ſo
kleine, noch ſo unbedeutende Sache ſtreiten, ſo
entfernen ſich ihre Herzen wenigſtens fuͤr dieſen
Augenblik von einander. Ueberhaupt ſind Strei-
tigkeiten, ſie moͤgen betreffen, was ſie wollen,
eine Art von Zweikampf des Verſtandes, und
koͤnnen nicht anders als zum Nachtheil der einen
oder der andern der ſtreitenden Parteien endigen.


(Entſcheidende Ausſpruͤche ſind bei jungen Leu-
ten dem Wohlſtande zuwider. Sie ſolten ſelten
das Anſehen haben, als behaupteten ſie etwas,
und dabei allezeit mildernde Ausdruͤkke brauchen;
als, “wenn es mir erlaubt iſt, ſo zu ſagen; ich
“wuͤrde vielmehr glauben, wenn ich mich unter-
“ſtehen darf, mich zu erklaͤren;„ Worte, welche
die Art und Weiſe lindern, den Gruͤnden aber kei-
neswegs Eintrag thun. Leute von mehr Alter
und Erfahrung erwarten dieſen Grad von Achtung,
und ſind dazu berechtigt.)


Doch bin ich auch auf der andern Seite weit
entfernt dir zuzumuthen, daß du allem, was du
in
[29] in Geſelſchaft ſagen hoͤrſt, deinen Beifal gebeſt.
Ein ſolcher Beifal wuͤrde niedertraͤchtig, und in
einigen Faͤllen ein Verbrechen ſein. Tadle alſo
mit Nachſicht, und belehre mit Sanftmuth. Es
iſt unmoͤglich, daß ein Man von Verſtande den
Narren nicht verachte, und daß ein Man von Ehre
den Schurken nicht verabſcheue; aber ſo viel mußt
du uͤber dich ſelbſt erhalten, daß du weder das
eine noch das andere in ſeinem vollen Maaße
aͤußerſt. Ich beſorge, es ſind ihrer zu viel, als
daß mans mit ihnen aufnehmen koͤnte; ihre An-
zahl macht, daß man ſie fuͤrchten muß, obgleich
man ſie nie ehren kan. Sie haͤngen gewoͤhnlich
an einander, weil ſie einer des andern zu ſehr
beduͤrfen. Sei hoͤflich, aber zuruͤckhaltend gegen
ſie; thue uͤbrigens, als wenn ſie gar nicht da waͤ-
ren. Wage es nicht, einen Narren ablaufen zu
laſſen, wie ſeinwollende Wizlinge gemeiniglich
thun, und ſtoß nicht den Schurken unnoͤthiger
weiſe vor den Kopf; ſondern habe lieber mit bei-
den ſo wenig zu ſchaffen, als moͤglich, und denke
immer daran, daß derjenige, welcher mit einem
Schurken oder Narren Freundſchaft macht, gewiß
etwas
[30] etwas Boͤſes im Sinne, oder gar ſchon veruͤbt
hat und nun zu verſtekken ſucht.


Ein junger Man, vornemlich bei ſeinem er-
ſten Eintrit in die Welt, wird gewoͤhnlich nach
der Geſelſchaft beurtheilt, mit der er umgeht,
und dieſe Art zu urtheilen iſt voͤllig ſicher. Denn
wenn es gleich anfangs nicht ganz von ihm ab-
haͤngt, zu den beſten Geſelſchaften Zutrit zu fin-
den, ſo hat er es doch ganz in ſeiner Gewalt,
ſchlechte Geſelſchaft zu vermeiden.


Vielleicht fragſt du: welches ſind die Merk-
male der guten und der ſchlechten Geſelſchaft?
und ich wil ſie dir angeben, ſo gut ich kan, denn
es iſt aͤuſſerſt wichtig fuͤr dich, ſie unterſcheiden
zu koͤnnen.


Gute Geſelſchaft beſteht aus Leuten von einem
gewiſſen Anſehen (ich meine nicht, aus Leuten von
vornehmer Geburt), die dem groͤßten Theile nach,
fuͤr Leute von Verſtande und geſittetem Karakter
gehalten werden, kurz aus Leuten, denen man
algemein den Namen guter Geſelſchaft zugeſteht.
Es iſt moͤglich, vielleicht gar wahrſcheinlich, daß
in
[31] in eine ſolche Geſelſchaft ſich auch ein oder zwei
Narren einſchleichen oder ein paar Schurken ſich
eindraͤngen, die einen, um den Ruf von ein wenig
Menſchenverſtand, die andern, um einen gemein-
hin ſogenanten ehrlichen Namen zu erhaſchen.
Indes vbi plura nitent, mußt du, wie Horaz,
dich nicht an einige Flekken ſtoßen.


(Verlaß dich uͤbrigens darauf, du wirſt bis
hinauf oder bis hinunter zu der Geſelſchaft ſteigen,
mit der du umgehſt! Nach dieſer werden die Leute
von dir urtheilen, und zwar nicht mit Unrecht. Das
ſpaniſche Sprichwort hat ſeinen guten Grund:
“ſage mir, mit wem du umgehſt, ſo wil ich dir
ſagen, wer du biſt.„)


(Es ſei daher deine Sorge, wo du nur biſt,
in diejenige Geſelſchaft jedes Orts zu kommen,
die jeder naͤchſt ſeiner eignen fuͤr die beſte haͤlt.
Das iſt die beſte Erklaͤrung, die ich dir von der
guten Geſelſchaft geben kan.)


(Jedoch auch hier iſt Behutſamkeit noͤthig,
aus deren Ermangelung viele junge Leute ſelbſt in
guter Geſelſchaft ungluͤklich geworden ſind. Sie
beſteht, wie ich bereits angemerkt habe, aus einer
großen
[32] großen Mannigfaltigkeit von Weltleuten, deren
Gemuͤthsarten und Grundſaͤze zwar verſchieden
ſind; deren Sitten aber ſo ziemlich uͤberein-
kommen. Trit ein junger Menſch, der in der
Welt neu iſt, zuerſt in dieſe Geſelſchaft, ſo thut
er ganz recht, wenn er den Entſchluß faßt, ſich
in allem, was zu dem Aeußerlichen gehoͤrt, nach
ihr zu richten, und ſie nachzuahmen. Nun hat
er aber oft den albernen Ausdruk, vornehme
Laſter
und Modelaſter, gehoͤrt. Er findet in
jener Geſelſchaft Leute, welche ſchimmern, und
durchgaͤngig bewundert und geſchaͤzt werden; zu-
gleich bemerkt er, daß dieſe Leute Hurenjaͤger,
Trunkenbolde oder Spieler ſind; daher nimt er
ihre Laſter an, haͤlt ihre Fehler irrig fuͤr Volkom-
menheiten, und glaubt, ſie haͤtten ihr modiſches
Bezeigen und ihren Schimmer ſolchen vornehmen
Laſtern zu danken.)


(Allein gerade das Gegentheil! Dieſe Leute
haben ſich ihren Ruf durch ihre Geiſtesgaben,
ihre Gelehrſamkeit, ihr geſittetes Weſen und
andre wahre Volkommenheiten erworben; und
werden durch ſolche vornehme, modiſche Laſter in
der
[33] der Meinung aller Vernuͤnftigen, und mit der
Zeit auch in ihrer eignen, nur entehrt und ernie-
drigt. Ein Hurenjaͤger beim Speichelfluſſe oder
ohne Naſe iſt ja wohl eine recht artige, aller
Nachahmung wuͤrdige Perſon! Ein Trunkenbold,
der den am Tage hineingeſchuͤtteten Wein Abends
von ſich ſpeit, und den ganzen folgenden Tag
hindurch von Kopfweh betaͤubt wird, iſt ja wohl
ein ſchoͤnes Muſter zur Nachahmung! Ein Spie-
ler, der ſich das Haar ausrauft, Fluͤche und Got-
teslaͤſterungen ausſtoͤßt, weil er mehr verlohren
hat, als er beſizt; iſt ja wohl eine recht liebens-
wuͤrdige Perſon!)


(Nein, das ſind alles Zuſaͤze, und zwar ſtarke,
die niemahls einen Karakter ſchmuͤkken koͤnnen,
ſondern allezeit den beſten herabſezen werden. Zum
Beweiſe davon nim an, es ſei ein Menſch, der
keine Geiſtesgaben oder andre gute Eigenſchaften
beſizt, ein Hurenjaͤger, Trunkenbold oder Spieler.
Wie werden ihn Leute von aller Art betrachten? —
Als das veraͤchtlichſte, laſterhafteſte Thier. Es
iſt alſo offenbar, daß bei ſolchen vermiſchten
Theophron 2. Th. CKarak-
[34] Karakteren der gute Theil blos macht, daß man
den Boͤſen verzeiht, aber nicht billigt.)


(Ich wil hoffen und glauben, daß du keine
Laſter an dir haben wirſt. Solteſt du aber zum
Ungluͤkke einige an dir haben, ſo bitte ich dich
wenigſtens, mit den deinigen zufrieden zu ſein,
und nicht noch andrer Leute ihre dazu anzunehmen.
Ich bin uͤberzeugt, die Annehmung fremder Laſter
hat zehnmahl mehr junge Leute ins Verderben
geſtuͤrzt, als natuͤrliche Neigungen.)


(Da ich kein Bedenken trage, meine begangnen
Fehler zu bekennen, wenn ich denke, daß dieſes
Bekentniß dir Nuzen bringen kan; ſo wil ich
geſtehen, daß ich bei meiner erſten Beziehung der
hohen Schule trank und rauchte, ungeachtet ich
eine Abneigung vor Wein und Tabak hatte, blos
weil ich glaubte, das ließe vornehm, und wuͤrde
machen, daß ich wie ein Mann ausſaͤhe.)


(Als ich auf Reiſen ging, kam ich zuerſt nach
dem Haag, wo das Spiel ſtark Mode war, und
wo ich viele Leute von großem Range und Anſehn
ſpielen ſah. Ich war damahls jung und einfaͤltig
genug, zu glauben, das Spielen waͤre eine ihrer
Volkom-
[35] Volkommenheiten. Da ich nun nach Volkom-
menheiten trachtete, nahm ich das Spielen fuͤr
einen nothwendigen Schrit dazu. Solchergeſtalt
erwarb ich mir irriger Weiſe die Fertigkeit eines
Laſters, das, weit entfernt, meine Gemuͤthsart
zu ſchmuͤkken, ihr, wie ich mir bewußt bin, zu
einem großen Schandflekke gereicht hat.)


(So ahme denn mit Unterſcheidung und Ur-
theilskraft die wahren Volkommenheiten der guten
Geſelſchaft nach, darin du kommen kanſt! Lerne
ihr ihr geſittetes Weſen, ihr Bezeigen, ihre Anrede,
die ungezwungne, wohllaſſende Wendung ihrer
Unterredung ab! Merke aber, ſo ſchimmernd ſie
auch ſein mag, ſind doch ihre Laſter, wenn ſie
anders welche hat, eben ſo viele Flekken, die du
eben ſo wenig nachahmen mußt, als du dir eine
durch Kunſt veranſtaltete Warze auf das Geſicht
ſezen wuͤrdeſt, darum weil ein ſchoͤn gebildeter
Menſch ſo ungluͤklich waͤre, eine natuͤrliche auf
dem ſeinigen zu haben. Denke vielmehr, wie viel
ſchoͤner er ohne ſie geweſen ſein wuͤrde!)


(Nachdem ich ſolchergeſtalt einige meiner Ver-
gehungen geſtanden habe, wil ich dir nun auch
C 2ein
[36] ein wenig von meiner guten Seite zeigen: Wo
ich nur war, da bemuͤhte ich mich ſtets, in die
beſte Geſelſchaft zu kommen; und es gluͤkte mir
insgemein. Darin gefiel ich einigermaßen, in-
dem ich ein Verlangen zu gefallen zeigte. Ich
trug Sorge, niemahls zerſtreut zu ſein, ſondern
gab vielmehr auf alles Achtung, was in der Ge-
ſelſchaft geſagt, gethan oder auch nur geſehen
wurde. Ich ließ es auch nie an der kleinſten Hoͤf-
lichkeit fehlen, und war niemahls wetterwendiſch.
Dieſe Dinge, nicht aber meine Vergehungen,
machten mich beliebt.)


Schlechte Geſelſchaft iſt die, der nicht jeder-
man den Namen der guten zugeſtehen kan: aber es
gibt auch hier, ſo wie bei der guten, verſchiedene
Grade; und es iſt unmoͤglich zu vermeiden, daß
du im taͤglichen Leben nicht dan und wan in
ſchlechte Geſelſchaft gerathen ſolteſt; aber reiß
dich los von ihr, ſo bald und ſo gut du kanſt.
Einige ſolche Klubs ſind ſo verderblich und ſo
ſchaͤndlich, daß nach einem zweimaligen Beſuch
derſelben du ſchon am Verſtande und Herzen un-
fehlbar
[37] fehlbar verlezt ſein wuͤrdeſt. Dahin gehoͤren die
Zuſammenkuͤnfte der Zaͤnker, Schlaͤger, falſchen
Spieler, Betruͤger und der Niedertraͤchtigen, die
im Weine und mit dem andern Geſchlechte aus-
ſchweifen, der Geſelſchaft der Narren nicht zu
gedenken. Huͤte dich aber auch im Gegentheil,
gegen dis Geſindel zu deklamiren und zu predigen,
wie ein Kapuziner, ſo lange du jung biſt. Das
jugendliche Alter hat noch nicht den Beruf des
Reformators der Moralitaͤt und der Sitten. Er-
halte deine eignen Sitten rein und unbeflekt, und
uͤberlaß Leute dieſes Gelichters dem gerechten Un-
willen oder der Verachtung der Guten.


Es gibt eine dritte Art von Geſelſchaft, welche,
wenn gleich nicht ſo ſchaͤndlich, doch unter der
Wuͤrde eines verſtaͤndigen Mannes iſt, ich meine
nemlich die Geſelſchaft gemeiner Leute. Junge
Leute von Stande und Geburt verfallen bei ihrem
erſten Eintrit in die Welt aus einer gewiſſen Schuͤch-
ternheit, unzeitigen Scham und Traͤgheit, die
ſchwer abzulegen iſt, leicht dahin, ſolche Geſel-
ſchaften zu lieben. Wenn du nur ein Jahr lang
dahineingeraͤthſt, ſo wirſt du dich nimmer daraus
C 3empor-
[38] emporheben koͤnnen, wirſt immer ſo unbekant
und unbedeutend bleiben, als ſie ſelbſt ſind.


Eitelkeit iſt gleichfals eine große Verſuchung,
ſich zu ſolchen Geſelſchaften zu halten; denn der
Man von Stande iſt ſicher, daß er die erſte
Perſon in der Geſelſchaft iſt, und daß er bewun-
dert und geſchmeichelt wird, obgleich er vielleicht
der groͤßte Narr darin iſt. Glaube aber nicht,
ich meine, wenn ich von gemeinen Leuten rede,
Leute von niedriger Geburt; denn Geburt achte
ich fuͤr gar nichts, und ich hoffe, du denkſt hierin,
wie ich: ſondern ich meine mit dieſem Ausdruk
unbekante, unbedeutende Leute, ungekant und un-
geſehn von dem feinern Theile der Welt, Leute, die
durch kein Verdienſt oder Talent ſich auszeichnen,
als durch das, den ganzen Abend hindurch beim
Kruge zu ſizen; denn Trinken iſt gemeiniglich die
ganze thoͤrigte und unanſtaͤndige Beſchaͤftigung
ſolcher Leute.


Noch gibt es eine andere Art von Geſelſchaf-
ten, die ich dir uͤberhaupt zu vermeiden rathe, ob
es gleich unſchaͤdlich ſein mag, ſie dan und wan
einmahl zu ſehen; ich meine die Geſelſchaft der
Poſſen-
[39] Poſſenreiſſer, Wizlinge, Harlekins, Nachaͤffer
und luſtigen Bruͤder, welche alle gemeiniglich die
ſeichteſten Koͤpfe von der Welt ſind. Wenn du
einmahl aus bloßer Neugierde in ſolch eine Geſel-
ſchaft gehſt, ſo kom nicht als ein ſtrenger Philo-
ſoph mit der Mine der Verachtung fuͤr ihre unedle
Luſtigkeit hinein, ſondern begnuͤge dich damit, eine
der geringern Rollen unter ihnen zu ſpielen.
Werde mit keiner unter den ſpielenden Perſonen
vertraut; denn das wuͤrde ſie zu Anſpruͤchen auf
dich berechtigen, die du mit guter Art weder be-
friedigen, noch abweiſen kanſt. Nenne keinen von
ihnen bei ihren Vornamen: Hans, Franz u. ſ. w.
ſondern ſei hoͤflich gegen ſie, und rufe ein wenig
mehr Zeremonie zu Huͤlfe als mit deines Gleichen;
dis iſt das einzige wirkſame Mittel, ſolche vor-
wizige und muthwillige Burſchen in gehoͤriger
Entfernung zu erhalten.


Schlechte Geſelſchaft iſt leichter beſchrieben,
als gute; denn alles ſchlechte iſt jederman beim
erſten Anblik auffallend, und wer wird jemahls
Narheit, Schurkerei, Zuͤgelloſigkeit mit Wiz,
C 4Ehre
[40] Ehre und Wohlanſtaͤndigkeit verwechſeln! In
der guten Geſelſchaft gibt es gleichfals Grade,
von der blos guten bis zur beſten; blos gut heißt
noch nicht eben lobenswuͤrdig, ſondern nur, wo-
wider ſich nichts einwenden laͤßt. Strebe nach
der beſten; aber welches iſt die beſte? Ich halte
dafuͤr, es iſt eine ſolche Geſelſchaft von Mansper-
ſonen oder Frauenzimmern, oder auch von beiden
zugleich, wo gebildete feine Sitten und Wohlan-
ſtaͤndigkeit mit einem hohen Grade von Recht-
ſchaffenheit verbunden ſind.


Geſittete Frauenzimmer gehoͤren unter die noth-
wendigen Ingredienzen guter Geſelſchaft. Die Auf-
merkſamkeit, welche man ihnen bezeigt, (ein Tribut,
den jeder wohlerzogne Man ihnen gern bezahlt,)
dient dazu, den Ton der Wohlanſtaͤndigkeit zu
unterhalten, und macht die gute Lebensart zur Ge-
wohnheit; dahingegen Maͤnner, welche unter ſich
in Geſelſchaften, ungemildert von dem ſanfteren
Geſchlechte leben, leicht ſorglos, nachlaͤſſig und
rauh gegen einander werden. In Geſelſchaft iſt
der Man, er ſei, wer er wolle, dem Frauenzim-
mer untergeordnet; er darf ſich ihm nicht anders,
als
[41] als mit Ehrerbietung naͤhern. Eine ſolche ehrer-
bietige Aufmerkſamkeit gegen das andre Geſchlecht,
welche weder unter der Wuͤrde des unſrigen iſt,
noch irgend einem ſchadet, iſt zu unſerm guten
Fortkommen in der Welt unentbehrlich. Denn
jeder junge Man erhaͤlt, bei ſeinem Eintrit in die
Welt, das Gepraͤge ſeines Werths fuͤr die Geſel-
ſchaft von dem Frauenzimmer. Suche ſie alſo
mit der ſorgfaͤltigſten Aufmerkſamkeit, und mit
der feinſten Hoͤflichkeit zu deinem Vortheil einzu-
nehmen. Ich habe oft genug erlebt, daß ihr
Ausſpruch eine Muͤnze von ſchlechtem Gehalt
guͤltig und gangbar machte; welchen Glanz wird
nun nicht aͤchtes Schroot und Korn dadurch er-
halten! Frauenzimmer, (obſchon man ihnen ſonſt
Verſtand beilegt) haben alle, mehr oder weniger,
Schwaͤche, Eigenſin, Grillen, Launen, und vor-
nemlich Eitelkeit: gib ihnen nach, ſo viel du ohne
Niedertraͤchtigkeit oder Verlezung irgend einer
deiner Pflichten kanſt, und opfere deine eignen
kleinen Launen den ihrigen auf.


Junge Leute unſers Geſchlechts verfallen leicht
dahin, ihr Mißfallen, wo nicht gar Abſcheu
C 5und
[42] und Verachtung fuͤr alte und haͤßliche Frauens-
perſonen merken zu laſſen; das iſt aber ungerecht
und unverſtaͤndig zugleich. Denn wir ſind dem
ganzen Geſchlechte ohne Ausnahme ehrerbietige
Hoͤflichkeit ſchuldig; und wie koͤnten Mangel an
Schoͤnheit und Jugend jemahls eine gerechte Ur-
ſache zur Verachtung ſein? Laß es uͤberhaupt
eine beſtaͤndige Regel ſein, niemahls die Verach-
tung merken zu laſſen, die du oft und mit Recht
gegen ein menſchliches Weſen empfinden wirſt; denn
das vergibt man dir nimmer. Jede Beleidigung
wird eher verziehen, als Spot und Verachtung.


(Uebrigens muß man mit Frauenzimmern als
mit Leuten reden, die unter den Mansperſonen,
aber uͤber den Kindern ſind. Sprichſt du zu
ihnen zu tiefſinnig, ſo machſt du ſie nur verwirt,
und verlierſt deine Muͤhe; ſprichſt du zu ihnen
zu taͤndelhaft, ſo werden ſie die Verachtung inne,
und entruͤſten ſich daruͤber. Der eigentliche Ton
gegen ſie iſt der, den die Franzoſen entregent
nennen, und der iſt auch wirklich die hoͤfliche
Sprache guter Geſelſchaft.)


(Laß
[43]

(Laß mich dir jezt die vorzuͤglichſten Regeln
bekant machen, nach denen du dein geſelſchaftli-
ches Betragen einrichten mußt, wenn du Beifal
und Wohlwollen zu erwerben wuͤnſcheſt.)


(Nim zuvoͤrderſt alle Munterkeit und Luſtig-
keit, aber ſo wenig Unbeſonnenheit der Jugend,
als du kanſt, mit dir in die Geſelſchaften! Die
erſtern werden bezaubern; die leztere wird oft,
wiewohl unſchuldiger Weiſe, unverſoͤhnlich belei-
digen. Forſche nach der Geſelſchaft Gemuͤths-
arten und Umſtaͤnden, noch ehe du dem Raum
gibſt, was deine Einbildungskraft dich antreiben
kan zu ſagen! In allen Geſelſchaften gibt es mehr
verkehrte, als richtige Koͤpfe, und viel mehrere,
die Tadel verdienen, als ſolcher, welche ihn ertra-
gen koͤnnen. Solteſt du daher weitlaͤuftig zum
Lobe irgend einer Tugend reden, an der es eini-
gen in der Geſelſchaft offenbar fehlte, oder wider
irgend ein Laſter eifern, mit dem andre offenbar
behaftet waͤren: ſo werden deine Betrachtungen,
wenn ſie gleich algemein und ohne alle Anwendung
vorgebracht worden ſind, dennoch, weil ſie ſich
leicht
[44] leicht anwenden laſſen, fuͤr perſoͤnliche und auf
ſolche Leute abgezielte gehalten werden.)


(Bei dieſer Anmerkung kan ich nicht umhin,
dich zu erinnern, daß du auch ſelbſt nicht argwoͤh-
niſch und aͤrgerlich ſein, noch annehmen darfſt, als
waͤren manche Reden auf dich abgeſehen, darum,
weil ſie es ſein koͤnnen. Die Sitten wohlerzog-
ner Leute ſtellen den, der ſie ſich zu eigen gemacht
hat, vor ſolchen ſeitwaͤrts gethanen niedrigen An-
griffen ſicher. Wenn aber zufalsweiſe eine ge-
ſchwaͤzige Frauensperſon, oder ein unverſchaͤmter
Gek ſich etwas dieſer Art verlauten laͤßt: ſo iſt es
beſſer, ſich zu ſtellen, als merkte man es nicht,
als darauf zu antworten.)


(Huͤte dich ſorgfaͤltig, von deinen oder Anderer
haͤuslichen Angelegenheiten zu reden. Die deini-
gen gehen andere nichts an, und ſind ihnen lang-
weilig; die ihrigen gehen dich nichts an. Die
Materie iſt verfaͤnglich; denn es laͤßt ſich wetten,
daß du den einen oder den andern an ſeinem
ſchmerzhaften Orte treffen wirſt. In dieſem Falle
darf man dem guten Scheine nicht trauen, wel-
cher
[45] cher dem wahren Verhaͤltniß zwiſchen Maͤnnern
und Weibern, Aeltern und Kindern, einem Freunde
und dem andern, insgemein ſehr zuwider iſt, daß
man bei der beſten Abſicht von der Welt oft unan-
genehme Fehler begeht.)


(Merke, daß in den meiſten vermiſchten Ge-
ſelſchaften Wiz, Laune und Scherz blos an den
Ort gebunden ſind! Sie kommen auf dem und
jenem Boden fort, laſſen ſich aber nicht leicht
verpflanzen. Jede Geſelſchaft iſt in beſondern
Umſtaͤnden, und hat ihre beſondre Sprache. Das
kan in derſelben Anlaß zu Wiz und Luſtigkeit ge-
ben, wuͤrde aber in jeder andern mat und un-
ſchmakhaft ſcheinen, und laͤßt ſich daher nicht wie-
derholen. Nichts macht, daß man einfaͤltiger
ausſieht, als eine von der Geſelſchaft nicht ver-
ſtandene oder nicht gebilligte Scherzrede. Findet
man nun tiefes Stilſchweigen, indem man alge-
meinen Beifal erwartet, oder was noch aͤrger iſt,
wird man erſucht, das Wizige ſeiner Reden zu
erklaͤren: ſo laͤßt ſich der ungeſchikte, verlegne
Zuſtand,
[46] Zuſtand, worin man ſich alsdan befindet, eher
denken, als beſchreiben.)


(Doch auf das Wiederholen zu kommen! Huͤte
dich ſehr, das, was du in der einen Geſelſchaft
gehoͤrt haſt, (ich meine hier nicht die bloßen
Scherzreden) in einer andern zu wiederholen!
Dinge, die dem Anſehen nach gleichguͤltig ſind,
koͤnnen, wenn ſie weiter kommen, viel wichtigere
Folgen haben, als du denken ſolteſt. Zudem gibt
es in der Geſelſchaft ein algemeines, ſtilſchweigend
angenommenes, Vertrauen, kraft deſſen jeder
gehalten iſt, nichts aus derſelben auszuplaudern,
wenn ihm gleich nicht ausdruͤklich Verſchwiegen-
heit anbefohlen wird. Ein Ausplauderer dieſer
Art wird ſich ganz ſicher in tauſend Zaͤnkereien
und abgenoͤthigte Erklaͤrungen verwikkeln, und
wohin er nur koͤmt, da wird man ihn ſchuͤchtern
und unluſtig aufnehmen.)


(Du wirſt in den meiſten guten Geſelſchaften
Leute finden, die ihren Plaz durch ein ſehr ver-
aͤchtliches Recht behaupten. Wir nennen einen
ſolchen eine gute Haut, die Franzoſen nennen ihn
un
[47]un bon diable. Die wahre Beſchaffenheit iſt,
daß es Leute ohne Geiſtesgaben und Einbildungs-
kraft ſind, die keinen eigenen Willen haben, und
daher bereit ſind, alles was in der Geſelſchaft
geſagt und gethan wird, gutzuheißen oder ihm
beizutreten, mit gleicher Munterkeit den tugend-
hafteſten oder laſterhafteſten, weiſeſten oder ein-
faͤltigſten Entwurf anzunehmen, der nur von dem
groͤßern Theile der Geſelſchaft in Anſchlag gebracht
wird. Dieſe thoͤrichte, oft laſterhafte, Gefaͤllig-
keit ruͤhrt blos vom Mangel eigener Verdien-
ſte her.)


(Ich hoffe, du wirſt deinen Plaz in der Ge-
ſelſchaft aus einem edlern Grunde, und zwar (du
kanſt doch hoffentlich ein Wortſpiel ertragen) mit
dem Kopfe behaupten. Habe deinen eigenen
Willen und deine eigene Meinung, und bleibe
ſtandhaft dabei, aber mit aufgeraͤumtem Weſen,
mit Wohlanſtaͤndigkeit und Hoͤflichkeit! Denn du
biſt izt noch nicht alt genug, um vorpredigen oder
tadeln zu duͤrfen.)


(Alle andre Arten von Gefaͤlligkeit ſind in
guter Geſelſchaft nicht nur untadelhaft, ſondern
auch
[48] auch nothwendig. Sich das Anſehen zu geben,
als naͤhme man die kleinen Schwachheiten, Fehler
und Laͤcherlichkeiten der Geſelſchaft gar nicht wahr,
das iſt nicht nur erlaubt, ſondern auch gewiſſer
maßen eine Pflicht der Hoͤflichkeit. Thuſt du
es, ſo wird man mit dir zufrieden ſein; thuſt du
es nicht, ſo wird man ſich gewiß von dir nicht
beſſern laſſen.)


(Du wirſt in jeder Gruppe von Geſelſchaft
zwo Hauptfiguren finden, das artige Frauenzim-
mer und den artigen Herrn, die ſchlechterdings,
in Anſehung des Wizes, der Sprache, der Mode,
des Geſchmaks, derſelben Geſelſchaft Geſeze vor-
ſchreiben. Bei einem maͤßigen Antheile an Scharf-
ſin wirſt du, noch ehe du eine halbe Stunde in
der Geſelſchaft geweſen biſt, dieſe beiden Haupt-
figuren leicht entdekken; ſowohl aus der Ehrfurcht,
die du der ganzen Geſelſchaft ihnen erweiſen ſieheſt,
als auch aus der ungezwungenen, ſorgloſen, hei-
tern Miene, die ihnen das Bewußtſein ihrer Macht
gibt. In dieſem Falle, ſo wie in jedem andern,
ziele allezeit auf das hoͤchſte; wende dich an dieſe
Haupt-
[49] Hauptperſonen, gleich bemuͤht, ihnen zu gefallen,
und von ihnen zu lernen. Das Aufſuchen des
nicht zu erhaltenden philoſophiſchen Steins hat
tauſend nuͤzliche Entdekkungen veranlaßt, die auſ-
ſerdem niemahls waͤren gemacht worden.)


(Was die Franzoſen mit Recht edle Sitten
nennen, das laͤßt ſich blos in den allerbeſten Ge-
ſelſchaften erlangen. Sie ſind die unterſcheiden-
den Kenzeichen volkommener Weltleute. Die von
niedriger Erziehung nehmen ſie niemahls in einem
ſolchen Grade an, daß nicht ein oder der andre
Theil des urſpruͤnglichen Poͤbelhaften durchſchim-
mern ſolte. Edle Sitten verbieten eben ſo ſehr
uͤbermuͤthige Verachtung, als niedrige Eiferſucht.)


(Schlechterzogene Leute in guten Umſtaͤnden,
ſchoͤnen Kleidern und Kutſchen, aͤuſſern uͤbermuͤ-
thige Verachtung gegen alle, die ſich nicht eben ſo
ſchoͤne Kleider und Kutſchen anſchaffen koͤnnen,
und nicht, wie ſie ſich ausdruͤkken, ſo viel Geld
in der Taſche haben. Auf der andern Seite nagt
ſie der Neid. Sie koͤnnen ſich nicht enthalten,
ihn gegen diejenigen blikken zu laſſen, von denen
Theophron 2. Th. Dſie
[50] ſie in irgend einem dieſer Stuͤkke uͤbertroffen wer-
den, die doch bei weitem keine ſichere Kenzeichen
des Verdienſtes ſind. Ferner beſorgen ſie, man
moͤgte ſie verachten; daher ſind ſie uͤberaus arg-
woͤhniſch und aͤrgerlich. Sie ſind begierig und
hizig in Kleinigkeiten; darum, weil Kleinigkeiten
anfangs ihre wichtigen Angelegenheiten waren.
Edle Sitten enthalten in ſich gerade das Wider-
ſpiel von allem dieſem. Erlerne ſie fruͤhzeitig!
Du kanſt dir ſie nicht zu ſehr gelaͤufig und zur
Fertigkeit machen.)


(Ich ſage nichts von dem Tragen und der
Geſchiklichkeit des Leibes, ſondern uͤberlaſſe das
der Sorge deines Tanzmeiſters und deiner eignen
Aufmerkſamkeit auf die beſten Muſter. Merke
dir jedoch, daß es Dinge von Wichtigkeit ſind.)


(Rede oft; niemahls aber lange! Gefaͤlſt
du in ſolchem Falle nicht, ſo biſt du wenigſtens
ſicher, daß du deine Zuhoͤrer nicht ermuͤdeſt. Be-
zahle deine eigne Rechnung, bewirthe aber nicht
die ganze Geſelſchaft! Das Leztere geziemet ſich
nur in hoͤchſt ſeltenen Faͤllen, weil in den meiſten
andern
[51] andern die Leute nicht bewirthet ſein wollen, ſon-
dern jeder voͤllig uͤberzeugt iſt, daß er ſelbſt be-
zahlen kan.)


(Geſchichte erzaͤhle ſelten, und ſchlechterdings
niemahls, als wenn ſie uͤberaus artig und ſehr
kurz ſind. Jeden unerheblichen Umſtand laß weg,
und huͤte dich vor Ausſchweifungen! Seine Zu-
flucht oft zu Erzaͤhlungen nehmen, das verraͤth
einen großen Mangel an Einbildungskraft.)


(Faſſe niemanden beim Knopfe oder bei der
Hand, damit er dich aushoͤren ſol! Denn ſind
die Leute nicht willig, dich zu hoͤren, ſo mußt du
lieber deine Zunge halten, als ſie. Die meiſten
großen Schwaͤzer ſuchen ſich irgend einen ungluͤk-
lichen Man in der Geſelſchaft, (insgemein den,
von dem ſie merken, daß er am ſtilſten iſt) oder
den naͤchſten Nachbar aus, dem ſie ins Ohr reden,
oder wenigſtens leiſe ein beſtaͤndiges Geſchwaͤze
zufluͤſtern koͤnnen. Das iſt nun uͤberaus unge-
zogen, und gewiſſermaaßen ein Betrug; denn
die Unterredung iſt ein der ganzen Geſelſchaft ge-
meinſchaftliches Gut.)


D 2(Auf
[52]

(Auf der andern Seite aber, wenn ſolche un-
barmherzige Schwaͤzer dich ergreifen, hoͤre ſie mit
Geduld, und wenigſtens anſcheinender Aufmerk-
ſamkeit aus, wenn es Leute ſind, die verdienen,
daß man ſie ſich verbindlich macht. Nichts aber
wird ſie mehr verbinden, als geduldiges Zuhoͤren;
ſo wie dagegen nichts ſie mehr verdrießen wuͤrde,
als wenn man ſie entweder mitten in ihren Reden
ſizen ließe, oder ſeine Ungeduld uͤber die Plage
aͤußerte, die man ausſteht. Nim vielmehr den
Ton deiner Geſelſchaft an, als daß du ihn ange-
ben ſolteſt! Haſt du Geiſtesgaben, ſo wirſt du ſie
bei jeder Materie mehr oder weniger zeigen. Haſt
du keine, ſo thuſt du beſſer, du redeſt ganz ein-
faͤltig von andrer Leute Materien, als daß du
ſelbſt welche aufbringen ſolteſt.)


(Vor allen Dingen, und bei allen Gelegen-
heiten, huͤte dich, wo moͤglich, von dir ſelbſt zu
reden! Unſrer Herzen natuͤrliche Hoffart und Ei-
telkeit iſt ſo groß, daß ſie bei aller Gelegenheit,
ſelbſt bei Leuten von dem beſten Karakter, unter
allen
[53] allen den mancherlei Geſtalten der Eigenliebe,
ausbricht.)


(Biſt du aber genoͤthigt, hiſtoriſch etwas von
dir zu erwaͤhnen, ſo huͤte dich, daß du dir kein Wort
entfallen laſſeſt, das mittelbar oder unmittelbar
ſo ausgelegt werden kan, als gingeſt du auf Bei-
fal aus! Deine Gemuͤthsart ſei welche ſie wolle,
ſo wird ſie bekant werden, aber niemand wird ſie
auf dein Wort annehmen. Bilde dir nicht ein,
daß alles, was du ſelbſt ſagen kanſt, deine Fehler
uͤberfirniſſen, oder deinen Volkommenheiten Glanz
zuſezen werde! Vielmehr kan und wird es neun
mahl unter zehn die erſtern mehr hervorſtechen
laſſen, und die leztern verdunkeln.)


(Schweigſt du von dir ſelbſt, ſo wird weder
Misgunſt, noch Unwillen, noch Spot den Bei-
fal, den du wirklich verdienſt, hindern oder ver-
ringern. Haͤltſt du dir aber deine eigne Lobrede,
bei welcher Gelegenheit, unter welcher Geſtalt,
und ſo ſchlau verdekt es auch ſein mag: ſo werden
alle ſich wider dich vereinigen, und der nemliche
Endzwek, nach dem du ſtrebſt, wird dir fehl
ſchlagen.)


D 3(Sorge
[54]

(Sorge dafuͤr, niemahls ein finſteres, geheim-
nisvolles Anſehen zu haben! Das iſt nicht nur
eine wenig liebenswuͤrdige, ſondern auch verdaͤch-
tige, Gemuͤthsart. Komſt du andern geheim-
nißvol vor, ſo werden ſie es wirklich gegen dich
ſein, und du wirſt nichts erfahren. Die groͤßte
Geſchiklichkeit iſt, ein offnes, freimuͤthiges An-
ſehen bei einer klugen Zuruͤkhaltung zu haben;
verſteht ſich, wenn man ſich unter Leuten be-
findet, bei denen Zuruͤkhaltung noͤthig iſt.)


(Sieh allezeit den Leuten, mit denen du redeſt,
in das Angeſicht! Thut man das nicht, ſo bilden
ſie ſich ein, es zeige ein boͤſes Gewiſſen an. Zu-
gleich verlierſt du dabei den Vortheil, auf ihrem
Geſichte zu bemerken, welchen Eindruk deine Rede
auf ſie macht. Um der Leute wahre Geſinnungen
zu erfahren, traue ich vielmehr meinen Augen als
meinen Ohren. Denn ſie koͤnnen ſagen, was ſie
wollen, das ich hoͤren ſol; koͤnnen aber ſelten ver-
meiden, das durch ihre Mienen zu verrathen, was
ich, ihrer Meinung nach, nicht wiſſen ſol.)


Mit
[55]

(Mit Willen nim keine aͤrgerliche Geſchichte
an, noch breite ſie weiter aus! Denn obſchon
andrer Verunglimpfung auf einen Augenblik den
boshaften Stolz unſrer Herzen befriedigen kan, ſo
wird doch kaltbluͤtige Betrachtung aus einem ſol-
chen Betragen ſehr nachtheilige Folgerungen zie-
hen; und im Falle der Verlaͤumdung ſowohl als
im Falle des Raubs wird der Hehler allezeit fuͤr
ſo ſchlim gehalten, als der Stehler.)


(Ich darf dich, duͤnkt mich, nicht erſt ermah-
nen, deine Unterredung nach denen Leuten einzu-
richten, mit denen du umgehſt. Denn ich ver-
muthe, du wuͤrdeſt, auch ohne dieſe Warnung,
nicht von der nemlichen Materie und auf die
nemliche Art gegen einen Staatsminiſter, einen
Biſchof, einen Philoſophen, einen Hauptman
und ein Frauenzimmer reden. Ein Weltman
muß, wie das Kamaͤleon, im Stande ſein, jede
verſchiedne Farbe anzunehmen. Das iſt keines-
wegs eine laſterhafte oder niedertraͤgtige, ſondern
nothwendige Gefaͤlligkeit; denn ſie bezieht ſich blos
auf das Bezeigen, nicht auf die Grundſaͤze.)


D 4(Nur
[56]

(Nur noch ein Wort wil ich vom Schwoͤren
ſagen; das iſt aber, wie ich hoffe und glaube,
mehr, als noͤthig iſt. Du wirſt zuweilen in gu-
ter Geſelſchaft Leute ihre Reden, zur Verſchoͤne-
rung, wie ſie glauben, mit Schwuͤren durchſpikken
ſehen. Aber du mußt auch anmerken, daß, die
das thun, niemahls ſolche ſind, die in einigem
Grade dazu beitragen, dieſer Geſelſchaft die Be-
nennung einer guten zu verdienen. Es ſind alle-
zeit geringere Leute, oder von ſchlechter Erziehung.
Denn dieſe Gewohnheit, außerdem daß man keine
Verſuchung zu derſelben anzufuͤhren hat, iſt eben
ſo einfaͤltig und unedel, als gotlos. Genug hievon!)


Wenn du nicht ſo viel Gewalt uͤber dich haſt,
deine Launen zu unterdruͤkken, (doch ich hoffe,
du wirſt dieſe Gewalt haben, und jedes vernuͤnf-
tige Geſchoͤpf kan ſie haben,) ſo gehe wenigſtens
nie in Geſelſchaft, ſo lange der Paroxismus einer
uͤblen Laune waͤhrt. Stat, daß in ſolchen Au-
genblikken eine Geſelſchaft dich vergnuͤgen ſolte,
wirſt du ihr mißfallen, wirſt ihr anſtoͤſſig wer-
den, und nie ſo gute Freunde darin zuruͤklaſſen,
als
[57] als du fandeſt. So oft du alſo an dir ſelbſt
merkſt, daß du auf dem Wege biſt, muͤrriſch,
widerſprechend und ſtarkoͤpfig zu werden, ſo
verſuche ja nicht, dich auſſer deinen vier Waͤnden
davon zu heilen: denn das wuͤrde vergeblich ſein.
Bleib zu Hauſe, laß deine boͤſe Laune ausgaͤhren
und ſich durcharbeiten. Froͤhlichkeit und gute Laune
ſind unter allen Eigenſchaften eines guten Geſel-
ſchafters die beliebteſten; denn, ob ſie gleich nicht
immer Gutmuͤthigkeit und feine Lebensart zu Ge-
faͤhrten haben, ſo reichen ſie doch hin, die Rolle
der leztern recht gut zu ſpielen, und das iſt alles,
was in vermiſchter Geſelſchaft verlangt wird.
Mit dieſer Froͤhlichkeit und guten Laune meine
ich aber nicht etwa die laͤrmende Luſtigkeit und
das ſchallende Gelaͤchter, woran man allemahl
den Poͤbel und ſchlecht erzogne Leute ſicher erkent;
denn die Froͤhlichkeit dieſer Art Menſchen gleicht
einem Sturm. Merke dir, mein Lieber, der Poͤbel
lacht oft uͤberlaut, laͤchelt aber niemahls, indes wohl-
erzogne Leute oft laͤcheln, aber ſeltener aus vollen
Bakken lachen. Ein wiziger Einfal erregt nie uͤber-
lautes Lachen; er gefaͤlt der Sele, aber er verzert
D 5keine
[58] keine Geſichtsmuſkel. Eine auffallende Unge-
reimtheit, eine handgreifliche Unbeſonnenheit, ein
drollichter Fehler im Sprechen und dergleichen
Dinge mehr, die man gewoͤhnlich komiſch nent,
koͤnnen unter wohlerzognen Leuten wohl ein La-
chen, aber nie ein uͤberlautes oder anhaltendes
Gelaͤchter erwekken.


(Man ſagt mir, du haͤtteſt viel Lebhaftig-
keit. Dieſe wird dich nicht hindern, in guter
Geſelſchaft zu gefallen, ſondern vielmehr dir
dazu nuͤzlich ſein, wenn ſie durch Wohlanſtaͤn-
digkeit gemaͤßigt, und von Annehmlichkeiten
begleitet wird. Aber ich nehme auch an, daß
es eine Lebhaftigkeit des Geiſtes ſein ſol, nicht
eine aus der Leibesbeſchaffenheit herruͤhrende Un-
ruhe. Die allerunannehmlichſte Verbindung, die
ich nur kenne, iſt die von ſtarken Lebensgeiſtern
mit einem froſtigen Verſtande. Ein ſolcher Kerl
iſt auf eine beſchwerliche Art thaͤtig, auf eine
nichtswuͤrdige Art geſchaͤftig, auf eine thoͤrigte
Art lebhaft. Er ſchwazt viel, und denkt wenig;
lacht deſto mehr, je weniger er Urſache hat.
Hinge-
[59] Hingegen iſt, meiner Meinung nach, ein muntrer,
lebhafter Geiſt bei einer kaltbluͤtigen Leibesbeſchaf-
fenheit das Volkommenſte in der menſchlichen
Natur.)


Man hat den Jachzorn eine voruͤbergehende
Raſerei genant: eine Raſerei iſt er in der That;
aber die Anfaͤlle davon kommen bei jachzornigen
Leuten ſo oft wieder, daß man ihn eine fortwaͤh-
rende Raſerei nennen koͤnte. Solteſt du etwa,
welches Gott verhuͤten wolle, einen ungluͤklichen
Hang dazu bei dir wahrnehmen: ſo laß es dein
beſtaͤndiges Beſtreben ſein, ihn zu unterdruͤkken
oder wenigſtens zu ſchwaͤchen. Merkſt du, daß
dein Zorn aufbrauſen wil, ſo ſprich nicht mit der
Perſon, die ihn erregt, und antworte ihr nicht,
ſondern warte, bis du fuͤhlſt, daß der Zorn ſich
legt, und dan ſprich mit Bedacht. Ich habe
viel Leute gekant, welche eben durch die Schnel-
ligkeit ihrer Zunge unwilkuͤhrlich in Affekt hinge-
riſſen wurden. Ich wil dir ein kleines, vielleicht
in deinen Augen laͤcherliches Mittel, den Ausbruch
der Leidenſchaft zuruͤkzuhalten, angeben, wovon ich
mich
[60] mich ſelbſt erinnere, den Nuzen erfahren zu haben.
Thue alles, was du thuſt, im Takte der Menuet;
rede, denke, bewege dich immer in dieſem Zeit-
maaß, gleichentfernt von dem traͤge fortſchlei-
chenden und dem uͤbereiltgeſchwinden Takte. Bei
dieſer Bewegung wirſt du immer einige Augen-
blikke gewinnen, vorauszudenken, und die Gra-
zien werden begleiten koͤnnen, was du ſagſt oder
thuſt; denn dieſe Goͤttinnen werden nie weder
laufend, noch kriechend vorgeſtelt. Bemerke ein-
mahl einen Menſchen im Augenblik der Leiden-
ſchaft; ſiehe an ſeine funkelnden Augen, ſein gluͤ-
hendes Geſicht, ſeine zitternden Glieder, ſeine
von Wuth ſtammelnde Zunge, und dan frage
dich ganz kaltbluͤtig: ob du um irgend einen
Preis ſolch eine Beſtie in menſchlicher Geſtalt
ſein moͤgteſt? Solche Geſchoͤpfe ſind gehaßt und
gefuͤrchtet in allen Geſelſchaften, wo ſie frei
herumlaufen; niemand befaßt ſich mit ihnen,
weil niemand in die verdrießliche Nothwendigkeit
geſezt ſein mag, entweder ihnen den Hals zu
brechen, oder ſich von ihnen den Hals brechen
zu laſſen. Bemuͤhe dich dagegen, dir uͤberal eine
ruhige,
[61] ruhige, kaltbluͤtige Feſtigkeit eigen zu machen;
die Vortheile davon ſind unzaͤhlbar, und es
wuͤrde zu weitlaͤuftig ſein, ſie dir vorzurechnen.
Durch Sorgfalt und Ueberlegung kan man ſich
zu dieſer gluͤklichen Faſſung gewoͤhnen; koͤnte
man das nicht, ſo waͤre wahrlich die Vernunft,
welche den Menſchen vom Thiere unterſcheidet,
uns ohne Zwek gegeben. Auch kan das einen
Beweis hievon abgeben: ich habe nie einen
Quaͤker in Affekt geſehen, und ich beſinne mich
kaum, von einem gehoͤrt zu haben. In Wahr-
heit, es herſcht in dieſer Sekte eine ſo genaue
Beobachtung des Wohlſtandes und eine ſo lie-
benswuͤrdige Einfalt, als ich noch bei keiner an-
dern gefunden habe.


(Wer ſich nicht ſelbſt genug in ſeiner Gewalt
hat, um unangenehme Dinge ohne ſichtbare Merk-
male des Zorns oder Veraͤnderung der Miene,
ingleichen angenehme ohne ploͤzliche Ausbruͤche
der Freude und Aufheiterung des Geſichts anzu-
hoͤren, der ſteht in der Gewalt jedes liſtigen
Betruͤgers oder unverſchaͤmten Gekken. Der
erſte wird ihn mit Abſicht reizen, oder ihm ſchmei-
cheln,
[62] cheln, um behutſame Worte oder Blikke auf;u-
haſchen, wodurch er leicht die Geheimniſſe ſeines
Herzens entdekken wird, woruͤber man den Schluͤſ-
ſel ſelbſt behalten, und keinem andern anvertrauen
ſolte. Der leztere wird durch ſein ungereimtes
Weſen ohne Abſicht die nemlichen Entdekkungen
veranlaſſen, die ſich andre Leute zu Nuze machen
werden.)


Ich kan nicht umhin, dir einmahl uͤber das
andere den Rath eines der weiſeſten Alten aufs
ernſtlichſte zu empfehlen, nemlich dieſen: den
Grazien taͤglich mit großer Verehrung zu opfern.
Du wirſt leicht einſehen, was er damit ſagen
wolte. Wenn ſie uns guͤnſtig ſind, ſo kleiden ſie
alles in gefaͤlligen Schmuk, und gewinnen alle
Herzen fuͤr uns. Aber haͤngt es von uns ab,
uns ihre Gunſt zu erwerben? Ja, mein Lieber,
wenigſtens bis auf einen gewiſſen Grad, und
zwar durch Aufmerkſamkeit und ſorgfaͤltige Beob-
achtung unſrer ſelbſt, und durch taͤgliches Stu-
dium der Kunſt, ſich gefaͤllig zu machen.


Es
[63]

Es gibt Grazien der Seele, ſo wie des Koͤr-
pers; die erſtern geben dem Gedanken und dem
Ausdruk, die leztern den Bewegungen, Stel-
lungen und der ganzen Art ſich zu zeigen eine
gefaͤllige Geſtalt. Es hat ſie vielleicht nie ein
Menſch alle auf einmahl beſeſſen; ein ſolcher
wuͤrde zu gluͤklich ſein. Wenn du aber auf die
einnehmenden und gefaͤlligen Manieren, die dir
an andern am meiſten gefallen, ſorgfaͤltig merkſt,
ſo wirſt du leicht den Schluß machen, was an-
dern an dir gefallen koͤnne; du wirſt den groͤßten
Theil dieſer Goͤttinnen auf deine Seite bringen,
wirſt dich der Mehrheit der Stimmen verſichern,
und fuͤr einen liebenswuͤrdigen jungen Man er-
klaͤrt werden. Es gibt Leute, welche Moliere’s
Prezieuſe ſehr richtig, obgleich ſehr affektirt, die
Antipoden der Grazien nent; wenn die Natur
dieſe ungluͤklichen Leute mißfaͤllig, plump und
widrig gebildet hat, ſo muß man Mitleid mit
ihnen haben, und nicht ſie tadeln oder gar be-
lachen. Aber die Natur hat wirklich wenig
Menſchen ſo ſehr enterbt.


(Man
[64]

(Man kan ſich die verſchiedentliche Wirkung
der nemlichen gethanen oder geſagten Dinge,
nachdem als ſie mit oder ohne Grazien, oder
aͤuſſerliche Annehmlichkeiten ſind, nicht genug vor-
ſtellen. Sie bahnen den Weg zum Herzen. Nun
hat aber das Herz ſo ſtarken Einfluß auf den
Verſtand, daß es gar wohl der Muͤhe werth iſt,
es auf unſre Seite zu bringen. Die ſaͤmtliche
Frauenzimmerwelt wird faſt durch nichts anders
geleitet; es hat auch bei Maͤnnern, und ſelbſt den
geſchikteſten, ſo viel zu ſagen, daß es in jedem
Streite mit dem Verſtande insgemein den Sieg
davon traͤgt. Herr von Rochefoucault ſagt in
ſeinen Sittenſpruͤchen, “der Verſtand wird oft
„vom Herzen zum beſten gehabt.„ Haͤtt’ er
anſtat oft, geſagt, faſt allezeit; ſo waͤr’ er der
Wahrheit naͤher gekommen.)


(Innerliches Verdienſt allein wird es nicht
ausmachen. Es gewint dir zwar die algemeine
Hochachtung aller, nicht aber die beſondre Nei-
gung, das iſt, das Herz eines einzigen.)


(Um die Neigung einer beſondern Perſon zu
gewinnen, mußt du, außer und nebſt deinem
algemei-
[65] algemeinen Verdienſte, noch ein beſonderes um
dieſelbe Perſon haben, durch angebotene oder ge-
leiſtete Dienſte, durch Ausdruͤkke der Achtung
und Hochſchaͤzung, durch Gefaͤlligkeit und Auf-
merkſamkeit fuͤr ſie, u. ſ. w. Die annehmliche
Art, alle dieſe Dinge zu thun, bahnt ihnen den
Weg zum Herzen, erleichtert ihre Wirkungen,
oder ſtelt ſie vielmehr ſicher.)


(Bedenke, vermoͤge deiner eignen Beobach-
tung, welchen ſchlimmen Eindruk ungeſchikte An-
rede, ſchmuziger Aufzug, unangenehme Ausſpra-
che, als Stottern, Murmeln und Monotonie,
fahrlaͤßiges Bezeigen u. ſ. w. an einem Fremden
beim erſten Anblikke auf dich machen, und wie
ſehr ſie dich wider ihn einnehmen, ob du gleich
wiſſen kanſt, daß er innerlich Verſtand und
Verdienſte beſizt. Bedenke dagegen, wie ſehr
das Gegentheil von allen dieſen Dingen dich auf
den erſten Anblik zum Beſten derer einnimt, die
ſie an ſich haben! Du wuͤnſcheſt, alle gute Eigen-
ſchaften an ihnen zu finden; geſchieht das nicht,
ſo wird deine Erwartung gewiſſermaaßen ver-
eitelt.)


Theophron 2. Th. E(Tau-
[66]

(Tauſend kleine Dinge, die ſich nicht beſon-
ders erklaͤren laſſen, treffen zuſammen, um die
Grazien, das ich weis nicht was auszumachen,
das allezeit gefaͤlt. Schoͤne Geſtalt, artige Be-
wegung, ein gehoͤriger Grad von Kleidung, eine
harmoniſche Stimme, etwas offenes und heiteres
in der Miene, deutliche und gehoͤrig abgewechſelte
Art der Ausſprache; dieſe und viele andere Dinge
ſind nothwendige Theile von dem zuſammengeſezten
ich weis nicht was, das jederman fuͤhlt, nie-
mand aber beſchreiben kan.)


(Beobachte daher ſorgfaͤltig, was dir an an-
dern gefaͤlt oder misfaͤlt, und glaube feſt, daß
uͤberhaupt die nemlichen Dinge an dir auch ihnen
gefallen oder misfallen werden!)


(Große Geiſtesgaben und große Tugenden
werden dir, wenn du anders welche haſt, der
Menſchen Ehrerbietung und Bewunderung zu-
wege bringen. Allein die kleinern Gaben, die
Tugenden von der mildern Art, muͤſſen dir ihre
Liebe erwerben. Erhalten die erſten nicht von
den lezten Beiſtand und Zierde, ſo werden ſie
zwar Lob abnoͤthigen, zugleich aber Furcht und
Neid
[67] Neid rege machen; zwei Regungen, die ſich ſchlech-
terdings nicht mit Zuneigung und Liebe vertragen.)


(Caͤſar hatte alle die großen Laſter, und
Cato alle die großen Tugenden an ſich, die nur
Menſchen haben koͤnnen. Allein Caͤſar hatte zu-
gleich die Tugenden von der mildern Art, daran
es dem Cato fehlte, die ihn ſelbſt bei ſeinen Fein-
den beliebt machten, und ihm der Menſchen Her-
zen troz ihrer Vernunft geroannen. Cato war
nicht einmahl bei ſeinen Freunden beliebt, ungeach-
tet der Hochachtung und Ehrerbietung, die ſie
ſeinen Tugenden nicht verſagen konten. Ich bin
geneigt, zu glauben, wenn Caͤſarn dieſe mil-
dern Tugenden gefehlt haͤtten, Cato aber ſie be-
ſeſſen haͤtte: ſo wuͤrde der erſte nicht Roͤms Frei-
heiten angegriffen haben, wenigſtens nicht mit
Erfolge, und der lezte koͤnte ſie beſchuͤzt haben.)


(Addiſon ſagt in ſeinem Trauerſpiele Cato
von Caͤſarn, und zwar, wie ich glaube, mit
Recht: “verwuͤnſcht ſollen ſeine Tugenden ſein!
„Sie haben ſein Vaterland in Verderben ge-
„ſtuͤrzt.„ Er meint darunter die kleinern, aber
E 2einneh-
[68] einnehmenden Tugenden der Freundlichkeit, Ge-
ſpraͤchigkeit, Gefaͤlligkeit und des aufgeraͤumten
Weſens.)


(Die Wiſſenſchaft eines Gelehrten, die Herz-
haftigkeit eines Helden und die Tugend eines
Stoikers werden zwar bewundert werden. Iſt
aber die Wiſſenſchaft mit Uebermuth, die Herz-
haftigkeit mit Troz, die Tugend mit unbiegſamer
Strenge verbunden, ſo wird man den Man nie-
mahls lieben.)


(Karls des zwoͤlften von Schweden Hel-
denmuth — wenn anders ſeine thieriſche Herzhaf-
tigkeit dieſen Namen verdient — ward durchgaͤngig
bewundert, er ſelbſt aber niemahls geliebt. Hin-
gegen Heinrich der vierte von Frankreich, der
eben ſo große Herzhaftigkeit beſaß, und weit laͤn-
ger in Kriege verwikkelt war, ward wegen ſeiner
geringern geſelligen Tugenden durchgaͤngig geliebt.)


(Die uͤbermuͤthige Hoͤflichkeit eines Stolzen iſt,
wo moͤglich, noch anſtoͤßiger, als ſeine Unhoͤflich-
keit ſein koͤnte. Denn er gibt durch ſein Bezeigen
zu erkennen, daß er ſie fuͤr bloße Herablaſſung
von ſeiner Seite haͤlt, und ſeine Guͤte allein dem
andern
[69] andern das verwilligt, was er zu fodern kein Recht
haͤtte. Er gibt ſeinen Schuz, anſtat ſeiner Freund-
ſchaft, durch ein gnaͤdiges Kopfnikken, anſtat ei-
ner gewoͤhnlichen Verbeugung, zu erkennen; und
deutet vielmehr ſeine Genehmhaltung an, daß der
andre mit ihm gehen, ſizen, eſſen, oder trinken
koͤnne, als ſeine Einladung, daß er es thun ſolle.)


(Die zaͤhe Freigebigkeit eines auf ſein Geld
ſtolzen Mannes beſchimpft die Duͤrftigkeit, der
ſie zuweilen abhilft. Er ſorgt dafuͤr, daß der
andre ſein Ungluͤk und den Unterſchied zwiſchen
ihrer beider Zuſtande empfinden muß, und gibt
zu verſtehen, beides waͤre mit Recht verdient,
des andern Armuth durch ſeine Thorheit, ſein
eigner Wohlſtand durch ſeine Weisheit.)


(Der uͤbermuͤthige Pedant theilt nicht ſeine
Wiſſenſchaft mit, ſondern ruft ſie aus. Er gibt
ſie einem nicht, ſondern dringt ſie auf. Er iſt,
wo moͤglich, begieriger, andern ihre Unwiſſenheit,
als ſeine eigne Gelehrſamkeit zu zeigen.)


(Ein ſolches Verhalten pflegt nicht nur in den
beſondern von mir angefuͤhrten Umſtaͤnden, ſon-
dern auch in allen andern, den kleinen Stolz und
E 3die
[70] die Eitelkeit zu empoͤren, die jeder in ſeinem Her-
zen hat, und in uns die Dankbarkeit fuͤr erhaltne
Gunſt zu ſchwaͤchen, indem ſie uns an den Be-
weggrund erinnert, der ſie hervorbrachte, und an
das Bezeigen, mit dem ſie begleitet war.)


(Dieſe Fehler weiſen auf die ihnen entgegen-
geſezten Volkommenheiten, und dein eigner ge-
ſunder Verſtand wird dir ſie natuͤrlicher Weiſe
anzeigen.)


Wenn Gott dir Wiz gibt, mein Lieber, — wel-
ches ich nicht ſehr wuͤnſche, wofern er dir nicht
ein gleiches Maaß von Urtheilskraft gibt, um
den Wiz in Ordnung zu halten — ſo trage ihn wie
dein Schwert in der Scheide, und blize nicht
damit zum Schrekken der Geſelſchaft umher.
Wenn du wahren Wiz haſt, ſo wird er willig
und von ſelbſt fließen, und du wirſt ihn nicht er-
zwingen duͤrfen. Denn hier iſt die Regel des
Evangeliums umgekehrt wahr: ſuchet, und ihr
werdet nicht finden.


Wiz iſt ein ſchimmerndes Talent, das jederman
bewundert: die meiſten ſtreben darnach, alle fuͤrch-
ten
[71] ten es, und wenige lieben es, auſſer an ſich ſelbſt.
Wer ein großes Maaß von Wiz an andern er-
tragen wil, muß ſelbſt ein betraͤgtliches Maaß da-
von beſizen. Wenn der Wiz ſich durch Satire
aͤuſſert, ſo iſt er eine boͤsartige Krankheit der
Sele. Zwar darf ſich der Wiz allerdings in
Satire kleiden; aber Satire iſt nicht immer Wiz,
wie manche ſich faͤlſchlich einbilden. Ein Man
von Wiz findet tauſend beſſere Gelegenheiten, ihn
zu zeigen.


Enthalte dich demnach der Satire aufs ſorg-
faͤltigſte, ſolte ſie auch keine Perſon in der Ge-
ſelſchaft beſonders treffen. Sie gefaͤlt auf einen
Augenblik vermoͤge der geheimen Tuͤkke des menſch-
lichen Herzens; indes, ſo bald man einige Ueber-
legung anſtelt, ſezt ſie alles in Schrekken. Ein
jeder denkt, die Reihe werde naͤchſtens auch an
ihn kommen; und ſtat dir verpflichtet zu ſein fuͤr
das, was du von ihm nicht ſagſt, wird er dich
haſſen, wegen deſſen, was du vielleicht einmahl
ſagen koͤnteſt. Furcht und Haß ſind die beiden
naͤchſten Nachbarn. Je mehr Wiz du haſt, deſto
mehr Gutherzigkeit und Hoͤflichkeit mußt du zei-
E 4gen,
[72] gen, damit man geneigt ſei, dir deine Ueberlegen-
heit zu verzeihen; denn das iſt nichts leichtes.
Lerne dich in die Sphaͤre der Geſelſchaft ein-
ſchraͤnken, worin du biſt. Stimme in den Ton
derſelben ein, ſuche ihn vorzuͤglich gut zu treffen,
aber nie nim dir die Freiheit, den Ton anzugeben.
Eine gute Geſelſchaft ertraͤgt eben ſo wenig einen
Diktator, als eine freie Republik.


Vielleicht fraͤgſt du, und mit Recht, wie du
wiſſen koͤnneſt, ob du Wiz habeſt oder nicht, da
Eigenliebe und Eitelkeit, von denen kein Menſch
auf Erden voͤllig frei iſt, uns ſo leicht blenden?
Die beſte Antwort, die ich dir hierauf geben kan,
iſt dieſe: Traue nicht deinem eignen Urtheil, denn
es taͤuſcht dich; auch traue nicht deinen Ohren,
denn du wirſt immer den Weirauch der Schmei-
chelei gern verſchlukken, wenn du irgend verdienſt,
daß man dir raͤuchere; ſondern traue blos deinen
Augen, und lies, wenn du in guter Geſelſchaft
biſt, in den Geſichtern der Anweſenden, ob ſie
das, was du ſagſt, billigen oder misbilligen.
Gib auch ſorgfaͤltig darauf Acht, ob du von guten
Geſelſchaften geſucht wirſt, ob man dich bittet,
ob
[73] ob man in dich dringt, ihr Mitglied zu ſein.
Und doch iſt ſelbſt alles dis noch nicht hinreichend,
dir die voͤllige Gewißheit zu geben, daß du Wiz
habeſt. Laß dich alſo dadurch nicht verleiten,
deinen Wiz in Bonsmots, Epigrammen und
ſpizigen Antworten, Schlag auf Schlag, den
Leuten an den Kopf zu werfen.


Scheine nie mehr, ſondern lieber weniger Wiz
zu haben, als du haſt. Ein weiſer Man weiß
mit ſeinem Wiz ſo wie mit ſeinen Einkuͤnften
hauszuhalten. Begnuͤge dich mit ſchlichtem Ver-
ſtande und richtigem Urtheil, welche in die Laͤnge
allemahl zum Vortheil deſſen einnehmen, der ſie
hat. Komt Wiz oben ein in den Kauf, heiß ihn
wilkommen, aber lade ihn nicht ein. Laß dir
dieſe Wahrheit immer gegenwaͤrtig ſein: haſt du
Wiz, ſo wird man dich bewundern; aber nichts
als richtiger Verſtand und gute moraliſche Eigen-
ſchaften machen dich beliebt. Sie gleichen den
Altagskleidern. Wiz hingegen iſt fuͤr die Gala-
tage, wo die Leute ſich zeigen, um begaft zu
werden.


E 5Es
[74]

Es gibt eine Art geringern Wizes, wel-
cher ſtark gebraucht, und noch mehr gemisbraucht
wird; ich meine die Spoͤtterei. Sie gehoͤrt
unter die ungluͤklichſten und gefaͤhrlichſten Waffen,
wenn ſie in ungeſchikte Haͤnde komt; und es iſt
weit ſicherer, ſich gar nicht damit zu befaſſen,
als damit zu ſpielen; und doch ſpielt faſt jeder-
man alle Tage damit, ob man gleich alle Tage
die Beiſpiele von Zaͤnkereten und Erbitterungen
vor Augen hat, die dadurch veranlaßt werden.
In der That ſezt jede Spoͤtterei voraus, daß der
Spottende ſich uͤber den Verſpotteten hinwegſezt,
und ſchon die Vermuthung einer ſolchen Begeg-
nung iſt jederman unertraͤglich, wenn man gleich
andre zuweilen nicht ungern darunter leiden ſieht.


Oft iſt eine Spoͤtterei anfangs ganz unſchul-
dig und harmlos und beleidigt niemand; aber ſie
endet ſelten, ohne beleidigend zu werden: denn
dis komt blos auf den Verſpotteten an. Wenn
dieſer ſich nicht laͤnger vertheidigen kan, ſo verfaͤlt
er in Grobheiten, und wenn er es kan, ſo vergißt
ſich ſein Gegner, den es verdrießt, daß der Pfeil
auf ihn zuruͤk pralt. Dis iſt eine Art von Pruͤ-
fung
[75] fung des Wizes, wo niemand gern ſeine Schwaͤ-
chen ſehen laͤßt.


Der Karakter eines Spoͤtters iſt algemein
gefuͤrchtet und am meiſten gehaßt. Ich weiß aus
Erfahrung, daß man in der Welt die Ungerechtig-
keiten eines ſchlechtdenkenden Menſchen weit eher
verzeiht, als die Spotreden eines Wizlings; jener
greift unſre Freiheit und unſer Eigenthum an,
dieſer hingegen beleidigt und kraͤnkt den geheimen
Stolz, von welchem keines Menſchen Herz frei
iſt. Ich gebe zu, daß es eine gewiſſe Art Spot
gibt, welcher nicht nur nicht beleidigend, ſondern
ſo gar ſchmeichelhaft iſt, z. E. wenn man in einer
feinen Ironie Leute ſolcher Fehler beſchuldiget,
wovon jederman weiß, daß ſie ſie nicht haben,
und ihnen alſo damit die entgegengeſezten Tugen-
den beilegt. Du kanſt ganz ſicher Ariſtides einen
Schurken, oder ein ſehr ſchoͤnes Frauenzimmer
heßlich nennen. Aber daß ja der Karakter des
Mannes oder die Schoͤnheit des Frauenzimmers
nicht im geringſten zweifelhaft ſei. Allein dieſe
Art von Spot erfodert eine ſehr leichte und zu-
gleich feſte Hand, um Gebrauch davon zu machen.
Iſt
[76] Iſt er nur ein wenig zu ſtark, ſo wird er leicht
fuͤr eine Beleidigung, und iſt er zu ſuͤß, fuͤr et-
was Anzuͤgliches aufgenommen, und das iſt ein
ſehr verhaßtes Ding.


(Alle die verbrauchten, wenigſtens eben ſo oft
falſchen als wahren Spoͤttereien uͤber Nazionen
und Berufsarten uͤberhaupt, ſind die armſeelige
Zuflucht von Leuten, die ſelbſt weder Wiz noch
Erfindungskraft haben, ſondern durch erborgten
Flitterſtaat in Geſelſchaften zu ſchimmern ſuchen.
Ich bringe ſtets ſolche unverſchaͤmte Maulaffen
aus der Faſſung, indem ich uͤberaus ernſthaft
ausſehe, wenn ſie erwarten, daß ich uͤber ihren
Spaß lachen ſol; oder indem ich ſage, gut, und
weiter? gleichſam als ob ſie noch nicht fertig
waͤren, und das Sinreiche erſt noch kommen ſolte.
Das macht ſie verlegen; denn ſie haben keine
Huͤlfsmittel in ſich ſelbſt, ſondern nur eine ge-
ſchloſſene Anzahl von Scherzreden, um ſich damit
zu behelfen.)


(Leute von Geiſt werden zu ſolchen elenden
Huͤlfsmitteln nicht getrieben, ſondern verachten
ſie auf das aͤußerſte. Sie finden ſchikliche Mate-
rien
[77] rien genug zu nuͤzlicher oder muntrer Unterhaltung.
Sie koͤnnen wizig ſein, ohne Satire und ver-
brauchte Scherze, und ernſthaft, ohne albern zu
ſein. Die Beſuchung feiner und wirklich geiſt-
reicher Geſelſchaften thut dieſem Muthwillen
Einhalt; die nothwendige Wohlanſtaͤndigkeit und
Vorſicht, die ſich blos daſelbſt erlernen laͤßt, ver-
beſſert ſolche Unverſchaͤmtheiten.)


Noch gibt es eine andre Art von — ich darf
wohl nicht ſagen Wiz, ſondern — Luftigkeit und
Spaßmacherei, ich meine das Nachaͤffen. Der
gluͤklichſte Nachaͤffer auf der Welt iſt allemahl der
abgeſchmakteſte Kerl, und der Affe iſt ihm unend-
lich uͤberlegen. Sein Geſchaͤft iſt, natuͤrliche
Maͤngel und Gebrechen laͤcherlich zu machen, die
man keinem Menſchen zum Fehler anrechnen kan,
und durch deren Nachahmung er ſich ſelbſt jedes-
mahl eben ſo widrig und anſtoͤßig macht, als
diejenigen, denen er nachaͤfft. Aber ich mag nicht
weiter von dieſen Geſchoͤpfen reden, die bloß die
niedrigſte Klaſſe von Menſchen beluſtigen koͤnnen.


Es
[78]

Es gibt eine andere Klaſſe menſchlicher Ge-
ſchoͤpfe, Hanswurſte genant, deren Geſchaͤft iſt,
die Geſelſchaft uͤbermaͤßig lachen zu machen. Das
gluͤkt ihnen ſicher allemahl, ſo oft die Geſelſchaft
aus lauter Narren beſteht; aber ſie ſind auch eben
ſo ſehr betroffen, wenn ſie ſehen, daß ſie einem
verſtaͤndigen Manne auch nicht die Veraͤnderung
einer einzigen Geſichtsmuſkel abgewinnen koͤnnen.
Dis iſt ein hoͤchſtveraͤchtlicher Karakter, und wird
ſelbſt von denen nie geſchaͤzt, die albern genug
ſind, ſich von ihnen ergoͤzen zu laſſen.


Begnuͤge du dich ſelbſt mit geſundem, rich-
tigem Verſtande und guten Sitten, und gib Wiz
oben drein in den Kauf, wo er an ſeiner Stelle
ſteht und nicht beleidigt. Geſunder Verſtand wird
dir Achtung, gute Sitten werden dir Liebe er-
werben; der Wiz wird uͤber beides einen Glanz
verbreiten. In welcher Geſelſchaft du dich auch
befinden, an welchen Vergnuͤgungen du Theil
nehmen magſt, ſo trage Sorge, daß du eine ge-
wiſſe perſoͤnliche Wuͤrde beibehalteſt; ich meine im
geringſten nicht damit einen Stolz auf Geburt
und Rang, denn das wuͤrde gar zu albern ſein;
ſondern
[79] ſondern ich meine eine Wuͤrde des Karakters. Er-
halte alſo den Karakter deiner Rechtſchaffenheit
und Ehre unbeflekt, und ſogar unverdaͤchtig.


Wenn es irgend einen rechtmaͤßigen und ſchik-
lichen Gegenſtand des Spottes gibt, ſo ſcheint es
der Eingebildete zu ſein, weil er ſich die gemein-
ſchaftlichen Rechte aller Menſchen anmaßt. Der
volkommenſte Fantaſt, den ich je geſehen, war
ein Man von ausnehmendem Wiz, aber eben
dieſer Wiz, deſſen er ſich zu ſehr bewußt war,
blies und blaͤhte ihn dergeſtalt auf, daß er fuͤr
keine Geſelſchaft mehr taugte; denn uͤberal wolte
er ſeinen Thron aufſchlagen, und den geſunden
Verſtand verdrengen.


Spot ſcheint die beſte Art der Zuͤchtigung
fuͤr dieſe Suͤnder zu ſein; aber wiſſe, es gehoͤrt
viel Vorſichtigkeit und Geſchiklichkeit dazu, ſie zu
gebrauchen, ſonſt moͤgteſt du einen Mohren wa-
ſchen, wie man ſagt, und dan fiele das Gelaͤchter
auf dich. Das ſicherſte iſt, daß man ſich um
ſie ganz und gar nicht bekuͤmmere, und ſie aus-
reden laſſe.


Es
[80]

Es gibt auf der andern Seite manche und
vielleicht mehrere, welche durch ihre Bloͤdigkeit
und unzeitige Scham ſehr verlieren, die ſie weit
unter dem, was ſie wirklich ſind, erniedrigt.
Bloͤdigkeit haͤlt man uͤberal fuͤr Dumheit, ob ſie
es gleich meiſtentheils nicht iſt, ſondern blos aus
Mangel an Erziehung und Umgang in guten Ge-
ſelſchaften herruͤhret. Addiſon war der bloͤdeſte
und ungeſchikteſte Man, den ich je geſehen, und
das war kein Wunder; denn er war bis zum
fuͤnf und zwanzigſten Jahr in den Zellen zu
Oxford eingemauert geweſen. La Bruyere ſagt,
und es iſt viel Wahrheit darin: Qu’on ne vauc
dans ce monde, que ce que l’on veut valoir,

denn in dieſem Stuͤk haben die Menſchen viel
Nachſicht, und ſchaͤzen uns beinahe ganz nach
dem Werth, den wir ſelbſt uns beilegen, es ſei
denn, daß er gar zu uͤbertrieben waͤre.


Ich wuͤnſchte, du haͤtteſt eine kalte unerſchrok-
kene Dreiſtigkeit, begleitet mit wahrer Beſcheiden-
heit, ſo daß man dich niemahls verzagt, aber
auch niemahls vorwizig ſaͤhe. Furchtſame und
ungeſchikte Leute, die nicht gewohnt geweſen, gute
Geſel-
[81] Geſelſchaft bei ſich zu haben, ſind entweder auf
eine laͤcherliche Weiſe bloͤde, oder auf eine abge-
ſchmakte Weiſe unverſchaͤmt. Ich habe Leute
geſehen, die aus bloͤßer Verſchaͤmtheit, unver-
ſchaͤmt wurden, indem ſie eine vernuͤnftige Drei-
ſtigkeit zeigen und etwas aus ſich erzwingen wolten,
was ſie fuͤr anſtaͤndige Freiheit ohne Verlegenheit
hielten. Ein furchtſamer ſchuͤchterner Man verſinkt
in guter Geſelſchaft, vornemlich in Geſelſchaft der
Vornehmern, ganz in Nichts; er weiß nicht mehr,
was er ſagt oder thut, und es iſt ein laͤcherlicher
Anblik, Seel und Leib in ſolcher Unruhe und
Verwirrung zu ſehen. Vor beiden Fehlern ver-
wahre dich, und ſuche dir Bewuſtſein deiner ſelbſt,
Ruhe und Feſtigkeit zu erhalten. Sprich mit
dem Koͤnige eben ſo frei von Schuͤchternheit,
obgleich mit mehr Ehrerbietung, als wenn du mit
deines Gleichen ſpraͤcheſt. Das iſt der unterſchei-
dende Karakter des feinen Weltmans.


Das Mittel, ſich dieſe Faſſung eigen zu ma-
chen, iſt, daß ein junger Man fleißig, ſo viel Ge-
walt es ihm anfangs auch koſten mag, mit ſeinen
Obern und mit Frauenzimmern von Stande um-
Theophron 2. Th. Fgehe,
[82] gehe, ſtat, zu niedrigen oder gar ſchlechten Ge-
ſelſchaften, wie manche junge Leute thun, ſeine
Zuflucht zu nehmen, damit er nur den Zwang
der guten Lebensart vermeide. Ich geſtehe, es
iſt oft ſchwer, um nicht zu ſagen, unmoͤglich, fuͤr
einen jungen Man bei ſeinem Eintrit in die Welt,
ſo lange er die Art und Weiſe ſich darin zu betra-
gen noch nicht kent, nicht auſſer Faſſung und etwas
verlegen zu ſein, wenn er unter Leute komt, die
die ſogenante beſte Geſelſchaft ausmachen. Er
ſieht, daß aller Augen auf ihn geheftet ſind, und
wenn ſie etwa lachen, ſo haͤlt er es fuͤr ausgemacht,
es gelte ihm. Dieſe Schuͤchternheit iſt nicht zu
tadeln, weil ſie oft aus lobenswuͤrdigen Urſachen
herruͤhrt, nemlich aus einem beſcheidnen Mis-
trauen gegen ſich ſelbſt und aus dem Bewuſtſein,
daß er die Sitte einer guten Geſelſchaft noch nicht
kenne. Wofern er aber nur bei einer wohlanſtaͤn-
digen Beſcheidenheit beharret, ſo wird er finden,
daß alle Leute von eben ſo gutem Herzen als fei-
nen Sitten, ihm anfangs unter die Arme greifen
werden, ſtat uͤber ihn zu lachen; und dan wird
ein wenig Umgang mit der Welt und ſorgfaͤl-
tige
[83] tige Beobachtung ihn bald mit allem dem bekant
machen, was zur guten Lebensart gehoͤrt.


Das iſt das Kenzeichen niedriger und ſchlech-
ter Geſelſchaften, welche gewoͤhnlich aus Spaß-
machern und Wizlingen beſtehn, uͤber Leute zu
lachen, und ſie in Verwirrung zu ſezen, oder, wie
es in ihrer Sprache heißt, einen ehrlichen, beſchei-
denen jungen Kerl die Schule paſſiren zu laſſen.


Wer daran verzweifelt, daß er gefallen werde,
wird niemahls gefallen; wer ſich einbilden kan,
er werde immer und uͤberal gefallen, wohin er
auch komme, iſt ein Fantaſt, wer aber zu gefallen
hoft und darnach ſtrebt, wird ſelten ſeines Zweks
verfehlen.


(Gemeine, poͤbelhafte Art zu denken, zu han-
deln oder zu reden, ſezt eine niedrige Erziehung
und Gewohnheit eines niedrigen Umgangs voraus.
Junge Leute nehmen ſie in der Schule oder unter
dem Geſinde an, mit dem ſie zu oft umgehen.
Die mancherlei Arten des niedrigen Weſens ſind
unendlich. Ich kan mir nicht anmaßen, ſie alle
F 2anzu-
[84] anzugeben. Doch wil ich einige Beiſpiele anfuͤh-
ren, nach denen du auf das uͤbrige ſchließen kanſt.)


(Ein Menſch von niedriger Denkungsart iſt
aͤrgerlich und argwoͤhniſch, hizig und ungeſtuͤm
bei Kleinigkeiten. Er argwohnt, er wuͤrde ver-
achtet, glaubt, daß man ihn bei allem meint,
was geſagt wird. Lacht die Geſelſchaft, ſo glaubt
er feſt, ſie lache uͤber ihn. Er wird zornig und
muͤrriſch, ſagt Unhoͤflichkeiten, und zieht ſich
ſchlimme Haͤndel zu, indem er, ſeines Erachtens,
gehoͤrige Herzhaftigkeit zeigt, und ſein Recht
behauptet.)


(Ein wohlgeſitteter Menſch ſezt nicht voraus,
daß er das einzige oder vornehmſte Augenmerk
der Gedanken, Mienen oder Reden der Geſel-
ſchaft waͤre. Er argwohnt nicht, daß man ihn
verachte oder verlache, wofern er ſich nicht bewußt
iſt, daß er es verdient. Iſt die Geſelſchaft, was
doch ſelten geſchieht, ſo ungereimt oder ungezogen,
eins von beiden zu thun, ſo kehrt er ſich nicht
daran, wenn nicht die Beleidigung ſo grob und
deutlich iſt, daß ſie Genugthuung von einer an-
dern Art verdient. Da er uͤber Kleinigkeiten
hinweg
[85] hinweg iſt, aͤußert er ihrentwegen weder Heftigkeit
noch Hize; und wo von ihnen die Rede iſt, laͤßt
er ſich lieber alles gefallen, als daß er zanken ſolte.)


(Das Geſpraͤch eines gemeinen Menſchen
verraͤth allezeit ſtark ſeine niedrige Erziehung und
Geſelſchaft. Es handelt vornehmlich von ſeinen
haͤuslichen Angelegenheiten, ſeinem Geſinde, der
vortreflichen Ordnung, die er in ſeinem Hauſe
haͤlt, und von den kleinen Begebenheiten in der
Nachbarſchaft. Das alles traͤgt er mit großem
Nachdrukke als wichtige Dinge vor. Er iſt ein
geſchwaͤziges Weib in maͤnlicher Geſtalt.)


(Das zweite unterſcheidende Kenzeichen nie-
driger Erziehung und Geſelſchaft iſt poͤbelhafte
Sprache. Ein geſitteter Man vermeidet nichts
ſorgfaͤltiger, als dieſe. Sprichwoͤrter und ver-
brauchte Ausdruͤkke ſind die Blumen der Bered-
ſamkeit eines gemeinen Mannes. Wenn er ſagen
wil, die Leute waͤren in ihrem Geſchmakke ver-
ſchieden, ſo unterſtuͤzt und ſchmuͤkt er dieſe Mei-
nung durch das gute alte Sprichwort, wie er es
ehrerbictiger Weiſe nent, des einen Koſt iſt des
andern Gift
. Wil jemand wizig uͤber ihn
F 3ſein,
[86]ſein, wie er es nent, ſo gibt er ihm, nach ſeinem
Ausdrukke, wieder etwas auf den Pelz. Er
hat ſtets ſeine Leibwoͤrter auf einige Zeit, die er,
weil er ſie oft gebraucht, insgemein misbraucht;
als gewaltig zornig, gewaltig guͤtig, gewal-
tig
ſchoͤn, gewaltig haͤßlich. Selbſt ſeine Aus-
ſprache ſchiklicher Woͤrter iſt verkehrt. Er mengt
gezwungner Weiſe harte Woͤrter zum Zierrath ein,
und verſtuͤmmelt ſie gemeiniglich, ſo wie eine ge-
lehrte Frauensperſon.)


(Ein geſitteter Man nimt niemahls ſeine
Zuflucht zu Sprichwoͤrtern und gemeinen Aus-
ſpruͤchen; gebraucht weder Leibwoͤrter, noch harte
Woͤrter, ſondern traͤgt große Sorge, richtig nach
der Sprachlehre zu reden, und die Woͤrter gehoͤrig
auszuſprechen, das iſt, nach dem Gebrauche der
beſten Geſelſchaften.)


(Ungeſchikte Anrede, unangenehme Stellun-
gen und Handlungen, und ein gewiſſes linkes
Weſen, wenn ich ſo ſagen darf, zeugen deutlich
von niedriger Erziehung und Geſelſchaft. Denn
es iſt unmoͤglich, anzunehmen, es haͤtte jemand
gute Geſelſchaft beſucht, und ihr nicht wenigſtens
etwas
[87] etwas von ihren Mienen und Bewegungen abge-
lernt. Ein neugeworbner unterſcheidet ſich im
Regimente durch ſein ungeſchiktes Weſen. Er
muͤßte aber unbeſchreiblich dum ſein, wenn er
nicht in einem oder zween Monaten wenigſtens
die gemeinen Handuͤbungen vornehmen, und wie
ein Soldat ausſehen koͤnte.)


(Selbſt die Kleider eines geſitteten Mannes
ſind einem Menſchen von niedrigem Weſen eine
beſchwerliche Laſt. Er weiß nicht, was er mit
ſeinem Hute anfangen ſol, wenn er ihm nicht auf
dem Kopfe ſteht. Sein Stok, wenn er zum Un-
gluͤk einen fuͤhrt, iſt in beſtaͤndigem Kriege mit
jeder Schale Thee oder Kaffee, die er trinkt; erſt
zerſtoͤßt er ſie, alsdan faͤlt er mit ihr auf die Erde.
Sein Degen iſt blos ſeinen eignen Beinen fuͤrch-
terlich, die ihn vielleicht geſchwind genug jedem
andern Degen aus dem Wege bringen wuͤrden,
außer dem ſeinigen. Seine Kleider ſtehen ihm ſo
ſchlecht, und thun ihm ſo vielen Zwang an, daß
er vielmehr ihr Gefangner, als ihr Eigenthuͤmer,
zu ſein ſcheint. In Geſelſchaft trit er ſo auf,
wie ein armer Suͤnder vor Gerichte. Seine
F 4bloße
[88] bloße Miene verurtheilt ihn ſchon. Geſittete
Leute werden ſich eben ſo wenig zu ihm, als Leute
von gutem Rufe zu jenem halten. Dieſe Abweiſung
treibt und erniedrigt ihn in ſchlechte Geſelſchaft;
ein Schlund, aus welchem, nach einem gewiſſen
Alter, kein Menſch wieder empor gekommen iſt.)


Ich weiß, mein Lieber, daß du von Natur
edel und wohlwollend biſt; das iſt freilich die
Hauptſache, aber doch noch nicht alles. Du mußt
es auch zu ſein ſcheinen. Ich meine nicht, du
muͤſſeſt damit pralen; aber ſchaͤme dich nicht, wie
manche junge Leute thun, Geſinnungen der
Menſchlichkeit und des Wohlwollens, die du
wirklich fuͤhlſt, auch zu geſtehen. Ich habe ver-
ſchiedene junge Leute gekant, welche fuͤr Leute
von Muth und Herzhaftigkeit angeſehen ſein
wolten, und deswegen eine Haͤrte und Fuͤhlloſig-
keit affektierten, die ſie in der That nicht hatten;
ſie ſprachen nie anders als in entſcheidendem und
drohendem Tone; ſie waren alle Augenblik bereit,
Haͤlſe zu brechen, Leute zum Fenſter hinaus zu
werfen, ihnen die Ohren abzuſchneiden, u. ſ. w.
und
[89] und dieſe ſaubern Reden bekraͤftigten ſie mit eben
ſo albernen als fuͤrchterlichen Fluͤchen; — alles
das um fuͤr Leute von Muth gehalten zu werden.
Ein ungeheurer Irthum! und der ſie in folgen-
des Dilemma verwikkelt: wenn das ihr Ernſt
iſt, was ſie ſagen, ſo ſind ſie Beſtien; wo nicht,
ſo ſind ſie Narren, daß ſie’s ſagen. Und doch iſt
dieſer Karakter unter jungen Leuten ſehr gemein.
Vermeide ſorgfaͤltig dieſe Seuche, und begnuͤge
dich mit einer ruhigen, ſanften, und doch feſten
Entſchloſſenheit, wenn du voͤllig uͤberzeugt biſt,
daß du Recht haſt; denn dis iſt wahrer Muth.


Was man in der Welt gemeiniglich einen
Man oder ein Weib vol Muth und Feuer nent,
ſind die abſcheulichſten und veraͤchtlichſten Ge-
ſchoͤpfe unter der Sonne. Sie ſind ſtarkoͤpfigt,
zaͤnkiſch, neidiſch, ſie beleidigen ohne Urſach, und
vertheidigen ſich ohne Verſtand. Ein Man dieſes
Gelichters gebraucht bei der geringſten Veranlaſ-
ſung ſein Schwert, und ein Weib ſogleich ihre
Zunge; und es iſt ſchwer zu ſagen, welches von
beiden das ſchaͤdlichſte Werkzeug ſei.


F 5Es
[90]

Es iſt in manchen Geſelſchaften etwas ſehr
gewoͤhnliches, den Ton der Verlaͤumdung anzu-
ſtimmen; einige thun es, um die Tuͤkke ihres
Herzens zu befriedigen; andere glauben, ſie zeigen
damit ihren Wiz. Ich hoffe, du wirſt nie dieſen
Ton annehmen. Sieh vielmehr allemahl die
Sache von der vortheilhaften Seite an, und ohne
gerade zu und auf eine beleidigende Weiſe zu wi-
derſprechen, zeige, daß du an der Wahrheit der
Sache zweifelſt; ſtelle die Unzuverlaͤſſigkeit der
meiſten Erzaͤhlungen vor, wo wenigſtens Privat-
haß ſich ſo leicht ins Spiel miſcht. Dieſe Red-
lichkeit und Maͤſſigung wird der ganzen, obgleich
nicht ſo redlichgeſinten Geſelſchaft gefallen, unge-
achtet es eine Art von feinem Widerſpruch gegen
ihre unguͤnſtigen Behauptungen iſt; weil ſie hof-
fen, wenn ſie einmahl die Reihe trift, auch einen
ſolchen Fuͤrſprecher an dir zu finden.


Es gibt noch eine andere Art von beleidigen-
dem Betragen, welches man oft in Geſelſchaften
wahrnimt; nemlich es beſteht darin, daß man
einen Fingerzeig giebt oder ein Wort hinwirft,
das
[91] das nur eine oder zwei Perſonen in der Geſel-
ſchaft auf ſich anwenden und fuͤhlen koͤnnen,
welche alſo beide dadurch in Verlegenheit geſezt
und um ſo vielmehr gekraͤnkt werden, weil ſie
nicht gern merken laſſen wollen, daß ſie den ge-
gebnen Fingerzeig auf ſich anwenden. Wache
alſo uͤber dich, daß du nie etwas ſageſt, was
entweder die ganze Geſelſchaft, oder eine einzelne
Perſon in derſelben vernuͤnftiger oder wahr-
ſcheinlicherweiſe uͤbel aufnehmen koͤnne, und er-
innere dich des franzoͤſiſchen Sprichworts: qu’il
ne faut pas parler de corde dans la maiſon
d’un pendu.


Gutmuͤthigkeit gefaͤlt algemein, ſelbſt denen,
die ſie nicht haben, und es iſt nicht moͤglich, lie-
benswuͤrdig zu ſein, ohne gutmuͤthig zu ſein und
zu ſcheinen.


Ich habe dir, mein Lieber, mehr als einmahl
Aufmerkſamkeit empfohlen, und ich werde noch
oft auf dieſe Materie zuruͤkkommen, denn ſie iſt
eben ſo unerſchoͤpflich, als ſie wichtig iſt.


Richte
[92]

Richte deine Aufmerkſamkeit und deinen Blik
auf jeden, der mit dir ſpricht; und ſcheine nie
zerſtreut oder im Traume zu ſein, als wenn du
ihn gar nicht hoͤrteſt; denn das iſt der offenbarſte
Beweis von Verachtung, und folglich aͤußerſt
anſtoͤßig. Wahr iſt es, du wirſt durch dieſe
Regel zuweilen genoͤthiget ſein, auf Dinge zu
merken, die keines Menſchen Aufmerkſamkeit
verdienen; allein dis iſt ein nothwendiges Opfer,
das man den guten Sitten in Geſelſchaften brin-
gen muß. Eben ſo nothwendig iſt die genaueſte
Aufmerkſamkeit auf Zeit, Ort und Karakter der
Menſchen. Ein Bonmot in der einen Geſel-
ſchaft hoͤrt auf es in der andern zu ſein, und
wird wohl gar eine Beleidigung. Scherze nie
mit Leuten, die du gerade in dem Augenblik nach-
denkend und ernſthaft findeſt; ſpiele aber auch
nicht den Sittenlehrer in Geſelſchaften, wo Scherz
und Froͤhlichkeit herſchen.


Manche Leute kommen in Geſelſchaft ganz
vol von dem, was ſie in derſelben zu ſagen ge-
denken, ohne die geringſte Ruͤkſicht auf die An-
weſenden, und weil ſie ſich einmahl bis an den
Hals
[93] Hals volgepfropft haben, ſo wollen ſie ſich nun
auch entladen, es koſte, was es wolle. Ich habe
einen Man gekant, der eine Geſchichte von einer
Flinte wußte, die er fuͤr artig hielt, und gut zu
erzaͤhlen glaubte. Er verſuchte ein Mittel nach
dem andern, das Geſpraͤch auf Flinten zu lenken;
allein er verfehlte ſeinen Zwek. Ploͤzlich ſprang
er auf von ſeinem Stuhle, und rief: er habe
einen Flintenſchuß gehoͤrt; weil aber die Geſel-
ſchaft ihn verſicherte, man habe nichts dergleichen
gehoͤrt, ſo ſagte er: nun, es kan ſein, daß ich
mich geirt habe; aber weil wir doch einmahl von
Flinten ſprechen, — und nun erzaͤhlte er zum
groͤßten Verdruß der Geſelſchaft ſeine Geſchichte.


Werde, ſo weit als Ehre und Unſchuld es er-
lauben, allen alles, und du wirſt dir viel Freunde
machen. Sei auch zuvorkommend, und ſage
oder thue dasjenige, wovon du zum voraus
weißt, daß es den Leuten am angenehmſten ſein
werde, ehe ſie noch einen Wunſch daruͤber merken
laſſen oder es erwarten.


Ich wuͤrde nicht fertig werden, wenn ich alle
die unzaͤhlbaren Gelegenheiten nahmhaft machen
wolte,
[94] wolte, die ein junger Man hat, ſich gefaͤllig zu
machen, wofern er ſie nur gebrauchen wil: dein
geſunder Verſtand wird ſie dich leicht finden laſ-
ſen, und dein gutes Herz und ſelbſt dein Vortheil
wird dich antreiben, ſie zu nuzen. Vor allen
Dingen iſt viel Aufmerkſamkeit auf Zeiten und
Umſtaͤnde noͤthig. Bei Tiſche z. B. ſprich oft,
aber niemahls lange hinter einander, denn das
alberne Getuͤmmel der Bedienten und das oft
noch einfaͤltigere Geſpraͤch der Gaͤſte, welches
groͤßtentheils auf Kuͤchen- und Kellerwaare hin-
auslaͤuft, vertraͤgt keine Abhandlung oder zuſam-
menhaͤngende Erzaͤhlung.


Mahlzeiten ſind und waren von je her die
Erholungsſtunden fuͤr die Sele, und daher der
ungezwungnen Froͤhlichkeit und geſelligen Freude
geheiligt. Bequeme dich nach dieſem Gebrauch,
und zahle deinen Antheil von froͤhlicher Laune;
aber laß dich nicht durch die ſo haͤufigen Beiſpiele
zur Unmaͤſſigkeit im Eſſen oder im Trinken ver-
leiten; die erſtere hat Dumheit und die leztere
gar Tolheit zur unvermeidlichen Folge.


Unter-
[95]

Unterſuche bei allem, was du ſagen wilſt,
ob es auch zur Sache dient. Gehſt du mit Vor-
nehmern um, ſo vergiß nicht, ſo ungezwungen
und vertraulich du auch mit ihnen ſein magſt,
und ſein mußt, den Reſpekt, den du ihnen ſchul-
dig biſt. Im Umgange mit deines Gleichen
beobachte eine ungezwungne Vertraulichkeit, und
doch zugleich alle Hoͤflichkeit und Wohlanſtaͤndig-
keit. Aber aus zu großer Vertraulichkeit ent-
ſteht, nach dem alten Sprichwort, oft Verach-
tung und manchmahl auch Zaͤnkerei. Ich kenne
nichts ſchwerers im gemeinen Umgange, als der
Vertraulichkeit die gehoͤrigen Grenzen zu ſezen:
zu wenig davon iſt ungeſellige Formalitaͤt; zu
viel zerſtoͤret wiederum alle Annehmlichkeiten des
geſelligen Umgangs. Die beſte Regel, die ich
uͤber den Gebrauch der Vertraulichkeit geben kan
iſt dieſe: ſei nie vertrauter mit einem andern,
als du ertragen und ſelbſt wuͤnſchen moͤgteſt, daß
er mit dir waͤre. Vermeide aber auch jene un-
freundliche Zuruͤkhaltung und Kaͤlte, welche ge-
meiniglich das Schild der Liſt oder der Dekmantel
der Dumheit iſt. Es iſt eine weiſe Maxime der
Italiaͤner:
[96] Italiaͤner: il volto ſciolto, i penſieri ſtretti,
d. i. dein Geſicht ſei offen, aber deine Gedanken
verſchloßen. *)


Gegen Leute von niederm Range zeige mehr
ein herzliches Wohlwollen als eine zu geſuchte
Hoͤflichkeit; denn dadurch wuͤrdeſt du den Ver-
dacht erregten, als ſpotteteſt du ihrer.


Zum Beiſpiel gegen einen Man vom Lande
muß deine Hoͤflichkeit gar ſehr verſchieden von
derjenigen ſein, die du gegen einen Man aus der
großen Welt beobachteſt. Wenn du den erſten em-
pfaͤngſt, thue es auf eine herzliche und lieber ein
wenig baͤuriſche Weiſe, damit ſeine Schuͤchtern-
heit ihn nicht verlegen mache.


Sei aufmerkſam, ſelbſt in der Geſelſchaft der
Narren; denn ob ſie gleich Narren ſind, ſo koͤn-
nen ſie doch wohl einmahl etwas fallen laſſen oder
wiederholen, was deine Aufmerkſamkeit verdient,
und dir nuͤzlich werden kan. Sage nie das beſte,
was du aufbringen kanſt, in ihrer Geſelſchaft;
denn ſie wuͤrden dich nicht verſtehen, und wohl
gar
[97] gar glauben, du wolleſt ſie aufziehen, wie ſie das
gewoͤhnlich nennen: ſondern ſprich nichts als den
ſchlichteſten geſunden Menſchenverſtand und ſehr
ernſthaft; denn man darf mit dieſem Volke nicht
ſcherzen. Ueberhaupt mit Aufmerkſamkeit und
dem, was die Franzoſen les attentions nennen,
wirſt du gewiß uͤberal gefallen, und ohne das
eben ſo gewiß uͤberal anſtoßen.


Vermeide, mein liebſter Freund, mit aͤußerſter
Sorgfalt alle Affektazion an Leib und Sele. Es
iſt eine eben ſo wahre als bekante Bemerkung,
daß niemand dadurch laͤcherlich wird, daß er das
iſt, was er wirklich iſt; ſondern dadurch, daß
er etwas zu ſein affektiert, was er nicht iſt. Kein
Menſch iſt toͤlpiſch von Natur, ſondern er wirds
erſt, wenn er affektiert, artig zu ſein. Ich habe
ſo manchen Man gekant, dem es an geſundem
Verſtande nicht fehlte, und der doch uͤberal fuͤr
einen Narren gehalten ward, weil er einen Grad
von Wiz erzwingen wolte, den ihm der Himmel
verſagt hatte. Der Landman iſt nichts weniger
als toͤlpiſch und ungeſchikt, wenn er ſeinen Pflug
Theophron 2. Th. Ghand-
[98] handhabt; aber er wuͤrde ſich hoͤchſtlaͤcherlich
machen, wenn er dabei die Mine und die feinen
Manieren des Weltmans affektiren wolte. Du
haſt tanzen gelernt; aber das geſchah nicht, damit
du tanzen koͤnteſt, ſondern es geſchah, um deinen
Minen und Bewegungen diejenige Grazie wieder-
zugeben, die ſie gehabt haben wuͤrden, wenn die
Natur ſich in ihnen haͤtte entwikkeln koͤnnen, und
ſie nicht durch ſchlimme Beiſpiele und durch un-
geſchikte Nachahmung andrer jungen Leute waͤren
verdreht worden.


Natur kan entwikkelt und ausgebildet werden
am Koͤrper ſo wie an der Sele, aber ſie kan nicht
durch die Kunſt vertilgt werden; und alle Bemuͤ-
hungen dieſer Art ſind abgeſchmakt, und dienen
blos dazu, einen ergiebigen Stof zum Lachen zu
gewaͤhren. Deine Sele und dein Koͤrper muͤſſen
ganz frei von Zwang ſein, wenn ſie einen gefaͤl-
ligen Eindruk machen ſollen; jede Affektazion aber
iſt ein ſo gewaltiger Zwang, daß keiner dabei mit
Anſtand handeln, oder auf eine gefaͤllige Weiſe
unterhalten kan. Glaubſt du wohl, daß deine
Bewegungen mehr Leichtigkeit und Grazie haben
wuͤrden,
[99] wuͤrden, wenn du das Kleid eines andern truͤgeſt,
der viel ſchlanker und groͤßer waͤre, als du?
Gewißlich nicht. Eben ſo iſt es mit der Sele,
wenn du einen Karakter affektierſt, der dir nicht
anſteht, und zu dem die Natur dich nie beſtimte.


Aber glaube ja nicht etwa, daß hieraus folge,
du muͤſſeſt deinen ganzen Karakter vor jedermans
Augen darlegen, eben weil es dein natuͤrlicher
Karakter iſt. Nein; in dem beſten Karakter muß
viel unterdruͤkt, und viel verſtekt werden. Du
mußt die Natur nie zwingen wollen; aber es iſt
auch durchaus nicht noͤthig, dich jedes mahl und
gegen jederman ganz zu zeigen, wie du biſt.


Zuruͤkhaltung, dieſe ſichre und zuverlaͤßige
Fuͤhrerin durch das menſchliche Leben, muß dir
zu Huͤlfe kommen; Zuruͤkhaltung, dieſe unent-
behrliche Gefaͤhrtin der Vernunft, und nuͤzliche
Waͤchterin des Wizes und der Einbildungskraft.
Dieſe Zuruͤkhaltung lehrt uns das Zwekmaͤßige,
das Anſtaͤndige beurtheilen, lehrt uns zu rechter
Zeit aufhoͤren, und mit ihr komt ein Man von
mittelmaͤßigem Verſtande weiter, als ein anderer
mit den glaͤnzendſten Talenten ohne ſie. Sie iſt
G 2ein
[100] ein ander Wort fuͤr Beurtheilungskraft, obgleich
nicht voͤllig einerlei mit ihr. Beurtheilungskraft
wird nicht bei allen Gelegenheiten erfodert, aber
Zuruͤkhaltung uͤberal.


Du mußt nie einen beſondern Krakter affek-
tiren oder annehmen; das wuͤrde dir nie anſte-
hen, ſondern hoͤchſtwahrſcheinlich dich zum Ge-
laͤchter machen; uͤberlaß es vielmehr deinem
Betragen, deinen Tugenden, deinen Sitten und
Manieren, deinen Karakter feſtzuſezen. Zuruͤk-
haltung wird dich lehren, deine Aufmerkſamkeit
in einem vorzuͤglichen Grade auf deine Sitten
zu wenden.


Ich wuͤnſchte noch ein beſtimteres Wort fuͤr
das was ich ſagen wil. Ich meine damit eigent-
lich das, was Cicero das decorum nent.


Indem wir uͤber Worte ſprechen, faͤlt mir
eine andere noͤthige Regel ein. Studire deine
Mutterſprache mit mehrerem Fleiß, als die mei-
ſten Leute thun; erwirb dir die Fertigkeit, dich
richtig und angenehm in derſelben auszudruͤkken;
denn nichts iſt widriger, als einen Menſchen aus
den
[101] den geſitteten Staͤnden in allen Barbarismen,
Soloͤzismen, und poͤbelhaften Ausdruͤkken eines
Stalknechts reden zu hoͤren. Vermeide aber auch
eine zu ſteife und geſuchte Genauigkeit, insbeſon-
dere das, was die Frauenzimmer hochtrabende
Worte nennen, ſo lange es gangbare eben ſo tref-
fende Ausdruͤkke gibt. Die Franzoſen machen die
Kunſt gut zu erzaͤhlen zu ihrem Studium; nur
verfallen ſie ſo leicht dahin, daß ſie zu viel erzaͤh-
len, und mit einer zu geſuchten Zierlichkeit. —
Aber nicht blos deine Worte, ſondern auch deine
Ausſprache und der Ton deiner Stimme muͤſſen
annehmlich ſein.


(Was iſt wohl die beſtaͤndige und richtige An-
merkung uͤber alle Schauſpieler auf der Buͤhne?
Nicht wahr, dieſe, daß die, welche den meiſten
Verſtand haben, allezeit am beſten reden, wenn
ſie auch zufalsweiſe nicht eben die beſten Stimmen
haben ſolten? Sie werden deutlich, vernehmlich
und mit gehoͤrigem Nachdrukke reden, ihre Stim-
men moͤgen ſo ſchlecht ſein, als ſie wollen. Haͤtte
Roſcius haſtig und unannehmlich geſprochen,
und den Mund zu vol genommen: ſo bin ich gut
G 3dafuͤr,
[102] dafuͤr, Cicero haͤtte ihn nicht der Rede werth
geachtet, die er zu ſeinem Vortheile hielt. Die
Worte ſind uns verliehen, unſre Gedanken da-
durch mitzutheilen. Es iſt unbegreiflich unge-
reimt, ſie auf ſolche Art auszuſtoßen, daß die
Leute ſie entweder nicht verſtehen, oder nicht zu
verſtehen begehren. Ich ſage dir aufrichtig, daß
ich nach deiner annehmlichen oder unannehmlichen
Ausſprache von deinen Geiſtesgaben urtheilen
werde. Haſt du welche, ſo wirſt du eher nicht
ruhen, bis daß du eine Fertigkeit erlangt haſt,
hoͤchſt annehmlich zu reden. Denn ich behaupte,
daß das in deiner Macht ſteht.)


(Du wirſt deinen Fuͤhrer bitten, daß er dich
taͤglich ihm laut vorleſen laſſe, und dich, ſo oft
du zu geſchwind lieſeſt, die gehoͤrigen Unterſchei-
dungszeichen nicht beobachteſt, oder einen falſchen
Nachdruk auf ein Wort legeſt, unterbreche und
verbeſſere. Du wirſt Sorge tragen, die Zaͤhne
beim Reden von einander zu thun, jedes Wort
deutlich auszuſprechen, und jeden deiner Freunde
zu bitten, dich zu erinnern und anzuhalten, wenn
du jemahls auf das haſtige, unverſtaͤndliche Ge-
murmele
[103] murmele verfaͤlſt. Du wirſt ſogar allein laut
leſen, deine Ausſprache nach deinem Gehoͤre ſtim-
men, und anfangs langſamer leſen, als du noͤthig
haͤtteſt, um dir die ſchaͤndliche Unart abzugewoͤh-
nen, geſchwinder zu reden, als du ſolteſt. Kurz,
wenn du anders recht denkſt, wirſt du es zu dei-
nem Geſchaͤfte, zu deiner Sorge und zu deinem
Vergnuͤgen machen, wohl zu reden.)


Die drei vornehmſten Gemeinoͤrter des Ge-
ſpraͤchs ſind, Religion, Staatsangelegenheiten,
Neuigkeiten. Alle Menſchen glauben ſich auf die
beiden erſten volkommen zu verſtehen, obgleich ſie
ſie nie ſtudiert haben, und es begegnet ihnen daher
leicht, daß ſie eben ſo entſcheidend als unwiſſend
und folglich mit Hize daruͤber ſprechen. Religion
iſt aber ganz und gar keine ſchikliche Materie des
Geſpraͤchs fuͤr eine vermiſchte Geſelſchaft; uͤber
ſie ſolte man blos unter wenigen, die ſie ſtudiert
haben, zu gegenſeitiger Belehrung ſprechen. Sie
iſt ein zu großer und ehrwuͤrdiger Gegenſtand,
um eine gewoͤhnliche Geſpraͤchsmaterie werden zu
koͤnnen. Miſche dich alſo nicht weiter in ein Ge-
G 4ſpraͤch
[104] ſpraͤch uͤber ſie, als um deine algemeine Duldung
gegen alle Irthuͤmer in derſelben zu aͤuſſern, wo-
fern man ſich Gewiſſenshalber dazu verpflichtet
glaubt: denn jederman hat eben daſſelbe Recht,
wie du, ſo und nicht anders zu denken, als er wirk-
lich denkt; und in der That kan er auch nicht umhin,
ſich die Dinge ſo vorzuſtellen, wie ſie ſich ihm zeigen.


Staatsangelegenheiten liegen ſchon mehr in
jedermans Sphaͤre: und da ein jeder glaubt, daß
auch ſein Privatintereſſe mehr oder weniger darin
verwikkelt iſt, ſo traͤgt auch niemand Bedenken, im
entſcheidenden Tone daruͤber zu ſprechen, ſelbſt die
Damen nicht, obgleich man hierin mehr den
Strom ihrer Beredſamkeit als die Gruͤndlichkeit
ihrer Gedanken bewundern muß. Du kanſt un-
moͤglich vermeiden, in ſolche Geſpraͤche verwikkelt
zu werden, denn es werden kaum andre gefuͤhrt;
aber ſprich wenigſtens kaltbluͤtig daruͤber und mit
vieler luſtigen Laune, und ſo bald du findeſt, daß
die Geſelſchaft aus Patriotismus in Hize geraͤth
und laut wird, ſo ſei blos ein ruhiger Zuhoͤrer,
es ſei denn, daß du ſie mit irgend einem angeneh-
men Scherz unterbrechen und den guten Ton wie-
derher-
[105] derherſtellen kanſt. Ich kan nicht umhin, hiebei
anzumerken, daß nichts auf der Welt ſo geſchikt
iſt, verdrießliche und verwirte Haͤndel kurz abzu-
ſchneiden oder ihnen auszuweichen, als ein froͤh-
licher und artiger Scherz. Ich habe das durch
lange Erfahrung beſtaͤtigt gefunden. Doch muß
ein ſolcher Scherz nicht zu weit getrieben werden
und in Bitterkeit ausarten; er muß leicht und
gefaͤllig und doch nicht frivol ſein; verſtaͤndig,
aber nicht ſpruchreich; kurz er muß ein gewiſſes
Etwas haben, was jederman fuͤhlen, aber nie-
mand beſchreiben kan.


Ueberhaupt, mein Lieber, glaub ich, daß der-
jenige, der nicht groͤßtentheils gefaͤlt, fuͤr die
Geſelſchaft ſo gut als erſtorben iſt, und daß ein
jeder, der ſich anhaltend beſtrebt zu gefallen, we-
nigſtens in einem gewiſſen Grade gefallen wird.


Die Kentniß der Menſchen iſt eine ſehr
nuͤzliche fuͤr jederman, aber eine hoͤchſtnothwen-
dige fuͤr dich, der du zu einer geſchaͤftigen, oͤffent-
lichen Lebensart beſtimt biſt. Du wirſt mit
allerlei Gemuͤthern zu ſchaffen bekommen; daher
G 5ſolteſt
[106] ſolteſt du ſie durchaus kennen lernen, um ſie ge-
ſchikt zu lenken. Dieſe Wiſſenſchaft laͤßt ſich nicht
ſiſtematiſch erlernen; du mußt dir ſie durch eigne
Erfahrung und Beobachtung erwerben. Ich wil
dir ſolche Winke geben, die ich fuͤr nuͤzliche Wege-
ſeulen bei deiner vorhabenden Reiſe halte.


Ich habe dir oft geſagt, und es iſt ſehr wahr,
wir duͤrfen in Anſehung der Menſchen keine al-
gemeinen Folgerungen aus gewiſſen beſondern
Grundſaͤzen ziehen, wiewohl ſie, uͤberhaupt ge-
nommen, richtig ſind. Wir duͤrfen z. B. nicht
annehmen, weil der Menſch ein vernuͤnftiges
Thier iſt, werde er auch allezeit vernuͤnftig han-
deln, oder, weil er die und die herſchende Leiden-
ſchaft hat, ſo werde er immer und regelmaͤßig
derſelben gemaͤß verfahren.


Nein, wir ſind zuſammengeſezte Maſchinen;
und wiewohl wir eine Haupttriebfeder haben, die
das Ganze in Bewegung ſezt, haben wir doch
auch viele kleine Raͤder, die ihrer Seits dieſe
Bewegung verzoͤgern, beſchleunigen und zuweilen
gar ihr Einhalt thun.


Laßt
[107]

Laßt uns das an Beiſpielen ſehen! Ich
nehme an, der Ehrgeiz ſei die herſchende Leiden-
ſchaft eines Staatsminiſters, wie er es denn ins-
gemein iſt; ich nehme auch an, daß dieſer Mini-
ſter ein geſchikter ſei. Wird er denn darum den
Gegenſtand dieſer herſchenden Leidenſchaft unver-
aͤuderlich verfolgen?


Kan ich ſicher ſein, er werde ſo und ſo han-
deln, darum, weil er es ſolte? Nichts weniger!
Krankheit oder Niedergeſchlagenheit koͤnnen dieſe
herſchende Leidenſchaft daͤmpfen; Launen und
muͤrriſches Weſen koͤnnen daruͤber ſiegen, auch
niedrigere Leidenſchaften koͤnnen ſie zuweilen uͤber-
fallen und unterdruͤkken.


Iſt z. E. dieſer ehrgeizige Staatsman zugleich
geizig, ſo kan ein ſich ploͤzlich zeigender großer
Gewin das ganze Werk ſeines Ehrgeizes unter-
graben. Iſt er zornig, ſo kan Widerſpruch und
Reizung, (die zuweilen vielleicht gar aus liſtigem
Vorſaze koͤmt,) haſtige, unbeſonnene Ausdruͤkke
oder Handlungen hervorlokken, die ſeinen Haupt-
entzwek vernichten. Iſt er eitel und der Schmei-
chelei ausgeſezt, ſo kan ein ſchlauer, ſchmeichelnder
Guͤnſt-
[108] Guͤnſtling ihn fehlfuͤhren, und die Traͤgheit ſelbſt
ihn zu gewiſſen Zeiten bewegen, daß er die noth-
wendigen Schritte nach der Hoͤhe, auf die er gern
kommen moͤgte, verabſaͤumt oder unterlaͤßt.


Es gibt zwo widerſprechende Leidenſchaften,
die jedoch, wie Man und Frau, einander oft be-
gleiten, aber auch, wie ſo mancher Man und ſo
manche Frau, einander insgemein nur hindern.
Ich meine den Geiz und den Ehrgeiz. Der erſte
iſt oft die wahre Urſache des lezten, und alsdan
die herſchende Leidenſchaft.


Das ſcheint er beim Kardinal Mazarin ge-
weſen zu ſein, der, um nur zu pluͤndern, alles
that, ſich zu allem verſtand, und alles verzieh.
Er liebte und ſuchte die Macht, gleich einem Wu-
cherer, darum weil ſie Gewin mit ſich fuͤhrt.
Wer blos nach dem ehrgeizigen Theile der Ge-
muͤthsart dieſes Mannes ſeine Meinung gefaßt,
oder ſeine Maaßregeln genommen haͤtte, der
wuͤrde ſich oft betrogen gefunden haben. Einige,
die das bemerkt hatten, machten dadurch ihr
Gluͤk, daß ſie ſich von ihm beim Spiele betruͤgen
ließen.


Hinge-
[109]

Hingegen Kardinal Richelieus herſchende Lei-
denſchaft ſcheint der Ehrgeiz, und ſein unermeß-
licher Reichthum blos die natuͤrliche Folge von
deſſen Befriedigung geweſen zu ſein. Gleichwohl
zweifle ich nicht, daß der Ehrgeiz zuweilen beim
Mazarin, und wieder der Geiz beim Richelieu
geherſcht habe.


Der lezte, im Vorbeigehn gedacht, iſt ein ſo
ſtarker Beweis des Widerſprechenden der menſch-
lichen Natur, daß ich nicht umhin kan, anzufuͤh-
ren, daß er, indem er ſeinen Koͤnig und ſein Va-
terland regierte, und gewiſſermaßen der Schieds-
richter des Schikſals von ganz Europa war, groͤſ-
ſere Eiferſucht gegen des Corneille ausgebreiteten
Ruf, als gegen die Macht Spaniens, hegte; und
es ihm lieber war, fuͤr das, was er nicht war,
fuͤr den groͤßten Dichter gehalten zu werden, als
fuͤr das, was er gewiß war, fuͤr den groͤßten
Staatsman in Europa. Die Staatsangelegen-
heiten mußten ruhen, indem er auf Kritiken uͤber
den Cid ſan.


Solte man das wohl fuͤr moͤglich halten, wenn
man nicht wuͤßte, daß es wahr iſt?


Sind
[110]

Sind ſchon die Menſchen alle von gleicher Zu-
ſammenſezung, ſo haben doch in jedem einzelnen
die mannichfaltigen Theile ein ſo verſchiedentliches
Verhaͤltniß, daß ihrer nicht zween voͤllig gleich
ſind, und nicht einer zu allen Zeiten ſich ſelbſt
gleich iſt. Der Kluͤgſte wird zuweilen etwas
ſchwachſinniges vornehmen, der Stolzeſte etwas
niedriges, der Ehrlichſte etwas boͤſes, und der
Gotloſeſte etwas gutes.


Studiere demnach die einzelnen Perſonen;
und wenn du, wie du ſolſt, die ſtaͤrkſten Zuͤge
von ihrer herſchenden Leidenſchaft entlehnſt, ſo
verſpare das lezte Ausmahlen, bis daß du die
Wirkungsart ihrer geringern Neigungen, Begier-
den und Launen beobachtet und entdekt haſt!


Eines Menſchen algemeine Denkungsart kan
die von dem ehrlichſten Man von der Welt ſein.
Dawider ſtreite nicht; man wuͤrde dich fuͤr nei-
diſch oder boͤsartig halten. Zugleich aber nim
nicht dieſe Ehrlichkeit in ſolchem Grade auf Treue
und Glauben an, daß du dein Leben, dein Gluͤk
oder deinen guten Nahmen in ſeine Macht ſtelteſt!
Zergliedere erſt dieſen ehrlichen Man, ſo wirſt du
im
[111] im Stande ſein, zu urtheilen, in wie weit du ihm
mit Sicherheit trauen darfſt, oder nicht.


Frauenzimmer ſind einander viel aͤhnlicher,
als Mansleute. Sie haben insgemein nur zwei
Leidenſchaften, Eitelkeit und Liebe. Das ſind ihre
algemeinen Kenzeichen. Eine Agrippine kan ſie
dem Ehrgeize, oder eine Meſſaline der Geilheit
aufopfern. Dieſe Beiſpiele aber ſind ſelten; ge-
woͤhnlicher Weiſe zielt alles, was ſie ſagen oder
thun, auf Befriedigung der beiden erſtgenanten
Hauptleidenſchaften ab. Die kleinſte Rede oder
Handlung, die ſich moͤglicher Weiſe als Gering-
ſchaͤzung oder Verachtung auslegen laͤßt, iſt ihnen
unverzeihlich, und wird niemahls von ihnen ver-
geſſen werden.


Die Mansperſonen ſind in dem Stuͤkke eben-
fals zaͤrtlich, und werden eher Unrecht als Be-
ſchimpfung vergeben. Einige ſind argwoͤhniſcher,
als andre; einige ſind allezeit verkehrten Sins;
alle aber haben einen ſolchen Antheil von Eitelkeit,
daß ſie ſich durch die mindeſte Spur von Gering-
ſchaͤzung und Verachtung beleidigt finden. Nicht
jeder macht Anſpruch darauf, ein Dichter, Ma-
thematiker
[112] thematiker oder Statsman zu ſein, und dafuͤr
gehalten zu werden. Jeder aber macht Anſpruch
auf gemeinen Verſtand, und wil ſeinen Plaz in
der Geſelſchaft mit gewoͤhnlichem Anſtande ein-
nehmen. Daher vergibt er nicht leicht die Nach-
laͤßigkeiten, Sorgloſigkeiten und Geringſchaͤzun-
gen, die dieſe beiden Anſpruͤche in Zweifel zu ziehen,
oder ſie ihm ganz abzulaͤugnen ſcheinen.


Die Menſchen uͤberhaupt vertragen es eher,
wenn man ſie an ihre Laſter und Verbrechen, als
wenn man ſie an ihre kleinen Fehler und Schwach-
heiten erinnert. Die erſten rechtfertigen oder
entſchuldigen ſie, ihrer Meinung nach, in gewiſſer
Maaße durch ſtarke Leidenſchaften, Verfuͤhrung
und Kunſtgriffe andrer. Sich aber ſeine kleinen
Fehler und Schwachheiten vorhalten zu laſſen,
das ſezt eine Schwaͤche des Geiſtes voraus, die
fuͤr die von unſrer Natur unzertrenbare Eigenliebe
und Eitelkeit zu kraͤnkend iſt.


Zieh diejenigen in Verdacht, die irgend eine
Tugend auf beſonders gezwungne Art annehmen,
ſie
[113] ſie uͤber alle andre erheben, und gewiſſermaßen
zu verſtehen geben, daß ſie ſie einzig und allein
beſaͤßen. Ich ſage, ziehe ſie in Verdacht, denn
ſie ſind insgemein Betruͤger; aber glaube nicht
feſt, daß ſie es allezeit ſind! Denn zuweilen habe
ich Heilige gekant, die wirklich from, Praler, die
wirklich tapfer, Verbeſſerer der Sitten, die wirk-
lich ehrlich, und Sproͤde, die wirklich keuſch waren.
Dringe ſelbſt, ſo tief du kanſt, in die geheimen
Gaͤnge deines Herzens, und nim niemahls blind-
lings eines Menſchen Karakter auf den gemei-
nen Ruf an, der zwar insgemein in den großen
Zuͤgen richtig, allezeit aber in den beſondern Um-
ſtaͤnden irrig iſt.


Steh auf deiner Hut vor denen, die dir bei
einer geringen Bekantſchaft ihre unverlangte und
unverdiente Freundſchaft aufdringen! Denn ver-
muthlich ſchmeicheln ſie dir nur um ihres eignen
Vortheils willen. Zugleich aber weiſe ſie, dieſer
algemeinen Vorausſezung halben, nicht mit Un-
hoͤflichkeit ab!


Theophron 2. Th. HUnter-
[114]

Unterſuche ferner, und ſieh zu, ob ſolche un-
erwartete Anerbietungen aus einem warmen Her-
zen und einfaͤltigen Kopfe, oder aus einem ver-
ſchlagenen Kopfe und kalten Herzen kommen.
Denn Betrug und Thorheit haben oft die nemli-
chen Merkmale. Im erſten Falle hat es keine
Gefahr, wenn man ſie fuͤr ſo viel annimt, als ſie
werth ſind. Im leztern kan es nuͤzlich ſein, wenn
man ſich das Anſehen gibt, als naͤhme man ſie
an, indem man gleichwohl bei ſich ſelbſt beſchließt,
ganz und gar nicht darauf zu rechnen, ſondern
vielmehr gegen den, der ſie thut, mit verdoppelter
Vorſicht auf ſeiner Hut zu ſein.


Es gibt unter jungen Leuten, die ſich blos zu
gemeinſchaftlichen Vergnuͤgungen zuſammenge-
ſellen, eine Unmaͤßigkeit in der Freundſchaft, die
ſehr oft uͤble Folgen hat. Eine Anzahl warmer
Herzen und unerfahrner Koͤpfe, durch die Froͤh-
lichkeit des Gaſtmahls, und vielleicht durch ein
wenig zu viel Wein erhizt, geloben an, und mei-
nen es zu der Zeit in vollem Ernſt, fuͤr einander
ewige Freundſchaft zu hegen, und ſchuͤtten unbe-
ſonnener
[115] ſonnener Weiſe gegenſeitig ihre ganze Sele ohne
die mindeſte Zuruͤkhaltung aus. Dieſe Vertrau-
lichkeiten werden hernach eben ſo unbeſonnen wie-
derholt, als ſie Anfangs errichtet wurden; oder
aber es zerſtoͤren neue Vergnuͤgungen und neue
Oerter dieſe uͤbelbefeſtigten Freundſchaften; alsdan
wird von ſolcher uͤbereilten Vertraulichkeit oft ſehr
uͤbler Gebrauch gemacht.


Spiele du deine Rolle unter jungen Geſel-
ſelſchaftern beſſer. Thue es ihnen, wenn du kanſt,
in aller der unſchuldigen Luſtigkeit und Froͤhlich-
keit, die der Jugend wohl laͤßt, zuvor! Aber deine
ernſthaften Abſichten verſchweige! Dieſe vertraue
nur einem einzigen gepruͤften Freunde, der erfahr-
ner iſt, als du, und von dem es, weil er eine von
der deinigen ganz verſchiedne Lebensart einſchlaͤgt,
nicht wahrſcheinlich iſt, daß er deinen Mitbuler
abgeben werde. Denn das wolte ich dir nicht
rathen, dich ſo ſehr auf die menſchliche Helden-
tugend zu verlaſſen, daß du hoffen oder glauben
ſolteſt, dein Mitwerber wuͤrde jemahls in der
ſtreitigen Sache dein Freund ſein.


H 2In
[116]

In die Augen fallende, bunt gefaͤrbte und
voͤllig beſtimte Gemuͤthsarten zu erkennen, dazu
bedarf man geringe Kentniß und Erfahrung der
Welt. Es ſind deren wenige, und ſie kuͤndigen
ſich ſogleich an. Allein die unmerklichen Schat-
tierungen, die nur ſchwach fortſchreitende Stuffen-
folge zwiſchen Tugend und Laſter, Verſtand und
Thorheit, Staͤrke und Schwaͤche, (daraus aber
ſind die meiſten Karaktere zuſammengeſezt) zu
unterſcheiden, dazu gehoͤrt einige Erfahrung, viele
Beobachtung und ſcharfe Aufmerkſamkeit.


Die meiſten Leute thun in den nemlichen
Faͤllen die nemlichen Dinge; nur mit dieſem wich-
tigen Unterſchiede, auf dem der Erfolg insgemein
beruht, daß, wer die Welt ſtudiert hat, weiß,
wan ſie zu rechter Zeit und am rechten Orte an-
zubringen ſind. Ein ſolcher hat die Gemuͤthsarten
zergliedert, mit denen er zu thun hat, und richtet
ſeine Anrede, ſeine Gruͤnde, ihnen gemaͤß ein.
Ein Man aber von gemeinem guten Verſtande,
wie man es nent, der blos bei ſich ſelbſt nachge-
dacht, nicht mit den Menſchen gehandelt hat,
bringt alles zu unrechter Zeit, an unrechtem Orte
an,
[117] an, laͤuft eilfertig und toͤlpiſch auf das Ziel zu,
und faͤlt unterwegs auf die Naſe.


Bei den gewoͤhnlichen Sitten des geſelligen
Lebens weiß jeder von geſundem Verſtande die
Anfangsgruͤnde der Hoͤflichkeit, die Mittel, nicht
zu beleidigen, und wuͤnſcht ſogar, zu gefallen.
Hat er nun wirkliches Verdienſt, ſo wird er in
guter Geſelſchaft aufgenommen und geduldet wer-
den. Das iſt aber bei weitem noch nicht genug.
Denn nimt man ihn gleich auf, ſo wird man ſich
doch nicht nach ihm ſehnen; wird er gleich nicht
anſtoͤßig, ſo wird er doch auch nicht geliebt; wie
bei einer kleinen, nichtsbedeutenden, neutralen
Macht, an welche groͤſſere angrenzen, wird nie-
mand weder ihn fuͤrchten, noch ſeine Gunſt ſuchen,
hingegen wird nach der Reihe einer nach dem an-
dern ihn anfallen, ſobald es ihr Vortheil mit ſich
bringt. Eine ſehr veraͤchtliche Lage!


Wer hingegen die mancherlei Wirkungsarten
des Herzens und des Kopfs erfahren und ſorg-
faͤltig beobachtet hat; wer aus einer Schattierung
den ganzen Fortgang der Farbe herleiten kan;
wer zu gehoͤriger Zeit alle die verſchiednen Mittel,
H 3den
[118] Verſtand zu uͤberreden, und das Herz einzuneh-
men, anzuwenden weiß, der kan und wird zwar
Feinde, wird aber und muß auch Freunde haben;
man kan ſich zwar ihm widerſezen, er wird aber
auch unterſtuͤzt werden; ſeine Geiſtesgaben koͤnnen
bei einigen Eiferſucht erregen, ſein einnehmendes
Weſen aber wird ihn bei noch mehrern beliebt
machen; er wird betraͤchtlich ſein, und dafuͤr an-
geſehen werden.


Einen ſolchen Man zu bilden, ihn zugleich
ehrwuͤrdig und liebenswerth zu machen, muͤſſen
viele verſchiedne Eigenſchaften zuſammentreffen,
und die geringſte muß mit der groͤßten verbunden
werden; dieſe wuͤrde ohne jene nichts helfen, jene
wuͤrde ohne dieſe nichts werth ſein.


Gelehrſamkeit wird durch Leſung von Buͤchern
erworben; allein die viel nothwendigere Gelehr-
ſamkeit, die Kentniß der Welt, laͤßt ſich blos
erlangen, wenn man Menſchen liest, und alle
ihre verſchiednen Ausgaben ſtudiert. Insgemein
haͤlt man in jeder Sprache viele Woͤrter fuͤr gleich-
bedeutend; die aber die Sprache aufmerkſam un-
terſuchen, werden finden, daß ſie es nicht ſind; ſie
werden
[119] werden zwiſchen allen den Woͤrtern, die man ge-
woͤhnlicher Weiſe gleichbedeutend neut, einen
kleinen Unterſchied entdekken. Das eine hat im-
mer mehr Nachdruk, Umfang, Feinheit, als das
andre. So iſt es auch mit den Menſchen. Ueber-
haupt ſind ſie alle einander gleich; aber nicht
zwei von ihnen ſind es voͤllig. Die ſie nicht ſorg-
faͤltig beobachtet haben, verkennen ſie beſtaͤndig,
bemerken nicht die Schattierung, den ſtufenweiſen
Abfal derjenigen Gemuͤthsarten, die ſich aͤhnlich
ſcheinen, ohne es zu ſein. Geſelſchaft, mannich-
faltige Geſelſchaft, iſt fuͤr dieſe Wiſſenſchaft die
einzige Schule.


Welt haben iſt, meiner Meinung nach,
ein ſehr richtiger, gluͤklicher Ausdruk davon, wenn
man Geſchiklichkeit und gutes Bezeigen hat, und
ſich in allen Geſelſchaften gehoͤrig aufzufuͤhren weiß.
Es faßt mit Wahrheit in ſich, daß ein Menſch,
der dieſe Volkommenheiten nicht beſizt, nicht zur
Welt gehoͤrt. Ohne ſie ſind die beſten Gaben
unwirkſam, Hoͤflichkeit iſt ungereimt, und Frei-
heit anſtoͤßig.


H 4Ein
[120]

Ein großer, in ſeiner Zelle zu Oxford oder
Cambridge verroſtender, Gottesgelehrte wird
vortrefliche Schluͤſſe uͤber des Menſchen Natur vor-
bringen; er wird Kopf, Herz, Vernunft, Willen,
Leidenſchaften, Sinne, Empfindungen und alle
die Unterabtheilungen der menſchlichen Geiſtes-
kraͤfte ſcharf zergliedern; gleichwohl kent er un-
gluͤklicher Weiſe den Menſchen nicht; denn er hat
nicht mit ihm gelebt; er weiß nichts von allen
den mancherlei Arten, Fertigkeiten, Vorurtheilen
und Geſchmak, die ſtets auf ihn Einfluß haben,
und oft ihn beſtimmen. Er betrachtet den Men-
ſchen wie die Farben auf Sir Iſaak Newtons
Prisma, wo nur die Hauptfarben zu ſehen ſind.
Ein erfahrner Faͤrber hingegen kent alle ihre man-
nichfaltigen Schattierungen und Stuffenfolgen,
nebſt der Wirkung ihrer Miſchungen. Wenige
ſind von einfacher, beſtimter Farbe, die meiſten
vermiſcht und ſchattiert, und wechſeln nach den
verſchiednen Lagen eben ſo ſehr ab, wie ſpielende
Seidenfarben nach dem verſchiedentlichen Lichte.


Das alles weiß ein Man, der Welt hat,
aus eigner Erfahrung und Beobachtung. Der
einge-
[121] eingebildete, einſiedleriſche Philoſoph weiß es aus
eigner Theorie nicht. Seine Ausuͤbung iſt un-
ſchiklich und ungereimt. Er handelt eben ſo
ungeſchikt, als derjenige tanzen wuͤrde, der nie-
mahls andre haͤtte tanzen ſehen, noch bei einem
Tanzmeiſter gelernt, hingegen die Noten ſtudiert
haͤtte, in denen izt die Taͤnze, ſo wie die Melo-
dien, niedergeſchrieben werden.


Beobachte du die Anrede, das gefaͤllige Weſen
und die Sitten derer, die Welt haben, und ahme
ſie nach! Sieh zu, durch welche Mittel ſie zuerſt
guͤnſtige Eindruͤkke machen, und hernach vermeh-
ren! Dieſe Eindruͤkke ſind weit oͤfter kleinen Ur-
ſachen, als einem innern Verdienſte zuzuſchreiben.
Verdienſt iſt nicht ſo fluͤchtiger Art, und thut
keine ſo ſchleunige Wirkung.


Eine gewiſſe Wuͤrde der Sitten iſt unum-
gaͤnglich nothwendig, um ſelbſt der ſchaͤzbarſten
Perſon entweder Ehre zu verſchaffen, oder zu
verdienen.


Ungeſchlifner Scherz, Fauſtbalgerei, haͤufiges,
lautes Gelaͤchter, Poſſenſpiele und eine Gemein-
H 5machung
[122] machung ohne Unterſchied wird ſowohl Verdienſt,
als Wiſſenſchaft bis zu einem Grade von Verach-
tung erniedrigen. Sie machen hoͤchſtens einen
luſtigen Spasvogel aus; ein luſtiger Spasvogel
aber iſt noch niemahls eine ehrenvolle Perſon
geweſen. Gemeinmachung ohn Unterſchied be-
leidigt entweder hoͤhere, oder macht uns ihnen
unterwuͤrfig, zu Jaherrn und Belachern ihrer
Einfaͤlle. Geringern gibt ſie gerechte, aber be-
ſchwerliche und unſchikliche Anſpruͤche auf Gleich-
heit. Ein Spasvogel iſt nahe mit einem Schalks-
narren verwandt; und keiner von beiden hat
die geringſte Verwandſchaft mit wahrem Wize.


Wer aus andern Gruͤnden, als wegen ſeines
Verdienſtes oder ſeiner Sitten, in Geſelſchaften
zugelaſſen oder geſucht wird, der wird niemahls
darin geehrt, ſondern man bedient ſich ſeiner
blos. “Wir wollen den und den kommen laſſen,
denn er ſingt ſchoͤn; wir wollen den und den zum
Balle einladen, denn er tanzt ſchoͤn; wir wollen
den und den zum Abendeſſen rufen, denn er
ſcherzt und lacht beſtaͤndig; wir wollen den und
den hohlen laſſen, denn er ſpielt alle Spiele hoch
mit,
[123] mit, oder er kan gut zechen.„ Das ſind alles
erniedrigende Unterſcheidungen, entehrende Vor-
zuͤge, die allen Begrif von Hochſchaͤzung und
Achtung ausſchließen. Wer nur wegen eines
einzelnen Dings gerufen wird, der iſt blos daſ-
ſelbe einzelne Ding; man betrachtet ihn niemahls
auf einer andern Seite; folglich wird er niemahls
geehrt, ſein Verdienſt ſei ſo groß, als es wolle.


Die Wuͤrde der Sitten, die ich dir empfehle,
iſt nicht nur eben ſo verſchieden vom Hochmuthe,
als wahre Herzhaftigkeit von Pralerei, oder
wahrer Wiz von Schwaͤnken; ſondern vertraͤgt
ſich auch ganz und gar nicht mit ihm. Denn
nichts entehrt oder erniedrigt mehr, als Hoch-
muth. Des Hochmuͤthigen Anſpruͤche nimt man
oͤfter mit Gelaͤchter und Verachtung, als mit
Unwillen auf, ſo wie man auslachender Weiſe
Handelsleuten ein zu niedriges Gebot thut, die
laͤcherlicher Weiſe zu viel fuͤr ihre Waaren fodern.
Gibt aber jemand blos einen gerechten, billigen
Preis an, da handeln wir nicht lange.


Nieder-
[124]

Niedertraͤchtige Schmeichelei und ohne Unter-
ſchied gegebener Beifal erniedrigt eben ſo ſehr,
als Widerſpruch ohn Unterſchied und geraͤuſch-
voller Streit verdrießlich faͤlt. Hingegen be-
ſcheidne Behauptung ſeiner Meinung, und ge-
faͤllige Beiſtimmung gegen andrer ihre, behaupten
die Wuͤrde.


Niedrige, poͤbelhafte Ausdruͤkke, uͤbellaſſende
Bewegung und Anrede erniedrigen, weil ſie ent-
weder niedrige Denkungsart, oder niedrige Er-
ziehung und niedrige Geſelſchaft verrathen.


Nichtswuͤrdige Neugier nach Kleinigkeiten,
muͤhſame Aufmerkſamkeit auf geringfuͤgige Dinge,
die weder das Nachſinnen von einem Augenblikke
erfordern, noch verdienen, erniedrigen einen Men-
ſchen. Man ſchließt daraus, und nicht mit Un-
recht, er ſei groͤßerer Dinge unfaͤhig.


Ein gewiſſer Grad aͤußerlichen Ernſtes in
Blikken und Bewegungen gibt Wuͤrde, ſchließt
aber Wiz und anſtaͤndige Luſtigkeit nicht aus, die
allezeit
[125] allezeit an ſich ſelbſt etwas Ernſthaftes haben.
Beſtaͤndige Luſtigkeit auf dem Geſichte und un-
ruhige Geſchaͤftigkeit des Leibes ſind ſtarke An-
zeigen von Nichtswuͤrdigkeit. Wer ſich unruhig
anſtelt, der zeigt, daß die vorhabende Sache fuͤr
ihn zu groß iſt. Eilfertigkeit und unruhiges
Weſen ſind ganz verſchiedne Dinge.


Ich habe blos einige von den Stuͤkken er-
waͤhnt, welche Leute, die in andern Dingen ſchaͤz-
bar genug ſind, in der Meinung der Welt ernie-
drigen koͤnnen, und wirklich erniedrigen. Aber
ich habe nichts von denen gedacht, die den ſitlichen
Ruf herunter ſezen. Wer ſich geduldig hat ſchla-
gen und ſtoßen laſſen, der kan eben ſo gut auf
Herzhaftigkeit Anſpruch machen, als der, welcher
mit Laſtern und Verbrechen beflekt iſt, auf Wuͤrde
von irgend einer Art. Deine ſitliche Gemuͤths-
beſchaffenheit muß daher nicht nur rein, ſondern
auch, wie Caͤſars Frau, vom Argwohn frei
bleiben. Der geringſte Flekken an derſelben iſt
verderblich. Nichts entehrt und erniedrigt mehr;
denn es erwekt und vereinigt Verachtung und
Abſcheu.
[126] Abſcheu. Demohngeachtet gibt es in der Welt
elende Koͤpfe, die ſo gotlos ſind, alle Begriffe
vom ſitlichen Guten und Boͤſen zu verlachen, zu
behaupten, ſie ſchikten ſich blos an gewiſſe Oerter,
hingen gaͤnzlich von den Gebraͤuchen und Moden
verſchiedner Laͤnder ab.


Ja, es gibt, wo moͤglich, noch abgeſchmak-
tere Koͤpfe; ich meine ſolche, die gezwungner
Weiſe dergleichen ungereimte, ſchaͤndliche Begriffe
predigen und fortpflanzen, ohne ſie ſelbſt zu glau-
ben. Das ſind verteufelte Heuchler. Vermeide,
ſo viel moͤglich, ſolcher Leute Geſelſchaft, die
allen mit ihnen umgehenden einen Grad von Un-
ehre und Schande zuziehen! Da du aber zuwei-
len durch Zufal in ſolche Geſelſchaft gerathen kanſt,
ſo trage große Sorge, daß keine Gefaͤlligkeit, kein
aufgeraͤumtes Weſen, keine Hize feſtlicher Luſtig-
keit, dir jemahls den Schein gebe, als ließeſt du
ſolche ſchaͤndliche Lehren hingehen, weitweniger,
als billigteſt du ſie, oder fieleſt ihnen bei!


Auf der andern Seite ſtreite nicht, und brauche
nicht ernſthafte Gruͤnde in einer Materie, die ſo
tief unter denſelben iſt! Laß es dabei bewenden,
ſolchen
[127] ſolchen Apoſteln zu ſagen: “Du wuͤßteſt ſchon,
ſie redeten nicht im Ernſte; du haͤtteſt von ihnen
eine viel beſſere Meinung, als die ſie dir beibrin-
gen wolten, und waͤrſt ſicher, ſie wuͤrden die
Lehre, die ſie predigten, ſelbſt nicht ausuͤben.„
Insgeheim aber zeichne dir ſie aus, und meide
ſie nachher auf immer!


Nichts iſt ſo zart, als dein ſitlicher guter Name,
und an nichts muß dir mehr gelegen ſein, als
denſelben rein zu erhalten. Solteſt du in Verdacht
der Ungerechtigkeit, Bosheit, Treuloſigkeit und
Luͤgen kommen, ſo werden alle Geiſtesgaben, alle
Wiſſenſchaft von der Welt, dir niemahls Hoch-
achtung, Freundſchaft oder Ehrerbietung ver-
ſchaffen. Ein ſeltſames Zuſammentreffen von
Umſtaͤnden hat zwar zuweilen ſehr boͤſe Menſchen
zu hohen Aemtern befoͤrdert; aber ſie ſind auf
eben die Art aufgeſtelt worden, wie Miſſethaͤter
an einem Pranger, wo ihre Perſonen und Ver-
brechen, weil ſie mehr dem Anblikke ausgeſezt
ſind, nur um ſo viel mehr bekant, verabſcheut,
beſchimpft und gemißhandelt werden.


Die
[128]

Die einzige Schwierigkeit iſt, (ich bin aber
ſicher, du haſt Verſtand genug dazu) zwiſchen
den rechten und ſchiklichen Eigenſchaften und den
mit ihnen verwandten Fehlern einen Unterſcheid
zu machen. Denn es gibt nur eine Linie zwiſchen
jeder Volkommenheit und ihrer benachbarten Un-
volkommenheit.


Du mußt, zum Beiſpiele, uͤberaus artig und
hoͤflich ſein, aber ohne das beſchwerliche, ſteife
Weſen der Staatsgebraͤuche. Du mußt ehrer-
bietig und zum Beifalgeben fertig, darum aber
keinesweges knechtiſch, noch niedertraͤgtig ſein.
Du mußt dich offenherzig bezeigen, jedoch ohne
Schwazhaftigkeit; mußt zuruͤkhaltend ſein, jedoch
ohne ein ſproͤdes Weſen anzunehmen. Du mußt
deines Standes Wuͤrde behaupten, jedoch ohne
den geringſten Stolz auf Herkunft oder Rang.
Du mußt luſtig ſein, aber innerhalb aller Schran-
ken der Anſtaͤndigkeit und Ehrerbietung; und
ernſthaft, ohne gezwungne Anmaßung von Weis-
heit, die dem Alter von zwanzig Jahren nicht
anſteht. Du mußt weſentlich verſchwiegen ſein,
nicht aber dunkel und geheimnißvol. Du mußt
ſtandhaft,
[129] ſtandhaft, ſogar kuͤhn ſein, aber mit großer
Beſcheidenheit.


Nichts hat ein junger Menſch bei ſeinem Ein-
tritte in die Welt mehr zu fuͤrchten, und nichts
ſolt’ er daher ſorgfaͤltiger zu vermeiden ſuchen,
als daß man ihm nicht etwas Laͤcherliches anhaͤn-
gen moͤgte. Das entehrt ihn bei dem vernuͤnftig-
ſten Theile der Menſchen, bei den uͤbrigen aber
ſtuͤrzt es ihn ganz und gar; und ich habe manchen
gekant, der dadurch ungluͤklich geworden iſt, daß
er ſich einen laͤcherlichen Beinahmen zuzog.


Um aller Welt willen wolte ich nicht, daß du
dir einen Beinahmen zuziehen ſolteſt, wenn du
nach England zuruͤkkomſt. Laſter und Verbrechen
erregen Haß und Vorwuͤrfe, aber Fehler, Schwach-
heiten und Unſchiklichkeiten, machen uns laͤcherlich.
Nachaͤffende Leute machen ſie ſich zu Nuze, die,
wiewohl ſie oft ſelbſt ſehr veraͤchtliche Schurken
ſind, dennoch oft durch ihre Schwaͤnke beßre Leute
veraͤchtlich machen. Die kleinen Fehler des Be-
zeigens, der Ausſprache, Anrede, Miene, ſelbſt
der Geſtalt, wiewohl hoͤchſt ungerechter Weiſe,
Theophron 2. Th. Jwerden
[130] werden Gegenſtaͤnde des Gelaͤchters, und Urſachen
von Zunahmen.


Du kanſt dir nicht genug vorſtellen, welchen
Kummer es mir, und welchen Nachtheil es dir
verurſachen wuͤrde, wenn man dich, zum Unter-
ſchiede von andern, den murmelnden Stan-
hope, den zerſtreuten Stanhope, den un-
gezognen Stanhope, den toͤlpiſchen, link-
beinigten Stanhope
nennen ſolte. Trage daher
große Sorge, es außer die Gewalt des Gelaͤchters
ſelbſt zu ſezen, dir eins ſolcher kurzweiligen Bei-
woͤrter zu geben! Denn haſt du es einmahl, ſo
haͤngt es dir an, wie ein vergiftetes Hemde.


Es gibt Leute, die ſich eine Art von Luͤgen er-
lauben, die ſie fuͤr unſchuldig halten, und die es
auch in einem gewiſſen Verſtande iſt; denn ſie
ſchadet keinem, als ihnen ſelbſt. Dieſe Art Luͤgen
iſt das unaͤchte Kind der Eitelkeit und Thorheit.
Solche Leute geben ſich viel mit dem Wunder-
baren ab. Iſt etwas Merkwuͤrdiges in einer
Geſelſchaft oder an einem Orte gethan oder ge-
ſagt worden, ſo ſind ſie alsbald gegenwaͤrtig ge-
weſen,
[131] weſen, und geben ſich fuͤr Augenzeugen davon aus.
Sie ſelbſt haben Dinge gethan, die noch von
keinem andern jemahls verſucht, oder volbracht
worden ſind. Sie ſind ſtets die Helden ihrer
eignen Maͤhrchen, und glauben dadurch Achtung
oder wenigſtens gegenwaͤrtige Aufmerkſamkeit zu
gewinnen. Alles jedoch, was ſie wirklich davon
tragen, iſt Gelaͤchter und Verachtung, nebſt einem
guten Theile von Mistrauen. Denn man muß
natuͤrlicher Weiſe ſchließen: wer irgend eine Luͤge
aus bloßer Eitelkeit vorbringt, der werde kein
Bedenken tragen, eine noch groͤßere zu ſeinem
Vortheile zu ſagen.


Haͤtt’ ich wirklich etwas ſo Außerordentliches
geſehen, daß es faſt unglaublich waͤre: ſo wolt’
ich es lieber bei mir behalten, als jemandem eine
Minute lang Anlaß geben, an meiner Wahrheits-
liebe zu zweifeln. Es iſt ausgemacht, daß einem
Frauenzimmer der Ruf der Keuſchheit nicht noth-
wendiger iſt, als der Ruf der Wahrheitsliebe
einem Manne.


Um Gottes willen halte gewiſſenhaft und
eiferſuͤchtig uͤber der Reinigkeit deines ſitlichen
J 2guten
[132] guten Namens! Erhalte ihn unbeflekt, unbe-
ſcholten, ſo wird er in keinen Verdacht gezogen
werden. Ueble Nachrede und Verlaͤumdung thun
keinen wirklich ſchaͤdlichen Angrif, wo es nicht
eine ſchwache Seite gibt. Sie vergroͤßern wohl,
erſchaffen aber nicht.


Ich kenne in der That nichts laſterhafters,
niedertraͤchtigers und zugleich laͤcherlichers als das
Luͤgen. Es iſt entweder die Wirkung der Bos-
heit, oder Feigheit, oder Eitelkeit, und verfehlt
insgemein bei jeder dieſer Abſichten ſeinen Endzwek.
Denn Luͤgen werden allezeit, fruͤher oder ſpaͤter,
entdekt. Wenn ich eine boshafte Luͤge zum Scha-
den des Vermoͤgens oder guten Nahmens eines
Menſchen ſage: ſo kan ich ihm zwar eine Zeitlang
ſchaden; ich kan jedoch ſicher ſein, daß ich zulezt
am meiſten dabei leiden werde. Denn ſo bald
man mich entdekt, (das wird aber gewiß geſchehen)
verliere ich wegen des ſchaͤndlichen Verſuchs, den
guten Nahmen eines andern zu beflekken, meinen
eigenen, und was nur nachher zu deſſelben Men-
ſchen Nachtheile geſagt wird, gilt, ſo wahr es
auch ſein mag, fuͤr Verlaͤumdung.


Wenn
[133]

Wenn ich luͤge, oder zweideutig rede, (denn
das iſt das nemliche) um etwas, das ich gethan
oder geſagt habe, zu entſchuldigen, und die Ge-
fahr der Schande, die ich daher befuͤrchte, zu
vermeiden: ſo verrathe ich zugleich beides, meine
Furcht und Falſchheit, und anſtat der Gefahr der
Schande zu entgehen, vermehre ich ſie nur. Ich
zeige mich als den Niedertraͤchtigſten unter den
Menſchen, und bin ſicher, auch ſo behandelt zu
werden. Hat jemand das Ungluͤk, einen Irthum
oder Fehler begangen zu haben; ſo findet ſich
etwas Edles in der freimuͤthigen Bekennung deſ-
ſelben. Dis iſt der einzige Weg, ihn wieder gut
zu machen, und Verzeihung zu erhalten. Hin-
gegen zweideutig reden, Ausfluͤchte ſuchen, und
Kunſtgriffe gebrauchen, um einer gegenwaͤrtigen
Gefahr oder Ungemaͤchlichkeit zu entgehen, iſt
etwas ſo Niedriges, verraͤth ſo viele Feigherzig-
keit, daß der, welcher ſo handelt, allezeit Stoͤße
verdient, und oft auch ſie bekoͤmt.


Merke dir demnach fuͤr dein ganzes Leben, daß
nichts als genaue Wahrheit dich ohne Verlezung
des Gewiſſens und der Ehre durch die Welt brin-
J 3gen
[134] gen kan! Sie iſt nicht nur deine Pflicht, ſondern
auch dein Vortheil. Zum Beweiſe davon kanſt
du allezeit ſehen, daß die aͤrgſten Thoren auch die
groͤßten Luͤgner ſind. Ich meines Orts urtheile
nach jedes Menſchen Wahrhaftigkeit von dem
Grade ſeines Verſtandes.


Jede Vortreflichkeit und jede Tugend hat irgend
eine Untugend oder Schwachheit zur Verwandtin.
Freigebigkeit artet oft in Verſchwendung aus,
Sparſamkeit in Geiz, Herzhaftigkeit in uͤbereilte
Hize, Behutſamkeit in Schuͤchternheit, und ſo
weiter. Ich glaube daher, es erfodere mehr Be-
hutſamkeit, unſre Tugenden gehoͤrig auszuͤuͤben, als
die ihnen entgegenſtehenden Laſter zu vermeiden.


Das Laſter iſt in ſeinem wahren Geſichts-
punkte ſo haͤßlich, daß es uns auf den erſten Blik
anſtoͤßig wird, und ſchwerlich jemahls verfuͤhren
wuͤrde, wenn es nicht, wenigſtens im Anfange,
die Larve der Tugend truͤge. Tugend hingegen iſt
ſo ſchoͤn, daß ſie auf den erſten Anblik bezaubert,
nimt uns bei naͤherer Bekantſchaft immer ſtaͤrker
ein, und wir halten dabei, ſo wie bei andern
Schoͤn-
[135] Schoͤnheiten, das Uebermaß fuͤr unmoͤglich. Da-
her iſt hier Urtheilskraft noͤthig, um die Wirkun-
gen einer vortreflichen Urſache zu maͤßigen und
zu leiten.


Ich wil gegenwaͤrtig das Geſagte nicht auf
eine beſondre Tugend, ſondern auf eine Vortref-
lichkeit anwenden, die aus Mangel an Urtheils-
kraft oft die Urſache laͤcherlicher und tadelhafter
Wirkungen wird. Ich meine große Gelehrſam-
keit, die, wenn nicht geſunde Urtheilskraft ſie
begleitet, uns oft zu Irthum, Stolz und Pedan-
terie verfuͤhrt. Da ich nun hoffe, du wirſt dieſe
Vortreflichkeit kuͤnftig in ihrem aͤußerſten Um-
fange beſizen: ſo werden dir die Winke, die dir
meine Erfahrung hieruͤber an die Hand geben kan,
wahrſcheinlicher Weiſe nicht unnuͤz ſein.


Einige auf ihr Wiſſen ſtolze Gelehrte reden
blos, um zu entſcheiden, und geben Urtheile von
ſich, von denen keine weitere Berufung gilt. Die
Folge davon iſt, daß die Menſchen, durch die
Beleidigung aufgebracht, und durch die Unter-
druͤkkung beſchimpft, ſich empoͤren, und, um ſich
der Tirannei zu entſchlagen, ſogar ein rechtmaͤßi-
J 4ges
[136] ges Anſehen in Zweifel ziehen. Je mehr du weißt,
deſto beſcheidner ſolteſt du ſein; und, im Vorbei-
gehn geſagt, dieſe Beſcheidenheit iſt der ſicherſte
Weg, deine Eitelkeit zu befriedigen, ohngeachtet
ich nicht hoffe, daß das dein Bewegungsgrund
dazu ſein werde. Auch wo du deiner Meinung
gewiß biſt, da ſcheine lieber zweifelhaft; thue
Vorſtellungen, aber keine Ausſpruͤche; und wenn
du andre uͤberzeugen wilſt, ſo ſtelle dich ſelbſt bereit-
willig, von andern uͤberzeugt zu werden!


Noch andre, um ihre Gelehrſamkeit zu zeigen,
oder auch vermoͤge der Vorurtheile ihrer Erziehung
in der Schule, wo ſie nichts anders hoͤrten, reden
allezeit von den Alten ſo, als waͤren ſie mehr noch
als Menſchen, und von den Neuern, als waͤren
ſie weniger. Sie fuͤhren ſtets einen oder zwei
klaſſiſche Autoren in der Taſche. Sie halten ſich
feſt an den alten geſunden Verſtand, leſen nichts
von dem Gewaͤſche der neuern, und erweiſen haar-
ſcharf, daß man ſeit den leztern ſiebzehn hundert
Jahren in keiner Kunſt oder Wiſſenſchaft weiter
gekommen iſt.


Nun
[137]

Nun wolt’ ich zwar nicht, daß du deine Be-
kantſchaft mit den Alten ablaͤugneteſt; weit weni-
ger aber, daß du dich einer vorzuͤglichen Vertrau-
lichkeit mit ihnen ruͤhmteſt. Rede von den
Neuern ohne Verachtung, und von den Alten
ohne Abgoͤtterei. Urtheile von ihnen allen nach
ihren Verdienſten, nicht aber nach ihrer Zeit!
Solteſt du von ungefaͤhr einen klaſſiſchen Autor
von elzeviriſcher Ausgabe in der Taſche fuͤhren,
ſo zeige ihn nicht vor, und rede nicht davon!


Einige große Gelehrte hohlen alle ihre Grund-
ſaͤze, beides im oͤffentlichen und gemeinen Leben,
aus dem her, was ſie aͤhnliche Faͤlle in den
alten Schriftſtellern nennen; ohne zu bedenken,
daß in Anſehung des erſten ſeit Erſchaffung der
Welt niemahls zwei Faͤlle ſich gaͤnzlich gleich gewe-
ſen ſind, und daß in Anſehung des zweiten nie-
mahls von irgend einem Geſchichtſchreiber ein Fal
mit allen ſeinen Umſtaͤnden ordentlich vorgeſtelt,
oder auch nur gewußt worden iſt. Dieſe Umſtaͤnde
muß man jedoch wiſſen, um richtig zu urtheilen.


Erwaͤge du den Fal ſelbſt mit den dabei befind-
lichen Umſtaͤnden, und handle darnach, nicht aber
J 5nach
[138] nach Ausſpruͤchen alter Dichter oder Geſchicht-
ſchreiber! Nim, wenn du wilſt, aͤhnlich ſcheinende
Faͤlle dazu, aber blos als Huͤlfsmittel, nicht als
Wegweiſer!


Wir werden durch unſre Erziehung ſo ſtark
von Vorurtheilen eingenommen, daß, ſo wie die
Alten ihre Helden, alſo wir ihre Narren vergoͤt-
tern, unter die ich, mit aller gehoͤrigen Achtung
fuͤr das Alterthum geſprochen, den Leonidas
und Curtius als zwei der vorzuͤglichſten ſeze. *)
Gleichwohl wuͤrde ein rechtſchafner Pedant in
einer Rede an das Parlament, die von einer Auf-
lage von zwei Pence auf das Pfund bei irgend
einer oder der andern Waare haudelte, dieſe zwei
Helden als Beiſpiele von dem aufſtellen, was wir
fuͤr unſer Vaterland thun oder leiden ſolten.


Ich
[139]

Ich habe dieſe Ungereimtheiten von Gelehrten
ohne Urtheilskraft ſo weit treiben ſehen, daß es
mich gar nicht wundern ſolte, wenn bei einem
unſrer Kriege mit den Galliern irgend ein gelehr-
ter Pedant den Vorſchlag thaͤte, man ſolte eine
Anzahl Gaͤnſe im Tower halten, wegen des
unendlichen Nuzens, den im aͤhnlichen Falle
die Roͤmer von einer Heerde Gaͤnſe im Kapitol
gehabt haͤtten. Dieſe Art zu ſchließen und zu
reden wird ſtets einen armſeeligen Staatsman
und kindiſchen Marktſchreier verrathen.


Noch gibt es eine andre Art von Gelehrten,
die zwar weniger ſchulgerecht und ſtolz, aber nicht
weniger ungereimt ſind. Das ſind die geſchwaͤ-
zigen, ſchimmernden Pedanten, die ihr Geſpraͤch,
ſelbſt mit Frauenzimmern, durch gluͤklich ange-
brachte Stellen aus dem Griechiſchen oder Lateini-
ſchen aufſtuzen, und ſich mit den Schriftſtellern
in beiden Sprachen ſo gemein machen, daß ſie
ihnen gewiſſe, eine beſondere Vertraulichkeit an-
zeigende, Namen oder Beiwoͤrter geben; als, der
Altvater Homer, der ſchlaue Vogel Horaz,
Maro
anſtat Virgil, und Naſo anſtat Ovid.
Das
[140] Das thun ihnen denn oft Gekken nach, die ganz
und gar keine Gelehrſamkeit beſizen, ſondern nur
einige Namen und Brokken alter Schriftſteller
auswendig gelernt haben, mit denen ſie, geſchikt
oder ungeſchikt, in allen Geſelſchaften um ſich
werfen, in der Hofnung, fuͤr Gelehrte angeſehen
zu werden.


Wilſt du daher die Beſchuldigung der Pedan-
terie auf einer, den Verdacht der Unwiſſenheit
aber auf der andern Seite vermeiden, ſo enthalte
dich der gelehrten Pralerei! Rede die Sprache der
Geſelſchaft, in der du biſt; rede ſie rein, nicht mit
Woͤrtern aus einer andern durchſpikt! Gib dir nie-
mahls das Anſehen, als waͤreſt du weiſer oder gelehr-
ter, als die Anweſenden! Fuͤhre deine Gelehrſamkeit,
ſo wie deine Repetieruhr, in der Taſche! Ziehe ſie
nicht heraus, und laß ſie nicht ſchlagen, blos um
zu zeigen, daß du eine haſt! Fragt man dich, um
welche Zeit es iſt, ſo ſag’ es; ruf’ es aber nicht
alle Stunden aus, wie ein Nachtwaͤchter! Das
unverlangte Herausziehen der Uhr gibt zu erken-
nen, daß du der Geſelſchaft muͤde biſt; die unver-
langte
[141] langte Auskramung der Wiſſenſchaft macht, daß
die Geſelſchaft deiner muͤde wird.


Merke dir uͤberhaupt: die Gelehrſamkeit, ich
meine die griechiſche und roͤmiſche, iſt ein ſehr
nuͤzlicher und nothwendiger Zierrath, und ſie
nicht wiſſen, wird bei einem Menſchen, der eine
gelehrte Erziehung gehabt hat, fuͤr eine Schande
gehalten. Vermeide aber ſorgfaͤltig die angefuͤhr-
ten Irthuͤmer und Misbraͤuche, die ſie nur zu
oft begleiten! Auch merke dir, daß große neuere
Gelehrſamkeit viel noͤthiger iſt, als die alte, und
daß es beſſer waͤre, du wuͤßteſt den gegenwaͤrti-
gen, als den alten Zuſtand von Europa; wiewohl
ich lieber ſaͤhe, du kenteſt beide.


Du biſt nun zu einem Alter gekommen, das
der Ueberlegung faͤhig iſt, und ich hoffe, du wirſt
das thun, was von wenigen in deinen Jahren
geſchieht, das iſt, deine Zeit um deiner ſelbſt willen
zur Aufſuchung der Wahrheit und einer geſunden
Wiſſenſchaft anwenden. Ich wil geſtehen, (denn
ich bin nicht abgeneigt, dir meine Geheimniſſe zu
entdekken) daß es nicht ſeit vielen Jahren iſt, da
ich
[142] ich mich erkuͤhnt habe, fuͤr mich ſelbſt zu den-
ken
. Bis auf das ſechszehnte oder ſiebzehnte
Jahr hatte ich gar kein Nachdenken; und viele
Jahre hernach bediente ich mich deſſen nicht, das
ich hatte. Ich nahm die Begriffe der Buͤcher
an, die ich las, oder der Geſelſchaft, die ich hielt,
ohne zu unterſuchen, ob ſie richtig waͤren, oder
nicht. Lieber wolt’ ich es auf einen leichten Ir-
thum wagen, als mir Zeit und Muͤhe zur Unter-
ſuchung der Wahrheit nehmen.


Solchergeſtalt ward ich, wie ich ſeitdem ge-
funden habe, theils aus Faulheit, theils aus
Zerſtreuung, theils aus uͤbel verſtandner Schaam,
der Mode gemaͤße Begriffe zu verwerfen, durch
Vorurtheile hingeriſſen, anſtat von der Vernunft
geleitet zu werden. Anſtat Wahrheit aufzuſuchen,
unterhielt ich ruhig den Irthum.


Seit ich mir aber die Muͤhe nahm, fuͤr mich
ſelbſt zu denken, und das Herz faßte, zu geſte-
hen, daß ich das thaͤte, kanſt du dir nicht vor-
ſtellen, wie ſehr meine Begriffe von Dingen ſich
geaͤndert haben, aus welchen verſchiednen Ge-
ſichtspunkten ich ſie jezt betrachte, da ich ſie vorher
blos
[143] blos nach Leitung des Vorurtheils und Anſehens
andrer betrachtete. Ja, es iſt moͤglich, daß ich
noch viele Irthuͤmer beibehalten habe, die vermoͤge
langer Fertigkeit vielleicht zu wirklichen Meinungen
geworden ſind. Denn es iſt ſehr ſchwer, zei-
tig erworbne und lange unterhaltene Fertigkeiten
von den Ausſpruͤchen unſrer Vernunft und der
Ueberlegung zu unterſcheiden.


Mein erſtes Vorurtheil (denn von Vorur-
theilen der Kinder und Weiber, als da ſind Ko-
bolde, Erſcheinungen, Traͤume, u. ſ. w. wil ich
nicht reden) war meine klaſſiſche Schwaͤrmerei,
mit der mich die Buͤcher, die ich las, und die
Lehrer, die mir ſie erkaͤrten, anſtekten. Ich ward
uͤberzengt, daß ſich ſeit den leztern funfzehn hun-
dert Jahren kein geſunder Verſtand, keine gemeine
Ehrlichkeit in der Welt geſunden haͤtte, ſondern
daß ſie mit den alten griechiſchen und roͤmiſchen
Reichen voͤllig erloſchen waͤren. Homer und
Virgil konten keine Fehler haben, weil ſie al [...],
Milton und Taſſo keine Verdienſte, weil ſie neu
waren. Ich koͤnte in Anſehung der Alten beinah
das geſagt haben, was Cicero, auf ſehr unge-
reimte,
[144] reimte, einem Philoſophen unanſtaͤndige Weiſe,
in Anſehung des Plato ſagt, “ich wil lieber mit
ihm irren, als mit andern richtig denken.„ *)


Nunmehr hingegen habe ich, ohne auſſerordent-
liche Anſtrengung des Verſtandes, ausfindig ge-
macht, daß die Natur vor dreitauſend Jahren die
nemliche war, die ſie izt iſt; daß die Menſchen
nichts mehr als Menſchen waren, damahls ſo gut
wie izt; daß zwar Gewohnheiten und Gebraͤuche
oft abwechſeln, die menſchliche Natur aber ſtets
die nemliche bleibt. Ich kan eben ſo wenig anneh-
men, daß vor funfzehn hundert oder drei tauſend
Jahren die Menſchen beſſer, tapfrer oder weiſer
geweſen waͤren, als daß Thiere und Pflanzen da-
mahls beſſer geweſen waͤren, als ſie izt ſind.


Ich getraue mir auch nunmehr, den Goͤnnern
der Alten zum Troz, zu behaupten, daß Homers
Held Achil zugleich ein wildes Thier und ein
Schurke, folglich ſehr untauglich fuͤr die Rolle
eines Helden im Heldengedichte war. Er trug ſo
wenige Achtung fuͤr ſein Vaterland, daß er nicht
zu
[145] zu deſſen Vertheidigung fechten wolte, darum
weil er mit dem Agamemnon um eine Hure ge-
zankt hatte; und hernach, blos durch eigne Rach-
gier angetrieben, ging er herum, und nahm den
Leuten niedertraͤchtiger Weiſe das Leben, denn ſo
wil ich es nennen, weil er ſich fuͤr unverlezt hielt.
Bei aller ſeiner Unverlezlichkeit trug er gleichwohl
die ſtaͤrkſte Ruͤſtung von der Welt. Das war aber,
wie ich mir demuͤthig vorſtelle, ein gewaltiger
Irthum. Denn ein Hufeiſen, an ſeine verwund-
bare Ferſe geſchlagen, wuͤrde hinlaͤnglich gewe-
ſen ſein.


Auf der andern Seite behaupte ich mit Dry-
den
, in aller Demuth gegen die Goͤnner der
Neuern, daß der Teufel eigentlich der Held in
Miltons Gedichte iſt. Der Entwurf, den jener
anlegt, verfolgt, und zulezt ausfuͤhrt, iſt ja der
Inhalt des Gedichts.


Aus allen dieſen Betrachtungen ziehe ich den
unparteiiſchen Schluß, daß die Alten, grade ſo
wie die Neuern, ihre Vorzuͤge und Fehler, ihre
Tugenden und Laſter hatten. Pedanterie und
gezierte Gelehrſamkeit entſcheiden deutlich zum
Theophron 2. Th. KVor-
[146] Vortheil der erſtern, Eitelkeit und Unwiſſenheit
eben ſo eifrig zum Vortheil der leztern.


Meine Vorurtheile in der Religion hielten
mit den klaſſiſchen gleichen Schrit. Es war eine
Zeit, da ich es fuͤr unmoͤglich hielt, daß der ehr-
lichſte Man von der Welt auſſer dem Schooße der
engliſchen Kirche ſeelig werden koͤnte. Ich bedachte
nicht, daß Meinungen nicht auf dem Willen beru-
hen, daß es eben ſo natuͤrlich als zulaͤßig iſt, daß
ein andrer in Meinungen von mir abgehe, als ich
von ihm; daß wir, wenn wir beide aufrichtig ſind,
auch beide ohne Tadel ſind, und folglich gegen-
ſeitige Nachſicht fuͤr einander haben ſolten. Jezt
hingegen ſehe ich deutlich ein, daß Irthuͤmer in
Meinungen, ſo grob ſie auch ſein moͤgen, Mitlei-
den verdienen, nicht aber Ahndung oder Gelaͤch-
ter! Des Verſtandes Blindheit iſt eben ſo ſehr zu
bedauren, als der Augen ihre; und es iſt weder
Scherz noch Verſchuldung, wenn ſich ein Menſch
in beiderlei Faͤllen von ſeinem Wege verirt. Die
kriſtliche Liebe befielt uns, ihm, wenn wir koͤnnen,
durch Gruͤnde oder Zureden zurecht zu helfen,
zugleich
[147] zugleich aber unterſagt ſie, ſein Ungluͤk entweder
zu beſtrafen oder zu verlachen.


Jedes Menſchen Vernunft iſt ein Wegweiſer,
und muß es ſein. Ich kan eben ſo gut fodern,
daß jeder Menſch von meiner Laͤnge und Geſichts-
farbe ſein, als daß er gerade ſo ſchließen ſolte, wie
ich. Jeder Menſch ſucht Wahrheit; Gott allein
aber weiß, wer ſie gefunden hat. Es iſt daher
eben ſo ungerecht, die Leute wegen der verſchied-
nen Meinungen, die ſie nach Ueberzeugung ihrer
Vernunft zu hegen nicht umhin koͤnnen, zu ver-
folgen, als es ungereimt iſt, ſie darum zu verla-
chen. Wer luͤgenhaft redet oder handelt, der iſt
ſtrafbar; nicht aber, wer ehrlich und aufrichtig
die Luͤgen glaubt.


Die Vorurtheile, die ich nun zunaͤchſt annahm,
waren die aus der galanten Welt. Da ich ent-
ſchloſſen war, darin zu ſchimmern, ſo hielt ich die
ſogenanten vornehmen Laſter fuͤr nothwendig.
Ich hoͤrte ſie dafuͤr halten, und glaubte es ohne
weitere Unterſuchung. Wenigſtens wuͤrd’ ich
mich geſchaͤmt haben, es zu laͤugnen, um mich
K 2nicht
[148] nicht dem Gelaͤchter derer auszuſtellen, die ich als
Muſter artiger Herrn betrachtete.


Izt aber ſchaͤme ich mich nicht, ohne Scheu zu
behaupten, daß dieſe faͤlſchlich ſo genanten vorneh-
men Laſter blos ſo viele Schandflekken ſelbſt an
einem Weltmanne und artigen Herrn ſind, und
ihn ſelbſt in derer Meinung herunter ſezen, wel-
chen er dadurch zu gefallen gedenkt. Dieſes Vor-
urtheil geht ſo weit, daß ich Leute gekant habe,
die, anſtat ihre wahren Laſter ſorgfaͤltig zu ver-
bergen, ſogar noch auf ſolche Anſpruch machten,
die ſie wirklich nicht an ſich hatten.


Gebrauche du und behaupte deine eigne Ver-
nunft! Erwaͤge, unterſuche und zergliedere alles,
um ein geſundes, reifes Urtheil zu faͤllen! Laß
kein der oder der hat es geſagt deinen Verſtand
betruͤgen, deine Handlungen fehlfuͤhren, oder dir
Vorſchriften wegen deines Verhaltens geben! Sei
fruͤhzeitig das, was du, wo du es nicht biſt, zu
ſpaͤt geweſen zu ſein wuͤnſchen wirſt! Ziehe bei
Zeiten deine Vernunft zu Rathe! Ich ſage nicht,
daß ſie allezeit ein untrieglicher Richter ſein wird;
denn
[149] denn menſchliche Vernunft iſt nicht unfehlbar;
aber ſie wird der am wenigſten irrende Wegweiſer
ſein, dem du nur folgen kanſt. Buͤcher und Ge-
ſpraͤche koͤnnen ihr beiſtehen. Folge jedoch keinen
von beiden blindlings auf Treue und Glauben!
Pruͤfe beide nach der beſten Richtſchnur, die
uns Gott zu unſrer Leitung verliehen hat, der
Vernunft!


Unter allen Bemuͤhungen lehne doch ja nicht,
wie viele thun, die zu denken von dir ab! Vom
großen Haufen der Menſchen laͤßt ſich kaum ſagen,
daß er denkt. Und uͤberhaupt, glaube ich, iſt es
beſſer, daß es ſo iſt. *) Denn die gemeinen Vor-
urtheile tragen mehr zur Ordnung und Ruhe bei,
als die eigne beſondre Vernunft dieſer Leute, die
ſo wenig ausgebildet und geuͤbt iſt, dazu beitra-
K 3gen
[150] gen wuͤrde. *) Wir haben in unſerm Lande viele
ſolche nuͤzliche Vorurtheile, deren Abſtellung mir
ſehr leid thun ſolte. **) Die ehrliche Ueberzeu-
gung der Proteſtanten, daß der Pabſt der Anti-
kriſt und die babiloniſche Hure iſt, dient unſerm
Lande zum kraͤftigern Verwahrungsmittel vor dem
Pabſtthume, als alle von Chillingworth vorge-
tragene triftige, unbeantwortliche Gruͤnde. ***)


Das nichtige Maͤhrchen, daß der Praͤtendent
in einer Waͤrmflaſche zur Koͤnigin waͤre ins Bette
gebracht worden, dem es an Wahrſcheinlichkeit
ſowohl als an Grunde fehlt, iſt der Sache der Ja-
kobiten ſchaͤdlicher geweſen, als alles, was Lokke
und
[151] und andre geſchrieben haben, um den Ungrund,
die Ungereimtheit der Lehren vom unerloͤſchlichen
Erbrechte und vom unbedingten leidenden Gehor-
ſame darzuthun. Die einfaͤltige, ſtolze Einbildung,
die man ſich hier in den Kopf geſezt hat, ein Eng-
laͤnder koͤnte drei Franzoſen aus dem Felde ſchlagen,
muntert gleichwohl einen Englaͤnder auf, und hat
ihn zuweilen in den Stand geſezt, ihrer zween
wirklich zu ſchlagen.


Ein Franzoſe wagt munter ſein Leben fuͤr
die Ehre des Koͤnigs. Wolteſt du den Ge-
genſtand verruͤkken, den man ihn gelehrt hat vor
Augen zu haben, und ihm ſagen, es goͤlte das
Beſte des Vaterlandes
, ſo wuͤrd’ er vermuth-
lich davon laufen.


Dergleichen grobe, an gewiſſe Oerter gebund-
ne, Vorurtheile haben uͤber den großen Haufen
der Menſchen die Oberhand, betruͤgen aber nicht
ausgebildete, unterrichtete und nachdenkende Se-
len. Hingegen gibt es eben ſo falſche, wenn gleich
nicht ſo offenbar ungereimte, Vorurtheile, die
Leute von hoͤherem, ausgebildetem Verſtande blos
darum hegen, weil ſie ſich nicht die noͤthige Muͤhe
K 4zum
[152] zum Unterſuchen geben, nicht die gehoͤrige Auf-
merkſamkeit zum Nachforſchen, noch die zur Un-
terſcheidung der Wahrheit erforderliche Scharfſich-
tigkeit anwenden. Das ſind Vorurtheile, vor
denen du dich durch maͤnliche Anſtrengung und
Uebung deiner denkenden Kraft verwahren ſolſt.


Um nur ein Beiſpiel unter Tauſenden zu be-
ruͤhren, die ich dir angeben koͤnte! Es iſt ein alge-
meines, ſeit ſechzehnhundert Jahren fortgepflanz-
tes Vorurtheil, Kuͤnſte und Wiſſenſchaften koͤnten
unter einer unumſchraͤnkten Regierung nicht in
bluͤhendem Stande ſein; der Geiſt muͤßte noth-
wendig gefeſſelt werden, wo die Freiheit einge-
ſchraͤnkt wird. *)


Das
[153]

Das klingt nun ſcheinbar, iſt aber in der
That falſch. Handwerke zwar, als Feldbau,
Manufacturen, u. ſ. f. werden herunter kommen,
wenn wegen der Beſchaffenheit der Regierungs-
art der Gewin und das Eigenthum unſicher ſind.
Warum aber die unumſchraͤnkte Regierung das
Genie eines Meßkuͤnſtlers, Sternkundigen, Dich-
ters oder Redners feſſeln ſolte, das habe ich, ge-
ſtehe ich gern, niemahls entdekken koͤnnen. *)
Sie kan zwar Dichtern und Rednern die Freiheit
entziehen, gewiſſe Materien auf die Art, wie ſie
wuͤnſchen wuͤrden, auszufuͤhren; laͤßt ihnen aber
noch Materien genug zur Uebung des Genies uͤbrig,
wenn ſie anders welches haben. Kan wohl ein
Schriftſteller ſich mit Vernunft beſchweren, er
waͤre gefeſſelt, wenn es ihm nicht frei ſteht, got-
teslaͤſterliche, unzuͤchtige oder aufruͤhriſche Dinge
herauszugeben? Das alles iſt ja in den freieſten
K 5Regie-
[154] Regierungsarten, wenn es anders weiſe und wohl
geordnete ſind, eben ſo ſehr verboten.


Das iſt nun gegenwaͤrtig die algemeine Klage
der franzoͤſiſchen Schriftſteller; in der That aber
nur der ſchlechten. “Kein Wunder, ſprechen ſie,
daß England ſo viele große Geiſter hervorbringt!
Die Leute denken dort, wie ſie wollen, und geben
das heraus, was ſie denken.„


Ganz recht! Wer aber hindert denn ſie, zu
denken, wie ſie wollen? *) Freilich, wenn ſie
auf eine Art denken, die fuͤr alle Religion und
Sitlichkeit verderblich iſt, oder Unruhen im Staat
erregt; ſo wird gewiß eine unumſchraͤnkte Regie-
rung ſie nachdruͤklicher von der Herausgebung ſol-
cher Gedanken abhalten, oder ſie dafuͤr beſtrafen,
als eine freie thun koͤnte. Wie kan das aber
den Geiſt eines Heldendichters, Schauſpieldichters
oder liriſchen Poeten feſſeln? Oder wie verderbt
es die Kunſt eines Redners auf der Kanzel oder
vor Gerichte?


Die
[155]

Die vielen guten franzoͤſiſchen Schriftſteller,
als Corneille, Racine, Boileau, la Fontaine,
die dem goldnen roͤmiſchen Zeitalter den Preis
ſtreitig zu machen ſchienen, bluͤhten unter der
unumſchraͤnkten Herſchaft Ludwigs des vier-
zehnten
*). Selbſt die beruͤhmten Schrift-
ſteller zu Auguſts Zeiten erlangten ihren Ruf
nicht eher, als nachdem bereits dieſer grauſame,
unwuͤrdige Kaiſer dem roͤmiſchen Volke die Feſſeln
angelegt hatte.


Die Wiederherſtellung der Wiſſenſchaften war
auch nicht einer freien Regierung zuzuſchreiben,
ſondern der Aufmunterung und dem Schuze des
Pabſtes Leo des zehnten, und Franz des
erſten
von Frankreich. Der lezte war ſo un-
umſchraͤnkt, als ein Pabſt, der erſte ein ſo wil-
kuͤhrlicher Fuͤrſt, als nur jemahls einer regiert hat.


Verſteh mich nicht unrecht, als wolt’ ich,
indem ich blos ein Vorurtheil tadle, der wilkuͤhr-
lichen
[156] lichen Macht das Wort reden! Ich verabſcheue
ſie von ganzer Sele, und betrachte ſie als eine
grobe, boshafte Verlezung der natuͤrlichen Rechte
der Menſchlichkeit.


Die gelehrte Pedanterie, vor der ich dich nun
hinlaͤnglich gewarnt zu haben glaube, erinnert
mich an eine andere, welche ich die Geſchaͤfts-
pedanterie
nennen moͤgte, und worauf junge
Leute aus Stolz, weil ſie jung bei Geſchaͤften an-
geſtelt werden, immer gern zu verfallen pflegen.
Sie nehmen eine gedankenvolle Miene an, fuͤhren
Klage uͤber die Laſt der Geſchaͤfte, geben geheimnis-
volle Winke von ſich, und ſcheinen ſchwanger von
Geheimniſſen zu ſein, ob ſie gleich in der That ſich
keiner bewußt ſind.


Rede du vielmehr niemahls von Geſchaͤften,
als gegen Leute, mit welchen du ſie zu verrichten
haſt; und wenn du am meiſten zu verrichten haſt,
ſo bemuͤhe dich, dir die Mine eines Muͤßigen
zu geben!


Noch
[157]

Noch muß ich dich vor einem ſehr gewoͤhn-
lichen Fehler junger Leute warnen, der zwar die
Sitten nicht unmittelbar betrift, aber doch nicht
ſelten eben ſo traurige Folgen, als Bosheit und
Laſter, hat. Das iſt die Verſchwendung.


Ein Thor verſchleudert ohne Ruhm und Vor-
theil mehr, als ein Man von Verſtande mit bei-
dem ausgibt. Der lezte wendet ſein Geld ſo an,
wie ſeine Zeit; verthut nie einen Schilling von
dem erſten, noch eine Minute von der andern,
wenn es nicht fuͤr etwas iſt, das entweder ihm
oder andern nuͤzt, oder vernuͤnftiger Weiſe ge-
fallen kan.


Der Thor hingegen kauft, was er nicht
braucht, und bezahlt das nicht, was er noͤthig
hat. Er kan nicht den Reizungen eines Pup-
penkrams widerſtehen. Tabaksdoſen, Uhren,
Stokknoͤpfe, u. ſ. w. bringen ihn an den Bettel-
ſtab. Seine Bedienten und die Handwerkslente
rotten ſich mit ſeiner eignen Traͤgheit zuſammen,
um ihn zu betruͤgen. In kurzer Zeit findet er ſich
mit Erſtaunen unter allen den laͤcherlichen, uͤber-
fluͤßigen
[158] fluͤßigen Dingen in einem Mangel der wahren
Nothwendigkeiten des Lebens.


Ohne Sorgfalt und Ordnung wird ſelbſt nicht
das groͤßte Vermoͤgen, mit ihnen aber wird bei-
nahe das kleinſte zur Beſtreitung alles noͤthigen
Aufwandes hinreichen. So viel du kanſt, be-
zahle alles baar, was du kaufſt, und huͤte dich,
Rechnungen auflaufen zu laſſen! Zahle auch das
Geld ſelbſt aus, nicht durch Bediente, die ſich
entweder einen Schilling vom Pfunde ausbedin-
gen, oder ein Geſchenk dafuͤr fodern, daß ſie,
wie ſie zu ſagen pflegen, ein gutes Wort eingelegt
haben. Wo du dir Rechnungen bringen laſſen
mußt, zum Beiſpiele, wegen des Eſſens, der
Kleider, u. ſ. f. da zahle ſie ordentlich jeden Monat
ab, und zwar mit eignen Haͤnden! Kauf nicht,
aus uͤbel verſtandner Wirthlichkeit, etwas, das du
nicht brauchſt, darum, weil es wohlfeil iſt, noch
auch aus einfaͤltigem Stolze darum, weil es
theuer iſt!


Berechne in einem Buche alles, was du ein-
nimſt und ausgibſt! Ich meine nicht, du ſolſt
die Schillinge und halben Kronen berechnen, mit
denen
[159] denen du die Miethkuͤſchen, Opern, u. ſ. w. be-
zahlſt. Sie ſind der Zeit und Tinte nicht werth, die
ſie koſten wuͤrden. Solche Kleinigkeiten uͤberlaß
albernen Kerlen, denen es um einen Pfennig zu
thun iſt! Merke dir, daß du in der Haushaltung
ſowohl, als in allen andern Theilen des Lebens ge-
hoͤrige Aufmerkſamkeit auf gehoͤrige Dinge wen-
den, und gehoͤrige Verachtung gegen kleine hegen
mußt. Eine ſtarke Sele ſieht die Dinge in ihrem
wahren Verhaͤltniſſe, eine ſchwache aber durch ein
Vergroͤßerungsglas, das aus dem Floh einen Ele-
phanten macht, alle kleine Dinge vergroͤßert,
große aber nicht faſſen kan. Ich habe geſehen,
daß mancher fuͤr einen Geizhals gehalten wurde,
weil er einen Pfennig ſparte, und um zween
Stuͤber ſtrit, da er indeſſen ſich um ſein Vermoͤ-
gen brachte, indem er mehr verthat, als er ein-
nahm, und nicht auf wichtige Ausgaben Acht
hatte, die uͤber ſeinen Verſtand gingen.


Das ſichre Kenzeichen eines geſunden, ſtarken
Geiſtes iſt, in jeder Sache die feſtgeſezten Grenzen
ausfindig zu machen, uͤber die disſeits und jen-
ſeits
[160] ſeits hinaus nichts weiter recht iſt *). Sie wer-
den durch eine ſehr zarte Linie bezeichnet, die blos
guter Verſtand und Aufmerkſamkeit entdekken koͤn-
nen, und die fuͤr gemeine Augen viel zu fein iſt.
Bei den Sitten heißt dieſe Linie Wohlanſtaͤndig-
keit; was daruͤber hinaus geht, iſt beſchwerliches
Zeremonienwerk; was darunter zuruͤkbleibt, un-
anſtaͤndige Nachlaͤßigkeit und Achtloſigkeit. In
der Ausuͤbung iſt ſie die Scheidewand zwiſchen
praleriſcher, puritaniſcher Strenge und einer la-
ſterhaften Gelindigkeit. In der Religion trent
ſie Aberglauben von Gotloſigkeit, und kurz, jede
Tugend von der mit ihr verwandten Untugend
oder Schwachheit.


Am meiſten huͤte dich vor der Verſchwen-
dung deiner Zeit
, beſonders derjenigen, welche
deinen Studien oder deinen Geſchaͤften geheiliget
ſein muß. In deinem Alter darfſt du dich nicht
ſchaͤmen, denen, welche dich zu unzeitigen Luſt-
barkeiten verfuͤhren wollen, zu ſagen: du muͤß-
teſt um Entſchuldigung bitten; denn du waͤreſt
genoͤthigt,
[161] genoͤthigt, dieſe Zeit mit deinem Hofmeiſter,
Herrn Harte, zuzubringen; ich, dein Vater,
wolt’ es ſo haben; und du duͤrfteſt nicht anders
verfahren. Schieb nur die ganze Schuld auf
mich; wiewohl ich uͤberzeugt bin, daß es eben
ſowohl deine, als meine Neigung iſt. Solchen
albernen muͤßigen Leuten, denen ihre Zeit zu lang
wird, und die gern auch andre um die ihrige
bringen wolten, darf man nicht erſt Gruͤnde vor-
legen; damit wuͤrde man ihnen wirklich zu viel
Ehre erweiſen. Die kuͤrzeſte, hoͤflichſte Antwort
iſt die beſte. Ich kan nicht, ich darf nicht; nicht
aber, ich wil nicht. Denn wolteſt du dich mit ihnen
auf die Nothwendigkeit des Lernens und auf die
Nuͤzlichkeit der Wiſſenſchaften einlaſſen, das gaͤbe
blos Stof zu ihren einfaͤltigen Scherzreden, die
du zwar, wie ich verlange, nicht achten, jedoch
auch nicht veranlaſſen ſolſt.


Ich wil einmahl annehmen, du befaͤndeſt dich
zu Rom, ſtudierteſt jeden Vormittag ſechs Stun-
den nach einander mit Herrn Harte, braͤchteſt
deine Abende in der beſten Geſelſchaft zu, beobach-
teteſt deren Sitten, und bildeteſt dich nach ihnen.
Theophron 2 Th. LFerner
[162] Ferner wil ich eine Anzahl muͤßiger, herumſchlen-
dernder, ungelehrter Englaͤnder annehmen, deren
es insgemein dort einige gibt, die lediglich unter
einander leben, in ihren Wohnungen zuſammen
eſſen, trinken und ſpaͤt aufſizen, und wenn ſie
betrunken ſind, Lerm und Haͤndel anfangen. Von
dieſen artigen Kerlen wil ich einen herausheben,
und dir ein Geſpraͤche zwiſchen dir und ihm liefern,
ſo, wie ich wohl ſagen darf, daß es auf ſeiner
Seite, und, wie ich hoffe, daß es auf der deini-
gen lauten wird.


Er. Wollen Sie morgen zu mir zum Fruͤh-
ſtuͤk kommen? Unſrer werden vier bis fuͤnf Lands-
leute beiſammen ſein. Wir haben Wagen beſtelt,
und wollen nach dem Fruͤhſtuͤkke eine Spazier-
fahrt auf das Land vornehmen.


Du. Es thut mir ſehr leid, daß ich nicht
kan. Ich muß mich den ganzen Vormittag zu
Hauſe halten.


Er. Nun gut, ſo kommen wir, und fruͤh-
ſtuͤkken bei Ihnen.


Du. Das kan auch nicht geſchehen. Ich bin
bereits verſprochen.


Er.
[163]

Er. Nun, ſo mag es uͤbermorgen ſein.


Du. Ihnen die Wahrheit zu ſagen, ſo geht
es an keinem Tage Vormittags an. Denn vor
zwoͤlf Uhr gehe ich nicht aus, und halte auch keine
Geſelſchaft zu Hauſe.


Er. Was den Teufel fangen Sie denn da
bis Glokke zwoͤlf allein an?


Du. Ich bin nicht allein, Herr Harte iſt
bei mir.


Er. Nun, was Teufel haben Sie denn mit
ihm vor?


Du. Wir treiben zuſammen verſchiedne Stu-
dien, und unterreden uns.


Er. Wahrhaftig, eine artige Zeitverkuͤrzung!
Wollen Sie denn etwan ein Geiſtlicher werden?


Du. Nein! aber ich denke, ich muß meines
Vaters Befehlen nachkommen.


Er. Wie! haſt du nicht mehr Wiz, als daß
du dich um einen alten Kerl bekuͤmmerſt, der tau-
ſend Meilen weit iſt?


Du. Wenn ich mich nicht um ſeine Befehle
bekuͤmmerte, wuͤrd’ er ſich nicht um meine Wech-
ſel bekuͤmmern.


L 2Er.
[164]

Er. Damit droht dir der alte Narr? Leute,
die bedroht werden, leben deswegen doch lange.
Kehre dich niemahls an Drohungen!


Du. Ich kan nicht ſagen, daß er mir in
meinem Leben gedroht haͤtte. Mir deucht aber,
ich thue am beſten, wenn ich ihn nicht aufbringe.


Er. Haha! Sie wuͤrden einen erbosten
Brief von dem alten Kerl erhalten; und damit
waͤr’ es alle.


Du. Sie kennen ihn gar nicht recht. Er thut
allezeit mehr, als er ſagt. Er iſt, ſo viel ich mich
entſinne, Zeit Lebens noch nicht gegen mich erbost
geweſen. Solt’ ich ihn aber aufbringen, ſo bin
ich ſicher, er wuͤrde mir niemahls vergeben. Er
wuͤrde auf eine kaltbluͤtige Art unbeweglich ſein.
Vergebens wuͤrde ich bitten und flehen, und mich
todt ſchreiben.


Er. Nun, ſo iſt er ein alter Schurke; das
iſt alles, was ich ſagen kan. Aber folgen Sie
nicht auch fein from Ihrer Kindermuhme — wie
heißt ſie doch? — Herrn Harte!


Du. Ich kan es nicht laͤugnen.


Er.
[165]

Er. So plagt er Sie alſo den ganzen ge-
ſchlagnen Morgen mit Griechiſch, Latein, und
Logik, und ſolchem Zeuge? Verwuͤnſcht! Ich habe
auch ſo eine Kindermuhme; aber niemahls hab’ ich
mit ihr in meinem Leben in ein Buch gegukt. Ich
habe die ganze Woche nicht einmahl ihr Geſicht
geſehen, und fragte den Teufel darnach, wenn ich
es auch niemahls wieder ſehen ſolte.


Du. Mein Hofmeiſter verlangt nie etwas
von mir, das nicht vernuͤnftig iſt, und zu meinem
Beſten gereicht. Daher bin ich gern in ſeiner
Geſelſchaft.


Er. Klingt ja, auf meine Ehre, recht ſpruch-
reich und erbaulich! Auf dieſe Art wird man Sie
fuͤr einen recht frommen jungen Menſchen halten.


Du. Nun, das wird eben kein großer Scha-
de ſein.


Er. Wollen Sie denn alſo morgen auf den
Abend zu uns kommen? Mit Ihnen werden un-
ſrer zehn ſein. Ich habe gar vortreflichen Wein.
Da wollen wir uns recht luſtig machen.


Du. Ich danke Ihnen recht ſehr. Aber ich
bin morgen auf den ganzen Abend verſprochen.
L 3Erſt
[166] Erſt muß ich zum Kardinal Albani gehen; und
darauf bei der venezianiſchen Geſandtin ſpeiſen.


Er. Wie zum Teufel koͤnnen Sie daran Ge-
fallen finden, beſtaͤndig mit den Auslaͤndern um-
zugehen? Ich ſeze keinen Fuß zu ihnen, mit allen
ihren verdamten vielen Umſtaͤnden! Ich bin in
ihrer Geſelſchaft unruhig, und, ich weiß nicht,
wie es koͤmt, aber ich ſchaͤme mich.


Du. Ich ſchaͤme mich nicht, und fuͤrchte mich
auch nicht. Ich bin ganz ruhig bei ihnen; und
ſie ſind ruhig in meiner Geſelſchaft. Ich lerne
ihre Sprache, und bemerke ihre Gemuͤthsarten,
indem ich mit ihnen ſpreche. Das iſt ja wohl der
Grund, warum wir auſſer Landes geſchikt wer-
den. Nicht wahr?


Er. Ich haſſe die Geſelſchaft ſolcher ſitſamen
Weiber, ſolcher Staatsdamen. Ich, meines Orts,
weiß gar nicht, was ich zu ihnen ſagen ſol.


Du. Sind Sie denn jemahls mit ihnen
umgegangen?


Er. Nein, umgegangen eben nicht. Aber
ich bin doch zuweilen mit ihnen in Geſelſchaft gewe-
ſen, wiewohl gar ſehr wider meinen Willen.


Du.
[167]

Du. Wenigſtens haben ſie Ihnen doch nicht
geſchadet. Das iſt vermuthlich mehr, als Sie
von denen Frauensleuten ſagen koͤnnen, mit wel-
chen Sie umgehen.


Er. Ich geſtehe, das iſt wahr. Aber bei
alle dem wolt’ ich lieber ein halbes Jahr lang
mit meinem Wundarzte zu thun haben, als ein
ganzes Jahr mit Ihren Staatsdamen.


Du. Sie wiſſen, der Geſchmak iſt verſchie-
den; und jeder folgt immer gern ſeinem eignen.


Er. Richtig! Aber, Stanhope, du haſt
einen verteufelt ſeltſamen Geſchmak. Den ganzen
Vormittag biſt du bei deiner Kindermuhme, den
ganzen Abend in Staatsgeſelſchaften, und den
ganzen langen Tag fuͤrchteſt du dich vor dem alten
Vater in England. Du biſt doch ein wunderli-
cher Kerl. Ich fuͤrchte, man wird gar nichts aus
dir machen koͤnnen.


Du. Das fuͤrchte ich wirklich auch.


Er. Nun, ſo mags ſein! Gute Nacht! Sie
haben doch, hoffe ich, nichts dawider, wenn ich
mich heute Abend wakker betrinke? Denn das
wird gewiß zutreffen.


L 4Du.
[168]

Du. Nicht das geringſte; auch dawider
nichts, wenn Sie ſich morgen wakker krank be-
finden. Und das wird eben ſo gewiß zutreffen.
Alſo gute Nacht!


Du wirſt bemerken, daß ich dir nicht die trif-
tigen Gruͤnde in den Mund gelegt habe, die dir,
wie ich ſicher weiß, bei ſolcher Gelegenheit beifal-
len wuͤrden; als Pflicht und Liebe gegen mich,
Achtung und Freundſchaft fuͤr Herrn Harte, Sorge
fuͤr deinen eignen ſitlichen Ruf und fuͤr alle die
Pflichten eines Menſchen, Sohns, Schuͤlers und
Buͤrgers. Dieſe tuͤchtigen Gruͤnde wuͤrden gegen
ſolche ſeichte Maulaffen nur weggeworfen ſein.
Ueberhaupt uͤberlaß ſie ihrer Unwiſſenheit, ihren
ſchmuzigen, ſchaͤndlichen Laſtern! Sie werden
Wirkungen derſelben ſtrenge empfinden, wenn es zu
ſpaͤt ſein wird. Ohne die troſtvolle Zuflucht der Ge-
lehrſamkeit, und bei aller der Krankheit und den
Schmerzen eines zu Grunde gerichteten Magens
und faulenden Leichnams iſt das Alter, wenn
ſie ja noch dazu kommen, ein unruhiges und
ſchimpfliches. Das Laͤcherliche, das ſolche Kerle auf
diejenigen zu bringen ſuchen, die ihnen nicht aͤhnlich
ſind,
[169] ſind, iſt, nach der Meinung aller Verſtaͤndigen,
die zuverlaͤßigſte Lobrede.


Ich predige dir izt nicht, wie ein alter Kerl,
uͤber geiſtliche oder ſitliche Texte vor. Ich bin
uͤberzeugt, der beſte Unterricht dieſer Art iſt dir
entbehrlich. Sondern ich rathe dir blos als ein
Freund, als ein Weltman, und als einer, der
nicht haben wil, daß du alt in der Jugend wer-
den, ſondern alle Vergnuͤgungen genießen ſolſt,
auf welche die Vernunft weiſet, und fuͤr die der
Anſtand gut ſagt. Ich nehme daher an, blos
auf einige Zeit, (denn anders laͤßt es ſich gar
nicht annehmen) es waͤren alle die Laſter dieſer
liederlichen Burſche an ſich ſelbſt volkommen un-
ſchuldig: ſo wuͤrden ſie doch immer die, welche
ſie ausuͤben, herunterſezen und entehren, ihre
Erhebung in der Welt durch Erniedrigung ihres
Rufs hindern, ihnen niedrige Denkungsart, un-
edle Sitten beibringen, die ſich gar nicht mit dem
Anſehen vertragen, das ſie ſonſt in der geſitteten
Geſelſchaft und in wichtigen Geſchaͤften erlan-
gen koͤnten.


L 5Dieſe
[170]

Dieſe Betrachtung wird, hoffe ich, nebſt dei-
nem eignen geſunden Verſtande hinlaͤnglich ſein,
dich wieder die Verfuͤhrungen, Einladungen, oder
ruchloſen Ermahnungen (denn Verſuchungen kan
ich ſie nicht nennen) ſolcher ungluͤklichen jungen
Leute zu wafnen. Meide ſie aber nicht nur in
der That, ſondern auch dem Scheine nach, wilſt
du anders in guter Geſelſchaft wohl gelitten ſein.
Denn man wird ſtets ſich ſcheuen, denjenigen auf-
zunehmen, der von einem Orte koͤmt, wo die Peſt
wuͤthet, ſolte er auch noch ſo geſund ausſehen.


Aber es gibt eine andere Gattung von Ver-
fuͤhrern, welche noch unweit gefaͤhrlicher iſt, als
dieſe, weil ſie ſich von einer ſehr verbindlichen
und einnehmenden Seite darzuſtellen pflegen.
Das ſind die ſchoͤngekleideten und ſchoͤnredenden
Abentheurer und Schmarozer *), deren man in
jeder großen Hauptſtadt, nirgends aber haͤufiger,
als in Paris findet. Ich wil dir dieſe ſchaͤndliche
Brut etwas deutlicher beſchreiben.


Da
[171]

Da redet dich ein Herr Marquis oder ein
Herr Ritter in einem ſchoͤnen, mit Spizen beſezten
Rokke und niedlichen Aufzuge in der Komoͤdie
oder an einem andern oͤffentlichen Orte an; gewint
auf den erſten Anblik unendliche Achtung fuͤr dich;
ſieht, daß du ein Fremder vom erſten Range biſt;
bietet dir ſeine Dienſte an, und wuͤnſcht nichts
eifriger, als dir, ſo viel nur in ſeinem geringen
Vermoͤgen ſteht, zu den Annehmlichkeiten des
Orts zu verhelfen. Er kent einige Frauenzimmer
von Stande, die eine kleine, annehmliche Ge-
ſelſchaft, eine kleine, allerliebſte Abendmahlzeit mit
rechtſchafnen Leuten lieber haben, als den Tu-
mult und die Zerſtreuung der großen Welt. Er
wird mit dem groͤßten erſinlichen Vergnuͤgen die
Ehre haben, dich bei dieſen vornehmen Damen
einzufuͤhren.


Gut, wenn du nun dieſes freundliche Er-
bieten annaͤhmſt, und mit ihm gingeſt, wuͤrdeſt
du im dritten Stokwerke eine ſchoͤne, ge-
ſchminkte, freche Hure finden, in einem verſchoſ-
ſenen, aus der zweiten oder dritten Hand ge-
kauften, ehemahls praͤchtigen Kleide in Geſel-
ſchaft
[172] ſchaft einiger ziemlich wohlgekleideten Gauner, die
mit den Titeln Marquis, Graf und Ritter beehrt
werden. Das Frauenzimmer empfaͤngt dich auf
die hoͤflichſte, gefaͤlligſte Art. Wiewohl ſie die
Eingezogenheit liebt, und die große Welt ſcheut,
bekent ſie ſich doch dem Herrn Marquis fuͤr ver-
bunden, daß er ihr einen ſo unſchaͤzbaren, unver-
gleichlichen Bekanten, zugefuͤhrt hat, als dich.
Ihre Beſorgniß iſt nur, wie ſie dir die Zeit
kuͤrzen wil; denn in ihrem Hauſe geſtattete ſie
niemahls, hoͤher als um ein franzoͤſiſches Pfund
zu ſpielen. Koͤnteſt du dir aber bis zum Abend-
eſſen ein ſolches niedriges Spiel gefallen laſſen,
wohl gut!


Du ſezeſt dich denn zu dem kleinen Spiele
nieder. Deine gute Geſelſchaft ſorgt dafuͤr,
dich funfzehn bis ſechszehn franzoͤſiſche Pfund
gewinnen zu laſſen, und nimt daher Gelegenheit,
dein gutes Gluͤk und dein geſchiktes Spiel zu
ruͤhmen. Nunmehr erſcheint das Abendeſſen;
und ein Gutes iſt es, weil man ſich darauf ver-
laͤßt, daß du dafuͤr bezahlen ſolſt. Die Mar-
qutſin vertrit auf das artigſte die Stelle der
Wirthin,
[173] Wirthin, ſchwazt von ſchoͤnen Geſinnungen und
guten Sitten, durchſpikt das mit Kurzweile, und
gibt dir Seitenblikke, die dir ſagen, du duͤrfteſt
mit der Zeit nicht verzweifeln, ihr beſonderer
Guͤnſtling zu werden.


Nach dem Abendeſſen wird zufalsweiſe von
Pharao, Lanſquenet oder Quince Erwaͤh-
nung gethan. Der Ritter thut den Vorſchlag,
eins davon auf ein halbes Stuͤndchen zu ſpielen.
Die Marquiſin ſchreit dawider, und ſchwoͤrt, ſie
wird es nimmermehr zugeben. Doch laͤßt ſie
ſich zulezt bewegen, weil man ihr verſichert, es
ſol nur um eine Kleinigkeit geſpielt werden.


Nun iſt denn der erwuͤnſchte Augenblik ge-
kommen. Das große Unternehmen hebt ſich an.
Du wirſt wenigſtens um alles dein bares Geld
betrogen; und bleibſt du ſpaͤte dort, ſo maust
man dir vermuthlich Uhr und Tabaksdoſe, oder
nimt dir wohl, groͤßerer Sicherheit halben, gar
das Leben.


Das iſt, ich verſichere dich, keine uͤbertriebene,
ſondern eine buchſtaͤbliche Beſchreibung deſſen,
was in großen Hauptſtaͤdten rohen, unerfahrnen
Fremden
[174] Fremden alle Tage begegnet. Merke dir, daß
du alle dieſe hoͤflichen Herrn, die auf den erſten
Anblik ſolchen Geſchmak an dir finden, ſehr
froſtig aufnehmen mußt, und ſorge dafuͤr, daß
du allezeit vorher verſprochen ſeiſt, ſie moͤgen dir
vorſchlagen, was ſie nur wollen.


Du kanſt aber auch zuweilen in ſehr großen
und guten Geſelſchaften an verſchlagne Leute
kommen, die großes Verlangen tragen, folglich
auch ſicher ſind, dir dein Geld abzugewinnen,
ſo bald ſie dich nur zum Spielen bringen koͤnnen.
Seze es daher als eine unveraͤnderliche Regel feſt,
niemahls mit Mansleuten zu ſpielen, ſondern
nur mit geſittetem Frauenzimmer, und zwar nie-
drig, oder auch mit Mansperſonen und Frauen-
zimmern vermiſcht.


Zugleich aber, wenn man dich noͤthigen wil,
hoͤher zu ſpielen, als du Luſt haſt, ſchlage es
nicht altklug und ſpruchreich aus, durch Anfuͤh-
rung der Thorheit, das auf das Spiel zu ſezen,
was doch jeder ungern verlieren wuͤrde, gegen
das, deſſen Gewinn er nicht noͤthig hat; ſondern
weiche ſolchen Einladungen nur luſtig und kurz-
weilend
[175] weilend aus. Sage, du wuͤrdeſt es vielleicht
thun, wenn du ſicher voraus wuͤßteſt, daß du
verlieren wuͤrdeſt; da du aber eben ſo gut gewin-
nen koͤnteſt, ſo ſcheuteſt du dich vor der Be-
ſchwerlichkeit des Reichthums, ſeit der Zeit, da
du geſehen haͤtteſt, wie ſehr er dem armen Har-
lekin zur Laſt gefallen waͤre, und du haͤtteſt daher
beſchloſſen, es niemahls darauf zu wagen, des
Tages uͤber zwei Piſtolen zu gewinnen. Dieſe
leichte, ſcherzhafte Art, Einladungen zu Laſtern
und Thorheit abzulehnen, ſchikt ſich beſſer fuͤr
dein Alter, und richtet zugleich mehr aus, als
ernſthafte philoſophiſche Weigerungen.


Einen jungen Menſchen, der keinen eignen
Willen zu haben ſcheint, ſondern alles thut, was
von ihm gefordert wird, nent man zwar einen
gutherzigen, zugleich aber haͤlt man ihn auch fuͤr
einen ſehr einfaͤltigen jungen Menſchen. Handle
du weiſe, nach tuͤchtigen Grundſaͤzen, aus rich-
tigen Bewegungsgruͤnden, behalte ſie aber fuͤr
dich, und rede niemahls ſpruchreich! Ladet man
dich zum Trinken ein, ſo ſprich: du wolteſt es
zwar gern thun, koͤnteſt aber ſo wenig vertragen,
daß
[176] daß es nicht der Muͤhe werth waͤre, anzufangen.
Auf dieſe oder eine aͤhnliche Weiſe wirſt du die
laſterhaften Zumuthungen ſolcher Unholde ableh-
nen, ohne in Gefahr zu gerathen, dich mit ihnen
balgen zu muͤſſen.


Du haſt mich oft von Georgen reden hoͤren,
dem Sohne meines verſtorbenen wuͤrdigen Freun-
des, Sir Wilhelm F. Du weißt noch nicht
die Schritte, die dieſen vormahls vielverſpre-
chenden Juͤngling ins Verderben gefuͤhrt haben.
Da ſie nun ſehr nuͤzliche Lehren fuͤr dich mit ſich
fuͤhren: ſo glaube ich meine Warnung vor jeder
Art von Verfuͤhrung und Ausſchweifung nicht
ſchiklicher ſchließen zu koͤnnen, als wenn ich dir
von dieſen Schritten eine kurze Beſchreibung
mache.


Nachdem Georg von der Einſchraͤnkung
der Schulzucht frei geworden war, betrat er auf
der hohen Schule den Schauplaz des Muͤßig-
gangs und der Zerſtreuung.


Als er zuerſt zu den jungen Mitgliedern ſeiner
neuen Geſelſchaft kam, bemerkte er, daß er
uͤberal
[177] uͤberal mit der froſtigen Miene der Gleichguͤltig-
keit, oder dem ſorgloſen Laͤcheln der Verachtung
aufgenommen ward. Es fehlte ihm nicht ſo ſehr
an Scharfſicht, daß ihm die Urſache, warum er
ſo wenig galt, lange haͤtte unbekant bleiben ſollen.
Ein Kopf, der durch nichts als das verſchoͤnert
war, was ihm die Natur verliehen hatte, einige
herabhaͤngende Haarlokken, ein Rok mit Borten,
die voͤllig zwei Zol laͤnger waren, als es die Mode
des Tages erfoderte, hatten ihn zum Gegenſtande
einer uͤberaus großen Verachtung gemacht.


Er hatte dieſe Urſachen kaum entdekt, als er
ſogleich Anſtalt traf, ſie aus dem Wege zu raͤu-
men. Es ward ein Schneider vom beſten Ge-
ſchmakke aufgeſucht; der brachte ein mit groͤßter
Kunſt verfertigtes Kleid. Des Haaraufſezers
Geſchiklichkeit ward verſchwenderiſch angewandt.
Ihm gluͤhte das Herz, als er ſich ſo ausgeruͤſtet
ſah, und mit hizigen Schritten eilt’ er nun zu ſei-
nen Kameraden.


Ermuntert durch den lauten Beifal, der ihm
nun an allen Orten, wohin er nur kam, entgegen
ſtroͤmte, beſchloß er, ſich zum Anfuͤhrer im guten
Theophron 2. Th. MTon
[178] Ton auf der hohen Schule aufzuwerfen. Bis
dahin hatt’ er ſich mit geringfuͤgigen Luſtbarkeiten
begnuͤgt, die aber unſchuldig, und dem Stande
eines ſtudirenden Juͤnglings angemeſſen waren.
Allein nunmehr erweiterten ſich ſeine Verbindun-
gen, folglich auch ſeine Abſichten.


Um den Man voͤllig auszubilden, fand er,
daß es noͤthig waͤre, ſich durch Thaten hervorzu-
thun, die uͤber eines ſchwachen Schulknaben Kraͤfte
hinausgingen. Alsbald ward er, ohne Antrieb
der Leidenſchaft, ein Wolluͤſtling, ohne Liebe zum
Weine, ein Trunkenbold.


Was war aber die Folge dieſer ploͤzlichen Ver-
aͤnderung? — An die Stelle unſchuldiger Luſtig-
keit, und einer natuͤrlichen Heiterkeit trat erzwung-
nes Laͤcheln und erkuͤnſtelter Leichtſin. Wiewohl
ihm ſeine Auffuͤhrung leid war, hatt’ er doch nicht
Standhaftigkeit genug, ſie zu beſſern. Mit Wi-
derſtreben kehrt’ er zu Vergnuͤgungen zuruͤk, die
er in ſeinem Herzen verabſcheute, um den zudrin-
genden Gedanken Einhalt zu thun, und ſein ſit-
liches Gefuͤhl immer mehr und mehr abzuſtumpfen.
Erfahrung hatte ihm nunmehr ſchon genug vom
Laſter
[179] Laſter gezeigt, um ihm Abſcheu dagegen einzufloͤßen;
auch banden ihn die Feſſeln der Gewohnheit noch
nicht ſo feſt, daß er nicht haͤtte wieder zu ſeiner
Freiheit gelangen koͤnnen. Das war aber auch
der entſcheidende Zeitpunkt, da es noch moͤglich
fuͤr ihn war, zuruͤkzutreten. Allein er ward
verabſaͤumt.


Durch oͤftere Wiederholung ausgelaſſener
Vergnuͤgungen began der ungluͤkliche Juͤngling
jenes Mistrauen zu verlieren, das den Neuling
im Laſter noch eine Zeitlang zu begleiten pflegt.
Wenn er an ſeine anfaͤngliche Beſorgniß und Unruhe
zuruͤkdachte, kont’ er nicht umhin, ſich uͤber ſein
voriges kindiſches Weſen zu wundern. Die ſorg-
loſe Luſtigkeit ſeiner Kammeraden, deren die mei-
ſten viel aͤlter als er, und lange ſchon gegen die
Schaamroͤthe der Sitſamkeit, gegen die Empfin-
dungen der Unſchuld, Fremdlinge geworden waren,
bewog ihn, auf der Thorheit Laufbahn fortzuge-
hen; und bald that er es den aͤrgſten von der
Geſelſchaft in allen Vorzuͤgen einer voͤlligen Lie-
derlichkeit gleich.


M 2Wie
[180]

Wie wahr iſt doch die Anmerkung, daß wir
das Gute und das Boͤſe in unſerm verfloſſenen
Leben nie richtiger beurtheilen, als wenn wir auf
das Siechbette gelegt werden! Unſer junge Held
ward von einem heftigen Fieber befallen, und
man that den Ausſpruch, er waͤre dem Tode nahe.
Nunmehr aͤußerte er unter haͤufigen Seufzern ein
Gefuͤhl der Reue, graͤmte ſich uͤber die Thorheiten
der Jugend, und beſchloß, wenn der Himmel
ihm die Geſundheit wieder ſchenken ſolte, ſich der
Maͤßigkeit und Tugend zu widmen.


Der Arzt machte Hofnung — und es vergin-
gen wenig Wochen, ſo war er, wie vorher, wieder
bei Geſundheit und Staͤrke.


Hier gab es nun eine anderweitige Gelegen-
heit, zu den gelaſſenen, unſchuldigen Vergnuͤgun-
gen eines gelehrten Lebens, desjenigen, fuͤr das
er beſtimt war, zuruͤkzukehren. Die Leidenſchaf-
ten lagen im Schlafe, die Staͤrke der Gewohn-
heit war uͤberwaͤltigt worden, und jede Anlokkung
war in der Entfernung. Unſer junge Student
ergrif den guͤnſtigen Augenblik, gluͤhte vom Ge-
fuͤhle ſeiner eigenen Beſſerung, und kurz, er war
gluͤklich.

An
[181]

An Befolgung der Vorſchriften des Anſtandes
laͤßt die luſtige Welt es ſelten fehlen. Die Bekan-
ten des Geneſeten draͤngten ſich herzu, ihm ihre
Gluͤkwuͤnſche abzuſtatten. Anfangs nahm ſie der
Juͤngling mit der Froſtigkeit eines Menſchen auf,
der alle ſeine Vergehungen ihrem Beiſpiele und
ihrer Aufmunterung zuſchrieb. Nun ſahen ſie
wohl, daß er es an der gewoͤhnlichen luſtigen
Begruͤßung ermangeln ließe. Das ſchrieben ſie
aber der Ermattung der kuͤrzlich uͤberſtandnen
Krankheit zu. Sie wiederhohlten ihre Beſuche,
und durch ihr Anhalten uͤbermocht, kehrte er wie-
der zu ſeinen verlaſſenen Freunden zuruͤk.


Nunmehr ward ſein Herz wider den Angrif der
innern Ueberzeugung unwiederbringlich abgehaͤrtet.
Die jugendlichen Laſter, denen er bisher nachgehan-
gen hatte, kamen ihm veraͤchtlich vor. Sein Genie,
ſo großen Umfang es auch hatte, fand doch im kur-
zen am Spieltiſche reichlichen Vorrath zur Beſchaͤf-
tigung und Unterhaltung. Die ſchnel auf einander
folgenden Hofnungen und Beſorgniſſe uͤbten ſein
Gemuͤth ſo ſehr, und erwekten zur Zeit des Spie-
lens ſo heftige Regungen, daß ihm in der Zwi-
M 3ſchen
[182] ſchenzeit, da ihn weder Karten noch Wuͤrfel
beſchaͤftigten, das Leben ſelbſt unſchmakhaft und
unertraͤglich ward.


Die Flaſche iſt das nie ermangelnde Huͤlfs-
mittel ſolcher, die von der Langenweile genoͤthiget
werden, die Kuͤnſte der Verſchwendung des ſchaͤz-
barſten von allen Guͤtern, der Zeit, zu ſtudiren.
Die Wuͤrfel zu ſchuͤtteln und den Pokal zu bekraͤn-
zen, das war nunmehr Georgens ganze Beſchaͤf-
tigung. Die erſtern ſchwaͤchten ſein Vermoͤgen;
der leztere richtete ſeine Geſundheit zu Grunde.


Doch ich wuͤrde kein Ende finden, wenn ich
die vielen Abwechslungen von Gluͤk und Ungluͤk,
von Erhebung und Niederſenkung, denen der
Ungluͤkliche ausgeſezt war, herzaͤhlen wolte. Es
ſei genug, dir zu ſagen, daß der beklagenswuͤrdige
Juͤngling ein mehr als hinreichendes Vermoͤgen
verſpielte, das ihm im Alter Mittel verſchaft haben
wuͤrde, in Frieden der Ruhe zu genießen; daß
er eine Leibesbeſchaffenheit und Selenkraͤfte zu
Grunde richtete, die ihn zum ſchaͤzbaren Mitgliede
des Staats haͤtten machen koͤnnen; daß er ohne
Achtung lebte, und unbedauert ſtarb.


Ich
[183]

Ich ſchließe dieſen weitlaͤuftigen Unterricht
mit einer Betrachtung, welche dich ermuntern
wird, jede Vorſchrift, die ich dir gegeben habe,
nach deinem beſten Vermoͤgen in Ausuͤbung zu
bringen.


Bei allen Lehrgebaͤuden, es ſei in der Religion,
Staatskunſt, Sittenlehre, oder in irgend einer
andern Wiſſenſchaft, iſt allezeit Volkommenheit der
vorgeſezte, wiewohl moͤglicher Weiſe nie zu errei-
chende Endzwek. Bis jezt wenigſtens hat derſelbe
noch von keinem Sterblichen erreicht werden koͤn-
nen. Allein diejenigen, welche nach dieſem Ziele
eifrig ſtreben, werden ihm ohnſtreitig naͤher kom-
men, als die, welche aus Muthloſigkeit, Nach-
laͤßigkeit und Traͤgheit, das, was durch Geſchik-
lichkeit auszurichten waͤre, lieber dem Zufalle
uͤberlaſſen wollen.


Dieſer Saz laͤßt ſich fuͤglich auch auf das ge-
meine Leben anwenden. Diejenigen, welche nach
Volkommenheit trachten, werden ihr unendlich
naͤher kommen, als die verzagten, muthloſen Se-
len, die alberner Weiſe bei ſich ſelbſt denken:
“volkommen iſt ja nun einmahl niemand; Vol-
M 4„kommen-
[184] „kommenheit iſt ja nun einmahl doch nicht zu er-
„reichen; der bloße Verſuch iſt ein Hirngeſpinſt.
„Ich mache es, ſo gut wie andre; warum ſolt’
„ich mich bemuͤhen, das zu werden, was ich nicht
„werden kan, und nach dem gewoͤhnlichem Laufe
„der Dinge nicht zu werden brauche, nemlich
„volkommen?


Ich weiß ſicher, ich darf dir nicht erſt
die Schwachheit und Thorheit dieſes Schluſſes
aufdekken, wenn er anders den Nahmen eines
Schluſſes verdient. Er wuͤrde uns ja von der
Anwendung aller und jeder unſrer Kraͤfte abhalten,
und ihr Einhalt thun. Ein Man von Verſtande
und Muthe ſagt vielmehr zu ſich ſelbſt, “wiewohl
„das Ziel der Volkommenheit, in Betrachtung
„der Unvolkommenheit unſrer Natur, nicht zu
„erreichen iſt, ſo ſol es doch an meiner Sorge,
„Bemuͤhung und Aufmerkſamkeit nicht fehlen, ihr
„ſo nahe als moͤglich zu kommen. Taͤglich wil ich
„mich ihr mehr naͤhern. Vielleicht kan ich ſie zulezt
„erreichen. Wenigſtens (und ich weiß ſicher, das
„ſteht in meiner Macht) wil ich nicht weit davon
„bleiben.„



[185]

Denkſpruͤche.


Schikliche Verſchwiegenheit iſt verſtaͤndiger
Leute einzige Heimlichkeit. Geheimniß-
volles Weſen hingegen iſt die Verſchwiegenheit
ſchwachſinniger oder argliſtiger Menſchen.


Wer nichts ſagt, oder wer alles ſagt, dem
wird man ebenfals nichts ſagen.


Wenn ein Thor ein Geheimniß weiß, ſagt er
es heraus, darum, weil er ein Thor iſt. Wenn
ein Betruͤger eins weiß, ſagt er es da, wo es
ſein Vortheil mit ſich bringt. Frauenzimmer
aber und junge Leute ſind ſehr geneigt, alle Ge-
heimniſſe, die ſie nur wiſſen, aus Eitelkeit aus-
zuplaudern, blos um ſich etwas darauf zu gute
zu thun, daß man ſie ihnen anvertraut hat. Traue
du alſo in dieſem Stuͤkke keinem von beiden.


Unachtſamkeit auf das gegenwaͤrtige Geſchaͤft,
es beſtehe worin es wolle, oder der Verſuch,
zwei Dinge zugleich zu thun — ſiehe da ein un-
triegliches Kenzeichen kleiner, und thoͤrichter Selen!


Wer ſein Gemuͤth, ſeine Aufmerkſamkeit und
Miene nicht in ſeiner Gewalt hat, der ſolte ſich
gar nicht fuͤr einen Man von Geſchaͤften halten.
M 5Der
[186] Der ſchwachſinnigſte Menſch von der Welt kan
ſich der Leidenſchaften des Weiſeſten zu Nuze ma-
chen. Ein Menſch ohne Aufmerkſamkeit kan
ſein Geſchaͤft nicht kennen, folglich auch nicht vol-
bringen. Und wer ſeine Miene nicht in ſeiner
Gewalt hat, der koͤnte eben ſo gut ſeine Gedanken
herſagen, als er ſie herweiſet.


Muthig iſt jezt ein Modewort. Muthig
handeln, muthig reden, bedeutet blos ſo viel als
hizig handeln und unbeſonnen reden. Ein ver-
ſtaͤndiger zeigt ſeinen Muth durch ſanfmuͤthige
Worte und entſchloßne Handlungen; er iſt weder
hizig noch ſchuͤchtern.


Wenn von ohngefaͤhr ein verſtaͤndiger Man
in jenem unangenehmen Zuſtande iſt, da er ſich
ſelbſt mehr als ein mahl fragen muß: was ſol
ich thun
? — ſo wird er ſich antworten, nichts!
Wenn ſeine Vernunft ihm keinen guten Weg zeigt,
wenigſtens keinen, der weniger ſchlecht als der
andre waͤre: ſo wird er ſtehen bleiben, und auf
Licht warten. Eine kleine geſchaͤftige Sele faͤhrt
auf alle Faͤlle fort, muß immer etwas vorhaben,
und fuͤrchtet, gleich einem blinden Pferde, keine
Gefahr, darum weil es keine ſieht. Allein ma[n][m]
auch Langeweile auszuhalten wiſſen.

Ge-
[187]

Geduld iſt eine ſehr noͤthige Eigenſchaft zu
Geſchaͤften. Mancher Menſch haͤtte lieber, ihr
hoͤrtet ſeine Erzaͤhlung an, als ihr bewilligtet ihm
ſeine Bitte. Man muß ſich das Anſehen geben,
als hoͤrte man die unbilligen Foderungen der Un-
beſonnenen ohne Befremdung, die langweiligen
Erzaͤhlungen der Albernen ohne Ungeduld an.
Das iſt der geringſte Preis, den man fuͤr einen
hervorragenden Stand bezahlen muß.


Es iſt allezeit gut, einen Betrug zu entdekken,
und eine Thorheit inne werden; aber es iſt oft
nicht gut, eine ſolche Entdekkung merken zu laſſen.
Ein Man von Geſchaͤften ſolte ſtets die Augen offen
haben, ſolte aber oft ſie geſchloſſen zu haben ſcheinen.


Ein junger Menſch, ſein Verdienſt ſei ſo
groß, als es wolle, kan niemahls ſich ſelbſt allein in
die Hoͤhe helfen; er muß ſich, wie Epheu um die
Eiche, um irgend einen großen Man von Anſehen
ſchlingen. Du mußt erſt einige Zeit dem Miniſter
angehoͤren, ehe jemand dir angehoͤren wird. Un-
verlezliche Treue gegen dieſen Miniſter, ſelbſt wenn
er in Ungnade faͤlt, wird verdienſtlich ſein, und
dich ſeinem Nachfolger empfehlen. Miniſter ha-
ben Neigung fuͤr ihre Perſon lieber, als fuͤr ihre
Parthei.

An
[188]

An Hoͤfen — und in der großen Welt uͤber-
haupt — ſind Verſchaͤmtheit und Schuͤchternheit
an einer Seite eben ſo ſchaͤdlich, als Unverſchaͤmt-
heit und hiziges Weſen an der andern. Stand-
hafte Dreiſtigkeit, kaltbluͤtige Unerſchrokkenheit
und beſcheidnes Aeuſſerliche, ſind die wahre,
nothwendige Mittelſtraße.


Suche nie um etwas an, zu deſſen Erhaltung
du wenig Wahrſcheinlichkeit ſieheſt. Denn wenn
du unſchikliche, nicht zu erlangende Dinge begeh-
reſt, gewoͤhneſt du die Miniſter daran, dir ſo oft
eine abſchlaͤgige Antwort zu geben, daß es ihnen
hernach leicht wird, dir auch die ſchiklichſten, ver-
nuͤnftigſten Bitten zu verſagen. Es iſt zwar eine
gemeine, aber ſehr uͤbel verſtandne, Regel am
Hofe, um alles anzuhalten, damit man wenigſtens
etwas bekomme. Wahr iſts, man bekomt dadurch
etwas; dieſes Etwas aber iſt abſchlaͤgige Antwort
und Gelaͤchter.


Es gibt eine Hofſprache, ein geringfuͤgiges,
blos von Kleinigkeiten handelndes Geſchwaͤz, das
mit vielen Worten wenig oder nichts ſagt. Thoren
dient es anſtat deſſen, was ſie nicht ſagen koͤnnen,
verſtaͤndigen Leuten anſtat deſſen, was ſie nicht
ſagen
[189] ſagen wollen. Es iſt die eigentliche Sprache fuͤr
Aufwartungen beim Aufſtehen und in Vorzim-
mern; daher iſt es noͤthig, ſie inne zu haben.


Ein Menſch ſei, was er wil, ſo muß er
hoͤflich und geſittet ſein. Dieſer Mantel bedekt
eben ſo viele Thorheiten, als die kriſtliche Liebe
Suͤnden. Ich kante einen Man von hohem
Range, der in einem vornehmen Amte ſtand, ſehr
geachtet und geehrt war, deſſen groͤßte Eigenſchaf-
ten darin beſtanden, daß er ſtolz mit Demuth
und albern mit Hoͤflichkeit war. *)


Es iſt ſchwer, zu beſtimmen, wer der groͤßte Thor
iſt, der die Wahrheit ganz, oder der gar keine ſagt.


Verſchiedenheit in Meinungen, ſelbſt in Klei-
nigkeiten, entruͤſtet kleine Geiſter, zumahl wenn
ſie von hohem Range ſind. Nun iſt es aber voͤllig
eben ſo leicht, eines Vornehmen Koch oder
Schneider zu loben, als ihn zu tadeln; das erſtere
iſt vielmehr noch kuͤrzer; und Sachen dieſer Art
verdienen eben ſo wenig, daß man uͤber ſie, als
ſolche Leute, daß man mit ihnen ſtreite. Es iſt
unmoͤg-
[190] unmoͤglich, ſie zu unterrichten; hingegen ſehr
leicht, ihnen zu misfallen.


Heiteres, ruhiges Geſicht und Betragen ſind
bei Hofe, wie uͤberal, ſehr nuͤzlich. Thoren werden
dadurch bewogen, dich blos darum fuͤr einen gut-
herzigen Man, und Argliſtige, dich fuͤr einen Men-
ſchen ohne Falſch zu halten.


Es gibt wohl Faͤlle, in denen einer ſein halbes
Geheimniß herausſagen muß, um das uͤbrige zu
verbergen; ſelten aber ſolche, da er es ganz ſagen
muͤßte. Da iſt nun große Geſchiklichkeit noͤthig,
um zu wiſſen, wie weit man gehen, und wo man
inne halten ſol.


Eines Menſchen eignes geſittetes Weſen iſt
ſeine groͤßte Sicherheit vor andrer uͤbeln Sitten.
Niemand hat jemahls dem Herzoge von Marl-
borough
etwas unverſchaͤmtes geſagt. Niemand
ſagte jemahls Sir Robert Walpolen etwas
wirklich verbindliches, ohngeachtet man ihm viele
Schmeicheleien ſagte.


Als zu Koͤnig Wilhelms Zeiten das alte be-
ſchnittene Geld zur Umpraͤgung eingefodert ward,
ſezten ſie, um das Beſchneiden zu verhuͤten, auf
den Rand der Kronen die Worte, et decus et
tuta-
[191]tutamen.*) Gerade das iſt der Fal mit der
Artigkeit in den Sitten.


Die meiſten Kuͤnſte beduͤrfen zu ihrer Erlernung
langen Fleiß. Hingegen die nuͤzlichſte von allen, die
zu gefallen, erfodert blos das Verlangen darnach.


Es iſt zu vermuthen, daß ein Man von ge-
meinem Verſtande, der nicht zu gefallen begehrt,
gar nichts begehre; denn das muß er doch wiſſen,
daß er, ohne zu gefallen, nichts erlangen kan.


Ernſte, finſtre, zuruͤkhaltende, geheimnißvolle
Miene verſcheucht die Leute; hingegen ein gelaſ-
ſenes ungezwungnes, und geſeztes Anſehen ladet
ſie zum Vertrauen ein, und laͤßt keinen Raum
zum Argwohn.


Der Herzog von Suͤlly merkt in ſeinen Denk-
ſchriften ſehr richtig an: nichts haͤtte mehr zu
ſeiner Erhebung geholfen, als jene kluge Spar-
ſamkeit, die er von Jugend an beobachtet, und
vermoͤge deren er ſtets eine Summe Geldes fuͤr
dringende Nothfaͤlle vorraͤthig gehabt haͤtte. Es iſt
ſchwer, der Sparſamkeit und der Freigebigkeit
Grenzen anzuweiſen; indes der leidlichſte Irthum
unter beiden iſt auf Seiten der Sparſamkeit. Die-
ſer laͤßt ſich verbeſſern, der andre nicht.


Der
[192]

Der Ruf der Freigebigkeit muß wohlfeil er-
kauft werden. Er haͤngt nicht ſo ſehr von eines
Menſchen Aufwande im Ganzen ab, als davon,
daß er da, wo er geben muß, mit guter Art gibt.
Wer, zum Beiſpiel, in Hamburg den Bedienten
des Hauſes, worin man ihn zu Tiſch geladen,
vierzehn Schillinge gaͤbe, der wuͤrde fuͤr geizig, und
wer ihnen zwanzig gaͤbe, der wuͤrde fuͤr freigebig
gehalten werden; daß alſo der Unterſchied dieſer
beiden entgegengeſezten Benennungen auf ſechs
Schillingen beruht. *) Eines Mannes Ruf in die-
ſem Stuͤkke haͤngt großentheils von der Ausſage
ſeiner eignen und anderer Bedienten ab. Eine bloße
Kleinigkeit uͤber den gewoͤhnlichen Lohn macht
dieſe Ausſage zur guͤnſtigen.


Trage Sorge, deine Einrichtung in Anſehung
deiner Einnahme und Ausgabe allezeit ſo gut zu
treffen, daß du immer etwas fuͤr unerwartete
Vorfaͤlle und zu einer klugen Freigebigkeit uͤbrig
habeſt. Kaum vergeht im menſchlichen Leben ein
Jahr, da nicht eine kleine Summe baares Geld
zu großem Vortheile angelegt werden kan.

[][][]
Notes
*)
Gegen ſolche nemlich, deren Freundſchaft
du noch nicht bewaͤhrt gefunden haſt.
*)
Eine und eben dieſelbe That kan ruhmwuͤrdiger
Heroismus oder Narheit ſein, jenachdem die
Bewegungsgruͤnde, welche dabei zum Grunde
lagen, vernuͤnftig oder thoͤrigt waren. Wer
darf ſich aber unterfangen, nach zwei, drei
tauſend Jahren in der Sele eines Mannes
leſen zu wollen, von dem die Geſchichte blos
das, was er that, nicht das, was er dachte,
aufbewahrt hat! C.
*)
Cum quo errare malim, quam cum aliis recte
ſentire.
*)
Bei der dermaligen Lage, worin dieſer große
Haufe ſich befindet, freilich wohl! Sonſt iſt
es, duͤnkt mich, Laͤſterung gegen den Schoͤpfer,
zu behaupten, daß es fuͤr irgend eine Klaſſe
ſeiner mit Vernunft begabten Geſchoͤpfe beſ-
ſer ſei, dieſe Vernunft unangebaut und un-
gebraucht zu laſſen, als ſie zu uͤben und an-
zuwenden. C.
*)
Aber daraus folgt mit nichten, daß man dieſe
bisher ſo wenig ausgebildete und geuͤbte Ver-
nunft, eben ſo roh und ungebildet laſſen muͤſſe,
wenn man die Mittel zur Ausbildung in ſei-
ner Gewalt hat. C.
**)
Mir nicht; wenn nur kein anderes Vorur-
theil, ſondern wirklich vernuͤnftige Einſicht
an ihre Stelle geſezt wird. C.
***)
Eine wirklich erleuchtete Vernunft wuͤrde ein
noch viel kraͤftigeres Verwahrungsmittel da-
gegen ſein. C.
*)
Freilich, wenn man Kuͤnſte und Wiſſenſchaf-
ten in der eingeſchraͤnkten Bedeutung nimt,
worin der Verfaſſer ſie genommen hat, wie
aus dem Folgenden erhellet, ſo mag dieſe Mei-
nung ein Vorurtheil ſein; aber wenn man
wahre Aufklaͤrung des menſchlichen Gei-
ſtes uͤber diejenigen Gegenſtaͤnde, welche
ihm die wichtigſten ſind
, darunter verſteht:
ſo iſt nichts gewiſſer, als daß der Despotis-
mus, beſonders wenn er von Hierarchie
begleitet wird, einer ſolchen Aufklaͤrung grade
entgegenarbeitet. C.
*)
Dieſes nun wohl freilich nicht; aber auch
nicht den forſchenden Unterſuchungsgeiſt in
religioͤſen, philoſophiſchen und ſolchen Ma-
terien, welche die Rechte der Menſchheit
betreffen? C.
*)
Antwort: die Baſtille! dafern ſie unvor-
ſichtig genug ſind, ihre Gedanken laut werden
zu laſſen. C.
*)
Aber unter eben dieſer Regierung bluͤheten
auch Aberglaube und Fanatismus, mit allen
ihren Folgen von Dumheit, Verfolgungs-
ſucht und Grauſamkeit. C.
*)
Quos ultra citraque nequit conſiſtere rectum.
*)
Chevaliers d’induſtrie.
*)
Wie vielmehr wird alſo nicht derjenige ge-
ſchaͤzt werden, der mit dieſem hoͤflichen und
geſitteten Weſen wirkliche Beſcheidenheit
und Verſtand verbindet? C.
*)
Sowohl zur Zierde als zum Schuz.
*)
3 ggr. ſchwer Geld.

Dieses Werk ist gemeinfrei.


Rechtsinhaber*in
Kolimo+

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2025). Collection 1. Theophron, oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Theophron, oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bhrj.0