Von den Werken Theodor Fontane's erſchienen bisher
in unſerm Verlage folgende Separat-Ausgaben:
- L'Adultera. Roman aus der Berliner Geſellſchaft.
- Cécile. Roman.
- Graf Petöfy. Roman.
- Schach von Wuthenow. Erzählung aus der Zeit des
Regiments Gensdarmes. - Irrungen, Wirrungen. Roman.
- Stine. Berliner Sitten-Roman.
- Kriegsgefangen. Erlebtes 1870.
- Frau Jenny Treibel. Roman.
- Meine Kinderjahre. Autobiographiſcher Roman.
- Von vor und nach der Reiſe. Plaudereien und kleine
Geſchichten. - Effi Brieſt. Roman.
- Die Poggenpuhls. Roman.
- Von Zwanzig bis Dreißig. Autobiographiſches.
[]
F. Fontane \& Co.
1899
[]
Alle Rechte
beſonders das der Überſetzung
vorbehalten
Schloß Stechlin.
Fontane, Der Stechlin. 1[][[3]]Erſtes Kapitel.
Im Norden der Grafſchaft Ruppin, hart an der
mecklenburgiſchen Grenze, zieht ſich von dem Städtchen
Granſee bis nach Rheinsberg hin (und noch darüber
hinaus) eine mehrere Meilen lange Seeenkette durch
eine menſchenarme, nur hie und da mit ein paar alten
Dörfern, ſonſt aber ausſchließlich mit Förſtereien, Glas-
und Teeröfen beſetzte Waldung. Einer der Seeen, die
dieſe Seeenkette bilden, heißt „der Stechlin“.
Zwiſchen flachen, nur an einer einzigen Stelle ſteil und
quaiartig anſteigenden Ufern liegt er da, rundum von
alten Buchen eingefaßt, deren Zweige, von ihrer eignen
Schwere nach unten gezogen, den See mit ihrer Spitze
berühren. Hie und da wächſt ein weniges von Schilf
und Binſen auf, aber kein Kahn zieht ſeine Furchen,
kein Vogel ſingt, und nur ſelten, daß ein Habicht
drüber hinfliegt und ſeinen Schatten auf die Spiegel¬
fläche wirft. Alles ſtill hier. Und doch, von Zeit zu
Zeit wird es an eben dieſer Stelle lebendig. Das iſt,
wenn es weit draußen in der Welt, ſei's auf Island,
ſei's auf Java, zu rollen und zu grollen beginnt oder
gar der Aſchenregen der hawaiiſchen Vulkane bis weit
auf die Südſee hinausgetrieben wird. Dann regt ſich's
auch hier, und ein Waſſerſtrahl ſpringt auf und ſinkt
wieder in die Tiefe. Das wiſſen alle, die den Stechlin
umwohnen, und wenn ſie davon ſprechen, ſo ſetzen ſie
1*[4] wohl auch hinzu: „Das mit dem Waſſerſtrahl, das iſt
nur das Kleine, das beinah Alltägliche; wenn's aber
draußen was Großes giebt, wie vor hundert Jahren in
Liſſabon, dann brodelt's hier nicht bloß und ſprudelt
und ſtrudelt, dann ſteigt ſtatt des Waſſerſtrahls ein
roter Hahn auf und kräht laut in die Lande hinein.“
Das iſt der Stechlin, der See Stechlin.
Aber nicht nur der See führt dieſen Namen, auch
der Wald, der ihn umſchließt. Und Stechlin heißt ebenſo
das langgeſtreckte Dorf, das ſich, den Windungen des
Sees folgend, um ſeine Südſpitze herumzieht. Etwa
hundert Häuſer und Hütten bilden hier eine lange,
ſchmale Gaſſe, die ſich nur da, wo eine von Kloſter
Wutz her heranführende Kaſtanienallee die Gaſſe durch¬
ſchneidet, platzartig erweitert. An eben dieſer Stelle
findet ſich denn auch die ganze Herrlichkeit von Dorf
Stechlin zuſammen; das Pfarrhaus, die Schule, das
Schulzenamt, der Krug, dieſer letztere zugleich ein Eck-
und Kramladen mit einem kleinen Mohren und einer
Guirlande von Schwefelfäden in ſeinem Schaufenſter.
Dieſer Ecke ſchräg gegenüber, unmittelbar hinter dem
Pfarrhauſe, ſteigt der Kirchhof lehnan, auf ihm, ſo
ziemlich in ſeiner Mitte, die frühmittelalterliche Feld¬
ſteinkirche mit einem aus dem vorigen Jahrhundert
ſtammenden Dachreiter und einem zur Seite des alten
Rundbogenportals angebrachten Holzarm, dran eine
Glocke hängt. Neben dieſem Kirchhof ſamt Kirche ſetzt
ſich dann die von Kloſter Wutz her heranführende
Kaſtanienallee noch eine kleine Strecke weiter fort, bis
ſie vor einer über einen ſumpfigen Graben ſich hin¬
ziehenden und von zwei rieſigen Findlingsblöcken
flankierten Bohlenbrücke Halt macht. Dieſe Brücke iſt
ſehr primitiv. Jenſeits derſelben aber ſteigt das
[5] Herrenhaus auf, ein gelbgetünchter Bau mit hohem
Dach und zwei Blitzableitern.
Auch dieſes Herrenhaus heißt Stechlin, Schloß
Stechlin.
Etliche hundert Jahre zurück ſtand hier ein wirk¬
liches Schloß, ein Backſteinbau mit dicken Rundtürmen,
aus welcher Zeit her auch noch der Graben ſtammt,
der die von ihm durchſchnittene, ſich in den See hinein¬
erſtreckende Landzunge zu einer kleinen Inſel machte.
Das ging ſo bis in die Tage der Reformation.
Während der Schwedenzeit aber wurde das alte Schloß
niedergelegt, und man ſchien es ſeinem gänzlichen Ver¬
fall überlaſſen, auch nichts an ſeine Stelle ſetzen zu
wollen, bis kurz nach dem Regierungsantritt Friedrich
Wilhelms I. die ganze Trümmermaſſe beiſeite geſchafft
und ein Neubau beliebt wurde. Dieſer Neubau war
das Haus, das jetzt noch ſtand. Es hatte denſelben
nüchternen Charakter wie faſt alles, was unter dem
Soldatenkönig entſtand, und war nichts weiter als ein
einfaches Corps de logis, deſſen zwei vorſpringende, bis
dicht an den Graben reichende Seitenflügel ein Hufeiſen
und innerhalb desſelben einen kahlen Vorhof bildeten,
auf dem, als einziges Schmuckſtück, eine große blanke
Glaskugel ſich präſentierte. Sonſt ſah man nichts als
eine vor dem Hauſe ſich hinziehende Rampe, von deren
dem Hofe zugekehrter Vorderwand der Kalk ſchon wieder
abfiel. Gleichzeitig war aber doch ein Beſtreben unver¬
kennbar, gerade dieſe Rampe zu was Beſonderem zu
machen, und zwar mit Hilfe mehrerer Kübel mit
exotiſchen Blattpflanzen, darunter zwei Aloes, von denen
die eine noch gut im Stande, die andre dagegen krank
war. Aber gerade dieſe kranke war der Liebling des
Schloßherrn, weil ſie jeden Sommer in einer ihr
[6] freilich nicht zukommenden Blüte ſtand. Und das hing
ſo zuſammen. Aus dem ſumpfigen Schloßgraben hatte
der Wind vor langer Zeit ein fremdes Samenkorn in
den Kübel der kranken Aloe geweht, und alljährlich
ſchoſſen infolge davon aus der Mitte der ſchon ange¬
gelbten Aloeblätter die weiß und roten Dolden des
Waſſerlieſch oder des Butomus umbellatus auf. Jeder
Fremde der kam, wenn er nicht zufällig ein Kenner
war, nahm dieſe Dolden für richtige Aloeblüten, und
der Schloßherr hütete ſich wohl, dieſen Glauben, der
eine Quelle der Erheiterung für ihn war, zu zerſtören.
Und wie denn alles hier herum den Namen
Stechlin führte, ſo natürlich auch der Schloßherr ſelbſt.
Auch er war ein Stechlin.
Dubslav von Stechlin, Major a. D. und ſchon
ein gut Stück über Sechzig hinaus, war der Typus
eines Märkiſchen von Adel, aber von der milderen
Obſervanz, eines jener erquicklichen Originale, bei denen
ſich ſelbſt die Schwächen in Vorzüge verwandeln. Er
hatte noch ganz das eigentümlich ſympathiſch berührende
Selbſtgefühl all derer, die „ſchon vor den Hohenzollern
da waren“, aber er hegte dieſes Selbſtgefühl nur ganz
im ſtillen, und wenn es dennoch zum Ausdruck kam,
ſo kleidete ſich's in Humor, auch wohl in Selbſtironie,
weil er ſeinem ganzen Weſen nach überhaupt hinter
alles ein Fragezeichen machte. Sein ſchönſter Zug war
eine tiefe, ſo recht aus dem Herzen kommende Humanität,
und Dünkel und Überheblichkeit (während er ſonſt eine
Neigung hatte, fünf gerade ſein zu laſſen) waren ſo
ziemlich die einzigen Dinge, die ihn empörten. Er
hörte gern eine freie Meinung, je draſtiſcher und
extremer, deſto beſſer. Daß ſich dieſe Meinung mit der
ſeinigen deckte, lag ihm fern zu wünſchen. Beinah das
Gegenteil. Paradoxen waren ſeine Paſſion. „Ich bin
nicht klug genug, ſelber welche zu machen, aber ich
[7] freue mich, wenn's andre thun; es iſt doch immer was
drin. Unanfechtbare Wahrheiten giebt es überhaupt
nicht, und wenn es welche giebt, ſo ſind ſie lang¬
weilig.“ Er ließ ſich gern was vorplaudern und
plauderte ſelber gern.
Des alten Schloßherrn Lebensgang war märkiſch-
herkömmlich geweſen. Von jung an lieber im Sattel
als bei den Büchern, war er erſt nach zweimaliger
Scheiterung ſiegreich durch das Fähnrichsexamen geſteuert
und gleich darnach bei den brandenburgiſchen Küraſſieren
eingetreten, bei denen ſelbſtverſtändlich auch ſchon ſein
Vater geſtanden hatte. Dieſer ſein Eintritt ins Regiment
fiel ſo ziemlich mit dem Regierungsantritt Friedrich Wil¬
helms IV. zuſammen, und wenn er deſſen erwähnte, ſo
hob er, ſich ſelbſt perſiflierend, gerne hervor, „daß alles
Große ſeine Begleiterſcheinungen habe.“ Seine Jahre
bei den Küraſſieren waren im weſentlichen Friedensjahre
geweſen; nur anno vierundſechzig war er mit in Schleswig,
aber auch hier, ohne „zur Aktion“ zu kommen. „Es
kommt für einen Märkiſchen nur darauf an, überhaupt
mit dabei geweſen zu ſein; das andre ſteht in Gottes
Hand.“ Und er ſchmunzelte, wenn er dergleichen ſagte,
ſeine Hörer jedesmal in Zweifel darüber laſſend, ob er's
ernſthaft oder ſcherzhaft gemeint habe. Wenig mehr
als ein Jahr vor Ausbruch des vierundſechziger Kriegs
war ihm ein Sohn geboren worden, und kaum wieder
in ſeine Garniſon Brandenburg eingerückt, nahm er den
Abſchied, um ſich auf ſein ſeit dem Tode des Vaters
halb verödetes Schloß Stechlin zurückzuziehen. Hier
warteten ſeiner glückliche Tage, ſeine glücklichſten, aber
ſie waren von kurzer Dauer — ſchon das Jahr darauf
ſtarb ihm die Frau. Sich eine neue zu nehmen, wider¬
ſtand ihm, halb aus Ordnungsſinn und halb aus äſthe¬
tiſcher Rückſicht. „Wir glauben doch alle mehr oder
weniger an eine Auferſtehung“ (das heißt, er perſönlich
[8] glaubte eigentlich nicht daran), „und wenn ich dann oben
ankomme mit einer rechts und einer links, ſo is das
doch immer eine genierliche Sache.“ Dieſe Worte —
wie denn der Eltern Thun nur allzu häufig der Mi߬
billigung der Kinder begegnet — richteten ſich in Wirk¬
lichkeit gegen ſeinen dreimal verheiratet geweſenen Vater,
an dem er überhaupt allerlei Großes und Kleines aus¬
zuſetzen hatte, ſo beiſpielsweiſe auch, daß man ihm,
dem Sohne, den pommerſchen Namen „Dubslav“ bei¬
gelegt hatte. „Gewiß, meine Mutter war eine Pommerſche,
noch dazu von der Inſel Uſedom, und ihr Bruder, nun
ja, der hieß Dubslav. Und ſo war denn gegen den
Namen ſchon um des Onkels willen nicht viel einzu¬
wenden, und um ſo weniger, als er ein Erbonkel war.
(Daß er mich ſchließlich ſchändlich im Stich gelaſſen, iſt
eine Sache für ſich.) Aber trotzdem bleib' ich dabei,
ſolche Namensmanſcherei verwirrt bloß. Was ein
Märkiſcher iſt, der muß Joachim heißen oder Woldemar.
Bleib im Lande und taufe dich redlich. Wer aus Frie¬
ſack is, darf nicht Raoul heißen.“
Dubslav von Stechlin blieb alſo Witwer. Das
ging nun ſchon an die dreißig Jahre. Anfangs war's
ihm ſchwer geworden, aber jetzt lag alles hinter ihm,
und er lebte „comme philosophe“ nach dem Wort und
Vorbild des großen Königs, zu dem er jederzeit be¬
wundernd aufblickte. Das war ſein Mann, mehr als
irgendwer, der ſich ſeitdem einen Namen gemacht hatte.
Das zeigte ſich jedesmal, wenn ihm geſagt wurde, daß
er einen Bismarckkopf habe. „Nun ja, ja, den hab'
ich; ich ſoll ihm ſogar ähnlich ſehen. Aber die Leute
ſagen es immer ſo, als ob ich mich dafür bedanken
müßte. Wenn ich nur wüßte, bei wem; vielleicht beim
lieben Gott, oder am Ende gar bei Bismarck ſelbſt.
Die Stechline ſind aber auch nicht von ſchlechten Eltern.
Außerdem, ich für meine Perſon, ich habe bei den
[9] ſechſten Küraſſieren geſtanden, und Bismarck bloß bei
den ſiebenten, und die kleinere Zahl iſt in Preußen be¬
kanntlich immer die größere; — ich bin ihm alſo einen
über. Und Friedrichsruh, wo alles jetzt hinpilgert, ſoll
auch bloß 'ne Kate ſein. Darin ſind wir uns alſo
gleich. Und ſolchen See, wie den „Stechlin“, nu, den
hat er ſchon ganz gewiß nicht. So was kommt über¬
haupt bloß ſelten vor.“
Ja, auf ſeinen See war Dubslav ſtolz, aber deſto¬
weniger ſtolz war er auf ſein Schloß, weshalb es ihn
auch verdroß, wenn es überhaupt ſo genannt wurde.
Von den armen Leuten ließ er ſich's gefallen: „Für die
iſt es ein „Schloß“, aber ſonſt iſt es ein alter Kaſten
und weiter nichts.“ Und ſo ſprach er denn lieber von
ſeinem „Haus“, und wenn er einen Brief ſchrieb, ſo
ſtand darüber „Haus Stechlin“. Er war ſich auch be¬
wußt, daß es kein Schloßleben war, das er führte. Vor¬
dem, als der alte Backſteinbau noch ſtand, mit ſeinen
dicken Türmen und ſeinem Luginsland, von dem aus
man, über die Kronen der Bäume weg, weit ins Land
hinausſah, ja, damals war hier ein Schloßleben geweſen,
und die derzeitigen alten Stechline hatten teilgenommen
an allen Feſtlichkeiten, wie ſie die Ruppiner Grafen und
die mecklenburgiſchen Herzöge gaben, und waren mit
den Boitzenburgern und den Baſſewitzens verſchwägert
geweſen. Aber heute waren die Stechline Leute von
ſchwachen Mitteln, die ſich nur eben noch hielten und
beſtändig bemüht waren, durch eine „gute Partie“ ſich
wieder leidlich in die Höhe zu bringen. Auch Dubslavs
Vater war auf die Weiſe zu ſeinen drei Frauen gekommen,
unter denen freilich nur die erſte das in ſie geſetzte Ver¬
trauen gerechtfertigt hatte. Für den jetzigen Schlo߬
herrn, der von der zweiten Frau ſtammte, hatte ſich
daraus leider kein unmittelbarer Vorteil ergeben, und
Dubslav von Stechlin wäre kleiner und großer Sorgen
[10] und Verlegenheiten nie los und ledig geworden, wenn
er nicht in dem benachbarten Granſee ſeinen alten Freund
Baruch Hirſchfeld gehabt hätte. Dieſer Alte, der den
großen Tuchladen am Markt und außerdem die Mode¬
ſachen und Damenhüte hatte, hinſichtlich deren es immer
hieß, „Gerſon ſchicke ihm alles zuerſt“ — dieſer alte
Baruch, ohne das „Geſchäftliche“ darüber zu vergeſſen,
hing in der That mit einer Art Zärtlichkeit an dem
Stechliner Schloßherrn, was, wenn es ſich mal wieder
um eine neue Schuldverſchreibung handelte, regelmäßig
zu heikeln Auseinanderſetzungen zwiſchen Hirſchfeld Vater
und Hirſchfeld Sohn führte.
„Gott, Iſidor, ich weiß, du biſt fürs Neue. Aber
was iſt das Neue? Das Neue verſammelt ſich immer
auf unſerm Markt, und mal ſtürmt es uns den Laden
und nimmt uns die Hüte, Stück für Stück, und die
Reiherfedern und die Straußenfedern. Ich bin fürs
Alte und für den guten alten Herrn von Stechlin. Is
doch der Vater von ſeinem Großvater gefallen in der
großen Schlacht bei Prag und hat gezahlt mit ſeinem
Leben.“
„Ja, der hat gezahlt; wenigſtens hat er gezahlt
mit ſeinem Leben. Aber der von heute ...“
„Der zahlt auch, wenn er kann und wenn er hat.
Und wenn er nicht hat, und ich ſage: „Herr von Stech¬
lin, ich werde ſchreiben ſiebeneinhalb,“ dann feilſcht er
nicht und dann zwackt er nicht. Und wenn er kippt,
nu, da haben wir das Objekt: Mittelboden und Wald
und Jagd und viel Fiſchfang. Ich ſeh' es immer ſo
ganz klein in der Perſpektiv', und ich ſeh' auch ſchon
den Kirchturm.“
„Aber, Vaterleben, was ſollen wir mit'm Kirch¬
turm?“
In dieſer Richtung gingen öfters die Geſpräche
zwiſchen Vater und Sohn, und was der Alte vorläufig
[11] noch in der „Perſpektive“ ſah, das wäre vielleicht ſchon
Wirklichkeit geworden, wenn nicht des alten Dubslav um
zehn Jahre ältere Schweſter mit ihrem von der Mutter her
ererbten Vermögen geweſen wäre: Schweſter Adelheid,
Domina zu Kloſter Wutz. Die half und ſagte gut, wenn
es ſchlecht ſtand oder gar zum Äußerſten zu kommen
ſchien. Aber ſie half nicht aus Liebe zu dem Bruder
— gegen den ſie, ganz im Gegenteil, viel einzuwenden
hatte —, ſondern lediglich aus einem allgemeinen Stech¬
linſchen Familiengefühl. Preußen war was und die
Mark Brandenburg auch; aber das Wichtigſte waren
doch die Stechlins, und der Gedanke, das alte Schloß
in andern Beſitz und nun gar in einen ſolchen über¬
gehen zu ſehen, war ihr unerträglich. Und über all dies
hinaus war ja noch ihr Patenkind da, ihr Neffe Wolde¬
mar, für den ſie all die Liebe hegte, die ſie dem Bruder
verſagte.
Ja, die Domina half, aber ſolcher Hilfen unerachtet
wuchs das Gefühl der Entfremdung zwiſchen den Ge¬
ſchwiſtern, und ſo kam es denn, daß der alte Dubslav,
der die Schweſter in Kloſter Wutz weder gern beſuchte
noch auch ihren Beſuch gern empfing, nichts von Um¬
gang beſaß als ſeinen Paſtor Lorenzen (den früheren
Erzieher Woldemars) und ſeinen Küſter und Dorfſchul¬
lehrer Krippenſtapel, zu denen ſich allenfalls noch Ober¬
förſter Katzler geſellte, Katzler, der Feldjäger geweſen
war und ein gut Stück Welt geſehen hatte. Doch auch
dieſe drei kamen nur, wenn ſie gerufen wurden, und ſo
war eigentlich nur einer da, der in jedem Augenblicke
Red' und Antwort ſtand. Das war Engelke, ſein alter
Diener, der ſeit beinahe fünfzig Jahren alles mit ſeinem
Herrn durchlebt hatte, ſeine glücklichen Leutnantstage,
ſeine kurze Ehe und ſeine lange Einſamkeit. Engelke,
noch um ein Jahr älter als ſein Herr, war deſſen Ver¬
trauter geworden, aber ohne Vertraulichkeit. Dubslav
[12] verſtand es, die Scheidewand zu ziehen. Übrigens wär'
es auch ohne dieſe Kunſt gegangen. Denn Engelke war
einer von den guten Menſchen, die nicht aus Berechnung
oder Klugheit, ſondern von Natur hingebend und de¬
mütig ſind und in einem treuen Dienen ihr Genüge
finden. Alltags war er, ſo Winter wie Sommer, in
ein Leinwandhabit gekleidet, und nur wenn es zu Tiſch
ging, trug er eine [richtige] Livree von ſandfarbenem Tuch
mit großen Knöpfen dran. Es waren Knöpfe, die noch
die Zeiten des Rheinsberger Prinzen Heinrich geſehen
hatten, weshalb Dubslav, als er mal wieder in Ver¬
legenheit war, zu dem jüngſt verſtorbenen alten Herrn
von Kortſchädel geſagt hatte: „Ja, Kortſchädel, wenn
ich ſo meinen Engelke, wie er da geht und ſteht, ins
märkiſche Provinzialmuſeum abliefern könnte, ſo kriegt'
ich ein Jahrgehalt und wäre 'raus.“
Das war im Mai, daß der alte Stechlin dieſe
Worte zu ſeinem Freunde Kortſchädel geſprochen hatte.
Heute aber war dritter Oktober und ein wundervoller
Herbſttag dazu. Dubslav, ſonſt empfindlich gegen Zug,
hatte die Thüren aufmachen laſſen, und von dem großen
Portal her zog ein erquicklicher Luftſtrom bis auf die
mit weiß und ſchwarzen Flieſen gedeckte Veranda hin¬
aus. Eine große, etwas ſchadhafte Marquiſe war hier
herabgelaſſen und gab Schutz gegen die Sonne, deren
Lichter durch die ſchadhaften Stellen hindurch ſchienen
und auf den Flieſen ein Schattenſpiel aufführten. Garten¬
ſtühle ſtanden umher, vor einer Bank aber, die ſich an
die Hauswand lehnte, waren doppelte Strohmatten ge¬
legt. Auf eben dieſer Bank, ein Bild des Behagens,
ſaß der alte Stechlin in Joppe und breitkrempigem
Filzhut und ſah, während er aus ſeinem Meerſchaum
allerlei Ringe blies, auf ein Rundell, in deſſen Mitte,
[13] von Blumen eingefaßt, eine kleine Fontäne plätſcherte.
Rechts daneben lief ein ſogenannter Poetenſteig, an
deſſen Ausgang ein ziemlich hoher, aus allerlei Gebälk
zuſammengezimmerter Ausſichtsturm aufragte. Ganz
oben eine Plattform mit Fahnenſtange, daran die
preußiſche Flagge wehte, ſchwarz und weiß, alles ſchon
ziemlich verſchliſſen.
Engelke hatte vor kurzem einen roten Streifen an¬
nähen wollen, war aber mit ſeinem Vorſchlag nicht
durchgedrungen. „Laß. Ich bin nicht dafür. Das alte
Schwarz und Weiß hält gerade noch; aber wenn du
was rotes dran nähſt, dann reißt es gewiß.“
Die Pfeife war ausgegangen, und Dubslav wollte
ſich eben von ſeinem Platz erheben und nach Engelke
rufen, als dieſer vom Gartenſaal her auf die Veranda
heraustrat.
„Das iſt recht, Engelke, daß du kommſt ...
Aber du haſt da ja was wie 'n Telegramm in der
Hand. Ich kann Telegramms nicht leiden. Immer is
einer dod, oder es kommt wer, der beſſer zu Hauſe
geblieben wäre.“
Engelke griente. „Der junge Herr kommt.“
„Und das weißt du ſchon?“
„Ja, Broſe hat es mir geſagt.“
„So, ſo. Dienſtgeheimnis. Na, gieb her.“
Und unter dieſen Worten brach er das Telegramm
auf und las: „Lieber Papa. Bin ſechs Uhr bei dir.
Rex und von Czako begleiten mich. Dein Woldemar.“
Engelke ſtand und wartete.
„Ja, was da thun, Engelke?“ ſagte Dubslav und
drehte das Telegramm hin und her. „Und aus Cremmen
und von heute früh,“ fuhr er fort. „Da müſſen ſie
alſo die Nacht über ſchon in Cremmen geweſen ſein. Auch
kein Spaß.“
„Aber Cremmen is doch ſo weit ganz gut.“
[14]„Nu, gewiß, gewiß. Bloß ſie haben da ſo kurze
Betten ... Und wenn man, wie Woldemar, Kavalleriſt
iſt, kann man ja doch auch die acht Meilen von Berlin
bis Stechlin in einer Pace machen. Warum alſo Nacht¬
quartier? Und Rex und von Czako begleiten mich. Ich
kenne Rex nicht und kenne von Czako nicht. Wahr¬
ſcheinlich Regimentskameraden. Haben wir denn was?“
„Ich denk doch, gnäd'ger Herr. Und wovor haben
wir denn unſre Mamſell? Die wird ſchon was finden.“
„Nu gut. Alſo wir haben was. Aber wen laden
wir dazu ein? So bloß ich, das geht nicht. Ich mag
mich keinem Menſchen mehr vorſetzen. Czako, das ginge
vielleicht noch. Aber Rex, wenn ich ihn auch nicht kenne,
zu ſo was Feinem wie Rex paſſ' ich nicht mehr; ich bin
zu altmodiſch geworden. Was meinſt du, ob die Gunder¬
manns wohl können?“
„Ach, die können ſchon. Er gewiß, und ſie kluckt
auch bloß immer ſo rum.“
„Alſo Gundermanns. Gut. Und dann vielleicht
Oberförſters. Das älteſte Kind hat freilich die Maſern,
und die Frau, das heißt die Gemahlin (und Gemahlin
is eigentlich auch noch nicht das rechte Wort) die erwartet
wieder. Man weiß nie recht, wie man mit ihr dran
iſt und wie man ſie nennen ſoll, Oberförſterin Katzler
oder Durchlaucht. Aber man kann's am Ende ver¬
ſuchen. Und dann unſer Paſtor. Der hat doch wenigſtens
die Bildung. Gundermann allein iſt zu wenig und
eigentlich bloß ein Klutentreter. Und ſeitdem er die
Siebenmühlen hat, iſt er noch weniger geworden.“
Engelke nickte.
„Na, dann ſchick alſo Martin. Aber er ſoll ſich
proper machen. Oder vielleicht iſt Broſe noch da; der
kann ja auf ſeinem Retourgang bei Gundermanns mit
'rangehn. Und ſoll ihnen ſagen ſieben Uhr, aber nicht
früher; ſie ſitzen ſonſt ſo lange rum, und man weiß
[15] nicht, wovon man reden ſoll. Das heißt mit ihm;
ſie red't immerzu ... Und gieb Broſen auch 'nen
Kornus und funfzig Pfennig.“
„Ich werd' ihm dreißig geben.“
„Nein, nein, funfzig. Erſt hat er ja doch was
gebracht, und nu nimmt er wieder was mit. Das
is ja ſo gut wie doppelt. Also funfzig. Knapſ' ihm
nichts ab.“
Zweites Kapitel.
Ziemlich um dieſelbe Zeit, wo der Telegraphen¬
bote bei Gundermanns vorſprach, um die Beſtellung
des alten Herrn von Stechlin auszurichten, ritten Wol¬
demar, Rex und Czako, die ſich für ſechs Uhr ange¬
meldet hatten, in breiter Front von Cremmen ab; Fritz,
Woldemars Reitknecht, folgte den dreien. Der Weg
ging über Wutz. Als ſie bis in Nähe von Dorf und
Kloſter dieſes Namens gekommen waren, bog Woldemar
vorſichtig nach links hin aus, weil er der Möglichkeit
entgehen wollte, ſeiner Tante Adelheid, der Domina des
Kloſters, zu begegnen. Er ſtand zwar gut mit dieſer
und hatte ſogar vor, ihr, wie herkömmlich, auf dem
Rückwege nach Berlin ſeinen Beſuch zu machen, aber
in dieſem Augenblick paßte ihm ſolche Begegnung, die
ſein pünktliches Eintreffen in Stechlin gehindert haben
würde, herzlich ſchlecht. So beſchrieb er denn einen
weiten Halbkreis und hatte das Kloſter ſchon um eine
Viertelſtunde hinter ſich, als er ſich wieder der Haupt¬
ſtraße zuwandte. Dieſe, durch Moor- und Wieſengründe
führend, war ein vorzüglicher Reitweg, der an vielen
Stellen noch eine Grasnarbe trug, weshalb es andert¬
halb Meilen lang in einem ſcharfen Trabe vorwärts
ging, bis an eine Avenue heran, die geradlinig auf
Schloß Stechlin zuführte. Hier ließen alle drei die
Zügel fallen und ritten im Schritt weiter. Über ihnen
[17] wölbten ſich die ſchönen alten Kaſtanienbäume, was
ihrem Anritt etwas Anheimelndes und zugleich etwas
beinah Feierliches gab.
„Das iſt ja wie ein Kirchenſchiff,“ ſagte Rex,
der am linken Flügel ritt. „Finden Sie nicht auch,
Czako?“
„Wenn Sie wollen, ja. Aber Pardon, Rex, ich
finde die Wendung etwas trivial für einen Miniſterial¬
aſſeſſor.“
„Nun gut, dann ſagen Sie was Beſſeres.“
„Ich werde mich hüten. Wer unter ſolchen Um¬
ſtänden was Beſſeres ſagen will, ſagt immer was
Schlechteres.“
Unter dieſem ſich noch eine Weile fortſetzenden
Geſpräche waren ſie bis an einem Punkt gekommen,
von dem aus man das am Ende der Avenue ſich auf¬
bauende Bild in aller Klarheit überblicken konnte. Da¬
bei war das Bild nicht bloß klar, ſondern auch ſo
frappierend, daß Rex und Czako unwillkürlich anhielten.
„Alle Wetter, Stechlin, das iſt ja reizend,“ wandte
ſich Czako zu dem am andern Flügel reitenden Wolde¬
mar. „Ich find' es geradezu märchenhaft, Fata Mor¬
gana — das heißt, ich habe noch keine geſehn. Die
gelbe Wand, die da noch das letzte Tageslicht auffängt,
das iſt wohl Ihr Zauberſchloß? Und das Stückchen
Grau da links, das taxier' ich auf eine Kirchenecke.
Bleibt nur noch der Staketzaun an der andern Seite;
— da wohnt natürlich der Schulmeiſter. Ich verbürge
mich, daß ich's damit getroffen. Aber die zwei ſchwarzen
Rieſen, die da grad' in der Mitte ſtehn und ſich von
der gelben Wand abheben („abheben“ iſt übrigens auch
trivial; entſchuldigen Sie, Rex), die ſtehen ja da wie
die Cherubim. Allerdings etwas zu ſchwarz. Was ſind
das für Leute?“
„Das ſind Findlinge.“
Fontane, Der Stechlin. 2[18]„Findlinge?“
„Ja, Findlinge,“ wiederholte Woldemar. „Aber
wenn Ihnen das Wort anſtößig iſt, ſo können Sie ſie
auch Monolithe nennen. Es iſt merkwürdig, Czako, wie
hochgradig verwöhnt im Ausdruck Sie ſind, wenn Sie
nicht gerade ſelber das Wort haben ... Aber nun, meine
Herren, müſſen wir uns wieder in Trab ſetzen. Ich bin
überzeugt, mein Papa ſteht ſchon ungeduldig auf ſeiner
Rampe, und wenn er uns ſo im Schritt ankommen ſieht,
denkt er, wir bringen eine Trauernachricht oder einen
Verwundeten.“
Wenige Minuten ſpäter, und alle drei trabten denn
auch wirklich, von Fritz gefolgt, über die Bohlenbrücke
fort, erſt in den Vorhof hinein und dann an der blanken
Glaskugel vorüber. Der Alte ſtand bereits auf der
Rampe, Engelke hinter ihm und hinter dieſem Martin,
der alte Kutſcher. Im Nu waren alle drei Reiter aus
dem Sattel, und Martin und Fritz nahmen die Pferde.
So trat man in den Flur. „Erlaube, lieber Papa, dir
zwei liebe Freunde von mir vorzuſtellen: Aſſeſſor von
Rex, Hauptmann von Czako.“
Der alte Stechlin ſchüttelte jedem die Hand und
ſprach ihnen aus, wie glücklich er über ihren Beſuch ſei.
„Seien Sie mir herzlich willkommen, meine Herren. Sie
haben keine Ahnung, welche Freude Sie mir machen,
mir, einem vergrätzten alten Einſiedler. Man ſieht nichts
mehr, man hört nichts mehr. Ich hoffe auf einen ganzen
Sack voll Neuigkeiten.“
„Ach, Herr Major,“ ſagte Czako, „wir ſind ja ſchon
vierundzwanzig Stunden fort. Und, ganz abgeſehen da¬
von, wer kann heutzutage noch mit den Zeitungen kon¬
[19] kurrieren! Ein Glück, daß manche prinzipiell einen Poſt¬
tag zu ſpät kommen. Ich meine mit den neueſten Nach¬
richten. Vielleicht auch ſonſt noch.“
„Sehr wahr,“ lachte Dubslav. „Der Konſerva¬
tismus ſoll übrigens, ſeinem Weſen nach, eine Bremſe
ſein; damit muß man vieles entſchuldigen. Aber da
kommen Ihre Mantelſäcke, meine Herren. Engelke, führe
die Herren auf ihr Zimmer. Wir haben jetzt ſechsein¬
viertel. Um ſieben, wenn ich bitten darf.“
Engelke hatte mittlerweile die beiden von Dubslav
etwas altmodiſch als „Mantelſäcke“ bezeichneten Plaid¬
rollen in die Hand genommen und ging damit, den
beiden Herren voran, auf die doppelarmige Treppe zu,
die gerade da, wo die beiden Arme derſelben ſich kreuzten,
einen ziemlich geräumigen Podeſt mit Säulchengalerie
bildete. Zwiſchen den Säulchen aber, und zwar mit Blick
auf den Flur, war eine Rokoko-Uhr angebracht, mit
einem Zeitgott darüber, der eine Hippe führte. Czako
wies darauf hin und ſagte leiſe zu Rex: „Ein bißchen
graulich,“ — ein Gefühl, drin er ſich beſtärkt ſah, als
man bis auf den mit ungeheurer Raumverſchwendung
angelegten Oberflur gekommen war. Über einer nach
hinten zu gelegenen Saalthür hing eine Holztafel mit der
Inſchrift: „Muſeum“, während hüben und drüben, an
den Flurwänden links und rechts, mächtige Birkenmaſer-
und Ebenholzſchränke ſtanden, wahre Prachtſtücke, mit
zwei großen Bildern dazwiſchen, eines eine Burg mit
dicken Backſteintürmen, das andre ein überlebensgroßer
Ritter, augenſcheinlich aus der Frundsbergzeit, wo das
bunt Landsknechtliche ſchon die Rüſtung zu drapieren
begann.
„Is wohl ein Ahn?“ fragte Czako.
„Ja, Herr Hauptmann. Und er iſt auch unten in
der Kirche.“
„Auch ſo wie hier?“
2 *[20]„Nein, bloß Grabſtein und ſchon etwas abgetreten.
Aber man ſieht doch noch, daß es derſelbe iſt.“
Czako nickte. Dabei waren ſie bis an ein Eck¬
zimmer gekommen, das mit der einen Seite nach dem
Flur, mit der andern Seite nach einem ſchmalen Gang
hin lag. Hier war auch die Thür. Engelke, voran¬
gehend, öffnete und hing die beiden Plaidrollen an die
Haken eines hier gleich an der Thür ſtehenden Kleider¬
ſtänders. Unmittelbar daneben war ein Klingelzug mit
einer grünen, etwas ausgefranſten Puſchel daran. Engelke
wies darauf hin und ſagte: „Wenn die Herren noch
was wünſchen ... Und um ſieben ... Zweimal wird
angeſchlagen.“
Und damit ging er, die beiden ihrer Bequemlich¬
keit überlaſſend.
Es waren zwei nebeneinander gelegene Zimmer, in
denen man Rex und Czako untergebracht hatte, das vordere
größer und mit etwas mehr Aufwand eingerichtet, mit
Stehſpiegel und Toilette, der Spiegel ſogar zum Kippen.
Das Bett in dieſem vorderen Zimmer hatte einen kleinen
Himmel und daneben eine Etagere, auf deren oberem
Brettchen eine Meißner Figur ſtand, ihr ohnehin kurzes
Röckchen lüpfend, während auf dem unteren Brett ein
Neues Teſtament lag, mit Kelch und Kreuz und einem
Palmenzweig auf dem Deckel.
Czako nahm das Meißner Püppchen und ſagte:
„Wenn nicht unſer Freund Woldemar bei dieſem Arrange¬
ment ſeine Hand mit im Spiele gehabt hat, ſo haben wir hier
in Bezug auf Requiſiten ein Ahnungsvermögen, wie's
nicht größer gedacht werden kann. Das Püppchen pour
moi, das Teſtament pour vous.“
„Czako, wenn Sie doch bloß das Necken laſſen
könnten!“
„Ach, ſagen Sie doch ſo was nicht, Rex; Sie lieben
mich ja bloß um meiner Neckereien willen.“
Und nun traten ſie, von dem Vorderzimmer her,
in den etwas kleineren Wohnraum, in dem Spiegel und
Toilette fehlten. Dafür aber war ein Rokokoſofa da,
mit hellblauem Atlas und weißen Blumen darauf.
„Ja, Rex,“ ſagte Czako, „wie teilen wir nun?
Ich denke, Sie nehmen nebenan den Himmel, und ich
nehme das Rokokoſofa, noch dazu mit weißen Blumen,
vielleicht Lilien. Ich wette, das kleine Ding von Sofa
hat eine Geſchichte.“
„Rokoko hat immer eine Geſchichte,“ beſtätigte Rex.
„Aber hundert Jahr zurück. Was jetzt hier hauſt, ſieht
mir, Gott ſei Dank, nicht danach aus. Ein bißchen
Spuk trau' ich dieſem alten Kaſten allerdings ſchon zu;
aber keine Rokokogeſchichte. Rokoko iſt doch immer un¬
ſittlich. Wie gefällt Ihnen übrigens der Alte?“
„Vorzüglich. Ich hätte nicht gedacht, daß unſer
Freund Woldemar ſolchen famoſen Alten haben könnte.“
„Das klingt ja beinah,“ ſagte Rex, „wie wenn Sie
gegen unſern Stechlin etwas hätten.“
„Was durchaus nicht der Fall iſt. Unſer Stechlin
iſt der beſte Kerl von der Welt, und wenn ich das ver¬
dammte Wort nicht haßte, würd' ich ihn ſogar einen
„perfekten Gentleman“ nennen müſſen. Aber ...“
„Nun ...“
„Aber er paßt doch nicht recht an ſeine Stelle.“
„An welche?“
„In ſein Regiment.“
„Aber, Czako, ich verſtehe Sie nicht. Er iſt ja
brillant angeſchrieben. Liebling bei jedem. Der Oberſt
hält große Stücke von ihm, und die Prinzen machen
ihm beinah den Hof ...“
„Ja, das iſt es ja eben. Die Prinzen, die Prinzen.“
„Was denn, wie denn?“
„Ach, das iſt eine lange Geſchichte, viel zu lang,
um ſie hier vor Tiſch noch auszukramen. Denn es iſt
[22] bereits halb, und wir müſſen uns eilen. Übrigens trifft
es viele, nicht bloß unſern Stechlin.“
„Immer dunkler, immer rätſelvoller,“ ſagte Rex.
„Nun, vielleicht daß ich Ihnen das Rätſel löſe.
Schließlich kann man ja Toilette machen und noch ſeinen
Diskurs daneben haben. „Die Prinzen machen ihm den
Hof“, ſo geruhten Sie zu bemerken, und ich antwortete:
„Ja, das iſt es eben“. Und dieſe Worte kann ich Ihnen
nur wiederholen. Die Prinzen — ja, damit hängt es
zuſammen und noch mehr damit, daß die feinen Regi¬
menter immer feiner werden. Kucken Sie ſich mal die
alten Rangliſten an, das heißt wirklich alte, voriges Jahr¬
hundert und dann ſo bis Anno ſechs. Da finden Sie
bei Regiment Garde du Corps oder bei Regiment Gens¬
darmes unſere guten alten Namen: Marwitz, Wakenitz,
Kracht, Löſchebrand, Bredow, Rochow, höchſtens daß
ſich mal ein höher betitelter Schleſiſcher mit hinein ver¬
irrt. Natürlich gab es auch Prinzen damals, aber der
Adel gab den Ton an, und die paar Prinzen mußten
noch froh ſein, wenn ſie nicht ſtörten. Damit iſt es nun
aber, ſeit wir Kaiſer und Reich ſind, total vorbei. Natür¬
lich ſprech' ich nicht von der Provinz, nicht von Litauen
und Maſuren, ſondern von der Garde, von den Regi¬
mentern unter den Augen Seiner Majeſtät. Und nun
gar erſt dieſe Gardedragoner! Die waren immer piek,
aber ſeit ſie, pour combler le bonheur, auch noch „Königin
von Großbritannien und Irland“ ſind, wird es immer
mehr davon, und je pieker ſie werden, deſto mehr Prinzen
kommen hinein, von denen übrigens auch jetzt ſchon
mehr da ſind, als es ſo obenhin ausſieht, denn manche
ſind eigentlich welche und dürfen es bloß nicht ſagen.
Und wenn man dann gar noch die alten mitrechnet, die
bloß à la suite ſtehn, aber doch immer noch mit dabei
ſind, wenn irgend was los iſt, ſo haben wir, wenn der
Kreis geſchloſſen wird, zwar kein Parkett von Königen,
[23] aber doch einen Cirkus von Prinzen. Und da hinein
iſt nun unſer guter Stechlin geſtellt. Natürlich thut er,
was er kann, und macht ſo gewiſſe Luxuſſe mit, Gefühls¬
luxuſſe, Geſinnungsluxuſſe und, wenn es ſein muß, auch
Freiheitsluxuſſe. So 'nen Schimmer von Sozialdemokratie.
Das iſt aber auf die Dauer ſchwierig. Richtige Prinzen
können ſich das leiſten, die verbebeln nicht leicht. Aber
Stechlin! Stechlin iſt ein reizender Kerl, aber er iſt doch
bloß ein Menſch.“
„Und das ſagen Sie, Czako, gerade Sie, der Sie
das Menſchliche ſtets betonen?“
„Ja, Rex, das thu' ich. Heut wie immer. Aber
eines ſchickt ſich nicht für alle. Der eine darf's, der
andre nicht. Wenn unſer Freund Stechlin ſich in dieſe
ſeine alte Schloßkate zurückzieht, ſo darf er Menſch ſein,
ſo viel er will, aber als Gardedragoner kommt er da¬
mit nicht aus. Vom alten Adam will ich nicht ſprechen,
das hat immer noch ſo 'ne Nebenbedeutung.“
Während Rex und Czako Toilette machten und ab¬
wechſelnd über den alten [und] den jungen Stechlin ver¬
handelten, ſchritten die, die den Gegenſtand dieſer Unter¬
haltung bildeten, Vater und Sohn, im Garten auf und
ab und hatten auch ihrerſeits ihr Geſpräch.
„Ich bin dir dankbar, daß du mir deine Freunde
mitgebracht haſt. Hoffentlich kommen ſie auf ihre Koſten.
Mein Leben verläuft ein bißchen zu einſam, und es
wird ohnehin gut ſein, wenn ich mich wieder an Menſchen
gewöhne. Du wirſt geleſen haben, daß unſer guter
alter Kortſchädel geſtorben iſt, und in etwa vierzehn
Tagen haben wir hier 'ne Neuwahl. Da muß ich dann
'ran und mich populär machen. Die Konſervativen
wollen mich haben und keinen andern. Eigentlich mag
[24] ich nicht, aber ich ſoll, und da paßt es mir denn, daß
du mir Leute bringſt, an denen ich mich für die Welt
ſozuſagen wieder wie einüben kann. Sind ſie denn aus¬
giebig und plauderhaft?“
„O ſehr, Papa, vielleicht zu ſehr. Wenigſtens der
eine.“
„Das is gewiß der Czako. Sonderbar, die von
Alexander reden alle gern. Aber ich bin ſehr dafür;
Schweigen kleid't nicht jeden. Und dann ſollen wir uns
ja auch durch die Sprache vom Tier unterſcheiden. Alſo
wer am meiſten red't, iſt der reinſte Menſch. Und dieſem
Czako, dem hab' ich es gleich angeſehn. Aber der Rex.
Du ſagſt Miniſterialaſſeſſor. Iſt er denn von der
frommen Familie?“
„Nein, Papa. Du machſt dieſelbe Verwechslung,
die beinah' alle machen. Die fromme Familie, das ſind
die Reckes, gräflich und ſehr vornehm. Die Rex natür¬
lich auch, aber doch nicht ſo hoch hinaus und auch nicht
ſo fromm. Allerdings nimmt mein Freund, der
Miniſterialaſſeſſor, einen Anlauf dazu, die Reckes wo¬
möglich einzuholen.“
„Dann hab' ich alſo doch recht geſehn. Er hat ſo
die Figur, die ſo was vermuten läßt, ein bißchen wenig
Fleiſch und ſo glatt raſiert. Habt ihr denn beim Ra¬
ſieren in Cremmen gleich einen gefunden?“
„Er hat alles immer bei ſich; lauter engliſche. Von
Solingen oder Suhl will er nichts wiſſen.“
„Und muß man ihn denn vorſichtig anfaſſen, wenn
das Geſpräch auf kirchliche Dinge kommt? Ich bin ja,
wie du weißt, eigentlich kirchlich, wenigſtens kirchlicher
als mein guter Paſtor (es wird immer ſchlimmer mit
ihm), aber ich bin ſo im Ausdruck mitunter ungenierter,
als man vielleicht ſein ſoll, und bei „niedergefahren zur
Hölle“ kann mir's paſſieren, daß ich nolens volens ein
[25] bißchen tolles Zeug rede. Wie ſteht es denn da mit
ihm? Muß ich mich in acht nehmen? Oder macht er
bloß ſo mit?“
„Das will ich nicht geradezu behaupten. Ich denke
mir, er ſteht ſo wie die meiſten ſtehn; das heißt, er
weiß es nicht recht.“
„Ja, ja, den Zuſtand kenn' ich.“
„Und weil er es nicht recht weiß, hat er ſozuſagen
die Auswahl und wählt das, was gerade gilt und nach
oben hin empfiehlt. Ich kann das auch ſo ſchlimm
nicht finden. Einige nennen ihn einen „Streber“. Aber
wenn er es iſt, iſt er jedenfalls keiner von den ſchlimmſten.
Er hat eigentlich einen guten Charakter, und im cercle
intime kann er reizend ſein. Er verändert ſich dann
nicht in dem, was er ſagt, oder doch nur ganz wenig, aber
ich möchte ſagen, er verändert ſich in der Art, wie er
zuhört. Czako meint, unſer Freund Rex halte ſich mit
dem Ohr für das ſchadlos, was er mit dem Munde
verſäumt. Czako wird überhaupt am beſten mit ihm
fertig; er ſchraubt ihn beſtändig, und Rex, was ich
reizend finde, läßt ſich dieſe Schraubereien gefallen. Daran
ſiehſt du ſchon, daß ſich mit ihm leben läßt. Seine
Frömmigkeit iſt keine Lüge, bloß Erziehung, Angewohn¬
heit, und ſo ſchließlich ſeine zweite Natur geworden.“
„Ich werde ihn bei Tiſch neben Lorenzen ſetzen;
die mögen dann beide ſehn, wie ſie miteinander fertig
werden. Vielleicht erleben wir 'ne Bekehrung. Das
heißt Rex den Paſtor. Aber da höre ich eine Kutſche
die Dorfſtraße 'raufkommen. Das ſind natürlich Gunder¬
manns; die kommen immer zu früh. Der arme Kerl
hat mal was von der Höflichkeit der Könige gehört und
macht jetzt einen zu weitgehenden Gebrauch davon.
Autodidakten übertreiben immer. Ich bin ſelber einer
und kann alſo mitreden. Nun, wir ſprechen morgen
früh weiter; heute wird es nichts mehr. Du wirſt dich
[26] auch noch ein bißchen ſtriegeln müſſen, und ich will
mir 'nen ſchwarzen Rock anziehn. Das bin ich der guten
Frau von Gundermann doch ſchuldig; ſie putzt ſich
übrigens nach wie vor wie 'n Schlittenpferd und hat
immer noch den merkwürdigen Federbuſch in ihrem Zopf
— das heißt, wenn's ihrer iſt.“
Drittes Kapitel.
Engelke ſchlug unten im Flur zweimal an einen
alten, als Tamtam fungierenden Schild, der an einem der
zwei vorſpringenden und zugleich die ganze Treppe tragenden
Pfeiler hing. Eben dieſe zwei Pfeiler bildeten denn
auch mit dem Podeſt und der in Front deſſelben an¬
gebrachten Rokoko-Uhr einen zum Gartenſalon, dieſem
Hauptzimmer des Erdgeſchoſſes, führenden, ziemlich pitto¬
resken Portikus, von dem ein auf Beſuch anweſender
hauptſtädtiſcher Architekt mal geſagt hatte: ſämtliche Bau¬
ſünden von Schloß Stechlin würden durch dieſen ver¬
drehten, aber maleriſchen Einfall wieder gut gemacht.
Die Uhr mit dem Hippenmann ſchlug gerade ſieben,
als Rex und Czako die Treppe herunter kamen und,
eine Biegung machend, auf den von berufener Seite ſo
glimpflich beurteilten ſonderbaren Vorbau zuſteuerten.
Als die Freunde dieſen paſſierten, ſahen ſie — die
Thürflügel waren ſchon geöffnet — in aller Bequem¬
lichkeit in den Salon hinein und nahmen hier wahr,
daß etliche, ihnen zu Ehren geladene Gäſte bereits er¬
ſchienen waren. Dubslav, in dunkelm Überrock und die
Bändchenroſette ſowohl des preußiſchen wie des wendiſchen
Kronenordens im Knopfloch, ging den Eintretenden ent¬
gegen, begrüßte ſie nochmals mit der ihm eignen Herz¬
lichkeit, und beide Herren gleich danach in den Kreis
der ſchon Verſammelten einführend, ſagte er: „Bitte die
[28] Herrſchaften miteinander bekannt machen zu dürfen: Herr
und Frau von Gundermann auf Siebenmühlen, Paſtor
Lorenzen, Oberförſter Katzler,“ und dann, nach links
ſich wendend, „Miniſterialaſſeſſor von Rex, Hauptmann
von Czako vom Regiment Alexander.“ Man verneigte
ſich gegenſeitig, worauf Dubslav zwiſchen Rex und Paſtor
Lorenzen, Woldemar aber, als Adlatus ſeines Vaters,
zwiſchen Czako und Katzler eine Verbindung herzuſtellen
ſuchte, was auch ohne weiteres gelang, weil es hüben
und drüben weder an geſellſchaftlicher Gewandtheit noch
an gutem Willen gebrach. Nur konnte Rex nicht um¬
hin, die Siebenmühlener etwas eindringlich zu muſtern,
trotzdem Herr von Gundermann in Frack und weißer
Binde, Frau von Gundermann aber in geblümtem Atlas,
mit Marabufächer erſchienen war, — er augenſcheinlich
Parvenu, ſie Berlinerin aus einem nordöſtlichen Vorſtadt¬
gebiet.
Rex ſah das alles. Er kam aber nicht in die
Lage, ſich lange damit zu beſchäftigen, weil Dubslav
eben jetzt den Arm der Frau von Gundermann nahm
und dadurch das Zeichen zum Aufbruch zu der im Neben¬
zimmer gedeckten Tafel gab. Alle folgten paarweiſe,
wie ſie ſich vorher zuſammengefunden, kamen aber durch
die von ſeiten Dubslavs ſchon vorher feſtgeſetzte Tafel¬
ordnung wieder auseinander. Die beiden Stechlins, Vater
und Sohn, plazierten ſich an den beiden Schmalſeiten
einander gegenüber, während zur Rechten und Linken
von Dubslav Herr und Frau von Gundermann, rechts
und links von Woldemar aber Rex und Lorenzen ſaßen.
Die Mittelplätze hatten Katzler und Czako inne. Neben
einem großen alten Eichenbüffett, ganz in Nähe der
Thür, ſtanden Engelke und Martin, Engelke in ſeiner
ſandfarbenen Livree mit den großen Knöpfen, Martin,
dem nur oblag, mit der Küche Verbindung zu halten,
einfach in ſchwarzem Rock und Stulpſtiefeln.
[29]
Der alte Dubslav war in beſter Laune, ſtieß gleich
nach den erſten Löffeln Suppe mit Frau von Gunder¬
mann vertraulich an, dankte für ihr Erſcheinen und ent¬
ſchuldigte ſich wegen der ſpäten Einladung: „Aber erſt
um zwölf kam Woldemars Telegramm. Es iſt das
mit dem Telegraphieren ſolche Sache, manches wird beſſer,
aber manches wird auch ſchlechter, und die feinere Sitte
leidet nun ſchon ganz gewiß. Schon die Form, die
Abfaſſung. Kürze ſoll eine Tugend ſein, aber ſich kurz
faſſen, heißt meiſtens auch ſich grob faſſen. Jede Spur
von Verbindlichkeit fällt fort, und das Wort ‚Herr‘ iſt
beiſpielsweiſe gar nicht mehr anzutreffen. Ich hatte
mal einen Freund, der ganz ernſthaft verſicherte: ‚Der
häßlichſte Mops ſei der ſchönſte‘; ſo läßt ſich jetzt bei¬
nahe ſagen, ‚das gröbſte Telegramm iſt das feinſte‘.
Wenigſtens das in ſeiner Art vollendetſte. Jeder, der
wieder eine neue Fünfpfennigerſparnis herausdoktert,
iſt ein Genie.“
Dieſe Worte Dubslavs hatten ſich anfänglich an
die Frau von Gundermann, ſehr bald aber mehr an
Gundermann ſelbſt gerichtet, weshalb dieſer letztere denn
auch antwortete: „Ja, Herr von Stechlin, alles Zeichen
der Zeit. Und ganz bezeichnend, daß gerade das Wort
‚Herr‘, wie Sie ſchon hervorzuheben die Güte hatten,
ſo gut wie abgeſchafft iſt. ‚Herr‘ iſt Unſinn geworden,
‚Herr‘ paßt den Herren nicht mehr, — ich meine
natürlich die, die jetzt die Welt regieren wollen. Aber
es iſt auch danach. Alle dieſe Neuerungen, an denen
ſich leider auch der Staat beteiligt, was ſind ſie? Be¬
günſtigungen der Unbotmäßigkeit, alſo Waſſer auf die
Mühlen der Sozialdemokratie. Weiter nichts. Und nie¬
mand da, der Luſt und Kraft hätte, dies Waſſer abzu¬
ſtellen. Aber trotzdem, Herr von Stechlin, — ich würde
nicht widerſprechen, wenn mich das Thatſächliche nicht
dazu zwänge — trotzdem geht es nicht ohne Telegraphie,
[30] gerade hier in unſrer Einſamkeit. Und dabei das be¬
ſtändige Schwanken der Kurſe. Namentlich auch in der
Mühlen- und Brettſchneidebranche ...“
„Verſteht ſich, lieber Gundermann. Was ich da
geſagt habe ... Wenn ich das Gegenteil geſagt hätte,
wäre es ebenſo richtig. Der Teufel is nich ſo ſchwarz,
wie er gemalt wird, und die Telegraphie auch nicht,
und wir auch nicht. Schließlich iſt es doch was Großes,
dieſe Naturwiſſenſchaften, dieſer elektriſche Strom, tipp,
tipp, tipp, und wenn uns daran läge (aber uns liegt
nichts daran), ſo könnten wir den Kaiſer von China
wiſſen laſſen, daß wir hier verſammelt ſind und ſeiner
gedacht haben. Und dabei dieſe merkwürdigen Ver¬
ſchiebungen in Zeit und Stunde. Beinahe komiſch. Als
Anno ſiebzig die Pariſer Septemberrevolution ausbrach,
wußte man's in Amerika drüben um ein paar Stunden
früher, als die Revolution überhaupt da war. Ich
ſagte: Septemberrevolution. Es kann aber auch 'ne
andre geweſen ſein; ſie haben da ſo viele, daß man ſie
leicht verwechſelt. Eine war im Juni, 'ne andre war
im Juli, — wer nich ein Bombengedächtnis hat, muß
da notwendig 'reinfallen ... Engelke, präſentiere der
gnäd'gen Frau den Fiſch noch mal. Und vielleicht
nimmt auch Herr von Czako ...“
„Gewiß, Herr von Stechlin,“ ſagte Czako. „Erſt¬
lich aus reiner Gourmandiſe, dann aber auch aus
Forſchertrieb oder Fortſchrittsbedürfnis. Man will doch
an dem, was gerade gilt oder überhaupt Menſchheits¬
entwickelung bedeutet, auch ſeinerſeits nach Möglichkeit
teilnehmen, und da ſteht denn Fiſchnahrung jetzt obenan.
Fiſche ſollen außerdem viel Phosphor enthalten, und
Phosphor, ſo heißt es, macht ‚helle‘.“
„Gewiß,“ kicherte Frau von Gundermann, die
ſich bei dem Wort „helle“ wie perſönlich getroffen
fühlte. „Phosphor war ja auch ſchon, eh' die Schwe¬
diſchen aufkamen.“
„O, lange vorher,“ beſtätigte Czako. „Was mich
aber,“ fuhr er, ſich an Dubslav wendend, fort, „an dieſen
Karpfen noch ganz beſonders feſſelt — beiläufig ein
Prachtexemplar — das iſt das, daß er doch höchſtwahr¬
ſcheinlich aus Ihrem berühmten See ſtammt, über den
ich durch Woldemar, Ihren Herrn Sohn, bereits unter¬
richtet bin. Dieſer merkwürdige See, dieſer Stechlin!
Und da frag ich mich denn unwillkürlich (denn Karpfen
werden alt; daher beiſpielsweiſe die Mooskarpfen), welche
Revolutionen ſind an dieſem hervorragenden Exemplar
ſeiner Gattung wohl ſchon vorüber gegangen? Ich weiß
nicht, ob ich ihn auf hundertfünfzig Jahre taxieren darf,
wenn aber, ſo würde er als Jüngling die Liſſaboner
Aktion und als Urgreis den neuerlichen Ausbruch des
Krakatowa mitgemacht haben. Und all das erwogen,
drängt ſich mir die Frage auf ...“
Dubslav lächelte zuſtimmend.
„... Und all das erwogen, drängt ſich mir die
Frage auf, wenn's nun in Ihrem Stechlinſee zu brodeln
beginnt oder gar die große Trichterbildung anhebt, aus
der dann und wann, wenn ich recht gehört habe, der krähende
Hahn aufſteigt, wie verhält ſich da der Stechlinkarpfen,
dieſer doch offenbar Nächſtbeteiligte, bei dem Anpochen
derartiger Weltereigniſſe? Beneidet er den Hahn, dem
es vergönnt iſt, in die Ruppiner Lande hineinzukrähen,
[oder] iſt er umgekehrt ein Feigling, der ſich in ſeinem
Moorgrund verkriecht, alſo ein Bourgeois, der am andern
Morgen fragt: ‚Schießen ſie noch?‘“
„Mein lieber Herr von Czako, die Beantwortung
Ihrer Frage hat ſelbſt für einen Anwohner des Stechlin
ſeine Schwierigkeiten. Ins Innere der Natur dringt
kein erſchaffener Geiſt. Und zu dem innerlichſten und
verſchloſſenſten zählt der Karpfen; er iſt nämlich ſehr
dumm. Aber nach der Wahrſcheinlichkeitsrechnung wird
er ſich beim Eintreten der großen Eruption wohl ver¬
[32] krochen haben. Wir verkriechen uns nämlich alle. Helden¬
tum iſt Ausnahmezuſtand und meiſt Produkt einer
Zwangslage. Sie brauchen mir übrigens nicht zuzu¬
ſtimmen, denn Sie ſind noch im Dienſt.“
„Bitte, bitte,“ ſagte Czako.
Sehr, ſehr anders ging das Geſpräch an der ent¬
gegengeſetzten Seite der Tafel. Rex, der, wenn er dienſt¬
lich oder außerdienſtlich aufs Land kam, immer eine
Neigung ſpürte, ſozialen Fragen nachzuhängen und bei¬
ſpielsweiſe jedesmal mit Vorliebe darauf aus war, an
das Zahlenverhältnis der in und außer der Ehe ge¬
borenen Kinder alle möglichen, teils dem Gemeinwohl,
teils der Sittlichkeit zu gute kommende Betrachtungen zu
knüpfen, hatte ſich auch heute wieder in einem mit Paſtor
Lorenzen angeknüpften Zwiegeſpräch ſeinem Lieblings¬
thema zugewandt, war aber, weil Dubslav durch eine
Zwiſchenfrage den Faden abſchnitt, in die Lage ge¬
kommen, ſich vorübergehend ſtatt mit Lorenzen mit Katzler
beſchäftigen zu müſſen, von dem er zufällig in Er¬
fahrung gebracht hatte, daß er früher Feldjäger geweſen
ſei. Das gab ihm einen guten Geſprächsſtoff und ließ
ihn fragen, ob der Herr Oberförſter nicht mitunter
ſchmerzlich den zwiſchen ſeiner Vergangenheit und ſeiner
Gegenwart liegenden Gegenſatz empfinde, — ſein früherer
Feldjägerberuf, ſo nehme er an, habe ihn in die weite
Welt hinausgeführt, während er jetzt „ſtabiliert“ ſei.
„Stabilierung“ zählte zu Rex' Lieblingswendungen und
entſtammte jenem ſorglich ausgewählten Fremdwörterſchatz,
den er ſich — er hatte dieſe Dinge dienſtlich zu bearbeiten
gehabt — aus den Erlaſſen König Friedrich Wilhelms I.
angeeignet und mit in ſein Aktendeutſch herübergenommen
hatte. Katzler, ein vorzüglicher Herr, aber auf dem Ge¬
biete der Konverſation doch nur von einer oft unaus¬
[33] reichenden Orientierungsfähigkeit, fand ſich in des
Miniſterialaſſeſſors etwas gedrechſeltem Gedankengange
nicht gleich zurecht und war froh, als ihm der hell¬
hörige, mittlerweile wieder frei gewordene Paſtor in der
durch Rex aufgeworfenen Frage zu Hilfe kam. „Ich
glaube herauszuhören,“ ſagte Lorenzen, „daß Herr von
Rex geneigt iſt, dem Leben draußen in der Welt vor
dem in unſrer ſtillen Grafſchaft den Vorzug zu geben.
Ich weiß aber nicht, ob wir ihm darin folgen können,
ich nun ſchon gewiß nicht; aber auch unſer Herr Ober¬
förſter wird mutmaßlich froh ſein, ſeine vordem im
Eiſenbahncoupé verbrachten Feldjägertage hinter ſich zu
haben. Es heißt freilich ‚im engen Kreis verengert ſich
der Sinn‘, und in den meiſten Fällen mag es zutreffen.
Aber doch nicht immer, und jedenfalls hat das Welt¬
fremde beſtimmte große Vorzüge.“
„Sie ſprechen mir durchaus aus der Seele, Herr
Paſtor Lorenzen,“ ſagte Rex. „Wenn es einen Augen¬
blick vielleicht ſo klang, als ob der ‚Globetrotter‘ mein
Ideal ſei, ſo bin ich ſehr geneigt, mit mir handeln zu
laſſen. Aber etwas hat es doch mit dem ‚Auch-draußen-
zu-Hauſe-ſein‘ auf ſich, und wenn Sie trotzdem für
Einſamkeit und Stille plaidieren, ſo plaidieren Sie wohl in
eigner Sache. Denn wie ſich der Herr Oberförſter aus der
Welt zurückgezogen hat, ſo wohl auch Sie. Sie ſind
beide darin, ganz individuell, einem Herzenszuge gefolgt,
und vielleicht, daß meine perſönliche Neigung dieſelben
Wege ginge. Dennoch wird es andre geben, die von
einem ſolchen Sichzurückziehen aus der Welt nichts
wiſſen wollen, die vielleicht umgekehrt, ſtatt in einem
ſich Hingeben an den Einzelnen, in der Beſchäftigung
mit einer Vielheit ihre Beſtimmung finden. Ich glaube
durch Freund Stechlin zu wiſſen, welche Fragen Sie
ſeit lange beſchäftigen, und bitte, Sie dazu beglück¬
wünſchen zu dürfen. Sie ſtehen in der chriſtlich-ſozialen
Fontane, Der Stechlin. 3[34] Bewegung. Aber nehmen Sie deren Schöpfer, der Ihnen
perſönlich vielleicht nahe ſteht, er und ſein Thun ſprechen
doch recht eigentlich für mich; ſein Feld iſt nicht einzelne
Seelſorge, nicht eine Landgemeinde, ſondern eine Welt¬
ſtadt. Stöckers Auftreten und ſeine Miſſion ſind eine
Widerlegung davon, daß das Schaffen im Engen und
Umgrenzten notwendig das Segensreichere ſein müſſe.“
Lorenzen war daran gewöhnt, ſei's zu Lob, ſei's
zu Tadel, ſich mit dem ebenſo gefeierten wie befehdeten
Hofprediger in Parallele geſtellt zu ſehen, und empfand
dies jedesmal als eine Huldigung. Aber nicht minder
empfand er dabei regelmäßig den tiefen Unterſchied, der
zwiſchen dem großen Agitator und ſeiner ſtillen Weiſe
lag. „Ich glaube, Herr von Rex,“ nahm er wieder das
Wort, „daß Sie den ,Vater der Berliner Bewegung‘
ſehr richtig geſchildert haben, vielleicht ſogar zur Zu¬
friedenheit des Geſchilderten ſelbſt, was, wie man ſagt,
nicht eben leicht ſein ſoll. Er hat viel erreicht und ſteht
anſcheinend in einem Siegeszeichen; hüben und drüben
hat er Wurzel geſchlagen und ſieht ſich geliebt und ge¬
huldigt, nicht nur ſeitens derer, denen er mildthätig die
Schuhe ſchneidet, ſondern beinah mehr noch im Lager
derer, denen er das Leder zu den Schuhen nimmt. Er
hat ſchon ſo viele Beinamen, und der des heiligen
Kriſpin wäre nicht der ſchlimmſte. Viele wird es geben,
die ſein Thun im guten Sinne beneiden. Aber ich
fürchte, der Tag iſt nahe, wo der ſo Ruhige und zu¬
gleich ſo Mutige, der ſeine Ziele ſo weit ſteckte, ſich in
die Enge des Daſeins zurückſehnen wird. Er beſitzt,
wenn ich recht berichtet bin, ein kleines Bauerngut irgend¬
wo in Franken, und wohl möglich, ja, mir perſönlich
geradezu wahrſcheinlich, daß ihm an jener ſtillen Stelle
früher oder ſpäter ein echteres Glück erblüht, als er es
jetzt hat. Es heißt wohl, ‚Gehet hin und lehret alle
Heiden‘, aber ſchöner iſt es doch, wenn die Welt, uns
[35] ſuchend, an uns herankommt. Und die Welt kommt
ſchon, wenn die richtige Perſönlichkeit ſich ihr aufthut.
Da iſt dieſer Wörishofener Pfarrer — er ſucht nicht
die Menſchen, die Menſchen ſuchen ihn. Und wenn ſie
kommen, ſo heilt er ſie, heilt ſie mit dem Einfachſten
und Natürlichſten. Übertragen Sie das vom Äußern
aufs Innere, ſo haben Sie mein Ideal. Einen Brunnen
graben juſt an der Stelle, wo man gerade ſteht. Innere
Miſſion in nächſter Nähe, ſei's mit dem Alten, ſei's mit
etwas Neuem.“
„Alſo mit dem Neuen,“ ſagte Woldemar und reichte
ſeinem alten Lehrer die Hand.
Aber dieſer antwortete: „Nicht ſo ganz unbedingt
mit dem Neuen. Lieber mit dem Alten, ſoweit es irgend
geht, und mit dem Neuen nur, ſoweit es muß.“
Das Mahl war inzwiſchen vorgeſchritten und bei
einem Gange angelangt, der eine Spezialität von Schloß
Stechlin war und jedesmal die Bewunderung ſeiner
Gäſte: losgelöſte Krammetsvögelbrüſte, mit einer dunkeln
Kraftbrühe angerichtet, die, wenn die Herbſt- und Eber¬
eſchentage da waren, als eine höhere Form von Schwarz¬
ſauer auf den Tiſch zu kommen pflegten. Engelke prä¬
ſentierte Burgunder dazu, der ſchon lange lag, noch aus
alten beſſeren Tagen her, und als jeder davon genommen,
erhob ſich Dubslav, um erſt kurz ſeine lieben Gäſte zu
begrüßen, dann aber die Damen leben zu laſſen. Er
müſſe bei dieſem Plural bleiben, trotzdem die Damen¬
welt nur in einer Einheit vertreten ſei; doch er gedenke
dabei neben ſeiner lieben Freundin und Tiſchnachbarin
(er küßte dieſer huldigend die Hand) zugleich auch der
„Gemahlin“ ſeines Freundes Katzler, die leider — wenn
auch vom Familienſtandpunkt aus in hocherfreulichſter
3*[36] Veranlaſſung — am Erſcheinen in ihrer Mitte verhindert
ſei: „Meine Herren, Frau Oberförſter Katzler“ — er
machte hier eine kleine Pauſe, wie wenn er eine höhere
Titulatur ganz ernſthaft in Erwägung gezogen hätte —
„Frau Oberförſter Katzler und Frau von Gundermann,
ſie leben hoch!“ Rex, Czako, Katzler erhoben ſich, um
mit Frau von Gundermann anzuſtoßen, als aber jeder
von ihnen auf ſeinen Platz zurückgekehrt war, nahmen
ſie die durch den Toaſt unterbrochenen Privatgeſpräche
wieder auf, wobei Dubslav als guter Wirt ſich darauf
beſchränkte, kurze Bemerkungen nach links und rechts
hin einzuſtreuen. Dies war indeſſen nicht immer leicht,
am wenigſten leicht bei dem Geplauder, das der Haupt¬
mann und Frau von Gundermann führten, und das ſo
pauſenlos verlief, daß ein Einhaken ſich kaum ermög¬
lichte. Czako war ein guter Sprecher, aber er verſchwand
neben ſeiner Partnerin. Ihres Vaters Laufbahn, der
es (urſprünglich Schreib- und Zeichenlehrer) in einer
langen, ſchon mit Anno 13 beginnenden Dienſtzeit bis zum
Hauptmann in der „Plankammer“ gebracht hatte, gab
ihr in ihren Augen eine gewiſſe militäriſche Zugehörig¬
keit, und als ſie, nach mehrmaligem Auslugen, endlich
den ihr wohlbekannten Namenszug des Regiments Alexander
auf Czakos Achſelklappe erkannt hatte, ſagte ſie: „Gott
..., Alexander. Nein, ich ſage. Mir war aber doch
auch gleich ſo Münzſtraße. Wir wohnten ja Linienſtraße,
Ecke der Weinmeiſter — das heißt, als ich meinen Mann
kennen lernte. Vorher draußen, Schönhauſer Allee. Wenn
man ſo wen aus ſeiner Gegend wieder ſieht! Ich bin
ganz glücklich, Herr Hauptmann. Ach, es iſt zu traurig
hier. Und wenn wir nicht den Herrn von Stechlin
hätten, ſo hätten wir ſo gut wie gar nichts. Mit
Katzlers,“ aber dies flüſterte ſie nur leiſe, „mit Katzlers
iſt es nichts; die ſind zu hoch 'raus. Da muß man ſich
denn klein machen. Und ſo toll iſt es am Ende doch
[37] auch noch nicht. Jetzt paſſen ſie ja noch leidlich. Aber
abwarten.“
„Sehr wahr, ſehr wahr,“ ſagte Czako, der, ohne
was Sicheres zu verſtehen, nur ein während des
Dubslavſchen Toaſtes ſchon gehabtes Gefühl beſtätigt
ſah, daß es mit den Katzlers was Beſonderes auf ſich
haben müſſe. Frau von Gundermann aber, den ihr un¬
bequemen Flüſterton aufgebend, fuhr mit wieder lauter
werdender Stimme fort, „wir haben den Herrn von
Stechlin, und das iſt ein Glück, und es iſt auch bloß
eine gute halbe Meile. Die meiſten andern wohnen viel
zu weit, und wenn ſie auch näher wohnten, ſie wollen
alle nicht recht; die Leute hier, mit denen wir eigentlich
Umgang haben müßten, ſind ſo difficil und legen alles
auf die Goldwage. Das heißt, vieles legen ſie nicht
auf die Goldwage, dazu reicht es bei den meiſten nicht
aus; nur immer die Ahnen. Und ſechzehn iſt das
wenigſte. Ja, wer hat gleich ſechzehn? Gundermann
iſt erſt geadelt, und wenn er nicht Glück gehabt hätte,
ſo wär' es gar nichts. Er hat nämlich klein angefangen,
bloß mit einer Mühle; jetzt haben wir nun freilich
ſieben, immer den Rhin entlang, lauter Schneidemühlen,
Bohlen und Bretter, einzöllig, zweizöllig und noch mehr.
Und die Berliner Dielen, die ſind faſt alle von uns.“
„Aber, meine gnädigſte Frau, das muß Ihnen doch
ein Hochgefühl geben. Alle Berliner Dielen! Und dieſer
Rhinfluß, von dem Sie ſprechen, der vielleicht eine ganze
Seeenkette verbindet, und woran mutmaßlich eine reizende
Villa liegt! Und darin hören Sie Tag und Nacht, wie
nebenan in der Mühle die Säge geht, und die dicht
herumſtehenden Bäume bewegen ſich leiſe. Mitunter
natürlich iſt auch Sturm. Und Sie haben eine Pony-
Equipage für Ihre Kinder. Ich darf doch annehmen,
daß Sie Kinder haben? Wenn man ſo abgeſchieden lebt
und ſo beſtändig aufeinander angewieſen iſt ...“
„Es iſt, wie Sie ſagen, Herr Hauptmann; ich habe
Kinder, aber ſchon erwachſen, beinah alle, denn ich habe
mich jung verheiratet. Ja, Herr von Czako, man iſt
auch einmal jung geweſen. Und es iſt ein Glück, daß
ich die Kinder habe. Sonſt iſt kein Menſch da, mit
dem man ein gebildetes Geſpräch führen kann. Mein
Mann hat ſeine Politik und möchte ſich wählen laſſen,
aber es wird nichts, und wenn ich die Journale bringe,
nicht mal die Bilder ſieht er ſich an. Und die Geſchichten,
ſagt er, ſeien bloß dummes Zeug und bloß Waſſer auf
die Mühlen der Sozialdemokratie. Seine Mühlen, was
ich übrigens recht und billig finde, ſind ihm lieber.“
„Aber Sie müſſen doch viele Menſchen um ſich
herum haben, ſchon in Ihrer Wirtſchaft.“
„Ja die hab' ich, und die Mamſells die man ſo
kriegt, ja ein paar Wochen geht es; aber dann bändeln
ſie gleich an, am liebſten mit 'nem Volontär, wir haben
nämlich auch Volontärs in der Mühlenbranche. Und
die meiſten ſind aus ganz gutem Hauſe. Die jungen
Menſchen paſſen aber nicht auf, und da hat man's denn,
und immer gleich Knall und Fall. All das iſt doch
traurig, und mitunter iſt es auch ſo, daß man ſich
geradezu genieren muß.“
Czako ſeufzte. „Mir ein Greuel, all dergleichen.
Aber ich weiß vom Manöver her, was alles vorkommt.
Und mit einer Schläue .. nichts ſchlauer, als verliebte
Menſchen. Ach, das iſt ein Kapitel, womit man nicht
fertig wird. Aber Sie ſagten Linienſtraße, meine
Gnädigſte. Welche Nummer denn? Ich kenne da beinah
jedes Haus, kleine, nette Häuſer, immer bloß Bel-Etage,
höchſtens mal ein Oeil de Boeuf.“
„Wie? was?“
„Großes rundes Fenſter ohne Glas. Aber ich liebe
dieſe Häuſer.“
„Ja, das kann ich auch von mir ſagen, und in
[39] gerade ſolchen Häuſern hab' ich meine beſte Zeit verbracht,
als ich noch ein Quack war, höchſtens vierzehn. Und
ſo grauſam wild. Damals waren nämlich noch die
Rinnſteine, und wenn es dann regnete und alles über¬
ſchwemmt war und die Bretter anfingen, ſich zu heben,
und ſchon ſo halb herumſchwammen, und die Ratten,
die da drunter ſteckten, nicht mehr wußten, wo ſie hin
ſollten, dann ſprangen wir auf die Bohlen rauf, und
nun die Bieſter 'raus, links und rechts, und die Jungens
hinterher, immer aufgekrempelt und ganz nackigt. Und
einmal, weil der eine Junge nicht abließ und mit ſeinen
Holzpantinen immer drauf losſchlug, da wurde das Un¬
tier falſch und biß den Jungen ſo, daß er ſchrie! Nein,
ſo hab' ich noch keinen Menſchen wieder ſchreien hören.
Und es war auch fürchterlich.“
„Ja, das iſt es. Und da helfen bloß Rattenfänger.“
„Ja, Rattenfänger, davon hab' ich auch gehört
— Rattenfänger von Hameln. Aber die giebt es doch
nicht mehr.“
„Nein, gnädige Frau, die giebt es nicht mehr,
wenigſtens nicht mehr ſolche Hexenmeiſter mit Zauber¬
ſpruch und einer Pfeife zum pfeifen. Aber die meine
ich auch gar nicht. Ich meine überhaupt nicht Menſchen,
die dergleichen als Metier betreiben und ſich in den Zeitungen
anzeigen, unheimliche Geſichter mit einer Pelzkappe. Was
ich meine, ſind bloß Pinſcher, die nebenher auch noch
‚Rattenfänger‘ heißen und es auch wirklich ſind. Und
mit einem ſolchen Rattenfänger auf die Jagd gehen, das
iſt eigentlich das Schönſte, was es giebt.“
„Aber mit einem Pinſcher kann man doch nicht
auf die Jagd gehen!“
„Doch, doch, meine gnädigſte Frau. Als ich in
Paris war (ich war da nämlich mal hinkommandiert),
da bin ich mit 'runtergeſtiegen in die ſogenannten Kata¬
komben, hochgewölbte Kanäle, die ſich unter der Erde
[40] hinziehen. Und dieſe Kanäle ſind das wahre Ratten¬
eldorado; da ſind ſie zu Millionen. Oben drei Millionen
Franzoſen, unten drei Millionen Ratten. Und einmal,
wie geſagt, bin ich da mit 'runtergeklettert und in einem
Boote durch dieſe Unterwelt hingefahren, immer mitten
in die Ratten hinein.“
„Gräßlich, gräßlich. Und ſind Sie heil wieder
'raus gekommen?“
„Im ganzen, ja. Denn, meine gnädigſte Frau,
eigentlich war es doch ein Vergnügen. In unſerm Kahn
hatten wir nämlich zwei ſolche Rattenfänger, einen vorn
und einen hinten. Und nun hatten Sie ſehen ſollen,
wie das losging. ‚Schnapp‘, und das Tier um die
Ohren geſchlagen, und tot war es. Und ſo weiter, ſo
ſchnell wie Sie nur zählen können, und mitunter noch
ſchneller. Ich kann es nur vergleichen mit Mr. Carver,
dem bekannten Mr. Carver, von dem Sie gewiß einmal
geleſen haben, der in der Sekunde drei Glaskugeln
wegſchoß. Und ſo immerzu, viele Hundert. Ja, ſo was
wie dieſe Rattenjagd da unten, das vergißt man nicht
wieder. Es war aber auch das Beſte da. Denn was
ſonſt noch von Paris geredet wird, das iſt alles über¬
trieben; meiſt dummes Zeug. Was haben ſie denn
Großes? Opern und Cirkus und Muſeum, und in einem
Saal 'ne Venus, die man ſich nicht recht anſieht, weil
ſie das Gefühl verletzt, namentlich wenn man mit Damen
da iſt. Und das alles haben wir ſchließlich auch, und
manches haben wir noch beſſer. So zum Beiſpiel Nie¬
mann und die dell' Era. Aber ſolche Rattenſchlacht,
das muß wahr ſein, die haben wir nicht. Und warum
nicht? Weil wir keine Katakomben haben.“
Der alte Dubslav, der das Wort „Katakomben“
gehört hatte, wandte ſich jetzt wieder über den Tiſch hin
und ſagte: „Pardon, Herr von Czako, aber Sie müſſen
meiner lieben Frau von Gundermann nicht mit ſo
[41] furchtbar ernſten Sachen kommen und noch dazu hier
bei Tiſch, gleich nach Karpfen und Meerrettich. Kata¬
komben! Ich bitte Sie. Die waren ja doch eigentlich
in Rom und erinnern einen immer an die traurigſten
Zeiten, an den grauſamen Kaiſer Nero und ſeine Ver¬
folgungen und ſeine Fackeln. Und da war dann noch
einer mit einem etwas längeren Namen, der noch viel
grauſamer war, und da verkrochen ſich dieſe armen Chriſten
gerade in eben dieſe Katakomben, und manche wurden
verraten und gemordet. Nein, Herr von Czako, da
lieber was Heiteres. Nicht wahr, meine liebe Frau von
Gundermann?“
„Ach nein, Herr von Stechlin; es iſt doch alles
ſo ſehr gelehrig. Und wenn man ſo ſelten Gelegenheit
hat ...“
„Na, wie Sie wollen. Ich hab' es gut gemeint.
Stoßen wir an! Ihr Rudolf ſoll leben; das iſt doch
der Liebling, trotzdem er der älteſte iſt. Wie alt iſt er
denn jetzt?“
„Vierundzwanzig.“
„Ein ſchönes Alter. Und wie ich höre, ein guter
Menſch. Er müßte nur mehr 'raus. Er verſauert hier
ein bißchen.“
„Sag' ich ihm auch. Aber er will nicht fort. Er
ſagt, zu Hauſe ſei es am beſten.“
„Bravo. Da nehm' ich alles zurück. Laſſen Sie
ihn. Zu Hauſe iſt es am Ende wirklich am beſten.
Und gerade wir hier, die wir den Vorzug haben, in der
Rheinsberger Gegend zu leben. Ja, wo iſt ſo was?
Erſt der große König, und dann Prinz Heinrich, der
nie 'ne Schlacht verloren. Und einige ſagen, er wäre
noch klüger geweſen als ſein Bruder. Aber ich will ſo
was nicht geſagt haben.“
Viertes Kapitel.
Frau von Gundermann ſchien auf das ihr als einziger,
alſo auch älteſter Dame zuſtehende Tafelaufhebungsrecht
verzichten zu wollen und wartete, bis ſtatt ihrer der ſchon
ſeit einer Viertelſtunde ſich nach ſeiner Meerſchaumpfeife
ſehnende Dubslav das Zeichen zum Aufbruch gab. Alles
erhob ſich jetzt raſch, um vom Eßzimmer aus in den nach
dem Garten hinausſehenden Salon zurückzukehren, dem
es — war es Zufall oder Abſicht? — in dieſem Augen¬
blick noch an aller Beleuchtung fehlte; nur im Kamin
glühten ein paar Scheite, die während der Eſſenszeit halb
niedergebrannt waren, und durch die offenſtehende hohe
Glasthür fiel von der Veranda her das Licht der über
den Parkbäumen ſtehenden Mondſichel. Alles gruppierte
ſich alsbald um Frau von Gundermann, um dieſer die
pflichtſchuldigen Honneurs zu machen, während Martin
die Lampen, Engelke den Kaffee brachte. Das ein paar
Minuten lang geführte gemeinſchaftliche Geſpräch kam,
all die Zeit über, über ein unruhiges Hin und Her nicht
hinaus, bis der Knäuel, in dem man ſtand, ſich wieder
in Gruppen auflöſte.
Das erſte ſich abtrennende Paar waren Rex und
Katzler, beide paſſionierte Billardſpieler, die ſich — Katzler
übernahm die Führung — erſt in den Eßſaal zurück und
von dieſem aus in das daneben gelegene Spielzimmer
begaben. Das hier ſtehende, ziemlich vernachläſſigte Billard
[43] war ſchon an die fünfzig Jahre alt und ſtammte noch aus
des Vaters Zeiten her. Dubslav ſelbſt machte ſich nicht
viel aus dem Spiel, aus Spiel überhaupt und intereſſierte
ſich, ſoweit ſein Billard in Betracht kam, nur für eine
ſehr nachgedunkelte Karoline, von der ein Berliner Be¬
ſucher mal geſagt hatte: „Alle Wetter, Stechlin, wo haben
Sie die her? Das iſt ja die gelbſte Karoline, die ich all
mein Lebtag geſehen habe,“ — Worte, die damals ſolchen
Eindruck auf Dubslav gemacht hatten, daß er ſeitdem ein
etwas freundlicheres Verhältnis zu ſeinem Billard unter¬
hielt und nicht ungern von „ſeiner Karoline“ ſprach.
Das zweite Paar, das ſich aus der Gemeinſchaft ab¬
trennte, waren Woldemar und Gundermann. Gunder¬
mann, wie alle an Kongeſtionen Leidende, fand es über¬
all zu heiß und wies, als er ein paar Worte mit Wol¬
demar gewechſelt, auf die offenſtehende Thür. „Es iſt ein
ſo ſchöner Abend, Herr von Stechlin; könnten wir nicht
auf die Veranda hinaustreten?“
„Aber gewiß, Herr von Gundermann. Und wenn
wir uns abſentieren, wollen wir auch alles Gute gleich
mitnehmen. Engelke, bring uns die kleine Kiſte, du weißt
ſchon.“
„Ah, kapital. So ein paar Züge, das ſchlägt nieder,
beſſer als Sodawaſſer. Und dann iſt es auch wohl ſchick¬
licher im Freien. Meine Frau, wenn wir zu Hauſe ſind,
hat ſich zwar daran gewöhnen müſſen und ſpricht höchſtens
mal von „paffen“ (na, das is nicht anders, dafür is man
eben verheiratet), aber in einem fremden Hauſe, da fangen
denn doch die Rückſichten an. Unſer guter alter Kort¬
ſchädel ſprach auch immer von ‚Dehors‘.“
Unter dieſen Worten waren Woldemar und Gunder¬
mann vom Salon her auf die Veranda hinausgetreten,
bis dicht an die Treppenſtufen heran, und ſahen auf den
kleinen Waſſerſtrahl, der auf dem Rundell aufſprang.
„Immer, wenn ich den Waſſerſtrahl ſehe,“ fuhr
[44] Gundermann fort, „muß ich wieder an unſern guten
alten Kortſchädel denken. Is nu auch hinüber. Na, jeder
muß mal, und wenn irgend einer ſeinen Platz da oben
ſicher hat, der hat ihn. Ehrenmann durch und durch,
und loyal bis auf die Knochen. Redner war er nicht,
was eigentlich immer ein Vorzug, und hat mit ſeiner
Schwätzerei dem Staate kein Geld gekoſtet; aber er wußte
ganz gut Beſcheid, und, unter vier Augen, ich habe Sachen
von ihm gehört, großartig. Und ich ſage mir, ſolchen
kriegen wir nicht wieder ...“
„Ach, das iſt Schwarzſeherei, Herr von Gunder¬
mann. Ich glaube, wir haben viele von ähnlicher Ge¬
ſinnung. Und ich ſehe nicht ein, warum nicht ein Mann
wie Sie ...“
„Geht nicht.“
„Warum nicht?“
„Weil Ihr Herr Papa kandidieren will. Und da
muß ich zurückſtehen. Ich bin hier ein Neuling. Und die
Stechlins waren hier ſchon ...“
„Nun gut, ich will dies letztere gelten laſſen, und
nur was das Kandidieren meines Vaters angeht — ich
denke mir, es iſt noch nicht ſo weit, vieles kann noch da¬
zwiſchen kommen, und jedenfalls wird er ſchwanken. Aber
nehmen wir mal an, es ſei, wie Sie vermuten. In dieſem
Falle träfe doch gerade das zu, was ich mir ſoeben zu
ſagen erlaubt habe. Mein Vater iſt in jedem Anbetracht
ein treuer Geſinnungsgenoſſe Kortſchädels, und wenn er
an ſeine Stelle tritt, was iſt da verloren? Die Lage bleibt
dieſelbe.“
„Nein, Herr von Stechlin.“
„Nun, was ändert ſich?“
„Vieles, alles. Kortſchädel war in den großen Fragen
unerbittlich, und Ihr Herr Vater läßt mit ſich reden ...“
„Ich weiß nicht, ob Sie da recht haben. Aber wenn
es ſo wäre, ſo wäre das doch ein Glück ...“
[45]
„Ein Unglück, Herr von Stechlin. Wer mit ſich reden
läßt, iſt nicht ſtramm, und wer nicht ſtramm iſt, iſt ſchwach.
Und Schwäche (die deſtruktiven Elemente haben dafür eine
feine Fühlung), Schwäche iſt immer Waſſer auf die Mühlen
der Sozialdemokratie.“
Die vier andern der kleinen Tafelrunde waren im
Gartenſalon zurückgeblieben, hatten ſich aber auch zu zwei
und zwei zuſammengethan. In der einen Fenſterniſche,
ſo daß ſie den Blick auf den mondbeſchienenen Vorplatz
und die draußen auf der Veranda auf und ab ſchreitenden
beiden Herren hatten, ſaßen Lorenzen und Frau von
Gundermann. Die Gundermann war glücklich über das
Tete-a-tete, denn ſie hatte wegen ihres jüngſten Sohnes
allerhand Fragen auf dem Herzen oder bildete ſich wenig¬
ſtens ein, ſie zu haben. Denn eigentlich hatte ſie für gar
nichts Intereſſe, ſie mußte bloß, richtige Berlinerin, die
ſie war, reden können.
„Ich bin ſo froh, Herr Paſtor, daß ich nun doch
einmal Gelegenheit finde. Gott, wer Kinder hat, der hat
auch immer Sorgen. Ich möchte wegen meines Jüngſten
ſo gerne mal mit Ihnen ſprechen, wegen meines Arthur.
Rudolf hat mir keine Sorgen gemacht, aber Arthur. Er
iſt nun jetzt eingeſegnet, und Sie haben ihm, Herr Prediger,
den ſchönen Spruch mitgegeben, [und] der Junge hat auch
gleich den Spruch auf einen großen weißen Bogen ge¬
ſchrieben, alle Buchſtaben erſt mit zwei Linien nebenein¬
ander und dann dick ausgetuſcht. Es ſieht aus wie 'n
Plakat. Und dieſen großen Bogen hat er ſich in die
Waſchtoilette geklebt, und da mahnt es ihn immer.“
„Nun, Frau von Gundermann, dagegen iſt doch nichts
zu ſagen.“
„Nein, das will ich auch nicht. Eher das Gegenteil.
Es hat ja doch was Rührendes, daß es einer ſo ernſt
nimmt. Denn er hat zwei Tage dran geſeſſen. Aber
wenn ſolch junger Menſch es ſo immer lieſt, ſo gewöhnt
[46] er ſich dran. Und dann iſt ja auch gleich wieder die
Verführung da. Gott, daß man gerade immer über ſolche
Dinge reden muß; noch keine Stunde, daß ich mit dem
Herrn Hauptmann über unſern Volontär Vehmeyer ge¬
ſprochen habe, netter Menſch, und nun gleich wieder mit
Ihnen, Herr Paſtor, auch über ſo was. Aber es geht
nicht anders. Und dann ſind Sie ja doch auch wie ver¬
antwortlich für ſeine Seele.“
Lorenzen lächelte. „Gewiß, liebe Frau von Gunder¬
mann. Aber was iſt es denn? Um was handelt es ſich
denn eigentlich?“
„Ach, es iſt an und für ſich nicht viel und doch auch
wieder eine recht ärgerliche Sache. Da haben wir ja jetzt
die Jüngſte von unſerm Schullehrer Brandt ins Haus
genommen, ein [hübſches] Balg, rotbraun und ganz kraus,
und Brandt wollte, ſie ſolle bei uns angelernt werden.
Nun, wir ſind kein großes Haus, gewiß nicht, aber Mäntel
abnehmen und 'rumpräſentieren, und daß ſie weiß, ob
links oder rechts, ſo viel lernt ſie am Ende doch.“
„Gewiß. Und die Frida Brandt, o, die kenn ich
ganz gut; die wurde jetzt gerade vorm Jahr eingeſegnet.
Und es iſt, wie Sie ſagen, ein allerliebſtes Geſchöpf und
klug und aufgekratzt, ein bißchen zu ſehr. Sie will zu
Oſtern nach Berlin.“
„Wenn ſie nur erſt da wäre. Mir thut es beinahe
ſchon leid, daß ich ihr nicht gleich zugeredet. Aber ſo
geht es einem immer.“
„Iſt denn was vorgefallen?“
„Vorgefallen? Das will ich nicht ſagen. Er is ja
doch erſt ſechzehn und eine Duſche dazu, gerade wie ſein
Vater; der hat ſich auch erſt rausgemauſert, ſeit er grau
geworden. Was beiläufig auch nicht gut iſt. Und da
komme ich nun geſtern vormittag die Treppe 'rauf und
will dem Jungen ſagen, daß er in den Dohnenſtrich geht
und nachſieht, ob Krammetsvögel da ſind, und die Thür
[47] ſteht halb auf, was noch das beſte war, und da ſeh' ich,
wie ſie ihm eine Naſe dreht und die Zungenſpitze 'raus¬
ſteckt; ſo was von ſpitzer Zunge hab' ich mein Lebtag noch
nicht geſehen. Die reine Eva. Für die Potiphar iſt ſie
mir noch zu jung. Und als ich nu dazwiſchentrete, da
kriegt ja nu der arme Junge das Zittern, und weil ich
nicht recht wußte, was ich ſagen ſollte, ging ich bloß hin
und klappte den Waſchtiſchdeckel auf, wo der Spruch ſtand,
und ſah ihn ſcharf an. Und da wurde er ganz blaß.
Aber das Balg lachte.“
„Ja, liebe Frau von Gundermann, das iſt ſo; Jugend
hat keine Tugend.“
„Ich weiß doch nicht; ich bin auch einmal jung ge¬
weſen ...“
„Ja, Damen ...“
Während Frau von Gundermann in ihrem Geſpräch
in der Fenſterniſche mit derartigen Intimitäten kam und
den guten Paſtor Lorenzen abwechſelnd in Verlegenheit
und dann auch wieder in ſtille Heiterkeit verſetzte, hatte ſich
Dubslav mit Hauptmann von Czako in eine ſchräg gegen¬
über gelegene Ecke zurückgezogen, wo eine altmodiſche
Cauſeuſe ſtand, mit einem Marmortiſchchen davor. Auf
dem Tiſche zwei Kaffeetaſſen ſamt aufgeklapptem Liqueur¬
kaſten, aus dem Dubslav eine Flaſche nach der andern
herausnahm. „Jetzt, wenn man von Tiſch kommt, muß
es immer ein Cognac ſein. Aber ich bekenne Ihnen,
lieber Hauptmann, ich mache die Mode nicht mit; wir
aus der alten Zeit, wir waren immer ein bißchen fürs
Süße. Creme de Cacao, na, natürlich, das is Damen¬
ſchnaps, davon kann keine Rede ſein; aber Pomeranzen
oder, wie ſie jetzt ſagen, Curaçao, das iſt mein Fall.
Darf ich Ihnen einſchenken? Oder vielleicht lieber Dan¬
ziger Goldwaſſer? Kann ich übrigens auch empfehlen.“
„Dann bitte ich um Goldwaſſer. Es iſt doch ſchärfer,
und dann bekenne ich Ihnen offen, Herr Major ... Sie
kennen ja unſre Verhältniſſe, ſo 'n bißchen Gold heimelt
einen immer an. Man hat keins und dabei doch zugleich
die Vorſtellung, daß man es trinken kann — es hat eigent¬
lich was Großartiges.“
Dubslav nickte, ſchenkte von dem Goldwaſſer ein, erſt
für Czako, dann für ſich ſelbſt und ſagte: „Bei Tiſche
hab' ich die Damen leben laſſen und Frau von Gunder¬
mann im ſpeziellen. Hören Sie, Hauptmann, Sie ver¬
ſtehen's. Dieſe Rattengeſchichte ...“
„Vielleicht war es ein bißchen zu viel.“
„I, keineswegs. Und dann, Sie waren ja ganz un¬
ſchuldig, die Gnäd'ge fing ja davon an; erinnern Sie ſich,
ſie verliebte ſich ordentlich in die Geſchichte von den Rinn¬
ſteinbohlen, und wie Sie drauf 'rumgetrampelt, bis die
Ratten rauskamen. Ich glaube ſogar, ſie ſagte ‚Bieſter‘.
Aber das ſchadet nicht. Das iſt ſo Berliner Stil. Und
unſre Gnäd'ge hier (beiläufig eine geborene Helfrich) is
eine Vollblutberlinerin.“
„Ein Wort, das mich doch einigermaßen überraſcht.“
„Ah,“ drohte Dubslav ſchelmiſch mit dem Finger,
„ich verſtehe. Sie ſind einer gewiſſen Unausreichendheit
begegnet und verlangen mindeſtens mehr Quadrat (von Kubik
will ich nicht ſprechen). Aber wir von Adel müſſen in dieſem
Punkte doch ziemlich milde ſein und ein Auge zudrücken,
wenn das das richtige Wort iſt. Unſer eigenſtes Vollblut
bewegt ſich auch in Extremen und hat einen linken und
einen rechten Flügel: der linke nähert ſich unſrer geborenen
Helfrich. Übrigens unterhaltliche Madam. Und wie be¬
ſeligt ſie war, als ſie den Namenszug auf Ihrer Achſel¬
klappe glücklich entdeckt und damit den Anmarſch auf die
Münzſtraße gewonnen hatte. Was es doch alles für
Lokalpatriotismen giebt!“
„An dem unſer Regiment teilnimmt oder ihn mit¬
[49] macht. Die Welt um den Alexanderplatz herum hat
übrigens ſo ihren eigenen Zauber, ſchon um einer gewiſſen
Unreſidenzlichkeit willen. Ich ſehe nichts lieber als die
große Markthalle, wenn beiſpielsweiſe die Fiſchtonnen mit
fünfhundert Aalen in die Netze gegoſſen werden. Etwas
Unglaubliches von Gezappel.“
„Finde mich ganz darin zurecht und bin auch für
Alexanderplatz und Alexanderkaſerne ſamt allem, was dazu
gehört. Und ſo brech' ich denn auch die Gelegenheit vom
Zaun, um nach einem ihrer früheren Regimentskomman¬
deure zu fragen, dem liebenswürdigen Oberſten von Zeuner,
den ich noch perſönlich gekannt habe. Hier unſre Stech¬
liner Gegend iſt nämlich Zeunergegend. Keine Stunde
von hier liegt Köpernitz, eine reizende Beſitzung, drauf die
Zeunerſche Familie ſchon in fridericianiſchen Tagen an¬
ſäſſig war. Bin oft drüben geweſen (nun freilich ſchon
zwanzig Jahre zurück) und komme noch einmal mit der
Frage: Haben Sie den Oberſten noch gekannt?“
„Nein, Herr Major. Er war ſchon fort, als ich zum
Regimente kam. Aber ich habe viel von ihm gehört und
auch von Köpernitz, weiß aber freilich nicht mehr, in
welchem Zuſammenhange.“
„Schade, daß Sie nur einen Tag für Stechlin feſt¬
geſetzt haben, ſonſt müßten Sie das Gut ſehen. Alles
ganz eigentümlich und beſonders auch ein Grabſtein, unter
dem eine uralte Dame von beinah' neunzig Jahren be¬
graben liegt, eine geborne von Zeuner, die ſich in früher
Jugend ſchon mit einem Emigranten am Rheinsberger
Hof, mit dem Grafen La Roche-Aymon, vermählt hatte.
Merkwürdige Frau, von der ich Ihnen erzähle, wenn ich
Sie mal wiederſehe. Nur eins müſſen Sie heute ſchon
mitanhören, denn ich glaube, Sie haben den Guſtus dafür.“
„Für alles, was Sie erzählen.“
„Keine Schmeicheleien! Aber die Geſchichte will ich
Ihnen doch als Andenken mitgeben. Andre ſchenken ſich
Fontane, Der Stechlin. 4[50] Photographien, was ich, ſelbſt wenn es hübſche Menſchen
ſind (ein Fall, der übrigens ſelten zutrifft), immer greulich
finde.“
„Schenke nie welche.“
„Was meine Gefühle für Sie ſteigert. Aber die
Geſchichte: Da war alſo drüben in Köpernitz dieſe La Roche-
Aymon, und weil ſie noch die Prinz Heinrich-Tage geſehen
und während derſelben eine Rolle geſpielt hatte, ſo zählte
ſie zu den beſonderen Lieblingen Friedrich Wilhelms IV.
Und als nun — ſagen wir ums Jahr fünfzig — der
Zufall es fügte, daß dem zur Jagd hier erſchienenen
König das Köpernitzer Frühſtück, ganz beſonders aber eine
Blut- und Zungenwurſt über die Maßen gut geſchmeckt
hatte, ſo wurde dies Veranlaſſung für die Gräfin, am
nächſten Heiligabend eine ganze Kiſte voll Würſte nach
Potsdam hin in die königliche Küche zu liefern. Und das
ging ſo durch Jahre. Da beſchloß zuletzt der gute König,
ſich für all die gute Gabe zu revanchieren, und als wieder
Weihnachten war, traf in Köpernitz ein Poſtpaket ein,
Inhalt: eine zierliche kleine Blutwurſt. Und zwar war
es ein wunderſchöner, rundlicher Blutkarneol mit Gold¬
ſpeilerchen an beiden Seiten und die Speilerchen ſelbſt
mit Diamanten beſetzt. Und neben dieſem Geſchenk lag
ein Zettelchen: ‚Wurſt wider Wurſt‘.“
„Allerliebſt!“
„Mehr als das. Ich perſönlich ziehe ſolchen guten
Einfall einer guten Verfaſſung vor. Der König, glaub'
ich, that es auch. Und es denken auch heute noch viele ſo.“
„Gewiß, Herr Major. Es denken auch heute noch
viele ſo, und bei dem Schwankezuſtand, in dem ich mich
leider befinde, ſind meine perſönlichen Sympathien ge¬
legentlich nicht weitab davon. Aber ich fürchte doch, daß
wir mit dieſer unſrer Anſchauung ſehr in der Minorität
bleiben.“
„Werden wir. Aber Vernunft iſt immer nur bei
[51] wenigen. Es wäre das beſte, wenn ein einziger Alter-
Fritzen-Verſtand die ganze Geſchichte regulieren könnte.
Freilich braucht ein ſolcher oberſter Wille auch ſeine Werk¬
zeuge. Die haben wir aber noch in unſerm Adel, in
unſrer Armee und ſpeziell auch in Ihrem Regiment.“
Während der Alte dieſen Trumpf ausſpielte, kam
Engelke, um ein paar neue Taſſen zu präſentieren.
„Nein, nein, Engelke, wir ſind ſchon weiter. Aber
ſtell nur hin. ... In Ihrem Regiment, ſag' ich, Herr
von Czako; ſchon ſein Name bedeutet ein Programm, und
dies Programm heißt: Rußland. Heutzutage darf man
freilich kaum noch davon reden. Aber das iſt Unſinn.
Ich ſage Ihnen, Hauptmann, das waren Preußens beſte
Tage, als da bei Potsdam herum die ‚ruſſiſche Kirche‘
und das ‚ruſſiſche Haus‘ gebaut wurden, und als es
immer hin und her ging zwiſchen Berlin und Petersburg.
Ihr Regiment, Gott ſei Dank, unterhält noch was von
den alten Beziehungen, und ich freue mich immer, wenn
ich davon leſe, vor allem, wenn ein ruſſiſcher Kaiſer kommt
und ein Doppelpoſten vom Regiment Alexander vor ſeinem
Palais ſteht. Und noch mehr freu' ich mich, wenn das
Regiment Deputationen ſchickt: Georgsfeſt, Namenstag des
hohen Chefs, oder wenn ſich's auch bloß um Uniformab¬
änderungen handelt, beiſpielsweiſe Klappkragen ſtatt Steh¬
kragen (dieſe verdammten Stehkragen) — und wie dann
der Kaiſer alle begrüßt und zur Tafel zieht und ſo bei
ſich denkt: ‚Ja, ja, das ſind brave [Leute]; da hab' ich
meinen Halt.‘“
Czako nickte, war aber doch in ſichtlicher Verlegenheit,
weil er, trotz ſeiner vorher verſicherten „Sympathien“, ein
ganz moderner, politiſch ſtark angekränkelter Menſch war,
der, bei ſtrammſter Dienſtlichkeit, zu all dergleichen Über¬
ſpanntheiten ziemlich kritiſch ſtand. Der alte Dubslav
nahm indeſſen von alledem nichts wahr und fuhr fort:
„Und ſehen Sie, lieber Hauptmann, ſo hab' ich's per¬
4*[52] ſönlich in meinen jungen Jahren auch noch erlebt und
vielleicht noch ein bißchen beſſer; denn, Pardon, jeder hält
ſeine Zeit für die beſte. Vielleicht ſogar, daß Sie mir
zuſtimmen, wenn ich Ihnen mein Sprüchel erſt ganz her¬
geſagt haben werde. Da haben wir ja nun ‚jenſeits des
Niemen‘, wie manche Gebildete jetzt ſagen, die ‚drei
Alexander‘ [gehabt], den erſten, den zweiten und den
dritten, alle drei große Herren und alle drei richtige
Kaiſer und fromme Leute, oder doch beinah' fromm, die's
gut mit ihrem Volk und mit der Menſchheit meinten, und
dabei ſelber richtige Menſchen; aber in dies Alexandertum,
das ſo beinah' das ganze Jahrhundert ausfüllt, da ſchiebt
ſich doch noch einer ein, ein Nicht-Alexander, und ohne
Ihnen zu nahe treten zu wollen, der war doch der
Häupter. Und das war unſer Nikolaus. Manche dummen
Kerle haben Spottlieder auf ihn gemacht und vom ſchwarzen
Niklas geſungen, wie man Kinder mit dem ſchwarzen
Mann graulich macht, aber war das ein Mann! Und
dieſer ſelbige Nikolaus, nun, der hatte hier, ganz wie die
drei Alexander, auch ein Regiment, und das waren die
Nikolaus-Küraſſiere, oder ſag' ich lieber: das ſind die
Nikolaus-Küraſſiere, denn wir haben ſie, Gott ſei Dank,
noch. Und ſehen Sie, lieber Czako, das war mein Re¬
giment, dabei hab' ich geſtanden, als ich noch ein junger
Dachs war, und habe dann den Abſchied genommen; viel zu
früh; Dummheit, hätte lieber dabei bleiben ſollen.“
Czako nickte, Dubslav nahm ein neues Glas von
dem Goldwaſſer. „Unſre Nikolaus-Küraſſiere, Gott erhalte
ſie, wie ſie ſind! Ich möchte ſagen, in dem Regimente
lebt noch die heilige Alliance fort, die Waffenbrüderſchaft
von Anno dreizehn, und dies Anno dreizehn, das wir
mit den Ruſſen zuſammen durchgemacht haben, immer
nebeneinander im Biwak, in Glück und Unglück, das war
doch unſre größte Zeit. Größer als die jetzt große.
Große Zeit iſt es immer nur, wenn's beinah' ſchief geht,
[53] wenn man jeden Augenblick fürchten muß: ‚Jetzt iſt alles
vorbei‘. Da zeigt ſich's. Courage iſt gut, aber Ausdauer
iſt beſſer. Ausdauer, das iſt die Hauptſache. Nichts im
Leibe, nichts auf dem Leibe, Hundekälte, Regen und
Schnee, ſo daß man ſo in der naſſen Patſche liegt, und
höchſtens 'nen Kornus (Cognac, ja haſt du was, den gab
es damals kaum) und ſo die Nacht durch, da konnte man
Jeſum Chriſtum erkennen lernen. Ich ſage das, wenn
ich auch nicht mit dabei geweſen. Anno dreizehn, bei
Großgörſchen, das war für uns die richtige Waffenbrüder¬
ſchaft: jetzt haben wir die Waffenbrüderſchaft der Orgel¬
dreher und der Mauſefallenhändler. Ich bin für Ru߬
land, für Nikolaus und Alexander. Preobraſhensk,
Semenow, Kaluga, — da hat man die richtige An¬
lehnung; alles andre iſt revolutionär, und was revo¬
lutionär iſt, das wackelt.“
Kurz vor elf, der Mond war inzwiſchen unter, brach
man auf und die Wagen fuhren vor, erſt der Katzlerſche
Kaleſchwagen, dann die Gundermannſche Chaiſe; Martin
aber, mit einer Stalllaterne, leuchtete dem Paſtor über
Vorhof und Bohlenbrücke fort, bis an ſeine ganz im
Dunkel liegende Pfarre. Gleich darauf zogen ſich auch
die drei Freunde zurück und ſtiegen, unter Vorantritt
Engelkes, die große Treppe hinauf, bis auf den Podeſt.
Hier trennten ſich Rex und Czako von Woldemar, deſſen
Zimmer auf der andern Flurſeite gelegen war.
Czako, ſehr müde, war im Nu bettfertig. „Es bleibt
alſo dabei, Rex, Sie logieren ſich in dem Rokokozimmer
ein — wir wollen es ohne weiteres ſo nennen — und
ich nehme das Himmelbett hier in Zimmer Nummer eins.
Vielleicht wäre das Umgekehrte richtiger, aber ſie haben
es ſo gewollt.“
Und während er noch ſo ſprach, ſchob er ſeine
Stiefel auf den Flur hinaus, ſchloß ab und legte ſich
nieder.
Rex war derweilen mit ſeiner Plaidrolle beſchäftigt,
aus der er allerlei Toilettengegenſtände hervorholte.
„Sie müſſen mich entſchuldigen, Czako, wenn ich mich
noch eine Viertelſtunde hier bei Ihnen aufhalte. Habe
nämlich die Angewohnheit mich abends zu raſieren, und
der Toilettentiſch mit Spiegel, ohne den es doch nicht
gut geht, der ſteht nun mal hier an Ihrem, ſtatt an
meinem Fenſter. Ich muß alſo ſtören.“
„Mir ſehr recht, trotz aller Müdigkeit. Nichts beſſer,
als noch ein bißchen aus dem Bett heraus plaudern
können. Und dabei ſo warm eingemummelt. Die Betten
auf dem Lande ſind überhaupt das beſte.“
„Nun, Czako, das freut mich, daß Sie ſo bereit
ſind, mir Quartier zu gönnen. Aber wenn Sie noch eine
Plauderei haben wollen, ſo müſſen Sie ſich die Haupt¬
ſache ſelber leiſten. Ich ſchneide mich ſonſt, was dann
hinterher immer ganz ſchändlich ausſieht. Übrigens muß
ich erſt Schaum ſchlagen, und ſo lange wenigſtens kann
ich Ihnen Red' und Antwort ſtehen. Ein Glück neben¬
her, daß hier, außer der kleinen Lampe, noch dieſe zwei
Leuchter ſind. Wenn ich nicht Licht von rechts und links
habe, komme ich nicht von der Stelle; das eine wackelt
zwar (alle dieſe dünnen Silberleuchter wackeln), aber
,wenn gute Reden ſie begleiten ...‘ Alſo ſtrengen Sie
ſich an. Wie fanden Sie die Gundermanns? Sonderbare
Leute — haben Sie ſchon mal den Namen Gundermann
gehört?“
„Ja. Aber das war in ‚Waldmeiſters Brautfahrt‘.“
„Richtig; ſo wirkt er auch. Und nun gar erſt die
Frau! Der einzige, der ſich ſehen laſſen konnte, war dieſer
Katzler. Ein Karamboleſpieler erſten Ranges. Übrigens
eiſernes Kreuz.“
„Und dann der Paſtor.“
„Nun ja, auch der. Eine ganz geſcheite Nummer.
Aber doch ein wunderbarer Heiliger, wie die ganze Sippe,
zu der er gehört. Er hält zu Stöcker, ſprach es auch
aus, was neuerdings nicht jeder thut; aber der „neue
Luther“, der doch ſchon gerade bedenklich genug iſt —
Majeſtät hat ganz recht mit ſeiner Verurteilung —, der
geht ihm gewiß nicht weit genug. Dieſer Lorenzen er¬
ſcheint mir, im Gegenſatz zu ſeinen Jahren, als einer der
allerjüngſten. Und zu verwundern bleibt nur, daß der
Alte ſo gut mit ihm ſteht. Freund Woldemar hat mir
davon erzählt. Der Alte liebt ihn und ſieht nicht, daß
ihm ſein geliebter Paſtor den Aſt abſägt, auf dem er ſitzt.
Ja, dieſe von der neueſten Schule, das ſind die aller¬
ſchlimmſten. Immer Volk und wieder Volk, und mal
auch etwas Chriſtus dazwiſchen. Aber ich laſſe mich ſo
leicht nicht hinters Licht führen. Es läuft alles darauf
hinaus, daß ſie mit uns aufräumen wollen, und mit dem
alten Chriſtentum auch. Sie haben ein neues, und das
überlieferte behandeln ſie deſpektierlich.“
„Kann ich ihnen unter Umſtänden nicht verdenken.
Seien Sie gut, Rex, und laſſen Sie Konventikel und
Partei mal beiſeite. Das Überlieferte, was einem da ſo
vor die Klinge kommt, namentlich wenn Sie ſich die
Menſchen anſehen, wie ſie nun mal ſind, iſt doch ſehr
reparaturbedürftig, und auf ſolche Reparatur iſt ein Mann
wie dieſer Lorenzen eben aus. Machen Sie die Probe.
Hie Lorenzen, hie Gundermann. Und Ihren guten Glauben
in Ehren, aber Sie werden dieſen Gundermann doch nicht
über den Lorenzen ſtellen und ihn überhaupt nur ernſt¬
haft nehmen wollen. Und wie dieſer Waſſermüller aus
der Brettſchneidebranche, ſo ſind die meiſten. Phraſe,
Phraſe. Mitunter auch Geſchäft oder noch Schlimmeres.“
„Ich kann jetzt nicht antworten, Czako. Was Sie
da ſagen, berührt eine große Frage, bei der man doch
[56] aufpaſſen muß. Und ſo mit dem Meſſer in der Hand,
da verbietet ſich's. Und das eine wacklige Licht hat ohne¬
hin ſchon einen Dieb. Erzählen Sie mir lieber was von
der Frau von Gundermann. Debattieren kann ich nicht
mehr, aber wenn Sie plaudern, brauch' ich bloß zuzu¬
hören. Sie haben ihr ja bei Tiſch 'nen langen Vortrag
gehalten.“
„Ja. Und noch dazu über Ratten.“
„Nein, Czako, davon dürfen Sie jetzt nicht ſprechen;
dann doch noch lieber über alten und neuen Glauben.
Und gerade hier. In ſolchem alten Kaſten iſt man nie
ſicher vor Spuk und Ratten. Wenn Sie nichts andres
wiſſen, dann bitt' ich um die Geſchichte, bei der wir heute
früh in Cremmen unterbrochen wurden. Es ſchien mir
was Pikantes.“
„Ach, die Geſchichte von der kleinen Stubbe. Ja,
hören Sie, Rex, das regt Sie aber auch auf. Und wenn
man nicht ſchlafen kann, iſt es am Ende gleich, ob wegen
der Ratten oder wegen der Stubbe.“
Fünftes Kapitel.
Rex und Czako waren ſo müde, daß ſie ſich, wenn
nötig, über Spuk und Ratten weggeſchlafen hätten. Aber
es war nicht nötig, nichts war da, was ſie hätte ſtören
können. Kurz vor acht erſchien das alte Faktotum mit
einem ſilbernen Deckelkrug, aus dem der Wraſen heißen
Waſſers aufſtieg, einem der wenigen Renommierſtücke,
über die Schloß Stechlin verfügte. Dazu bot Engelke den
Herren einen guten Morgen und ſtattete ſeinen Wetter¬
bericht ab: Es gebe gewiß einen ſchönen Tag, und der
junge Herr ſei auch ſchon auf und gehe mit dem alten
um das Rundell herum.
So war es denn auch. Woldemar war ſchon gleich
nach ſieben unten im Salon erſchienen, um mit ſeinem
Vater, von dem er wußte, daß er ein Frühauf war, ein
Familiengeſpräch über allerhand difficile Dinge zu führen.
Aber er war entſchloſſen, ſeinerſeits damit nicht anzufangen,
ſondern alles von der Neugier und dem guten Herzen
des Vaters zu erwarten. Und darin ſah er ſich auch nicht
getäuſcht.
„Ah, Woldemar, das iſt recht, daß du ſchon da biſt.
Nur nicht zu lang im Bett. Die meiſten Langſchläfer
haben einen Knacks. Es können aber ſonſt ganz gute
Leute ſein. Ich wette, dein Freund Rex ſchläft bis neun.“
„Nein, Papa, der gerade nicht. Wer wie Rex iſt,
kann ſich das nicht gönnen. Er hat nämlich einen Verein
[58] gegründet für Frühgottesdienſte, abwechſelnd in Schön¬
hauſen und Finkenkrug. Aber es iſt noch nicht perfekt
geworden.“
„Freut mich, daß es noch hapert. Ich mag ſo was
nicht. Der alte Wilhelm hat zwar ſeinem Volke die Re¬
ligion wieder geben wollen, was ein ſchönes Wort von
ihm war — alles, was er that und ſagte, war gut —
aber Religion und Landpartie, dagegen bin ich doch. Ich
bin überhaupt gegen alle falſchen Miſchungen. Auch bei
den Menſchen. Die reine Raſſe, das iſt das eigentlich
Legitime. Das andre, was ſie nebenher noch Legitimität
nennen, das iſt ſchon alles mehr künſtlich. Sage, wie
ſteht es denn eigentlich damit? Du weißt ſchon, was ich
meine.“
„Ja, Papa ...“
„Nein, nicht ſo; nicht immer bloß ‚ja, Papa‘. So
fängſt du jedesmal an, wenn ich auf dies Thema komme.
Da liegt ſchon ein halber Refus drin, oder ein Hinaus¬
ſchieben, ein Abwartenwollen. Und damit kann ich mich
nicht befreunden. Du biſt jetzt zweiunddreißig, oder doch
beinah', da muß der mit der Fackel kommen; aber du
fackelſt (verzeih den Kalauer; ich bin eigentlich gegen
Kalauer, die ſind ſo mehr für Handlungsreiſende) alſo du
fackelſt, ſag' ich, und iſt kein Ernſt dahinter. Und ſo viel
kann ich dir außerdem ſagen, deine Tante Sanctiſſima
drüben in Kloſter Wutz, die wird auch ſchon ungeduldig.
Und das ſollte dir zu denken geben. Mich hat ſie zeit¬
lebens ſchlecht behandelt; wir ſtimmten eben nie zuſammen
und konnten auch nicht, denn ſo halb Königin Eliſabeth,
halb Kaffeeſchweſter, das is 'ne Melange, mit der ich mich
nie habe befreunden können. Ihr drittes Wort iſt immer
ihr Rentmeiſter Fix, und wäre ſie nicht ſechsundſiebzig,
ſo erfänd' ich mir eine Geſchichte dazu.“
„Mach es gnädig, Papa. Sie meint es ja doch gut.
Und mit mir nun ſchon ganz gewiß.“
„Gnädig machen? Ja, Woldemar, ich will es ver¬
ſuchen. Nur fürcht' ich, es wird nicht viel dabei heraus¬
kommen. Da heißt es immer, man ſolle Familiengefühl
haben, aber es wird einem doch auch zu blutſauer gemacht,
und ich kann umgekehrt der Verſuchung nicht widerſtehen,
eine richtige Familienkritik zu üben. Adelheid fordert ſie
geradezu heraus. Andrerſeits freilich, in dich iſt ſie wie
vernarrt, für dich hat ſie Geld und Liebe. Was davon
wichtiger iſt, ſtehe dahin; aber ſo viel iſt gewiß, ohne ſie
wär' es überhaupt gar nicht gegangen, ich meine dein
Leben in deinem Regiment. Alſo wir haben ihr zu
danken, und weil ſie das gerade ſo gut weiß, wie wir,
oder vielleicht noch ein bißchen beſſer, gerade deshalb
wird ſie ungeduldig; ſie will Thaten ſehen, was vom
Weiberſtandpunkt aus allemal ſo viel heißt wie Verheiratung.
Und wenn man will, kann man es auch ſo nennen, ich
meine Thaten. Es iſt und bleibt ein Heroismus. Wer
Tante Adelheid geheiratet hätte, hätte ſich die Tapferkeits¬
medaille verdient, und wenn ich ſchändlich ſein wollte, ſo
ſagte ich das Eiſerne Kreuz.“
„Ja, Papa ...“
„Schon wieder ‚ja, Papa‘. Nun, meinetwegen, ich
will dich ſchließlich in deiner Lieblingswendung nicht ſtören.
Aber bekenne mir nebenher — denn das iſt doch ſchlie߬
lich das, um was ſich's handelt — liegſt du mit was im
Anſchlag, haſt du was auf dem Korn?“
„Papa, dieſe Wendungen erſchrecken mich beinah'.
Aber wenn denn ſchon ſo jägermäßig geſprochen werden
ſoll, ja; meine Wünſche haben ein beſtimmtes Ziel, und
ich darf ſagen, mich beſchäftigen dieſe Dinge.“
„Mich beſchäftigen dieſe Dinge ... Nimm mir's
nicht übel, Woldemar, das iſt ja gar nichts. Beſchäftigen!
Ich bin nicht fürs Poetiſche, das iſt für Gouvernanten
und arme Lehrer, die nach Görbersdorf müſſen (bloß,
daß ſie meiſtens kein Geld dazu haben), aber dieſe Wen¬
[60] dung ‚ſich beſchäftigen‘, das iſt mir denn doch zu proſaiſch.
Wenn es ſich um ſolche Dinge wie Liebe handelt (wiewohl
ich über Liebe nicht viel günſtiger denke wie über Poeſie,
bloß daß Liebe doch noch mehr Unheil anrichtet, weil ſie
noch allgemeiner auftritt) — wenn es ſich um Dinge wie
Liebe handelt, ſo darf man nicht ſagen, ‚ich habe mich
damit beſchäftigt‘. Liebe iſt doch ſchließlich immer was
Forſches, ſonſt kann ſie ſich ganz [und] gar begraben laſſen,
und da möcht' ich denn doch etwas von dir hören, was
ein bischen wie Leidenſchaft ausſieht. Es braucht ja
nicht gleich was Schreckliches zu ſein. Aber ſo ganz ohne
Stimulus, wie man, glaub' ich, jetzt ſagt, ſo ganz ohne
ſo was geht es nicht; alle Menſchheit iſt darauf geſtellt,
und wo's einſchläft, iſt ſo gut wie alles vorbei. Nun
weiß ich zwar recht gut, es geht auch ohne uns, aber
das iſt doch alles bloß etwas, was einem von Verſtandes
wegen aufgezwungen wird; das egoiſtiſche Gefühl, das
immer unrecht, aber auch immer recht hat, will von dem
allem nichts wiſſen und beſteht darauf, daß die Stechline
weiterleben, wenn es ſein kann, in aeternum. Ewig
weiterleben; — ich räume ein, es hat ein bischen was
Komiſches, aber es giebt wenig ernſte Sachen, die nicht
auch eine komiſche Seite hätten ... Alſo dich ‚beſchäf¬
tigen‘ dieſe Dinge. Kannſt du Namen nennen? Auf
wem haben Eurer Hoheit Augen zu ruhen geruht?“
„Papa, Namen darf ich noch nicht nennen. Ich bin
meiner Sache noch nicht ſicher genug, und das iſt auch
der Grund, warum ich Wendungen gebraucht habe, die
dir nüchtern und proſaiſch erſchienen ſind. Ich kann dir
aber ſagen, ich hätte mich lieber anders ausgedrückt; nur
darf ich es noch nicht. Und dann weiß ich ja auch, daß
du ſelber einen abergläubiſchen Zug haſt und ganz auf¬
richtig davon ausgehſt, daß man ſich ſein Glück verreden
kann, wenn man zu früh oder zu viel davon ſpricht.“
„Brav, brav. Das gefällt mir. So iſt es. Wir
[61] ſind immer von neidiſchen und boshaften Weſen mit
Fuchsſchwänzen und Fledermausflügeln umſtellt, und wenn
wir renommieren oder ſicher thun, dann lachen ſie. Und
wenn ſie erſt lachen, dann ſind wir ſchon ſo gut wie ver¬
loren. Mit unſrer eignen Kraft iſt nichts gethan, ich habe
nicht den Grashalm ſicher, den ich hier ausreiße. Demut,
Demut ... Aber trotzdem komm' ich dir mit der naiven
Frage (denn man widerſpricht ſich in einem fort), iſt es
was Vornehmes, was Pikfeines?“
„Pikfein, Papa, will ich nicht ſagen. Aber vornehm
gewiß.“
„Na, das freut mich. Falſche Vornehmheit iſt mir
ein Greuel; aber richtige Vornehmheit, — à la bonne
heure. Sage mal, vielleicht was vom Hofe?“
„Nein, Papa.“
„Na, deſto beſſer. Aber da kommen ja die Herren.
Der Rex ſieht wirklich verdeubelt gut aus, ganz das, was
wir früher einen Garde-Aſſeſſor nannten. Und fromm,
ſagſt du, — wird alſo wohl Karriere machen; ‚fromm‘
is wie 'ne untergelegte Hand.“
Während dieſer Worte ſtiegen Rex und Czako die
Stufen zum Garten hinunter und begrüßten den Alten.
Er erkundigte ſich nach ihren nächtlichen Schickſalen, freute
ſich, daß ſie „durchgeſchlafen“ hätten, und nahm dann
Czakos Arm, um vom Garten her auf die Veranda, wo
Engelke mittlerweile unter der großen Marquiſe den
Frühſtückstiſch hergerichtet hatte, zurückzukehren. „Darf
ich bitten, Herr von Rex.“ Und er wies auf einen
Gartenſtuhl, ihm gerade gegenüber, während Woldemar
und Czako links und rechts neben ihm Platz nahmen.
„Ich habe neuerdings den Thee eingeführt, das heißt
nicht obligatoriſch; im Gegenteil, ich perſönlich, bleibe
lieber bei Kaffee, „ſchwarz wie der Teufel, ſüß wie die
[62] Sünde, heiß wie die Hölle“, wie bereits Talleyrand geſagt
haben ſoll. Aber, Pardon, daß ich Sie mit ſo was über¬
haupt noch beläſtige. Schon mein Vater ſagte mal: „Ja,
wir auf dem Lande, wir haben immer noch die alten
Wiener Kongreßwitze.“ Und das iſt nun ſchon wieder
ein Menſchenalter her.“
„Ach, dieſe alten Kongreßwitze“, ſagte Rex verbindlich,
„ich möchte mir die Bemerkung erlauben, Herr Major,
daß dieſe alten Witze beſſer ſind als die neuen. Und
kann auch kaum anders ſein. Denn wer waren denn
die Verfaſſer von damals? Talleyrand, den Sie ſchon
genannt haben, und Wilhelm von Humboldt und Friedrich
Gentz und ihresgleichen. Ich glaube, daß das Metier ſeit¬
dem ſehr herabgeſtiegen iſt.“
„Ja, herabgeſtiegen iſt alles, und es ſteigt immer
weiter nach unten. Das iſt, was man neue Zeit nennt,
immer weiter runter. Und mein Paſtor, den Sie ja
geſtern abend kennen gelernt haben, der behauptet ſogar,
das ſei das Wahre, das ſei das, was man Kultur nenne,
daß immer weiter nach unten geſtiegen würde. Die ariſto¬
kratiſche Welt habe abgewirtſchaftet, und nun komme die
demokratiſche ...“
„Sonderbare Worte für einen Geiſtlichen,“ ſagte Rex,
„für einen Mann, der doch die durch Gott gegebenen
Ordnungen kennen ſollte.“
Dubslav lachte. „Ja, das beſtreitet er Ihnen. Und
ich muß bekennen, es hat manches für ſich, trotzdem es
mir nicht recht paßt. Im übrigen, wir werden ihn, ich
meine den Paſtor, ja wohl noch beim zweiten Frühſtück
ſehen, wo Sie dann Gelegenheit nehmen können, ſich mit
ihm perſönlich darüber auseinanderzuſetzen; er liebt ſolche
Geſpräche, wie Sie wohl ſchon gemerkt haben, und hat
eine kleine Lutherneigung, ſich immer auf das jetzt übliche:
‚Hier ſteh' ich, ich kann nicht anders‘ auszuſpielen. Mit¬
unter ſieht es wirklich ſo aus, als ob wieder eine gewiſſe
[63] Märtyrerluſt in die Menſchen gefahren wäre, bloß ich trau
dem Frieden noch nicht ſo recht.“
„Ich auch nicht,“ bemerkte Rex, „meiſtens Renom¬
miſterei.“
„Na, na,“ ſagte Czako. „Da hab' ich doch noch dieſe
letzten Tage von einem armen ruſſiſchen Lehrer geleſen,
der unter die Soldaten geſteckt wurde (ſie haben da jetzt auch
ſo was wie allgemeine Dienſtpflicht), und dieſer Menſch,
der Lehrer, hat ſich geweigert, eine Flinte loszuſchießen,
weil das bloß Vorſchule ſei zu Mord und Totſchlag,
alſo ganz und gar gegen das fünfte Gebot. Und dieſer
Menſch iſt ſehr gequält worden, und zuletzt iſt er geſtorben.
Wollen Sie das auch Renommiſterei nennen?“
„Gewiß will ich das.“
„Herr von Rex,“ ſagte Dubslav, „ſollten Sie dabei
nicht zu weit gehen? Wenn ſich's ums Sterben handelt,
da hört das Renommieren auf. Aber dieſe Sache, von
der ich übrigens auch gehört habe, hat einen ganz andern
Schlüſſel. Das liegt nicht an der allgemein gewordenen
Renommiſterei, das liegt am Lehrertum. Alle Lehrer ſind
nämlich verrückt. Ich habe hier auch einen, an dem ich
meine Studien gemacht habe; heißt Krippenſtapel, was
allein ſchon was ſagen will. Er iſt grad um ein Jahr älter
als ich, alſo runde ſiebenundſechzig, und eigentlich ein
Prachtexemplar, jedenfalls ein vorzüglicher Lehrer. Aber
verrückt iſt er doch.“
„Das ſind alle,“ ſagte Rex. „Alle Lehrer ſind ein
Schrecknis. Wir im Kultusminiſterium können ein Lied
davon ſingen. Dieſe Abc-Pauker wiſſen alles, und ſeitdem
Anno ſechsundſechzig der unſinnige Satz in die Mode
kam, ‚der preußiſche Schulmeiſter habe die Öſterreicher
geſchlagen‘ — ich meinerſeits würde lieber dem Zündnadel¬
gewehr oder dem alten Steinmetz, der alles nur kein
Schulmeiſter war, den Preis zuerkennen — ſeitdem iſt
es vollends mit dieſen Leuten nicht mehr auszuhalten.
[64] Herr von Stechlin hat eben von einem der Humboldts
geſprochen; nun, an Wilhelm von Humboldt trauen ſie
ſich noch nicht recht heran, aber was Alexander von Humboldt
konnte, das können ſie nun ſchon lange.“
„Da treffen Sie's, Herr von Rex,“ ſagte Dubslav.
„Genau ſo iſt meiner auch. Ich kann nur wiederholen,
ein vorzüglicher Mann; aber er hat den Prioritätswahnſinn.
Wenn Koch das Heilſerum erfindet oder Ediſon Ihnen
auf fünfzig Meilen eine Oper vorſpielt, mit Getrampel
und Händeklatſchen dazwiſchen, ſo weiſt Ihnen mein
Krippenſtapel nach, daß er das vor dreißig Jahren auch
ſchon mit ſich rumgetragen habe.“
„Ja, ja, ſo ſind ſie alle.“
„Übrigens ... Aber darf ich ihnen nicht noch von
dieſem gebackenen Schinken vorlegen? ... Übrigens mahnt
mich Krippenſtapel daran, daß die Feſtſtellung eines Vor¬
mittagsprogramms wohl an der Zeit ſein dürfte; Krippen¬
ſtapel iſt nämlich der geborene Cicerone dieſer Gegenden,
und durch Woldemar weiß ich bereits, daß Sie uns die
Freude machen wollen, ſich um Stechlin und Umgegend
ein klein wenig zu kümmern, Dorf, Kirche, Wald, See —
um den See natürlich am meiſten, denn der iſt unſre
pièce de résistance. Das andere giebt es wo anders
auch, aber der See ... Lorenzen erklärt ihn außerdem
noch für einen richtigen Revolutionär, der gleich mit¬
rumort, wenn irgendwo was los iſt. Und es iſt auch
wirklich ſo. Mein Paſtor aber ſollte, beiläufig bemerkt,
ſo was lieber nicht ſagen. Das ſind ſo Geiſtreichigkeiten,
die leicht übel vermerkt werden. Ich perſönlich laſſ' es
laufen. Es giebt nichts, was mir ſo verhaßt wäre wie
Polizeimaßregeln, oder einem Menſchen, der gern ein freies
Wort ſpricht, die Kehle zuzuſchnüren. Ich rede ſelber gern,
wie mir der Schnabel gewachſen iſt.“
„Und verplauderſt dich dabei,“ ſagte Woldemar, „und
vergißt zunächſt unſer Programm. Um ſpäteſtens zwei
[65] müſſen wir fort; wir haben alſo nur noch vier Stunden.
Und Globſow, ohne das es nicht gehen wird, iſt weit
und koſtet uns wenigſtens die Hälfte davon.“
„Alles richtig. Alſo das Menü, meine Herren. Ich
denke mir die Sache ſo. Erſt (da gleich hinter dem Bux¬
baumgange) Beſteigung des Ausſichtsturms, — noch eine
Anlage von meinem Vater her, die ſich, nach Anſicht der
Leute hier, vordem um vieles ſchöner ausnahm als jetzt.
Damals waren nämlich noch lauter bunte Scheiben da
oben, und alles, was man ſah, ſah rot oder blau oder
orangefarben aus. Und alle Welt hier war unglücklich,
als ich dieſe bunten Gläſer wegnehmen ließ. Ich empfand
es aber wie 'ne Naturbeleidigung. Grün iſt grün und
Wald iſt Wald ... Alſo Nummer eins der Ausſichts¬
turm; Nummer zwei Krippenſtapel und die Schule; Nummer
drei die Kirche ſamt Kirchhof. Pfarre ſchenken wir uns.
Dann Wald und See. Und dann Globſow, wo ſich eine
Glasinduſtrie befindet. Und dann wieder zurück und zum
Abſchluß ein zweites Frühſtück, eine altmodiſche Bezeich¬
nung, die mir aber trotzdem immer beſſer klingt als Lunch.
‚Zweites Frühſtück‘ hat etwas ausgeſprochen Behagliches
und giebt zu verſtehen, daß man ein erſtes ſchon hinter
ſich hat ... Woldemar, dies iſt mein Programm, das
ich dir, als einem Eingeweihten, hiermit unterbreite. Ja
oder nein?“
„Natürlich ja, Papa. Du triffſt dergleichen immer
am beſten. Ich meinerſeits mache aber nur die erſte
Hälfte mit. Wenn wir in der Kirche fertig ſind, muß ich
zu Lorenzen. Krippenſtapel kann mich ja mehr als er¬
ſetzen, und in Globſow weiß er all und jedes. Er ſpricht,
als ob er Glasbläſer geweſen wäre.“
„Darf dich nicht wundern. Dafür iſt er Lehrer im
allgemeinen und Krippenſtapel im beſonderen.“
Fontane, Der Stechlin. 5[66]
So war denn alſo das Programm feſtgeſtellt, und
nachdem Dubslav mit Engelkes Hilfe ſeinen noch ziemlich
neuen weißen Filzhut, den er ſehr ſchonte, mit einem
motanartigen ſchwarzen Filzhut vertauſcht und einen
ſchweren Eichenſtock in die Hand genommen hatte, brach
man auf, um zunächſt auf den als erſte Sehenswürdigkeit
feſtgeſetzten Ausſichtsturm hinaufzuſteigen. Der Weg da¬
hin, keine hundert Schritte, führte durch einen ſogenannten
‚Poetenſteig‘. „Ich weiß nicht,“ ſagte Dubslav, „warum
meine Mutter dieſen etwas anſpruchsvollen Namen hier
einführte. Soviel mir bekannt, hat ſich hier niemals
etwas betreffen laſſen, was zu dieſer Rangerhöhung einer
ehemaligen Taxushecke hätte Veranlaſſung geben können.
Und iſt auch recht gut ſo.“
„Warum gut, Papa?“
„Nun, nimm es nicht übel,“ lachte Dubslav. „Du
ſprichſt ja, wie wenn du ſelber einer wärſt. Im übrigen
räum' ich dir ein, daß ich kein rechtes Urteil über derlei
Dinge habe. Bei den Küraſſieren war keiner, und ich
habe überhaupt nur einmal einen geſehen, mit einem kleinen
Verdruß und einer Goldbrille, die er beſtändig abnahm und
putzte. Natürlich bloß ein Männchen, klein und eitel.
Aber ſehr elegant.“
„Elegant?“ fragte Czako. „Dann ſtimmt es nicht;
dann [haben] Sie ſo gut wie keinen geſehen.“
Unter dieſem Geſpräche waren ſie bis an den Turm
gekommen, der in mehreren Etagen und zuletzt auf bloßen
Leitern anſtieg. Man mußte ſchwindelfrei ſein, um gut
hinaufzukommen. Oben aber war es wieder gefahrlos
weil eine feſte Wandung das Podium umgab. Rex und
Cazko hielten Umſchau. Nach Süden hin lag das Land
frei, nach den drei andern Seiten hin aber war alles mit
Waldmaſſen beſetzt, zwiſchen denen gelegentlich die ſich
hier auf weite Meilen hinziehende Seeenkette ſichtbar
wurde. Der nächſte See war der Stechlin.
[67]
„Wo iſt nun die Stelle?“ fragte Czako. „Natürlich
die, wo's ſprudelt und ſtrudelt.“
„Sehen Sie die kleine Buchtung da, mit der weißen
Steinbank?“
„Jawohl; ganz deutlich.“
„Nun, von der Steinbank aus keine zwei Boots¬
längen in den See hinein, da haben Sie die Stelle, die,
wenn's ſein muß, mit Java telephoniert.“
„Ich gäbe was drum,“ ſagte Czako, „wenn jetzt der
Hahn zu krähen anfinge.“
„Dieſe kleine Aufmerkſamkeit muß ich Ihnen leider
ſchuldig bleiben und hab' überhaupt da nach rechts hin
nichts andres mehr für Sie als die roten Ziegeldächer,
die ſich zwiſchen dem Waldrand und dem See wie auf
einem Bollwerk hinziehen. Das iſt Kolonie Globſow.
Da wohnen die Glasbläſer. Und dahinter liegt die Glas¬
hütte. Sie iſt noch unter dem alten Fritzen entſtanden
und heißt die ‚grüne Glashütte‘.“
„Die grüne? Das klingt ja beinah' wie aus 'nem
Märchen.“
„Iſt aber eher das Gegenteil davon. Sie heißt
nämlich ſo, weil man da grünes Glas macht, allerge¬
wöhnlichſtes Flaſchenglas. An Rubinglas mit Goldrand
dürfen Sie hier nicht denken. Das iſt nichts für unſre
Gegend.“
Und damit kletterten ſie wieder hinunter und traten,
nach Paſſierung des Schloßvorhofs, auf den quadratiſchen
Dorfplatz hinaus, an deſſen einer Ecke die Schule gelegen
war. Es mußte die Schule ſein, das ſah man an den
offenſtehenden Fenſtern und den Malven davor, und als
die Herren bis an den grünen Staketenzaun heran waren,
hörten ſie auch ſchon den prompten Schulgang da drinnen,
erſt die ſcharfe, kurze Frage des Lehrers und dann die
ſofortige Maſſenantwort. Im nächſten Augenblick, unter
Vorantritt Dubslavs, betraten alle den Flur, und weil
5*[68] ein kleiner weißer Kläffer ſofort furchtbar zu bellen anfing,
erſchien Krippenſtapel um zu ſehen, was los ſei.
„Guten Morgen, Krippenſtapel,“ ſagte Dubslav.
„Ich bring' Ihnen Beſuch.“
„Sehr ſchmeichelhaft, Herr Baron.“
„Ja, das ſagen Sie; wenn's nur wahr iſt. Aber
unter allen Umſtänden laſſen Sie den Baron aus dem
Spiel ... Sehen Sie, meine Herren, mein Freund
Krippenſtapel is ein ganz eignes Haus. Alltags nennt
er mich Herr von Stechlin (den Major unterſchlägt er),
und wenn er ärgerlich iſt, nennt er mich ‚gnäd'ger Herr‘.
Aber ſowie ich mit Fremden komme, betitelt er mich Herr
Baron. Er will was für mich thun.“
Krippenſtapel, ſtill vor ſich hinſchmunzelnd, hatte
mittlerweile die Thür zu der ſeiner Schulklaſſe gegenüber
gelegenen Wohnſtube geöffnet und bat die Herren, ein¬
treten zu wollen. Sie nahmen auch jeder einen Stuhl in
die Hand, aber ſtützten ſich nur auf die Lehne, während
das Geſpräch zwiſchen Dubslav und dem Lehrer ſeinen
Fortgang nahm. „Sagen Sie, Krippenſtapel, wird es
denn überhaupt gehen? Sie ſollen uns natürlich alles
zeigen, und die Schule iſt noch nicht aus.“
„O, gewiß geht es, Herr von Stechlin.“
„Ja, hören Sie, wenn der Hirt fehlt, rebelliert die
Herde ...“
„Nicht zu befürchten, Herr von Stechlin. Da war
mal ein Burgemeiſter, achtundvierziger Zeit, Namen will
ich lieber nicht nennen, der ſagte: ‚Wenn ich meinen
Stiefel ans Fenſter ſtelle, regier' ich die ganze Stadt.‘
Das war mein Mann.“
„Richtig; den hab' ich auch noch gekannt. Ja, der
verſtand es. Überhaupt immer in der Furcht des Herrn.
Dann geht alles am beſten. Der Hauptregente bleibt
doch der Krückſtock.“
„Der Krückſtock“, beſtätigte Krippenſtapel. „Und
dann freilich die Belohnungen.“
„Belohnungen?“ lachte Dubslav. „Aber Krippen¬
ſtapel, wo nehmen Sie denn die her?“
„O, die hat's ſchon, Herr von Stechlin. Aber immer
mit Verſchiedenheiten. Iſt es was Kleines, ſo kriegt der
Junge bloß 'nen Katzenkopp weniger, iſt es aber was
Großes, dann kriegt er 'ne Wabe.“
„'ne Wabe? Richtig. Davon haben wir ſchon
heute früh beim Frühſtück geſprochen, als Ihr Honig
auf den Tiſch kam. Ich habe den Herren dabei ge¬
ſagt, Sie wären der beſte Imker in der ganzen Graf¬
ſchaft.“
„Zu viel Ehre, Herr von Stechlin. Aber das darf
ich ſagen, ich verſteh' es. Und wenn die Herren mir
folgen wollen, um das Volk bei der Arbeit zu ſehen —
es iſt jetzt gerade beſte Zeit.“
Alle waren einverſtanden, und ſo gingen ſie denn
durch den Flur bis in Hof und Garten hinaus und
nahmen hier Stellung vor einem offenen Etageſchuppen,
drin die Stöcke ſtanden, nicht altmodiſche Bienenkörbe,
ſondern richtige Bienenhäuſer, nach der Dzierzonſchen
Methode, wo man alles herausnehmen und jeden Augen¬
blick in das Innere bequem hinein gucken kann. Krippen¬
ſtapel zeigte denn auch alles, und Rex und Czako waren
ganz aufrichtig intereſſiert.
„Nun aber, Herr Lehrer Krippenſtapel“, ſagte Czako,
„nun bitte, geben Sie uns auch einen Kommentar. Wie
is das eigentlich mit den Bienen? Es ſoll ja was ganz
Beſondres damit ſein.“
„Iſt es auch, Herr Hauptmann. Das Bienenleben
iſt eigentlich feiner und vornehmer als das Menſchenleben.“
„Feiner, das kann ich mir ſchon denken; aber auch
vornehmer? Was Vornehmeres als den Menſchen giebt
es nicht. Indeſſen, wie's damit auch ſei, ‚ja‘ oder ‚nein‘,
[70] Sie machen einen nur immer neugieriger. Ich habe mal
gehört, die Bienen ſollen ſich auf das Staatliche ſo gut
verſtehen; beinah' vorbildlich.“
„So iſt es auch, Herr Hauptmann. Und eines iſt
ja da, worüber ſich als Thema vielleicht reden läßt. Da
ſind nämlich in jedem Stock drei Gruppen oder Klaſſen.
In Klaſſe eins haben wir die Königin, in Klaſſe zwei
haben wir die Arbeitsbienen (die, was für alles Arbeits¬
volk wohl eigentlich immer das beſte iſt, geſchlechtslos
ſind), und in Klaſſe drei haben wir die Drohnen; die
ſind männlich, worin zugleich ihr eigentlicher Beruf beſteht.
Denn im übrigen thun ſie gar nichts.“
„Intereſſanter Staat. Gefällt mir. Aber immer
noch nicht vorbildlich genug.“
„Und nun bedenken Sie, Herr Hauptmann. Winter¬
lang haben ſie ſo dageſeſſen und gearbeitet oder auch ge¬
ſchlafen. Und nun kommt der Frühling, und das er¬
wachende neue Leben ergreift auch die Bienen, am
mächtigſten aber die Klaſſe eins, die Königin. Und ſie
beſchließt nun, mit ihrem ganzen Volk einen Frühlings¬
ausflug zu machen, der ſich für ſie perſönlich ſogar zu
einer Art Hochzeitsreiſe geſtaltet. So muß ich es nennen.
Unter den vielen Drohnen nämlich, die ihr auf der Ferſe
ſind, wählt ſie ſich einen Begleiter, man könnte ſagen
einen Tänzer, der denn auch berufen iſt, alsbald in eine
noch intimere Stellung zu ihr einzurücken. Etwa nach
einer Stunde kehrt die Königin und ihr Hochzeitszug in
die beengenden Schranken ihres Staates zurück. Ihr
Daſein hat ſich inzwiſchen erfüllt. Ein ganzes Geſchlecht
von Bienen wird geboren, aber weitere Beziehungen zu
dem bewußten Tänzer ſind ein für allemal ausgeſchloſſen.
Es iſt das gerade das, was ich vorhin als fein und
vornehm bezeichnet habe. Bienenköniginnen lieben nur
einmal. Die Bienenkönigin liebt und ſtirbt.“
„Und was wird aus der bevorzugten Drohne, aus
[71] dem Prinzeſſinnen-Tänzer, dem Prince-Conſort, wenn
dieſer Titel ausreicht?“
„Dieſer Tänzer wird ermordet.“
„Nein, Herr Lehrer Krippenſtapel, das geht nicht.
Unter dieſer letzten Mitteilung bricht meine Begeiſterung
wieder zuſammen. Das iſt ja ſchlimmer als der Heineſche
Aſra. Der ſtirbt doch bloß. Aber hier haben wir Er¬
mordung. Sagen Sie, Rex, wie ſtehen Sie dazu?“
„Das monogamiſche Prinzip, woran doch ſchließlich
unſre ganze Kultur hängt, kann nicht ſtrenger und über¬
zeugender demonſtriert werden. Ich finde es großartig.“
Czako hätte gern geantwortet; aber er kam nicht
dazu, weil in dieſem Augenblicke Dubslav darauf auf¬
merkſam machte, daß man noch viel vor ſich habe. Zu¬
nächſt die Kirche. „Seine Hochwürden, der wohl eigent¬
lich dabei ſein müßte, wird es nicht übelnehmen, wenn
wir auf ihn verzichten. Aber Sie, Krippenſtapel, können
Sie?“
Krippenſtapel wiederholte, daß er Zeit vollauf habe.
Zudem ſchlug die Schuluhr, und gleich beim erſten Schlage
hörte man, wie's drinnen in der Klaſſe lebendig wurde
und die Jungens in ihren Holzpantinen über den Flur
weg auf die Straße ſtürzten. Draußen aber ſtellten ſie
ſich militäriſch auf, weil ſie mittlerweile gehört hatten,
daß der gnädige Herr gekommen ſei.
„Morgen, Jungens“, ſagte Dubslav, an einen kleinen
Schwarzhaarigen herantretend. „Biſt von Globſow?“
„Nein, gnäd'ger Herr, von Dagow.“
„Na, lernſt auch gut?“
Der Junge griente.
„Wann war denn Fehrbellin?“
„Achtzehnte Juni.“
„Und Leipzig?“
„Achtzehnter Oktober. Immer achtzehnter bei uns.“
„Das iſt recht, Junge .... Da.“
[72]Und dabei griff er in ſeinen Rock und ſuchte nach
einem Nickel. „Sehen Sie, Hauptmann, Sie ſind ein
bißchen ein Spötter, ſo viel hab' ich ſchon gemerkt; aber
ſo muß es gemacht werden. Der Junge weiß von Fehr¬
bellin und von Leipzig und hat ein kluges Geſicht und
ſteht Red' und Antwort. Und rote Backen hat er auch.
Sieht er aus, als ob er einen Kummer hätte oder einen
Gram ums Vaterland? Unſinn. Ordnung und immer
feſte. Na, ſo lange ich hier ſitze, ſo lange hält es noch.
Aber freilich, es kommen andre Tage.“
Woldemar lächelte.
„Na“, fuhr der Alte fort, „will mich tröſten. Als
der alte Fritz zu ſterben kam, dacht' er auch, nu ginge
die Welt unter. Und ſie ſteht immer noch, und wir Deutſche
ſind wieder obenauf, ein bißchen zu ſehr. Aber immer
beſſer als zu wenig.“
Inzwiſchen hatte ſich Krippenſtapel in ſeiner Stube
proper gemacht: ſchwarzer Rock mit dem Inhaberband
des Adlers von Hohenzollern, den ihm ſein gütiger Guts¬
herr verſchafft hatte. Statt des Hutes, den er in der
Eile nicht hatte finden können, trug er eine Mütze von
ſonderbarer Form. In der Rechten aber hielt er einen
ausgehöhlten Kirchenſchlüſſel, der wie 'ne roſtige Piſtole
ausſah.
Der Weg bis zur Kirche war ganz nah. Und nun
ſtanden ſie dem Portal gegenüber.
Rex, zu deſſen Reſſort auch Kirchenbauliches gehörte,
ſetzte ſein Pincenez auf und muſterte. „Sehr intereſſant.
Ich ſetze das Portal in die Zeit von Biſchof Luger.
Prämonſtratenſer-Bau. Wenn mich nicht alles täuſcht,
Anlehnung an die Brandenburger Krypte. Alſo ſagen
wir zwölfhundert. Wenn ich fragen darf, Herr von
Stechlin, exiſtieren Urkunden? Und war vielleicht Herr
von Quaſt ſchon hier oder Geheimrat Adler, unſer beſter
Kenner?“
Dubslav geriet in eine kleine Verlegenheit, weil er
ſich einer ſolchen Gründlichkeit nicht gewärtigt hatte.
„Herr von Quaſt war einmal hier, aber in Wahlange¬
legenheiten. Und mit den Urkunden iſt es gründlich vor¬
bei, ſeit Wrangel hier alles niederbrannte. Wenn ich
von Wrangel ſpreche, mein' ich natürlich nicht unſern
‚Vater Wrangel‘, der übrigens auch keinen Spaß ver¬
ſtand, ſondern den Schillerſchen Wrangel ... Und außer¬
dem, Herr von Rex, iſt es ſo ſchwer für einen Laien.
Aber Sie, Krippenſtapel, was meinen Sie?“
Rex, über den plötzlich etwas von Dienſtlichkeit ge¬
kommen war, zuckte zuſammen. Er hatte ſich an Herrn
von Stechlin gewandt, wenn nicht als an einen Wiſſenden,
ſo doch als an einen Ebenbürtigen, und daß jetzt Krippen¬
ſtapel aufgefordert wurde, das entſcheidende Wort in dieſer
Angelegenheit zu ſprechen, wollte ihm nicht recht paſſend
erſcheinen. Überhaupt, was wollte dieſe Figur, die doch
ſchon ſtark die Karikatur ſtreifte. Schon der Bericht über
die Bienen und namentlich was er über die Haltung der
Königin und den Prince-Conſort geſagt hatte, hatte ſo
merkwürdig anzüglich geklungen, und nun wurde dies
Schulmeiſter-Original auch noch aufgefordert, über bauliche
Fragen und aus welchem Jahrhundert die Kirche ſtamme,
ſein Urteil abzugeben. Er hatte wohlweislich nach Quaſt
und Adler gefragt, und nun kam Krippenſtapel! Wenn
man durchaus wollte, konnte man das alles patriarchaliſch
finden; aber es mißfiel ihm doch. Und leider war
Krippenſtapel — der zu ſeinen ſonſtigen Sonderbarkeiten
auch noch den ganzen Trotz des Autodidakten geſellte —
keineswegs angethan, die kleinen Unebenheiten, in die das
Geſpräch hineingeraten war, wieder glatt zu machen. Er
nahm vielmehr die Frage ‚Krippenſtapel, was meinen Sie‘
ganz ernſthaft auf und ſagte:
„Wollen verzeihen, Herr von Rex, wenn ich unter
Anlehnung an eine neuerdings erſchienene Broſchüre des
[74] Oberlehrers Tucheband in Templin zu widerſprechen wage.
Dieſer Grafſchaftswinkel hier iſt von mehr mecklenburgiſchem
und uckermärkiſchem als brandenburgiſchem Charakter, und
wenn wir für unſre Stechliner Kirche nach Vorbildern
forſchen wollen, ſo werden wir ſie wahrſcheinlich in Kloſter
Himmelpfort oder Granſee zu ſuchen haben, aber nicht in
Dom Brandenburg. Ich möchte hinzuſetzen dürfen, daß
Oberlehrer Tuchebands Aufſtellungen, ſo viel ich weiß,
unwiderſprochen geblieben ſind.“
Czako, der dieſem aufflackernden Kampfe zwiſchen
einem Miniſterialaſſeſſor und einem Dorfſchulmeiſter mit
größtem Vergnügen folgte, hätte gern noch weitere Scheite
herzugetragen, Woldemar aber empfand, daß es höchſte
Zeit ſei, zu intervenieren, und bemerkte: nichts ſei ſchwerer
als auf dieſem Gebiete Beſtimmungen zu treffen — ein
Satz, den übrigens ſowohl Rex wie Krippenſtapel ab¬
lehnen zu wollen ſchienen — und daß er vorſchlagen
möchte, lieber in die Kirche ſelbſt einzutreten, als hier
draußen über die Säulen und Kapitelle weiter zu de¬
battieren.
Man fand ſich in dieſen Vorſchlag, Krippenſtapel
öffnete die Kirche mit ſeinem Rieſenſchlüſſel, und alle
traten ein.
Sechſtes Kapitel.
Gleich nach zwölf — Woldemar hatte ſich, wie ge¬
plant, ſchon lange vorher, um bei Lorenzen vorzuſprechen,
von den andern Herren getrennt — waren Dubslav, Rex
und Czako von dem Globſower Ausfluge zurück, und Rex,
feiner Mann, der er war, war bei Paſſierung des Vor¬
hofs verbindlich an die mit Zinn ausgelegte blanke Glas¬
kugel herangetreten, um ihr, als einem mutmaßlichen
Produkte der eben beſichtigten „grünen Glashütte“, ſeine
Miniſterialaufmerkſamkeit zu ſchenken. Er ging dabei ſo
weit, von „Induſtrieſtaat“ zu ſprechen. Czako, der ge¬
meinſchaftlich mit Rex in die Glaskugel hineinguckte, war
mit allem einverſtanden, nur nicht mit ſeinem Spiegel¬
bilde. „Wenn man nur bloß etwas beſſer ausſähe ...“
Rex verſuchte zu widerſprechen, aber Czako gab nicht nach
und verſicherte: „Ja, Rex, Sie ſind ein ſchöner Mann,
Sie haben eben mehr zuzuſetzen. Und da bleibt denn
immer noch was übrig.“
Oben auf der Rampe ſtand Engelke.
„Nun, Engelke, wie ſteht's? Woldemar und der
Paſtor ſchon da?“
„Nein, gnäd'ger Herr. Aber ich kann ja die Chriſtel
ſchicken ...“
„Nein, nein, ſchicke nicht. Das ſtört bloß. Aber
warten wollen wir auch nicht. Es war doch weiter nach
Globſow, als ich dachte; das heißt, eigentlich war es
[76] nicht weiter, bloß die Beine wollen nicht mehr recht.
Und hat ſolche Anſtrengung bloß das eine Gute, daß man
hungrig und durſtig wird. Aber da kommen ja die Herren.“
Und er grüßte von der Rampe her nach der Bohlen¬
brücke hinüber, über die Woldemar und Lorenzen eben
in den Schloßhof eintraten. Rex ging ihnen entgegen.
Dubslav dagegen nahm Czakos Arm und ſagte: „Nun
kommen Sie, Hauptmann, wir wollen derweilen ein
bißchen recherchieren und uns einen guten Platz aus¬
ſuchen. Mit der ewigen Veranda, das is nichts; unter
der Marquiſe ſteht die Luft wie 'ne Mauer, und ich muß
friſche Luft haben. Vielleicht erſtes Zeichen von Hydropſie.
Kann eigentlich Fremdwörter nicht leiden. Aber mitunter
ſind ſie doch ein Segen. Wenn ich ſo zwiſchen Hydropſie
und Waſſerſucht die Wahl habe, bin ich immer für
Hydropſie. Waſſerſucht hat ſo was koloſſal Anſchauliches.“
Unter dieſen Worten waren ſie bis in den Garten
gekommen, an eine Stelle, wo viel Buchsbaum ſtand,
dem Poetenſteige gerad' gegenüber. „Sehen Sie hier,
Hauptmann, das wäre ſo was. Niedrige Buchsbaum¬
wand. Da haben wir Luft und doch keinen Zug. Denn
vor Zug muß ich mich auch hüten wegen Rheumatismus,
oder vielleicht iſt es auch Gicht. Und dabei hören wir
das Plätſchern von meiner Sansſouci-Fontäne. Was
meinen Sie?“
„Kapital, Herr Major.“
„Ach, laſſen Sie den Major. Major klingt immer
ſo dienſtlich ... Alſo hier, Engelke, hier decke den Tiſch
und ſtell auch ein paar Fuchſien oder was gerade blüht
in die Mitte. Nur nicht Aſtern. Aſtern ſind ganz gut,
aber doch ſozuſagen unterm Stand und ſehen immer aus
wie 'n Bauerngarten. Und dann mache dich in den
Keller und hol uns was Ordentliches herauf. Du
weißt ja, was ich zum Frühſtück am liebſten habe. Viel¬
leicht hat Hauptmann Czako denſelben Geſchmack.“
„Ich weiß noch nicht, um was es ſich handelt, Herr
von Stechlin; aber ich möchte mich für Übereinſtimmung
ſchon jetzt verbürgen.“
Inzwiſchen waren auch Woldemar, Rex und der
Paſtor vom Gartenſalon her auf die Veranda hinaus¬
getreten und Dubslav ging ihnen entgegen. „Guten Tag,
Paſtor. Nun, das iſt recht. Ich dachte ſchon, Woldemar
würde von Ihnen annektiert werden.“
„Aber, Herr von Stechlin ... Ihre Gäſte ... Und
Woldemars Freunde.“
„Betonen Sie das nicht ſo, Lorenzen. Es giebt
Umgangsformen und Artigkeitsgeſetze. Gewiß. Aber
das alles reicht nicht weit. Was der Menſch am eheſten
durchbricht, das ſind gerade ſolche Formen. Und wer ſie
nicht durchbricht, der kann einem auch leid thun. Wie
geht es denn in der Ehe? Haben Sie ſchon einen
Mann geſehen, der die Formen wahrt, wenn ſeine Frau
ihn ärgert? Ich nicht. Leidenſchaft iſt immer ſiegreich.“
„Ja, Leidenſchaft. Aber Woldemar und ich ...“
„Sind auch in Leidenſchaft, Sie haben die Freund¬
ſchaftsleidenſchaft, Oreſt und Pylades — ſo was hat es
immer gegeben. Und dann, was noch viel mehr ſagen
will, Sie haben nebenher die Konſpirationsleidenſchaft ...“
„Aber, Herr von Stechlin.“
„Nein, nicht die Konſpirationsleidenſchaft, ich nehm'
es zurück; aber Sie haben dafür was andres, nämlich die
Weltverbeſſerungsleidenſchaft. Und das iſt eine der größten,
die es giebt. Und wenn ſolche zwei Weltverbeſſerer zu¬
ſammen ſind, da können Rex und Czako warten, und da
kann ſelbſt ein warmes Frühſtück warten. Sagt man
noch Déjeuner á la fourchette?“
„Kaum, Papa. Wie du weißt, es iſt jetzt alles
engliſch.“
„Natürlich. Die Franzoſen ſind abgeſetzt. Und iſt
auch recht gut ſo, wiewohl unſre Vettern drüben erſt recht
[78] nichts taugen. Selbſt iſt der Mann. Aber ich glaube,
das Frühſtück wartet.“
Wirklich, es war ſo. Während die Herren zu zwei
und zwei an der Buchsbaumwandung auf und ab ſchritten,
hatte Engelke den Tiſch arrangiert, an den jetzt Wirt und
Gäſte herantraten.
Es war eine längliche Tafel, deren dem Rundell
zugekehrte Längsſeite man frei gelaſſen hatte, was allen
einen Überblick über das hübſche Gartenbild geſtattete.
Dubslav, das Arrangement muſternd, nickte Engelke zu,
zum Zeichen, daß er's getroffen habe. Dann aber nahm er
die Mittelſchüſſel und ſagte, während er ſie Rex reichte:
„Toujours perdrix.“ Das heißt, es ſind eigentlich
Krammetsvögel, wie ſchon geſtern abend. Aber wer weiß,
wie Krammetsvögel auf franzöſiſch heißen? Ich wenigſtens
weiß es nicht. Und ich glaube, nicht einmal Tucheband
wird uns helfen können.“
Ein allgemeines verlegenes Schweigen beſtätigte
Dubslavs Vermutung über franzöſiſche Vokabelkenntnis.
„Wir kamen übrigens,“ fuhr dieſer fort, „dicht vor
Globſow durch einen Dohnenſtrich, überall hingen noch
viele Krammetsvögel in den Schleifen, was mir auffiel
und was ich doch, wie ſo vieles Gute, meinem alten
Krippenſtapel zuſchreiben muß. Es wäre doch 'ne Kleinig¬
keit für die Jungens, den Dohnenſtrich auszuplündern.
Aber ſo was kommt nicht vor. Was meinen Sie,
Lorenzen?“
„Ich freue mich, daß es iſt, wie es iſt, und daß die
Dohnenſtriche nicht ausgeplündert werden. Aber ich
glaube, Herr von Stechlin, Sie dürfen es Krippenſtapel
nicht anrechnen.“
Dubslav lachte herzlich. „Da haben wir wieder die
alte Geſchichte. Jeder Schulmeiſter ſchulmeiſtert an ſeinem
Paſtor herum, und jeder Paſtor paſtort über ſeinen Schul¬
meiſter. Ewige Rivalität. Der natürliche Zug iſt doch,
[79] daß die Jungens nehmen, was ſie kriegen können. Der
Menſch ſtiehlt wie’n Rabe. Und wenn er’s mit einmal
unterläßt, ſo muß das doch ’nen Grund haben.“
„Den hat es auch, Herr von Stechlin. Bloß einen
andern. Was ſollen ſie mit ’nem Krammetsvogel machen?
Für uns iſt es eine Delikateſſe, für einen armen Menſchen
iſt es gar nichts, knapp ſo viel wie’n Sperling.“
„Ach, Lorenzen, ich ſehe ſchon, Sie liegen da wieder
mit dem ‚Patrimonium der Enterbten‘ im Anſchlag;
Sperling, das klingt ganz ſo. Aber ſo viel iſt doch richtig,
daß Krippenſtapel die Jungens brillant in [Ordnung] hält;
wie ging das heute Schlag auf Schlag, als ich den kurz¬
geſchornen Schwarzkopp ins Examen nahm und wie
ſtramm waren die Jungens und wie manierlich, als wir
ſie nach ’ner Stunde in Globſow wiederſahen. Wie
ſie da ſo fidel ſpielten und doch voll Reſpekt in allem.
‚Frei, aber nicht frech‘, das iſt ſo mein Satz.“
Woldemar und Lorenzen, die nicht mit dabei geweſen
waren, waren neugierig, auf welchen Vorgang ſich all
dies Lob des Alten bezöge.
„Was hat denn,“ fragte Woldemar, „die Globſower
Jungens mit einemmal zu ſo guter Reputation gebracht?“
„O, es war wirklich ſcharmant,“ ſagt Czako „wir
ſteckten noch unter den Waldbäumen, als wir auch ſchon
Stimmen wie Kommandorufe hörten, und kaum daß wir
auf einen freien, von Kaſtanien umſtellten Platz hinaus¬
getreten waren (eigentlich war es wohl ſchon ein großer
Fabrikhof), ſo ſahen wir uns wie mitten in einer Bataille.“
Rex nickte zuſtimmend, während Czako fortfuhr:
„Auf unſerer Seite ſtand die bis dahin augenſcheinlich
ſiegreiche Partei, deren weiterer Angriff aber wegen der
guten gegneriſchen Deckung mit einemmale ſtoppte. Kaum
zu verwundern. Denn eben dieſe Deckung beſtand aus
wohl tauſend, ein großes Karree bildenden Glasballons,
hinter die ſich die geſchlagene Truppe wie hinter eine
[80] Barrikade zurückgezogen hatte. Da ſtanden ſie nun und
nahmen ein mit den maſſenhaft umherliegenden Kaſtanien
geführtes Feuergefecht auf. Die meiſten ihrer Schüſſe
gingen zu kurz und fielen klappernd wie Hagel auf die
Ballons nieder. Ich hätte dem Spiel, ich weiß nicht wie
lange, zuſehn können. Als man unſerer aber anſichtig
wurde, ſtob alles unter Hurra und Mützenſchwenken aus¬
einander. Überall ſind Photographen. Nur wo ſie hin¬
gehören, da fehlen ſie. Genau ſo wie bei der Polizei.“
Dubslav hatte ſchmunzelnd der Schilderung zugehört.
„Hören Sie, Hauptmann, Sie verſtehn es aber; Sie
können mit 'nem Dukaten den Großen Kurfürſten ver¬
golden.“
„Ja,“ ſagte Rex, ſeinen Partner plötzlich im Stiche
laſſend, „das thut unſer Freund Czako nicht anders; drei¬
viertel iſt immer Dichtung.“
„Ich gebe mich auch nicht für einen Hiſtoriker aus
und am wenigſten für einen korrekten Aktenmenſchen.“
„Und dabei, lieber Czako,“ nahm jetzt Dubslav das
Wort, „dabei bleiben Sie nur. Auf Ihr Spezielles! In
ſo wichtiger Sache müſſen Sie mir aber in meiner Lieb¬
lingsſorte Beſcheid thun, nicht in Rotwein, den mein be¬
rühmter Miteinſiedler das ‚natürliche Getränk des nord¬
deutſchen Menſchen‘ genannt hatte. Einer ſeiner mannig¬
fachen Irrtümer; vielleicht der größte. Das natürliche
Getränk des norddeutſchen Menſchen iſt am Rhein und
Main zu finden. Und am vorzüglichſten da, wo ſich,
wenn ich den Ausdruck gebrauchen darf, beide vermählen.
Ungefähr von dieſer Vermählungsſtelle kommt auch der
hier.“ Und dabei wies er auf eine vor ihm ſtehende
Bocksbeutelflaſche. „Sehen Sie, meine Herren, verhaßt
ſind mir alle langen Hälſe; das hier aber, das nenn' ich
eine gefällige Form. Heißt es nicht irgendwo: ‚Laßt mich
dicke Leute ſehn‘, oder ſo ähnlich. Da ſtimm' ich zu;
dicke Flaſchen, die ſind mein Fall.“ Und dabei ſtieß er
[81] wiederholt mit Czako an. „Noch einmal, auf Ihr Wohl.
Und auf Ihres, Herr von Rex. Und dann auf das Wohl
meiner Globſower, oder wenigſtens meiner Globſower
Jungens, die ſich nicht bloß um Fehrbellin kümmern und
um Leipzig, ſondern, wie wir geſehen haben, auch ſelber
ihre Schlachten ſchlagen. Ich ärgere mich nur immer,
wenn ich dieſe rieſigen Ballons da zwiſchen meinen Glob¬
ſowern ſehe. Und hinter dem erſten Fabrikhof (ich wollte
Sie nur nicht weiter damit behelligen), da iſt noch ein
zweiter Hof, der ſieht noch ſchlimmer aus. Da ſtehen
nämlich wahre Glasungeheuer, auch Ballons, aber mit
langem Hals dran, und die heißen dann Retorten.“
„Aber Papa,“ ſagte Woldemar, „daß du dich über
die paar Retorten und Ballons nie beruhigen kannſt. So
lang ich nur denken kann, eiferſt du dagegen. Es iſt doch
ein wahres Glück, daß ſo viel davon in die Welt geht
und den armen Fabrikleuten einen guten Lohn ſichert.
So was wie Streik kommt hier ja gar nicht vor und in
dieſem Punkt iſt unſre Stechliner Gegend doch wirklich
noch wie ein Paradies.“
Lorenzen lachte.
„Ja, Lorenzen, Sie lachen,“ warf Dubslav hier ein.
„Aber bei Lichte beſehen hat Woldemar doch recht, was,
(und Sie wiſſen auch warum,) eigentlich nicht oft vorkommt.
Es iſt genau ſo, wie er ſagt. Natürlich bleibt uns Eva
und die Schlange; das iſt uralte Erbſchaft. Aber ſo viel
noch von guter alter Zeit in dieſer Welt zu finden iſt, ſo
viel findet ſich hier, hier in unſrer lieben alten Graf¬
ſchaft. Und in dies Bild richtiger Gliederung, oder meinet¬
wegen auch richtiger Unterordnung (denn ich erſchrecke vor
ſolchem Worte nicht), in dieſes Bild des Friedens paßt
mir dieſe ganze Globſower Retortenbläſerei nicht hinein.
Und wenn ich nicht fürchten müßte, für einen Querkopf
gehalten zu werden, ſo hätt' ich bei hoher Behörde ſchon
lange meine Vorſchläge wegen dieſer Retorten und Ballons
Fontane, Der Stechlin. 6[82] eingereicht. Und natürlich gegen beide. Warum müſſen
es immer Ballons ſein? Und wenn ſchon, na, dann
lieber ſolche wie dieſe. Die laſſ' ich mir gefallen.“ Und
dabei hob er die Bocksbeutelflaſche.
„Wie dieſe,“ beſtätigte Czako.
„Ja, Czako, Sie ſind ganz der Mann, meinen Papa
in ſeiner Idioſynkraſie zu beſtärken.“
„Idioſynkraſie,“ wiederholte der Alte. „Wenn ich
ſo was höre. Ja, Woldemar, da glaubſt du nun wieder
wunder was Feines geſagt zu haben. Aber es iſt doch
bloß ein Wort. Und was bloß ein Wort iſt, iſt nie was
Feines, auch wenn es ſo ausſieht. Dunkle Gefühle, die
ſind fein. Und ſo gewiß die Vorſtellung, die ich mit
dieſer lieben Flaſche hier verbinde, für mich perſönlich
was Celeſtes hat ... kann man Celeſtes ſagen? ...“
Lorenzen nickte zuſtimmend, „ſo gewiß hat die Vorſtellung,
die ſich für mich an dieſe Globſower Rieſenbocksbeutel¬
flaſchen knüpft, etwas Infernaliſches.“
„Aber Papa.“
„Still, unterbrich mich nicht, Woldemar. Denn ich
komme jetzt eben an eine Berechnung, und bei Berech¬
nungen darf man nicht geſtört werden. Über hundert
Jahre beſteht nun ſchon dieſe Glashütte. Und wenn ich
nun ſo das jedesmalige Jahresprodukt mit hundert multi¬
pliziere, ſo rechne ich mir alles in allem wenigſtens eine
Million heraus. Die ſchicken ſie zunächſt in andre Fa¬
briken, und da deſtillieren ſie flott drauf los und zwar
allerhand ſchreckliches Zeug in dieſe grünen Ballons
hinein: Salzſäure, Schwefelſäure, rauchende Salpeterſäure.
Das iſt die ſchlimmſte, die hat immer einen rotgelben
Rauch, der einem gleich die Lunge anfrißt. Aber wenn
einen der Rauch auch zufrieden läßt, jeder Tropfen brennt
ein Loch, in Leinwand oder in Tuch, oder in Leder, über¬
haupt in alles; alles wird angebrannt und angeätzt. Das
iſt das Zeichen unſrer Zeit jetzt, ‚angebrannt und angeätzt‘.
[83] Und wenn ich dann bedenke, daß meine Globſower da
mitthun und ganz gemütlich die Werkzeuge liefern für die
große Generalweltanbrennung, ja, hören Sie, meine Herren,
das giebt mir einen Stich. Und ich muß Ihnen ſagen,
ich wollte, jeder kriegte lieber einen halben Morgen Land
von Staats wegen und kaufte ſich zu Oſtern ein Ferkelchen,
und zu Martini ſchlachteten ſie ein Schwein und hätten
den Winter über zwei Speckſeiten, jeden Sonntag eine
ordentliche Scheibe, und alltags Kartoffeln und Grieben.“
„Aber Herr von Stechlin,“ lachte Lorenzen, „das iſt
ja die reine Neulandtheorie. Das wollen ja die Sozial¬
demokraten auch.“
„Ach was, Lorenzen, mit Ihnen iſt nicht zu reden ...
Übrigens Proſit ... wenn Sie's auch eigentlich nicht
verdienen.“
Das Frühſtück zog ſich lange hin, und das dabei
geführte Geſpräch nahm noch ein paarmal einen Anlauf
ins Politiſche hinein; Lorenzen aber, der kleine Schraubereien
gern vermeiden wollte, wich jedesmal geſchickt aus und
kam lieber auf die Stechliner Kirche zu ſprechen. Er war
aber auch hier vorſichtig und beſchränkte ſich, unter An¬
lehnung an Tucheband, auf Architektoniſches und Hiſto¬
riſches, bis Dubslav, ziemlich abrupt, ihn fragte: „Wiſſen
Sie denn, Lorenzen, auf unſerm Kirchenboden Beſcheid?
Krippenſtapel hat mich erſt heute wiſſen laſſen, daß wir
da zwei vergoldete Biſchöfe mit Krummſtab haben. Oder
vielleicht ſind es auch bloß Äbte.“ Lorenzen wußte nichts
davon, weshalb ihm Dubslav gutmütig mit dem Finger
drohte.
So ging das Geſpräch. Aber kurz vor zwei mußte
dem allem ein Ende gemacht werden. Engelke kam und
meldete, daß die Pferde da und die Mantelſäcke bereits
aufgeſchnallt ſeien. Dubslav ergriff ſein Glas, um auf
ein frohes Wiederſehn anzuſtoßen. Dann erhob man ſich.
6 *[84]
Rex, bei Paſſierung der Rampe, trat noch einmal an
die kranke Aloe heran und verſicherte, daß ſolche Blüte
doch etwas eigentümlich Geheimnisvolles habe. Dubslav
hütete ſich, zu widerſprechen, und freute ſich, daß der
Beſuch mit etwas für ihn ſo Erheiterndem abſchloß.
Gleich danach ritt man ab. Als ſie bei der Glas¬
kugel vorbeikamen, wandten ſich alle drei noch einmal
zurück, und jeder lüpfte ſeine Mütze. Dann ging es,
zwiſchen den Findlingen hin, auf die Dorfſtraße hinaus,
auf der eben eine ziemlich ramponiert ausſehende Halb¬
chaiſe, das lederne Verdeck zurückgeſchlagen, an ihnen
vorüberfuhr; die Sitze leer, alles an dem Fuhrwerk ließ
Ordnung und Sauberkeit vermiſſen; das eine Pferd war
leidlich gut, das andre ſchlecht, und zu dem neuen Livree¬
rock des Kutſchers wollte der alte Hut, der wie ein fuchſiges
Torfſtück ausſah, nicht recht paſſen.
„Das war ja Gundermanns Wagen.“
„So, ſo,“ ſagte Czako. „Auf den hätt' ich beinah'
geraten.“
„Ja, dieſer Gundermann“, lachte Woldemar. „Mein
Vater wollt' Ihnen geſtern gern etwas Grafſchaftliches
vorſetzen, aber er vergriff ſich. Gundermann auf Sieben¬
mühlen iſt ſo ziemlich unſere ſchlechteſte Nummer. Ich
ſehe, er hat Ihnen nicht recht gefallen.“
„Gott, gefallen, Stechlin, — was heißt gefallen?
Eigentlich gefällt mir jeder oder auch keiner. Eine Dame
hat mir mal geſagt, die langweiligen Leute wären ſchlie߬
lich gerade ſo gut wie die intereſſanten, und es hat was
für ſich. Aber dieſer Gundermann! Zu welchem Zwecke
läßt er denn eigentlich ſeinen leeren Wagen in der Welt
herumkutſchieren?“
„Ich bin deſſen auch nicht ſicher. Wahrſcheinlich in
Wahlangelegenheiten. Er perſönlich wird irgendwo hängen
[85] geblieben ſein, um Stimmen einzufangen. Unſer alter
braver Kortſchädel nämlich, der allgemein beliebt war, iſt
dieſen Sommer geſtorben, und da will nun Gundermann,
der ſich auf den Konſervativen hin ausſpielt, aber keiner
iſt, im Trüben fiſchen. Er intrigiert. Ich habe das in
einem Geſpräch, das ich mit ihm hatte, ziemlich deutlich
herausgehört, und Lorenzen hat es mir beſtätigt.“
„Ich kann mir denken,“ ſagte Rex, „daß gerade
Lorenzen gegen ihn iſt. Aber dieſer Gundermann, für
den ich weiter nichts übrig habe, hat doch wenigſtens die
richtigen Prinzipien.“
„Ach, Rex, ich bitte Sie,“ ſagte Czako, „richtige Prin¬
zipien! Geſchmackloſigkeiten hat er und öde Redensarten.
Dreimal hab' ich ihn ſagen hören: ‚Das wäre wieder
Waſſer auf die Mühlen der Sozialdemokratie.‘ So was
ſagt kein anſtändiger Menſch mehr, und jedenfalls ſetzt
er nicht hinzu: ‚daß er das Waſſer abſtellen wolle.‘ Das
iſt ja eine ſchreckliche Wendung.“
Unter dieſen Worten waren ſie bis an den hoch¬
überwölbten Teil der Kaſtanienallee gekommen.
Engelke, der gleich frühmorgens ein allerſchönſtes
Wetter in Ausſicht geſtellt hatte, hatte recht behalten; es
war ein richtiger Oktobertag, klar und friſch und milde
zugleich. Die Sonne fiel hie und da durch das noch
ziemlich dichte Laub, und die Reiter freuten ſich des
Spieles der Schatten und Lichter. Aber noch anmutiger
geſtaltete ſich das Bild, als ſie bald danach in einen
Seitenweg einmündeten, der ſich durch eine flache, nur
hie und da von Waſſerlachen durchzogene Wieſenlandſchaft
hinſchlängelte. Die großen Heiden und Forſten, die das
eigentlich Charakteriſtiſche dieſes nordöſtlichen Grafſchafts¬
winkels bilden, traten an dieſer Stelle weit zurück, und
nur ein paar einzelne, wie vorgeſchobene Kouliſſen wirkende
Waldſtreifen wurden ſichtbar.
Alle drei hielten an, um das Bild auf ſich wirken
[86] zu laſſen; aber ſie kamen nicht recht dazu, weil ſie, wäh¬
rend ſie ſich umſchauten, eines alten Mannes anſichtig
wurden, der, nur durch einen flachen Graben von ihnen
getrennt, auf einem Stück Wieſe ſtand und das hoch¬
ſtehende Gras mähte. Jetzt erſt ſah auch er von ſeiner
Arbeit auf und zog ſeine Mütze. Die Herren thaten ein
Gleiches und ſchwankten, ob ſie näher heranreiten und
eine Anſprache mit ihm haben ſollten. Aber er ſchien
das weder zu wünſchen noch zu erwarten, und ſo ritten
ſie denn weiter.
„Mein Gott,“ ſagte Rex, „das war ja Krippenſtapel.
Und hier draußen, ſo weit ab von ſeiner Schule. Wenn
er nicht die Seehundsfellmütze gehabt hätte, die wie aus
einer konfiszierten Schulmappe geſchnitten ausſah, hätt'
ich ihn nicht wieder erkannt.“
„Ja, er war es, und das mit der Schulmappe wird
wohl auch zutreffen,“ ſagte Woldemar. „Krippenſtapel
kann eben alles — der reine Robinſon.“
„Ja, Stechlin,“ warf Czako hier ein, „Sie ſagen das
ſo hin, als ob Sie's beſpötteln wollten. Eigentlich iſt
es doch aber was Großes, ſich immer ſelber helfen zu
können. Er wird wohl 'nen Sparren haben, zugegeben,
aber Ihrem geprieſenen Lorenzen iſt er denn doch um ein
gut Stück überlegen. Schon weil er ein Original iſt und
ein Eulengeſicht hat. Eulengeſichtsmenſchen ſind anderen
Menſchen faſt immer überlegen.
„Aber Czako, ich bitte Sie, das iſt ja doch alles
Unſinn. Und Sie wiſſen es auch. Sie möchten nur,
ganz wie Rex, wenn auch aus einem andern Motiv, dem
armen Lorenzen was am Zeug flicken, bloß weil Sie her¬
ausfühlen: „das iſt eine lautere Perſönlichkeit“.“
„Da thun Sie mir unrecht, Stechlin. Ganz und gar.
Ich bin auch fürs Lautere, wenn ich nur perſönlich nicht
in Anſpruch genommen werde.“
„Nun, davor ſind Sie ſicher, — vom Brombeer¬
[87] ſtrauch keine Trauben. Im übrigen muß ich hier ab¬
brechen und Sie bitten, mich auf ein Weilchen entſchuldigen
zu wollen. Ich muß da nämlich nach dem Forſthauſe
hinüber, da drüben neben der Waldecke.“
„Aber Stechlin, was wollen Sie denn bei 'nem
Förſter?“
„Kein Förſter. Es iſt ein Oberförſter, zu dem ich
will, und zwar derſelbe, den Sie geſtern abend bei meinem
Papa geſehn haben. Oberförſter Katzler, bürgerlich, aber
doch beinah' ſchon hiſtoriſcher Name.“
„So, ſo; jedenfalls nach dem, was mir Rex erzählt,
ein brillanter Billardſpieler. Und doch, wenn Sie nicht
ganz intim mit ihm ſind, find' ich dieſen Abſtecher über¬
trieben artig.“
„Sie hätten recht, Czako, wenn es ſich lediglich um
Katzler handelte. Das iſt aber nicht der Fall. Es handelt
ſich nicht um ihn, ſondern um ſeine junge Frau.“
„A la bonne heure.“
„Ja, da ſind Sie nun auch wieder auf einer falſchen
Fährte. So was kann nicht vorkommen, ganz abgeſehen
davon, daß mit Oberförſtern immer ſchlecht Kirſchen
pflücken iſt; die blaſen einen weg, man weiß nicht wie.
... Es handelt ſich hier einfach um einen Teilnahme¬
beſuch, um etwas, wenn Sie wollen, ſchön Menſchliches.
Frau Katzler erwartet nämlich.“
„Aber mein Gott, Stechlin, Ihre Worte werden
immer rätſelhafter. Sie können doch nicht bei jeder
Oberförſtersfrau, die ‚erwartet‘, eine Viſite machen wollen.
Das wäre denn doch eine Rieſenaufgabe, ſelbſt wenn Sie
ſich auf ihre Grafſchaft hier beſchränken wollten.“
„Es liegt alles ganz exceptionell. Übrigens macht
ich es kurz mit meinem Beſuch, und wenn Sie Schrit'
reiten, worum ich bitte, ſo hol' ich Sie bei Genshagen
noch wieder ein. Von da bis Wutz haben wir kaum
[88] noch eine Stunde, und wenn wir’s forcieren wollen, keine
halbe.“
Und während er noch ſo ſprach, bog er rechts ein
und ritt auf das Forſthaus zu.
Woldemar hatte die Mitte zwiſchen Rex und Czako
gehabt; jetzt ritten dieſe beiden nebeneinander. Czako war
neugierig und hätte gern Fritz herangerufen, um dies und
das über Katzler und Frau zu hören. Aber er ſah ein,
daß das nicht ginge. So blieb ihm nichts als ein
Meinungsaustauſch mit Rex.
„Sehn Sie,“ hob er an, „unſer Freund Woldemar,
trabt er da nicht hin, wie wenn er dem Glücke nach¬
jagte? Glauben Sie mir, da ſteckt ’ne Geſchichte dahinter.
Er hat die Frau geliebt oder liebt ſie noch. Und dies
merkwürdige Intereſſe für den in Sicht ſtehenden Erden¬
bürger. Übrigens vielleicht ein Mädchen. Was meinen
Sie dazu, Rex?“
„Ach Czako, Sie wollen ja doch nur hören, was
Ihrer eignen frivolen Natur entſpricht. Sie haben keinen
Glauben an reine Verhältniſſe. Sehr mit Unrecht. Ich
kann ihnen verſichern, es giebt dergleichen.“
„Nun ja, Sie, Rex. Sie, der ſich Frühgottesdienſte
leiſtet. Aber Stechlin ...“
„Stechlin iſt auch eine ſittliche Natur. Sittlichkeit
iſt ihm angeboren, und was er von Natur mitbrachte,
das hat ſein Regiment weiter in ihm ausgebildet.“
Czako lachte. „Nun hören Sie, Rex, Regimenter
kenn’ ich doch auch. Es giebt ihrer von allen Arten,
aber Sittlichkeitsregimenter kenn’ ich noch nicht.“
„Es giebt’s ihrer aber. Zum mindeſten hat’s ihrer
immer gegeben, ſogar ſolche mit Askeſe.“
„Nun ja,Cromwell und die Puritaner. Aber, long, long
ago‘. Verzeihen Sie die abgedudelte Phraſe. Aber wenn
ſich’s um ſo feine Dinge wie Askeſe handelt, muß man
notwendig einen engliſchen Brocken einſchalten. In Wirk¬
[89] lichkeit bleibt alles beim alten. Sie ſind ein ſchlechter
Menſchenkenner, Rex, wie alle Konventikler. Die glauben
immer, was ſie wünſchen. Und auch an unſerm Stechlin
werden Sie mutmaßlich erfahren, wie falſch Sie gerechnet
haben. Im übrigen kommt da gerade zu rechter Zeit
ein Wegweiſer. Laſſen Sie uns nachſehen, wo wir eigent¬
lich ſind. Wir reiten ſo immer drauf los und wiſſen
nicht mehr, ob links oder rechts.“
Rex, der von dem Wegweiſer nichts wiſſen wollte,
war einfach für Weiterreiten, und das war auch das
richtige. Denn keine halbe Stunde mehr, ſo holte Stechlin
ſie wieder ein. „Ich wußte, daß ich Sie noch vor Gens¬
hagen treffen würde. Die Frau Oberförſterin läßt ſich
übrigens den Herren empfehlen. Er war nicht da, was
recht gut war.“
„Kann ich mir denken,“ ſagte Czako.
„Und was noch beſſer war, ſie ſah brillant aus.
Eigentlich iſt ſie nicht hübſch, Blondine mit großen Ver¬
gißmeinnichtaugen und etwas lymphatiſch; auch wohl nicht
ganz geſund. Aber ſonderbar, ſolche Damen, wenn was
in Sicht ſteht, ſehen immer beſſer aus als in natürlicher
Verfaſſung, ein Zuſtand, der allerdings bei der Katzler
kaum vorkommt. Sie iſt noch nicht volle ſechs Jahre
verheiratet und erwartet mit nächſtem das Siebente.“
„Das iſt aber doch unerhört. Ich glaube, ſo was
iſt Scheidungsgrund.“
„Mir nicht bekannt und auch, offen geſtanden, nicht
ſehr wahrſcheinlich. Jedenfalls wird es die Prinzeſſin
nicht als Scheidungsgrund nehmen.“
„Die Prinzeſſin?“ fuhren Rex und Czako a tempo
heraus.
„Ja, die Prinzeſſin,“ wiederholte Woldemar. „Ich
war all die Zeit über geſpannt, was das wohl für einen
Eindruck auf Sie machen würde, weshalb ich mich auch
gehütet habe, vorher mit Andeutungen zu kommen. Und
[90] es traf ſich gut, daß mein Vater geſtern abend nur ſo
ganz leicht drüber hinging, ich möchte beinah' ſagen diskret,
was ſonſt nicht ſeine Sache iſt.“
„Prinzeſſin,“ wiederholte Rex, dem die Sache beinah'
den Atem nahm. „Und aus einem regierenden Hauſe?“
„Ja, was heißt aus einem regierenden Hauſe? Regiert
haben ſie alle mal. Und ſoviel ich weiß, wird ihnen
dies ‚mal regiert haben‘ auch immer noch angerechnet,
wenigſtens ſowie ſich's um Eheſchließungen handelt. Um
ſo großartiger, wenn einzelne der hier in Betracht
kommenden Damen auf alle dieſe Vorrechte verzichten und
ohne Rückſicht auf Ebenbürtigkeit ſich aus reiner Liebe
vermählen. Ich ſage ‚vermählen‘, weil ‚ſich verheiraten‘
etwas plebeje klingt. Frau Katzler iſt eine Ippe-Büchſen¬
ſtein.“
„Eine Ippe!“ ſagte Rex. „Nicht zu glauben. Und
erwartet wieder. Ich bekenne, daß mich das am meiſten
chokiert. Dieſe Ausgiebigkeit, ich finde kein andres Wort,
oder richtiger, ich will kein andres finden, iſt doch eigent¬
lich das Bürgerlichſte, was es giebt.“
„Zugegeben. Und ſo hat es die Prinzeſſin auch
wohl ſelber aufgefaßt. Aber das iſt gerade das Große
an der Sache; ja, ſo ſonderbar es klingt, das Ideale.“
„Stechlin, Sie können nicht verlangen, daß man das
ſo ohne weiteres verſteht. Ein halb Dutzend Bälge, wo
ſteckt da das Ideale?“
„Doch, Rex, doch. Die Prinzeſſin ſelbſt, und das
iſt das Rührendſte, hat ſich darüber ganz unumwunden
ausgeſprochen. Und zwar zu meinem Alten. Sie ſieht
ihn öfter und möcht' ihn, glaub' ich, bekehren, — ſie iſt
nämlich von der ſtrengen Richtung und hält ſich auch zu
Superintendent Koſeleger, unſerm Papſt hier. Und kurz
und gut, ſie macht meinem Papa beinah' den Hof und
erklärt ihn für einen perfekten Kavalier, wobei Katzler
[91] immer ein etwas ſüßſaures Geſicht macht, aber natürlich
nicht widerſpricht.“
„Und wie kam ſie nur dazu, Ihrem Papa gerade
Konfeſſions in einer ſo delikaten Sache zu machen?“
„Das war voriges Jahr, genau um dieſe Zeit, als
ſie auch mal wieder erwartete. Da war mein Vater
drüben und ſprach, als das durch die Situation gegebene
Thema berührt wurde, halb diplomatiſch, halb humoriſtiſch
von der Königin Luiſe, hinſichtlich deren der alte Doktor
Heim, als der Königin das ‚Sechſte oder Siebente‘
geboren werden ſollte, ziemlich freiweg von der Not¬
wendigkeit der ‚Brache‘ geſprochen hatte.“
„Bißchen ſtark“, ſagte Rex. „Ganz im alten Heim-
Stil. Aber freilich, Königinnen laſſen ſich viel gefallen.
Und wie nahm es die Prinzeſſin auf?“
„O, ſie war reizend, lachte, war weder verlegen noch
verſtimmt, ſondern nahm meines Vaters Hand ſo zu¬
traulich, wie wenn ſie ſeine Tochter geweſen wäre. ‚Ja,
lieber Herr von Stechlin,‘ ſagte ſie, ,wer A ſagt, der muß
auch B ſagen. Wenn ich dieſen Segen durchaus nicht
wollte, dann mußt' ich einen Durchſchnittsprinzen heiraten,
— da hätt' ich vielleicht das gehabt, was der alte Heim
empfehlen zu müſſen glaubte. Statt deſſen nahm ich aber
meinen guten Katzler. Herrlicher Mann. Sie kennen ihn
und wiſſen, er hat die ſchöne Einfachheit aller ſtattlichen
Männer, und ſeine Fähigkeiten, ſoweit ſich überhaupt da¬
von ſprechen läßt, haben etwas Einſeitiges. Als ich ihn
heiratete, war ich deshalb ganz von dem einen Gedanken
erfüllt, alles Prinzeßliche von mir abzuſtreifen und nichts
beſtehen zu laſſen, woraus Übelwollende hätten herleiten
können: „Ah, ſie will immer noch eine Prinzeſſin ſein.“
Ich entſchloß mich alſo für das Bürgerliche, und zwar „voll
und ganz“, wie man jetzt, glaub' ich, ſagt. Und was
dann kam, nun, das war einfach die natürliche Konſequenz.‘“
„Großartig,“ ſagte Rex. „Ich entſchlage mich nach
ſolchen Mitteilungen jeder weiteren Oppoſition. Welch
ein Maß von Entſagung! Denn auch im Nichtentſagen
kann ein Entſagen liegen. Andauernde Opferung eines
Innerſten und Höchſten.“
„Unglaublich!“ lachte Czako. „Rex, Rex. Ich hab'
Ihnen da ſchon vorhin alle Menſchenkenntnis abgeſprochen.
Aber hier übertrumpfen Sie ſich ſelbſt. Wer Konventikel
leitet, der ſollte doch wenigſtens die Weiber kennen.
Erinnern Sie ſich, Stechlin ſagte, ſie ſei lymphatiſch und
habe Vergißmeinnichtaugen. Und nun ſehen Sie ſich
den Katzler an. Beinah' ſechs Fuß und rotblond und
das Eiſerne Kreuz.“
„Czako, Sie ſind mal wieder frivol. Aber man darf
es mit Ihnen ſo genau nicht nehmen. Das iſt das
Slaviſche, was in Ihnen nachſpukt; latente Sinnlichkeit.“
„Ja, ſehr latent; durchaus vergrabner Schatz. Und
ich wollte wohl, daß ich in die Lage käme, beſſer damit
wuchern zu können. Aber ...“
So ging das Geſpräch noch eine gute Weile.
Die große Chauſſee, darauf ihr Weg inzwiſchen wieder
eingemündet, ſtieg allmählich an, und als man den Höhe¬
punkt dieſer Steigung erreicht hatte, lag das Kloſter ſamt
ſeinem gleichnamigen Städtchen in verhältnismäßiger Nähe
vor ihnen. Auf ihrem Hinritte hatten Rex und Czako ſo
wenig davon zu Geſicht bekommen, daß ein gewiſſes Be¬
troffenſein über die Schönheit des ſich ihnen jetzt dar¬
bietenden Landſchafts- und Architekturbildes kaum aus¬
bleiben konnte. Czako beſonders war ganz aus dem
Häuschen, aber auch Rex ſtimmte mit ein. „Die große
Feldſteingiebelwand,“ ſagte er, „ſo gewagt im allgemeinen
beſtimmte Zeitangaben auf dieſem Gebiete ſind, möcht' ich
in das Jahr 1375, alſo Landbuch Kaiſer Karls IV.,
ſetzen dürfen.“
„Wohl möglich,“ lachte Woldemar. „Es giebt näm¬
[93] lich Zahlen, die nicht gut widerlegt werden können, und
‚Landbuch Kaiſer Karls IV.‘ paßt beinah immer.“
Rex hörte drüber hin, weil er in ſeinem Geiſte mal
wieder einer allgemeineren und zugleich höheren Auffaſſung
der Dinge zuſtrebte. „Ja, meine Herren,“ hob er an,
„das geſchmähte Mittelalter. Da verſtand man's. Ich
wage den Ausſpruch, den ich übrigens nicht einem Kunſt¬
handbuch entnehme, ſondern der langſam in mir heran¬
gereift iſt: „Die Platzfrage geht über die Stilfrage.“ Jetzt
wählt man immer die häßlichſte Stelle. Das Mittelalter
hatte noch keine Brillen, aber man ſah beſſer.“
„Gewiß,“ ſagte Czako. „Aber dieſer Angriff auf die
Brillen, Rex, iſt nichts für Sie. Wer mit ſeinem
Pincenez oder Monocle ſo viel operiert ...“
Das Geſpräch kam nicht weiter, weil in eben dieſem
Augenblicke mächtige Turmuhrſchläge vom Städtchen Wutz
her herüberklangen. Man hielt an, und jeder zählte.
„Vier.“ Kaum aber hatte die Uhr ausgeſchlagen, ſo
begann eine zweite und that auch ihre vier Schläge.
„Das iſt die Kloſteruhr,“ ſagte Czako.
„Warum?“
„Weil ſie nachſchlägt; alle Kloſteruhren gehen nach.
Natürlich. Aber wie dem auch ſei, Freund Woldemar
hat uns, glaub' ich, für vier Uhr angemeldet, und ſo
werden wir uns eilen müſſen.“
Kloſter Wutz.
[[96]][[97]]Siebentes Kapitel.
Alle ſetzten ſich denn auch wieder in Trab, mit ihnen
Fritz, der dabei näher an die voraufreitenden Herren
herankam. Das Geſpräch ſchwieg ganz, weil jeder in
Erwartung der kommenden Dinge war.
Die Chauſſee lief hier, auf eine gute Strecke, zwiſchen
Pappeln hin, als man aber bis in unmittelbare Nähe
von Kloſter Wutz gekommen war, hörten dieſe Pappeln
auf, und der ſich mehr und mehr verſchmälernde Weg
wurde zu beiden Seiten von Feldſteinmauern eingefaßt,
über die man alsbald in die verſchiedenſten Gartenanlagen
mit allerhand Küchen- und Blumenbeeten und mit vielen
Obſtbäumen dazwiſchen hineinſah. Alle drei ließen jetzt
die Pferde wieder in Schritt fallen.
„Der Garten hier links,“ ſagte Woldemar, „iſt der
Garten der Domina, meiner Tante Adelheid; etwas pri¬
mitiv, aber wundervolles Obſt. Und hier gleich rechts,
da bauen die Stiftsdamen ihren Dill und ihren Meiran.
Es ſind aber nur ihrer vier, und wenn welche geſtorben
ſind — aber ſie ſterben ſelten — ſo ſind es noch weniger.“
Unter dieſen orientierenden Mitteilungen des hier
aus ſeinen Knabenjahren her Weg und Steg kennenden
Woldemar waren alle durch eine Maueröffnung in einen
großen Wirtſchaftshof eingeritten, der baulich ſo ziemlich
jegliches enthielt, was hier, bis in die Tage des Dreißig¬
jährigen Krieges hinein, der dann freilich alles zerſtörte,
Fontane, Der Stechlin. 7[98] mal Kloſter Wutz geweſen war. Vom Sattel aus ließ ſich
alles bequem überblicken. Das meiſte, was ſie ſahen,
waren wirr durcheinander geworfene, von Baum und
Strauch überwachſene Trümmermaſſen.
„Es erinnert mich an den Palatin,“ ſagte Rex,
„nur ins chriſtlich Gotiſche transponiert.“
„Gewiß,“ beſtätigte Czako lachend. „So weit ich
urteilen kann, ſehr ähnlich. Schade, daß Krippenſtapel
nicht da iſt. Oder Tucheband.“
Damit brach das Geſpräch wieder ab.
In der That, wohin man ſah, lagen Mauer¬
reſte, in die, ſeltſamlich genug, die Wohnungen der
Kloſterfrauen eingebaut waren, zunächſt die größere der
Domina, daneben die kleineren der vier Stiftsdamen,
alles an der vorderen Langſeite hin. Dieſer gegenüber
aber zog ſich eine zweite, parallel laufende Trümmer¬
linie, darin die Stallgebäude, die Remiſen und die Roll¬
kammern untergebracht waren. Verblieben nur noch die
zwei Schmalſeiten, von denen die eine nichts als eine
von Holunderbüſchen übergrünte Mauer, die andere da¬
gegen eine hochaufragende mächtige Giebelwand war,
dieſelbe, die man ſchon beim Anritt aus einiger Ent¬
fernung geſehen hatte. Sie ſtand da, wie bereit, alles
unter ihrem beſtändig drohenden Niederſturz zu begraben,
und nur das eine konnte wieder beruhigen, daß ſich auf
höchſter Spitze der Wand ein Storchenpaar eingeniſtet
hatte. Störche, deren feines Vorgefühl immer weiß, ob
etwas hält oder fällt.
Von der Maueröffnung, durch die man eingeritten,
bis an die in die Feldſteintrümmer eingebauten Wohn¬
gebäude waren nur wenige Schritte, und als man da¬
vor hielt, erſchien alsbald die Domina ſelbſt, um ihren
Neffen und ſeine beiden Freunde zu begrüßen. Fritz,
der, wie überall, ſo auch hier Beſcheid wußte, nahm die
Pferde, um ſie nach einem an der andern Seite gelegenen
[99] Stallgebäude hinüberzuführen, während Rex und Czako
nach kurzer Vorſtellung in den von Schränken umſtellten
Flur eintraten.
„Ich habe dein Telegramm,“ ſagte die Domina,
„erſt um ein Uhr erhalten. Es geht über Granſee, und
der Bote muß weit laufen. Aber ſie wollen ihm ein
Rad anſchaffen, ſolches wie jetzt überall Mode iſt. Ich
ſage Rad, weil ich das fremde Wort, das ſo verſchieden
ausgeſprochen wird, nicht leiden kann. Manche ſagen
‚ci‘, und manche ſagen ‚ſchi‘. Bildungsprätenſionen ſind
mir fremd, aber man will ſich doch auch nicht bloßſtellen.“
Eine Treppe führte bis in den erſten Stock hin¬
auf, eigentlich war es nur eine Stiege. Die Domina,
nachdem ſie die Herren bis an die unterſte Stufe be¬
gleitet hatte, verabſchiedete ſich hier auf eine Weile. „Du
wirſt ſo gut ſein, Woldemar, alles in deine Hand zu
nehmen. Führe die Herren hinauf. Ich habe unſer
beſcheidenes Kloſtermahl auf fünf Uhr angeordnet; alſo
noch eine gute halbe Stunde. Bis dahin, meine Herren.“
Oben war eine große Plättkammer zur Fremden¬
ſtube hergerichtet worden. Ein Waſchtiſch mit Finken¬
näpfchen und Krügen in Kleinformat war aufgeſtellt
worden, was in Erwägung der beinah liliputaniſchen
Raumverhältniſſe durchaus paſſend geweſen wäre, wenn
nicht ſechs an eben ſo vielen Thürhaken hängende Rieſen¬
handtücher das Enſemble wieder geſtört hätten. Rex,
der ſich — ihn drückten die Stiefel — auf kurze zehn
Minuten nach einer kleinen Erleichterung ſehnte, bediente
ſich eines eiſernen Stiefelknechts, während Czako ſein
Geſicht in einer der kleinen Waſchſchüſſeln begrub und
beim Abreiben das feſte Gewebe der Handtücher lobte.
„Sicherlich Eigengeſpinſt. Überhaupt, Stechlin, das
muß wahr ſein, Ihre Tante hat ſo was; man merkt
doch, daß ſie das Regiment führt. Und wohl ſchon ſeit
lange. Wenn ich recht gehört, iſt ſie älter als Ihr Papa.“
„O, viel; beinahe um zehn Jahre. Sie wird ſechs¬
undſiebzig.“
„Ein reſpektables Alter. Und ich muß ſagen, wohl
konſerviert.“
„Ja, man kann es beinahe ſagen. Das iſt eben
der Vorzug ſolcher, die man ‚ſchlank‘ nennt. Beiläufig
ein Euphemismus. Wo nichts iſt, hat der Kaiſer ſein
Recht verloren und die Zeit natürlich auch; ſie kann
nichts nehmen, wo ſie nichts mehr findet. Aber ich denke
— Rex thut mir übrigens leid, weil er wieder in ſeine
Stiefel muß — wir begeben uns jetzt nach unten und
machen uns möglichſt liebenswürdig bei der Tante. Sie
wird uns wohl ſchon erwarten, um uns ihren Liebling
vorzuſtellen.“
„Wer iſt das?“
„Nun, das wechſelt. Aber da es bloß vier ſein
können, ſo kommt jeder bald wieder an die Reihe.
Während ich das letzte Mal hier war, war es ein Fräu¬
lein von Schmargendorf. Und es iſt leicht möglich,
daß ſie jetzt gerade wieder dran iſt.“
„Eine nette Dame?“
„O ja. Ein Pummel.“
Und wie vorgeſchlagen, nach kurzem „Sichadjuſtieren“
in der improviſierten Fremdenſtube, kehrten alle drei
Herren in Tante Adelheids Salon zurück, der niedrig
und verblakt und etwas altmodiſch war. Die Möbel,
lauter Erbſchaftsſtücke, wirkten in dem niedrigen Raume
beinahe grotesk, und die ſchwere Tiſchdecke, mit einer
mächtigen, ziemlich modernen Aſtrallampe darauf, paßte
ſchlecht zu dem Zeiſigbauer am Fenſter und noch ſchlechter
zu dem über einem kleinen Klavier hängenden Schlachten¬
bilde: „König Wilhelm auf der Höhe von Lipa“. Trotz¬
dem hatte dies ſtilloſe Durcheinander etwas Anheimelndes.
[101] In dem primitiven Kamin — nur eine Steinplatte mit
Rauchfang — war ein Holzfeuer angezündet; beide
Fenſter ſtanden auf, waren aber durch ſchwere Gardinen
ſo gut wie wieder geſchloſſen, und aus dem etwas ſchief
über dem Sofa hängenden Quadratſpiegel wuchſen drei
Pfauenfedern heraus.
Tante Adelheid hatte ſich in Staat geworfen und
ihre Karlsbader Granatbroſche vorgeſteckt, die der alte
Dubslav wegen der ſieben mittelgroßen Steine, die einen
größeren und buckelartig vorſpringenden umſtanden, die
„Sieben-Kurfürſten-Broſche“ nannte. Der hohe hagere
Hals ließ die Domina noch größer und herriſcher er¬
ſcheinen, als ſie war, und rechtfertigte durchaus die
brüderliche Malice: „Wickelkinder, wenn ſie ſie ſehen,
werden unruhig, und wenn ſie zärtlich wird, fangen ſie
an zu ſchreien.“ Man ſah ihr an, daß ſie nur immer
vorübergehend in einer höheren Geſellſchaftsſphäre gelebt
hatte, ſich trotzdem aber zeitlebens der angeborenen Zu¬
gehörigkeit zu eben dieſen Kreiſen bewußt geweſen war.
Daß man ſie zur Domina gemacht hatte, war nur zu
billigen. Sie wußte zu rechnen und anzuordnen und
war nicht bloß von ſehr gutem natürlichen Verſtand,
ſondern unter Umſtänden auch voller Intereſſe für ganz
beſtimmte Perſonen und Dinge. Was aber, trotz ſolcher
Vorzüge, den Verkehr mit ihr ſo ſchwer machte, das
war die tiefe Proſa ihrer Natur, das märkiſch Enge,
das Mißtrauen gegen alles, was die Welt der Schön¬
heit oder gar der Freiheit auch nur ſtreifte.
Sie erhob ſich, als die drei Herren eintraten, und
war gegen Rex und Czako aufs neue von verbindlichſtem
Entgegenkommen. „Ich muß Ihnen noch einmal aus¬
ſprechen, meine Herren, wie ſehr ich bedaure, Sie nur
ſo kurze Zeit unter meinem Dache ſehen zu dürfen.“
„Du vergißt mich, liebe Tante,“ ſagte Woldemar.
„Ich bleibe dir noch eine gute Weile. Mein Zug geht,
[102] glaub' ich, erſt um neun. Und bis dahin erzähl' ich
dir eine Welt und — beichte.“
„Nein, nein, Woldemar, nicht das, nicht das. Er¬
zählen ſollſt du mir recht, recht viel. Und ich habe ſo¬
gar Fragen auf dem Herzen. Du weißt wohl ſchon,
welche. Aber nur nicht beichten. Schon das Wort macht
mir jedesmal ein Unbehagen. Es hat ſolch ausgeſprochen
katholiſchen Beigeſchmack. Unſer Rentmeiſter Fix hat
recht, wenn er ſagt: ‚Beichte ſei nichts, weil immer un¬
aufrichtig, und es habe in Berlin — aber das ſei nun
freilich ſchon ſehr, ſehr lange her — einen Geiſtlichen
gegeben, der habe den Beichtſtuhl einen Satansſtuhl
genannt. Das find' ich nun offenbar übertrieben und
habe mich auch in dieſem Sinne zu Fix geäußert. Aber
andrerſeits freue ich mich doch immer aufrichtig, einem
ſo mutig proteſtantiſchen Worte zu begegnen. Mut iſt,
was uns not thut. Ein feſter Proteſtant, ſelbſt wenn
er ſchroff auftritt, iſt mir jedesmal eine Herzſtärkung,
und ich darf ein gleiches Empfinden auch wohl bei Ihnen,
Herr von Rex, vorausſetzen.“
Rex verbeugte ſich. Woldemar aber ſagte zu Czako:
„Ja, Czako, da ſehen Sie's. Sie ſind nicht einmal
genannt worden. Eine Domina — verzeih, Tante —
bildet eben ein feines Unterſcheidungsvermögen aus.“
Die Tante lächelte gnädig und ſagte: „Herr von
Czako iſt Offizier. Es giebt viele Wohnungen in meines
Vaters Hauſe. Das aber muß ich ausſprechen, der Un¬
glaube wächſt und das Katholiſche wächſt auch. Und
das Katholiſche, das iſt das Schlimmere. Götzendienſt
iſt ſchlimmer als Unglaube.“
„Gehſt du darin nicht zu weit, liebe Tante?“
„Nein, Woldemar. Sieh, der Unglaube, der ein
Nichts iſt, kann den lieben Gott nicht beleidigen; aber
Götzendienſt beleidigt ihn. Du ſollſt keine andern
Götter haben neben mir. Da ſteht es. Und nun gar
[103] der Papſt in Rom, der ein Obergott ſein will und un¬
fehlbar.“
Czako, während Rex ſchwieg und nur ſeine Ver¬
beugung wiederholte, kam auf die verwegene Idee, für
Papſt und Papſttum eine Lanze brechen zu wollen,
entſchlug ſich dieſes Vorhabens aber, als er wahrnahm,
daß die alte Dame ihr Dominageſicht aufſetzte. Das
war indeſſen nur eine raſch vorüberziehende Wolke.
Dann fuhr Tante Adelheid, das Thema wechſelnd, in
ſchnell wiedergewonnener guter Laune fort: „Ich habe
die Fenſter öffnen laſſen. Aber auch jetzt noch, meine
Herren, iſt es ein wenig ſtickig. Das macht die niedrige
Decke. Darf ich Sie vielleicht auffordern, noch eine
Promenade durch unſern Garten zu machen? Unſer
Kloſtergarten iſt eigentlich das Beſte, was wir hier
haben. Nur der unſers Rentmeiſters iſt noch gepflegter
und größer und liegt auch am See. Rentmeiſter Fix,
der hier alles zuſammenhält, iſt uns, wie in wirtſchaft¬
lichen Dingen, ſo auch namentlich in ſeinen Garten¬
anlagen, ein Vorbild; überhaupt ein charaktervoller
Mann, und dabei treu wie Gold, trotzdem ſein Gehalt
unbedeutend iſt und ſeine Nebeneinnahmen ganz unſicher
in der Luft ſchweben. Ich hatte Fix denn auch bitten
laſſen, mit uns bei Tiſch zu ſein; er verſteht ſo gut zu
plaudern, gut und leicht, ja beinahe freimütig und doch
immer durchaus diskret. Aber er iſt dienſtlich verhindert.
Die Herren müſſen ſich alſo mit mir begnügen [und] mit
einer unſrer Konventualinnen, einem mir lieben Fräulein,
das immer munter und ausgelaſſen, aber doch zugleich
bekenntnisſtreng iſt, ganz von jener ſchönen Heiterkeit,
die man bloß bei denen findet, deren Glaube feſte
Wurzeln getrieben hat. Ein gut Gewiſſen iſt das beſte
Ruhekiſſen. Damit hängt es wohl zuſammen.“
Rex, an den ſich dieſe Worte vorzugsweiſe gerichtet
hatten, drückte wiederholt ſeine Zuſtimmung aus, wäh¬
[104] rend Czako beklagte, daß Fix verhindert ſei. „Solche
Männer ſprechen zu hören, die mit dem Volke Fühlung
haben und genau wiſſen, wie’s einerſeits in den Schlöſſern,
andererſeits in den Hütten der Armut ausſieht, das iſt
immer in hohem Maße fördernd und lehrreich und ein
Etwas, auf das ich jederzeit ungern verzichte.“
Gleich danach erhob man ſich und ging ins Freie.
Der Garten war von ſehr ländlicher Art. Durch
ſeine ganze Länge hin zog ſich ein von Buchsbaum¬
rabatten eingefaßter Gang, neben dem links und rechts,
in wohlgepflegten Beeten, Ritterſporn und Studenten¬
blumen blühten. Gerade in ſeiner [Mitte] weitete ſich
der ſonſt ſchmale Gang zu einem runden Platz aus,
darauf eine große Glaskugel ſtand, ganz an die Stech¬
liner erinnernd, nur mit dem Unterſchied, daß hier das
eingelegte blanke Zinn fehlte. Beide Kugeln ſtammten
natürlich aus der Globſower „grünen Hütte“. Weiter¬
hin, ganz am Ausgange des Gartens, wurde man eines
etwas ſchiefen Bretterzaunes anſichtig, mit einem Pflaumen¬
baum dahinter, deſſen einer Hauptzweig aus dem Nach¬
bargarten her in den der Domina herüberreichte.
Rex führte die Tante. Dann folgte Woldemar
mit Hauptmann Czako, weit genug ab von dem vor¬
aufgehenden Paar, um ungeniert miteinander ſprechen
zu können.
„Nun, Czako,“ ſagte Woldemar, „bleiben wir,
wenn’s ſein kann, noch ein bißchen weiter zurück. Ich
kann Ihnen gar nicht ſagen, wie gern ich in dieſem
Garten bin. Allen Ernſtes. Ich habe hier nämlich
als Junge hundertmal geſpielt und in den Birnbäumen
geſeſſen; damals ſtanden hier noch etliche, hier links,
wo jetzt die Mohrrübenbeete ſtehen. Ich mache mir
nichts aus Mohrrüben, woraus ich übrigens ſchließe,
daß wir heute welche zu Tiſch kriegen. Wie gefällt
Ihnen der Garten?“
„Ausgezeichnet. Es iſt ja eigentlich ein Bauern¬
garten, aber doch mit viel Ritterſporn drin. Und zu
jedem Ritterſporn gehört eine Stiftsdame.“
„Nein, Czako, nicht ſo. Sagen Sie mir ganz
ernſthaft, ob ſie ſolche Gärten leiden können.“
„Ich kann ſolche Gärten eigentlich nur leiden,
wenn ſie eine Kegelbahn haben. Und dieſer hier iſt
wie geſchaffen dazu, lang und ſchmal. Alle unſre mo¬
dernen Kegelbahnen ſind zu kurz, wie früher alle Betten
zu kurz waren. Wenn die Kugel aufſetzt, iſt ſie auch
ſchon da, und der Bengel unten ſchreit einen an mit
ſeinem ‚acht um den König‘. Für mich fängt das Ver¬
gnügen erſt an, wenn das Brett lang iſt und man der
Kugel anmerkt, ſie möchte links oder rechts abirren,
aber die eingeborene Gewalt zwingt ſie zum Ausharren,
zum Bleiben auf der rechten Bahn. Es hat was
Symboliſches oder Pädagogiſches, oder meinetwegen
auch Politiſches.“
Unter dieſem Geſpräche waren ſie, ganz nach unten
hin, bis an die Stelle gekommen, wo der nachbarliche
Pflaumenbaum ſeinen Zweig über den Zaun wegſtreckte.
Neben dem Zaun aber, in gleicher Linie mit ihm, ſtand
eine grüngeſtrichene Bank, auf der, von dem Gezweig
überdacht, eine Dame ſaß, mit einem kleinen runden
Hut und einer Adlerfeder. Als ſich die Herrſchaften ihr
näherten, erhob ſie ſich und ſchritt auf die Domina zu,
dieſer die Hand zu küſſen; zugleich verneigte ſie ſich
gegen die drei Herren.
„Erlauben Sie mir,“ ſagte Adelheid, „Sie mit
meiner lieben Freundin, Fräulein von Schmargendorf,
bekannt zu machen. Hauptmann von Czako, Miniſterial¬
aſſeſſor von Rex ... Meinen Neffen, liebe Schmargen¬
dorf, kennen Sie ja.“
Adelheid, als ſie ſo vorgeſtellt hatte, zog ihre kleine
Uhr aus dem Gürtel hervor und ſagte: Wir haben noch
[106] zehn Minuten. Wenn es Ihnen recht iſt, bleiben wir
noch in Gottes freier Natur. Woldemar, führe meine
liebe Freundin, oder lieber Sie, Herr Hauptmann, —
Fräulein von Schmargendorf wird ohnehin Ihre Tiſch¬
dame ſein.“
Das Fräulein von Schmargendorf war klein und
rundlich, einige vierzig Jahre alt, von kurzem Hals
und wenig Taille. Von den ſieben Schönheiten, über
die jede Evastochter Verfügung haben ſoll, hatte ſie,
ſoweit ſich ihr „Kredit“ feſtſtellen ließ, nur die Büſte.
Sie war ſich deſſen denn auch bewußt und trug immer
dunkle Tuchkleider, mit einem Sammetbeſatz oberhalb der
Taille. Dieſer Beſatz beſtand aus drei Dreiecken, deren
Spitze nach unten lief. Sie war immer fidel, zunächſt
aus glücklicher Naturanlage, dann aber auch, weil ſie
mal gehört hatte: Fidelität erhalte jung. Ihr lag da¬
ran, jung zu ſein, obwohl ſie keinen rechten Nutzen
mehr daraus ziehen konnte. Benachbarte Adlige gab
es nicht, der Paſtor war natürlich verheiratet und Fix
auch. Und weiter nach unten ging es nicht.
Adelheid und Rex waren meiſt weit voraus, ſo
daß man ſich immer erſt an der Glaskugel traf, wenn
das voranſchreitende Paar ſchon wieder auf dem Rück¬
wege war. Czako grüßte dann jedesmal militäriſch zur
Domina hinüber.
Dieſe ſelbſt war in einem Geſpräch mit Rex feſt
engagiert und verhandelte mit ihm über ein bedroh¬
liches Wachſen des Sektiererweſens. Rex fühlte ſich da¬
von getroffen, da er ſelbſt auf dem Punkte ſtand,
Irvingianer zu werden; er war aber Lebemann genug,
um ſich ſchnell zurecht zu finden und vor allem auf jede
nachhaltige Bekämpfung der von Adelheid geäußerten
Anſichten zu verzichten. Er lenkte geſchickt in das Ge¬
biet des allgemeinen Unglaubens ein, dabei ſofort einer
vollen Zuſtimmung begegnend. Ja, die Domina ging
[107] weiter, und ſich abwechſelnd auf die Apokalypſe und
dann wieder auf Fix berufend, betonte ſie, daß wir am
Anfang vom Ende ſtünden. Fix gehe freilich wohl
etwas zu weit, wenn er eigentlich keinem Tage mehr ſo
recht traue. Das ſeien nutzloſe Beunruhigungen, wes¬
halb ſie denn auch in ihn gedrungen ſei, von ſolchen
Berechnungen Abſtand zu nehmen oder wenigſtens alles
nochmals zu prüfen. „Kein Zweifel,“ ſo ſchloß ſie,
„Fix iſt für Rechnungsſachen entſchieden talentiert, aber
ich habe ihm trotzdem ſagen müſſen, daß zwiſchen Rech¬
nungen und Rechnungen doch immer noch ein Unter¬
ſchied ſei.“
Czako hatte dem Fräulein von Schmargendorf den
Arm gereicht; Woldemar, weil der Mittelgang zu ſchmal
war, folgte wenige Schritte hinter den beiden und trat
nur immer da, wo der Weg ſich erweiterte, vorüber¬
gehend an ihre Seite.
„Wie glücklich ich bin, Herr Hauptmann,“ ſagte
die Schmargendorf, „Ihre Partnerin zu ſein, jetzt ſchon
hier und dann ſpäter bei Tiſch.“
Czako verneigte ſich.
„Und merkwürdig,“ fuhr ſie fort, „daß gerade das
Regiment Alexander immer ſo vergnügte Herren hat;
einen Namensvetter von Ihnen, oder vielleicht war es
auch Ihr älterer Herr Bruder, den hab' ich noch von
einer Einq[u]artierung in der Priegnitz her ganz deutlich
in Erinnerung, trotzdem es ſchon an die zwanzig Jahre
iſt oder mehr. Denn ich war damals noch blutjung
und tanzte mit Ihrem Herrn Vetter einen richtigen
Radowa, der um jene Zeit noch in Mode war, aber
ſchon nicht mehr ſo recht. Und ich hab' auch noch den
Namenszug und einen kleinen Vers von ihm in meinem
Album: ‚Jegor von Baczko, Sekondelieutenant im Re¬
giment Alexander.‘ Ja, Herr von Baczko, ſo kommt
[108] man wieder zuſammen. Oder doch wenigſtens mit einem
Herren gleichen Namens.“
Czako ſchwieg und nickte nur, weil er Richtig¬
ſtellungen überhaupt nicht liebte; Woldemar aber, der
jedes Wort gehört und in Bezug auf ſolche Dinge klein¬
licher als ſein Freund, der Hauptmann, dachte, wollte
durchaus Remedur ſchaffen und bat, das Fräulein darauf
aufmerkſam machen zu dürfen, daß der Herr, der den
Vorzug habe, ſie zu führen, nicht ein Herr von Baczko,
ſondern ein Herr von Czako ſei.
Die kleine Rundliche geriet in eine momentane Ver¬
legenheit, Czako ſelbſt aber kam ihr mit großer Cour¬
toiſie zu Hilfe.
„Lieber Stechlin,“ begann er, „ich beſchwöre Sie
um ſechſundſechzig Schock ſächſiſche Schuhzwecken, kommen
Sie doch nicht mit ſolchen Kleinigkeiten, die man jetzt,
glaub' ich, Velleitäten nennt. Wenigſtens habe ich das
Wort immer ſo überſetzt. Czako, Baczko, Baczko, Czako,
— wie kann man davon ſo viel Aufhebens machen.
Name, wie Sie wiſſen, iſt Schall und Rauch, ſiehe
Goethe, und Sie werden ſich doch nicht in Widerſpruch
mit dem bringen wollen. Dazu reicht es denn doch am
Ende nicht aus.“
„Hihi.“
„Außerdem, ein Mann wie Sie, der es trotz ſeines
Liberalismus fertig bringt, immer ſeinen Adel bis
wenigſtens dritten Kreuzzug zurückzuführen, ein Mann
wie Sie ſollte mir doch dieſe kleine Verwechslung ehr¬
lich gönnen. Denn dieſer mir in den Schoß gefallene
‚Baczko‘ ... Gott ſei Dank, daß auch unſereinem noch
was in den Schoß fallen kann ...“
„Hihi.“
„Denn dieſer mir in den Schoß gefallene Baczko
iſt doch einfach eine Rang- und Standeserhöhung, ein
richtiges Avancement. Die Baczkos reichen mindeſtens
[109] bis Huß oder Ziska, und wenn es vielleicht Ungarn
ſind, bis auf die Hunyadis zurück, während der erſte
wirkliche Czako noch keine zweihundert Jahre alt iſt.
Und von dieſem erſten wirklichen Czako ſtammen wir
doch natürlich ab. Erwägen Sie, bevor es nicht einen
wirklichen Czako gab, alſo einen ſteifen grauen Filz¬
hut mit Leder oder Blech beſchlagen, eher kann es auch
keinen ‚von Czako‘ gegeben haben; der Adel ſchreibt
ſich immer von ſolchen Dingen ſeiner Umgebung oder
ſeines Metiers oder ſeiner Beſchäftigung her. Wenn ich
wirklich noch mal Luſt verſpüren ſollte, mich ſtandes¬
gemäß zu verheiraten, ſo ſcheitre ich vielleicht an der
Jugendlichkeit meines Adels und werde mich dann dieſer
Stunde wehmütig freundlich erinnern, die mich, wenn
auch nur durch eine Namensverwechslung, auf einen
kurzen Augenblick zu erhöhen trachtete.“
Woldemar, ſeiner Philiſterei ſich bewußt werdend,
zog ſich wieder zurück, während die Schmargendorf treu¬
herzig ſagte: „Sie glauben alſo wirklich, Herr von ...
Herr Hauptmann ... daß Sie von einem Czako her¬
ſtammen?“
„So weit ſolch merkwürdiges Spiel der Natur über¬
haupt möglich iſt, bin ich feſt davon durchdrungen.“
In dieſem Moment, nach abermaliger Paſſierung
des Platzes mit der Glaskugel, erreichte das Paar die
Bank unter dem Pflaumenbaumzweige. Die Schmargen¬
dorf hatte ſchon lange vorher nach zwei großen, dicht
zuſammenſitzenden Pflaumen hinübergeblickt und ſagte,
während ſie jetzt ihre Hand danach ausſtreckte: „Nun
wollen wir aber ein Vielliebchen eſſen, Herr Hauptmann;
wo, wie hier, zwei zuſammenſitzen, da iſt immer ein
Vielliebchen.“
„Eine Definition, der ich mich durchaus anſchließe.
Aber, mein gnädigſtes Fräulein, wenn ich vorſchlagen
dürfte, mit dieſer herrlichen Gabe Gottes doch lieber bis
[110] zum Deſſert zu warten. Das iſt ja doch auch die eigent¬
liche Zeit für Vielliebchen.“
„Nun, wie Sie wollen, Herr Hauptmann. Und ich
werde dieſe zwei bis dahin für uns aufheben. Aber
dieſe dritte hier, die nicht mehr ſo ganz dazu gehört,
die werd' ich eſſen. Ich eſſe ſo gern Pflaumen. Und Sie
werden ſie mir auch gönnen.“
„Alles, alles. Eine Welt.“
Es ſchien faſt, als ob ſich Czako noch weiter über
dies Pflaumenthema, namentlich auch über die ſich da¬
rin bergenden Wagniſſe verbreiten wollte, kam aber nicht
dazu, weil eben jetzt ein Diener in weißen Baumwoll¬
handſchuhen, augenſcheinlich eine Gelegenheitsſchöpfung,
in der Hofthür ſichtbar wurde. Dies war das mit der
Domina verabredete Zeichen, daß der Tiſch gedeckt ſei.
Die Schmargendorf, ebenfalls eingeweiht in dieſe zu
raſchen Entſchlüſſen drängende Zeichenſprache, bückte ſich
deshalb, um von einem der Gemüſebeete raſch noch ein
großes Kohlblatt abzubrechen, auf das ſie ſorglich die
beiden rotgetüpfelten Pflaumen legte. Gleich danach aber
aufs neue des Hauptmanns Arm nehmend, ſchritt ſie,
unter Vorantritt der Domina, auf Hof und Flur und
ganz zuletzt auf den Salon zu, der ſich inzwiſchen in
manchem Stücke verändert hatte, vor allem darin, daß
neben dem Kamin eine zweite Konventualin ſtand, in
dunkler Seide, mit Kopfſchleifen und tiefliegenden, ſtarren
Kakadu-Augen, die in das Weſen aller Dinge einzudringen
ſchienen.
„Ah, meine Liebſte,“ ſagte die Domina, auf dieſe
zweite Konventualin zuſchreitend, „es freut mich herzlich,
daß Sie ſich, trotz Migräne, noch herausgemacht haben;
wir wären ſonſt ohne dritte Tiſchdame geblieben. Er¬
lauben Sie mir vorzuſtellen: Herr von Rex, Herr von
Czako ... Fräulein von Triglaff aus dem Hauſe Triglaff.“
Rex und Czako verbeugten ſich, während Wolde¬
[111] mar, dem ſie keine Fremde war, an die Konventualin
herantrat, um ein Wort der Begrüßung an ſie zu richten.
Czako, die Triglaff unwillkürlich muſternd, war ſofort
von einer ihn frappierenden Ähnlichkeit betroffen und
flüſterte gleich danach dem ſein Monocle wiederholentlich
in Angriff nehmenden Rex leiſe zu: „Krippenſtapel,
weibliche Linie.“
Rex nickte.
Während dieſer Vorſtellung hatte der im Hinter¬
grunde ſtehende Diener den oberen und unteren Thür¬
riegel mit einer gewiſſen Oſtentation zurückgezogen; einen
Augenblick noch und beide Flügel zu dem neben dem
Salon gelegenen Eßzimmer thaten ſich mit einer ſtillen
Feierlichkeit auf.
„Herr von Rex,“ ſagte die Domina, „darf ich um
Ihren Arm bitten.“
Im Nu war Rex an ihrer Seite und gleich danach
traten alle drei Paare in den Nebenraum ein, auf deſſen
gaſtlicher und nicht ohne Geſchick hergerichteter Tafel zwei
Blumenvaſen und zwei ſilberne Doppelleuchter ſtanden.
Auch der Diener war ſchon in Aktion; er hatte ſich in¬
zwiſchen am Büffett in Front einer Meißner Suppen¬
terrine aufgeſtellt, und indem er den Deckel (mit einem
abgeſtoßenen Engel obenauf) abnahm, ſtieg der Wraſen
wie Opferrauch in die Höhe.
Achtes Kapitel.
Tante Adelheid, wenn ſich nichts geradezu Verſtimm¬
liches ereignete, war, von alten Zeiten her, eine gute
Wirtin und beſaß neben anderm auch jene Direktoral¬
augen, die bei Tiſche ſo viel bedeuten; aber eine Gabe
beſaß ſie nicht, die, das Geſpräch, wie's in einem engſten
Zirkel doch ſein ſollte, zuſammenzufaſſen. So zerfiel
denn die kleine Tafelrunde von Anfang an in drei
Gruppen, von denen eine, wiewohl nicht abſolut ſchweig¬
ſam, doch vorwiegend als Tafelornament wirkte. Dies
war die Gruppe Woldemar-Triglaff. Und das konnte
nicht wohl anders ſein. Die Triglaff, wie ſich das bei
Kakadugeſichtern ſo häufig findet, verband in ſich den
Ausdruck höchſter Tiefſinnigkeit mit ganz ungewöhnlicher
Umnachtung, und ein letzter Reſt von Helle, der ihr
vielleicht geblieben ſein mochte, war ihr durch eine
ſtupende Triglaffvorſtellung ſchließlich doch auch noch
abhanden gekommen. Eine direkte Deſcendenz von dem
gleichnamigen Wendengotte, etwa wie Czako von Czako,
war freilich nicht nachzuweiſen, aber doch auch nicht aus¬
geſchloſſen, und wenn dergleichen überhaupt vorkommen
oder nach ſtiller Übereinkunft auch nur allgemein an¬
genommen werden konnte, ſo war nicht abzuſehen, warum
gerade ſie leer ausgehen oder auf ſolche Möglichkeit
verzichten ſollte. Dieſer hochgeſpannten, ganz im Spe¬
ziellen ſich bewegenden Adelsvorſtellung entſprach denn
[113] auch das gereizte Gefühl, das ſie gegen den Zweig des
Hauſes Thadden unterhielt, der ſich, nach ſeinem pommer¬
ſchen Gute Triglaff, Thadden-Triglaff nannte, — eine
Zubenennung, die ihr, der einzig wirklichen Triglaff,
einfach als ein Übergriff oder doch mindeſtens als eine
Beeinträchtigung erſchien. Woldemar, der dies alles
kannte, war dagegen gefeit und wußte ſeinerſeits ſeit
lange, wie zu verfahren ſei, wenn ihm die Triglaff als
Tiſchnachbarin zufiel. Er hatte ſich für dieſen Fall, der
übrigens öfter eintrat als ihm lieb war, die Namen
aller Konventualinnen auswendig gelernt, die während
ſeiner Kinderzeit im Kloſter Wutz gelebt hatten und von
denen er recht gut wußte, daß ſie ſeit lange tot waren.
Er begann aber trotzdem regelmäßig ſeine Fragen ſo zu
ſtellen, als ob das Daſein dieſer längſt Abgeſchiedenen
immer noch einer Möglichkeit unterläge.
„Da war ja hier früher, mein gnädigſtes Fräu¬
lein, eine Drachenhauſen, Aurelie von Drachenhauſen,
und überſiedelte dann, wenn ich nicht irre, nach Kloſter
Zehdenick. Es würde mich lebhaft intereſſieren, in Er¬
fahrung zu bringen, ob ſie noch lebt oder ob ſie viel¬
leicht ſchon tot iſt.“
Die Triglaff nickte.
Czako, dieſes Nicken beobachtend, ſprach ſich ſpäter
gegen Rex dahin aus, daß das alles mit der Abſtammung
der Triglaff ganz natürlich zuſammenhänge. „Götzen
nicken bloß.“
Um vieles lebendiger waren Rede und Gegenrede
zwiſchen Tante Adelheid und dem Miniſterialaſſeſſor,
und das Geſpräch beider, das nur ſittliche Hebungs¬
fragen berührte, hätte durchaus den Charakter einer ge¬
mütlichen, aber doch durch Ernſt geweihten Synodal¬
plauderei gehabt, wenn ſich nicht die Geſtalt des Rent¬
meiſters Fix beſtändig eingedrängt hätte, dieſes Domina¬
protegés, von dem Rex, unter Zurückhaltung ſeiner
Fontane, Der Stechlin. 8[114] wahren Meinung, immer aufs neue verſicherte, „daß in
dieſem klöſterlichen Beamten eine ſeltene Verquickung
von Prinzipienſtrenge mit Geſchäftsgenie vorzuliegen
ſcheine.“
Das waren die zwei Paare, die den linken Flügel,
beziehungsweiſe die Mitte des Tiſches bildeten. Die
beiden Hauptfiguren waren aber doch Czako und die
Schmargendorf, die ganz nach rechts hin ſaßen, in Nähe
der dicken Fenſtergardinen aus Wollſtoff, in deren Falten
denn auch vieles glücklicherweiſe verklang. An die Suppe
hatte ſich ein Fiſch und an dieſen ein Linſenpüree mit
gebackenem Schinken gereiht, und nun wurden geſpickte
Rebhuhnflügel in einer pikanten Sauce, die zugleich
Küchengeheimnis der Domina war, herumgereicht. Czako,
trotzdem er ſchon dem gebackenen Schinken erheblich zu¬
geſprochen hatte, nahm ein zweites Mal auch noch von
dem Rebhuhngericht und fühlte das Bedürfnis, dies zu
motivieren.
„Eine geſegnete Gegend, Ihre Grafſchaft hier,“
begann er. „Aber freilich heuer auch eine geſegnete
Jahreszeit. Geſtern abend bei Dubslav von Stechlin
Krammetsvögelbrüſte, heute bei Adelheid von Stechlin
Rebhuhnflügel.“
„Und was ziehen Sie vor?“ fragte die Schmargen¬
dorf.
„Im allgemeinen, mein gnädigſtes Fräulein, iſt
die Frage wohl zu Gunſten erſterer entſchieden. Aber
hier und ſpeziell für mich iſt doch wohl der Ausnahme¬
fall gegeben.“
„Warum ein Ausnahmefall?“
„Sie haben recht, eine ſolche Frage zu ſtellen.
Und ich antworte, ſo gut ich kann. Nun denn, in
Bruſt und Flügel ...“
„Hihi.“
„In Bruſt und Flügel ſchlummert, wie mir ſcheinen
[115] will, ein großartiger Gegenſatz von hüben und drüben;
es giebt nichts Diesſeitigeres als Bruſt, und es giebt
nichts Jenſeitigeres als Flügel. Der Flügel trägt uns,
erhebt uns. Und deshalb, trotz aller nach der andern
Seite hin liegenden Verlockung, möchte ich alles, was
Flügel heißt, doch höher ſtellen.“
Er hatte dies in einem möglichſt gedämpften Tone
geſprochen. Aber es war nicht nötig, weil einerſeits
die links ihm zunächſt ſitzende Triglaff aus purem Hoch¬
gefühl ihr Ohr gegen alles, was geſprochen wurde,
verſchloß, während andrerſeits die Domina, nachdem
der Diener allerlei kleine Spitzgläſer herumgereicht hatte,
ganz erſichtlich mit einer Anſprache beſchäftigt war.
„Laſſen Sie mich Ihnen noch einmal ausſprechen,“
ſagte ſie, während ſie ſich halb erhob, „wie glücklich es
mich macht, Sie in meinem Kloſter begrüßen zu können.
Herr von Rex, Herr von Czako, Ihr Wohl.“
Man ſtieß an. Rex dankte unmittelbar und ſprach,
als man ſich wieder geſetzt hatte, ſeine Bewunderung
über den ſchönen Wein aus. „Ich vermute Monte¬
fiascone.“
„Vornehmer, Herr von Rex,“ ſagte Adelheid in
guter Stimmung, „eine Rangſtufe höher. Nicht Monte¬
fiascone, den wir allerdings unter meiner Amtsvor¬
gängerin auch hier im Keller hatten, ſondern Lacrimae
Christi. Mein Bruder, der alles bemängelt, meinte
freilich, als ich ihm vor einiger Zeit davon vorſetzte,
das paſſe nicht, das ſei Begräbniswein, höchſtens Wein
für Einſegnungen, aber nicht für heitere Zuſammen¬
künfte.“
„Ein Wort von eigenartiger Bedeutung, darin ich
Ihren Herrn Bruder durchaus wiedererkenne.“
„Gewiß, Herr von Rex. Und ich bin mir bewußt,
daß uns der Name gerade dieſes Weines allerlei Rück¬
ſichten auferlegt. Aber wenn Sie ſich vergegenwärtigen
8*[116] wollen, daß wir in einem Stift, einem Kloſter ſind ...
und ſo meine ich denn, der Ort, an dem wir leben,
giebt uns doch auch ein Recht und eine Weihe.“
„Kein Zweifel. Und ich muß nachträglich die Be¬
denken Ihres Herrn Bruders als irrtümlich anerkennen.
Aber wenn ich mich ſo ausdrücken darf, ein kleidſamer
Irrtum ... Auf das Wohl Ihres Herrn Bruders!“
Damit ſchloß das etwas difficile Zwiegeſpräch, dem
alle mit einiger Verlegenheit gefolgt waren. Nur nicht
die Schmargendorf. „Ach,“ ſagte dieſe, während ſie ſich
halb in den Vorhängen verſteckte, „wenn wir von dem
Wein trinken, dann hören wir auch immer dieſelbe Ge¬
ſchichte. Die Domina muß ſich damals ſehr über den
alten Herrn von Stechlin geärgert haben. Und doch
hat er eigentlich recht; ſchon der bloße Name ſtimmt
ernſt und feierlich und es liegt was drin, das einem
Chriſtenmenſchen denn doch zu denken giebt. Und
gerade wenn man ſo recht vergnügt iſt.“
„Darauf wollen wir anſtoßen,“ ſagte Czako, völlig
im Dunkeln laſſend, ob er mehr den Chriſtenmenſchen
oder den Ernſt oder das Vergnügtſein meinte.
„Und überhaupt,“ fuhr die Schmargendorf fort,
„die Weine müßten eigentlich alle anders heißen, oder
wenigſtens ſehr ſehr viele.“
„Ganz meine Meinung, meine Gnädigſte,“ ſagte
Czako. „Da ſind wirklich ſo manche ... Man darf
aber andrerſeits das Zartgefühl nicht überſpannen. Will
man das, ſo bringen wir uns einfach um die reichſten
Quellen wahrer Poeſie. Da haben wie beiſpielsweiſe,
ſo ganz allgemein und bloß als Gattungsbegriff, die
‚Milch der Greiſe‘, — zunächſt ein durchaus unbean¬
ſtandenswertes Wort. Aber alsbald (denn unſre Sprache
liebt ſolche Spiele) treten mannigfache Fort- und Weiter¬
bildungen, ſelbſt Geſchlechtsüberſpringungen an uns
heran, und ehe wir's uns verſehen, hat ſich
[117] die ‚Milch der Greiſe‘ in eine ‚Liebfrauenmilch‘ ver¬
wandelt.“
„Hihi ... Ja, Liebfrauenmilch, die trinken wir
auch. Aber nur ſelten. Und es iſt auch nicht der Name,
woran ich eigentlich dachte.“
„Sicherlich nicht, meine Gnädigſte. Denn wir haben
eben noch andre, decidiertere, denen gegenüber uns dann
nur noch das Refugium der franzöſiſchen Ausſprache bleibt.“
„Hihi ... Ja, franzöſiſch, da geht es. Aber doch
auch nicht immer, und jedesmal, wenn Rentmeiſter Fix
unſer Gaſt iſt und die Triglaff die Flaſche hin und her
dreht (und ich habe geſehen, daß ſie ſie dreimal herum¬
drehte), dann lacht Fix ... Übrigens ſieht es ſo aus,
als ob die Domina noch was auf dem Herzen hätte;
ſie macht ein ſo feierliches Geſicht. Oder vielleicht will
ſie auch bloß die Tafel aufheben.“
Und wirklich, es war ſo, wie die Schmargendorf
vermutete. „Meine Herren,“ ſagte die Domina, „da
Sie zu meinem Leidweſen ſo früh fort wollen (wir
haben nur noch wenig über eine Viertelſtunde), ſo
geb' ich anheim, ob wir den Kaffee lieber in meinem
Zimmer nehmen wollen oder draußen unter dem Holunder¬
baum.“
Eine Geſamtantwort wurde nicht laut, aber während
man ſich unmittelbar danach erhob, küßte Czako der
Schmargendorf die Hand und ſagte mit einem gewiſſen
Empreſſement: „Unter dem Holunderbaum alſo.“
Die Schmargendorf verſtand nicht im entfernteſten,
auf was es ſich bezog. Aber das war Czako gleich.
Ihm lag lediglich daran, ſich ganz privatim, ganz für
ſich ſelbſt, die Schmargendorf auf einen kurzen aber
großen Augenblick als „Käthchen“ vorſtellen zu können.
Im übrigen zeigte ſich's, daß nicht bloß Czako,
ſondern auch Rex und Woldemar für den Holunder¬
baum waren, und ſo näherte man ſich denn dieſem.
[118]
Es war derſelbe Baum, den die Herren ſchon beim
Einreiten in den Kloſterhof geſehen, aber in jenem
Augenblick wenig beachtet hatten. Jetzt erſt bemerkten
ſie, was es mit ihm auf ſich habe. Der Baum, der
uralt ſein mochte, ſtand außerhalb des Gehöftes, war
aber, ähnlich wie der Pflaumenbaum im Garten, mit
ſeinem Gezweig über das zerbröckelte Gemäuer fort¬
gewachſen. Er war an und für ſich ſchon eine Pracht.
Was ihm aber noch eine beſondere Schönheit lieh, das
war, daß ſein Laubendach von ein paar dahinter
ſtehenden Ebereſchenbäumen wie durchwachſen war, ſo
daß man überall, neben den ſchwarzen Fruchtdolden des
Holunders die leuchtenden roten Ebereſchenbüſchel ſah.
Auch das verſchiedene Laub ſchattierte ſich. Rex und
Czako waren aufrichtig entzückt, beinahe mehr als zu¬
läſſig. Denn ſo reizend die Laube ſelbſt war, ſo
zweifelhaft war das unmittelbar vor ihnen in großer Un¬
ordnung und durchaus ermangelnder Sauberkeit aus¬
gebreitete Hofbild. Aber pittoresk blieb es doch. Zu¬
ſammengemörtelte Feldſteinklumpen lagen in hohem
Graſe, dazwiſchen Karren und Düngerwagen, Enten-
und Hühnerkörbe, während ein kollernder Truthahn
von Zeit zu Zeit bis dicht an die Laube herankam,
ſei's aus Neugier oder um ſich mit der Triglaff zu
meſſen.
Als ſechs Uhr heran war, erſchien Fritz und führte
die Pferde vor. Czako wies darauf hin. Bevor er
aber noch an die Domina herantreten und ihr einige
Dankesworte ſagen konnte, kam die Schmargendorf, die
kurz vorher ihren Platz verlaſſen, mit dem großen Kohl¬
blatt zurück, auf dem die beiden zuſammengewachſenen
Pflaumen lagen. „Sie wollten mir entgehen, Herr von
Czako. Das hilft Ihnen aber nichts. Ich will mein
Vielliebchen gewinnen. Und Sie ſollen ſehen, ich ſiege.“
„Sie ſiegen immer, meine Gnädigſte.“
Neuntes Kapitel.
Rex und Czako ritten ab; Fritz führte Woldemars
Pferd am Zügel. Aber weder die Schmargendorf noch
die Triglaff erwieſen ſich, als die beiden Herren fort
und die drei Damen ſamt Woldemar in die Wohn¬
räume zurückgekehrt waren, irgendwie befliſſen, das Feld
zu räumen, was die Domina, die wegen zu verhandelnder
difficiler Dinge mit ihrem Neffen allein ſein wollte, ſtark
verſtimmte. Sie zeigte das auch, war ſteif und ſchweig¬
ſam und belebte ſich erſt wieder, als die Schmargendorf
mit einemmale glückſtrahlend verſicherte: jetzt wiſſe ſie's;
ſie habe noch eine Photographie, die wolle ſie gleich an
Herrn von Czako ſchicken, und wenn er dann morgen
mittag von Cremmen her in Berlin einträfe, dann werd'
er Brief und Bild ſchon vorfinden und auf der Rück¬
ſeite des Bildes ein „Guten morgen, Vielliebchen.“
Die Domina fand alles ſo lächerlich und unpaſſend wie
nur möglich, weil ihr aber daran lag, die Schmargen¬
dorf los zu werden, ſo hielt ſie mit ihrer wahren
Meinung zurück und ſagte: „Ja, liebe Schmargendorf,
wenn Sie ſo was vorhaben, dann iſt es allerdings
die höchſte Zeit. Der Poſtbote kann gleich kommen.“
Und wirklich, die Schmargendorf ging, nur die Triglaff
zurücklaſſend, deren Auge ſich jetzt von der Domina zu
Woldemar hinüber und dann wieder von Woldemar
zur Domina zurückbewegte. Sie war bei dem allem
[120] ganz unbefangen. Ein Verlangen, etwas zu belauſchen
oder von ungefähr in Familienangelegenheiten einge¬
weiht zu werden, lag ihr völlig fern, und alles, was
ſie trotzdem zum Ausharren beſtimmte, war lediglich
der Wunſch, ſolchem hiſtoriſchen Beiſammenſein eine
durch ihre Triglaffgegenwart geſteigerte Weihe zu
geben. Indeſſen ſchließlich ging auch ſie. Man
hatte ſich wenig um ſie gekümmert, und Tante und
Neffe ließen ſich, als ſie jetzt allein waren, in zwei
braune Plüſchfauteuils (Erbſtücke noch vom Schloß
Stechlin her) nieder, Woldemar allerdings mit äußerſter
Vorſicht, weil die Sprungfedern bereits jenen Alters¬
grad erreicht hatten, wo ſie nicht nur einen dumpfen
Ton von ſich zu geben, ſondern auch zu ſtechen anfangen.
Die Tante bemerkte nichts davon, war vielmehr
froh, ihren Neffen endlich allein zu haben und ſagte
mit raſch wiedergewonnenem Behagen: „Ich hätte dir
ſchon bei Tiſche gern was Beſſres an die Seite gegeben;
aber wir haben hier, wie du weißt, nur unſre vier Kon¬
ventualinnen, und von dieſen vieren ſind die Schmargen¬
dorf und die Triglaff immer noch die beſten. Unſre
gute Schimonski, die morgen einundachtzig wird, iſt
eigentlich ein Schatz, aber leider ſtocktaub, und die
Teſchendorf, die mal Gouvernante bei den Eſterhazys
war und auch noch den Fürſten Schwarzenberg, deſſen
Frau in Paris verbrannte, gekannt hat, ja, die hätt'
ich natürlich ſolchem feinen Herrn wie dem Herrn von
Rex, gerne vorgeſetzt, aber es iſt ein Unglück, die arme
Perſon, die Teſchendorf, iſt ſo zittrig und kann den
Löffel nicht recht mehr halten. Da hab' ich denn doch
lieber die Triglaff genommen; ſie iſt ſehr dumm, aber
doch wenigſtens manierlich, ſo viel muß man ihr laſſen.
Und die Schmargendorf ...“
Woldemar lachte.
„Ja, du lachſt, Woldemar, und ich will dir auch
[121] nicht beſtreiten, daß man über die gute Seele lachen
kann. Aber ſie hat doch auch was Gehaltvolles in ihrer
Natur, was ſich erſt neulich wieder in einem intimen
Geſpräch mit unſerm Fix zeigte, der trotz aller Bekennt¬
nisſtrenge (die ſelbſt Koſeleger ihm zugeſteht) an unſerm
letzten Whiſtabend Äußerungen that, die wir alle tief
bedauern mußten, wir, die wir die Whiſtpartie machten,
nun ſchon ganz gewiß, aber auch die gute, taube Schi¬
monski, der wir, weil ſie uns ſo aufgeregt ſah, alles
auf einen Zettel ſchreiben mußten.“
„Und was war es denn?“
„Ach, es handelte ſich um das, was uns allen,
wie du dir denken kannſt, jetzt das Teuerſte bedeutet, um
den ,Wortlaut‘. Und denke dir, unſer Fix war dagegen.
Er mußte wohl denſelben Tag was geleſen haben, was
ihn abtrünnig gemacht hatte. Perſonen wie Fix ſind
ſehr beſtimmbar. Und kurz und gut, er ſagte: das mit
dem ,Wortlaut‘, das ginge nicht länger mehr, die ‚Werte‘
wären jetzt anders, und weil die Werte nicht mehr die¬
ſelben wären, müßten auch die Worte ſich danach richten
und müßten gemodelt werden. Er ſagte ,gemodelt‘. Aber
was er am meiſten immer wieder betonte, das waren
die ,Werte‘ und die Notwendigkeit der ,Umwertung‘.“
„Und was ſagte die Schmargendorf dazu?“
„Du haſt ganz recht, mich dabei wieder auf die
Schmargendorf zu bringen. Nun, die war außer ſich
und hat die darauf folgende Nacht nicht ſchlafen können.
Erſt gegen Morgen kam ihr ein tiefer Schlaf, und da
ſah ſie, ſo wenigſtens hat ſie's mir und dem Super¬
intendenten verſichert, einen Engel, der mit ſeinem Flammen¬
finger immer auf ein Buch wies und in dem Buch auf
eine und dieſelbe Stelle.“
„Welche Stelle?“
„Ja, darüber war ein Streit; die Schmargendorf
hatte ſie genau geleſen und wollte ſie herſagen. Aber
[122] ſie ſagte ſie falſch, weil ſie Sonntags in der Kirche nie
recht aufpaßt. Und wir ſagten ihr das auch. Und denke
dir, ſie widerſprach nicht und blieb überhaupt ganz ruhig
dabei. ‚Ja‘, ſagte ſie, „ſie wiſſe recht gut, daß ſie die
Stelle falſch hergeſagt hätte, ſie habe nie was richtig
herſagen können; aber das wiſſe ſie ganz genau, die
Stelle mit dem Flammenfinger, das ſei der ‚Wortlaut‘
geweſen.“
„Und das haſt du wirklich alles geglaubt, liebe
Tante? Dieſe gute Schmargendorf! Ich will ihr ja
gerne folgen; aber was ihren Traum angeht, da kann
ich beim beſten Willen nicht mit. Es wird ihr ein Amt¬
mann erſchienen ſein oder ein Paſtor. Dreißig Jahre
früher wär' es ein Student geweſen.“
„Ach, Woldemar, ſprich doch nicht ſo. Das iſt ja
die neue Façon, in der die Berliner ſprechen, und in
dem Punkt iſt einer wie der andre. Dein Freund Czako
ſpricht auch ſo. Du mokierſt dich jetzt über die gute
Schmargendorf, und dein [Freund], der Hauptmann, ſo
viel hab ich ganz deutlich geſehen, that es auch und
hat ſie bei Tiſche geuzt.“
„Geuzt?“
„Du wunderſt dich über das Wort, und ich wundre
mich ſelber darüber. Aber daran iſt auch unſer guter
Fix ſchuld. Der iſt alle Monat mal nach Berlin 'rüber
und wenn er dann wiederkommt, dann bringt er ſo was
mit, und wiewohl ich's unpaſſend finde, nehm' ich's doch
an und die Schmargendorf auch. Bloß die Triglaff
nicht und natürlich die gute Schimonski auch nicht, wegen
der Taubheit. Ja, Woldemar, ich ſage ‚geuzt‘, und dein
Freund Czako hätt' es lieber unterlaſſen ſollen. Aber
das muß wahr ſein, er iſt amüſant, wenn auch ein
bißchen auf der Wippe. Siehſt du ihn oft?“
„Nein, liebe Tante. Nicht oft. Bedenke die weiten
Entfernungen. Von unſrer Kaſerne bis zu ſeiner, oder
[123] auch umgekehrt, das iſt eine kleine Reiſe. Dazu kommt
noch, daß wir vor unſerm Halliſchen Thor eigentlich gar
nichts haben, bloß die Kirchhöfe, das Tempelhofer Feld
und das Rotherſtift.“
„Aber ihr habt doch die Pferdebahn, wenn ihr
irgendwo hin wollt. Beinah' muß ich ſagen leider.
Denn es giebt mir immer einen Stich, wenn ich mal
in Berlin bin, ſo die Offiziere zu ſehen, wie ſie da
hinten ſtehen und Platz machen, wenn eine Madamm
aufſteigt, manchmal mit 'nem Korb und manchmal auch
mit 'ner Spreewaldsamme. Mir immer ein Horreur.“
„Ja, die Pferdebahn, liebe Tante, die haben wir
freilich, und man kann mit ihr in einer halben Stunde
bis in Czakos Kaſerne. Der weite Weg iſt es auch
eigentlich nicht, wenigſtens nicht allein, weshalb ich Czako
ſo ſelten ſehe. Der Hauptgrund iſt doch wohl der, er paßt
nicht ſo ganz zu uns und eigentlich auch kaum zu ſeinem
Regiment. Er iſt ein guter Kerl, aber ein Äquivoken¬
menſch und erzählt immer Nachmitternachtsgeſchichten.
Wenn man ihn allein hat, geht es. Aber hat er ein
Publikum, dann kribbelt es ihn ordentlich, und je feiner
das Publikum iſt, deſto mehr. Er hat mich ſchon oft
in Verlegenheit gebracht. Ich muß ſagen, ich hab' ihn
ſehr gern, aber geſellſchaftlich iſt ihm Rex doch ſehr
überlegen.“
„Ja, Rex; natürlich. Das hab' ich auch gleich
bemerkt, ohne mir weiter Rechenſchaft darüber zu geben.
Du wirſt es aber wiſſen, wodurch er ihm überlegen iſt.“
„Durch vieles. Erſtens, wenn man die Familien
abwägt. Rex iſt mehr als Czako. Und dann iſt Rex
Kavalleriſt.“
„Aber ich denke, er iſt Miniſterialaſſeſſor.“
„Ja, das iſt er auch. Aber nebenher, oder viel¬
leicht noch darüber hinaus, iſt er Offizier, und ſogar in
unſrer Dragonerbrigade.“
„Das freut mich; da iſt er ja ſo gut wie ein
Spezialkamerad von dir.“
„Ich kann das zugeben und doch auch wieder nicht.
Denn erſtens iſt er in der Reſerve, und zweitens ſteht
er bei den zweiten Dragonern.“
„Macht das 'nen Unterſchied?“
„Gott, Tante, wie man's nehmen will. Ja und
nein. Bei Mars la Tour haben wir dieſelbe Attacke
geritten.“
„Und doch ...“
„Und doch iſt da ein gewiſſes je ne sais quoi.“
„Sage nichts Franzöſiſches. Das verdrießt mich
immer. Manche ſagen jetzt auch Engliſches, was mir
noch weniger gefällt. Aber laſſen wir das; ich finde
nur, es wäre doch ſchrecklich, wenn es ſo bloß nach der
Zahl ginge. Was ſollte denn da das Regiment an¬
fangen, bei dem ein Bruder unſrer guten Schmargen¬
dorf ſteht? Es iſt, glaube ich, das hundertfünfund¬
vierzigſte.“
„Ja, wenn es ſo hoch kommt, dann verthut es ſich
wieder. Aber ſo bei der Garde ...“
Die Domina ſchüttelte den Kopf. „Darin, mein
lieber Woldemar, kann ich dir doch kaum folgen. Unſer
Fix ſagt mitunter, ich ſei zu exkluſiv, aber ſo exkluſiv
bin ich doch noch lange nicht. Und ſolch Verſtandes¬
menſch, wie du biſt, ſo ruhig und dabei ſo ,abgeklärt‘,
wie manche jetzt ſagen, und Gott verzeih mir die Sünde,
auch ſo liberal, worüber ſelbſt dein Vater klagt. Und
nun kommſt du mir mit ſolchem Vorurteil, ja, verzeih
mir das Wort, mit ſolchen Überheblichkeiten. Ich er¬
kenne dich darin gar nicht wieder. Und wenn ich nun
das erſte Garderegiment nehme, das iſt ja doch auch
ein erſtes. Iſt es denn mehr als das zweite? Man
kann ja ſagen, ſo viel will ich zugeben, ſie haben die
Blechmützen und ſehen aus, als ob ſie lauter Hollän¬
[125] derinnen heiraten wollten ... Was ihnen ſchon ge¬
fallen ſollte.“
„Den Holländerinnen?“
„Nun, denen auch,“ lachte die Tante. „Aber ich
meinte jetzt unſre Leute. Mißverſtehe mich übrigens
nicht. Ich weiß recht gut, was es mit den großen
Grenadieren auf ſich hat; aber die andern ſind doch
ebenſogut, und Potsdam iſt doch ſchließlich bloß Potsdam.
„Ja, Tante, das iſt es ja eben. Daß ſie noch
immer in Potsdam ſind, das macht es. Deshalb iſt
es nach wie vor die „Potsdamer Wachtparade“. Und
dann das Wort „erſtes“ ſpielt allerdings auch mit. Ein
alter Römer, mit deſſen Namen ich dich nicht behelligen will,
der wollte in ſeinem Potsdam lieber der Erſte, als in
ſeinem Berlin der Zweite ſein. Wer der Erſte iſt, nun, der
iſt eben der Erſte, und als die andern aufſtanden, da
hatte dieſer „Erſte“ ſchon ſeinen Morgenſpaziergang ge¬
macht und mitunter was für einen! Sieh, als das
zweite Garderegiment geboren wurde, da hatten die mit
den Blechmützen ſchon den ganzen Siebenjährigen Krieg
hinter ſich. Es iſt damit, wie mit dem älteſten Sohn. Der
älteſte Sohn kann unter Umſtänden dümmer und ſchlechter
ſein als ſein Bruder, aber er iſt der älteſte, das kann
ihm keiner nehmen, und das giebt ihm einen gewiſſen
Vorrang, auch wenn er ſonſt gar keinen Vorzug hat.
Alles iſt göttliches Geſchenk. Warum iſt der eine hübſch
und der andere häßlich? Und nun gar erſt die Damen.
In das eine Fräulein verliebt ſich alles, und das
andre ſpielt bloß Mauerblümchen. Es wird jedem ſeine
Stelle gegeben. Und ſo iſt es auch mit unſerm Regiment.
Wir mögen nicht beſſer ſein als die andern, aber wir
ſind die erſten, wir haben die Nummer eins.“
„Ich kann da beim beſten Willen nicht recht mit,
Woldemar. Was in unſrer Armee den Ausſchlag giebt,
iſt doch immer die Schneidigkeit.“
„Liebe Tante, ſprich, wovon du willſt, nur nicht
davon. Das iſt ein Wort für kleine Garniſonen. Wir
wiſſen, was wir zu thun haben. Dienſt iſt alles, und
Schneidigkeit iſt bloß Renommiſterei. Und das iſt das,
was bei uns am niedrigſten ſteht.“
„Gut, Woldemar; was du da zuletzt geſagt haſt,
das gefällt mir. Und in dieſem Punkte muß ich auch
deinen Vater loben. Er hat vieles, was mir nicht zu¬
ſagt, aber darin iſt er doch ein echter Stechlin. Und
du biſt auch ſo. Und das hab ich immer gefunden,
alle die ſo ſind, die ſchießen zuletzt doch den Vogel ab,
ganz beſonders auch bei den Damen.
Dies „bei den Damen“ war nicht ohne Abſicht
geſprochen und ſchien auf das bis dahin vorſichtig ver¬
miedene Hauptthema hinüberführen zu ſollen. Aber ehe
die Tante noch eine direkte Frage ſtellen konnte, wurde
der Rentmeiſter gemeldet, der ihr in dieſem Augen¬
blicke ſehr ungelegen kam. Die Domina wandte ſich
denn auch in ſichtlicher Verſtimmung an Woldemar und
ſagte: „Soll ich ihn fortſchicken?“
„Es wird kaum gehen, liebe Tante.“
„Nun denn.“
Und gleich darnach trat Fix ein.
Zehntes Kapitel.
Während Woldemar und die Domina miteinander
plauderten, erſt im Tete-a-Tete, dann in Gegenwart
von Rentmeiſter Fix, ritten Rex und Czako (Fritz mit
dem Leinpferd folgend) auf Cremmen zu. Das war noch
eine tüchtige Strecke, gute drei Meilen. Aber trotzdem
waren beide Reiter übereingekommen, nichts zu über¬
eilen und ſich's nach Möglichkeit bequem zu machen.
„Es iſt am Ende gleichgültig, ob wir um acht oder um
neun über den Cremmer Damm reiten. Das bißchen
Abendrot, das da drüben noch hinter dem Kirchturm
ſteht ... Fritz, wie heißt er? Welcher Kirchturm iſt
es? ...“ — „Das iſt der Wulkowſche, Herr Haupt¬
mann!“ — „... Alſo, das bißchen Abendrot, das da
noch hinter dem Wulkowſchen ſteht, wird ohnehin nicht
lange mehr vorhalten. Dunkel wird's alſo doch, und
von dem Hohenlohedenkmal, das ich mir übrigens gern
einmal näher angeſehen hätte (man muß ſo was immer
auf dem Hinwege mitnehmen), kommt uns bei Tages¬
licht nichts mehr vor die Klinge. Das Denkmal liegt
etwas ab vom Wege.“
„Schade,“ ſagte Rex.
„Ja, man kann es beinah' ſagen. Ich für meine
Perſon komme ſchließlich drüber hin, aber ein Mann
wie Sie, Rex, ſollte dergleichen mehr wallfahrtartig
auffaſſen.“
„Ach Czako, Sie reden wieder tolles Zeug, dies¬
mal mit einem kleinen Abſtecher ins Läſterliche. Was
ſoll ‚Wallfahrt‘ hier überhaupt? Und dann, was haben
Sie gegen Wallfahrten? Und was haben Sie gegen
die Hohenlohes?“
„Gott, Rex, wie Sie ſich wieder irren. Ich habe
nichts gegen die einen, und ich habe nichts gegen die
andern. Alles, was ich von Wallfahrten geleſen habe,
hat mich immer nur wünſchen laſſen, mal mit dabei
zu ſein. Und ad vocem der Hohenlohes, ſo kann ich
Ihnen nur ſagen, für die hab' ich ſogar was übrig
in meinem Herzen, viel, viel mehr als für unſer eigent¬
liches Landesgewächs. Oder wenn Sie wollen, für unſre
Autochthonen.“
„Und das meinen Sie ganz ernſthaft?“
„Ganz ernſthaft. Und wir wollen mal fünf
Minuten wie vernünftige Leute darüber reden. Wenn
ich ſage ‚wir‘, ſo meine ich natürlich mich. Denn Sie
ſprechen immer vernünftig. Vielleicht ein bißchen
zu ſehr.“
Rex lächelte. „Nun gut; ich will's Ihnen glauben.“
„Alſo die Hohenlohes,“ fuhr Czako fort. „Ja,
wie ſteht es damit? Wie liegt da die Sache? Da
kommt hier ſo Anno Domini ein Burggraf ins Land,
und das Land will ihn nicht, und er muß ſich alles
erſt erobern, die Städte beinah und die Schlöſſer
gewiß. Und die Herzen natürlich erſt recht. Und der
Kaiſer ſitzt mal wieder weitab und kann ihm nicht helfen.
Und da hat nun dieſer Nürnberger Burggraf, wenn's
hoch kommt, ein halbes Dutzend Menſchen um ſich,
ſchwäbiſche Leute, die mit ihm in dieſe Mördergrube hin¬
abſteigen. Denn ein bißchen ſo was war es. Und geht
auch gleich los, und die Quitzows und die, die's ſein
wollen, rufen die Pommern ins Land, und hier auf
dieſem alten Cremmer Damm ſtoßen ſie zuſammen, und
[129] die paar, die da fallen, das ſind eben die Schwaben,
die's gewagt hatten und mit in den Kahn geſtiegen
waren. Allen vorauf aber ein Graf, ſo ein Herr in mittleren
Jahren. Der fiel zuerſt und verſank in den Sumpf,
und da liegt er. Das heißt, ſie haben ihn rausgeholt,
und nun liegt er in der Kloſterkirche. Und dieſer eine,
der da voran fiel, der hieß Hohenlohe.“
„Ja, Czako, das weiß ich ja alles. Das ſteht ja
ſchon im Brandenburgiſchen Kinderfreund. Sie denken
aber immer, Sie haben ſo was allein gepachtet.“
„Immer vorſichtig, Rex; im Kinderfreund ſteht es.
Gewiß. Aber was ſteht nicht alles, — von Kinder¬
freund garnicht zu reden — in Bibel und Katechismus
und die Leute wiſſen es doch nicht. Ich zum Beiſpiel.
Und ob es nun drin ſteht oder nicht drin ſteht, ich ſage
nur: ſo hat es angefangen, und ſo läuft der Haſe noch.
Oder glauben Sie, daß der alte Fürſt, der jetzt dran
iſt, daß der zu ſeinem Spezialvergnügen in unſer ſo¬
genanntes Reichskanzlerpalais gezogen iſt, drin die Bis¬
marckſchen Nachfolger, die ſich wahrhaftig nicht darnach
drängten, ihre Tage vertrauern? Ein Opfer iſt es,
nicht mehr und nicht weniger, und ein Opfer bringt
auch der alte Fürſt, gerade wie der, der damals am
Cremmer Damm als erſter fiel. Und ich ſage Ihnen,
Rex, das iſt das, was mir imponiert; immer da ſein,
wenn Not an Mann iſt. Die Kleinen von hier, trotz
der ‚Loyalität bis auf die Knochen‘, die mucken immer
bloß auf, aber die wirklich Vornehmen, die gehorchen,
nicht einem Machthaber, ſondern dem Gefühl ihrer
Pflicht.“
Rex war einverſtanden und wiederholte nur: „Schade,
daß wir ſo ſpät an dem Denkmal vorbeikommen.“
„Ja, ſchade,“ ſagte Czako. „Wir müſſen es uns
aber ſchenken. Im übrigen, denk' ich, laſſen wir in
dem, was wir uns noch weiter zu ſagen haben, die
Fontane, Der Stechlin. 9[130] Hohenlohes aus dem Spiel. Andres liegt uns heute
näher. Wie hat Ihnen denn eigentlich die Schmargen¬
dorf gefallen?“
„Ich werde mich hüten, Czako, Ihnen darauf zu
antworten. Außerdem haben Sie ſie durch den Garten
geführt, nicht ich, und mir war immer, als ob ich Fauſt
und Gretchen ſähe.“
Czako lachte. „Natürlich ſchwebt Ihnen das andre
Paar vor, und ich bin nicht böſe darüber. Die Rolle,
die mir dabei zufällt — der mit der Hahnenfeder iſt
doch am Ende 'ne andre Nummer wie der ſentimentale
‚Habe-nun-ach-Mann‘ — dieſe Mephiſtorolle, ſag' ich,
gefällt mir beſſer, und was die Schmargendorf angeht,
ſo kann ich nur ſagen: Von meiner Martha laſſ' ich nicht.“
„Czako, Sie münden wieder ins Frivole.“
„Gut, gut, Rex, Sie werden unwirſch, und Sie
ſollen recht haben. Laſſen wir alſo die Schmargendorf
ſo gut wie die Hohenlohes. Aber über die Domina
ließe ſich vielleicht ſprechen, und ſind wir erſt bei der
Tante, ſo ſind wir auch bald bei dem Neffen. Ich fürchte,
unſer Freund Woldemar befindet ſich in dieſem Augen¬
blick in einer ſcharfen Zwickmühle. Die Domina liegt
ihm ſeit Jahr und Tag (er hat mir ſelber Andeutungen
darüber gemacht) mit Heiratsplänen in den Ohren, mut¬
maßlich weil ihr die Vorſtellung einer Stechlinloſen Welt
einfach ein Schrecknis iſt. Solche alten Jungfern mit
einer Granatbroſche haben immer eine merkwürdig hohe
Meinung von ihrer Familie. Freilich auch andre, die
klüger ſein ſollten. Unſre Leute gefallen ſich nun 'mal
in der Idee, ſie hingen mit dem Fortbeſtande der gött¬
lichen Weltordnung aufs engſte zuſammen. In Wahr¬
heit liegt es ſo, daß wir ſämtlich abkommen können.
Ohne die Czakos geht es nun ſchon gewiß, wofür ſo¬
zuſagen hiſtoriſch-ſymboliſch der Beweis erbracht iſt.“
„Und die Rex?“
[131]„Vor dieſem Namen mach' ich Halt.“
„Wer's Ihnen glaubt. Aber laſſen wir die Rex
und laſſen wir die Czakos, und bleiben wir bei den
Stechlins, will ſagen bei unſerm Freunde Woldemar.
Die Tante will ihn verheiraten, darin haben Sie recht.“
„Und ich habe wohl auch recht, wenn ich das eine
heikle Lage nenne. Denn ich glaube, daß er ſich ſeine
Freiheit wahren will und mit Bewußtſein auf den Céli¬
bataire losſteuert.“
„Ein Glauben, in dem Sie ſich, lieber Czako, wie
jedesmal, wenn Sie zu glauben anfangen, in einem
großen Irrtum befinden.“
„Das kann nicht ſein.“
„Es kann nicht bloß ſein, es iſt. Und ich wundre
mich nur, daß gerade Sie, der Sie doch ſonſt das Gras
wachſen hören und allen Geſellſchaftsklatſch kennen wie
kaum ein zweiter, daß gerade Sie von dem allen kein
Sterbenswörtchen vernommen haben ſollen. Sie ver¬
kehren doch auch bei den Xylanders, ja, ich glaube, Sie
da, letzten Winter, mal kämpfend am Büffett geſehen zu
haben.“
„Gewiß.“
„Und da waren an jenem Abend auch die Berchtes¬
gadens, Baron und Frau, und in lebhafteſtem Geſpräche
mit dieſem bayeriſchen Baron ein diſtinguierter alter Herr
und zwei Damen. Und dieſe drei, das waren die Barbys.“
„Die Barbys,“ wiederholte Czako, „Botſchaftsrat
oder dergleichen. Ja, gewiß, ich habe davon gehört;
aber ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, ihn und die
Damen geſehen zu haben. Und ſicherlich nicht an jenem
Abend, wo ja von Vorſtellen keine Rede war, die reine
Völkerſchlacht. Aber Sie wollten mir, glaube ich, von
eben dieſen Barbys erzählen.“
„Ja, das wollt' ich. Ich wollte Sie nämlich wiſſen
9*[132] laſſen, daß Ihr Célibataire ſeit Ausgang vorigen Winters
in eben dieſem Hauſe regelmäßig verkehrt.“
„Er wird wohl in vielen Häuſern verkehren.“
„Möglich, aber nicht ſehr wahrſcheinlich, da das
eine Haus ihn ganz in Anſpruch nimmt.“
„Nun gut, ſo laſſen wir ihn bei den Barbys. Aber
was bedeutet das.“
„Das bedeutet, daß in einem ſolchen Hauſe ver¬
kehren und ſich mit einer Tochter verloben ſo ziemlich
ein und daſſelbe iſt. Bloß eine Frage der Zeit. Und
die Tante wird ſich damit ausſöhnen müſſen, auch wenn
ſie, wie beinah gewiß, über ihr Herzblatt bereits anders
verfügt haben ſollte. Solche Dinge begleichen ſich in¬
deſſen faſt immer. Unſer Woldemar wird ſich aber mittler¬
weile vor ganz andre Schwierigkeiten geſtellt ſehen.“
„Und die wären? Iſt er nicht vornehm genug?
Oder mankiert vielleicht Gegenliebe?“
„Nein, Czako, von ‚mankierender Gegenliebe‘, wie
Sie ſich auszudrücken belieben, kann keine Rede ſein.
Die Schwierigkeiten liegen in was anderm. Es ſind
da nämlich, wie ich mir ſchon anzudeuten erlaubte, zwei
Comteſſen im Hauſe. Nun, die jüngere wird es wohl
werden, ſchon weil ſie eben die jüngere iſt. Aber ſo
ganz ſicher iſt es doch keineswegs. Denn auch die ältere,
wiewohl ſchon über dreißig, iſt ſehr reizend und zum
Überfluß auch noch Witwe — das heißt eigentlich nicht
Witwe, ſondern richtiger eine gleich nach der Ehe geſchiedene
Frau. Sie war nur ein halbes Jahr verheiratet, oder
vielleicht auch nicht verheiratet.“
„Verheiratet, oder vielleicht auch nicht verheiratet,“
wiederholte Czako, während er unwillkürlich ſein Pferd
anhielt. „Aber Rex, das iſt ja hoch pikant. Und daß
ich erſt heute davon höre und noch dazu durch Sie, der
Sie ſich von ſolchen Dingen doch zunächſt entſetzt ab¬
wenden müßten. Aber ſo ſeid ihr Konventikler. Schlie߬
[133] lich iſt all dergleichen doch eigentlich euer Lieblingsfeld.
Und nun erzählen Sie weiter, ich bin neugierig wie ein
Backfiſch. Wer war denn der unglücklich Glückliche?“
„Sie meinen, wenn ich Sie recht verſtehe, wer es
war, der dieſe ältere Comteſſe heiratete. Nun, dieſer
glücklich Unglückliche — oder vielleicht auch umgekehrt —
war auch Graf, ſogar ein italieniſcher (vorausgeſetzt, daß
Sie dies als eine Steigerung anſehn), und hatte natür¬
lich einen echt italieniſchen Namen: Conte Ghiberti, der¬
ſelbe Name wie der des florentiniſchen Bildhauers, von
dem die berühmten Thüren herrühren.“
„Welche Thüren?“
„Nun, die berühmten Baptiſteriumthüren in Florenz,
von denen Michelangelo geſagt haben ſoll, ‚ſie wären
wert, den Eingang zum Paradieſe zu bilden‘. Und dieſe
Thüren heißen denn auch, ihrem großen Künſtler zu
Ehren, die Ghibertiſchen Thüren. Übrigens eine Sache,
von der ein Mann wie Sie was wiſſen müßte.“
„Ja, Rex, Sie haben gut reden von ‚wiſſen müſſen‘.
Sie ſind aus einem großen Hauſe, haben mutmaßlich
einen frommen Kandidaten als Lehrer gehabt und ſind
dann auf Reiſen gegangen, wo man ſo feine Dinge
wegkriegt. Aber ich! Ich bin aus Oſtrowo.“
„Das ändert nichts.“
„Doch, doch, Rex. Italieniſche Kunſt! Ich bitte
Sie, wo ſoll dergleichen bei mir herkommen? Was
Hänſchen nicht lernt, — dabei bleibt es nun mal. Ich
erinnere mich noch ganz deutlich einer Auktion in Oſtrowo,
bei der (es war in einem kommerzienrätlichen Hauſe)
ſchließlich ein roter Kaſten zur Verſteigerung kam, ein
Kaſten mit Doppelbildern und einem Opernkucker dazu,
der aber keiner war. Und all das kaufte ſich meine
Mutter. Und an dieſem Stereoſkopenkaſten, ein Wort,
das ich damals noch nicht kannte, habe ich meine
italieniſche Kunſt gelernt. Die ,Thüren‘ waren aber
[134] nicht dabei. Was können Sie da groß verlangen? Ich
habe, wenn ſie das Wort gelten laſſen wollen, 'ne
Panoptikumbildung.“
Rex lachte. „Nun, gleichviel. Alſo der Graf, der
die ältere Comteſſe Barby heiratete, hieß Ghiberti.
Seiner Ehe fehlten indes durchaus die Himmelsthüren,
— ſoviel läßt ſich mit aller Beſtimmtheit ſagen. Und
deshalb kam es zur Scheidung. Ja, mehr, die ſchar¬
mante Frau (‚ſcharmant‘ iſt übrigens ein viel zu plebejes
und minderwertiges Wort) hat in ihrer Empörung den
Namen Ghiberti wieder abgethan, und alle Welt nennt
ſie jetzt nur noch bei ihrem Vornamen.“
„Und der iſt?“
„Meluſine.“
„Meluſine? Hören Sie, Rex, das läßt aber tief
blicken.“
Unter dieſem Geſpräch waren ſie bis an den
Cremmer Damm herangekommen. Es dunkelte ſchon
ſtark, und ein Gewölk, das am Himmel hinzog, ver¬
barg die Mondſichel. Ein paarmal indeſſen trat ſie
hervor, und dann ſahen ſie bei halber Beleuchtung das
Hohenlohedenkmal, das unten im Luche ſchimmerte.
Hinunterzureiten, was noch einmal flüchtig in Erwägung
gezogen wurde, verbot ſich, und ſo ſetzten ſie ſich in
einen munteren Trab und hielten erſt wieder in Cremmen
vor dem Gaſthauſe zum „Markgrafen Otto“. Es ſchlug
eben neun von der Nikolaikirche.
Drinnen war man bald in einem lebhaften Ge¬
ſpräch, in dem ſich Rex über die in der Stadt herr¬
ſchende Geſinnung und Kirchlichkeit zu unterrichten ſuchte.
Der Wirt ſtellte der einen wie der andern ein gleich
gutes Zeugnis aus und hatte die Genugthuung, daß
[135] ihm Rex freundlich zunickte. Czako aber ſagte: „Sagen
Sie, Herr Wirt, Sie haben da ein ſo ſchönes Billard:
ich habe mir jüngſt erſt ſagen laſſen, wenn 's wirklich
flott gehe, ſo könne man's im Jahr bis auf dreitauſend
Mark bringen. Natürlich bei zwölfſtündigem Arbeitstag.
Wie ſteht es damit? Für möglich halt' ich es.“
Nach dem „Eierhäuschen“.
[[139]][[140]]Elftes Kapitel.
Die Barbys, der alte Graf und ſeine zwei Töchter,
lebten ſeit einer Reihe von Jahren in Berlin und zwar
am Kronprinzenufer, zwiſchen Alſen- und Moltkebrücke.
Das Haus, deſſen erſte Etage ſie bewohnten, unterſchied
ſich, ohne ſonſt irgendwie hervorragend zu ſein (Berlin
iſt nicht reich an Privathäuſern, die Schönheit und
Eigenart in ſich vereinigen), immerhin vorteilhaft von
ſeinen Nachbarhäuſern, von denen es durch zwei Terrain¬
ſtreifen getrennt wurde; der eine davon ein kleiner
Baumgarten, mit allerlei Buſchwerk dazwiſchen, der
andre ein Hofraum mit einem zierlichen maleriſch wir¬
kenden Stallgebäude, deſſen obere Fenſter, hinter denen
ſich die Kutſcherwohnung befand, von wildem Wein um¬
wachſen waren. Schon dieſe Lage des Hauſes hätte dem¬
ſelben ein beſtimmtes Maß von Aufmerkſamkeit geſichert,
aber auch ſeine Faſſade mit ihren zwei Loggien links
und rechts ließ die des Weges Kommenden unwillkürlich
ihr Auge darauf richten. Hier, in eben dieſen Loggien,
verbrachte die Familie mit Vorliebe die Früh- und
Nachmittagsſtunden und bevorzugte dabei, je nach der
Jahreszeit, mal den zum Zimmer des alten Grafen ge¬
hörigen, in pompejiſchem Rot gehaltenen Einbau, mal
die gleichartige Loggia, die zum Zimmer der beiden
jungen Damen gehörte. Dazwiſchen lag ein dritter großer
Raum, der als Repräſentations- und zugleich als E߬
[140] zimmer diente. Das war, mit Ausnahme der Schlaf-
und Wirtſchaftsräume, das Ganze, worüber man Ver¬
fügung hatte; man wohnte mithin ziemlich beſchränkt,
hing aber ſehr an dem Hauſe, ſo daß ein Wohnungs¬
wechſel oder auch nur der Gedanke daran, ſo gut wie
ausgeſchloſſen war. Einmal hatte die liebenswürdige,
beſonders mit Gräfin Meluſine befreundete Baronin
Berchtesgaden einen ſolchen Wohnungswechſel in Vor¬
ſchlag gebracht, aber nur um ſofort einem lebhaften
Widerſpruche zu begegnen. „Ich ſehe ſchon, Baronin,
Sie führen den ganzen Lennéſtraßenſtolz gegen uns
ins Gefecht. Ihre Lennéſtraße! Nun ja, wenn's ſein
muß. Aber was haben Sie da groß? Sie haben den
Leſſing ganz und den Goethe halb. Und um beides
will ich Sie beneiden und Ihnen auch die Spreewalds¬
ammen in Rechnung ſtellen. Aber die Lennéſtraßenwelt
iſt geſchloſſen, iſt zu, ſie hat keinen Blick ins Weite,
kein Waſſer, das fließt, keinen Verkehr, der flutet. Wenn
ich in unſrer Niſche ſitze, die lange Reihe der heran¬
kommenden Stadtbahnwaggons vor mir, nicht zu nah
und nicht zu weit, und ſehe dabei, wie das Abendrot
den Lokomotivenrauch durchglüht und in dem Filigran¬
werk der Ausſtellungsparktürmchen ſchimmert, was will
Ihre grüne Tiergartenwand dagegen?“ Und dabei wies
die Gräfin auf einen gerade vorüberdampfenden Zug,
und die Baronin gab ſich zufrieden.
Ein ſolcher Abend war auch heute; die Balkonthür
ſtand auf, und ein kleines Feuer im Kamin warf ſeine
Lichter auf den ſchweren Teppich, der durch das ganze
Zimmer hin lag. Es mochte die ſechſte Stunde ſein
und die Fenſter drüben an den Häuſern der andern
Seite ſtanden wie in roter Glut. Ganz in der Nähe
des Kamins ſaß Armgard, die jüngere Tochter, in ihren
Stuhl zurückgelehnt, die linke Fußſpitze leicht auf den
Ständer geſtemmt. Die Stickerei, daran ſie bis dahin
[141] gearbeitet, hatte ſie, ſeit es zu dunkeln begann, aus der
Hand gelegt und ſpielte ſtatt deſſen mit einem Ball¬
becher, zu dem ſie regelmäßig griff, wenn es galt, leere
Minuten auszufüllen. Sie ſpielte das Spiel ſehr geſchickt,
und es gab immer einen kleinen hellen Schlag, wenn der
Ball in den Becher fiel. Meluſine ſtand draußen auf
dem Balkon, die Hand an die Stirn gelegt, um
ſich gegen die Blendung der untergehenden Sonne zu
ſchützen.
„Armgard,“ rief ſie in das Zimmer hinein, „komm;
die Sonne geht eben unter!“
„Laß. Ich ſehe hier lieber in den Kamin. Und
ich habe auch ſchon zwölfmal gefangen.“
„Wen?“
„Nun natürlich den Ball.“
„Ich glaube, du fingſt lieber wen anders. Und
wenn ich dich ſo daſitzen ſehe, ſo kommt es mir faſt
vor, als dächteſt du ſelber auch ſo was. Du ſitzt ſo
märchenhaft da.“
„Ach, du denkſt immer nur an Märchen und
glaubſt, weil du Meluſine heißt, du haſt ſo was wie
eine Verpflichtung dazu.“
„Kann ſein. Aber vor allem glaub' ich, daß ich
es getroffen habe. Weißt du, was?“
„Nun?“
„Ich kann es ſo leicht nicht ſagen. Du ſitzt zu
weit ab.“
„Dann komm und ſag es mir ins Ohr.“
„Das iſt zu viel verlangt. Denn erſtens bin ich
die ältere, und zweitens biſt du's, die was von mir
will. Aber ich will es ſo genau nicht nehmen.“
Und dabei ging Meluſine vom Balkon her auf
die Schweſter zu, nahm ihr das Fangſpiel fort und
ſagte, während ſie ihr die Hand auf die Stirn legte:
„Du biſt verliebt.“
„Aber Meluſine, was das nun wieder ſoll! Und
wenn man ſo klug iſt wie du ... Verliebt. Das iſt
ja gar nichts; etwas verliebt iſt man immer.“
„Gewiß. Aber in wen? Da beginnen die Fragen
und die Fineſſen.“
In dieſem Augenblicke ging die Klingel draußen,
und Armgard horchte.
„Wie du dich verrätſt,“ lachte Meluſine. „Du
horchſt und willſt wiſſen, wer kommt.“
Meluſine wollte noch weiter ſprechen, aber die
Thür ging bereits auf und Lizzi, die Kammerjungfer
der beiden Schweſtern, trat ein, unmittelbar hinter ihr
ein Gerſonſcher Livreediener mit einem in einen Riemen
geſchnallten Karton. „Er bringt die Hüte,“ ſagte die
Kammerjungfer.
„Ah, die Hüte. Ja, Armgard da müſſen wir
freilich unſre Frage vertagen. Was doch wohl auch
deine Meinung iſt. Bitte, ſtellen Sie hin. Aber Lizzi,
du, du bleibſt und mußt uns helfen; du haſt einen
guten Geſchmack. Übrigens iſt kein Stehſpiegel da?“
„Soll ich ihn holen?“
„Nein, nein, laß. Unſre Köpfe, worauf es doch
bloß ankommt, können wir ſchließlich auch in dieſem
Spiegel ſehen ... Ich denke, Armgard, du läßt mir
die Vorhand; dieſer hier mit dem Heliotrop und den
Stiefmütterchen, der iſt natürlich für mich; er hat den
richtigen Frauencharakter, faſt ſchon Witwe.“
Unter dieſen Worten ſetzte ſie ſich den Hut auf und
trat an den Spiegel. „Nun, Lizzi, ſprich.“
„Ich weiß nicht recht, Frau Gräfin, er ſcheint mir
nicht modern genug. Der, den Comteſſe Armgard eben auf¬
ſetzt, der würde wohl auch für Frau Gräfin beſſer paſſen;
— die hohen Straußfedern, wie ein Ritterhelm, und
auch die Hutform ſelbſt. Hier iſt noch einer, faſt ebenſo
und beinah noch hübſcher.“
Beide Damen ſtellten ſich jetzt vor den Spiegel; Arm¬
gard, hinter der Schweſter ſtehend und größer als dieſe,
ſah über deren linke Schulter fort. Beide gefielen ſich
ungemein und ſchließlich lachten ſie, weil jede der andern
anſah, wie hübſch ſie ſich fand.
„Ich möchte doch beinah glauben ...“ ſagte
Meluſine, kam aber nicht weiter, denn in eben dieſem
Augenblicke trat ein in ſchwarzen Frack und Escarpins
gekleideter alter Diener ein und meldete: „Rittmeiſter
von Stechlin.“
Unmittelbar darauf erſchien denn auch Woldemar ſelbſt
und verbeugte ſich gegen die Damen. „Ich fürchte,
daß ich zu ſehr ungelegener Stunde komme.“
„Ganz im Gegenteil, lieber Stechlin. Um weſſent¬
willen quälen wir uns denn überhaupt mit ſolchen
Sachen? Doch bloß um unſrer Gebieter willen, die
man ja (vielleicht leider) auch noch hat, wenn man ſie
nicht mehr hat.“
„Immer die liebenswürdige Frau.“
„Keine Schmeicheleien. Und dann, dieſe Hüte ſind
wichtig. Ich nehm es als eine Fügung, daß Sie da
gerade hinzukommen; Sie ſollen entſcheiden. Wir haben
freilich ſchon Lizzis Meinung angerufen, aber Lizzi iſt
zu diplomatiſch; Sie ſind Soldat und müſſen mehr
Mut haben; Armgard ſprich auch; du biſt nicht mehr
jung genug, um noch ewig die Verlegene zu ſpielen.
Ich bin ſonſt gegen alle Gutachten, namentlich in Pro¬
zeßſachen (ich weiß ein Lied davon zu ſingen), aber ein
Gutachten von Ihnen, da laß ich all meine Bedenken
fallen. Außerdem bin ich für Autoritäten, und wenn
es überhaupt Autoritäten in Sachen von Geſchmack und
Mode giebt, wo wären ſie beſſer zu finden als im
Regiment Ihrer Kaiſerlich Königlichen Majeſtät von
Großbritannien und Indien? Irland laß ich abſichtlich
fallen und nehme lieber Indien, woher aller gute Ge¬
[144] ſchmack kommt, alle alte Kultur, alle Shawls und
Teppiche, Buddha und die weißen Elefanten. Alſo an¬
treten, Armgard; du natürlich an den rechten Flügel,
denn du biſt größer. Und nun, lieber Stechlin, wie
finden Sie uns?“
„Aber meine Damen . . .“
„Keine Feigheiten. Wie finden Sie uns?“
„Unendlich nett.“
„Nett? Verzeihen Sie, Stechlin, nett iſt kein Wort.
Wenigſtens kein nettes Wort. Oder wenigſtens unge¬
nügend.“
„Alſo ſchlankweg entzückend.“
„Das iſt gut. Und zur Belohnung die Frage:
wer iſt entzückender?“
„Aber Frau Gräfin, das iſt ja die reine Geſchichte
mit dem ſeligen Paris. Bloß, er hatte es viel leichter,
weil es drei waren. Aber zwei. Und noch dazu
Schweſtern.“
„Wer? Wer?“
„Nun, wenn es denn durchaus ſein muß, Sie,
gnädigſte Frau.“
„Schändlicher Lügner. Aber wir behalten dieſe
zwei Hüte. Lizzi, gieb all das andre zurück. Und
Jeſerich ſoll die Lampen bringen; draußen ein Streifen
Abendrot und hier drinnen ein verglimmendes Feuer,
— das iſt denn doch zu wenig oder, wenn man will,
zu gemütlich.“
Die Lampen hatten draußen ſchon gebrannt, ſo
daß ſie gleich da waren.
„Und nun ſchließen Sie die Balkonthür, Jeſerich,
und ſagen Sie's Papa, daß der Herr Rittmeiſter ge¬
kommen. Papa iſt nicht gut bei Wege, wieder die neu¬
ralgiſchen Schmerzen; aber wenn er hört, daß Sie da
ſind, ſo thut er ein übriges. Sie wiſſen, Sie ſind ſein
[145] Verzug. Man weiß immer, wenn man Verzug iſt. Ich
wenigſtens hab' es immer gewußt.“
„Das glaub' ich.“
„Das glaub' ich! Wie wollen Sie das erklären?“
„Einfach genug, gnädigſte Gräfin. Jede Sache
will gelernt ſein. Alles iſt ſchließlich Erfahrung. Und
ich glaube, daß Ihnen reichlich Gelegenheit gegeben
wurde, der Frage ‚Verzug oder Nichtverzug‘ praktiſch
näherzutreten.“
„Gut herausgeredet. Aber nun, Armgard, ſage
dem Herrn von Stechlin (ich perſönlich getraue mich's
nicht), daß wir in einer halben Stunde fort müſſen,
Opernhaus, ‚Triſtan und Iſolde‘. Was ſagen Sie da¬
zu? Nicht zu Triſtan und Iſolde, nein zu der heikleren
Frage, daß wir eben gehen, im ſelben Augenblick, wo
Sie kommen. Denn ich ſeh' es Ihnen an, Sie kamen
nicht ſo bloß um ‚five o'clock tea's‘ willen, Sie hatten
es beſſer mit uns vor. Sie wollten bleiben ...“
„Ich bekenne ...“
„Alſo getroffen. Und zum Zeichen, daß Sie gro߬
mütig ſind und Verzeihung üben, verſprechen Sie, daß
wir Sie bald wiederſehen, recht, recht bald. Ihr Wort
darauf. Und dem Papa, der Sie vielleicht erwartet,
wenn es Jeſerich für gut befunden hat, die Meldung
auszurichten, — dem Papa werd' ich ſagen, Sie hätten
nicht bleiben können, eine Verabredung, Klub oder
ſonſt was.“
Während Woldemar nach dieſem abſchließenden
Geſpräch mit Meluſine die Treppe hinabſtieg und auf
den nächſten Droſchkenſtand zuſchritt, ſaß der alte Graf
in ſeinem Zimmer und ſah, den rechten Fuß auf einen
Stuhl gelehnt, durch das Balkonfenſter auf den Abend¬
Fontane, Der Stechlin. 10[146] Himmel. Er liebte dieſe Dämmerſtunde, drin er ſich
nicht gerne ſtören ließ (am wenigſten gern durch vor¬
zeitig gebrachtes Licht), und als Jeſerich, der das alles
wußte, jetzt eintrat, war es nicht, um dem alten Grafen
die Lampe zu bringen, ſondern nur um ein paar Kohlen
aufzuſchütten.
„Wer war denn da, Jeſerich?“
„Der Herr Rittmeiſter.“
„So, ſo. Schade, daß er nicht geblieben iſt. Aber
freilich, was ſoll er mit mir? Und der Fuß und die
Schmerzen, dadurch wird man auch nicht intereſſanter.
Armgard und nun gar erſt Meluſine, ja, da geht es,
da redet ſich's ſchon beſſer, und das wird der Ritt¬
meiſter wohl auch finden. Aber ſo viel iſt richtig, ich
ſpreche gern mit ihm; er hat ſo was Ruhiges und
Geſetztes und immer ſchlicht und natürlich. Meinſt du
nicht auch?“
Jeſerich nickte.
„Und glaubſt du nicht auch (denn warum käme
er ſonſt ſo oft), daß er was vorhat?“
„Glaub' ich auch, Herr Graf.“
„Na, was glaubſt du?“
„Gott, Herr Graf ...“
„Ja, Jeſerich, du willſt nicht 'raus mit der
Sprache. Das hilft dir aber nichts. Wie denkſt du
dir die Sache?“
Jeſerich ſchmunzelte, ſchwieg aber weiter, weshalb
dem alten Grafen nichts übrig blieb, als ſeinerſeits
fortzufahren. „Natürlich paßt Armgard beſſer, weil ſie
jung iſt; es iſt ſo mehr das richtige Verhältnis, und
überhaupt, Armgard iſt ſozuſagen dran. Aber, weiß
der Teufel, Meluſine ...“
„Freilich, Herr Graf.“
„Alſo du haſt doch auch ſo was geſehen. Alles
dreht ſich immer um die. Wie denkſt du dir nun
[147] den Rittmeiſter? Und wie denkſt du dir die Damen?
Und wie ſteht es überhaupt? Iſt es die oder iſt es die?
„Ja, Herr Graf, wie ſoll ich darüber denken? Mit
Damen weiß man ja nie — vornehm und nicht vor¬
nehm, klein und groß, arm und reich, das is all eins.
Mit unſrer Lizzi is es gerad' ebenſo wie mit Gräfin
Meluſine. Wenn man denkt, es is ſo, denn is es ſo,
und wenn man denkt, es is ſo, denn is es wieder ſo.
Wie meine Frau noch lebte, Gott habe ſie ſelig, die
ſagte auch immer: ‚Ja, Jeſerich, was du dir bloß
denkſt; wir ſind eben ein Rätſel.‘ Ach Gott, ſie war
ja man einfach, aber das können Sie mir glauben,
Herr Graf, ſo ſind ſie alle.“
„Haſt ganz recht, Jeſerich. Und deshalb können
wir auch nicht gegen an. Und ich freue mich, daß du
das auch ſo ſcharf aufgefaßt haſt. Du biſt überhaupt
ein Menſchenkenner. Wo du's bloß her haſt? Du haſt
ſo was von 'nem Philoſophen. Haſt du ſchon mal
einen geſehen?“
„Nein, Herr Graf. Wenn man ſo viel zu thun
hat und immer Silber putzen muß.“
„Ja, Jeſerich, das hilft doch nu nich, davon kann
ich dich nicht frei machen ...“
„Nein, ſo mein' ich es ja auch nich, Herr Graf,
und bin ja auch fürs Alte. Gute Herrſchaft und
immer denken, „man gehört ſo halb wie mit dazu“,
— dafür bin ich. Und manche ſollen ja auch halb
mit dazu gehören ... Aber ein bißchen anſtrengend
is es doch mitunter, und man is doch am Ende auch
ein Menſch ...“
„Na höre, Jeſerich, das hab' ich dir doch noch
nicht abgeſprochen.“
„Nein, nein, Herr Graf. Gott, man ſagt ſo was
bloß. Aber ein bißchen is es doch damit ...“
10*
Zwölftes Kapitel.
Woldemar — wie Rex ſeinem Freunde Czako, als
beide über den Cremmer Damm ritten, ganz richtig mit¬
geteilt hatte — verkehrte ſeit Ausgang des Winters im
Barbyſchen Hauſe, das er ſehr bald vor andern Häuſern
ſeiner Bekanntſchaft bevorzugte. Vieles war es, was
ihn da feſſelte, voran die beiden Damen; aber auch der
alte Graf. Er fand Ähnlichkeiten, ſelbſt in der äußern
Erſcheinung, zwiſchen dem Grafen und ſeinem Papa,
und in ſeinem Tagebuche, das er, trotz ſonſtiger Moderni¬
tät, in altmodiſcher Weiſe von jung an führte, hatte er
ſich gleich am erſten Abend über eine gewiſſe Verwandt¬
ſchaft zwiſchen den beiden geäußert. Es hieß da unterm
achtzehnten April: „Ich kann Wedel nicht dankbar genug
ſein, mich bei den Barbys eingeführt zu haben; alles,
was er von dem Hauſe geſagt, fand ich beſtätigt. Dieſe
Gräfin, wie ſcharmant, und die Schweſter ebenſo, trotz¬
dem größere Gegenſätze kaum denkbar ſind. An der
einen alles Temperament und Anmut, an der andern
alles Charakter oder, wenn das zu viel geſagt ſein ſollte,
Schlichtheit, Feſtigkeit. Es bleibt mit den Namen doch
eine eigne Sache; die Gräfin iſt ganz Meluſine und die
Comteſſe ganz Armgard. Ich habe bis jetzt freilich nur
eine dieſes Namens kennen gelernt, noch dazu bloß als
Bühnenfigur, und ich mußte beſtändig an dieſe denken,
wie ſie da (ich glaube, es war Fräulein Stolberg, die
[149] ja auch das Maß hat) dem Landvogt ſo mutig in den
Zügel fällt. Ganz ſo wirkt Comteſſe Armgard! Ich
möchte beinah' ſagen, es läßt ſich an ihr wahrnehmen,
daß ihre Mutter eine richtige Schweizerin war. Und
dazu der alte Graf! Wie ein Zwillingsbruder von
Papa; derſelbe Bismarckkopf, dasſelbe humane Weſen,
dieſelbe Freundlichkeit, dieſelbe gute Laune. Papa iſt
aber ausgiebiger und auch wohl origineller. Vielleicht
hat der verſchiedene Lebensgang dieſe Verſchiedenheiten
erſt geſchaffen. Papa ſitzt nun ſeit richtigen dreißig
Jahren in ſeinem Ruppiner Winkel feſt, der Graf war
ebenſolange draußen! Ein Botſchaftsrat iſt eben was
andres als ein Ritterſchaftsrat, und an der Themſe
wächſt man ſich anders aus als am ‚Stechlin‘ — unſern
Stechlin dabei natürlich in Ehren. Trotzdem die Verwandt¬
ſchaft bleibt. Und der alte Diener, den ſie Jeſerich
nennen, der iſt nun ſchon ganz und gar unſer Engelke
vom Kopf bis zur Zeh'. Aber was am verwandteſten
iſt, das iſt doch die geſamte Hausatmoſphäre, das Liberale.
Papa ſelbſt würde zwar darüber lachen, — er lacht über
nichts ſo ſehr wie über Liberalismus — und doch kenne
ich keinen Menſchen, der innerlich ſo frei wäre, wie gerade
mein guter Alter. Zugeben wird er's freilich nie und
wird in dem Glauben ſterben: ‚Morgen tragen ſie einen
echten alten Junker zu Grabe‘. Das iſt er auch, aber
doch auch wieder das volle Gegenteil davon. Er hat
keine Spur von Selbſtſucht. Und dieſen ſchönen Zug
(ach, ſo ſelten), den hat auch der alte Graf. Nebenher
freilich iſt er Weltmann, und das giebt dann den Unter¬
ſchied und das Übergewicht. Er weiß — was ſie hier¬
zulande nicht wiſſen oder nicht wiſſen wollen — daß
hinterm Berge auch noch Leute wohnen. Und mitunter
noch ganz andre.“
[150]
Das waren die Worte, die Woldemar in ſein Tage¬
buch eintrug. Von allem, was er geſehen, war er an¬
genehm berührt worden, auch von Haus und Wohnung.
Und dazu war guter Grund da, mehr als er nach
ſeinem erſten Beſuche wiſſen konnte. Das von der gräf¬
lichen Familie bewohnte Haus mit ſeinen Loggien und
ſeinem diminutiven Hof und Garten teilte ſich in zwei
Hälften, von denen jede noch wieder ihre beſondern
Annexe hatte. Zu der Beletage gehörte das zur Seite
gelegene pittoreske Hof- und Stallgebäude, drin der
gräfliche Kutſcher, Herr Imme, reſidierte, während zu
dem die zweite Hälfte des Hauſes bildenden Hochparterre
ziemlich ſelbſtverſtändlich noch das kleine niedrige Sou¬
terrain gerechnet wurde, drin, außer Portier Hartwig
ſelbſt, deſſen Frau, ſein Sohn Rudolf und ſeine Nichte
Hedwig wohnten. Letztere freilich nur zeitweilig, und
zwar immer nur dann, wenn ſie, was allerdings ziemlich
häufig vorkam, mal wieder ohne Stellung war. Die
Wirtin des Hauſes, Frau Hagelverſicherungsſekretär Schicke¬
danz, hätte dieſen gelegentlichen Aufenthalt der Nichte
Hartwigs eigentlich beanſtanden müſſen, ließ es aber
gehen, weil Hedwig ein heiteres, quickes und ſehr an¬
ſtelliges Ding war und manches beſaß, was die Schicke¬
danz mit der Ungehörigkeit des ewigen Dienſtwechſels
wieder ausſöhnte.
Die Schickedanz, eine Frau von ſechzig, war ſchon
verwitwet, als im Herbſt fünfundachtzig die Barbys ein¬
zogen, Comteſſe Armgard damals erſt zehnjährig. Frau
Schickedanz ſelbſt war um jene Zeit noch in Trauer,
weil ihr Gatte, der Verſicherungsſekretär, erſt im De¬
zember des voraufgegangenen Jahres geſtorben war,
„drei Tage vor Weihnachten“, ein Umſtand, auf den der
Hilfsprediger, ein junger Kandidat, in ſeiner Leichenrede
beſtändig hingewieſen und die gewollte Wirkung auch
richtig erzielt hatte. Allerdings nur bei der Schickedanz
[151] ſelbſt und einigermaßen auch bei der Frau Hartwig, die
während der ganzen Rede beſtändig mit dem Kopf genickt
und nachträglich ihrem Manne bemerkt hatte: „Ja,
Hartwig, da liegt doch was drin.“ Hartwig ſelber indes,
der, im Gegenſatz zu den meiſten ſeines Standes, humo¬
riſtiſch angeflogen war, hatte für die merkwürdige Fügung
von „drei Tage vor Weihnachten“ nicht das geringſte
Verſtändnis gezeigt, vielmehr nur die Bemerkung dafür
gehabt: „Ich weiß nicht, Mutter, was du dir eigentlich
dabei denkſt? Ein Tag iſt wie der andre; mal muß man
'ran,“ — worauf die Frau jedoch geantwortet hatte:
„Ja, Hartwig, das ſagſt du ſo immer; aber wenn du
dran biſt, dann red'ſt du anders.“
Der verſtorbene Schickedanz hatte, wie der Tod ihn
ankam, ein Leben hinter ſich, das ſich in zwei ſehr ver¬
ſchiedene Hälften, in eine ganz kleine unbedeutende und
in eine ganz große teilte. Die unbedeutende Hälfte hatte
lange gedauert, die große nur ganz kurz. Er war ein
Ziegelſtreicherſohn aus dem bei Potsdam gelegenen Dorfe
Kaputt, was er, als er aus dem dieſem Dorfnamen
entſprechenden Zuſtande heraus war, in Geſellſchaft guter
Freunde gern hervorhob. Es war ſo ziemlich der ein¬
zige Witz ſeines Lebens, an dem er aber zäh feſthielt,
weil er ſah, daß er immer wieder wirkte. Manche gingen
ſo weit, ihm den Witz auch noch moraliſch gutzuſchreiben
und behaupteten: Schickedanz ſei nicht bloß ein Cha¬
rakter, ſondern auch eine beſcheidene Natur.
Ob dies zutraf, wer will es ſagen! Aber das war
ſicher, daß er ſich von Anfang an als ein aufgeweckter
Junge gezeigt hatte. Schon mit ſechzehn war er als
Hilfsſchreiber in die deutſch-engliſche Hagelverſicherungs¬
geſellſchaft Pluvius eingetreten und hatte mit ſechsund¬
ſechzig ſein fünfzigjähriges Dienſtjubiläum in eben dieſer
Geſellſchaft gefeiert. Das war aus beſtimmten Gründen
ein großer Tag geweſen. Denn als Schickedanz ihn
[152] erlebte, hieß er nur noch ſo ganz obenhin „Herr Ver¬
ſicherungsſekretär“, war aber in Wahrheit über dieſen
ſeinen Titel weit hinausgewachſen und beſaß bereits das
ſchöne Haus am Kronprinzenufer. Er hatte ſich das
leiſten können, weil er im Laufe der letzten fünf Jahre
zweimal hintereinander ein Viertel vom großen Loſe
gewonnen hatte. Dies ſah er ſich allerſeits als perſön¬
liches Verdienſt angerechnet und auch wohl mit Recht.
Denn arbeiten kann jeder, das große Los gewinnen kann
nicht jeder. Und ſo blieb er denn bei der Verſicherungs¬
geſellſchaft lediglich nur noch als verhätſcheltes Zierſtück,
weil es damals wie jetzt einen guten Eindruck machte,
Perſonen der Art im Dienſt oder gar als Teilnehmer
zu haben. An der Spitze muß immer ein Fürſt ſtehen.
Und Schickedanz war jetzt Fürſt. Alles drängte ſich nicht
bloß an ihn, ſondern ſeine Stammtiſchfreunde, die zu
ſeiner zweimal bewährten Glückshand ein unbedingtes
Vertrauen hatten, drangen ſogar eine Zeitlang in ihn,
die Lotterieloſe für ſie zu ziehen. Aber keiner gewann,
was ſchließlich einen Umſchlag ſchuf und einzelne von
„böſem Blick“ und ſogar ganz unſinnigerweiſe von
Mogelei ſprechen ließ. Die meiſten indeſſen hielten es
für klug, ihr Übelwollen zurückzuhalten; war er doch
immerhin ein Mann, der jedem, wenn er wollte, Deckung
und Stütze geben konnte. Ja, Schickedanz' Glück und
Anſehen waren groß, am größten natürlich an ſeinem
Jubiläumstage. Nicht zu glauben, wer da alles kam.
Nur ein Orden kam nicht, was denn auch von einigen
Schickedanzfanatikern ſehr mißliebig bemerkt wurde.
Beſonders ſchmerzlich empfand es die Frau. „Gott,
er hat doch immer ſo treu gewählt,“ ſagte ſie. Sie
kam aber nicht in die Lage, ſich in dieſen Schmerz ein¬
zuleben, da ſchon die nächſten Zeiten beſtimmt waren,
ihr Schwereres zu bringen. Am 21. September war
das Jubiläum geweſen, am 21. Oktober erkrankte er,
[153] am 21. Dezember ſtarb er. Auf dem Notizenzettel, den
man damals dem Kandidaten zugeſtellt hatte, hatte dieſer
dreimal wiederkehrende „einundzwanzigſte“ gefehlt, was
alles in allem wohl als ein Glück angeſehen werden
konnte, weil, entgegengeſetztenfalls, die „drei Tage vor
Weihnachten“ entweder gar nicht zu ſtande gekommen
oder aber durch eine geteilte Herrſchaft in ihrer Wirkung
abgeſchwächt worden wären.
Schickedanz war bei voller Beſinnung geſtorben.
Er rief, kurz vor ſeinem Ende, ſeine Frau an ſein Bett
und ſagte: „Riekchen, ſei ruhig. Jeder muß. Ein Teſta¬
ment hab' ich nicht gemacht. Es giebt doch bloß immer
Zank und Streit. Auf meinem Schreibtiſch liegt ein
Briefbogen, drauf hab' ich alles Nötige geſchrieben.
Viel wichtiger iſt mir das mit dem Haus. Du mußt
es behalten, damit die Leute ſagen können: ‚Da wohnt
Frau Schickedanz‘. Hausname, Straßenname, das iſt
überhaupt das Beſte. Straßenname dauert noch länger
als Denkmal.“
„Gott, Schickedanz, ſprich nicht ſo viel; es ſtrengt
dich an. Ich will es ja alles heilig halten, ſchon aus
Liebe ...“
„Das iſt recht, Riekchen. Ja, du warſt immer eine
gute Frau, wenn wir auch keine Nachfolge gehabt haben.
Aber darum bitte ich dich, vergiß nie, daß es meine
Puppe war. Du darfſt bloß vornehme Leute nehmen;
reiche Leute, die bloß reich ſind, nimm nicht; die quängeln
bloß und ſchlagen große Haken in die Thürfüllung und
hängen eine Schaukel dran. Überhaupt, wenn es ſein
kann, keine Kinder. Hartwigen unten mußt du behalten;
er iſt eigentlich ein Klugſchmus, aber die Frau iſt gut.
Und der kleine Rudolf, mein Patenkind, wenn er ein
Jahr alt wird, ſoll er hundert Thaler kriegen. Thaler,
nicht Mark. Und der Schullehrer in Kaputt ſoll auch
hundert Thaler kriegen. Der wird ſich wundern. Aber
[154] darauf freu' ich mich ſchon. Und auf dem Invaliden¬
kirchhof will ich begraben ſein, wenn es irgend geht.
Invalide iſt ja doch eigentlich jeder. Und Anno ſiebzig
war ich doch auch mit Liebesgaben bis dicht an den
Feind, trotzdem Luchterhand immer ſagte: ‚Nicht ſo nah
'ran‘. Sei freundlich gegen die Leute und nicht zu ſpar¬
ſam (du biſt ein bißchen zu ſparſam) und bewahre mir
einen Platz in deinem Herzen. Denn treu warſt du,
das ſagt mir eine innere Stimme.“
Dieſem allem hatte Riekchen ſeitdem gelebt. Die
Beletage, die leer ſtand, als Schickedanz ſtarb, blieb noch
drei Vierteljahre unbewohnt, trotzdem ſich viele Herrſchaften
meldeten. Aber ſie deckten ſich nicht mit der Forderung,
die Schickedanz vor ſeinem Hinſcheiden geſtellt hatte. Herbſt
fünfundachtzig kamen dann die Barbys. Die kleine Frau
ſah gleich „ja, das ſind die, die mein Seliger gemeint
hat.“ Und ſie hatte wirklich richtig gewählt. In den
faſt zehn Jahren, die ſeitdem verfloſſen waren, war es
auch nicht ein einziges Mal zu Konflikten gekommen, mit
der gräflichen Familie ſchon gewiß nicht, aber auch kaum
mit den Dienerſchaften. Ein perſönlicher Verkehr zwiſchen
Erdgeſchoß und Beletage konnte natürlich nicht ſtattfinden,
— Hartwig war einfach der alter ego, der mit Jeſerich
alles Nötige durchzuſprechen hatte. Kam es aber aus¬
nahmsweiſe zwiſchen Wirtin und Mieter zu irgend einer
Begegnung, ſo bewahrte dabei die kleine winzige Frau
(die nie „viel“ war und ſeit ihres Mannes Tode noch
immer weniger geworden war) eine merkwürdig gemeſſene
Haltung, die jedem mit dem Berliner Weſen Unvertrauten
eine Verwunderung abgenötigt haben würde. Riekchen
empfand ſich nämlich in ſolchem Augenblicke durchaus als
„Macht gegen Macht“. Wie beinah jedem hierlandes
Geborenen, war auch ihr die Gabe wirklichen Vergleichen¬
könnens völlig verſagt, weil jeder echte, mit Spreewaſſer
getaufte Berliner, männlich oder weiblich, ſeinen Zuſtand
[155] nur an ſeiner eignen kleinen Vergangenheit, nie aber an
der Welt draußen mißt, von der er, wenn er ganz echt
iſt, weder eine Vorſtellung hat noch überhaupt haben will.
Der autochthone „Kellerwurm“, wenn er fünfzig Jahre
ſpäter in eine Steglitzer Villa zieht, bildet — auch wenn
er ſeiner Natur nach eigentlich der beſcheidenſte Menſch
iſt — eine gewiſſe naive Kröſusvorſtellung in ſich aus
und glaubt ganz ernſthaft, jenen Gold- und Silberkönigen
zuzugehören, die die Welt regieren. So war auch die
Schickedanz. Hinter einem Dachfenſter in der Georgen¬
kirchſtraße geboren, an welchem Dachfenſter ſie ſpäter für
ein Weißzeuggeſchäft genäht hatte, kam ihr ihr Leben,
wenn ſie rückblickte, wie ein Märchen vor, drin ſie die
Rolle der Prinzeſſin ſpielte. Dementſprechend durchdrang
ſie ſich, ſtill aber ſtark, mit einem Hochgefühl, das ſo¬
wohl Geld- wie Geburtsgrößen gegenüber auf Eben¬
bürtigkeit losſteuerte. Sie rangierte ſich ein und wies
ſich, ſoweit ihre hiſtoriſche Kenntnis das zuließ, einen
ganz beſtimmten Platz an: Fürſt Dolgorucki, Herzog von
Devonſhire, Schickedanz.
Die Treue, die der Verſtorbene noch in ſeinen letzten
Augenblicken ihr nachgerühmt hatte, ſteigerte ſich mehr und
mehr zum Kult. Die Vormittagsſtunden jedes Tages
gehörten dem hohen Paliſanderſchrank an, drin die Jubi¬
läumsgeſchenke wohlgeordnet ſtanden: ein großer Silber¬
pokal mit einem drachentötenden Sankt Georg auf dem
Deckel, ein Album mit photographiſchen Aufnahmen aller
Sehenswürdigkeiten von Kaputt, eine große Huldigungs¬
adreſſe mit Aquarellarabesken, mehrere Lieder in Pracht¬
druck (darunter ein Kegelklublied mit dem Refrain „alle
Neune“), Rieſenſträuße von Sonnenblumen, ein Dreiller
mit dem eiſernen Kreuz und einem aufgehefteten Gedicht,
von einem Damenkomitee herrührend, in deſſen Auftrag
er, Schickedanz, die Liebesgaben bis vor Paris gebracht
hatte. Neben dem Schrank, auf einer Ebenholzſäule,
[156] ſtand eine Gipsbüſte, Geſchenk eines dem Stammtiſch an¬
gehörigen Bildhauers, der darauf hin einen leider aus¬
gebliebenen Auftrag in Marmor erwartet hatte. Fauteuils
und Stühle ſteckten in großblumigen Überzügen, des¬
gleichen der Kronleuchter in einem Gazemantel, und an
den Frontfenſtern ſtanden, den ganzen Winter über, Mai¬
blumen. Riekchen trug auch Maiblumen auf jeder ihrer
Hauben, war überhaupt, ſeit das Trauerjahr um war,
immer hell gekleidet, wodurch ihre Geſtalt noch un¬
körperlicher wirkte. Jeden erſten Montag im Monat war
allgemeines Reinmachen, auch bei Wind und Kälte. Dies
war immer ein Tag größter Aufregung, weil jedesmal
etwas zerbrochen oder umgeſtoßen wurde. Das blieb
auch ſo durch Jahre hin, bis das Auftreten von Hedwig,
die ſich einer ſehr geſchickten Hand erfreute, Wandel in
dieſem Punkte ſchaffte. Die Nippſachen zerbrachen nun
nicht mehr, und Riekchen war um ſo glücklicher darüber,
als Hartwigs hübſche Nichte, wenn ſie mal wieder den
Dienſt gekündigt hatte, regelmäßig allerlei davon zu er¬
zählen und mit immer neuen und oft ſehr intrikaten Ge¬
ſchichten ins Feld zu rücken wußte.
Die Barbys hatten alle Urſache, mit dem Schicke¬
danzſchen Hauſe zufrieden zu ſein. Nur eines ſtörte, das
war, daß jeden Mittwoch und Sonnabend die Teppiche
geklopft wurden, immer gerade zu der Stunde, wo der
alte Graf ſeine Nachmittagsruhe halten wollte. Das ver¬
droß ihn eine Weile, bis er ſchließlich zu dem Ergebnis
kam: „Eigentlich bin ich doch ſelber ſchuld daran. Warum
ſetz' ich mich immer wieder in die Hinterſtube, ſtatt einfach
vorn an mein Fenſter? Immer haſardier' ich wieder und
denke: heute bleibt es vielleicht ruhig; willſt es doch noch
mal verſuchen.“
Ja, der alte Graf war nicht bloß froh, die Wohnung
zu haben, er hielt auch beinah abergläubiſch an ihr feſt.
[157] So lange er darin wohnte, war es ihm gut ergangen,
nicht glänzender als früher, aber ſorgenloſer. Und das
ſagte er ſich jeden neuen Tag.
Sein Leben, ſo bunt es geweſen, war trotzdem in
gewiſſem Sinne durchſchnittsmäßig verlaufen, ganz ſo wie
das Leben eines preußiſchen „Magnaten“ (worunter man
in der Regel Schleſier verſteht; aber es giebt doch auch
andre) zu verlaufen pflegt.
Im Juli dreißig, gerade als die Franzoſen Algier
bombardierten und nebenher das Haus Bourbon end¬
gültig beſeitigten, war der Graf auf einem der an der
mittleren Elbe gelegenen Barbyſchen Güter geboren worden.
Auf eben dieſem Gute, — das landwirtſchaftlich einer
von fremder Hand geführten Adminiſtration unterſtand,
— vergingen ihm die Kinderjahre; mit zwölf kam er
dann auf die Ritterakademie, mit achtzehn in das Regi¬
ment Gardeducorps, drin die Barbys ſtanden, ſolang es
ein Regiment Gardeducorps gab. Mit dreißig war er
Rittmeiſter und führte eine Schwadron. Aber nicht lange
mehr. Auf einem in der Nähe von Potsdam veran¬
ſtalteten Kavalleriemanöver ſtürzte er unglücklich und brach
den Oberſchenkel, unmittelbar unter der Hüfte. Leidlich
geneſen, ging er nach Ragaz, um dort völlige Wieder¬
herſtellung zu ſuchen, und machte hier die Bekanntſchaft
eines alten Freiherrn von Planta, der ihn alsbald auf
ſeine Beſitzungen einlud. Weil dieſe ganz in der Nähe
lagen, nahm er die Einladung nach Schloß Schuder an.
Hier blieb er länger als erwartet, und als er das ſchön
gelegene Bergſchloß wieder verließ, war er mit der Tochter
und Erbin des Hauſes verlobt. Es war eine große
Neigung, was ſie zuſammenführte. Die junge Freiin
drang alsbald in ihn, den Dienſt zu quittieren, und er
entſprach dem um ſo lieber, als er ſeiner völligen Wieder¬
herſtellung nicht ganz ſicher war. Er nahm alſo den
Abſchied und trat aus dem militäriſchen in den diplo¬
[158] matiſchen Dienſt über, wozu ſeine Bildung, ſein Ver¬
mögen, ſeine geſellſchaftliche Stellung ihn gleichmäßig
geeignet erſcheinen ließen. Noch im ſelben Jahre ging
er nach London, erſt als Attaché, wurde dann Botſchafts¬
rat und blieb in dieſer Stellung zunächſt bis in die Tage
der Aufrichtung des Deutſchen Reichs. Seine Beziehungen
ſowohl zu der heimiſch-engliſchen wie zu der außer¬
engliſchen Ariſtokratie waren jederzeit die beſten, und ſein
Freundſchaftsverhältnis zu Baron und Baronin Berchtes¬
gaden entſtammte jener Zeit. Er hing ſehr an London.
Das engliſche Leben, an dem er manches, vor allem die
geſchraubte Kirchlichkeit, beanſtandete, war ihm trotzdem
außerordentlich ſympathiſch, und er hatte ſich daran ge¬
wöhnt, ſich als verwachſen damit anzuſehen. Auch ſeine
Familie, die Frau und die zwei Töchter — beide, wenn
auch in großem Abſtande, während der Londoner Tage
geboren — teilten des Vaters Vorliebe für England und
engliſches Leben. Aber ein harter Schlag warf alles um,
was der Graf geplant: die Frau ſtarb plötzlich, und der
Aufenthalt an der ihm ſo lieb gewordenen Stätte war
ihm vergällt. Er nahm in der erſten Hälfte der 80er
Jahre ſeine Demiſſion, ging zunächſt auf die Plantaſchen
Güter nach Graubünden und dann weiter nach Süden,
um ſich in Florenz ſeßhaft zu machen. Die Luft, die
Kunſt, die Heiterkeit der Menſchen, alles that ihm hier
wohl, und er fühlte, daß er genaß ſoweit er wieder ge¬
neſen konnte. Glückliche Tage brachen für ihn an, und
ſein Glück ſchien ſich noch ſteigern zu ſollen, als ſich die
ältere Tochter mit dem italieniſchen Grafen Ghiberti ver¬
lobte. Die Hochzeit folgte beinah unmittelbar. Aber die
Fortdauer dieſer Ehe ſtellte ſich bald als eine Unmöglich¬
keit heraus, und ehe ein Jahr um war, war die Scheidung
ausgeſprochen. Kurze Zeit danach kehrte der Graf nach
Deutſchland zurück, das er, ſeit einem Vierteljahrhundert,
immer nur flüchtig und beſuchsweiſe wiedergeſehen hatte.
[159] Sich auf das eine oder andre ſeiner Elbgüter zu begeben,
widerſtand ihm auch jetzt noch, und ſo kam es, daß er
ſich für Berlin entſchied. Er nahm Wohnung am Kron¬
prinzenufer und lebte hier ganz ſich, ſeinem Hauſe, ſeinen
Töchtern. Von dem Verkehr mit der großen Welt hielt
er ſich ſo weit wie möglich fern, und nur ein kleiner
Kreis von Freunden, darunter auch die durch einen glück¬
lichen Zufall ebenfalls von London nach Berlin verſchlagenen
Berchtesgadens waren, verſammelte ſich um ihn. Außer
dieſen alten Freunden waren es vorzugsweiſe Hofprediger
Frommel, Dr. Wrſchowitz und ſeit letztem Frühjahr auch
Rittmeiſter von Stechlin, die den Barbyſchen Kreis bildeten.
An Woldemar hatte man ſich raſch attachiert, und die
freundlichen Gefühle, denen er bei dem alten Grafen ſo¬
wohl wie bei den Töchtern begegnete, wurden von allen
Hausbewohnern geteilt. Selbſt die Hartwigs intereſſierten
ſich für den Rittmeiſter, und wenn er abends an der Portier¬
loge vorüberkam, guckte Hedwig neugierig durch das Fenſter¬
chen und ſagte: „So einen, — ja, das laſſ' ich mir ge¬
fallen.“
Dreizehntes Kapitel.
Woldemar, als er ſich von den jungen Damen im
Barbyſchen Hauſe verabſchiedet hatte, hatte verſprechen
müſſen, ſeinen Beſuch recht bald zu wiederholen.
Aber was war „recht bald“? Er rechnete hin und
her und fand, daß der dritte Tag dem etwa entſprechen
würde; das war „recht bald“ und doch auch wieder nicht
zu früh. Und ſo ging er denn, als der Abend dieſes
dritten Tages da war, auf die Halliſche Brücke zu, wartete
hier die Ringbahn ab und fuhr, am Potsdamer- und
Brandenburgerthor vorüber, bis an jene ſonderbare Reichs¬
tagsuferſtelle, wo, von mächtiger Giebelwand herab, ein
wohl zwanzig Fuß hohes, rieſiges Kaffeemädchen mit einem
ganz kleinen Häubchen auf dem Kopf freundlich auf die
Welt der Vorübereilenden herniederblickt, um ihnen ein
Paket Kneippſchen Malzkaffee zu präſentieren. An dieſer
echt berliniſch-pittoresken Ecke ſtieg Woldemar ab, um die
von hier aus nur noch kurze Strecke bis an das Kron¬
prinzenufer zu Fuß zurückzulegen.
Es war gegen acht, als er in dem Barbyſchen Hauſe
die mit Teppich überdeckte Marmortreppe hinauf ſtieg und
die Klingel zog. Im ſelben Augenblick, wo Jeſerich
öffnete, ſah Woldemar an des Alten verlegenem Geſicht,
daß die Damen aller Wahrſcheinlichkeit nach wieder nicht
zu Hauſe waren. Aber eine Verſtimmung darüber durfte
[161] nicht aufkommen, und ſo ließ er es geſchehen, daß Jeſerich
ihn bei dem alten Grafen meldete.
„Der Herr Graf laſſen bitten.“
Und nun trat Woldemar in das Zimmer des wieder
mal von Neuralgie Geplagten ein, der ihm, auf einen
dicken Stock geſtützt, unter freundlichem Gruß entgegenkam.
„Aber Herr Graf,“ ſagte Woldemar und nahm des
alten Herrn linken Arm, um ihn bis an ſeinen Lehnſtuhl
und eine für den kranken Fuß zurechtgemachte Stellage
zurückzuführen. „Ich fürchte, daß ich ſtöre.“
„Ganz im Gegenteil, lieber Stechlin. Mir hoch will¬
kommen. Außerdem hab' ich ſtrikten Befehl, Sie, coûte
que coûte, feſtzuhalten; Sie wiſſen, Damen ſind groß in
Ahnungen, und bei Meluſine hat es ſchon geradezu was
Prophetiſches.“
Woldemar lächelte.
„Sie lächeln, lieber Stechlin, und haben recht. Denn
daß ſie nun ſchließlich doch gegangen iſt (natürlich zu den
Berchtesgadens), iſt ein Beweis, daß ſie ſich und ihrer
Prophetie doch auch wieder einigermaßen mißtraute. Aber
man iſt immer nur klug und weiſe für andre. Die
Doktors machen es ebenſo; wenn ſie ſich ſelber behandeln
ſollen, wälzen ſie die Verantwortung von ſich ab und
ſterben lieber durch fremde Hand. Aber was ſprech' ich
nur immer von Meluſine. Freilich, wer in unſerm Hauſe
ſo gut Beſcheid weiß wie Sie, wird nichts Überraſchliches
darin finden. Und zugleich wiſſen Sie, wie's gemeint iſt.
Armgard iſt übrigens in Sicht; keine zehn Minuten mehr,
ſo werden wir ſie hier haben.“
„Iſt ſie mit bei der Baronin?“
„Nein, Sie dürfen ſie nicht ſo weit ſuchen. Armgard
iſt in ihrem Zimmer, und Doktor Wrſchowitz iſt bei ihr.
Es kann aber nicht lange mehr dauern.“
„Aber ich bitte Sie, Herr Graf, iſt die Comteſſe krank?“
„Gott ſei Dank, nein. Und Wrſchowitz iſt auch kein
Fontane, Der Stechlin. 11[162] Medizindoktor, ſondern ein Muſikdoktor. Sie haben von
ihm rein zufällig noch nicht gehört, weil erſt vorige Woche,
nach einer langen, langen Pauſe, die Muſikſtunden wieder
aufgenommen wurden. Er iſt aber ſchon ſeit Jahr und
Tag Armgards Lehrer.“
„Muſikdoktor? Giebt es denn die?“
„Lieber Stechlin, es giebt alles. Alſo natürlich auch
das. Und ſo ſehr ich im ganzen gegen die Doktorhaſcherei
bin, ſo liegt es hier doch ſo, daß ich dem armen Wrſcho¬
witz ſeinen Muſikdoktor gönnen oder doch mindeſtens ver¬
zeihen muß. Er hat den Titel auch noch nicht lange.“
„Das klingt ja faſt wie 'ne Geſchichte.“
„Trifft auch zu. Können Sie ſich denken, daß Wrſcho¬
witz aus einer Art Verzweiflung Doktor geworden iſt?“
„Kaum. Und wenn kein Geheimnis ...“
„Durchaus nicht; nur ein Kurioſum. Wrſchowitz hieß
nämlich bis vor zwei Jahren, wo er als Klavierlehrer,
aber als ein höherer (denn er hat auch eine Oper kom¬
poniert), in unſer Haus kam, einfach Niels Wrſchowitz,
und er iſt bloß Doktor geworden, um den Niels auf ſeiner
Viſitenkarte los zu werden.“
„Und das iſt ihm auch geglückt?“
„Ich glaube ja, wiewohl es immer noch vorkommt,
daß ihn einzelne ganz wie früher Niels nennen, entweder
aus Zufall oder auch wohl aus Schändlichkeit. In
letzterem Falle ſind es immer Kollegen. Denn die Muſiker
ſind die boshafteſten Menſchen. Meiſt denkt man, die
Prediger und die Schauſpieler ſeien die ſchlimmſten. Aber
weit gefehlt. Die Muſiker ſind ihnen über. Und ganz
beſonders ſchlimm ſind die, die die ſogenannte heilige
Muſik machen.“
„Ich habe dergleichen auch ſchon gehört,“ ſagte Wol¬
demar. „Aber was iſt das nur mit Niels? Niels iſt
doch an und für ſich ein hübſcher und ganz harmloſer
Name. Nichts Anzügliches drin.“
„Gewiß nicht. Aber Wrſchowitz und Niels! Er litt,
glaub’ ich, unter dieſem Gegenſatz.“
Woldemar lachte. „Das kenn’ ich. Das kenn’ ich
von meinem Vater her, der Dubslav heißt, was ihm auch
immer höchſt unbequem war. Und da reichen wohl nicht
hundertmal, daß ich ihn wegen dieſes Namens ſeinen
Vater habe verklagen hören.“
„Genau ſo hier,“ fuhr der Graf in ſeiner Erzählung
fort. „Wrſchowitz’ Vater, ein kleiner Kapellmeiſter an der
tſchechiſch-polniſchen Grenze, war ein Niels Gade-Schwärmer,
woraufhin er ſeinen Jungen einfach Niels taufte. Das
war nun wegen des Kontraſtes ſchon gerade bedenklich
genug. Aber das eigentlich Bedenkliche kam doch erſt, als
der allmählich ein ſcharfer Wagnerianer werdende Wrſcho¬
witz ſich zum direkten Niels Gade-Verächter ausbildete.
Niels Gade war ihm der Inbegriff alles Trivialen und
Unbedeutenden, und dazu kam noch, wie Amen in der
Kirche, daß unſer junger Freund, wenn er als ‚Niels
Wrſchowitz‘ vorgeſtellt wurde, mit einer Art Sicherheit
der Phraſe begegnete: ‚Niels? Ah, Niels. Ein ſchöner
Name innerhalb unſrer muſikaliſchen Welt. Und hoch er¬
freulich, ihn hier zum zweitenmale vertreten zu ſehen.‘
All das konnte der arme Kerl auf die Dauer nicht aus¬
halten, und ſo kam er auf den Gedanken, den Vornamen
auf ſeiner Karte durch einen Doktortitel weg zu eskamotieren.“
Woldemar nickte.
„Jedenfalls, lieber Stechlin, erſehen Sie daraus zur
Genüge, daß unſer Wrſchowitz, als richtiger Künſtler, in
die Gruppe gens irrtabilis gehört, und wenn Armgard
ihn vielleicht aufgefordert haben ſollte, zum Thee zu bleiben,
ſo bitt' ich Sie herzlich, dieſer Reizbarkeit eingedenk zu
ſein. Wenn irgend möglich, vermeiden Sie Beziehungen
auf die ganze ſkandinaviſche Welt, beſonders aber auf
Dänemark direkt. Er wittert überall Verrat. Übrigens,
wenn man auf ſeiner Hut iſt, iſt er ein feiner und gebildeter
11*[164] Mann. Ich hab' ihn eigentlich gern, weil er anders iſt
wie andre.“
Der alte Graf behielt recht mit ſeiner Vermutung:
Armgard hatte den Doktor Wrſchowitz aufgefordert zu
bleiben, und als bald danach Jeſerich eintrat, um den
Grafen und Woldemar zum Thee zu bitten, fanden dieſe
beim Eintritt in das Mittelzimmer nicht nur Armgard,
ſondern auch Wrſchowitz vor, der, die Finger ineinander
gefaltet, mitten in dem Salon ſtand und die an der
Büffettwand hängenden Bilder mit jenem eigentümlichen
Miſchausdruck von aufrichtigem Gelangweiltſein und er¬
künſteltem Intereſſe muſterte. Der Rittmeiſter hatte dem
Grafen wieder ſeinen Arm geboten; Armgard ging auf
Woldemar zu und ſprach ihm ihre Freude aus, daß er
gekommen; auch Meluſine werde gewiß bald da ſein; ſie
habe noch zuletzt geſagt: „Du ſollſt ſehen, heute kommt
Stechlin.“ Danach wandte ſich die junge Comteſſe wieder
Wrſchowitz zu, der ſich eben in das von Hubert Herkomer
gemalte Bild der verſtorbenen Gräfin vertieft zu haben
ſchien, und ſagte, gegenſeitig vorſtellend: „Doktor Wrſcho¬
witz, Rittmeiſter von Stechlin.“ Woldemar, ſeiner In¬
ſtruktion eingedenk, verbeugte ſich ſehr artig, während
Wrſchowitz, ziemlich ablehnend, ſeinem Geſicht den ſtolzen
Doppelausdruck von Künſtler und Huſſiten gab.
Der alte Graf hatte mittlerweile Platz genommen,
entſchuldigte ſich, mit der unglücklichen Stellage beſchwer¬
lich fallen zu müſſen, und bat die beiden Herren, ſich
neben ihm niederzulaſſen, während Armgard, dem Vater
gegenüber, an der andern Schmalſeite des Tiſches ſaß.
Der alte Graf nahm ſeine Taſſe Thee, ſchob den Cognac,
„des Thees beſſren Teil,“ mit einem humoriſtiſchen Seufzer
beiſeit und ſagte, während er ſich links zu Wrſchowitz
wandte: „Wenn ich recht gehört habe, — ſo ein bißchen
[165] von muſikaliſchem Ohr iſt mir geblieben —, ſo war es
Chopin, was Armgard zu Beginn der Stunde ſpielte ...“
Wrſchowitz verneigte ſich.
„Chopin, für den ich eine Vorliebe habe, wie für alle
Polen, vorausgeſetzt, daß ſie Muſikanten oder Dichter oder
auch Wiſſenſchaftsmenſchen ſind. Als Politiker kann ich
mich mit ihnen nicht befreunden. Aber vielleicht nur des¬
halb nicht, weil ich Deutſcher und ſogar Preuße bin.“
„Sehr warr, ſehr warr,“ ſagte Wrſchowitz, mehr
geſinnungstüchtig als artig.
„Ich darf ſagen, daß ich für polniſche Muſiker, von
meinen früheſten Leutnantstagen an, eine ſchwärmeriſche
Vorliebe gehabt habe. Da gab es unter anderm eine
Polonaiſe von Oginski, die damals ſo regelmäßig und
mit ſo viel Paſſion geſpielt wurde, wie ſpäter der Erl¬
könig oder die Glocken von Speier. Es war auch die Zeit
vom ‚Alten Feldherrn‘ und von ‚Denkſt du daran, mein
tapferer Lagienka‘.“
„Jawohl, Herr Graff, eine ſchlechte Zeit. Und warr
mir immerdarr eine beſondere Luſt zu ſehen, wie das
Sentimentalle wieder fällt. Immer merr, immer merr.
Ich haſſe das Sentimentalle de tout mon cœur.“
„Worin ich,“ ſagte Woldemar, „Herrn Doktor Wrſcho¬
witz durchaus zuſtimme. Wir haben in der Poeſie genau
dasſelbe. Da gab es auch dergleichen, und ich bekenne,
daß ich als Knabe für ſolche Sentimentalitäten geſchwärmt
habe. Meine beſondere Schwärmerei war ‚König Renés
Tochter‘ von Henrik Hertz, einem jungen Kopenhagener,
wenn ich nicht irre ...“
Wrſchowitz verfärbte ſich, was Woldemar, als er es
wahrnahm, zu ſofortigem raſchen Einlenken beſtimmte.
„... König Renés Tochter, ein lyriſches Drama. Aber
ſchon ſeit lange wieder vergeſſen. Wir ſtehen jetzt im
Zeichen von Tolſtoj und der Kreuzerſonate.“
„Sehr warr, ſehr warr,“ ſagte der raſch wieder be¬
[166] ruhigte Wrſchowitz und nahm nur noch Veranlaſſung,
energiſch gegen die Miſchung von Kunſt und Sektierer¬
tum zu proteſtieren.
Woldemar, großer Tolſtojſchwärmer, wollte für den
ruſſiſchen Grafen eine Lanze brechen, aber Armgard, die,
wenn derartige Themata berührt wurden, der Salon¬
fähigkeit ihres Freundes Wrſchowitz arg mißtraute, war
ſofort aufrichtig bemüht, das Geſpräch auf harmloſere
Gebiete hinüberzuſpielen. Als ein ſolches friedeverheißendes
Gebiet erſchien ihr in dieſem Augenblicke ganz eminent
die Grafſchaft Ruppin, aus deren abgelegenſter Nordoſt¬
ecke Woldemar eben wieder eingetroffen war, und ſo ſprach
ſie denn gegen dieſen den Wunſch aus, ihn über ſeinen
jüngſten Ausflug einen kurzen Bericht erſtatten zu ſehen.
„Ich weiß wohl, daß ich meiner Schweſter Meluſine (die
voll Neugier und Verlangen iſt, auch davon zu hören)
einen ſchlechten Dienſt damit leiſte; Herr von Stechlin
wird es aber nicht verſchmähen, wenn meine Schweſter
erſt wieder da iſt, darauf zurückzukommen. Es braucht ja,
wenn man plaudert, nicht alles abſolut neu zu ſein. Man
darf ſich wiederholen. Papa hat auch einzelnes, das er
öfter erzählt.
„Einzelnes?“ lachte der alte Graf, „meine Tochter
Armgard meint ‚vieles‘.“
„Nein, Papa, ich meine einzelnes. Da giebt es denn
doch ganz andre, zum Beiſpiel unſer guter Baron. Und
die Baronin ſieht auch immer weg, wenn er anfängt.
Aber laſſen wir den Baron und ſeine Geſchichten, und
hören wir lieber von Herrn von Stechlins Ausfluge. Doktor
Wrſchowitz teilt gewiß meinen Geſchmack.“
„Teile vollkommen.“
„Alſo, Herr von Stechlin,“ fuhr Armgard fort.
„Sie haben nach dieſen Erklärungen unſers Freundes
Wrſchowitz einen freundlichen Zuhörer mehr, vielleicht
ſogar einen begeiſterten. Auch für Papa möcht ich mich
[167] verbürgen. Wir ſind ja eigentlich ſelber märkiſch oder
doch beinah' und wiſſen trotzdem ſo wenig davon, weil
wir immer draußen waren. Ich kenne wohl Saatwinkel
und den Grunewald, aber das eigentliche brandenburgiſche
Land, das iſt doch noch etwas andres. Es ſoll alles ſo
romantiſch ſein und ſo melancholiſch, Sand und Sumpf
und im Waſſer ein paar Binſen oder eine Birke, dran
das Laub zittert. Iſt Ihre Ruppiner Gegend auch ſo?“
„Nein, Comteſſe, wir haben viel Wald und See, die
ſogenannte mecklenburgiſche Seenplatte.“
„Nun das iſt auch gut. Mecklenburg, wie mir die
Berchtesgadens erſt neulich verſichert haben, hat auch ſeine
Romantik.“
„Sehr warr. Habe geleſen Stromtid und habe
geleſen Franzoſentid ...“
„Und dann glaub ich auch zu wiſſen,“ fuhr Armgard
fort, „daß Sie Rheinsberg ganz in der Nähe haben.
Iſt es richtig. Und kennen Sie's? Es ſoll ſo viel
Intereſſantes bieten. Ich erinnere mich ſeiner aus meinen
Kindertagen her, trotzdem wir damals in London lebten.
Oder vielleicht auch gerade deshalb. Denn es war die
Zeit, wo das Carlyleſche Buch über Friedrich den Großen
immer noch in Mode war, und wo's zum Guten Ton
g [...]ehörte, ſich nicht bloß um die Terraſſe von Sansſouci
zu kümmern, ſondern auch um Rheinsberg [und] den Orden
de la générosité. Lebt das alles noch da? Spricht das
Volk noch davon?“
„Nein, Comteſſe, das iſt alles fort. Und überhaupt,
von dem großen König ſpricht im Rheinsbergiſchen niemand
mehr, was auch kaum anders ſein kann. Der große
König war als Kronprinz nur kurze Zeit da, ſein Bruder
Heinrich aber fünfzig Jahre. Und ſo hat die Prinz-
Heinrichzeit beklagenswerterweiſe die Kronprinzenzeit ganz
erdrückt. Aber beklagenswert doch nicht in allem. Denn
[168] Prinz Heinrich war auch bedeutend und vor allem ſehr
kritiſch. Was doch immer ein Vorzug iſt.“
„Sehr warr, ſehr warr,“ unterbrach hier Wrſchowitz.“
„Er war ſehr kritiſch,“ wiederholte Woldemar.
„Namentlich auch gegen ſeinen Bruder, den König.
Und die Malcontenten, deren es auch damals ſchon die
Hülle und Fülle gab, waren beſtändig um ihn herum.
Und dabei kommt immer was heraus.“
„Sehr warr, ſehr warr ...“
„Denn zufriedene Hofleute ſind allemal öd und lang¬
weilig, aber die Frondeurs, wenn die den Mund auf¬
thun, da kann man was hören, da thut ſich einem
was auf.“
„Gewiß,“ ſagte Armgard. Aber trotzdem, Herr von
Stechlin, ich kann das Frondieren nicht leiden. Frondeur
iſt doch immer nur der gewohnheitsmäßig Unzufriedene,
und wer immer unzufrieden iſt, der taugt nichts. Immer
Unzufriedene ſind dünkelhaft und oft boshaft dazu, und
während ſie ſich über andre luſtig machen, laſſen ſie
ſelber viel zu wünſchen übrig.“
„Sehr warr, ſehr warr, gnädigſte Comteſſe,“ ver¬
beugte ſich Wrſchowitz. „Aber, wollen verzeihn, Comteſſe,
wenn ich trotzdem bin für Frondeur. Frondeur iſt
Krittikk, und wo Guttes ſein will, muß ſein Krittikk.
Deutſche Kunſt viel Krittikk. Erſt muß ſein Kunſt, gewiß,
gewiß, aber gleich danach muß ſein Krittikk. Krittikk iſt
wie große Revolution. Kopf ab aus Prinzipp. Kunſt
muß haben ein Prinzipp. Und wo Prinzipp is, is
Kopf ab.“
Alles ſchwieg, ſo daß dem Grafen nichts übrig blieb,
als etwas verſpätet ſeine halbe Zuſtimmung auszudrücken.
Armgard ihrerſeits beeilte ſich, auf Rheinsberg zurückzu¬
kommen, das ihr trotz des fatalen Zwiſchenfalls mit
„Kopf ab“, im Vergleich zu vielleicht wiederkehrenden Muſik¬
geſprächen, immer noch als wenigſtens ein Nothafen erſchien.
[169]
„Ich glaube,“ ſagte ſie, „neben manchem andern auch
mal von der Frauenfeindſchaft des Prinzen gehört zu
habe. Er ſoll — irre ich mich, ſo werden Sie mich
korrigieren — ein ſogenannter Miſogyne geweſen ſein.
Etwas durchaus Krankhaftes in meinen Augen oder doch
mindeſtens etwas ſehr Sonderbares.“
„Sehr ſonderbarr,“ ſagte Wrſchowitz, während ſich,
unter huldigendem Hinblick auf Armgard, ſein Geſicht wie
verklärte.
„Wie gut, lieber Wrſchowitz,“ fuhr Armgard fort,
„daß Sie, mein Wort beſtätigend, für uns arme Frauen
und Mädchen eintreten. Es giebt immer noch Ritter, und
wir ſind ihrer ſo ſehr benötigt. Denn wie mir Meluſine
erzählt hat, ſind die Weiberfeinde ſogar ſtolz darauf,
Weiberfeinde zu ſein, und behandeln ihr Denken und
Thun als eine höhere Lebensform. Kennen Sie ſolche
Leute, Herr von Stechlin? Und wenn Sie ſolche Leute
kennen, wie denken Sie darüber?“
„Ich betrachte ſie zunächſt als Unglückliche.“
„Das iſt recht.“
„Und zum zweiten als Kranke. Der Prinz, wie
Comteſſe ſchon ganz richtig ausgeſprochen haben, war auch
ein ſolcher Kranker.“
„Und wie äußerte ſich das? Oder iſt es überhaupt
nicht möglich, über das Thema zu ſprechen?“
„Nicht ganz leicht, Comteſſe. Doch in Gegenwart
des Herrn Grafen und nicht zu vergeſſen auch in Gegen¬
wart von Doktor Wrſchowitz, der ſo ſchön und ritterlich
gegen die Miſogynität Partei genommen, unter ſolchem
Beiſtande will ich es doch wagen.“
„Nun, das [freut] mich. Denn ich brenne vor
Neugier.“
„Und will auch nicht länger ängſtlich um die Sache
herumgehen. Unſer Rheinsberger Prinz war ein richtiger
Prinz aus dem vorigen Jahrhundert. Die jetzigen ſind
[170] Menſchen; die damaligen waren nur Prinzen. Eine der
Paſſionen unſers Rheinsberger Prinzen — wenn man
will, in einer Art Gegenſatz von dem, was ſchon
geſagt wurde — war eine geheimnisvolle Vorliebe für
jungfräuliche Tote, beſonders Bräute. Wenn eine Braut
im Rheinsbergiſchen, am liebſten auf dem Lande, geſtorben
war, ſo lud er ſich zu dem Begräbnis zu Gaſt. Und eh'
der Geiſtliche noch da ſein konnte (den vermied er), er¬
ſchien er und ſtellte ſich an das Fußende des Sarges und
ſtarrte die Tote an. Aber ſie mußte geſchminkt ſein und
ausſehen wie das Leben.“
„Aber das iſt ja ſchrecklich,“ brach es beinahe leiden¬
ſchaftlich aus Armgard hervor. „Ich mag dieſen Prinzen
nicht und ſeine ganze Fronde nicht. Denn die müſſen
ebenſo geweſen ſein. Das iſt ja Blasphemie, das iſt ja
Gräberſchändung, — ich muß das Wort ausſprechen,
weil ich ſo empört bin und nicht anders kann.“
Der alte Graf ſah die Tochter an, und ein Freuden¬
ſtrahl umleuchtete ſein gutes altes Geſicht. Auch Wrſcho¬
witz empfand ſo was von unbedingter Huldigung, bezwang
ſich aber und ſah, ſtatt auf Armgard, auf das Bild der
Gräfin-Mutter, das von der Wand niederblickte.
Nur Woldemar blieb ruhig und ſagte: „Comteſſe,
Sie gehen vielleicht zu weit. Wiſſen Sie, was in der
Seele des Prinzen vorgegangen iſt? Es kann etwas In¬
fernales geweſen ſein, aber auch etwas ganz andres. Wir
wiſſen es nicht. Und weil er nebenher unbedingt große
Züge hatte, ſo bin ich dafür, ihm das in Rechnung zu
ſtellen.“
„Bravo, Stechlin,“ ſagte der alte Graf. „Ich war
erſt Armgards Meinung. Aber Sie haben recht, wir
wiſſen es nicht. Und ſo viel weiß ich noch von der Ju¬
riſterei her, in der ich, wohl oder übel, eine Gaſtrolle
gab, daß man in zweifelhaften Fällen in favorem ent¬
ſcheiden muß. Übrigens geht eben die Klingel. An beſter
[171] Stelle wird ein Geſpräch immer unterbrochen. Es wird
Meluſine ſein. Und ſo ſehr ich gewünſcht hätte, ſie wäre
von Anfang an mit dabei geweſen, wenn ſie jetzt ſo mit
einem Male dazwiſchen fährt, iſt ſelbſt Meluſine eine
Störung.“
Es war wirklich Meluſine. Sie trat, ohne draußen
abgelegt zu haben, ins Zimmer, warf das ſchottiſche Cape,
das ſie trug, in eine Sofa-Ecke und ſchritt, während ſie
noch den Hut aus dem Haare neſtelte, bis an den Tiſch,
um hier zunächſt den Vater, dann aber die beiden andern
Herren zu begrüßen. „Ich ſeh' euch ſo verlegen, woraus
ich ſchließe, daß eben etwas Gefährliches geſagt worden
iſt. Alſo etwas über mich.“
„Aber, Meluſine, wie eitel.“
„Nun, dann alſo nicht über mich. Aber über wen?
Das wenigſtens will ich wiſſen. Von wem war die Rede?“
„Vom Prinzen Heinrich. Aber von dem ganz alten,
der ſchon faſt hundert Jahre tot iſt.“
„Da konntet Ihr auch was Beſſeres thun.“
„Wenn du wüßteſt, was uns Stechlin von ihm er¬
zählt hat, und daß er — nicht Stechlin, aber der Prinz
— ein Miſogyne war, ſo würdeſt du vielleicht anders
ſprechen.“
„Miſogyne. Das freilich ändert die Sache. Ja,
lieber Stechlin, da kann ich Ihnen nicht helfen, davon
muß ich auch noch hören. Und wenn Sie mir's abſchlagen,
ſo wenigſtens was Gleichwertiges.“
„Gräfin Meluſine, was Gleichwertiges giebt es nicht.“
„Das iſt gut, ſehr gut, weil es ſo wahr iſt. Aber
dann bitt' ich um etwas zweiten Ranges. Ich ſehe, daß
Sie von Ihrem Ausfluge erzählt haben, von Ihrem
Papa, von Schloß Stechlin ſelbſt oder von Ihrem Dorf
und Ihrer Gegend. Und davon möcht' ich auch hören,
wenn es auch freilich nicht an das andre heranreicht.“
„Ach, Gräfin, Sie wiſſen nicht, wie beſcheiden es mit
[172] unſerm Stechliner Erdenwinkel beſtellt iſt. Wir haben da,
von einem Paſtor abgeſehen, der beinah' Sozialdemokrat
iſt, und des weiteren von einem Oberförſter abgeſehen,
der eine Prinzeſſin, eine Ippe-Büchſenſtein, geheiratet
hat ...“
„Aber das iſt ja alles großartig ...“
„Wir haben da, von dieſen zwei Sehenswürdigkeiten
abgeſehen, eigentlich nur noch den ‚Stechlin‘. Der ginge
vielleicht, über den ließe ſich vielleicht etwas ſagen.“
„Den Stechlin? Was iſt das? Ich bin ſo glück¬
lich, zu wiſſen“ (und ſie machte verbindlich eine Hand¬
bewegung auf Woldemar zu) „ich bin ſo glücklich, zu wiſſen,
daß es Stechline giebt. Aber der Stechlin! Was iſt der
Stechlin?“
„Das iſt ein See.“
„Ein See. Das beſagt nicht viel. Seen, wenn es
nicht grade der Vierwaldſtätter iſt, werden immer erſt inter¬
eſſant durch ihre Fiſche, durch Sterlet oder Felchen.
Ich will nicht weiter aufzählen. Aber was hat der Stechlin?
Ich vermute, Steckerlinge.“
„Nein, Gräfin, die hat er nun gerade nicht. Er hat
genau das, was Sie geneigt ſind am wenigſten zu ver¬
muten. Er hat Weltbeziehungen, vornehme, geheimnis¬
volle Beziehungen, und nur alles Gewöhnliche, wie bei¬
ſpielsweiſe Steckerlinge, hat er nicht. Steckerlinge fehlen
ihm.“
„Aber, Stechlin, Sie werden doch nicht den Empfind¬
lichen ſpielen. Rittmeiſter in der Garde!“
„Nein, Gräfin. Und außerdem, den wollt' ich ſehen,
der das Ihnen gegenüber zuwege brächte.“
„Nun dann alſo, was iſt es? Worin beſtehen ſeine
vornehmen Beziehungen?“
„Er ſteht mit den höchſten und allerhöchſten Herr¬
ſchaften, deren genealogiſcher Kalender noch über den
Gothaiſchen hinauswächſt, auf du und du. Und wenn es
[173] in Java oder auf Island rumort oder der Geiſer mal in
Doppelhöhe dampft und ſpringt, dann ſpringt auch in
unſerm Stechlin ein Waſſerſtrahl auf, und einige (wenn
es auch noch niemand geſehen hat), einige behaupten ſo¬
gar, in ganz ſchweren Fällen erſcheine zwiſchen den
Strudeln ein roter Hahn und krähe hell und weckend in
die Ruppiner Grafſchaft hinein. Ich nenne das vornehme
Beziehungen.“
„Ich auch,“ ſagte Meluſine.
Wrſchowitz aber, deſſen Augen immer größer geworden
waren, murmelte vor ſich hin: „Sehr warr, ſehr warr.“
Vierzehntes Kapitel.
Es war zu Beginn der Woche, daß Woldemar ſeinen
Beſuch im Barbyſchen Hauſe gemacht hatte. Schon am
Mittwoch früh empfing er ein Billet von Meluſine.
„Lieber Freund. Laſſen Sie mich Ihnen noch nach¬
träglich mein Bedauern ausſprechen, daß ich vorgeſtern
nur gerade noch die letzte Scene des letzten Aktes (Ge¬
ſchichte vom Stechlin) mit erleben konnte. Mich verlangt
es aber lebhaft, mehr davon zu wiſſen. In unſrer ſo¬
genannten großen Welt giebt es ſo wenig, was ſich zu
ſehen und zu hören verlohnt; das meiſte hat ſich in die
ſtillen Winkel der Erde zurückgezogen. Allen vorauf, wie
mir ſcheint, in Ihre Stechliner Gegend. Ich wette, Sie
haben uns noch über vieles zu berichten, und ich kann
nur wiederholen, ich möchte davon hören. Unſre gute
Baronin, der ich davon erzählt habe, denkt ebenſo; ſie
hat den Zug aller naiven und liebenswürdigen Frauen,
neugierig zu ſein. Ich, ohne die genannten Vorbedingungen
zu erfüllen, bin ihr trotzdem an Neugier gleich. Und ſo
haben wir denn eine Nachmittagspartie verabredet, bei
der Sie der große Erzähler ſein ſollen. In der Regel
freilich verläuft es anders wie gedacht, und man hört
nicht das, was man hören wollte. Das darf uns aber
in unſerm guten Vorhaben nicht hindern. Die Baronin
hat mir etwas vorgeſchwärmt von einer Gegend, die ſie
‚Oberſpree‘ nannte (die vielleicht auch wirklich ſo heißt),
[175] und wo's ſo ſchön ſein ſoll, daß ſich die Havelherrlich¬
keiten daneben verſtecken müſſen. Ich will es ihr glauben,
und jedenfalls werd' ich es ihr nachträglich verſichern,
auch wenn ich es nicht gefunden haben ſollte. Das Ziel
unſrer Fahrt — ein Punkt, den übrigens die Berchtes¬
gadens noch nicht kennen; ſie waren bisher immer erheb¬
lich weiter flußaufwärts — das Ziel unſrer Reiſe hat
einen ziemlich ſonderbaren Namen und heißt das ‚Eier¬
häuschen‘. Ich werde ſeitdem die Vorſtellung von etwas
Ovalem nicht los und werde wohl erſt geheilt ſein, wenn
ſich mir die ſo ſonderbar benamſte Spreeſchönheit perſön¬
lich vorgeſtellt haben wird. Alſo morgen, Donnerſtag:
Eierhäuschen. Ein ‚Nein‘ giebt es natürlich nicht. Ab¬
fahrt vier Uhr, Jannowitzbrücke. Papa begleitet uns; es
geht ihm ſeit heut um vieles beſſer, ſo daß er ſich's zu¬
traut. Vielleicht iſt vier etwas ſpät; aber wir haben da¬
bei, wie mir Lizzi ſagt, den Vorteil, auf der Rückfahrt
die Lichter im Waſſer ſich ſpiegeln zu ſehen. Und viel¬
leicht iſt auch irgendwo Feuerwerk, und wir ſehen dann
die Raketen ſteigen. Armgard iſt in Aufregung, faſt auch
ich. Au revoir. Eines Herrn Rittmeiſters wohlaffektionierte
Meluſine.“
Nun war der andre Nachmittag da, und kurz vor
vier Uhr fuhren erſt die Berchtesgadens und gleich danach
auch die Barbys bei der Jannowitzbrücke vor. Woldemar
wartete ſchon. Alle waren in jener heitern Stimmung,
in der man geneigt iſt, alles ſchön und reizend zu finden.
Und dieſe Stimmung kam denn auch gleich der Dampf¬
ſchiffahrtsſtation zu ſtatten. Unter lachender Bewunderung
der ſich hier darbietenden Holzarchitektur ſtieg man ein
Gewirr von Stiegen und Treppen hinab und ſchritt, unten
angekommen, an den um dieſe Stunde noch leeren Tiſchen
eines hier etablierten „Lokals“ vorüber, unmittelbar auf
[176] das Schiff zu, deſſen Glocke ſchon zum erſtenmal geläutet
hatte. Das Wetter war prachtvoll, flußaufwärts alles
klar und ſonnig, während über der Stadt ein dünner
Nebel [lag]. Zu beiden Seiten des Hinterdecks nahm man
auf Stühlen und Bänken Platz und ſah von hier aus auf
das verſchleierte Stadtbild zurück.
„Da heißt es nun immer,“ ſagte Meluſine, „Berlin
ſei ſo kirchenarm; aber wir werden bald Köln und Mainz
aus dem Felde geſchlagen haben. Ich ſehe die Nikolai¬
kirche, die Petrikirche, die Waiſenkirche, die Schloßkuppel,
und das Dach da, mit einer Art von chineſiſcher Deckel¬
mütze, das iſt, glaub' ich, der Rathausturm. Aber freilich,
ich weiß nicht, ob ich den mitrechnen darf.“
„Turm iſt Turm,“ ſagte die Baronin. „Das fehlte
ſo gerade noch, daß man dem armen alten Berlin auch
ſeinen Rathausturm als Turm abſtritte. Man eiferſüchtelt
ſchon genug.“
Und nun ſchlug es vier. Von der Parochialkirche
her klang das Glockenſpiel, die Schiffsglocke läutete
dazwiſchen, und als dieſe wieder ſchwieg, wurde das
Brett aufgeklappt, und unter einem ſchrillen Pfiff ſetzte
ſich der Dampfer auf das mittlere Brückenjoch zu in Be¬
wegung.
Oben, in Nähe der Jannowitzbrücke, hielten immer
noch die beiden herrſchaftlichen Wagen, die's für ange¬
meſſen erachten mochten, ehe ſie ſelber aufbrachen, zuvor
den Aufbruch des Schiffes abzuwarten, und erſt als
dieſes unter der Brücke verſchwunden war, fuhr der
gräflich Barbyſche Kutſcher neben den freiherrlich Berchtes¬
gadenſchen, um mit dieſem einen Gruß auszutauſchen.
Beide kannten ſich ſeit lange, ſchon von London her, wo
ſie bei denſelben Herrſchaften in Dienſt geſtanden hatten.
In dieſem Punkte waren ſie ſich gleich, ſonſt aber ſo ver¬
[177] ſchieden wie nur möglich, auch ſchon in ihrer äußeren
Erſcheinung. Imme, der Barbyſche Kutſcher, ein ebenſo
martialiſch wie gutmütig dreinſchauender Mecklenburger,
hätte mit ſeinem angegrauten Sappeurbart ohne weiteres
vor eine Gardetruppe treten und den Zug als Tambour¬
major eröffnen können, während der Berchtesgadenſche,
der ſeine Jugend als Trainer und halber Sportsmann
zugebracht hatte, nicht bloß einen engliſchen Namen führte,
ſondern auch ein typiſcher Engländer war, hager, ſehnig,
kurz geſchoren und glatt raſiert. Seine Glotzaugen hatten
etwas Stupides; er war aber trotzdem klug genug und
wußte, wenn's galt, ſeinem Vorteil nachzugehen. Das
Deutſche machte ihm noch immer Schwierigkeiten, trotzdem
er ſich aufrichtige Mühe damit gab und ſogar das be¬
queme Zuhilfenehmen engliſcher Wörter vermied, am
meiſten dann, wenn er ſich die Berlinerinnen ſeiner Be¬
kanntſchaft abquälen ſah, ihm mit „well, well, Mr. Ro¬
binson“ oder gar mit einem geheimnisvollen „indeed“
zu Hilfe zu kommen. Nur mit dem einen war er ein¬
verſtanden, daß man ihn „Mr. Robinſon“ nannte. Das
ließ er ſich gefallen.
„Now, Mr. Robinson,“ ſagte Imme, als ſie Bock
an Bock nebeneinander hielten, „how are you? I hope
quite well.“
„Danke, Mr. Imme, danke! Was macht die Frau?“
„Ja, Robinſon, da müſſen Sie, denk' ich, ſelber nach¬
ſehen, und zwar gleich heute, wo die Herrſchaften fort
ſind und erſt ſpät wiederkommen. Noch dazu mit der
Stadtbahn. Wenigſtens von hier aus, Jannowitzbrücke.
Sagen wir alſo neun; eher ſind ſie nicht zurück. Und
bis dahin haben wir einen guten Skat. Hartwig als
dritter wird ſchon kommen; Portiers können immer. Die
Frau zieht ebenſo gut die Thür auf wie er, und weiter
is es ja nichts. Alſo Klocker fünf: ein ‚Nein‘ gilt nicht;
Fontane, Der Stechlin. 12[178]where there is a will, there is a way. Ein bißchen
is doch noch hängen geblieben von dear old England.“
„Danke, Mr. Imme,“ ſagte Robinſon, „danke! Ja,
Skat iſt das Beſte von all Germany. Komme gern.
Skat iſt noch beſſer als Bayriſch.“
„Hören Sie, Robinſon, ich weiß doch nicht, ob das
ſtimmt. Ich denke mir, ſo beides zuſammen, das iſt das
Wahre. That's it.“
Robinſon war einverſtanden, und da beide weiter
nichts auf dem Herzen hatten, ſo brach man hier ab und
ſchickte ſich an, die Rückfahrt in einem mäßig raſchen
Trab anzutreten, wobei der Berchtesgadenſche Kutſcher
den Weg über Molkenmarkt und Schloßplatz, der Barbyſche
den auf die Neue Friedrichſtraße nahm. Jenſeits der
Friedrichsbrücke hielt ſich dieſer dann dicht am Waſſer
hin und kam ſo am bequemſten bis an ſein Kron¬
prinzenufer.
Der Dampfer, gleich nachdem er das Brückenjoch
paſſiert hatte, ſetzte ſich in ein raſcheres Tempo, dabei die
linke Flußſeite haltend, ſo daß immer nur eine geringe
Entfernung zwiſchen dem Schiff und den ſich dicht am
Ufer hinziehenden Stadtbahnbögen war. Jeder Bogen
ſchuf den Rahmen für ein dahinter gelegenes Bild, das
natürlich die Form einer Lunette hatte. Mauerwerk jeglicher
Art, Schuppen, Zäune zogen in buntem Wechſel vorüber,
aber in Front aller dieſer der Alltäglichkeit und der
Arbeit dienenden Dinge zeigte ſich immer wieder ein
Stück Gartenland, darin ein paar verſpätete Malven oder
Sonnenblumen blühten. Erſt als man die zweitfolgende
Brücke paſſiert hatte, traten die Stadtbahnbögen ſo weit
zurück, daß von einer Ufereinfaſſung nicht mehr die Rede
ſein konnte; ſtatt ihrer aber wurden jetzt Wieſen und
pappelbeſetzte Wege ſichtbar, und wo das Ufer quaiartig
[179] abfiel, lagen mit Sand beladene Kähne, große Zillen,
aus deren Innerem eine baggerartige Vorrichtung die
Kies- und Sandmaſſen in die dicht am Ufer hin etablierten
Kalkgruben ſchüttete. Es waren dies die Berliner Mörtel¬
werke, die hier die Herrſchaft behaupteten und das Ufer¬
bild beſtimmten.
Unſre Reiſenden ſprachen wenig, weil unter dem
raſchen Wechſel der Bilder eine Frage die andre zurück¬
drängte. Nur als der Dampfer an Treptow vorüber
zwiſchen den kleinen Inſeln hinfuhr, die hier mannigfach
aus dem Fluß aufwachſen, wandte ſich Meluſine an
Woldemar und ſagte: „Lizzi hat mir erzählt, hier zwiſchen
Treptow und Stralau ſei auch die ‚Liebesinſel‘; da ſtürben
immer die Liebespaare, meiſt mit einem Zettel in der
Hand, drauf alles ſtünde. Trifft das zu?“
„Ja, Gräfin, ſoviel ich weiß, trifft es zu. Solche
Liebesinſeln giebt es übrigens vielfach in unſrer Gegend
und kann als Beweis gelten, wie weitverbreitet der Zu¬
ſtand iſt, dem abgeholfen werden ſoll, und wenn's auch
durch Sterben wäre.“
„Das nehm' ich Ihnen übel, daß Sie darüber ſpotten.
Und Armgard wird es noch mehr thun, weil ſie gefühl¬
voller iſt als ich. Zudem ſollten ſie wiſſen, daß ſich ſo
was rächt.“
„Ich weiß es. Aber Sie leſen auch durchaus falſch
in meiner Seele. Sicher haben Sie mal gehört, daß der,
der Furcht hat, zu ſingen anfängt, und wer nicht ſingen
kann, nun, der witzelt eben. Übrigens, ſo ſchön ‚Liebes¬
inſel‘ klingt, der Zauber davon geht wieder verloren,
wenn Sie ſich den Namen des Ganzen vergegenwärtigen.
Die ſich ſo mächtig hier verbreiternde Spreefläche heißt
nämlich der ‚Rummelsburger‘ See.“
„Freilich nicht hübſch; das kann ich zugeben. Aber
die Stelle ſelbſt iſt ſchön, und Namen bedeuten nichts.“
„Wer Meluſine heißt, ſollte wiſſen, was Namen be¬
deuten.“
„Ich weiß es leider. Denn es giebt Leute, die ſich
vor ‚Meluſine‘ fürchten.“
„Was immer eine Dummheit, aber doch viel mehr
noch eine Huldigung iſt.“
Unter dieſem Geſpräche waren ſie bis über die
Breitung der Spree hinaus gekommen und fuhren wieder
in das ſchmaler werdende Flußbett ein. An beiden Ufern
hörten die Häuſerreihen auf, ſich in dünnen Zeilen hin¬
zuziehen, Baumgruppen traten in nächſter Nähe dafür
ein, und weiter landeinwärts wurden aufgeſchüttete Bahn¬
dämme ſichtbar, über die hinweg die Telegraphenſtangen
ragten und ihre Drähte von Pfahl zu Pfahl ſpannten.
Hie und da, bis ziemlich weit in den Fluß hinein, ſtand
ein Schilfgürtel, aus deſſen Dickicht vereinzelte Krickenten
aufflogen.
„Es iſt doch weiter, als ich dachte,“ ſagte Meluſine.
„Wir ſind ja ſchon wie in halber Einſamkeit. Und da¬
bei wird es friſch. Ein Glück, daß wir Decken mitge¬
nommen. Denn wir bleiben doch wohl im Freien? Oder
giebt es auch Zimmer da? Freilich kann ich mir kaum
denken, daß wir zu ſechs in einem Eierhäuschen Platz
haben.“
„Ach, Frau Gräfin, ich ſehe, Sie rechnen auf etwas extrem
Idylliſches und erwarten, wenn wir angelangt ſein werden,
einen Miſchling von Kioſk und Hütte. Da harrt Ihrer
aber eine grauſame Enttäuſchung. Das Eierhäuschen iſt
ein ſogenanntes ‚Lokal‘, und wenn uns die Luſt anwandelt,
ſo können wir da tanzen oder eine Volksverſammlung
abhalten. Raum genug iſt da. Sehen Sie, das Schiff
wendet ſich ſchon, und der rote Bau da, der zwiſchen
den Pappelweiden mit Turm und Erker ſichtbar wird,
das iſt das Eierhäuschen.“
„O weh! Ein Palazzo,“ ſagte die Baronin und war
[181] auf dem Punkt, ihrer Mißſtimmung einen Ausdruck zu
geben. Aber ehe ſie dazu kam, ſchob ſich das Schiff ſchon
an den vorgebauten Anlegeſteg, über den hinweg man,
einen Uferweg einſchlagend, auf das Eierhäuschen zu¬
ſchritt. Dieſer Uferweg ſetzte ſich, als man das Garten¬
lokal endlich erreicht hatte, jenſeits desſelben noch eine
gute Strecke fort, und weil die wundervolle Friſche dazu
einlud, beſchloß man, ehe man ſich im „Eierhäuschen“
ſelber niederließ, zuvor noch einen gemeinſchaftlichen
Spaziergang am Ufer hin zu machen. Immer weiter flu߬
aufwärts.
Der Enge des Weges halber ging man zu zweien,
vorauf Woldemar mit Meluſine, dann die Baronin mit
Armgard. Erheblich zurück erſt folgten die beiden älteren
Herren, die ſchon auf dem Dampfſchiff ein politiſches
Geſpräch angeſchnitten hatten. Beide waren liberal, aber
der Umſtand, daß der Baron ein Bayer und unter katho¬
liſchen Anſchauungen aufgewachſen war, ließ doch beſtändig
Unterſchiede hervortreten.
„Ich kann Ihnen nicht zuſtimmen, lieber Graf. Alle
Trümpfe heut, und zwar mehr denn je, ſind in des
Papſtes Hand. Rom iſt ewig und Italien nicht ſo feſt
aufgebaut, als es die Welt glauben machen möchte. Der
Quirinal zieht wieder aus, und der Vatikan zieht wieder
ein. Und was dann?“
„Nichts, lieber Baron. Auch dann nicht, wenn es
wirklich dazu kommen ſollte, was, glaub' ich, ausge¬
ſchloſſen iſt.“
„Sie ſagen das ſo ruhig, und ruhig iſt man nur,
wenn man ſicher iſt. Sind Sie's? Und wenn Sie's ſind,
dürfen Sie's ſein? Ich wiederhole, die letzten Entſcheidungen
liegen immer bei dieſer Papſt- und Rom-Frage.“
„Lagen einmal. Aber damit iſt es gründlich vorbei,
auch in Italien ſelbſt. Die letzten Entſcheidungen, von
denen Sie ſprechen, liegen heutzutage ganz wo anders,
[182] und es ſind bloß ein paar Ihrer Zeitungen, die nicht
müde werden, der Welt das Gegenteil zu verſichern. Alles
bloße Nachklänge. Das moderne Leben räumt erbarmungs¬
los mit all dem Überkommenen auf. Ob es glückt, ein
Nilreich aufzurichten, ob Japan ein England im Stillen
Ozean wird, ob China mit ſeinen vierhundert Millionen
aus dem Schlaf aufwacht und, ſeine Hand erhebend, uns
und der Welt zuruft: „Hier bin ich“, allem vorauf aber,
ob ſich der vierte Stand etabliert und ſtabiliert (denn
darauf läuft doch in ihrem vernünftigen Kern die ganze
Sache hinaus) — das alles fällt ganz anders ins Gewicht
als die Frage „Quirinal oder Vatikan“. Es hat ſich über¬
lebt. Und anſtaunenswert iſt nur das eine, daß es über¬
haupt noch ſo weiter geht. Das iſt der Wunder größtes.“
„Und das ſagen Sie, der Sie zeitweilig den Dingen
ſo nahe geſtanden?“
„Weil ich ihnen ſo nahe geſtanden.“
Auch die beiden voranſchreitenden Paare waren in
lebhaftem Geſpräch.
An dem ſchon in Dämmerung liegenden öſtlichen
Horizont ſtiegen die Fabrikſchornſteine von Spindlersfelde
vor ihnen auf, und die Rauchfahnen zogen in langſamem
Zuge durch die Luft.
„Was iſt das?“ fragte die Baronin, ſich an Wolde¬
mar wendend.
„Das iſt Spindlersfelde.“
„Kenn ich nicht.“
„Doch vielleicht, gnädigſte Frau, wenn Sie hören,
daß in eben dieſem Spindlersfelde der für die weibliche
Welt ſo wichtige Spindler ſeine geheimnisvollen Künſte
treibt. Beſſer noch ſeine verſchwiegenen. Denn unſre
Damen bekennen ſich nicht gern dazu.“
„So, der! Ja, dieſer unſer Wohlthäter, den wir —
Sie haben ganz recht — in unſerm Undank ſo gern unter¬
ſchlagen. Aber dies Unterſchlagen hat doch auch wieder
ſein Verzeihliches. Wir thun jetzt (leider) ſo vieles, was
wir, nach einer alten Anſchauung, eigentlich nicht thun
ſollten. Es iſt, mein' ich, nicht paſſend, auf einem Pferde¬
bahnperron zu ſtehen, zwiſchen einem Schaffner und einer
Kiepenfrau, und es iſt noch weniger paſſend, in einem
Fünfzigpfennigbazar allerhand Einkäufe zu machen und
an der ſich dabei aufdrängenden Frage: ‚Wodurch ermög¬
lichen ſich dieſe Preiſe?‘ ſtill vorbeizugehen. Unſer Freund
in Spindlersfelde da drüben degradiert uns vielleicht
auch durch das, was er ſo hilfreich für uns thut.
Armgard, wie denken Sie darüber?“
„Ganz wie Sie, Baronin.“
„Und Meluſine?“
Dieſe gab kopfſchüttelnd die Frage weiter und drang
darauf, daß die beiden älteren Herren, die mittlerweile
herangekommen waren, den Ausſchlag geben ſollten. Aber
der alte Graf wollte davon nichts wiſſen. „Das ſind
Doktorfragen. Auf derlei Dinge laſſ' ich mich nicht ein.
Ich ſchlage vor, wir machen lieber Kehrt und ſuchen uns
im ‚Eierhäuschen‘ einen hübſchen Platz, von dem aus wir
das Leben auf dem Fluß beobachten und hoffentlich auch
den Sonnenuntergang gut ſehen können.“
Ziemlich um dieſelbe Stunde, wo die Barbyſchen und
Berchtesgadenſchen Herrſchaften ihren Spaziergang auf
Spindlersfelde zu machten, erſchien unſer Freund Mr.
Robinſon, von ſeinem Stallgebäude her, in Front der
Lennéſtraße, ſah erſt gewohnheitsmäßig nach dem Wetter
und ging dann quer durch den Tiergarten auf das Kron¬
prinzenufer zu, wo die Immes ihn bereits erwarteten.
[184]
Frau Imme, die, wie die meiſten kinderloſen Frauen
(und Frauen mit Sappeurbartmännern ſind faſt immer
kinderlos), einen großen Wirtſchafts- und Sauberkeitsſinn
hatte, hatte zu Mr. Robinſons Empfang alles in die
ſchönſte Ordnung gebracht, um ſo mehr, als ſie wußte,
daß ihr Gaſt, als ein verwöhnter Engländer, immer der
Neigung nachgab, alles Deutſche, wenn auch nur an¬
deutungsweiſe, zu bemängeln. Es lag ihr daran, ihn
fühlen zu laſſen, daß man's hier auch verſtehe. So war
denn von ihr nicht bloß eine wundervolle Kaffeeſerviette,
ſondern auch eine ſilberne Zuckerdoſe mit Streußelkuchen¬
tellern links und rechts aufgeſtellt worden. Frau Imme
konnte das alles und noch mehr infolge der bevorzugten
Stellung, die ſie von langer Zeit her bei den Barbys ein¬
nahm, zu denen ſie ſchon als fünfzehnjähriges junges
Ding gekommen und in deren Dienſt ſie bis zu ihrer
Verheiratung geblieben war. Auch jetzt noch hingen beide
Damen an ihr, und mit Hilfe Lizzis, die, ſo diskret ſie
war, doch gerne plauderte, war Frau Imme jederzeit
über alles unterrichtet, was im Vorderhauſe vorging.
Daß der Rittmeiſter ſich für die Damen intereſſierte, wußte
ſie natürlich wie jeder andre, nur nicht — auch darin wie
jeder andre —, für welche.
Ja, für welche?
Das war die große Frage, ſelbſt für Mr. Robinſon,
der regelmäßig, wenn er die Immes ſah, ſich danach er¬
kundigte. Dazu kam es denn auch heute wieder und
zwar ſehr bald nach ſeinem Eintreffen.
Eine große Familientaſſe mit einem in Front eines
Tempels den Bogen ſpannenden Amor war vor ihn
hingeſtellt worden, und als er dem Streußelkuchen (für
den er eine ſo große Vorliebe hatte, daß er regelmäßig
erklärte, ſowas gäb' es in den vereinigten drei König¬
reichen nicht) — als er dem Streußel liebevoll und doch
auch wieder maßvoll zugeſprochen hatte, betrachtete er das
[185] Bild auf der großen Taſſe, zeigte, was bei ſeiner Augen¬
beſchaffenheit etwas Komiſches hatte, ſchelmiſch lächelnd
auf den bogenſpannenden Amor und ſagte: „Hier hinten
ein Tempel und hier vorn ein Lorbeerbuſch. Und hier
this little fellow with his arrow. Ich möchte mir die
Frage geſtatten — Sie ſind eine ſo kluge Frau, Frau
Imme —: wird er den Pfeil fliegen laſſen oder nicht,
und wenn er den Pfeil fliegen läßt, iſt es die Prieſterin,
die hier neben dem Lorbeer ſteht, oder iſt es eine
andre?“
„Ja, Mr. Robinſon,“ ſagte Frau Imme, „darauf
iſt ſchwer zu antworten. Denn erſtens wiſſen wir nicht,
was er überhaupt vorhat, und dann wiſſen wir auch
nicht: wer iſt die Prieſterin? Iſt die Comteſſe die Prieſterin,
oder iſt die Gräfin die Prieſterin? Ich glaube, wer
ſchon verheiratet war, kann wohl eigentlich nicht Prieſterin
ſein.“
„Ach,“ ſagte Imme, in dem ſich der naturwüchſige
Mecklenburger regte, „ſein kann alles. Über ſo was
wächſt Gras. Ich glaube, es is die Gräfin.“
Robinſon nickte. „Glaub' ich auch. And what's the
reason, dear Mrs. Imme? Weil Witib vor Jungfrau
geht. Ich weiß wohl, es iſt immer viel die Rede von
virginity, aber widow iſt mehr als virgin.“
Frau Imme, die nur halb verſtanden hatte, verſtand
doch genug, um zu kichern, was ſie übrigens ſittſam mit
der Bemerkung begleitete, ſie habe ſo was von Mr.
Robinſon nicht geglaubt.
Robinſon nahm es als Huldigung und trat, nachdem
er ſich mit Erlaubnis der „Lady“ ein kurzes Pfeifchen
mit türkiſchem Tabak angeſteckt hatte, an ein Fenſterchen,
in deſſen mit einer kleinen Laubſäge gemachten Blumen¬
kaſten rote Verbenen blühten, und ſagte, während er auf
den Hof mit ſeinen drei Akazienbäumen herunterblickte:
[186] „Wer iſt denn der hübſche Junge da, der da mit ſeinem
hoop ſpielt? Hier ſagen ſie Reifen.“
„Das is ja Hartwigs Rudolf,“ ſagte Frau Imme.
„Ja, der Junge hat viel Chic. Und wie er da mit dem
Reifen ſpielt und die Hedwig immer hinter ihm her, wie¬
wohl ſie doch beinahe ſeine Mutter ſein könnte. Na, ich
freue mich immer, wenn ich ausgelaſſene Menſchen ſehe,
und wenn Hartwig kommt — ich wundere mich bloß,
daß er noch nicht da iſt —, da können Sie ihm ja
ſagen, wie hübſch Sie die verwöhnte kleine Range finden.
Das wird ihn freuen; er iſt furchtbar eitel. Alle Portiers¬
leute ſind eitel. Aber das muß wahr ſein, es iſt ein
reizender Junge.“
Während ſie noch ſo ſprachen, erſchien Hartwig, auf
den Imme, ſkatdurſtig, ſchon ſeit einer Viertelſtunde ge¬
wartet hatte, und keine drei [Minuten] mehr, ſo war auch
Hedwig da, die ſich bis kurz vorher mit ihrem kleinen
Couſin Rudolf in dem Hof unten abgeäſchert hatte. Beide
wurden mit gleicher Herzlichkeit empfangen, Hartwig, weil
nach ſeinem Erſcheinen die Skatpartie beginnen konnte,
Hedwig, weil Frau Imme nun gute Geſellſchaft hatte.
Denn Hedwig konnte wundervoll erzählen und brachte
jedesmal Neuigkeiten mit. Sie mochte vierundzwanzig
ſein, war immer ſehr ſauber gekleidet und von heiter¬
übermütigem Geſichtsausdruck. Dazu krauſes, kaſtanien¬
braunes Haar. Es traf ſich, daß ſie mal wieder außer
Dienſt war.
„Nun, das iſt recht, Hedwig, daß du kommſt,“ ſagte
Frau Imme. „Rudolfen hab' ich eben erſt gefragt, wo
du geblieben wärſt, denn ich habe dich ja mit ihm ſpielen
ſehen; aber ſolch Junge weiß nie was; der denkt bloß
immer an ſich, und ob er ſein Stück Kuchen kriegt. Na,
wenn er kommt, er ſoll's haben; Robinſon ißt immer ſo
wenig, wiewohl er den Streußel ungeheuer gern mag.
Aber ſo ſind die Engländer, ſie ſind nicht ſo zugreifſch,
[187] und dann geniert ſich mein Imme auch, und die Hälfte
bleibt übrig. Na, jedenfalls is es nett, daß du wieder
da biſt. Ich habe dich ja ſeit deinem letzten Dienſt noch
gar nicht ordentlich geſehen. Es war ja wohl 'ne Hof¬
rätin? Na, Hofrätinnen, die kenn' ich. Aber es giebt
auch gute. Wie war er denn?
„Na, mit ihm ging es.“
„Deine krauſen Haare werden wohl wieder ſchuld
ſein. Die können manche nicht vertragen. Und wenn
dann die Frau was merkt, dann is es vorbei.“
„Nein, ſo war es nicht. Er war ein ſehr anſtändiger
Mann. Beinahe zu ſehr.“
„Aber, Kind, wie kannſt du nur ſo was ſagen? Wie
kann einer zu anſtändig ſein?“
„Ja, Frau Imme. Wenn einen einer gar nicht an¬
ſieht, das is einem auch nicht recht.“
„Ach, Hedwig, was du da bloß ſo red'ſt! Und wenn
ich nich wüßte, daß du gar nich ſo biſt ... Aber was
war es denn?“
„Ja, Frau Imme, was ſoll ich ſagen, was es war;
es is ja immer wieder dasſelbe. Die Herrſchaften können
einen nich richtig unterbringen. Oder wollen auch nich.
Immer wieder die Schlafſtelle oder, wie manche hier
ſagen, die Schlafgelegenheit.“
„Aber, Kind, wie denn? Du mußt doch 'ne Ge¬
legenheit zum Schlafen haben.“
„Gewiß, Frau Imme. Und 'ne Gelegenheit, ſo
denkt mancher, is 'ne Gelegenheit. Aber gerade die, die
hat man nich. Man iſt müde zum Umfallen und kann
doch nicht ſchlafen.“
„Verſteh' ich nich.“
„Ja, Frau Imme, das macht, weil Sie von Kindes¬
beinen an immer bei ſo gute Herrſchaften waren, und
mit Lizzi is es jetzt wieder ebenſo. Die hat es auch
gut un is, wie wenn ſie mit dazu gehörte. Meine
[188] Tante Hartwig erzählt mir immer davon. Und einmal
hab' ich es auch ſo gut getroffen. Aber bloß das eine
Mal. Sonſt fehlt eben immer die Schlafgelegenheit.“
Frau Imme lachte.
„Sie lachen darüber, Frau Imme. Das is aber
nich recht, daß Sie lachen. Glauben Sie mir, es is
eigentlich zum Weinen. Und mitunter hab' ich auch ſchon
geweint. Als ich nach Berlin kam, da gab es ja noch
die Hängeböden.“
„Kenn' ich, kenn' ich; das heißt, ich habe davon
gehört.“
„Ja, wenn man davon gehört hat, das is nich viel.
Man muß ſie richtig kennen lernen. Immer ſind ſie in
der Küche, mitunter dicht am Herd oder auch gerade
gegenüber. Und nun ſteigt man auf eine Leiter, und
wenn man müde is, kann man auch 'runter fallen. Aber
meiſtens geht es. Und nun macht man die Thür auf
und ſchiebt ſich in das Loch hinein, ganz ſo wie in einen
Backofen. Das is, was ſie 'ne Schlafgelegenheit nennen.
Und ich kann Ihnen bloß ſagen: auf einem Heuboden is
es beſſer, auch wenn Mäuſe da ſind. Und am ſchlimmſten
is es im Sommer. Draußen ſind dreißig Grad, und
auf dem Herd war den ganzen Tag Feuer; da is es
denn, als ob man auf den Roſt gelegt würde. So war
es, als ich nach Berlin kam. Aber ich glaube, ſie dürfen
jetzt ſo was nich mehr bauen. Polizeiverbot. Ach, Frau
Imme, die Polizei is doch ein rechter Segen. Wenn wir
die Polizei nich hätten (und ſie ſind auch immer ſo artig
gegen einen), ſo hätten wir gar nichts. Mein Onkel
Hartwig, wenn ich ihm ſo erzähle, daß man nicht ſchlafen
kann, der ſagt auch immer: ‚Kenn' ich, kenn' ich; der
Bourgeois thut nichts für die Menſchheit. Und wer
nichts für die Menſchheit thut, der muß abgeſchafft
werden.‘“
„Ja, dein Onkel ſpricht ſo. Und war es denn bei
deinem Hofrat, wo du nu zuletzt warſt, auch ſo?“
„Nein, bei Hofrats war es nicht ſo. Die wohnten
ja auch in einem ganz neuen Hauſe. Hofrats waren
Trockenwohner. Und in dem, was jetzt die neuen Häuſer
ſind, da kommen, glaub' ich, die Hängeböden gar nicht
mehr vor; da haben ſie bloß noch die Badeſtuben.“
„Nu, das is aber doch ein Fortſchritt.“
„Ja, das kann man ſagen; Badeſtube als Badeſtube
iſt ein Fortſchritt oder, wie Onkel Hartwig immer ſagt,
ein Kulturfortſchritt. Er hat meiſtens ſolche Wörter.
Aber Badeſtube als Schlafgelegenheit is kein Fortſchritt.“
„Gott, Kind, ſie werden dich aber doch nich in eine
Badewanne gepackt haben?“
„I bewahre. Das thun ſie ſchon der Badewanne
wegen nich. Da werden ſie ſich hüten. Aber ... Ach,
Frau Imme, ich kann nur immer wieder ſagen, Sie
wiſſen nich Beſcheid; Sie hatten es gut, wie Sie noch
unverheiratet waren, und nu haben Sie's erſt recht gut.
Sie wohnen hier wie in einer kleinen Sommerwohnung,
un daß es ein bißchen nach Pferde riecht, das ſchadet
nich; das Pferd is ein feines und reinliches Tier, und
all ſeine Verrichtungen ſind ſo edel. Man ſagt ja auch:
das edle Pferd. Und außerdem ſoll es ſo geſund ſein,
faſt ſo gut wie Kuhſtall, womit ſie ja die Schwindſucht
kurieren. Und dazu haben Sie hier den Blick auf die
Kugelakazien und drüben auf das Marinepanorama, wo
man ſehen kann, wie alles is, und dahinter haben Sie
den Blick auf die Kunſtausſtellung, wo es ſo furchtbar
zieht, bloß damit man immer friſche Luft hat. Aber bei
Hofrats ... Nein, dieſe Badeſtube!“
„Gott, Hedwig,“ ſagte Frau Imme, „du thuſt ja, wie
wenn es eine Mördergrube oder ein Verbrecherkeller ge¬
weſen wäre.“
„Verbrecherkeller? Ach, Frau Imme, das is ja gar¬
nichts. Ich habe Verbrecherkeller geſehen, natürlich bloß
zufällig. Da trinken ſie Weißbier und ſpielen Sechsund¬
ſechzig. Und in einer Ecke wird was ausbaldowert, aber
davon merkt man nichts.“
„Und die Badeſtube ... warum is ſie dir denn ſo
furchtbar, daß du dich ordentlich ſchudderſt? Der Menſch
muß doch am Ende baden können.“
„Ach was, baden! natürlich. Aber 'ne Badeſtube is
nie 'ne Badeſtube. Wenigſtens hier nicht. Eine Bade¬
ſtube is 'ne Rumpelkammer, wo man alles unterbringt,
alles, wofür man ſonſt keinen Platz hat. Und dazu ge¬
hört auch ein Dienſtmädchen. Meine eiſerne Bettſtelle,
die abends aufgeklappt wurde, ſtand immer neben der
Badewanne, drin alle alten Bier- und Weinflaſchen lagen.
Und nun drippten die Neigen aus. Und in der Ecke
ſtand ein Bettſack, drin die Fräuleins ihre Wäſche hinein
ſtopften, und in der andern Ecke war eine kleine Thür.
Aber davon will ich zu Ihnen nicht ſprechen, weil ich
einen Widerwillen gegen Unanſtändigkeiten habe, weshalb
ſchon meine Mutter immer ſagte: ‚Hedwig, du wirſt noch
Jeſum Chriſtum erkennen lernen.‘ Und ich muß ſagen,
das hat ſich bei Hofrats denn auch erfüllt. Aber fromm
waren ſie weiter nich.“
Während Hedwig noch ſo weiter klagte, hörte man,
daß draußen die Klingel ging, und als Frau Imme
öffnete, ſtand Rudolf auf dem kleinen Flur und ſagte,
daß er Vatern holen ſolle und Hedwigen auch; Mutter
müſſe weg.
„Na,“ ſagte Frau Imme, „dann komm nur, Rudolf,
un iß erſt ein Stück Streußel und beſtell es nachher bei
deinem Vater.“
Bald danach nahm ſie denn auch den Jungen bei
der Hand und führte ihn in das Nebenzimmer, wo die
drei Männer vergnügt an ihrem Skattiſch ſaßen. Ein
[191] großes Spiel war eben gemacht; alles noch in Auf¬
regung.
Robinſon, als er Rudolfen ſah, nickte ihm zu und
ſagte zu Imme: „Das is ja der hübſche Junge, den ich
vorhin auf dem Hof geſehen habe mit ſeinem hoop; —
nice boy.“
„Ja,“ ſagte Imme, „das is unſrem Freund Hartwig
ſeiner.“ Hartwig ſelber aber rief ſeinen Jungen heran
und ſagte: „Na, Rudolf, was giebt's? Du willſt mich
holen. Du ſollſt aber auch noch 'ne Freude haben. Kuck
dir mal den Herrn da an, der dich ſo freundlich anſieht.
Das is Robinſon.“
„Haha.“
„Ja, Junge, warum lachſt du? Glaubſt du's nich,
wenn ich dir ſage, das is Robinſon?“
„I bewahre, Vater. Robinſon, den kenn' ich. Ro¬
binſon hat 'nen Sonnenſchirm und ein Lama. Un der
is auch ſchon lange dod.“
Fünfzehntes Kapitel.
Unſere Landpartieler waren im Angeſicht von Spindlers¬
felde nach dem Eierhäuschen zurückgekehrt und hatten ſich
hier an zwei dicht am Ufer zuſammengerückten Tiſchen
niedergelaſſen, eine Laube von Baumkronen über ſich.
Sperlinge hüpften umher und warteten auf ihre Zeit.
Gleich danach erſchien auch ein Kellner, um die Be¬
ſtellungen entgegen zu nehmen. Es entſtand dabei die
herkömmliche Verlegenheitspauſe; niemand wußte was zu
ſagen, bis die Baronin auf den Stamm einer ihr gegen¬
überſtehenden Ulme wies, drauf „Wiener Würſtel“ und
daneben in noch dickeren Buchſtaben das gefällige Wort
„Löwenbräu“ ſtand. In kürzeſter Friſt erſchien denn auch
der Kellner wieder, und die Baronin hob ihr Seidel und
ließ das Eierhäuschen und die Spree leben, zugleich ver¬
ſichernd, „daß man ein echtes Münchener überhaupt nur
noch in Berlin tränke.“ Der alte Berchtesgaden wollte
jedoch nichts davon wiſſen und drang in ſeine Frau, lieber
mehr nach links zu rücken, um den Sonnenuntergang
beſſer beobachten zu können; „der ſei freilich in Berlin
ebenſo gut wie wo anders.“ Die Baronin hielt aber
aus und rührte ſich nicht. „Was Sonnenuntergang! den
ſeh' ich jeden Abend. Ich ſitze hier ſehr gut und freue
mich ſchon auf die Lichter.“
Und nicht lange mehr, ſo waren dieſe Lichter auch
wirklich da. Nicht nur das ganze Lokal erhellte ſich,
[193] ſondern auch auf dem drüben am andern Ufer ſich hin¬
ziehenden Eiſenbahndamme zeigten ſich allmählich die ver¬
ſchiedenfarbigen Signale, während mitten auf der Spree,
wo Schleppdampfer die Kähne zogen, ein verblaktes Rot
aus den Kajütenfenſtern hervorglühte. Dabei wurde es
kühl, und die Damen wickelten ſich in ihre Plaids und
Mäntel.
Auch die Herren fröſtelten ein wenig, und ſo trat
denn der erſichtlich etwas planende Woldemar nach kurzem
Aufundabſchreiten an das in der Nähe befindliche Büffett
heran, um da zur Herſtellung einer beſſeren Innentempe¬
ratur das Nötige zu veranlaſſen. Und ſiehe da, nicht lange
mehr, ſo ſtand auch ſchon ein großes Tablett mit Gläſern
und Flaſchen vor ihnen und dazwiſchen ein Deckelkrug,
aus dem, als man den Deckel aufklappte, der heiße
Wraſen emporſchlug. Die Baronin, in ſolchen Dingen
die Scharfblickendſte, war ſofort orientiert und ſagte:
„Lieber Stechlin, ich beglückwünſche Sie. Das war eine
große Idee.“
„Ja, meine Damen, ich glaubte, daß etwas geſchehen
müſſe, ſonſt haben wir morgen ſamt und ſonders einen
akuten Rheumatismus. Und zurück müſſen wir doch auch.
Auf dem Schiffe, wo ſolche Hilfsmittel, glaub' ich, fehlen,
ſind wir allen Unbilden der Elemente preisgegeben.“
„Und ſie konnten wirklich nicht beſſer wählen,“ unter¬
brach Meluſine. „Schwediſcher Punſch, für den ich ein
liking habe. Wie für Schweden überhaupt. Da Doktor
Wrſchowitz nicht da iſt, können wir uns ungeſtraft einem
gewiſſen Maß von Skandinavismus überlaſſen.“
„Am liebſten ohne alles Maß,“ ſagte Woldemar,
„ſo ſkandinaviſch bin ich. Ich ziehe die Skandinaven den
ſonſt ‚Meiſtbegünſtigten‘ unter den Nationen immer noch
vor. Alle Länder erweitern übrigens ihre Spezialgebiete.
Früher hatte Schweden nur zweierlei: Mut und Eiſen,
von denen man ſagen muß, daß ſie gut zuſammen paſſen.
Fontane, Der Stechlin. 13[194] Dann kamen die ‚Säkerhets Tändſtickors‘, und nun haben
wir den ſchwediſchen Punſch, den ich in dieſem Augen¬
blick unbedingt am höchſten ſtelle. Ihr Wohl, meine
Damen.“
„Und das Ihre,“ ſagte Meluſine, „denn Sie ſind
doch der Schöpfer dieſes glücklichen Moments. Aber
wiſſen Sie, lieber Stechlin, daß ich in Ihrer Aufzählung
ſchwediſcher Herrlichkeiten etwas vermißt habe. Die Schweden
haben noch eins — oder hatten es wenigſtens. Und das
war die ſchwediſche Nachtigall.“
„Ja, die hab' ich vergeſſen. Es fällt vor meine Zeit.“
„Ich müßte,“ lachte die Gräfin, „vielleicht auch ſagen:
es fällt vor meine Zeit. Aber ich darf doch andrer¬
ſeits nicht verſchweigen, die Lind noch leibhaftig gekannt
zu haben. Freilich nicht mehr ſo eigentlich als ſchwediſche
Nachtigall. Und überhaupt unter anderm Namen.“
„Ja, ich erinnere mich,“ ſagte Woldemar, „ſie hatte
ſich verheiratet. Wie hieß ſie doch?“
„Goldſchmidt, — ein Name, den man ſchon um ‚Gold¬
ſchmidts Töchterlein‘ willen gelten laſſen kann. Aber an
Jenny Lind reicht er allerdings nicht heran.“
„Gewiß nicht. Und ſie ſagten, Frau Gräfin, Sie
hätten ſie noch perſönlich gekannt?“
„Ja, gekannt und auch gehört. Sie ſang damals,
wenn auch nicht mehr öffentlich, ſo doch immer noch in
ihrem häuslichen Salon. Dieſe Bekanntſchaft zählt zu
meinen liebſten und ſtolzeſten Erinnerungen. Ich war
noch ein halbes Kind, aber trotzdem doch mit eingeladen,
was mir allein ſchon etwas bedeutete. Dazu die Fahrt
von Hyde-Park bis in die Villa hinaus. Ich weiß noch
deutlich, ich trug ein weißes Kleid und einen hellblauen
Kaſchmirumhang und das Haar ganz aufgelöſt. Die Lind
beobachtete mich, und ich ſah, daß ich ihr gefiel. Wenn
man Eindruck macht, das behält man. Und nun gar
mit vierzehn!“
„Die Lind,“ warf die Baronin etwas proſaiſch ein,
„ſoll ihrerſeits als Kind ſehr häßlich geweſen ſein.“
„Ich hätte das Gegenteil vermutet,“ bemerkte Wol¬
demar.
„Und auf welche Veranlaſſung hin, lieber Stechlin?“
„Weil ich ein Bild von ihr kenne. Wir haben es,
wie bekannt, ſeit einiger Zeit von einem unſrer beſten Maler
auf unſrer Nationalgalerie. Aber lange bevor ich es da
ſah, kannt' ich es ſchon en miniature, und zwar aus einer
im Beſitz meines Freundes Lorenzen befindlichen Aquarelle.
Dieſe Kopie hängt über ſeinem Sofa, dicht unter einer
Rubensſchen Kreuzabnahme. Wenn man will, eine
etwas ſonderbare Zuſammenſtellung.“
„Und das alles in Ihrer Stechliner Pfarre!“ ſagte
Meluſine. „Wiſſen Sie, Rittmeiſter, daß ich die That¬
ſache, daß ſo was überhaupt in einem kleinen Dorfe vor¬
kommen kann, Ihrem berühmten See beinah' gleichſtelle?
Unſre ſchwediſche Nachtigall in Ihrem „Ruppiner Winkel“,
wie Sie ſelbſt beſtändig ſich auszudrücken lieben. Die Lind!
Und wie kam Ihr Paſtor dazu?“
„Die Lind war, glaub' ich, ſeine erſte Liebe. Sehr
wahrſcheinlich auch ſeine letzte. Lorenzen ſaß damals
noch auf der Schulbank und ſchlug ſich mit Stundengeben
durch. Aber er hörte die Diva trotzdem jeden Abend und
wußte ſich auch, trotz beſcheidenſter Mittel, das Bildchen
zu verſchaffen. Faſt grenzt es ans Wunderbare. Freilich
verlaufen die Dinge meiſt ſo. Wär' er reich geweſen, ſo
hätt' er ſein Geld anderweitig verthan und die Lind viel¬
leicht nie gehört und geſehen. Nur die Armen bringen
die Mittel auf für das, was jenſeits des Gewöhnlichen
liegt; aus Begeiſterung und Liebe fließt alles. Und es
iſt etwas ſehr Schönes, daß es ſo iſt in unſerm Leben.
Vielleicht das Schönſte.“
„Das will ich meinen,“ ſagte die Gräfin. „Und ich
dank' es Ihnen, lieber Stechlin, daß Sie das geſagt haben.
13*[196] Das war ein gutes Wort, das ich Ihnen nicht vergeſſen
will. Und dieſer Lorenzen war Ihr Lehrer und Erzieher?“
„Ja, mein Lehrer und Erzieher. Zugleich mein
Freund und Berater. Der, den ich über alles liebe.“
„Gehen Sie darin nicht zu weit?“ lachte Meluſine.
„Vielleicht, Gräfin, oder ſag' ich lieber: gewiß. Und
ich hätte deſſen eingedenk ſein ſollen, gerade heut und
gerade hier. Aber ſo viel bleibt: ich liebe ihn ſehr, weil
ich ihm alles verdanke, was ich bin, und weil er reinen
Herzens iſt.“
„Reinen Herzens,“ ſagte Meluſine. „Das iſt viel.
Und Sie ſind deſſen ſicher?“
„Ganz ſicher.“
„Und von dieſem Unikum erzählen Sie uns erſt
heute! Da waren Sie neulich mit dem guten Wrſchowitz
bei uns und haben uns allerhand Schreckliches von Ihrem
miſogynen Prinzen wiſſen laſſen. Und während Sie den
in den Vordergrund ſtellen, halten Sie dieſen Paſtor
Lorenzen ganz gemütlich in Reſerve. Wie kann man ſo
grauſam ſein und mit ſeinen Berichten und Redekünſten
ſo launenhaft operieren! Aber holen Sie wenigſtens nach,
was Sie verſäumt haben. Die Fragen drängen ſich ordent¬
lich. Wie kam Ihr Vater auf den Einfall, Ihnen einen
ſolchen Erzieher zu geben? Und wie kam ein Mann wie
dieſer Lorenzen in dieſe Gegenden? Und wie kam er
überhaupt in dieſe Welt? Es iſt ſo ſelten, ſo ſelten.“
Armgard und die Baronin nickten.
„Ich bekenne, mich quält die Neugier, mehr von ihm
zu hören,“ fuhr Meluſine fort. „Und er iſt unverheiratet?
Schon das allein iſt immer ein gutes Zeichen. Durch¬
ſchnittsmenſchen glauben ſich ſo ſchnell wie möglich ver¬
ewigen zu müſſen, damit die Herrlichkeit nicht ausſtirbt.
Ihr Lorenzen iſt eben in allem, wie mir ſcheint, ein Aus¬
nahmemenſch. Alſo beginnen.“
„Ich bin dazu beſten Willens, Frau Gräfin. Aber
[197] es iſt zu ſpät dazu, denn das helle Licht, das Sie da
ſehen, das iſt bereits unſer Dampfer. Wir haben keine
Wahl mehr, wir müſſen abbrechen, wenn wir nicht im
Eierhäuschen ein Nachtquartier nehmen wollen. Unter¬
wegs iſt übrigens Lorenzen ein wundervolles Thema,
vorausgeſetzt, daß uns der Anblick der Liebesinſel nicht
wieder auf andre Dinge bringt. Aber hören Sie ...
der Dampfer läutet ſchon ... wir müſſen eilen. Bis
an die Anlegeſtelle ſind noch mindeſtens drei Minuten!“
Und nun war man glücklich auf dem Schiff, auf dem
Woldemar und die Damen ihre ſchon auf der Hinfahrt
innegehabten Plätze ſofort wieder einnahmen. Nur die
beiden in ihre Plaids gewickelten alten Herren ſchritten
auf Deck auf und ab und ſahen, wenn ſie vorn am Bug¬
ſpriet eine kurze Raſt machten, auf die vielen hundert
Lichter, die ſich von beiden Ufern her im Fluß ſpiegelten.
Unten im Maſchinenraum hörte man das Klappern und
Stampfen, während die Schiffsſchraube das Waſſer nach
hinten ſchleuderte, daß es in einem weißen Schaumſtreifen
dem Schiffe folgte. Sonſt war alles ſtill, ſo ſtill, daß
die Damen ihr Geſpräch unterbrachen. „Armgard, du
biſt ſo ſchweigſam,“ ſagte Meluſine, „finden Sie nicht
auch, lieber Stechlin? Meine Schweſter hat noch keine
zehn Worte geſprochen.“
„Ich glaube, Gräfin, wir laſſen die Comteſſe. Manchem
kleidet es zu ſprechen, und manchem kleidet es zu ſchweigen.
Jedes Beiſammenſein braucht einen Schweiger.“
„Ich werde Nutzen aus dieſer Lehre ziehen.“
„Ich glaub' es nicht, Gräfin, und vor allem wünſch'
ich es nicht. Wer könnt' es wünſchen?“
Sie drohte ihm mit dem[ ]Finger. Dann ſchwieg man
wieder und ſah auf die Landſchaft, die da, wo der am
[198] Ufer hinlaufende Straßenzug breite Lücken aufwies, in
tiefem Dunkel lag. Urplötzlich aber ſtieg gerad aus dem
Dunkel heraus ein Lichtſtreifen hoch in den Himmel und
zerſtob da, wobei rote und blaue Leuchtkugeln langſam
zur Erde niederfielen.
„Wie ſchön,“ ſagte Meluſine. „Das iſt mehr, als
wir erwarten durften; Ende gut, alles gut, — nun haben
wir auch noch ein Feuerwerk. Wo mag es ſein? Welche
Dörfer liegen da hinüber? Sie ſind ja ſo gut wie ein
Generalſtäbler, lieber Stechlin, Sie müſſen es wiſſen. Ich
vermute Friedrichsfelde. Reizendes Dorf und reizendes
Schloß. Ich war einmal da; die Dame des Hauſes iſt
eine Schweſter der Frau von Hülſen. Iſt es Friedrichs¬
felde?“
„Vielleicht, gnädigſte Gräfin. Aber doch nicht wahr¬
ſcheinlich, Friedrichsfelde gehört nicht in die Reihe der
Vororte, wo Feuerwerke ſozuſagen auf dem Programm
ſtehen. Ich denke, wir laſſen es im Ungewiſſen und
freuen uns der Sache ſelbſt. Sehen Sie, jetzt beginnt
es erſt recht eigentlich. Die Rakete, die wir da vorhin
geſehen haben, das war nur Vorſpiel. Jetzt haben wir
erſt das Stück. Es iſt zu weit ab, ſonſt würden wir
das Knattern hören und die Kanonenſchläge. Wahr¬
ſcheinlich iſt es Sedan oder Düppel oder der Übergang
nach Alſen. Übrigens iſt die Pyrotechnik eine profunde
Wiſſenſchaft geworden.“
„Und es ſoll auch Perſonen geben, die ganz dafür
leben und ihr Vermögen hinopfern wie früher die Hol¬
länder für die Tulpen. Tulpen wäre nun freilich nicht
mein Geſchmack. Aber Feuerwerk!“
„Ja, unbedingt. Und nur ſchade, daß alle die, die
damit zu thun haben, über kurz oder lang in die Luft
fliegen.“
„Das iſt fatal. Aber es ſteigert andrerſeits doch auch
wieder den Reiz. Sonderbar, gefahrloſe Berufe, ſolche,
[199] die ſozuſagen eine Zipfelmütze tragen, ſind mir von jeher
ein Greuel geweſen. Intereſſe hat doch immer nur das
va banque: Torpedoboote, Tunnel unter dem Meere,
Luftballons. Ich denke mir, das Nächſte was wir er¬
leben, ſind Luftſchifferſchlachten. Wenn dann ſo eine
Gondel die andre entert. Ich kann mich in ſolche Vor¬
ſtellungen geradezu verlieben.“
„Ja, liebe Meluſine, das ſeh' ich,“ unterbrach hier
die Baronin. „Sie verlieben ſich in ſolche Vorſtellungen
und vergeſſen darüber die Wirklichkeiten und ſogar unſer
Programm. Ich muß angeſichts dieſer doch erſt kommenden
Luftſchifferſchlachten ganz ergebenſt daran erinnern, daß
für heute noch wer anders in der Luft ſchwebt und
zwar Paſtor Lorenzen. Von dem ſollte die Rede ſein.
Freilich, der iſt kein Pyrotechniker.“
„Nein,“ lachte Woldemar, „das iſt er nicht. Aber
als einen Aëronauten kann ich ihn Ihnen beinahe vor¬
ſtellen. Er iſt ſo recht ein Excelſior-, ein Aufſteigemenſch,
einer aus der wirklichen Oberſphäre, genau von daher, wo
alles Hohe zu Haus iſt, die Hoffnung und ſogar die Liebe.“
„Ja,“ lachte die Baronin, „die Hoffnung und ſogar
die Liebe! Wo bleibt aber das Dritte? Da müſſen's zu
uns kommen. Wir haben noch das Dritte; das heißt
alſo wir wiſſen auch, was wir glauben ſollen.“
„Ja, ſollen.“
„Sollen, gewiß. Sollen, das iſt die Hauptſache. Wenn
man weiß, was man ſoll, ſo find't ſich's ſchon. Aber wo das
Sollen fehlt, da fehlt auch das Wollen. Es iſt halt a
Glück, daß wir Rom haben und den heiligen Vater.“
„Ach,“ ſagte Meluſine, „wer's Ihnen glaubt, Baronin!
Aber laſſen wir ſo heikle Fragen und hören wir lieber
von dem, den ich — ich bin beſchämt darüber — in ſo
wenig verbindlicher Weiſe vergeſſen konnte, von unſerm
Wundermann mit der Studentenliebe, von dem Säulen¬
heiligen, der reinen Herzens iſt, und vor allem von dem
[200] Schöpfer und geiſtigen Nährvater unſers Freundes Stechlin.
Eh bien, was iſt es mit ihm? ‚An ihren Früchten ſollt
ihr ſie erkennen,‘ — das könnt' uns beinahe genügen.
Aber ich bin doch für ein Weiteres. Und ſo denn atten¬
tion au jeu. Unſer Freund Stechlin hat das Wort.“
„Ja, unſer Freund Stechlin hat das Wort,“ wieder¬
holte Woldemar, „ſo ſagen Sie gütigſt, Frau Gräfin.
Aber dem nachkommen iſt nicht ſo leicht. Vorhin, da war
ich im Zuge. Jetzt wieder damit anfangen, das hat ſeine
Schwierigkeiten. Und dann erwarten die Damen immer
eine Liebesgeſchichte, ſelbſt wenn es ſich um einen Mann
handelt, den ich, was dieſe Dinge betrifft, ſo wenig ver¬
ſprechend eingeführt habe. Sie gehen alſo, wie heute
ſchon mehrfach (ich erinnere nur an das Eierhäuschen),
einer grauſamen Enttäuſchung entgegen.“
„Keine Ausflüchte!“
„Nun, ſo ſei's denn. Ich muß es aber auf einem
Umwege verſuchen und Ihnen bei der Gelegenheit als
Nächſtes ſchildern, wie meine letzte Begegnung mit Lorenzen
verlief. Er war, als ich bei ihm eintrat, in erſicht¬
lich großer Erregung und zwar über ein Büchelchen, das
er in Händen hielt.“
„Und ich will raten, was es war,“ unterbrach Meluſine.
„Nun?“
„Ein Buch von Tolſtoj. Etwas mit viel Opfer und
Entſagung. Anpreiſung von Asceſe.“
„Sie ſind auf dem richtigen Wege, Gräfin, nur nicht
geographiſch. Es handelt ſich nämlich nicht öſtlich um
einen Ruſſen, ſondern weſtlich um einen Portugieſen.“
„Um einen Portugieſen,“ lachte die Baronin. „O,
ich kenne welche. Sie ſind alle ſo klein und gelblich.
Und einer fand einen Seeweg. Freilich ſchon lange her.
Iſt es nicht ſo?“
„Gewiß, Frau Baronin, es iſt ſo. Nur der, um den
[201] es ſich hier handelt, das iſt keiner mit einem Seeweg,
ſondern bloß ein Dichter.“
„Ach, deſſen erinnere ich mich auch, ja ich habe ſo¬
gar ſeinen Namen auf der Zunge. Mit einem großen C
fängt er an. Aber Calderon iſt es nicht.“
„Nein, Calderon iſt es nicht; es deckt ſich da manches,
auch ſchon rein landkartlich, nicht mit dem, um den ſich's
hier handelt. Und iſt überhaupt kein alter Dichter,
ſondern ein neuer. Und heißt Joao de Deus.“
„Joao de Deus,“ wiederholte die Gräfin. „Schon
der Name. Sonderbar. Und was war es mit dem?“
„Ja, was war es mit dem? Dieſelbe Frage that
ich auch, und ich habe nicht vergeſſen, was Lorenzen mir
antwortete: ‚Dieſer Joao de Deus,‘ ſo etwa waren ſeine
Worte, ‚war genau das, was ich wohl ſein möchte, wo¬
nach ich ſuche, ſeit ich zu leben, wirklich zu leben an¬
gefangen, und wovon es beſtändig draußen in der Welt
heißt, es gäbe dergleichen nicht mehr. Aber es giebt der¬
gleichen noch, es muß dergleichen geben oder doch wieder
geben. Unſre ganze Geſellſchaft (und nun gar erſt das,
was ſich im beſonderen ſo nennt) iſt aufgebaut auf dem
Ich. Das iſt ihr Fluch, und daran muß ſie zu Grunde
gehen. Die zehn Gebote, das war der Alte Bund; der
neue Bund aber hat ein andres, ein einziges Gebot, und
das klingt aus in: „Und du hätteſt der Liebe nicht ...“.
„Ja, ſo ſprach Lorenzen“, fuhr Woldemar nach
einer Pauſe fort „und ſprach auch noch andres, bis
ich ihn unterbrach und ihm zurief: ‚Aber, Lorenzen, das
ſind ja bloß Allgemeinheiten. Sie wollten mir Perſön¬
liches von Joao de Deus erzählen. Was iſt es mit dem?
Wer war er? Lebt er? Oder iſt er tot?‘
„‚Er iſt tot, aber ſeit kurzem erſt, und von ſeinem
Tode ſpricht das kleine Heft hier. Höre.“ Und nun begann
er zu leſen. Das aber was er las, das lautete etwa
ſo: „ ... Und als er nun tot war, der Joao
[202] de Deus, da gab es eine Landestrauer, und
alle Schulen in der Hauptſtadt waren geſchloſſen, und die
Miniſter und die Leute vom Hof und die Gelehrten und
die Handwerker, alles folgte dem Sarge dicht gedrängt,
und die Fabrikarbeiterinnen hoben ſchluchzend ihre Kinder
in die Höh' und zeigten auf den Toten und ſagten: Un
Santo, un Santo. Und ſie thaten ſo und ſagten ſo, weil
er für die Armen gelebt hatte und nicht für ſich.‘““
„Das iſt ſchön,“ ſagte Meluſine.
„Ja, das iſt ſchön,“ wiederholte Woldemar, „und ich
darf hinzuſetzen, in dieſer Geſchichte haben Sie nicht bloß
den Joao de Deus, ſondern auch meinen Freund Lorenzen.
Er iſt vielleicht nicht ganz wie ſein Ideal. Aber Liebe
giebt Ebenbürtigkeit.“
„Und ſo ſchlag' ich denn vor,“ ſagte die Baronin,
„daß wir den mit dem C, deſſen Name mir übrigens
noch einfallen wird, vorläufig abſetzen und ſtatt ſeiner
den neuen mit dem D leben laſſen. Und natürlich unſern
Lorenzen dazu.“
„Ja, leben laſſen,“ lachte Woldemar. „Aber womit?
worin? Les jours de fête ...“ und er wies auf das
Eierhäuschen zurück.
„In dieſer Notlage wollen wir uns helfen, ſo gut
es geht, und uns ſtatt andrer Beſchwörung einfach die
Hände reichen, ſelbſtverſtändlich über Kreuz; hier: erſt
Stechlin und Armgard und dann Meluſine und ich.“
Und wirklich, ſie reichten ſich in heiterer Feierlichkeit
die Hände.
Gleich danach aber traten die beiden alten Herren
an die Gruppe heran, und der Baron ſagte: „Das iſt ja
wie Rütli.“
„Mehr, mehr. Bah, Freiheit! Was iſt Freiheit
gegen Liebe!“
„So, hat's denn eine Verlobung gegeben?“
„Nein ... noch nicht,“ lachte Meluſine.
Wahl in Rheinsberg-Wutz.
[[204]][[205]]Sechzehntes Kapitel.
Der andre Morgen rief Woldemar zeitig zum Dienſt.
Als er um neun Uhr auf ſein Zimmer zurückkehrte, fand
er auf dem Frühſtückstiſch Zeitungen und Briefe. Da¬
runter war einer mit einem ziemlich großen Siegel, der
Lack ſchlecht und der Brief überhaupt von ſehr unmodiſcher
Erſcheinung, ein bloß zuſammengelegter Quartbogen. Wol¬
demar, nach Poſtſtempel und Handſchrift ſehr wohl wiſſend,
woher und von wem der Brief kam, ſchob ihn, während
Fritz den Thee brachte, beiſeite, und erſt als er eine Taſſe
genommen und länger als nötig dabei verweilt hatte,
griff er wieder nach dem Brief und drehte ihn zwiſchen
Daumen und Zeigefinger. „Ich hätte mir, nach dem
geſtrigen Abend, heute früh was andres gewünſcht, als
gerade dieſen Brief.“ Und während er das ſo vor ſich
hin ſprach, ſtanden ihm, er mochte wollen oder nicht, die
letzten Wutzer Augenblicke wieder vor der Seele. Die
Tante hatte, kurz bevor er das Kloſter verließ, noch ein¬
mal vertraulich ſeine Hand genommen und ihm bei der
Gelegenheit ausgeſprochen, was ſie ſeit lange bedrückte.
„Das Junggeſellenleben, Woldemar, taugt nichts.
Dein Vater war auch ſchon zu alt, als er ſich ver¬
heiratete. Ich will nicht in deine Geheimniſſe ein¬
dringen, aber ich möchte doch fragen dürfen: wie ſtehſt
du dazu?“
„Nun, ein Anfang iſt gemacht. Aber doch erſt obenhin.“
„Berlinerin?“
„Ja und nein. Die junge Dame lebt ſeit einer Reihe
von Jahren in Berlin und liebt unſre Stadt über Er¬
warten. Inſoweit iſt ſie Berlinerin. Aber eigentlich iſt
ſie doch keine; ſie wurde drüben in London geboren, und
ihre Mutter war eine Schweizerin.“
„Um Gottes willen!“
„Ich glaube, liebe Tante, du machſt dir falſche Vor¬
ſtellungen von einer Schweizerin. Du denkſt ſie dir auf
einer Alm und mit einem Milchkübel.“
„Ich denke ſie mir gar nicht, Woldemar. Ich weiß
nur, daß es ein mildes Land iſt.“
„Ein freies Land, liebe Tante.“
„Ja, das kennt man. Und wenn du das Spiel
noch einigermaßen in der Hand haſt, ſo beſchwör' ich
dich ...“
An dieſer Stelle war, wie ſchon vorher durch Fix,
abermals (weil eine Störung kam,) das Geſpräch mit der
Tante auf andre Dinge hingeleitet worden, und nun hielt
er ihren Brief in Händen und zögerte, das Siegel zu
brechen. „Ich weiß, was drin ſteht, und ängſtige mich
doch beinahe. Wenn es nicht Kämpfe giebt, ſo giebt es
wenigſtens Verſtimmungen. Und die ſind mir womöglich
noch fataler ... Aber was hilft es!“
Und nun brach er den Brief auf und las:
„Ich nehme an, mein lieber Woldemar, daß du
meine letzten Worte noch in Erinnerung haſt. Sie liefen
auf den Rat und die Bitte hinaus: gieb auch in dieſer
Frage die Heimat nicht auf, halte dich, wenn es ſein
kann, an das Nächſte. Schon unſre Provinzen ſind ſo
ſehr verſchieden. Ich ſehe dich über ſolche Worte lächeln,
aber ich bleibe doch dabei. Was ich Adel nenne, das
giebt es nur noch in unſrer Mark und in unſrer alten
Nachbar- und Schweſterprovinz, ja, da vielleicht noch
[207] reiner als bei uns. Ich will nicht ausführen, wie's bei
ſchärferem Zuſehen auf dem adligen Geſamtgebiete ſteht,
aber doch wenigſtens ein paar Andeutungen will ich
machen. Ich habe ſie von allen Arten geſehen. Da ſind
zum Beiſpiel die rheiniſchen jungen Damen, alſo die von
Köln und Aachen; nun ja, die mögen ganz gut ſein,
aber ſie ſind katholiſch, und wenn ſie nicht katholiſch ſind,
dann ſind ſie was andres, wo der Vater erſt geadelt
wurde. Neben den rheiniſchen haben wir dann die weſt¬
fäliſchen. Über die ließe ſich reden. Aber Schleſien. Die
ſchleſiſchen Herrſchaften, die ſich mitunter auch Magnaten
nennen, ſind alle ſo gut wie polniſch und leben von Jeu
und haben die hübſcheſten Erzieherinnen; immer ganz
jung, da macht es ſich am leichteſten. Und dann ſind da
noch weiterhin die preußiſchen, das heißt die oſtpreußiſchen,
wo ſchon alles aufhört. Nun, die kenn' ich, die ſind
ganz wie ihre Litauer Füllen und ſchlagen aus und be¬
knabbern alles. Und je reicher ſie ſind, deſto ſchlimmer.
Und nun wirſt du fragen, warum ich gegen andre ſo
ſtreng und ſo ſehr für unſre Mark bin, ja ſpeziell für
unſre Mittelmark. Deshalb, mein lieber Woldemar,
weil wir in unſrer Mittelmark nicht ſo bloß äußerlich
in der Mitte liegen, ſondern weil wir auch in allem die
rechte Mitte haben und halten. Ich habe mal gehört,
unſer märkiſches Land ſei das Land, drin es nie Heilige
gegeben, drin man aber auch keine Ketzer verbrannt habe.
Sieh, das iſt das, worauf es ankommt, Mittelzuſtand,
— darauf baut ſich das Glück auf. Und dann haben
wir hier noch zweierlei: in unſerer Bevölkerung die reine
Lehre und in unſerm Adel das reine Blut. Die, wo
das nicht zutrifft, die kennt man. Einige meinen freilich,
das, was ſie das ‚Geiſtige‘ nennen, das litte darunter.
Das iſt aber alles Thorheit. Und wenn es litte (es
leidet aber nicht), ſo ſchadet das gar nichts. Wenn das
Herz geſund iſt, iſt der Kopf nie ganz ſchlecht. Auf
[208] dieſen Satz kannſt du dich verlaſſen. Und ſo bleibe denn,
wenn du ſuchſt, in unſrer Mark und vergiß nie, daß wir
das ſind, was man ſo ‚brandenburgiſche Geſchichte‘ nennt.
Am eindringlichſten aber laß dir unſre Rheinsberger
Gegend empfohlen ſein, von der mir ſelbſt Koſeleger —
trotzdem ſeine Feinde behaupten, er betrachte ſich hier
bloß wie in Verbannung und ſehne ſich fort nach einer
Berliner Domſtelle — von der mir ſelbſt Koſeleger ſagte:
‚Wenn man ſich die preußiſche Geſchichte genau anſieht,
ſo findet man immer, daß ſich alles auf unſre alte, liebe
Grafſchaft zurückführen läßt; da liegen die Wurzeln
unſrer Kraft.‘ Und ſo ſchließe ich denn mit der Bitte:
heirate heimiſch und heirate lutheriſch. Und nicht nach
Geld (Geld erniedrigt) und halte dich dabei verſichert der
Liebe deiner dich herzlich liebenden Tante und Patin
Adelheid von St.“
Woldemar lachte. „Heirate heimiſch und heirate
lutheriſch — das hör' ich nun ſchon ſeit Jahren. Und
auch das dritte höre ich immer wieder: ‚Geld erniedrigt‘.
Aber das kenn' ich. Wenn's nur recht viel iſt, kann es
ſchließlich auch eine Chineſin ſein. In der Mark iſt alles
Geldfrage. Geld — weil keins da iſt — ſpricht Perſon
und Sache heilig und, was noch mehr ſagen will, be¬
ſchwichtigt zuletzt auch den Eigenſinn einer alten Tante.“
Während er lachend ſo vor ſich hin ſprach, überflog
er noch einmal den Brief und ſah jetzt, daß eine Nach¬
ſchrift an den Rand der vierten Seite gekritzelt war.
„Eben war Katzler hier, der mir von der am Sonn¬
abend in unſerm Kreiſe ſtattfindenden Nachwahl erzählte.
Dein Vater iſt aufgeſtellt worden und hat auch ange¬
nommen. Er bleibt doch immer der Alte. Gewiß wird
er ſich einbilden, ein Opfer zu bringen, — er litt von
Jugend auf an ſolchen Einbildungen. Aber was ihm
ein Opfer bedünkte, waren, bei Lichte beſehen, immer
bloß Eitelkeiten. Deine A. von St.“
Siebzehntes Kapitel.
Es war ſo, wie die Tante geſchrieben: Dubslav
hatte ſich als konſervativen Kandidaten aufſtellen laſſen,
und wenn für Woldemar noch Zweifel darüber geweſen
wären, ſo hätten einige am Tage darauf von Lorenzen
eintreffende Zeilen dieſe Zweifel beſeitigt. Es hieß in
Lorenzens Brief:
„Seit deinem letzten Beſuch hat ſich hier allerlei
Großes zugetragen. Noch am ſelben Abend erſchienen
Gundermann und Koſeleger und drangen in deinen Vater,
zu kandidieren. Er lehnte zunächſt natürlich ab; er ſei
weltfremd und verſtehe nichts davon. Aber damit kam
er nicht weit. Koſeleger, der — was ihm auch ſpäter
noch von Nutzen ſein wird — immer ein paar Anekdoten
auf der Pfanne hat, erzählte ihm ſofort, daß vor
Jahren ſchon, als ein von Bismarck zum Finanz¬
miniſter Auserſehener ſich in gleicher Weiſe mit einem
,Ich verſtehe nichts davon‘, aus der Affaire ziehen
wollte, der bismarckiſch-prompten Antwort begegnet ſei:
,Darum wähle ich Sie ja gerade, mein Lieber,‘ — eine
Geſchichte, der dein Vater natürlich nicht widerſtehen
konnte. Kurzum, er hat eingewilligt. Von Herumreiſen
iſt ſelbſtverſtändlich Abſtand genommen worden, ebenſo
vom Redenhalten. Schon nächſten Sonnabend haben wir
Wahl. In Rheinsberg, wie immer, fallen die Würfel.
Ich glaube, daß er ſiegt. Nur die Fortſchrittler können
Fontane, Der Stechlin. 14[210] in Betracht kommen und allenfalls die Sozialdemokraten,
wenn vom Fortſchritt (was leicht möglich iſt) einiges ab¬
bröckelt. Unter allen Umſtänden ſchreibe deinem Papa,
daß du dich ſeines Entſchluſſes freuteſt. Du kannſt es
mit gutem Gewiſſen. Bringen wir ihn durch, ſo weiß
ich, daß kein Beſſerer im Reichstag ſitzt, und daß wir
uns alle zu ſeiner Wahl gratulieren können. Er ſich
perſönlich allerdings auch. Denn ſein Leben hier iſt zu
einſam, ſo ſehr, daß er, was doch ſonſt nicht ſeine Sache
iſt, mitunter darüber klagt. Das war das, was ich dich
wiſſen laſſen mußte. ‚Sonſt nichts neues vor Paris.‘
Krippenſtapel geht in großer Aufregung einher; ich
glaube, wegen unſrer auf Donnerstag in Stechlin ſelbſt
angeſetzten Vorverſammlung, wo er mutmaßlich ſeine
herkömmliche Rede über den Bienenſtaat halten wird.
Empfiehl mich deinen zwei liebenswürdigen Freunden,
beſonders Czako. Wie immer, dein alter Freund Lorenzen.“
Woldemar, als er geleſen, wußte nicht recht, wie er
ſich dazu ſtellen ſollte. Was Lorenzen da ſchrieb, „daß
kein Beſſerer im Hauſe ſitzen würde“, war richtig; aber
er hatte trotzdem Bedenken und Sorge. Der Alte war
durchaus kein Politiker, er konnte ſich alſo ſtark in die
Neſſeln ſetzen, ja vielleicht zur komiſchen Figur werden.
Und dieſer Gedanke war ihm, dem Sohne, der den Vater
ſchwärmeriſch liebte, ſehr ſchmerzlich. Außerdem blieb doch
auch immer noch die Möglichkeit, daß er in dem Wahl¬
kampf unterlag.
Dieſe Bedenken Woldemars waren nur allzu be¬
rechtigt. Es ſtand durchaus nicht feſt, daß der alte
Dubslav, ſo beliebt er ſelbſt bei den Gegnern war, als
Sieger aus der Wahlſchlacht hervorgehen müſſe. Die
Konſervativen hatten ſich freilich daran gewöhnt, Rheins¬
[211] berg-Wutz als eine „Hochburg“ anzuſehen, die der ſtaats¬
erhaltenden Partei nicht verloren gehen könne, dieſe Vor¬
ſtellung aber war ein Irrtum, und die bisherige Reverenz
gegen den alten Kortſchädel wurzelte lediglich in etwas
Perſönlichem. Nun war ihm Dubslav an Anſehen und
Beliebtheit freilich ebenbürtig, aber das mit der ewigen
perſönlichen Rückſichtnahme mußte doch mal ein Ende
nehmen, und das Anrecht, das ſich der alte Kortſchädel
erſeſſen hatte, mit dieſem mußt' es vorbei ſein, eben weil
ſich's endlich um einen Neuen handelte. Kein Zweifel, die
gegneriſchen Parteien regten ſich, und es lag genau ſo,
wie Lorenzen an Woldemar geſchrieben, „daß ein Fort¬
ſchrittler, aber auch ein Sozialdemokrat gewählt werden
könne.“
Wie die Stimmung im Kreiſe wirklich war, das hätte
der am beſten erfahren, der im Vorübergehen an der
Comptoirthür des alten Baruch Hirſchfeld gehorcht hätte.
„Laß dir ſagen, Iſidor, du wirſt alſo wählen den
guten alten Herrn von Stechlin.“
„Nein, Vater. Ich werde nicht wählen den guten
alten Herrn von Stechlin.“
„Warum nicht? Iſt er doch ein lieber Herr und
hat das richtige Herz.“
„Das hat er; aber er hat das falſche Prinzip.“
„Iſidor, ſprich mir nicht von Prinzip. Ich habe
dich geſehn, als du haſt charmiert mit dem Mariechen von
nebenan und haſt ihr aufgebunden das Schürzenband, und
ſie hat dir gegeben einen Klaps. Du haſt gebuhlt um das
chriſtliche Mädchen. Und du buhlſt jetzt, wo die Wahl
kommt, um die öffentliche Meinung. Und das mit dem
Mädchen, das hab' ich dir verziehen. Aber die öffentliche
Meinung verzeih' ich dir nicht.“
„Wirſt du, Vaterleben; haben wir doch die neue
Zeit. Und wenn ich wähle, wähl' ich für die Menſchheit.“
„Geh mir, Iſidor, die kenn' ich. Die Menſchheit,
die will haben, aber nicht geben. Und jetzt wollen ſie
auch noch teilen.“
„Laß ſie teilen, Vater.“
„Gott der Gerechte, was meinſt du, was du kriegſt?
Nicht den zehnten Teil.“
Und ähnlich ging es in den andern Ortſchaften. In
Wutz ſprach Fix für das Kloſter und die Konſervativen
im allgemeinen, ohne dabei Dubslav in Vorſchlag zu
bringen, weil er wußte, wie die Domina zu ihrem Bruder
ſtand. Ein Linkskandidat aus Cremmen ſchien denn auch
in der Wutzer Gegend die Oberhand gewinnen zu ſollen.
Noch gefährlicher für die ganze Grafſchaft war aber ein
Wanderapoſtel aus Berlin, der von Dorf zu Dorf zog
und die kleinen Leute dahin belehrte, daß es ein Unſinn
ſei, von Adel und Kirche was zu erwarten. Die ver¬
tröſteten immer bloß auf den Himmel. Achtſtündiger
Arbeitstag und Lohnerhöhung und Sonntagspartie nach
Finkenkrug, — das ſei das Wahre.
So zerſplitterte ſich's allerorten. Aber wenigſtens
um den Stechlin herum hoffte man der Sache noch Herr
werden und alle Stimmen auf Dubslav vereinigen zu
können. Im Dorfkruge wollte man zu dieſem Zwecke be¬
raten, und Donnerſtag ſieben Uhr war dazu feſtgeſetzt.
Der Stechliner Krug lag an dem Platze, der durch
die Kreuzung der von Wutz her heranführenden Kaſtanien¬
allee mit der eigentlichen Dorfſtraße gebildet wurde, und
war unter den vier hier gelegenen Eckhäuſern das ſtatt¬
lichſte. Vor ſeiner Front ſtanden ein paar uralte Linden,
und drei, vier Stehkrippen waren bis dicht an die Haus¬
wand heran geſchoben, aber alle ganz nach links hin, wo
ſich Eckladen und Gaſtſtube befanden, während nach der
[213] rechten Seite hin der große Saal lag, in dem heute
Dubslaw, wenn nicht für die Welt, ſo doch für Rheins¬
berg-Wutz, und wenn nicht für Rheinsberg-Wutz, ſo doch
für Stechlin und Umgegend proklamiert werden ſollte.
Dieſer große Saal war ein fünffenſtriger Längsraum,
der ſchon manchen Schottiſchen erlebt, was er in ſeiner
Erſcheinung auch heute nicht zu verleugnen trachtete.
Denn nicht nur waren ihm alle ſeine blanken Wandleuchter
verblieben, auch die mächtige Baßgeige, die jedesmal weg¬
zuſchaffen viel zu mühſam geweſen wäre, guckte, ſchräg
geſtellt, mit ihrem langen Halſe von der Muſikempore her
über die Brüſtung fort.
Unter dieſer Empore, quer durch den Saal hin, ſtand
ein für das Komitee beſtimmter länglicher Tiſch mit Tiſch¬
decke, während auf den links und rechts ſich hinziehenden
Bänken einige zwanzig Vertrauensmänner ſaßen, denen
es hinterher oblag, im Sinne der Komiteebeſchlüſſe weiter
zu wirken. Die Vertrauensmänner waren meiſt wohl¬
habende Stechliner Bauern, untermiſcht mit offiziellen und
halboffiziellen Leuten aus der Nachbarſchaft: Förſter und
Waldhüter und Vormänner von den verſchiedenen Glas-
und Teeröfen. Zu dieſen geſellte ſich noch ein Torf¬
inſpektor, ein Vermeſſungsbeamter, ein Steueroffiziant und
ſchließlich ein geſcheiterter Kaufmann, der jetzt Agent war
und die Poſt beſorgte. Natürlich war auch Landbrief¬
träger Broſe da ſamt der geſamten Sicherheitsbehörde:
Fußgendarm Uncke und Wachtmeiſter Pyterke von der
reitenden Gensdarmerie. Pyterke gehörte nur halb mit
zum Revier (es war das immer ein ſtreitiger Punkt), er¬
ſchien aber trotzdem mit Vorliebe bei Verſammlungen
derart. Es gab nämlich für ihn nichts Vergnüglicheres,
als ſeinen Kameraden und Amtsgenoſſen Uncke bei ſolcher
Gelegenheit zu beobachten und ſich dabei ſeiner unge¬
heuren, übrigens durchaus berechtigten Überlegenheit als
ſchöner Mann und ehemaliger Gardeküraſſier bewußt zu
[214] werden. Uncke war ihm der Inbegriff des Komiſchen, und
wenn ihn ſchon das rote, verkupferte Geſicht an und für
ſich amüſierte, ſo doch viel, viel mehr noch der gefärbte
Schuhbürſtenbackenbart, vor allem aber das Augenſpiel,
mit dem er den Verhandlungen zu folgen pflegte.
Pyterke hatte recht; Uncke war wirklich eine komiſche
Figur. Seine Miene ſagte beſtändig: „An mir hängt
es.“ Dabei war er ein höchſt gutmütiger Mann, der nie
mehr als nötig aufſchrieb und auch nur ſelten auflöſte.
Der Saal hatte nach dem Flur hin drei Thüren.
An der Mittelthür ſtanden die beiden Gensdarmen und
rückten ſich zurecht, als ſich der Vorſitzende des Komitees
mit dem Glockenſchlag ſieben von ſeinem Platz erhob und
die Sitzung für eröffnet erklärte. Dieſer Vorſitzende war
natürlich Oberförſter Katzler, der heute, ſtatt des bloßen
ſchwarz-weißen Bandes, ſein bei St. Marie aux Chênes
erworbenes eiſernes Kreuz in Subſtanz eingeknöpft hatte.
Neben ihm ſaßen Superintendent Koſeleger und Paſtor
Lorenzen, an der linken Schmalſeite Krippenſtapel, an der
rechten Schulze Kluckhuhn, letzterer auch dekoriert, und
zwar mit der Düppelmedaille, trotzdem er bei Düppel in
der Reſerve geſtanden. Er ſcherzte gern darüber und
ſagte, während er ſeine beneidenswerten Zähne zeigte:
„Ja, Kinder, ſo geht es. Bei Alſen war ich, aber bei
Düppel war ich nich, und dafür hab' ich nu die Düppel¬
medaille.“
Schulze Kluckhuhn war überhaupt eine humoriſtiſch
angeflogene Perſönlichkeit, Liebling des alten Dubslav,
und trat immer, wenn ſich die alten Kriegerbundleute von
ſechsundſechzig und ſiebzig aufs hohe Pferd ſetzen wollten,
für die von vierundſechzig ein. „Ja, vierundſechzig, Kinder,
da fing es an. Und aller Anfang iſt ſchwer. Anfangen
iſt immer die Hauptſache; das andre kommt dann ſchon
wie von ſelbſt.“ Ein alter Globſower, der bei Spichern
mitgeſtürmt und ſich durch beſondere Tapferkeit hervorgethan
[215] hatte, war denn auch, bloß weil er einer von Anno ſiebzig
war, ein Gegenſtand ſeiner beſonderen Bemängelungen.
„Ich will ja nich ſagen, Tübbecke, daß es bei Spichern
gar nichts war; aber gegen Düppel (wenn ich auch nicht
mit dabei geweſen) gegen Düppel war es gar nichts. Wie
war es denn bei Spichern, wovon du ſo viel red'ſt, als
ob ſich vierundſechzig daneben verſtecken müßte? Bei
Spichern, da waren Menſchen oben, aber bei Düppel, da
waren Schanzen oben. Und ich ſage dir, Schanzen mit'm
Turm drin. Da pfeift es ganz anders. Das heißt, von
Pfeifen war ſchon eigentlich gar keine Rede mehr.“ Eine
Folge dieſer Anſchauung war es denn auch, daß in den
Augen Kluckhuhns der Pionier Klinke, der bei Düppel
unter Opferung ſeines Lebens den Palliſadenpfahl von
Schanze drei weggeſprengt hatte, der eigentliche Held aller
drei Kriege war und alles in allem nur einen Rivalen
hatte. Dieſer eine Rivale ſtand aber drüben auf Seite
der Dänen und war überhaupt kein Menſch, ſondern ein
Schiff und hieß Rolf Krake. „Ja, Kinder, wie wir nu
da ſo 'rüber gondelten, da lag das ſchwarze Bieſt immer
dicht neben uns und ſah aus wie 'n Sarg. Und wenn
es gewollt hätte, ſo wär' es auch alle mit uns geweſen
und bloß noch plumps in den Alſenſund. Und weil wir
das wußten, ſchoſſen wir immer drauf los, denn wenn
einem ſo zu Mute iſt, dann ſchießt der Menſch immer zu.“
Ja, Rolf Krake war eine fatale Sache für Kluckhuhn
geweſen. Aber dasſelbe ſchwarze Schiff, das ihm damals
ſo viel Furcht [und] Sorge gemacht hatte, war doch auch
wieder ein Segen für ihn geworden, und man durfte
ſagen, ſein Leben ſtand ſeitdem im Zeichen von Rolf Krake.
Wie Gundermann immer der Sozialdemokratie das „Waſſer
abſtellen“ wollte, ſo verglich Kluckhuhn alles zur Sozial¬
demokratie Gehörige mit dem ſchwarzen Ungetüm im
Alſenſund. „Ich ſag' euch, was ſie jetzt die ſoziale Re¬
volution nennen, das liegt neben uns wie damals Rolf
[216] Krake; Bebel wartet bloß, und mit eins fegt er da¬
zwiſchen.“
Schulze Kluckhuhn war in der ganzen Stechliner
Gegend ſehr angeſehen, und als er jetzt mit ſeiner Me¬
daille ſo daſaß, dicht neben Koſeleger, war er ſich deſſen
auch wohl bewußt. Aber gegen Krippenſtapel, den er als
Schulpauker und Bienenvater eigentlich nicht für voll an¬
ſah, kam er bei dieſer Gelegenheit doch nicht an; Krippen¬
ſtapel hatte heute ganz ſeinen großen Tag, ſo ſehr, daß
ſelbſt Kluckhuhn ſeinen Ton herabſtimmen mußte.
Katzler, ein entſchiedener Nichtredner, begann, als er
ſich mit ſeinem Notizenzettel, auf dem verſchiedene Satz¬
anfänge ſtanden, erhoben hatte, mit der Verſicherung, daß
er den ſo zahlreich Anweſenden, unter denen vielleicht
auch einige Andersdenkende ſeien, für ihr Erſcheinen danke.
Sie wüßten alle, zu welchem Zweck ſie hier ſeien. Der
alte Kortſchädel ſei tot, „er iſt in Ehren hingegangen,“
und es handle ſich heute darum, dem alten Herrn von
Kortſchädel im Reichstag einen Nachfolger zu geben. Die
Grafſchaft habe immer konſervativ gewählt; es ſei Ehren¬
ſache, wieder konſervativ zu wählen. „Und ob die Welt
voll Teufel wär'.“ Es liege der Grafſchaft ob, dieſer
Welt des Abfalls zu zeigen, daß es noch „Stätten“ gebe.
Und hier ſei eine ſolche Stätte. „Wir haben, glaub' ich,“
ſo ſchloß er, „niemand an dieſem Tiſch, der das Parla¬
mentariſche voll beherrſcht, weshalb ich bemüht geweſen
bin, das, was uns hier zuſammengeführt hat, ſchriftlich
niederzulegen. Es iſt ein ſchwacher Verſuch. Jeder thut,
ſoviel er kann, und der Brombeerſtrauch hat eben nur
ſeine Beeren. Aber auch ſie können den durſtigen Wan¬
derer erfriſchen. Und ſo bitte ich denn unſern politiſchen
Freund, dem wir außerdem für die Erforſchung dieſer
Gegenden ſo viel verdanken, ich bitte Herrn Lehrer Krippen¬
ſtapel, uns das von mir Aufgeſetzte vorleſen zu wollen.
Ein pro memoria. Man kann es vielleicht ſo nennen.“
Katzler, unter Verneigung, ſetzte ſich wieder, während
ſich Krippenſtapel erhob. Er blätterte wie ein Rechts¬
anwalt in einer Anzahl von Papieren und ſagte dann:
„Ich folge der Aufforderung des Herrn Vorſitzenden und
freue mich, berufen zu ſein, ein Schriftſtück zur Verleſung
zu bringen, das unſer aller Gefühlen — ich bin deſſen
ſicher und glaube von den Einſchränkungen, die unſer Herr
Vorſitzender gemacht hat, abſehen zu dürfen — zu kräftig¬
ſtem Ausdruck verhilft.“
Und nun ſetzte Krippenſtapel ſeine Hornbrille auf
und las. Es war ein ganz kurzes Schriftſtück und ent¬
hielt eigentlich dasſelbe, was Katzler ſchon geſagt hatte.
Die Betonungen Krippenſtapels ſorgten aber dafür, daß
der Beifall reichlicher war, und daß die Schlußwendung
„und ſo vereinigen wir uns denn in dem Satze: was
um den Stechlin herum wohnt, das iſt für Stechlin,“
einen ungeheuren Beifall fand. Pyterke hob ſeinen Helm
und ſtieß mit dem Pallaſch auf, während Uncke ſich um¬
ſah, ob doch vielleicht ein einzelner Übelwollender zu
notieren ſei. Nicht um ihn direkt anzuzeigen, aber doch
zur Kenntnisnahme. Broſe, der (wohl eine Folge ſeines
Berufs) unter dem ungewohnten langen Stillſtehen ge¬
litten hatte, nahm im Vorflur, wie zur Niederkämpfung
ſeiner Beinnervoſität, eine Art Probegeſchwindſchritt raſch
wieder auf, während Kluckhuhn ſich von ſeinem Stuhl
erhob, um Katzler erſt militäriſch und dann unter gewöhn¬
licher Verbeugung zu begrüßen, wobei ſeine Düppelmedaille
dem Katzlerſchen Eiſernen Kreuz entgegenpendelte. Nur
Koſeleger und Lorenzen blieben ruhig. Um des Super¬
intendenten Mund war ein leiſer ironiſcher Zug.
Dann erklärte der Vorſitzende die Sitzung für ge¬
ſchloſſen; alles brach auf, und nur Uncke ſagte zu Broſe:
„Wir bleiben noch, Broſe; morgen wird es Lauferei genug
geben.“
„Denk' ich auch. Aber lieber laufen als hier ſo ſtille ſtehen.“
Achtzehntes Kapitel.
Draußen, unter dem Gezweig der alten Linden,
ſtanden mehrere Kaleſchwagen, aber der des Super¬
intendenten fehlte noch, weil Koſeleger eine viel längere
Sitzung erwartet und darauf hin ſeinen Wagen erſt zu
zehn Uhr beſtellt hatte. Bis dahin war noch eine hübſche
Zeit; der Superintendent indeſſen ſchien nicht unzufrieden
darüber und ſeines Amtsbruders Arm nehmend, ſagte
er: „Lieber Lorenzen, ich muß mich, wie Sie ſehen, bei
Ihnen zu Gaſte laden. Als Unverheirateter werden Sie,
ſo hoffe ich, über die Störung leicht hinwegkommen.
Die Ehe bedeutet in der Regel Segen, wenigſtens an
Kindern, aber die Nichtehe hat auch ihre Segnungen.
Unſre guten Frauen entſchlagen ſich dieſer Einſicht und
dieſer unbedingte Glauben an ſich und ihre Wichtigkeit
hat oft was Rührendes.“
Lorenzen, der ſich — bei voller Würdigung der
Gaben ſeines ihm vorgeſetzten und zugleich gern einen
ſpöttiſchen Ton anſchlagenden Amtsbruders — im all¬
gemeinen nicht viel aus ihm machte, war diesmal mit
allem einverſtanden und nickte, während ſie, ſchräg über
den Platz fort, auf die Pfarre zuſchritten.
„Ja, dieſe Einbildungen!“ fuhr Koſeleger fort, zu
deſſen Lieblingsgeſprächen dieſes Thema gehörte. „Ge¬
wiß iſt es richtig, daß wir ſamt und ſonders von Ein¬
bildungen leben, aber für die Frauen iſt es das täg¬
[219] liche Brot. Sie maltraitieren ihren Mann und ſprechen
dabei von Liebe, ſie werden maltraitiert und ſprechen
erſt recht von Liebe; ſie ſehen alles ſo, wie ſie's ſehen
wollen und vor allem haben ſie ein Talent, ſich mit
Tugenden auszurüſten (erlaſſen Sie mir, dieſe Tugenden
aufzuzählen), die ſie durchaus nicht beſitzen. Unter dieſen
meiſt nur in der Vorſtellung exiſtierenden Tugenden be¬
findet ſich auch die der Gaſtlichkeit, wenigſtens hierlandes.
Und nun gar unſre Pfarrmütter! Eine jede hält ſich
für die heilige Eliſabeth mit den bekannten Broten im
Korb. Haben Sie übrigens das Bild auf der Wart¬
burg geſehen? Unter allen Schwindſchen Sachen ſteht
es mir ſo ziemlich obenan. Und in Wahrheit, um auf
unſere Pfarrmütter zurückzukommen, liegt es doch ſo,
daß ich mich bei paſtorlichen Junggeſellen immer am
beſten aufgehoben gefühlt habe.“
Lorenzen lachte: „Wenn Sie nur heute nicht wider¬
legt werden, Herr Superintendent.“
„Ganz undenkbar, lieber Lorenzen. Ich bin noch
nicht lang in dieſer Gegend, in meinem guten Quaden-
Hennersdorf da drüben, aber wenn auch nicht lange,
ſo doch lange genug, um zu wiſſen, wie's hier herum
ausſieht. Und Ihr Renommee ... Sie ſollen ſo was
von einem Feinſchmecker an ſich haben. Kann ich mir
übrigens denken. Sie ſind Äſthetikus, und das iſt man
nicht ungeſtraft, am wenigſten in Bezug auf die Zunge.
Ja, das Äſthetiſche. Für manchen iſt es ein Unglück. Ich
weiß [davon]. Das Haus hier vor uns iſt wohl Ihr
Schulhaus? Weißgeſtrichen und kein Fetzchen Gardine,
das iſt immer 'ne preußiſche Schule. So wird bei uns die
Volksſeele für das, was ſchön iſt, groß gezogen. Aber
es kommt auch was dabei heraus! Mitunter wundert's
mich nur, daß ſie die Bauten aus der Zeit Friedrich
Wilhelms I. nicht beſſer konſervieren. Eigentlich war
das doch das Ideal. Graue Wand, hundert Löcher drin
[220] und unten großes Hauptloch. Und natürlich ein Schilder¬
haus daneben. Letzteres das Wichtigſte. Schade, daß
ſo was verloren geht. Übrigens rettet hier der grüne
Staketenzaun das Ganze ... Wie heißt doch der Lehrer?“
„Krippenſtapel.“
„Richtig, Krippenſtapel. Katzler nannte ihn ja
während der Sitzung mit einer Art Aplomb. Ich er¬
innere mich noch, wie mir der Name wohlthat, als ich
ihn das erſte Mal hörte. So heißt nicht jeder. Wie
kommen Sie mit dem Manne aus?“
„Sehr gut, Herr Superintendent.“
„Freut mich aufrichtig. Aber es muß ein Kunſt¬
ſtück ſein. Er hat ein Geſicht wie 'ne Eule. Dabei ſo
was Steifleinenes und zugleich Selbſtbewußtes. Der
richtige Lehrer. Meiner in Quaden-Hennersdorf war
ebenſo. Aber er läßt nun ſchon ein bißchen nach.“
Unter dieſen Worten waren ſie bis an die Pfarre
gekommen, in der man, ohne daß ein Bote voraus¬
geſchickt worden wäre, doch ſchon wußte, daß der Herr
Superintendent mit erſcheinen würde. Nun war er da.
Nur wenige Minuten waren ſeit dem Aufbruch vom Krug her
vergangen, die trotz Kürze für Frau Kulicke (eine Lehrers¬
witwe, die Lorenzen die Wirtſchaft führte) ausgereicht
hatten, alles in Schick und Ordnung zu bringen. Auf
dem länglichen Hausflur, an deſſen äußerſtem Ende man
gleich beim Eintreten die blinkblanke Küche ſah, brannten
ein paar helle Paraffinkerzen, während rechts daneben,
in der offenſtehenden Studierſtube, eine große Lampe
mit grünem Bilderſchirm ein gedämpftes Licht gab.
Lorenzen ſchob den Sofatiſch, darauf Zeitungen hoch
aufgeſchichtet lagen, ein wenig zurück und bat Koſeleger,
Platz zu nehmen. Aber dieſer, eben jetzt das große
Bild bemerkend, das in beinahe reicher Umrahmung über
dem Sofa hing, nahm den ihm angebotenen Platz nicht
gleich ein, ſondern ſagte, ſich über den Tiſch vorbeugend:
[221] „Ah, gratuliere, Lorenzen. Kreuzabnahme; Rubens.
Das iſt ja ein wunderſchöner Stich. Oder eigentlich
Aquatinta. Dergleichen wird hier wohl im ſiebenmeiligen
Umkreis nicht oft betroffen werden, nicht einmal in dem
etwas heraufgepufften Rheinsberg; in Rheinsberg war
man für Watteauſche Reifrockdamen auf einer Schaukel,
aber nicht für Kreuzabnahmen und dergleichen. Und
ſtammt auch ſicher nicht aus dem ſogenannten Schloß
Ihres liebenswürdigen alten Herrn drüben, Rieſenkathe
mit Glaskugel davor. Ach, wenn ich dieſe Glaskugeln
ſehe. Und daneben das hier! Wiſſen Sie, Lorenzen,
das Bild hier ruft mir eine ſchöne Stunde meines Lebens
zurück, einen Reiſetag, wo ich mit Großfürſtin Wera
vom Haag aus in Antwerpen war. Da ſah ich das
Bild in der Kathedrale. Waren Sie da?“
Lorenzen verneinte.
„Das wäre was für Sie. Dieſer Rubens im Original,
in ſeiner Farbenallgewalt. Es heißt immer, daß er nur
Flamänderinnen hätte malen können. Nun, das wäre
wohl auch noch nicht das Schlimmſte geweſen. Aber
er konnte mehr. Sehen Sie den Chriſtus. Wohl jedem,
der draußen war, und zu dem die Welt mal in andern
Zungen redete! Hier blüht der Bilderbogen, Türke links,
Ruſſe rechts. Ach, Lorenzen, es iſt traurig, hier ver¬
ſauern zu müſſen.“
Als er ſo geſprochen, ließ er ſich, vor ſich hin¬
ſtarrend, in die Sofa-Ecke nieder, ganz wie in andre
Zeiten verloren, und ſah erſt wieder auf, als ein junges
Ding ins Zimmer trat, groß und ſchlank und blond,
und dem Paſtor verlegen und errötend etwas zuflüſterte.
„Meine gute Frau Kulicke,“ ſagte Lorenzen, „läßt
eben fragen, ob wir unſern Imbiß im Nebenzimmer
nehmen wollen? Ich möchte beinahe glauben, es iſt
das beſte, wir bleiben hier. Es heißt zwar, ein E߬
zimmer müſſe kalt ſein. Nun, das hätten wir nebenan.
[222] Ich perſönlich finde jedoch das Temperierte beſſer. Aber
ich bitte, beſtimmen zu wollen, Herr Superintendent.“
„Temperiert. Mir aus der Seele geſprochen. Alſo
wir bleiben, wo wir ſind ... Aber ſagen Sie mir,
Lorenzen, wer war das entzückende Geſchöpf? Wie ein
Bild von Knaus. Halb Prinzeß, halb Rotkäppchen.
Wie alt iſt ſie denn?“
„Siebzehn. Eine Nichte meiner guten Frau Kulicke.“
„Siebzehn. Ach, Lorenzen, wie Sie zu beneiden
ſind. Immer ſolche Menſchenblüte zu ſehn. Und ſieb¬
zehn, ſagen Sie. Ja, das iſt das Eigentliche. Sechzehn hat
noch ein bißchen von der Eierſchale, noch ein bißchen den
Einſegnungscharakter, und achtzehn iſt ſchon wieder all¬
täglich. Achtzehn kann jeder ſein. Aber ſiebzehn. Ein
wunderbarer Mittelzuſtand. Und wie heißt ſie?“
„Elfriede.“
„Auch das noch.“
Lorenzen wiegte den Kopf und lächelte.
„Ja, Sie lächeln, Lorenzen, und wiſſen nicht, wie
gut Sie's haben in dieſer Ihrer Waldpfarre. Was ich
hier ſehe, heimelt mich an, das ganze Dorf, alles.
Wenn ich mir da beiſpielsweiſe den Tiſch wieder ver¬
gegenwärtige, dran wir, drüben im Krug, vor einer
halben Stunde geſeſſen haben, an der linken Seite dieſer
Krippenſtapel (er ſei wie er ſei) und an der rechten
Seite dieſer Rolf Krake. Das ſind ja doch lauter Größen.
Denn das Groteske hat eben auch ſeine Größen und
nicht die Schlechteſten. Und dazu dieſer Katzler mit
ſeiner Ermyntrud. All das haben Sie dicht um ſich
her und dazu dies Kind, dieſe Elfriede, die hoffentlich
nicht Kulicke heißt. — ſonſt bricht freilich mein ganzes
Begeiſterungsgebäude wieder zuſammen. Und nun
nehmen Sie mich, Ihren Superintendenten, das große
Kirchenlicht dieſer Gegenden! Alles nackte Proſa, wider¬
haarige Kollegen und Amtsbrüder, die mir nicht ver¬
[223] zeihen können, daß ich im Haag war und mit einer
Großfürſtin über Land fahren konnte. Glauben Sie
mir, Großfürſtinnen, ſelbſt wenn ſie Mängel haben (und
ſie haben Mängel), ſind mir immer noch lieber als das
Landesgewächs von Quaden-Hennersdorf, und mitunter iſt
mir zu Mut, als gäbe es keine Weltordnung mehr.“
„Aber Herr Superintendent ...“
„Ja, Lorenzen, Sie ſetzen ein überraſchtes Geſicht
auf und wundern ſich, daß einer, für den die hohe
Kleriſei ſo viel gethan und ihn zum Superintendenten
in der geſegneten Mittelmark und der noch geſegneteren
Grafſchaft Ruppin gemacht hat, — Sie wundern ſich,
daß ſolch zehnmal Glücklicher ſolchen Hochverrat redet.
Aber bin ich ein Glücklicher? Ich bin ein Unglück¬
licher ...“
„Aber Herr Superintendent ...“
„... Und möchte, daß ich eine hundertundfünf¬
zig-Seelen-Gemeinde hätte, ſagen wir auf dem ‚toten
Mann‘ oder in der Tuchler Heide. Sehen Sie, dann
wär' es vorbei, dann müßt' ich beſtimmt: ‚du biſt in
den Skat gelegt‘. Und das kann unter Umſtänden ein
Troſt ſein. Die Leute, die Schiffbruch gelitten und nun
in einer Iſolierzelle ſitzen und Tüten kleben oder Wolle
zupfen, das ſind nicht die Unglücklichſten. Unglücklich
ſind immer bloß die Halben. Und als einen ſolchen
habe ich die Ehre mich Ihnen vorzuſtellen. Ich bin ein
Halber, vielleicht ſogar in dem, worauf es ankommt;
aber laſſen wir das, ich will hier nur vom allgemein
Menſchlichen ſprechen. Und daß ich auch in dieſem
Menſchlichen ein Halber bin, das quält mich. Über
das andre käm' ich vielleicht weg.“
Lorenzens Augen wurden immer größer.
„Sehen Sie, da war ich alſo — verzeihen Sie,
daß ich immer wieder darauf zurückkomme — da war
ich alſo mit ſiebenundzwanzig im Haag und kam in die
[224] vornehme Welt, die da zu Hauſe iſt. Und da war ich
denn heut in Amſterdam und morgen in Scheveningen
und den dritten Tag in Gent oder in Brügge. Brügge,
Reliquienſchrein, Hans Memling — ſo was müßten
Sie ſehn. Was ſollen uns dieſe ewigen Markgrafen oder
gar die faule Grete? Mancher, ich weiß wohl, iſt für's
härene Gewand oder zum Eremiten geboren. Ich nicht.
Ich bin von der andern Seite; meine Seele hängt an Leben
und Schönheit. Und nun ſpricht da draußen all dergleichen
zu einem, und man tränkt ſich damit und hat einen Ehr¬
geiz, nicht einen kindiſchen, ſondern einen echten, der
höher hinauf will, weil man da wirken und ſchaffen
kann, für ſich gewiß, aber auch für andre. Danach
dürſtet einen. Und nun kommt der Becher, der dieſen
Durſt ſtillen ſoll. Und dieſer Becher heißt Quaden-
Hennersdorf. Das Dorf, das mich umgiebt, iſt ein
großes Bauerndorf, aufgeſteifte Leute, geſchwollen und
hartherzig, und natürlich ſo trocken und trivial, wie die
Leute hier alle ſind. Und noch ſtolz darauf. Ach,
Lorenzen, immer wieder, wie beneide ich Sie!“
Während Koſeleger noch ſo ſprach, erſchien Frau
Kulicke. Sie ſchob die Zeitungen zurück, um zwei
Couverts legen zu können, und nun brachte ſie den
Rotwein und ein Cabaret mit Brötchen. In dünnge¬
ſchliffene große Gläſer ſchenkte Lorenzen ein, und die
beiden Amtsbrüder ſtießen an „auf beſſere Zeiten.“
Aber ſie dachten ſich ſehr Verſchiedenes dabei, weil
ſich der eine nur mit ſich, der andre nur mit andern
beſchäftigte.
„Wir könnten, glaub' ich,“ ſagte Lorenzen, „neben
den „beſſeren Zeiten“ noch dies und das leben laſſen.
Zunächſt Ihr Wohl, Herr Superintendent. Und zum
zweiten auf das Wohl unſers guten alten Stechlin, der
uns doch heute zuſammengeführt. Ob wir ihn durch¬
bringen? Katzler that ſo ſicher und Kluckhuhn und
[225] Krippenſtapel nun ſchon ganz gewiß. Aber ich habe
trotzdem Zweifel. Die Konſervativen — ich kann kaum
ſagen ‚unſre Parteigenoſſen‘, oder doch nur in ſehr be¬
dingtem Sinne — die Konſervativen ſind in ſich ge¬
ſpalten. Es giebt ihrer viele, denen unſer alter Stechlin
um ein gut Teil zu flau iſt. ‚Fortiter in re, suaviter
in modo‘, hat neulich einer, der ſich auf Bildung aus¬
ſpielt, von dem Alten geſagt, und von ‚suaviter‘, wenn
auch nur ‚in modo‘, wollen alle dieſe Herren nichts
wiſſen. Unter dieſen Ultras iſt natürlich auch Gunder¬
mann auf Siebenmühlen, der Ihnen vielleicht bekannt
geworden iſt ...“
„Verſteht ſich. War neulich bei mir. Ein Mann
von drei Redensarten, von denen die zwei beſten aus
der Waſſermüllerſphäre genommen ſind.“
„Nun, dieſer Gundermann, wie immer die Dummen,
iſt zugleich Intrigant, und während er vorgiebt, für
unſern guten alten Stechlin zu werben, tropft er den
Leuten Gift ins Ohr und erzählt ihnen, daß der Alte
ſenil ſei und keinen Schneid habe. Der alte Stechlin
hat aber mehr Schneid als ſieben Gundermanns. Gunder¬
mann iſt ein Bourgeois und ein Parvenu, alſo ſo ziem¬
lich das Schlechteſte, was einer ſein kann. Ich bin
ſchon zufrieden, wenn dieſer Jämmerling unterliegt.
Aber um den Alten bin ich beſorgt. Ich kann nur
wiederholen: es liegt nicht ſo günſtig für ihn, wie die
Gegend hier ſich einbildet. Denn auf das arme Volk
iſt kein Verlaß. Ein Verſprechen und ein Kornus, und
alles ſchnappt ab.“
„Ich werde das meine thun,“ ſagte Koſeleger mit
einer Miſchung von Pathos und Wohlwollen. Aber
Lorenzen hatte dabei den Eindruck, daß ſein Quaden-
Hennersdorfer Superintendent bereits ganz andern Bildern
nachhing. Und ſo war es auch. Was war für Koſe¬
leger dieſe traurige Gegenwart? Ihn beſchäftigte nur
Fontane, Der Stechlin. 15[226] die Zukunft, und wenn er in die hineinſah, ſo ſah er
einen langen, langen Korridor mit Oberlicht und am
Ausgang ein Klingelſchild mit der Aufſchrift: „Dr. Koſe¬
leger, Generalſuperintendent.“
So ziemlich um dieſelbe Stunde, wo die beiden
Amtsbrüder „auf beſſere Zeiten“ anſtießen, hielt Katzlers
Pürſchwagen — die Sterne blinkten ſchon — vor ſeiner
Oberförſterei. Das Blaffen der Hunde, das, ſolange
der Wagen noch weit ab war, unausgeſetzt über die
Waldwieſe hingeklungen war, verkehrte ſich mit einem
Mal in winſeliges Geheul und wunderliche Freuden¬
töne. Katzler ſprang aus dem Wagen, hing den Hut
an einen im Flur ſtehenden Ständer (von den ewigen
„Geweihen“ wollte er als feiner Mann nichts wiſſen)
und trat gleich danach in das an der linken Flurſeite
gelegene, matt erleuchtete Wohnzimmer ſeiner Frau. Das
gedämpfte Licht ließ ſie noch blaſſer erſcheinen, als ſie
war. Sie hatte ſich, als der Wagen hielt, von ihrem
Sofaplatz erhoben und kam ihrem Manne, wie ſie regel¬
mäßig zu thun pflegte, wenn er aus dem Walde zurück¬
kam, zu freundlicher Begrüßung entgegen. Ein als
Weihnachtsgeſchenk für eine jüngere Schweſter beſtimmtes
Batiſttuch, in das ſie eben die letzte Zacke der Ippe-
Büchſenſteinſchen Krone hineinſtickte, hatte ſie, bevor ſie
ſich vom Sofa erhob, aus der Hand gelegt. Sie war
nicht ſchön, dazu von einem lymphatiſch-ſentimentalen
Ausdruck, aber ihre ſtattliche Haltung und mehr noch
die Art, wie ſie ſich kleidete, ließen ſie doch als etwas
durchaus Apartes und beinahe Fremdländiſches erſcheinen.
Sie trug, nach Art eines Morgenrockes, ein glatt herab¬
hängendes, leis gelbgetöntes Wollkleid und als Eigen¬
tümlichſtes einen aus demſelben gelblichen Wollſtoff her¬
[227] geſtellten Kopfputz, von dem es unſicher blieb, ob er
einen Turban oder eine Krone darſtellen ſollte. Das
Ganze hatte etwas Gewolltes, war aber neben dem
Auffälligen doch auch wieder kleidſam. Es ſprach ſich
ein Talent darin aus, etwas aus ſich zu machen.
„Wie glücklich bin ich, daß du wieder da biſt,“
ſagte Ermyntrud. „Ich habe mich recht gebangt, dies¬
mal nicht um dich, ſondern um mich. Ich muß dies
egoiſtiſcherweiſe geſtehen. Es waren recht ſchwere Stunden
für mich, die ganze Zeit, daß du fort warſt.“
Er küßte ihr die Hand und führte ſie wieder auf
ihren Platz zurück. „Du darfſt nicht ſtehen, Ermyn¬
trud. Und nun biſt du auch wieder bei der Stickerei.
Das ſtrengt dich an und hat, wie du weißt, auf
alles Einfluß. Der gute Doktor ſagte noch geſtern,
alles ſei im Zuſammenhang. Ich ſeh' auch, wie blaß
du biſt.“
„O, das macht der Schirm.“
„Du willſt es nicht wahr haben und mir nichts
ſagen, was vielleicht wie Vorwurf klingen könnte. Ich
mache mir aber den Vorwurf ſelbſt. Ich mußte hier
bleiben und nicht hin zu dieſer Stechliner Wahlver¬
ſammlung.“
„Du mußteſt hin, Wladimir.“
„Ich rechne es dir hoch an, Ermyntrud, daß du
ſo ſprichſt. Aber es wäre ſchließlich auch ohne mich
gegangen. Koſeleger war da, der konnte das Präſidium
nehmen ſo gut wie ich. Und wenn der nicht wollte,
ſo konnte Torfinſpektor Etzelius einſpringen. Oder viel¬
leicht auch Krippenſtapel. Krippenſtapel iſt doch zuletzt
der, der alles macht. Jedenfalls liegt es ſo, wenn es
der eine nicht iſt, iſt es der andre.“
„Ich kann das zugeben. Wie könnte ſonſt die
Welt beſtehen? Es giebt nichts, was uns ſo Demut
predigte wie die Wahrnehmung von der Entbehrlich¬
15*[228] keit des einzelnen. Aber darauf kommt es nicht an.
Worauf es ankommt, das iſt Erfüllung unſrer Pflicht.“
Katzler, als er dies Wort hörte, ſah ſich nach
einem Etwas um, das ihn in den Stand geſetzt hätte,
dem Geſpräch eine andere Wendung zu geben. Aber,
wie ſtets in ſolchen Momenten, das, was retten konnte,
war nicht zu finden, und ſo ſah er denn wohl, daß er
einem Vortrage der Prinzeſſin über ihr Lieblingsthema
„von der Pflicht“ verfallen ſei. Dabei war er eigent¬
lich hungrig.
Ermyntrud wies auf ein Taburet, das ſie mittler¬
weile neben ihren Sofaplatz geſchoben, und ſagte: „Daß
ich immer wieder davon ſprechen muß, Wladimir. Wir
leben eben nicht in der Welt um unſert-, ſondern um
andrer willen. Ich will nicht ſagen um der Menſchheit
willen, was eitel klingt, wiewohl es eigentlich wohl ſo
ſein ſollte. Was uns obliegt, iſt nicht die Luſt des
Lebens, auch nicht einmal die Liebe, die wirkliche, ſondern
lediglich die Pflicht ...“
„Gewiß, Ermyntrud. Wir ſind einig darüber. Es
iſt dies außerdem auch etwas ſpeziell Preußiſches. Wir
ſind dadurch vor andern Nationen ausgezeichnet, und
ſelbſt bei denen, die uns nicht begreifen oder übelwollen,
dämmert die Vorſtellung von unſrer daraus entſpringen¬
den Überlegenheit. Aber es giebt doch Unterſchiede,
Grade. Wenn ich ſtatt zu der Stechliner Wählerver¬
ſammlung lieber zu Doktor Sponholz oder zur alten
Stinten in Kloſter Wutz (die ja ſchon früher einmal
dabei war) gefahren wäre, ſo wäre das doch vielleicht
das Beſſere geweſen. Es iſt ein Glück, daß es noch
mal ſo vorübergegangen. Aber darauf darf man nicht
in jedem Falle rechnen.“
„Nein, darauf darf man nicht in jedem Falle
rechnen. Aber man darf darauf rechnen, daß, wenn
man das Pflichtgemäße thut, man zugleich auch das
[229] Rechte thut. Es hängt ſo viel an der Wahl unſers
alten trefflichen Stechlin. Er ſteht außerdem ſittlich
höher als Kortſchädel, dem man, trotz ſeiner ſiebzig,
allerhand nachſagen durfte. Stechlin iſt ganz intakt.
Etwas ſehr Seltenes. Und einem ſittlichen Prinzip
zum Siege zu verhelfen, dafür leben wir doch recht
eigentlich. Dafür lebe wenigſtens ich.“
„Gewiß, Ermyntrud, gewiß.“
„In jedem Augenblicke ſeiner Obliegenheiten ein¬
gedenk ſein, ohne erſt bei Neigung oder Stimmung an¬
zufragen, das hab' ich mir in feierlicher Stunde ge¬
lobt, du weißt, in welcher, und du wirſt mir das
Zeugnis ausſtellen, daß ich dieſem Gelöbnis nachge¬
kommen ...“
„Gewiß, Ermyntrud, gewiß. Es war unſer Fun¬
dament ...“
„Und wenn es ſich um eine ſittliche Pflicht handelt,
wie doch heute ganz offenbar, wie hätt' ich da ſagen
wollen: bleibe. Ich wäre mir klein vorgekommen, klein
und untreu.“
„Nicht untreu, Ermyntrud.“
„Doch, doch. Es giebt viele Formen der Untreue.
Das Perſönliche hat ſich der Familie zu bequemen und
unterzuordnen und die Familie wieder der Geſellſchaft.
In dieſem Sinne bin ich erzogen, und in dieſem Sinne
that ich den Schritt. Verlange nicht, daß ich in irgend
etwas dieſen Schritt zurückthue.“
„Nie.“
Das kleine Dienſtmädchen, eine Heideläufertochter,
deren ſtorres Haar, von keiner Bürſte gezähmt, immer
weit abſtand, erſchien in dieſem Augenblicke, meldend,
daß ſie das Theezeug gebracht habe.
Katzler nahm ſeiner Frau Arm, um ſie bis in das
zweite, nach dem Hof hinaus gelegene Zimmer zu führen.
Als er aber wahrnahm, wie ſchwer ihr das Gehen
[230] wurde, ſagte er. „Ich freue mich, dich ſo ſprechen zu
hören. Immer du ſelbſt. Ich bin aber doch in Un¬
ruhe und will morgen früh zur Frau ſchicken.“
Sie nickte zuſtimmend, während ein halb zärt¬
licher Blick den guten Katzler ſtreifte, der, ſolange das
ihm nur zu wohlbekannte Geſpräch über Pflicht ge¬
dauert hatte, von Minute zu Minute verlegener ge¬
worden war.
Neunzehntes Kapitel.
Und nun war Wahltagmorgen. Kurz vor acht er¬
ſchien Lorenzen auf dem Schloß, um in Dubslavs ſchon
auf der Rampe haltenden Kaleſchewagen einzuſteigen und
mit nach Rheinsberg zu fahren. Der Alte, bereits ge¬
ſtiefelt und geſpornt, empfing ihn mit gewohnter Herz¬
lichkeit und guter Laune. „Das iſt recht, Lorenzen.
Und nun wollen wir auch gleich aufſteigen. Aber warum
haben Sie mich nicht an Ihrem Pfarrgarten erwartet?
Muß ja doch dran vorüber“ — und dabei ſchob er
ihm voll Sorglichkeit eine Decke zu, während die Pferde
ſchon anrückten. „Übrigens freut es mich trotzdem (man
widerſpricht ſich immer), daß Sie nicht ſo praktiſch ge¬
weſen [und] doch lieber gekommen ſind. Es is 'ne Politeſſe.
Und die Menſchen ſind jetzt ſo ſchrecklich unpoliert und
geradezu unmanierlich ... Aber laſſen wir's; ich kann
es nicht ändern, und es grämt mich auch nicht.“
„Weil Sie gütig ſind und jene Heiterkeit haben,
die, menſchlich angeſehn, ſo ziemlich unſer Beſtes iſt.“
Dubslav lachte. „Ja, ſo viel iſt richtig; Kopf¬
hängerei war nie meine Sache, und wäre das verdammte
Geld nicht ... Hören Sie, Lorenzen, das mit dem
Mammon und dem goldnen Kalb, das ſind doch eigent¬
lich alles ſehr feine Sachen.“
„Gewiß, Herr von Stechlin.“
[232]„... Und wäre das verdammte Geld nicht, ſo
hätt' ich den Kopf noch weniger hängen laſſen, als ich
gethan. Aber das Geld. Da war, noch unter Friedrich
Wilhelm III., der alte General von der Marwitz auf
Friedersdorf, von dem Sie gewiß mal gehört haben,
der hat in ſeinen Memoiren irgendwo geſagt: ‚er
hätte ſich aus dem Dienſt gern ſchon früher zurück¬
gezogen und ſei bloß geblieben um des Schlechteſten
willen, was es überhaupt gäbe, um des Geldes willen‘
— und das hat damals, als ich es las, einen großen
Eindruck auf mich gemacht. Denn es gehört was dazu,
das ſo ruhig auszuſprechen. Die Menſchen ſind in allen
Stücken ſo verlogen und unehrlich, auch in Geldſachen,
faſt noch mehr als in Tugend. Und das will was
ſagen. Ja, Lorenzen, ſo iſt es ... Na, laſſen wir's,
Sie wiſſen ja auch Beſcheid. Und dann ſind das ſchlie߬
lich auch keine Betrachtungen für heute, wo ich gewählt
werden und den Triumphator ſpielen ſoll. Übrigens
geh' ich einem totalen Kladderadatſch entgegen. Ich
werde nicht gewählt.“
Lorenzen wurde verlegen, denn was Dubslav da
zuletzt ſagte, das ſtimmte nur zu ſehr mit ſeiner eignen
Meinung. Aber er mußte wohl oder übel, ſo ſchwer es
ihm wurde, das Gegenteil verſichern. „Ihre Wahl, Herr
von Stechlin, ſteht, glaub' ich, feſt; in unſrer Gegend
wenigſtens. Die Globſower und Dagower gehen mit
gutem Beiſpiel voran. Lauter gute Leute.“
„Vielleicht. Aber ſchlechte Muſikanten. Alle Menſchen
ſind Wetterfahnen, ein bißchen mehr, ein bißchen weniger.
Und wir ſelber machen's auch ſo. Schwapp, ſind wir
auf der andern Seite.“
„Ja, ſchwach iſt jeder, und ich mag mich auch nicht
für all und jeden verbürgen. Aber in dieſem ſpeziellen
Falle ... Selbſt Koſeleger ſchien mir voll Zuverſicht
[233] und Vertrauen, als er am Donnerstag noch mit mir
plauderte.“
„Koſeleger voll Vertrauen! Na, dann geht es gewiß
in die Brüche. Wo Koſeleger Amen ſagt, das iſt ſchon
ſo gut wie letzte Ölung. Er hat keine glückliche Hand,
dieſer Ihr Amtsbruder und Vorgeſetzter.“
„Ich teile leider einigermaßen Ihre Bedenken gegen
ihn. Aber was vielleicht mit ihm verſöhnen kann, er
hat angenehme Formen und durchaus etwas Verbindliches.“
„Das hat er. Und doch, ſo ſehr ich ſonſt für
Formen und Verbindlichkeiten bin, nicht für ſeine. Man
ſoll einem Menſchen nicht ſeinen Namen vorhalten. Aber
Koſeleger! Ich weiß immer nicht, ob er mehr Koſe oder
mehr Leger iſt; vielleicht beides gleich. Er iſt wie 'ne
Baiſertorte, ſüß, aber ungeſund. Nein, Lorenzen, da
bin ich doch mehr für Sie. Sie taugen auch nicht viel,
aber Sie ſind doch wenigſtens ehrlich.“
„Vielleicht,“ ſagte Lorenzen. „Übrigens hat Koſe¬
leger inmitten ſeiner Verbindlichkeiten und ſchönen Worte
doch auch wieder was Freies, beinah' Gewagtes und
iſt mir da neulich mit Bekenntniſſen gekommen, faſt wie
ein Charakter.“
Dubslav lachte hell auf. „Charakter. Aber Lorenzen.
Wie können Sie ſich ſo hinters Licht führen laſſen. Ich
verwette mich, er hat Ihnen irgend was über Ihre
‚Gaben‘ geſagt; das iſt jetzt ſo Lieblingswort, das die
Paſtoren immer gegenſeitig brauchen. Es ſoll beſcheiden
und unperſönlich klingen und ſozuſagen alles auf In¬
ſpiration zurückführen, für die man ja, wie für alles,
was von oben kommt, am Ende nicht kann. Es iſt
aber gerade dadurch das Hochmütigſte ... War es ſo
was? Hat er meinen klugen Lorenzen, eh' er ſich als
‚Charakter‘ ausſpielte, durch ſolche Schmeicheleien ein¬
gefangen?“
„Es war nicht ſo, Herr von Stechlin. Sie thun
[234] ihm hier ausnahmsweiſe unrecht. Er ſprach überhaupt
nicht über mich, ſondern über ſich und machte mir dabei
ſeine Konfeſſions. Er geſtand mir beiſpielsweiſe, daß
er ſich unglücklich fühle.“
„Warum?“
„Weil er in Quaden-Hennersdorf deplaciert ſei.“
„Deplaciert. Das iſt auch ſolch Wort; das kenn'
ich. Wenn man durchaus will, iſt jeder deplaciert, ich,
Sie, Krippenſtapel, Engelke. Ich müßte Präſes von einem
Stammtiſch oder vielleicht auch ein Badedirektor ſein,
Sie Miſſionar am Kongo, Krippenſtapel Kuſtos an einem
märkiſchen Muſeum, und Engelke, nun der müßte gleich
ſelbſt hinein, Nummer hundertdreizehn. Deplaciert! Alles
bloß Eitelkeit und Größenwahn. Und dieſer Koſeleger
mit dem Konſiſtorialratskinn! Er war Galopin bei 'ner
Großfürſtin; das kann er nicht vergeſſen, damit will
er's nun zwingen, und in ſeinem Ärger und Unmut
ſpielt er ſich auf den Charakter aus und verſteigt ſich,
wie Sie ſagen, bis zu Konfeſſions und Gewagtheiten.
Und wenn er nun reüſſierte (Gott verhüt' es), ſo haben
Sie den Scheiterhaufenmann comme il faut. Und der
erſte, der 'rauf muß, das ſind Sie. Denn er wird ſo¬
fort das Bedürfnis ſpüren, ſeine Gewagtheiten von heute
durch irgend ein Brandopfer wieder wett zu machen.“
Unter dieſem Geſpräche waren ſie ſchließlich aus
dem Walde heraus und näherten ſich einem beinah'
meilenlangen und bis an den Horizont ſich ausdehnenden
Stück Bruchland, über das mehrere mit Kropfweiden
und Silberpappeln beſetzte Wege ſtrahlenförmig auf
Rheinsberg zuliefen. Alle dieſe Wege waren belebt,
meiſt mit Fußgängern, aber auch mit Fuhrwerken. Eins
davon, aus gelblichem Holz, das hell in der Sonne
blinkte, war leicht zu erkennen.
„Da fährt ja Katzler,“ ſagte Dubslav. „Über¬
raſcht mich beinah'. Es iſt nämlich, was Sie vielleicht
[235] noch nicht wiſſen werden, wieder was einpaſſiert; er
ſchickte mir heute früh einen Boten mit der Nachricht
davon, und daraus ſchloß ich, er würde nicht zur Wahl
kommen. Aber Ermyntrud mit ihrer grandioſen Pflicht¬
vorſtellung wird ihn wohl wieder fortgeſchickt haben.“
„Iſt es wieder ein Mädchen?“ fragte Lorenzen.
„Natürlich, und zwar das ſiebente. Bei ſieben
(freilich müſſen es Jungens ſein) darf man. glaub ich,
den Kaiſer zu Gevatter laden. Übrigens ſind mehrere bereits
tot, und alles in allem iſt es wohl möglich, daß ſich
Ermyntrud über das beſtändige ‚bloß Mädchen‘ allerlei
Sorgen und Gedanken macht.“
Lorenzen nickte. „Kann mir's denken, daß die
Prinzeſſin etwas wie eine zu leiſtende Sühne darin ſieht,
Sühne wegen des von ihr gethanen Schrittes. Alles
an ihr iſt ein wenig überſpannt. Und doch iſt es eine
ſehr liebenswürdige Dame.“
„Wovon niemand überzeugter iſt als ich,“ ſagte
Dubslav. „Freilich bin ich beſtochen, denn ſie ſagt mir
immer das Schmeichelhafteſte. Sie plaudre ſo gern mit
mir, was auch am Ende wohl zutrifft. Und dabei wird
ſie dann jedesmal ganz ausgelaſſen, trotzdem ſie eigentlich
hochgradig ſentimental iſt. Sentimental, was nicht über¬
raſchen darf; denn aus Sentimentalität iſt doch ſchließlich
die ganze Katzlerei hervorgegangen. Bin übrigens ernſtlich
in Sorge, wo Hoheit den richtigen Taufnamen für das
Jüngſtgeborene hernehmen wird. In dieſem Stücke,
vielleicht dem einzigen, iſt ſie nämlich noch ganz und
gar Prinzeſſin geblieben. Und Sie, lieber Lorenzeu, werden
dabei ſicherlich mit zu Rate gezogen werden.“
„Was ich mir nicht ſchwierig denken kann.“
„Sagen Sie das nicht. Es giebt in dieſem Falle viel
weniger Brauchbares, als Sie ſich vorzuſtellen ſcheinen.
Prinzeſſinnen-Namen an und für ſich, ohne weitere Zu¬
that, ja, die giebt es genug. Aber damit iſt Ermyn¬
[236] trud nicht zufrieden; ſie verlangt ihrer Natur nach zu
dem Dynaſtiſch-Genealogiſchen auch noch etwas poetiſch
Märchenhaftes. Und das kompliziert die Sache ganz
erheblich. Sie können das ſehen, wenn Sie die Katz¬
lerſche Kinderſtube durchmuſtern oder ſich die Namen der
bisher Getauften ins Gedächtnis zurückrufen. Die Katz¬
lerſche Kronprinzeß heißt natürlich auch Ermyntrud, Und
dann kommen ebenſo ſelbſtverſtändlich Dagmar und
Thyra. Und danach begegnen wir einer Inez und einer
Maud und zuletzt einer Arabella. Aber bei Arabella
können Sie ſchon deutlich eine gewiſſe Verlegenheit wahr¬
nehmen. Ich würde ihr, wenn ſie ſich wegen des Jüngſt¬
geborenen an mich wendete, was Altjüdiſches vorſchlagen;
das iſt ſchließlich immer das beſte. Was meinen Sie
zu Rebekka?“
Lorenzen kam nicht mehr dazu. Dubslav dieſe Frage
zu beantworten, denn eben jetzt waren ſie durch das
Stück Bruchland hindurch und raſſelten bereits über
einen ein weiteres Geſpräch unmöglich machenden Stein¬
damm weg, ſcharf auf Rheinsberg zu.
Dubslav war in ausgezeichneter Laune. Das
prachtvolle Herbſtwetter, dazu das bunte Leben, alles
hatte ſeine Stimmung gehoben, am meiſten aber, daß
er unterwegs und beim Paſſieren der Hauptſtraße bereits
Gelegenheit gehabt hatte, verſchiedene gute Freunde zu
begrüßen. Von der Kirche her ſchlug es zehn, als er
vor dem als Wahllokal etablierten Gaſthauſe „Zum
Prinzregenten“ hielt, in deſſen Front denn auch bereits
etliche mehr oder weniger verwogen ausſehende Wahl¬
männer ſtanden, alle bemüht, ihre Zettel an mutma߬
liche Parteigenoſſen auszuteilen.
[237]
Drinnen im Saal war der Wahlakt ſchon im
Gange. Hinter der Urne präſidierte der alte Herr von
Zühlen, ein guter Siebziger, der die groteskeſten Feudal¬
anſichten mit ebenſo grotesker Bonhomie zu verbinden
wußte, was ihm, auch bei ſeinen politiſchen Gegnern,
eine große Beliebtheit ſicherte. Neben ihm, links und
rechts, ſaßen Herr von Storbeck und Herr van dem
Peerenboom, letzterer ein Holländer aus der Gegend von
Delft, der vor wenig Jahren erſt ein großes Gut im
Ruppiner Kreiſe gekauft und ſich ſeitdem zum Preußen
und, was noch mehr ſagen wollte, zum ‚Grafſchaftler‘
herangebildet hatte. Man ſah ihn aus allen möglichen
Gründen — auch ſchon um ſeines ‚van‘ willen — nicht
ganz für voll an, ließ aber nichts davon merken, weil
er der, bei den meiſten Grafſchaftlern ſtark ins Gewicht
fallenden Haupteigenſchaft eines vor ſo und ſo viel
Jahren in Batavia geborenen holländiſch-javaniſchen
Kaffeehändlers nicht entbehrte. Seines Nachbarn von
Storbeck Lebensgeſchichte war durchſchnittsmäßiger. Unter
denen, die ſonſt noch am Komiteetiſch ſaßen, befand ſich
auch Katzler, den Ermyntrud (wie Dubslav ganz richtig
vermutet) mit der Bemerkung, „daß im modernen bürger¬
lichen Staate Wählen ſo gut wie Kämpfen ſei“, von
ihrem Wochenbette fortgeſchickt hatte. „Das Kind wird
inzwiſchen mein Engel ſein, und das Gefühl erfüllter
Pflicht ſoll mich bei Kraft erhalten.“ Auch Gunder¬
mann, der immer mit dabei ſein mußte, ſaß am Komitee¬
tiſch. Sein Benehmen hatte was Aufgeregtes, weil
er — wie Lorenzen bereits angedeutet — wirklich im
geheimen gegen Dubslav intrigiert hatte. Daß er ſelber
unterliegen würde, war klar und beſchäftigte ihn kaum noch,
aber ihn erfüllte die Sorge, daß ſein voraufgegangenes
doppeltes Spiel vielleicht an den Tag kommen könne.
Dubslav wollte die Sache gern hinter ſich haben.
Er trat deshalb, nachdem er ſich draußen mit einigen
[238] Bekannten begrüßt und an jeden einzelnen ein paar
Worte gerichtet hatte, vom Vorplatz her in das Wahl¬
lokal ein, um da ſo raſch wie möglich ſeinen Zettel in
die Urne zu thun. Es traf ihn bei dieſer Prozedur
der Blick des alten Zühlen, der ihm in einer Miſchung
von Feierlichkeit und Ulk ſagen zu wollen ſchien: „Ja,
Stechlin, das hilft nu mal nicht; man muß die Komödie
mit durchmachen.“ Dubslav kam übrigens kaum dazu,
von dieſem Blicke Notiz zu nehmen, weil er Katzlers
gewahr wurde, dem er ſofort entgegentrat, um ihm durch
einen Händedruck zu dem ſiebenten Töchterchen zu gra¬
tulieren. An Gundermann ging der Alte ohne Notiz¬
nahme vorüber. Dies war aber nur Zufall; er wußte
nichts von den Zweideutigkeiten des Siebenmühlners,
und nur dieſer ſelbſt, weil er ein ſchlechtes Gewiſſen
hatte, wurde verlegen und empfand des Alten Haltung
wie eine Abſage.
Als Dubslav wieder draußen war, war natürlich
die große Frage: „Ja, was jetzt thun?“ Es ging erſt
auf elf, und vor ſechs war die Geſchichte nicht vorbei,
wenn ſich's nicht noch länger hinzog. Er ſprach dies
auch einer Anzahl von Herren aus, die ſich auf einer
vor dem Gaſthauſe ſtehenden Bank niedergelaſſen und
hier dem Liquerkaſten des „Prinzregenten“, der ſonſt
immer erſt nach dem Diner auftauchte, vorgreifend zu¬
geſprochen hatten.
Es waren ihrer fünf, lauter Kreis- und Partei¬
genoſſen, aber nicht eigentlich Freunde, denn der alte
Dubslav war nicht ſehr für Freundſchaften. Er ſah
zu ſehr, was jedem einzelnen fehlte. Die da ſaßen
und aus purer Langerweile ſich über die Vorzüge von
Allaſch und Chartreuſe ſtritten, waren die Herren von
Molchow, von Krangen und von Gnewkow, dazu Baron
Beetz und ein Freiherr von der Nonne, den die Natur
mit beſonderer Rückſicht auf ſeinen Namen geformt zu
[239] haben ſchien. Er trug eine hohe ſchwarze Krawatte,
drauf ein kleiner vermickerter Kopf ſaß, und wenn er
ſprach, war es, wie wenn Mäuſe pfeifen. Er war die
komiſche Figur des Kreiſes und wurde gehänſelt, nahm
es aber nicht übel, weil ſeine Mutter eine ſchleſiſche
Gräfin auf „inski“ war, was ihm in ſeinen Augen
ein ſolches Übergewicht ſicherte, daß er, wie Friedrich
der Große, jeden Augenblick bereit war, „die ſich etwa
einſtellenden Pasquille niedriger hängen zu laſſen.“
„Ich denke, meine Herren,“ ſagte Dubslav, „wir
gehen in den Park. Da hat man doch immer was.
An der einen Stelle ruht das Herz des Prinzen, und
an der andern Stelle ruht er ſelbſt und hat ſogar eine
Pyramide zu Häupten, wie wenn er Seſoſtris geweſen
wäre. Ich würde gern einen andern nennen, aber ich
kenne bloß den.“
„Natürlich gehen wir in den Park,“ ſagte von
Gnewkow. „Und es iſt ſchließlich immer noch ein
Glück, daß man ſo was hat ...“
„Und auch ein Glück,“ ergänzte von Molchow,
„daß man ſolchen Wahltag wie heute hat, der einen
ordentlich zwingt, ſich mal um Hiſtoriſches und Bildungs¬
mäßiges zu kümmern. Bismarcken is es auch mal ſo ge¬
gangen, noch dazu mit 'ner reichen Amerikanerin, und
hat auch gleich (das heißt eigentlich lange nachher) das
rechte Wort dafür gefunden.“
„Der hat immer das rechte Wort gefunden.“
„Immer. Aber weiter, Molchow.“
„... Und als nun alſo die reiche Amerikanerin
ſo runde vierzig Jahr ſpäter ihn wiederſah und ſich bei
ihm bedanken wollte von wegen des Bildermuſeums, in
das er ſie halb aus Verlegenheit und halb aus Ritter¬
lichkeit begleitet und ihr mutmaßlich alle Bilder falſch
erklärt hatte, da hat er all dieſen Dank abgewieſen und
ihr — ich ſeh' und hör' ihn ordentlich — in aller
[240] Fidelität geſagt, ſie habe nicht ihm, ſondern er habe ihr
zu danken, denn wenn jener Tag nicht geweſen wäre,
ſo hätt' er das ganze Bildermuſeum höchſt wahrſchein¬
lich nie zu ſehen gekriegt. Ja, Glück hat er immer
gehabt. Im großen und im kleinen. Es fehlt bloß
noch, daß er hinterher auch noch Generaldirektor der
königlichen Muſeen geworden wäre, was er ſchließlich
doch auch noch gekonnt hätte. Denn eigentlich konnt' er
alles und iſt auch beinah' alles geweſen.“
„Ja,“ nahm Gnewkow, der aus Langerweile viel
gereiſt war, ſeinen Urgedanken, daß ſolcher Park eigent¬
lich ein Glück ſei, wieder auf. „Ich finde, was Molchow
da geſagt hat, ganz richtig; es kommt drauf an, daß
man 'reingezwungen wird, ſonſt weiß man überhaupt
gar nichts. Wenn ich ſo bloß an Italien zurückdenke.
Sehen Sie, da läuft man nu ſo 'rum, was einen doch
am Ende ſtrapziert, und dabei dieſer ewige pralle
Sonnenſchein. Ein paar Stunden geht es; aber wenn man
nu ſchon zweimal Kaffee getrunken und Granito gegeſſen
hat, und es iſt noch nicht mal Mittag, ja, ich bitte Sie,
was hat man da? Was fängt man da an? Gradezu
ſchrecklich. Und da kann ich Ihnen bloß ſagen, da bin
ich ein kirchlicher Menſch geworden. Und wenn man
dann ſo von der Seite her ſtill eintritt und hat mit
einem Male die Kühle um ſich 'rum, ja, da will man
gar nicht wieder 'raus und ſieht ſich ſo ſeine funfzig
Bilder an, man weiß nicht, wie. Is doch immer noch
beſſer als draußen. Und die Zeit vergeht, und die
Stunde, wo man was Reguläres kriegt, läppert ſich ſo
heran.“
„Ich glaube doch,“ ſagte der für kirchliche Kunſt
ſchwärmende Baron Beetz, „unſer Freund Gnewkow unter¬
ſchätzt die Wirkung, die, vielleicht gegen ſeinen Willen,
die Quattrocentiſten auf ihn gemacht haben. Er hat
ihre Macht an ſich ſelbſt empfunden, aber er will es
[241] nicht wahr haben, daß die Friſche von ihnen ausgegangen
ſei. Jeder, der was davon verſteht ...“
„Ja, Baron, das is es eben. Wer was davon
verſteht! Aber wer verſteht was davon? Ich jeden¬
falls nicht.“
Unter dieſen Worten war man, vom „Prinzregenten“
aus, die Hauptſtraße hinuntergeſchritten und über eine
kleine Brücke fort erſt in den Schloßhof und dann in
den Park eingetreten. Der See plätſcherte leis. Kähne
lagen da, mehrere an einem Steg, der von dem Kies¬
ufer her in den See hineinlief. Ein paar der Herren,
unter ihnen auch Dubslav, ſchritten die ziemlich wacklige
Bretterlage hinunter und blickten, als ſie bis ans Ende
gekommen waren, wieder auf die beiden Schloßflügel
und ihre kurzabgeſtumpften Türme zurück. Der Turm
rechts war der, wo Kronprinz Fritz ſein Arbeitszimmer
gehabt hatte.
„Dort hat er gewohnt,“ ſagte von der Nonne.
„Wie begrenzt iſt doch unſer Können. Mir weckt der
Anblick ſolcher Fridericianiſchen Stätten immer ein Schmerz¬
gefühl über das Unzulängliche des Menſchlichen über¬
haupt, freilich auch wieder ein Hochgefühl, daß wir
dieſer Unzulänglichkeit und Schwäche Herr werden können.
Tod, wo iſt dein Stachel, Hölle, wo iſt dein Sieg?
Dieſer König. Er war ein großer Geiſt, gewiß; aber
doch auch ein verirrter Geiſt. Und je patriotiſcher wir
fühlen, je ſchmerzlicher berührt uns die Frage nach dem
Heil ſeiner Seele. Die Seelenmeſſen — das empfind'
ich in ſolchem Augenblicke — ſind doch eine wirklich
troſtſpendende Seite des Katholizismus, und daß es
(ſelbſtverſtändlich unter Gewähr eines höchſten Willens)
in die Macht Überlebender gelegt iſt, eine Seele frei zu
beten, das iſt und bleibt eine große Sache.“
„Nonne,“ ſagte Molchow, „machen Sie ſich nicht
komiſch. Was haben Sie für 'ne Vorſtellung vom lieben
Fontane, Der Stechlin. 16[242] Gott? Wenn Sie kommen und den alten Fritzen frei
beten wollen, werden Sie 'rausgeſchmiſſen.“
Baron Beetz — auch ein Anzweifler des Philoſophen
von Sansſouci — wollte ſeinem Freunde Nonne zu
Hilfe kommen und erwog einen Augenblick ernſtlich, ob
er nicht ſeinen in der ganzen Grafſchaft längſt bekannten
Vortrag über die „ſchiefe Ebene“ oder „c'est le premier
pas qui coute“ noch einmal zum beſten geben ſolle.
Klugerweiſe jedoch ließ er es wieder fallen und war ein¬
verſtanden, als Dubslav ſagte: „Meine Herren, ich
meinerſeits ſchlage vor, daß mir unſern Auslug von dem
Wackelſtege, drauf mir hier ſtehen (jeden Augenblick kann
einer von uns ins Waſſer fallen), endlich aufgeben und
uns lieber in einem der hier herum liegenden Kähne
über den See ſetzen laſſen. Unterwegs, wenn noch welche
da ſind, können wir Teichroſen pflücken und drüben am
andern Ufer den großen Prinz Heinrich-Obelisken mit
ſeinen franzöſiſchen Inſchriften durchſtudieren. Solche
Rekapitulation ſtärkt einen immer hiſtoriſch und patrio¬
tiſch, und unſer Etappenfranzöſiſch kommt auch wieder
zu Kräften.“
Alle waren einverſtanden, ſelbſt Nonne.
Gegen vier war man von dem Ausfluge zurück und
hielt wieder vor dem „Prinzregenten“, auf einem mit
alten Bäumen beſetzten Platz, der wegen ſeiner Dreiecks¬
form ſchon von alter Zeit her den Namen „Triangel¬
platz“ führte. Die Wahlreſultate lagen noch keineswegs
ſicher vor; es ließ ſich aber ſchon ziemlich deutlich er¬
kennen, daß viele Fortſchrittlerſtimmen auf den ſozial¬
demokratiſchen Kandidaten, Feilenhauer Torgelow, über¬
gehen würden, der, trotzdem er nicht perſönlich zugegen
[243] war, die kleinen Leute hinter ſich hatte. Hunderte ſeiner
Parteigenoſſen ſtanden in Gruppen auf dem Triangel¬
platz umher und unterhielten ſich lachend über die Wahl¬
reden, die während der letzten Tage teils in Rheinsberg
und Wutz, teils auf dem platten Lande von Rednern
der gegneriſchen Parteien gehalten worden waren. Einer
der mit unter den Bäumen Stehenden, ein Intimus
Torgelows, war der Drechslergeſelle Söderkopp, der ſich
ſchon lediglich in ſeiner Eigenſchaft als Drechslergeſelle
eines großen Anſehns erfreute. Jeder dachte: der kann
auch noch mal Bebel werden. „Warum nicht? Bebel
is alt, und dann haben wir den.“ Aber Söderkopp
verſtand es auch wirklich, die Leute zu packen. Am
ſchärfſten ging er gegen Gundermann vor. „Ja, dieſer
Gundermann, den kenn' ich. Brettſchneider und Börſen¬
filou; jeder Groſchen is zuſammengejobbert. Sieben
Mühlen hat er, aber bloß zwei Redensarten, und der
Fortſchritt iſt abwechſelnd die ‚Vorfrucht‘ und dann wieder
der ‚Vater‘ der Sozialdemokratie. Vielleicht ſtammen
wir auch noch von Gundermann ab. So einer bringt
alles fertig.“
Uncke, während Söderkopp ſo ſprach, war von Baum
zu Baum immer näher gerückt und machte ſeine Notizen.
In weiterer Entfernung ſtand Pyterke, ſchmunzelnd und
ſichtlich verwundert, was Uncke wieder alles aufzuſchreiben
habe.
Pyterkes Verwunderung über das „Aufſchreiben“
war nur zu berechtigt, aber ſie wär' es um ein gut Teil
weniger geweſen, wenn ſich Unckes aufhorchender Dienſt¬
eifer ſtatt dem Sozialdemokraten Söderkopp lieber dem
Geſpräch einer nebenſtehenden Gruppe zugewandt hätte.
Hier [plauderten] nämlich mehrere „Staatserhaltende“
von dem mutmaßlichen Ausgange der Wahl und daß
es mit dem Siege des alten Stechlin von Minute
zu Minute ſchlechter ſtünde. Beſonders die Rheins¬
16 *[244] berger ſchienen den Ausſchlag zu ſeinen Ungunſten geben
zu ſollen.
„Hole der Teufel das ganze Rheinsberg!“ verſchwor
ſich ein alter Herr von Kraatz, deſſen roter Kopf, während
er ſo ſprach, immer röter wurde. „Dies elende Neſt!
Wir bringen ihn wahr und wahrhaftig nicht durch,
unſern guten alten Stechlin. Und was das ſagen will,
das wiſſen wir. Wer gegen uns ſtimmt, ſtimmt auch
gegen den König. Das iſt all eins. Das iſt das, was
man jetzt ſolidariſch nennt.“
„Ja, Kraatz,“ nahm Molchow, an den ſich dieſe
Rede vorzugsweiſe gerichtet hatte, das Wort, „nennen
Sie's, wie Sie wollen, ſolidariſch oder nicht; das eine
ſagt nichts, und das andre ſagt auch nichts. Aber mit
Ihrem Wort über Rheinsberg, da haben Sie's freilich
getroffen. Aufmuckung war hier immer zu Hauſe, von
Anfang an. Erſt frondierte Fritz gegen ſeinen Vater,
dann frondierte Heinrich gegen ſeinen Bruder, und zuletzt
frondierte Auguſt, unſer alter forſcher Prinz Auguſt, den
manche von uns ja noch gut gekannt haben, ich ſage:
frondierte unſer alter Auguſt gegen die Moral. Und
das war natürlich das Schlimmſte. (Zuſtimmung und
Heiterkeit.) Und beſtraft ſich zuletzt auch immer. Denn
wiſſen Sie denn, meine Herren, wie's mit Auguſten
ſchließlich ging, als er durchaus in den Himmel
wollte?“
„Nein. Wie war es denn, Molchow?“
„Ja, er mußte da wohl 'ne halbe Stunde warten,
und als er nu mit 'nem Anſchnauzer gegen Petrus 'raus¬
fahren wollte, da ſagte ihm der Fels der Kirche: ‚König¬
liche Hoheit, halten zu Gnaden, aber es ging nicht
anders‛. Und warum nicht? Er hatte die elftauſend
Jungfrauen erſt in Sicherheit bringen müſſen.“
„Stimmt, ſtimmt,“ ſagte Kraatz. „So war der
[245] Alte. Der reine Deubelskerl. Aber ſchneidig. Und ein
richtiger Prinz. Und dann, meine Herren, — ja, du
mein Gott, wenn man nu mal Prinz is, irgend was
muß man doch von der Sache haben ... Und ſo viel
weiß ich, wenn ich Prinz wäre ...“
Zwanzigſtes Kapitel.
Um ſechs ſtand das Wahlreſultat ſo gut wie feſt;
einige Meldungen fehlten noch, aber das war aus Ort¬
ſchaften, die mit ihren paar Stimmen nichts mehr ändern
konnten. Es lag zu Tage, daß die Sozialdemokraten
einen beinahe glänzenden Sieg davon getragen hatten;
der alte Stechlin ſtand weit zurück, Fortſchrittler Katzen¬
ſtein aus Granſee noch weiter. Im ganzen aber ließen
beide beſiegte Parteien dies ruhig über ſich ergehen;
bei den Freiſinnigen war wenig, bei den Konſervativen
gar nichts von Verſtimmung zu merken. Dubslav nahm
es ganz von der heiteren Seite, ſeine Parteigenoſſen
noch mehr, von denen eigentlich ein jeder dachte: „Siegen
iſt gut, aber zu Tiſche gehen iſt noch beſſer.“ Und in
der That, gegeſſen mußte werden. Alles ſehnte ſich
danach, bei Forellen und einem guten Chablis die
langweilige Prozedur zu vergeſſen. Und war man
erſt mit den Forellen fertig, und dämmerte der Reh¬
rücken am Horizont herauf, ſo war auch der Sekt in
Sicht. Im „Prinz-Regenten“ hielt man auf eine gute
Marke.
Durch den oberen Saal hin zog ſich die Tafel:
der Mehrzahl nach Rittergutsbeſitzer und Domänen¬
pächter, aber auch Gerichtsräte, die ſo glücklich waren,
den „Hauptmann in der Reſerve“ mit auf ihre Karte
ſetzen zu können. Zu dieſem Gros d'Armee geſellten
[247] ſich Forſt- und Steuerbeamte, Rentmeiſter, Prediger
und Gymnaſiallehrer. An der Spitze dieſer ſtand Rektor
Thormeyer aus Rheinsberg, der große, vorſtehende
Augen, ein mächtiges Doppelkinn, noch mächtiger als
Koſeleger, und außerdem ein Renommee wegen ſeiner
Geſchichten hatte. Daß er nebenher auch ein in der
Wolle gefärbter Konſervativer war, verſteht ſich von
ſelbſt. Er hatte, was aber ſchon Jahrzehnte zurücklag,
den großartigen Gedanken gefaßt und verwirklicht: die
oſtelbiſchen Provinzen, da, wo ſie ſtrauchelten, durch
Guſtav Kühnſche Bilderbogen auf den richtigen Pfad
zurückzuführen, und war dafür dekoriert worden. Es
hieß denn auch von ihm, „er gälte was nach oben hin“,
was aber nicht recht zutraf. Man kannte ihn „oben“
ganz gut.
Um halb ſieben (Lichter und Kronleuchter brannten
bereits) war man unter den Klängen des Tannhäuſer¬
marſches die hie und da ſchon ausgelaufene Treppe
hinaufgeſtiegen. Unmittelbar vorher hatte noch ein
Schwanken wegen des Präſidiums bei Tafel ſtattge¬
funden. Einige waren für Dubslav geweſen, weil man
ſich von ihm etwas Anregendes verſprach, auch ſpeziell
mit Rückſicht auf die Situation. Aber die Majorität
hatte doch ſchließlich Dubslavs Vorſitz als ganz un¬
denkbar abgelehnt, da der Edle Herr von Alten-Frieſack,
trotz ſeiner hohen Jahre, mit zur Wahl gekommen war;
der Edle Herr von Alten-Frieſack, ſo hieß es, ſei doch
nun mal — und von einem gewiſſen Standpunkt aus
auch mit Fug und Recht — der Stolz der Grafſchaft,
überhaupt ein Unikum, und ob er nun ſprechen könne
oder nicht, das ſei, wo ſich's um eine Prinzipienfrage
handle, durchaus gleichgültig. Überhaupt, die ganze
Geſchichte mit dem „Sprechen-können“ ſei ein moderner
Unſinn. Die einfache Thatſache, daß der Alte von
Alten-Frieſack da ſäße, ſei viel, viel wichtiger als eine
[248] Rede, und ſein großes Präbendenkreuz ziere nicht bloß
ihn, ſondern den ganzen Tiſch. Einige ſprächen freilich
immer von ſeinem Götzengeſicht und ſeiner Häßlichkeit,
aber auch das ſchade nichts. Heutzutage, wo die meiſten
Menſchen einen Friſeurkopf hätten, ſei es eine ordent¬
liche Erquickung, einem Geſicht zu begegnen, das in
ſeiner Eigenart eigentlich gar nicht unterzubringen ſei.
Dieſer von dem alten Zühlen, trotz ſeiner Vorliebe für
Dubslav, eindringlich gehaltenen Rede war allgemein
zugeſtimmt worden, und Baron Beetz hatte den götzen¬
haften Alten-Frieſacker an ſeinen Ehrenplatz geführt.
Natürlich gab es auch Schandmäuler. An ihrer Spitze
ſtand Molchow, der dem neben ihm ſitzenden Katzler
zuflüſterte: „Wahres Glück, Katzler, daß der Alte drüben
die große Blumenvaſe vor ſich hat; ſonſt, ſo bei veau
en tortue, — vorausgeſetzt, daß ſo was Feines über¬
haupt in Sicht ſteht — würd' ich der Sache nicht ge¬
wachſen ſein.“
Und nun ſchwieg der von einem Thormeyerſchen
Unterlehrer geſpielte Tannhäuſermarſch, und als eine
beſtimmte Zeit danach der Moment für den erſten Toaſt
da war, erhob ſich Baron Beetz und ſagte: „Meine
Herren. Unſer Edler Herr von Alten-Frieſack iſt von
der Pflicht und dem Wunſch erfüllt, den Toaſt auf
Seine Majeſtät den Kaiſer und König auszubringen.“
Und während der Alte, das Geſagte beſtätigend, mit
ſeinem Glaſe grüßte, ſetzte der in ſeiner alter ego-
Rolle verbleibende Baron Beetz hinzu: „Seine Majeſtät
der Kaiſer und König lebe hoch!“ Der Alten-Frieſacker
gab auch hierzu durch Nicken ſeine Zuſtimmung, und
während der junge Lehrer abermals auf den auf einer
Rheinsberger Schloßauktion erſtandenen alten Flügel
zueilte, ſtimmte man an der ganzen Tafel hin das
„Heil dir im Siegerkranz“ an, deſſen erſter Vers ſtehend
geſungen wurde.
[249]
Das Offizielle war hierdurch erledigt, und eine
gewiſſe Fidelitas, an der es übrigens von Anfang an
nicht gefehlt hatte, konnte jetzt nachhaltiger in ihr Recht
treten. Allerdings war noch immer ein wichtiger und
zugleich ſchwieriger Toaſt in Sicht, der, der ſich mit
Dubslav und dem unglücklichen Wahlausgange zu be¬
ſchäftigen hatte. Wer ſollte den ausbringen? Man hing
dieſer Frage mit einiger Sorge nach und war eigentlich
froh, als es mit einemmale hieß, Gundermann werde
ſprechen. Zwar wußte jeder, daß der Siebenmühlener
nicht ernſthaft zu nehmen ſei, ja, daß Sonderbarkeiten
und [vielleicht] ſogar Scheiterungen in Sicht ſtünden, aber
man tröſtete ſich, je mehr er ſcheitere, deſto beſſer. Die
meiſten waren bereits in erheblicher Aufregung, alſo
ſehr unkritiſch. Eine kleine Weile verging noch. Dann
bat Baron Beetz, dem die Rolle des Feſtordners zuge¬
fallen war, für Herrn von Gundermann auf Sieben¬
mühlen ums Wort. Einige ſprachen ungeniert weiter,
„Ruhe, Ruhe!“ riefen andre dazwiſchen, und als Baron
Beetz noch einmal an das Glas geklopft und nun,
auch ſeinerſeits um Ruhe bittend, eine leidliche Stille
hergeſtellt hatte, trat Gundermann hinter ſeinen Stuhl
und begann, während er mit affektierter Nonchalance
ſeine Linke in die Hoſentaſche ſteckte.
„Meine Herren. Als ich vor ſo und ſo viel Jahren
in Berlin ſtudierte“ („na nu“), „als ich vor Jahren in
Berlin ſtudierte, war da mal 'ne Hinrichtung ...“
„Alle Wetter, der ſetzt gut ein.“
„... war da mal 'ne Hinrichtung, weil eine
dicke Klempnermadamm, nachdem ſie ſich in ihren Lehr¬
burſchen verliebt, ihren Mann, einen würdigen Klempner¬
meiſter, vergiftet hatte. Und der Bengel war erſt ſieb¬
zehn. Ja, meine Herren, ſo viel muß ich ſagen, es
kamen damals auch ſchon dolle Geſchichten vor. Und
ich, weil ich den Gefängnisdirektor kannte, ich hatte
[250] Zutritt zu der Hinrichtung, und um mich 'rum ſtanden
lauter Aſſeſſoren und Referendare, ganz junge Herren,
die meiſten mit 'nem Kneifer. Kneifer gab es damals
auch ſchon. Und nun kam die Witwe, wenn man ſie
ſo nennen darf, und ſah ſo weit ganz behäbig und
beinahe füllig aus, weil ſie, was damals viel beſprochen
wurde, 'nen Kropf hatte, weshalb auch der Block ganz
beſonders hatte hergerichtet werden müſſen. Sozuſagen
mit 'nem Ausſchnitt.“
„Mit 'nem Ausſchnitt ...; gut, Gundermann.“
„Und als ſie nun, ich meine die Delinquentin,
all die jungen Referendare ſah, wobei ihr wohl ihr
Lehrling einfallen mochte ...“
„Keine Verſpottung unſrer Referendare ...“
„... Wobei ihr vielleicht ihr Lehrling einfallen
mochte, da trat ſie ganz nahe an den Schaffotrand heran
und nickte uns zu (ich ſage ‚uns‘, weil ſie mich auch
anſah) und ſagte: ‚Ja, ja, meine jungen Herrens, dat
kommt davon ...‘ Und ſehen Sie, meine Herren,
dieſes Wort, wenn auch von einer Delinquentin her¬
rührend, bin ich ſeitdem nicht wieder losgeworden, und
wenn ich ſo was erlebe wie heute, dann muß einem
ſolch Wort auch immer wieder in Erinnerung kommen,
und ich ſage dann auch, ganz wie die Alte damals
ſagte: ‚Ja, meine Herren, dat kommt davon.‘ Und
wovon kommt es? Von den Sozialdemokraten. Und
wovon kommen die Sozialdemokraten?“
„Vom Fortſchritt. Alte Geſchichte, kennen wir.
Was Neues!“
„Es [giebt] da nichts Neues. Ich kann nur be¬
ſtätigen, vom Fortſchritt kommt es. Und wovon kommt
der?“ Davon, daß wir die Abſtimmungsmaſchine haben
und das große Haus mit den vier Ecktürmen. Und
wenn es meinetwegen ohne das große Haus nicht geht,
weil das Geld für den Staat am Ende bewilligt werden
[251] muß — und ohne Geld, meine Herren, geht es nicht“
(Zuſtimmung: „ohne Geld hört die Gemütlichkeit auf“)
— „nun denn, wenn es alſo ſein muß, was ich zugebe,
was ſollen wir, auch unter derlei gern gemachten Zu¬
geſtändniſſen, anfangen mit einem Wahlrecht, wo Herr
von Stechlin gewählt werden ſoll, und wo ſein Kutſcher
Martin, der ihn zur Wahl gefahren, thatſächlich gewählt
wird oder wenigſtens gewählt werden kann. Und der
Kutſcher Martin unſers Herrn von Stechlin iſt mir immer
noch lieber als dieſer Torgelow. Und all das nennt
ſich Freiheit. Ich nenn' es Unſinn und viele thun des¬
gleichen. Ich denke mir aber, gerade dieſe Wahl, in
einem Kreiſe, drin das alte Preußen noch lebt, gerade
dieſe Wahl wird dazu beitragen, die Augen oben helle
zu machen. Ich ſage nicht, welche Augen.“
„Schluß, Schluß!“
„Ich komme zum Schluß. Es hieß anno ſiebzig,
daß ſich die Franzoſen als die ‚glorreich Beſiegten‘ be¬
zeichnet hätten. Ein ſtolzes und nachahmenswertes
Wort. Auch für uns, meine Herren. Und wie wir,
ohne uns was zu vergeben, dieſen Sekt aus Frankreich
nehmen, ſo dürfen wir, glaub' ich, auch das eben citierte
ſtolze Klagewort aus Frankreich herübernehmen. Wir
ſind beſiegt, aber wir ſind glorreich Beſiegte. Wir haben
eine Revanche. Die nehmen wir. Und bis dahin in
alle Wege: Herr von Stechlin auf Schloß Stechlin, er
lebe hoch!“
Alles erhob ſich und ſtieß mit Dubslav an. Einige
freilich lachten, und von Molchow, als er einen neuen
Weinkübel heranbeſtellte, ſagte zu dem neben ihm ſitzenden
Katzler: „Weiß der Himmel, dieſer Gundermann iſt und
bleibt ein Eſel. Was ſollen wir mit ſolchen Leuten?
Erſt beſchreibt er uns die Frau mit 'nem Kropf, und
dann will er das große Haus abſchaffen. Ungeheure
Dämelei. Wenn wir das große Haus nicht mehr haben,
[252] haben wir gar nichts; das iſt noch unſre Rettung, und
die beinah' einzige Stelle, wo mir den Mund (ich ſage
Mund) einigermaßen aufthun und was durchſetzen können.
Wir müſſen mit dem Zentrum paktieren. Dann ſind
wir egal 'raus. Und nun kommt dieſer Gundermann
und will uns auch das noch nehmen. Es iſt doch 'ne
Wahrheit, daß ſich die Parteien und die Stände jedes¬
mal ſelbſt ruinieren. Das heißt, von ‚Ständen‘ kann
hier eigentlich nicht die Rede ſein; denn dieſer Gunder¬
mann gehört nicht mit dazu. Seine Mutter war 'ne
Hebamme in Wrietzen. Drum drängt er ſich auch
immer vor.“
Bald nach Gundermanns Rede, die ſchon eine Art
Nachſpiel geweſen war, flüſterte Baron Beetz dem Alten-
Frieſacker zu, daß es Zeit ſei, die Tafel aufzuheben.
Der Alte wollte jedoch noch nicht recht, denn wenn er mal
ſaß, ſaß er; aber als gleich danach mehrere Stühle gerückt
wurden, blieb ihm nichts anderes übrig, als ſich an¬
zuſchließen, und unter den Klängen des „Hohenfried¬
bergers“ — der „Prager“, darin es heißt, „Schwerin
fällt“, wäre mit Rückſicht auf die Geſamtſituation viel¬
leicht paßlicher geweſen — kehrte man in die Parterre¬
räume zurück, wo die Majorität dem Kaffee zuſprechen
wollte, während eine kleine Gruppe von Allertapferſten
in die Straße hinaustrat, um da, unter den Bäumen
des „Triangelplatzes“, ſich bei Sekt und Cognac des
weiteren bene zu thun. Obenan ſaß von Molchow,
neben ihm von Kraatz und van Peerenboom; Molchow
gegenüber Direktor Thormeyer und der bis dahin mit
der Feſtmuſik betraute Lehrer, der bei ſolchen Gelegen¬
heiten überhaupt Thormeyers Adlatus war. Sonder¬
barerweiſe hatte ſich auch Katzler hier niedergelaſſen (er
ſehnte ſich wohl nach Eindrücken, die jenſeits aller
„Pflicht“ lagen), und neben ihm, was beinahe noch mehr
überraſchen konnte, ſaß von der Nonne. Molchow und
[253] Thormeyer führten das Wort. Von Wahl und Politik
— nur über Gundermann fiel gelegentlich eine ſpöttiſche
Bemerkung — war längſt keine Rede mehr, ſtatt deſſen
befleißigte man ſich, die neueſten Klatſchgeſchichten aus
der Grafſchaft heranzuziehen. „Iſt es denn wahr,“
ſagte Kraatz, „daß die ſchöne Lilli nun doch ihren
Vetter heiraten wird, oder richtiger, der Vetter die ſchöne
Lilli?“
„Vetter?“ fragte Peerenboom.
„Ach, Peerenboom, Sie wiſſen auch gar nichts;
Sie ſitzen immer noch zwiſchen Ihren Delfter Kacheln
und waren doch ſchon 'ne ganze Weile hier, als die
Lilli-Geſchichte ſpielte.“
Peerenboom ließ ſich's geſagt ſein und begrub jede
weitere Frage, was er, ohne ſich zu ſchädigen, auch ganz
gut konnte, da kein Zweifel war, daß der, der das
Lilli-Thema heraufbeſchworen, über kurz oder lang ohne¬
hin alles klarlegen würde. Das geſchah denn auch.
„Ja, dieſe verdammten Kerle,“ fuhr v. Kraatz fort,
„dieſe Lehrer! Entſchuldigen Sie, Luckhardt, aber Sie
ſind ja beim Gymnaſium, da liegt alles anders, und
der, der hier 'ne Rolle ſpielt, war ja natürlich bloß
ein Hauslehrer, Hauslehrer bei Lillis jüngſtem Bruder.
Und eines Tages waren beide weg, der Kandidat und
Lilli. Selbſtverſtändlich nach England. Es kann einer
noch ſo dumm ſein, aber von Gretna Green hat er doch
mal gehört oder geleſen. Und da wollten ſie denn auch
beide hin. Und ſind auch. Aber ich glaube, der Gretna
Greenſche darf nicht mehr trauen. Und ſo nahmen ſie
denn Lodgings in London, ganz ohne Trauung. Und
es ging auch ſo, bis ihnen das kleine Geld ausging.“
„Ja, das kennt man.“
„Und da kamen ſie denn alſo wieder. Das heißt,
Lilli kam wieder. Und ſie war auch ſchon vorher mit
dem Vetter ſo gut wie verlobt geweſen.“
„Und der ſprang nu ab?“
„Nicht ſo ganz. Oder eigentlich gar nicht. Denn
Lilli iſt ſehr hübſch und nebenher auch noch ſehr reich.
Und da ſoll denn der Vetter geſagt haben, er liebe ſie
ſo ſehr, und wo man liebe, da verzeihe man auch.
Und er halte auch eine Entſühnung für durchaus mög¬
lich. Ja, er ſoll dabei von Purgatorium geſprochen
haben.“
„Mißfällt mir, klingt ſchlecht,“ ſagte Molchow.
„Aber was er vorher geſagt, ‚Entſühnung‘, das iſt ein
ſchönes Wort und eine ſchöne Sache. Nur das ‚Wie‘,
— ach, man weiß immer ſo wenig von dieſen Dingen, —
will mir nicht recht einleuchten. Als Chriſt weiß ich
natürlich (ſo ſchlimm ſteht es am Ende auch nicht mit
einem), als Chriſt weiß ich, daß es eine Sühne giebt.
Aber in ſolchem Falle? Thormeyer, was meinen Sie,
was ſagen Sie dazu? Sie ſind ein Mann von Fach
und haben alle Kirchenväter geleſen und noch ein paar
mehr.“
Thormeyer verklärte ſich. Das war ſo recht ein
Thema nach ſeinem Geſchmack; ſeine Augen wurden
größer und ſein glattes Geſicht noch glatter.
„Ja,“ ſagte er, während er ſich über den Tiſch zu
Molchow vorbeugte, „ſo was giebt es. Und es iſt ein
Glück, daß es ſo was giebt. Denn die arme Menſch¬
heit braucht es. Das Wort Purgatorium will ich ver¬
meiden, einmal, weil ſich mein proteſtantiſches Gewiſſen
dagegen ſträubt, und dann auch wegen des Anklangs;
aber es giebt eine Purifikation. Und das iſt doch eigent¬
lich das, worauf es ankommt: Reinheitswiederherſtellung.
Ein etwas ſchwerfälliges Wort. Indeſſen die Sache, drum
ſich's hier handelt, giebt es doch gut wieder. Sie be¬
gegnen dieſem Hange nach Reſtitution überall, und
namentlich im Orient, — aus dem doch unſre ganze Kultur
[255] ſtammt, — finden Sie dieſe Lehre, dieſes Dogma, dieſe
Thatſache.“
„Ja, iſt es eine Thatſache?“
„Schwer zu ſagen. Aber es wird als Thatſache
genommen. Und das iſt ebenſogut. Blut ſühnt.“
„Blut ſühnt,“ wiederholte Molchow. „Gewiß. Daher
haben wir ja auch unſere Duellinſtitution. Aber wo wollen
Sie hier die Blutſühne hernehmen? In dieſem Spezial¬
falle ganz undurchführbar. Der Hauslehrer iſt drüben
in England geblieben, wenn er nicht gar nach Amerika
gegangen iſt. Und wenn er auch wiederkäme, er iſt nicht
ſatisfaktionsfähig. Wär' er Reſerve-Offizier, ſo hätt'
ich das längſt erfahren ...“
„Ja, Herr von Molchow, das iſt die hieſige An¬
ſchauung. Etwas primitiv, naturwüchſig, das ſogenannte
Blutracheprinzip. Aber es braucht nicht immer das
Blut des Übelthäters ſelbſt zu ſein. Bei den Orien¬
talen ...“
„Ach, Orientalen ... dolle Geſellſchaft ...“
„Nun denn meinetwegen, bei faſt allen Völkern
des Oſtens ſühnt Blut überhaupt. Ja mehr, nach
orientaliſcher Anſchauung — ich kann das Wort nicht
vermeiden, Herr von Molchow; ich muß immer wieder
darauf zurückkommen — nach orientaliſcher Anſchauung
ſtellt Blut die Unſchuld als ſolche wieder her.“
„Na, hören Sie, Rektor.“
„Ja, es iſt ſo, meine Herren. Und ich darf ſagen,
es zählt das zu dem Feinſten und Tiefſinnigſten, was
es giebt. Und ich habe da auch neulich erſt eine Ge¬
ſchichte geleſen, die das alles nicht bloß ſo obenhin
beſtätigt, ſondern beinahe großartig beſtätigt. Und noch
dazu aus Siam.“
„Aus Siam?“
„Ja, aus Siam. Und ich würde Sie damit be¬
helligen, wenn die Sache nicht ein bißchen zu lang wäre.
[256] Die Herren vom Lande werden ſo leicht ungeduldig,
und ich wundere mich oft, daß ſie die Predigt bis zu
Ende mitanhören. Daneben iſt freilich meine Geſchichte
aus Siam ...“
„Erzählen, Direktorchen, erzählen.“
„Nun denn, auf Ihre Gefahr. Freilich auch auf
meine ... Da war alſo, und es iſt noch gar nicht
lange her, ein König von Siam. Die Siameſen haben
nämlich auch Könige.“
„Nu, natürlich. So tief ſtehen ſie doch nicht.“
„Alſo da war ein König von Siam, und dieſer
König hatte eine Tochter.“
„Klingt ja wie aus 'm Märchen.“
„Iſt auch, meine Herren. Eine Tochter, eine richtige
Prinzeſſin, und ein Nachbarfürſt (aber von geringerem
Stande, ſo daß man doch auch hier wieder an den
Kandidaten erinnert wird) — dieſer Nachbarfürſt raubte
die Prinzeſſin und nahm ſie mit in ſeine Heimat und
ſeinen Harem, trotz alles Sträubens.“
„Na, na.“
„So wenigſtens wird berichtet. Aber der König
von Siam war nicht der Mann, ſo was ruhig einzu¬
ſtecken. Er unternahm vielmehr einen heiligen Krieg
gegen den Nachbarfürſten, ſchlug ihn und führte die
Prinzeſſin im Triumphe wieder zurück. Und alles Volk
war wie von Sieg und Glück berauſcht. Aber die Prin¬
zeſſin ſelbſt war ſchwermütig.“
„Kann ich mir denken. Wollte wieder weg.“
„Nein, ihr Herren. Wollte nicht zurück. Denn es
war eine ſehr feine Dame, die gelitten hatte ...“
„Ja. Aber wie ...“
„Die gelitten hatte und fortan nur dem einen Ge¬
danken der Entſühnung lebte, dem Gedanken, wie das
Unheilige, das Berührtſein, wieder von ihr genommen
werden könne.“
„Geht nicht. Berührt is berührt.“
„Mit nichten, Herr von Molchow. Die hohe Prieſter¬
ſchaft wurde herangezogen und hielt, wie man hier viel¬
leicht ſagen würde, einen Synod, in dem man ſich mit
der Frage der Entſühnung oder, was daſſelbe ſagen
will, mit der Frage der Wiederherſtellung der Virginität
beſchäftigte. Man kam überein (oder fand es auch viel¬
leicht in alten Büchern), daß ſie in Blut gebadet werden
müſſe.“
„Brrr.“
„Und zu dieſem Behufe wurde ſie bald danach in
eine Tempelhalle geführt, drin zwei mächtige Wannen
ſtanden, eine von rotem Porphyr und eine von weißem
Marmor, und zwiſchen dieſen Wannen, auf einer Art
Treppe, ſtand die Prinzeſſin ſelbſt. Und nun wurden
drei weiße Büffel in die Tempelhalle gebracht, und der
hohe Prieſter trennte mit einem Schnitt jedem der drei
das Haupt vom Rumpf und ließ das Blut in die da¬
neben ſtehende Porphyrwanne fließen. Und jetzt war
das Bad bereitet, und die Prinzeſſin, nachdem ſiameſiſche
Jungfrauen ſie entkleidet hatten, ſtieg in das Büffelblut
hinab, und der Hoheprieſter nahm ein heiliges Gefäß
und ſchöpfte damit und goß es aus über die Prinzeſſin.“
„Eine ſtarke Geſchichte; bei Tiſch hätt' ich mehrere
Gänge paſſieren laſſen. Ich find' es doch entſchieden
zu viel.“
„Ich nicht,“ ſagte der alte Zühlen, der ſich in¬
zwiſchen eingefunden und ſeit ein paar Minuten mit zu¬
gehört hatte. „Was heißt zu viel oder zu ſtark? Stark
iſt es, ſo viel geb' ich zu; aber nicht zu ſtark. Daß es
ſtark iſt, das iſt ja eben der Witz von der Sache. Wenn
die Prinzeſſin bloß einen Leberfleck gehabt hätte, ſo fänd'
ich es ohne weiteres zu ſtark; es muß immer ein richtiges
Verhältnis da ſein zwiſchen Mittel und Zweck. Ein
Leberfleck iſt gar nichts. Aber bedenken Sie, 'ne richtige
Fontane, Der Stechlin. 17[258] Prinzeſſin als Sklavin in einem Harem; da muß denn
doch ganz anders vorgegangen werden. Wir reden jetzt
ſo viel von ‚großen Mitteln‘. Ja, meine Herren, auch
hier war nur mit großen Mitteln was auszurichten.“
„Igni et ferro,“ beſtätigte der Rektor.
„Und,“ fuhr der alte Zühlen fort, „ſo viel wird
jedem einleuchten, um den Teufel auszutreiben (als den
ich dieſen Nachbarfürſten und ſeine That durchaus an¬
ſehe), dazu mußte was Beſonderes geſchehn, etwas Beel¬
zebubartiges. Und das war eben das Blut dieſer drei
Büffel. Ich find' es nicht zu viel.“
Thormeyer hob ſein Glas, um mit dem alten Zühlen
anzuſtoßen. „Es iſt genau ſo, wie Herr von Zühlen
ſagt. Und zuletzt geſchah denn auch glücklicherweiſe das,
was unſre mehr auf Schönheit gerichteten Wünſche —
denn wir leben nun mal in einer Welt der Schönheit —
zufrieden ſtellen konnte. Direkt aus der Porphyrwanne
ſtieg die Prinzeſſin in die Marmorwanne, drin alle
Wohlgerüche Arabiens ihre Heimſtätte hatten, und alle
Prieſter traten mit ihren Schöpfkellen aufs neue heran,
und in Kaskaden ergoß es ſich über die Prinzeſſin, und
man ſah ordentlich, wie die Schwermut von ihr abfiel
und wie all das wieder aufblühte, was ihr der räuberiſche
Nachbarfürſt genommen. Und zuletzt ſchlugen die
Dienerinnen ihre Herrin in ſchneeweiße Gewänder und
führten ſie bis an ein Lager und fächelten ſie hier mit
Pfauenwedeln, bis ſie den Kopf ſtill neigte und ent¬
ſchlief. Und iſt nichts zurückgeblieben, und iſt ſpäter die
Gattin des Königs von Annam geworden. Er ſoll aller¬
dings ſehr aufgeklärt geweſen ſein, weil Frankreich ſchon
ſeit einiger Zeit in ſeinem Lande herrſchte.“
„Hoffen wir, daß Lillis Vetter auch ein Einſehen hat.“
„Er wird, er wird.“
Darauf ſtieß man an und alles brach auf. Die
Wagen waren bereits vorgefahren und ſtanden in langer
[259] Reihe zwiſchen dem „Prinz-Regenten“ und dem Tri¬
angelplatz.
Auch der Stechliner Wagen hielt ſchon, und Martin,
um ſich die Zeit zu vertreiben, knipſte mit der Peitſche.
Dubslav ſuchte nach ſeinem Paſtor und begann ſchon un¬
geduldig zu werden, als Lorenzen endlich an ihn heran¬
trat und um Entſchuldigung bat, daß er habe warten
laſſen. Aber der Oberförſter ſei ſchuld; der habe ihn
in ein Geſpräch verwickelt, das auch noch nicht beendet
ſei, weshalb er vorhabe, die Rückfahrt mit Katzler ge¬
meinſchaftlich zu machen.
Dubslav lachte. „Na, dann mit Gott. Aber laſſen
Sie ſich nicht zu viel erzählen. Ermyntrud wird wohl
die Hauptrolle ſpielen oder noch wahrſcheinlicher der neu¬
zufindende Name. Werde wohl recht behalten ... Und
nun vorwärts, Martin.“
Damit ging es über das holperige Pflaſter fort.
In der Stadt war ſchon alles ſtill; aber draußen
auf der Landſtraße kam man an großen und kleinen
Trupps von Häuslern, Teerſchwelern und Glashütten¬
leuten vorüber, die ſich einen guten Tag gemacht hatten
und nun ſingend und johlend nach Hauſe zogen. Auch
Frauensvolk war dazwiſchen und gab allem einen Bei¬
geſchmack.
So trabte Dubslav auf den als halber Weg gel¬
tenden Nehmitzſee zu. Nicht weit davon befand ſich ein
Kohlenmeiler, Dietrichs-Ofen, und als Martin jetzt um
die nach Süden vorgeſchobene Seeſpitze herumbiegen
wollte, ſah er, daß wer am Wege lag, den Oberkörper
unter Gras und Binſen verſteckt, aber die Füße quer über
das Fahrgeleiſe.
Martin hielt an. „Gnädiger Herr, da liegt wer.
Ich glaub', es iſt der alte Tuxen.“
„Tuxen, der alte Süffel von Dietrichs-Ofen?“
„Ja, gnädiger Herr. Ich will mal ſehen, was es
mit ihm is.“
Und dabei gab er die Leinen an Dubslav und
ſtieg ab und rüttelte und ſchüttelte den am Wege
Liegenden. „Awer Tuxen, wat moakſt du denn hier?
Wenn keen Moonſchien wiehr, wiehrſt du nu all kaput.“
„Joa, joa,“ ſagte der Alte. Aber man ſah, daß
er ohne rechte Beſinnung war.
Und nun ſtieg Dubslav auch ab, um den ganz
Unbehilflichen mit Martin gemeinſchaftlich auf den
Rückſitz zu legen. Und bei dieſer Prozedur kam der
Trunkene einigermaßen wieder zu ſich und ſagte: „Nei,
nei, Martin, nich doa; pack mi lewer vörn upp'n Bock.“
Und wirklich, ſie hoben ihn da hinauf, und da
ſaß er nun auch ganz ſtill und ſagte nichts. Denn er
ſchämte ſich vor dem gnädigen Herrn.
Endlich aber nahm dieſer wieder das Wort und
ſagte: „Nu ſage mal, Tuxen, kannſt du denn von dem
Branntwein nich laſſen? Legſt dich da hin; is ja ſchon
Nachtfroſt. Noch 'ne Stunde, dann warſt du dod.
Waren ſie denn alle ſo?
„Mehrſchtendeels.“
„Und da habt ihr denn für den Katzenſtein ge¬
ſtimmt.“
„Nei, gnäd'ger Herr, vör Katzenſtein nich.“
Und nun ſchwieg er wieder, während er vorn auf
dem Bock unſicher hin und her ſchwankte.
„Na, man 'raus mit der Sprache. Du weißt ja,
ich reiß' keinem den Kopp ab. Is auch alles egal.
Alſo für Katzenſtein nich. Na, für wen denn?“
„Vör Torgelow'n.“
Dubslav lachte. „Für Torgelow, den euch die
Berliner hergeſchickt haben. Hat er denn ſchon was
für euch gethan?“
„Nei, noch nich.“
„Na, warum denn?“
„Joa, ſe ſeggen joa, he will wat för uns duhn
un is ſo ſihr för de armen Lüd. Un denn kriegen wi
joa'n Stück Tüffelland. Un ſe ſeggen ook, he is klöger,
as de annern ſinn.“
„Wird wohl. Aber er is doch noch lange nich
ſo klug, wie ihr dumm ſeid. Habt ihr denn ſchon ge¬
hungert?“
„Nei, dat grad nich.“
„Na, das kann auch noch kommen.“
„Ach, gnäd'ger Herr, dat wihrd joa woll nich.“
„Na, wer weiß, Tuxen. Aber hier is Dietrichs-
Ofen. Nu ſteigt ab und ſeht Euch vor, daß Ihr nicht
fallt, wenn die Pferde anrucken. Und hier habt Ihr
was. Aber nich mehr für heut. Für heut habt Ihr
genug. Und nu macht, daß Ihr zu Bett kommt und
träumt von ,Tüffelland‘.“
In Miſſion nach England.
[][[265]]Einundzwanzigſtes Kapitel.
Woldemar erfuhr am andern Morgen aus Zeitungs¬
telegrammen, daß der ſozialdemokratiſche Kandidat, Feilen¬
hauer Torgelow, im Wahlkreiſe Rheinsberg-Wutz geſiegt
habe. Bald darauf traf auch ein Brief von Lorenzen
ein, der zunächſt die Telegramme beſtätigte und am
Schluſſe hinzuſetzte, daß Dubslav eigentlich herzlich froh
über den Ausgang ſei. Woldemar war es auch. Er
ging davon aus, daß ſein Vater wohl das Zeug habe,
bei Dreſſel oder Borchardt mit viel gutem Menſchen¬
verſtand und noch mehr Eulenſpiegelei ſeine Meinung
über allerhand politiſche Dinge zum beſten zu geben;
aber im Reichstage fach- und ſachgemäß ſprechen, das
konnt' er nicht und wollt' er auch nicht. Woldemar war
ſo durchdrungen davon, daß er über die Vorſtellung
einer Niederlage, dran er als Sohn des Alten immer¬
hin wie beteiligt war, verhältnismäßig raſch hinwegkam,
pries es aber doch, um eben dieſe Zeit mit einem Kom¬
mando nach Oſtpreußen hin betraut zu werden, das ihn
auf ein paar Wochen von Berlin fernhielt. Kam er
dann zurück, ſo waren Anfragen in dieſer Wahlangelegen¬
heit nicht mehr zu befürchten, am wenigſten innerhalb
ſeines Regiments, in dem man ſich, von ein paar In¬
timſten abgeſehen, eigentlich ſchon jetzt über den unlieb¬
ſamen Zwiſchenfall ausſchwieg.
Und in Schweigen hüllte man ſich auch am Kron¬
[266] prinzen-Ufer, als Woldemar hier am Abend vor ſeiner
Abreiſe noch einmal vorſprach, um ſich bei der gräflichen
Familie zu verabſchieden. Es wurde nur ganz obenhin
von einem abermaligen Siege der Sozialdemokratie ge¬
ſprochen, ein abſichtlich flüchtiges Berühren, das nicht
auffiel, weil ſich das Geſpräch ſehr bald um Rex und
Czako zu drehen begann, die, ſeit lange dazu aufgefordert,
gerade den Tag vorher ihren erſten Beſuch im Barby¬
ſchen Hauſe gemacht und beſonders bei dem alten Grafen
viel Entgegenkommen gefunden hatten. Auch Meluſine
hatte ſich durch den Beſuch der Freunde durchaus zu¬
friedengeſtellt geſehen, trotzdem ihr nicht entgangen war,
was, nach freilich entgegengeſetzten Seiten hin, die
Schwäche beider ausmachte.
„Wovon der eine zu wenig hat,“ ſagte ſie, „davon
hat der andre zu viel.“
„Und wie zeigte ſich das, gnädigſte Gräfin?“
„O, ganz unverkennbar. Es traf ſich, daß im ſelben
Augenblicke, wo die Herren Platz nahmen, drüben die
Glocken der Gnadenkirche geläutet wurden, was denn
— man iſt bei ſolchen erſten Beſuchen immer dankbar,
an irgend was anknüpfen zu können — unſer Geſpräch
ſofort aufs Kirchliche hinüberlenkte. Da legitimierten
ſich dann beide. Hauptmann Czako, weil er ahnen
mochte, was ſein Freund in nächſter Minute ſagen würde,
gab vorweg deutliche Zeichen von Ungeduld, während
Herr von Rex in der That nicht nur von dem ‚Ernſt
der Zeiten‘ zu ſprechen anfing, ſondern auch von dem
Bau neuer Kirchen einen allgemeinen, uns nahe bevor¬
ſtehenden Umſchwung erwartete. Was mich natürlich
erheiterte.“
Woldemars Kommando nach Oſtpreußen war bis
auf Anfang November berechnet, und mehr als einmal
[267] ſprachen im Verlaufe dieſer Zeit Rex und Czako bei
den Barbys vor. Freilich immer nur einzeln. Verab¬
redungen zu gemeinſchaftlichem Beſuche waren zwar mehr¬
fach eingeleitet worden, aber jedesmal erfolglos, und
erſt zwei Tage vor Woldemars Rückkehr fügte es ſich,
daß ſich die beiden Freunde bei den Barbys trafen. Es
war ein ganz beſonders gelungener Abend, da neben
der Baronin Berchtesgaden und Dr. Wrſchowitz auch ein
alter Malerprofeſſor (eine neue Bekanntſchaft des Hauſes)
zugegen war, was eine ſehr belebte Konverſation herbei¬
führte. Beſonders der neben ſeinen andern Apartheiten
auch durch langes weißes Haar und große Leuchte-Augen
ausgezeichnete Profeſſor, hatte, — geſtützt auf einen un¬
entwegten Peter Cornelius-Enthuſiasmus, — alles hin¬
zureißen gewußt. „Ich bin glücklich, noch die Tage dieſes
großen und einzig daſtehenden Künſtlers geſehen zu haben.
Sie kennen ſeine Kartons, die mir das Bedeutendſte
ſcheinen, was wir überhaupt hier haben. Auf dem einen
Karton ſteht im Vordergrund ein Tubabläſer und ſetzt
das Horn an den Mund, um zu Gericht zu rufen. Dieſe
eine Geſtalt balanciert fünf Kunſtausſtellungen, will alſo
ſagen netto 15000 Bilder. Und eben dieſe Kartons,
ſamt dem Bläſer zum Gericht, die wollen ſie jetzt fort¬
ſchaffen und ſagen dabei in naiver Effronterie, ſolch
ſchwarzes Zeug mit Kohlenſtrichen dürfe überhaupt nicht
ſo viel Raum einnehmen. Ich aber ſage Ihnen, meine
Herrſchaften, ein Kohlenſtrich von Cornelius iſt mehr
wert als alle modernen Paletten zuſammengenommen,
und die Tuba, die dieſer Tubabläſer da an den Mund
ſetzt — verzeihen Sie mir altem Jüngling dieſen Ka¬
lauer —, dieſe Tuba wiegt alle Tuben auf, aus denen
ſie jetzt ihre Farben herausdrücken. Beiläufig auch eine
miſerable Neuerung. Zu meiner Zeit gab es noch Beutel,
und dieſe Beutel aus Schweinsblaſe waren viel beſſer.
Ein wahres Glück, daß König Friedrich Wilhelm IV.
[268] dieſe jetzt etablierte Niedergangsepoche nicht mehr erlebt
hat, dieſe Zeit des Abfalls, ſo recht eigentlich eine Zeit
der apokalyptiſchen Reiter. Bloß zu den dreien, die der
große Meiſter uns da geſchaffen hat, iſt heutzutage noch
ein vierter Reiter gekommen, ein Miſchling von Neid
und Ungeſchmack. Und dieſer vierte ſichelt am ſtärkſten.“
Alles nickte, ſelbſt die, die nicht ganz ſo dachten,
denn der Alte mit ſeinem Apoſtelkopfe hatte ganz wie
ein Prophet geſprochen. Nur Meluſine blieb in einer
ſtillen Oppoſition und flüſterte der Baronin zu: „Tuba¬
bläſer. Mir perſönlich iſt die Böcklinſche Meerfrau mit
dem Fiſchleib lieber. Ich bin freilich Partei.“
Die Abende bei den Barbys ſchloſſen immer zu
früher Stunde. So war es auch heute wieder. Es
ſchlug eben erſt zehn, als Rex und Czako auf die Straße
hinaustraten und drüben an dem langgeſtreckten Ufer
Tauſende von Lichtern vor ſich hatten, von denen die
vorderſten ſich im Waſſer ſpiegelten.
„Ich möchte wohl noch einen Spaziergang machen,“
ſagte Czako. „Was meinen Sie, Rex? Sind Sie mit
dabei? Wir gehen hier am Ufer entlang, an den Zelten
vorüber bis Bellevue, und da ſteigen wir in die Stadt¬
bahn und fahren zurück, Sie bis an die Friedrichsſtraße,
ich bis an den Alexanderplatz. Da iſt jeder von uns
in drei Minuten zu Haus.“
Rex war einverſtanden. „Ein wahres Glück,“ ſagte
er, „daß wir uns endlich mal getroffen haben. Seit
faſt drei Wochen kennen wir nun das Haus und haben
noch keine Ausſprache darüber gehabt. Und das iſt doch
immer die Hauptſache. Für Sie gewiß.“
„Ja, Rex, das ‚für Sie gewiß‘, das ſagen Sie
ſo ſpöttiſch und überheblich, weil Sie glauben, Klatſchen
[269] ſei was Inferiores und für mich gerade gut genug.
Aber da machen Sie meiner Meinung nach einen doppelten
Fehler. Denn erſtlich iſt Klatſchen überhaupt nicht
inferior, und zweitens klatſchen Sie gerade ſo gern wie
ich und vielleicht noch ein bißchen lieber. Sie bleiben
nur immer etwas ſteifer dabei, lehnen meine Frivolitäten
zunächſt ab, warten aber eigentlich darauf. Im übrigen
denk' ich, wir laſſen all das auf ſich beruhn und ſprechen
lieber von der Hauptſache. Ich finde, wir können unſerm
Freunde Stechlin nicht dankbar genug dafür ſein, uns
mit einem ſo liebenswürdigen Hauſe bekannt gemacht
zu haben. Den Wrſchowitz und den alten Malerprofeſſor,
der von dem Engel des Gerichts nicht loskonnte, —
nun die beiden ſchenk' ich Ihnen (ich denke mir, der
Maler wird wohl nach Ihrem Geſchmacke ſein), aber die
andern, die man da trifft, wie reizend alle, wie natür¬
lich. Obenan dieſer Frommel, dieſer Hofprediger, der
mir am Theetiſch faſt noch beſſer gefällt als auf der
Kanzel. Und dann dieſe bayriſche Baronin. Es iſt
doch merkwürdig, daß die Süddeutſchen uns im Geſell¬
ſchaftlichen immer um einen guten Schritt vorauf ſind,
nicht von Bildungs, aber von glücklicher Natur wegen.
Und dieſe glückliche Natur, das iſt doch die wahre
Bildung.“
„Ach Czako, Sie überſchätzen das. Es iſt ja richtig,
wenn Sie da ſo die Würſtel aus dem großen Keſſel
herausholen und irgend eine Loni oder Toni mit dem
Maßkrug kommt, ſo ſieht das nach was aus, und wir
kommen uns wie verhungerte Schulmeiſter daneben vor.
Aber eigentlich iſt das, was wir haben, doch das Höhere.“
„Gott bewahre. Alles, was mit Grammatik und
Examen zuſammenhängt, iſt nie das Höhere. Waren
die Patriarchen examiniert, oder Moſes oder Chriſtus?
Die Phariſäer waren examiniert. Und da ſehen Sie,
was dabei herauskommt. Aber, um mehr in der Nähe
[270] zu bleiben, nehmen Sie den alten Grafen. Er war
freilich Botſchaftsrat, und das klingt ein bißchen nach
was; aber eigentlich iſt er doch auch bloß ein un¬
examinierter Naturmenſch, und das gerade giebt ihm
ſeinen Charme. Beiläufig, finden Sie nicht auch, daß
er dem alten Stechlin ähnlich ſieht?“
„Ja, äußerlich.“
„Auch innerlich. Natürlich 'ne andre Nummer,
aber doch derſelbe Zwirn, — Pardon für den etwas
abgehaſpelten Berolinismus. Und wenn Sie vielleicht
an Politik gedacht haben, auch da iſt wenig Unterſchied.
Der alte Graf iſt lange nicht ſo liberal und der alte
Dubslav lange nicht ſo junkerlich, wie's ausſieht. Dieſer
Barby, deſſen Familie, glaub' ich, vordem zu den
Reichsunmittelbaren gehörte, dem ſteckt noch ſo was von
‚Gottesgnadenſchaft‘ in den Knochen, und das giebt dann
die bekannte Sorte von Vornehmheit, die ſich den
Liberalismus glaubt gönnen zu können. Und der alte
Dubslav, nun, der hat dafür das im Leibe, was die
richtigen Junker alle haben: ein Stück Sozialdemokratie.
Wenn ſie gereizt werden, bekennen ſie ſich ſelber dazu.“
„Sie verkennen das, Czako. Das alles iſt ja bloß
Spielerei.“
„Ja, was heißt Spielerei? Spielen. Wir haben
ſchöne alte Fibelverſe, die vor der Gefährlichkeit des
Mit-dem-Feuerſpielens warnen. Aber laſſen wir Dubslav
und den alten Barby. Wichtiger ſind doch zuletzt immer
die Damen, die Gräfin und die Comteſſe. Welche wird
es? Ich glaube, wir haben ſchon mal darüber ge¬
ſprochen, damals, als wir von Kloſter Wutz her über
den Kremmerdamm ritten. Viel Vertrauen zu Freund
Woldemars richtigem Frauenverſtändnis hab' ich eigent¬
lich nicht, aber ich ſage trotzdem: Meluſine.“
„Und ich ſage: Armgard. Und Sie ſagen es im
Stillen auch.“
[271]
Es war zwei Tage vor Woldemars Rückkehr aus
Oſtpreußen, daß Rex und Czako dies Tiergartengeſpräch
führten. Eine halbe Stunde ſpäter fuhren ſie, wie ver¬
abredet, vom Bellevuebahnhof aus wieder in die Stadt
zurück. Überall war noch ein reges Leben und Treiben,
und Leben war denn auch in dem aus bloß drei Zimmern
verſchiedener Größe ſich zuſammenſetzenden Kaſino der
Gardedragoner. In dem zunächſt am Flur gelegenen
großen Speiſeſaale, von deſſen Wänden die früheren
Kommandeure des Regiments, Prinzen und Nichtprinzen,
herniederblickten, ſah man nur wenig Gäſte. Daneben
aber lag ein Eckzimmer, das mehr Inſaſſen und mehr
flotte Bewegung hatte. Hier, über dem ſchräg geſtellten
Kamin, drin ein kleines Feuer flackerte, hing ſeit kurzem
das Bildnis des „hohen Chefs“ des Regiments, der
Königin von England, und in der Nähe eben dieſes
Bildes ein ruhmreiches Erinnerungsſtück aus dem ſechs¬
undſechziger und ſiebziger Kriege: die Trompete, darauf
derſelbe Mann, Stabstrompeter Wollhaupt, erſt am
3. Juli auf der Höhe von Lipa und dann am 16. Auguſt
bei Mars la Tour das Regiment zur Attacke gerufen
hatte, bis er an der Seite ſeines Oberſten fiel; der
Oberſt mit ihm.
Dies Eckzimmer war, wie gewöhnlich, auch heute
der bevorzugte kleine Raum, drin ſich jüngere und ältere
Offiziere zu Spiel und Plauderei zuſammengefunden
hatten, unſer ihnen die Herren von Wolfshagen, von
Herbſtfelde, von Wohlgemuth, von Grumbach, von Raſpe.
„Weiß der Himmel,“ ſagte Raſpe, „wir kommen
aus den Abordnungen auch gar nicht mehr heraus.
Wir haben freilich drei Sendens im Regiment, aber es
ſind der Sendbotſchaften doch faſt zu viel. Und dies¬
mal nun auch unſer Stechlin dabei. Was wird er
ſagen, wenn er oben in Oſtpreußen von der ihm zu¬
gedachten Ehre hört. Er wird vielleicht ſehr gemiſchte
[272] Gefühle haben. Übermorgen iſt er von Trakehnen wieder
da, mutmaßlich bei dem ſcheußlichen Wetter ſchlecht ajuſtiert,
und dann Hals über Kopf und in großem Trara nach
London. Und London ginge noch. Aber auch nach
Windſor. Alles, wenn es ſich um chic handelt, will
doch ſeine Zeit haben, und gerade die Vettern drüben
ſehen einem ſehr auf die Finger.“
„Laß ſie ſehn,“ ſagte Herbſtfelde. „Wir ſehen auch.
Und Stechlin iſt nicht der Mann, ſich über derlei Dinge
graue Haare wachſen zu laſſen. Ich glaube, daß ihn
was ganz andres geniert. Es iſt doch immerhin was,
daß er da mit nach England hinüber ſoll, und einer
ſolchen Auszeichnung entſpricht ſelbſtverſtändlich eine Nicht¬
auszeichnung andrer. Das paßt nicht jedem, und nach
dem Bilde, das ich mir von unſerm Stechlin mache,
gehört er zu dieſen. Er ficht nicht gern unter der Deviſe
‚nur über Leichen‘, hat vielmehr umgekehrt den Zug,
ſich in die zweite Linie zu ſtellen. Und nun ſieht es
aus, als wär' er ein Streber.“
„Stimmt nicht,“ ſagte Raſpe. „Für ſo verrannt
kann ich keinen von uns halten. Stechlin ſitzt da oben
in Oſtpreußen und kann doch unmöglich in ſeinen Muße¬
ſtunden hierher intrigiert und einen etwaigen Rivalen
aus dem Sattel geworfen haben. Und unſer Oberſt!
Der iſt doch auch nicht der Mann dazu, ſich irgend wen
aufreden zu laſſen. Der kennt ſeine Pappenheimer.
Und wenn er ſich den Stechlin ausſucht, dann weiß er,
warum. Übrigens, Dienſt iſt Dienſt; man geht nicht,
weil man will, ſondern weil man muß. Spricht er
denn engliſch?“
„Ich glaube nicht,“ ſagte von Grumbach. „Soviel
ich weiß, hat er vor kurzem damit angefangen, aber
natürlich nicht wegen dieſer Miſſion, die ja wie vom
blauen Himmel auf ihn niederfällt, ſondern der Barbys
wegen, die beinah zwanzig Jahre in England waren
[273] und halb engliſch ſind. Im übrigen hab ich mir ſagen
laſſen, es geht drüben auch ohne die Sprache. Herbſt¬
felde, Sie waren ja voriges Jahr da. Mit gutem
Deutſch und ſchlechtem Franzöſiſch kommt man überall
durch.“
„Ja,“ ſagte Herbſtfelde. „Bloß ein bißchen Landes¬
ſprache muß doch noch dazu kommen. Indeſſen, es giebt
ja kleine Vademekums, und da muß man dann eben
nachſchlagen, bis man's hat. Sonſt ſind hundert Vokabeln
genug. Als ich noch zu Hauſe war, hatten wir da
ganz in unſrer Nachbarſchaft einen verdrehten alten
Herrn, der — eh' ihn die Gicht unterkriegte — ſich ſo
ziemlich in der ganzen Welt herumgetrieben hatte.
Pro neues Land immer neue hundert Vokabeln. Unter
anderm war er auch mal in Südrußland geweſen, von
welcher Zeit ab — und zwar nach vorgängiger, vor
einem großen Liqueurkaſten ſtattgehabten Anfreundung
mit einem uralten Popen — er das Amendement zu
ſtellen pflegte: ,Hundert Vokabeln; aber bei 'nem Popen
bloß fünfzig?‘ Und das muß ich ſagen, ich habe das mit
den hundert in England durchaus beſtätigt gefunden.
‚Mary, please, a jug of hot water,‘ ſo viel muß man
weghaben, ſonſt ſitzt man da. Denn der Naturengländer
weiß gar nichts.“
„Wie lange waren Sie denn eigentlich drüben,
Herbſtfelde?“
„Drei Wochen. Aber die Reiſetage mitgerechnet.“
„Und ſind Sie ſo ziemlich auf Ihre Koſten ge¬
kommen? Einblick ins Volksleben, Parlament, Oxford,
Cambridge, Gladſtone?“
Herbſtfelde nickte.
„Und wenn Sie nun ſo alles zuſammennehmen,
was hat da ſo den meiſten Eindruck auf Sie gemacht?
Architektur, Kunſt, Leben, die Schiffe, die großen
Brücken? Die Straßenjungens, wenn man in einem
Fontane, Der Stechlin. 18[274] Cab vorüberfährt, ſollen ja immer Rad neben einem her
ſchlagen, und die Dienſtmädchen, was noch wichtiger
iſt, ſollen ſehr hübſch ſein, kleine Hauben und Tändel¬
ſchürze.“
„Ja, Raſpe, da treffen Sie's. Und iſt eigentlich
auch das Intereſſanteſte. Denn ſogenannte Meiſterwerke
giebt es ja jetzt überall, von Kirchen und dergleichen gar
nicht zu reden. Und Schiffe haben wir ja jetzt auch
und auch ein Parlament. Und manche ſagen, unſres
ſei noch beſſer. Aber das Volk. Sehen Sie, da ſteckt
es. Das Volk iſt alles.“
„Na, natürlich Volk. Oberſchicht überall ein und
dasſelbe. Was da los iſt, das wiſſen wir.“
„Und eigentlich hab' ich die ganzen drei Wochen
auf 'nem Omnibus geſeſſen und bin abends in die Ma¬
troſenkneipen an der Themſe gegangen. Ein bißchen
gefährlich; man hat da ſeinen Meſſerſtich weg, man
weiß nicht wie, ganz wie in Italien. Bloß in Italien
giebt es vorher doch immer noch ein Liebesverhältnis,
was in Old-Wapping — ſo heißt nämlich der Stadt¬
teil an der Themſe — nicht mal nötig iſt. Und dann,
wenn ich zu Hauſe war, ſprach ich natürlich mit Mary.
Viel war es nicht. Denn die hundert Vokabeln, die
dazu nötig ſind, die hatte ich damals noch nicht voll.“
„Na, 's ging aber doch?“
„So leidlich. Und dabei hatt' ich mal 'ne Scene,
die war eigentlich das Hübſcheſte. Meine Wohnung
befand ſich nämlich eine Treppe hoch in einer kleinen ſtillen
Querſtraße von Oxford-Street. Und Mary war gerade
bei mir. Und in dem Augenblicke, wo ich mich mit
dem hübſchen Kinde zu verſtändigen ſuche ...“
„Worüber?“
„In demſelben Augenblicke ſieht ein Chineſe grinſend
in mein Fenſter hinein, ſo daß er eigentlich eine Ohr¬
feige verdient hätte.“
„Wie war denn das aber möglich?“
„Ja, das iſt ja eben das, was ich das Londoner
Volksleben nenne. Alles mögliche, wovon wir hier gar
keine Vorſtellung haben, vollzieht ſich da mitten auf
dem Straßendamm. Und ſo waren denn auch an jenem
Tage zwei Chineſen, ihres Zeichens Akrobaten, in die
Querſtraße von Oxford-Street gekommen, und der eine,
ein dicker ſtarker Kerl, hatte einen Gurt um den Leib,
und in der Öſe dieſes Gurtes ſteckte 'ne Stange, auf
die der zweite Chineſe hinaufkletterte. Und wie er da
oben war, war er gerade in Höhe meiner Beletage und
ſah hinein, als ich mich eben bemühte, mich Mary klar
zu machen.“
„Ja, Herbſtfelde, das war nu freilich ein Pech,
und wenn Sie wieder drüben ſind, müſſen Sie nach
hinten hinaus wohnen oder höher hinauf. Aber inte¬
reſſant iſt es doch. Und ich bezweifle nur, daß Stechlin
in eine gleiche Lage kommen wird.“
„Gewiß nicht. Daran hindern ihn ſeine Mo¬
ralitäten.“
„Und noch mehr die Barbys.“
18*
Zweiundzwanzigſtes Kapitel.
Woldemar, von der ihm bevorſtehenden Aus¬
zeichnung unterrichtet, kürzte ſeinen Aufenthalt in Oſt¬
preußen um vierundzwanzig Stunden ab, hatte trotzdem
aber, nach ſeinem Wiedereintreffen in Berlin, nur noch
zwei Tage zur Verfügung. Das war wenig. Denn
außer allerlei zu treffenden Reiſevorbereitungen lag ihm
doch auch noch ob, verſchiedene Beſuche zu machen, ſo bei
den Barbys, bei denen er ſich für den letzten Abend
ſchon brieflich angemeldet hatte.
Dieſer Abend war nun da. Die Koffer ſtanden
gepackt um ihn her, er ſelber aber lehnte ſich, ziemlich
abgeſpannt, in ſeinen Schaukelſtuhl zurück, nochmals
überſchlagend, ob auch nichts vergeſſen ſei. Zuletzt
ſagte er ſich: „Was nun noch fehlt, fehlt; ich kann
nicht mehr.“ Und dabei ſah er nach der Uhr. Bis
zu ſeinem am Kronprinzenufer angeſagten Beſuche war
noch faſt eine Stunde. Die wollt' er ausnutzen und
ſich vorher nach Möglichkeit ruhn. Aber er kam nicht
dazu. Sein Burſche trat ein und meldete: „Hauptmann
von Czako.“
„Ah, ſehr willkommen.“
Und Woldemar, ſo wenig gelegen ihm Czako
auch kam, ſprang doch auf und reichte dem Freunde die
Hand. „Sie kommen, um mir zu meiner engliſchen
Reiſe zu gratulieren. Und wiewohl es ſo ſo damit
[277] ſteht, Ihnen, glaub' ich's, daß Sie's ehrlich meinen.
Sie gehören zu den paar Menſchen, die keinen Neid
kennen.“
„Na, laſſen wir das Thema lieber. Ich bin deſſen
nicht ſo ganz ſicher; mancher ſieht beſſer aus, als er
iſt. Aber natürlich komm' ich, um Ihnen wohl oder
übel meine Glückwünſche zu bringen und meinen Reiſe¬
ſegen dazu. Donnerwetter, Stechlin, wo will das noch
mit Ihnen hinaus! Sie werden natürlich Londoner
Militärattaché, ſagen wir in einem halben Jahr, und
in ebenſoviel Zeit haben Sie ſich drüben ſportlich ein¬
gelebt und etablieren ſich als Sieger in einem Steeple
Chaſe, vorausgeſetzt, daß es ſo was noch giebt (ich
glaube nämlich, man nennt es jetzt alles ganz anders).
Und vierzehn Tage nach Ihrem erſten großen Sport¬
ſiege verloben Sie ſich mit Ruth Ruſſel oder mit
Geraldine Cavendiſh, haben den Bedforder- oder den
Devonſhire-Herzog als Rückendeckung und gehen als
Generalgouverneur nach Mittelafrika, links die Zwerge,
rechts die Menſchenfreſſer. Emin ſoll ja doch eigentlich
aufgefreſſen ſein.“
„Czako, Sie machen ſich's zu nutze, daß die
Mittagsſtunde glücklich vorüber iſt, ſonſt könnten Sie's
kaum verantworten. Aber rücken Sie ſich einen Seſſel
'ran, und hier ſind Zigaretten. Oder lieber Zigarre?“
„Nein, Zigaretten ... Ja, ſehen Sie, Stechlin,
ſolche Miſſion oder wenn auch nur ein Bruchteil da¬
von ...“
„Sagen wir Anhängſel.“
„ .. Solche Miſſion iſt gerade das, was ich mir
all mein Lebtag gewünſcht habe. Bloß ‚Erhörung kam
nicht geſchritten‘. Und doch iſt gerad' in unſerm Regi¬
ment immer was los. Immer iſt wer auf dem Wege
nach Petersburg. Aber weiß der Teufel, trotz der vielen
Schickerei, meine Wenigkeit iſt noch nicht 'ran gekommen.
[278] Ich denke mir, es liegt an meinem Namen. Hier hat
„Czako“ ja auch ſchon einen Beigeſchmack, einen Stich ins
Komiſche, aber das Slaviſche drin giebt ihm in Berlin
etwas Apartes, während es in Petersburg wahrſcheinlich
heißen würde: ‚Czako, was ſoll das? Was ſoll Czako?
Dergleichen haben wir hier echter und beſſer.‘ Ja, ich
gehe noch weiter und bin nicht einmal ſicher, ob man da
drüben nicht Luſt bezeugen könnte, in der Wahl von ‚Czako‘
einen Witz oder verſteckten Affront zu wittern. Aber wie
dem auch ſei, Winterpalais und Kreml ſind mir ver¬
ſchloſſen. Und nun gehen Sie nach London und ſogar
nach Windſor. Und Windſor iſt doch nun mal das
denkbar Feinſte. Rußland, wenn Sie mir ſolche Früh¬
ſtücksvergleiche geſtatten wollen, hat immer was von
Aſtrachan, England immer was von Colcheſter. Und
ich glaube, Colcheſter ſteht höher. In meinen Augen
gewiß. Ach, Stechlin, Sie ſind ein Glückspilz, ein
Wort, das Sie meiner erregten Stimmung zu gute
halten müſſen. Ich werde wohl an der Majorsecke
ſcheitern, wegen verſchiedener Mankos. Aber ſehn Sie,
daß ich das einſehe, das könnte das Schickſal doch auch
wieder mit mir verſöhnen.“
„Czako, Sie ſind der beſte Kerl von der Welt.
Es iſt eigentlich ſchade, daß wir ſolche Leute wie Sie
nicht bei unſerm Regiment haben. Oder wenigſtens
nicht genug. ‚Fein‘ iſt ja ganz gut, aber es muß doch
auch mal ein Donnerwetter dazwiſchen fahren, ein
Cynismus, eine Bosheit; ſie braucht ja nicht gleich
einen Giftzahn zu haben. Übrigens, was die Patentheit
angeht, ſo fühl' ich deutlich, daß ich auch nur ſo gerade
noch paſſiere. Nehmen Sie beiſpielsweiſe bloß das
Sprachliche. Wer heutzutage nicht drei Sprachen ſpricht,
gehört in die Ecke ...“
„Sag' ich mir auch. Und ich habe deshalb auch
mit dem Ruſſiſchen angefangen. Und wenn ich dann
[279] ſo dabei bin und über meine Fortſchritte beinah’ erſtaune,
dann berapple ich mich momentan wieder und ſage
mir: ‚Courage gewonnen, alles gewonnen‘. Und dabei
laſſ' ich dann zu meinem weitern Troſt all unſre preußiſchen
Helden zu Fuß und zu Pferde an mir vorüber
ziehen, immer mit dem Gefühl einer gewiſſen wiſſen¬
ſchaftlichen und mitunter auch moraliſchen Überlegenheit.
Da iſt zuerſt der Derfflinger. Nun, der ſoll ein Schneider
geweſen ſein. Dann kam Blücher, — der war einfach
ein ‚Jeu‘er. Und dann kam Wrangel und trieb ſein
verwegenes Spiel mit ‚mir und mich‘.“
„Bravo, Czako. Das iſt die Sprache, die Sie
ſprechen müſſen. Und Sie werden auch nicht an der
Majorsecke ſcheitern. Eigentlich läuft doch alles bloß
darauf hinaus, wie hoch man ſich ſelber einſchätzt. Das
iſt freilich eine Kunſt, die nicht jeder verſteht. Das Wort
vom alten Fritz: ‚Denk’ Er nur immer, daß Er hundert¬
tauſend Mann hinter ſich hat,‘ dies Troſtwort iſt manchem
von uns ein bißchen verloren gegangen, trotz unſrer
Siege. Oder vielleicht auch eben deshalb. Siege pro¬
duzieren unter Umſtänden auch Beſcheidenheit.“
„Jedenfalls haben Sie, lieber Stechlin, zu viel
davon. Aber wenn Sie erſt Ihre Ruth haben ...“
„Ach, Czako, kommen Sie mir nicht immer mit
‚Ruth‘. Oder eigentlich, ſeien Sie doch bedankt dafür.
Denn dieſer weibliche Name mahnt mich, daß ich mich
für heut' Abend am Kronprinzenufer angemeldet habe,
bei den Barbys, wo's, wie Sie wiſſen, freilich keine
Ruth giebt, aber dafür eine ‚Meluſine‘, was faſt noch
mehr iſt.“
„Verſteht ſich, Meluſine is mehr. Alles, was aus
dem Waſſer kommt, iſt mehr. Venus kam aus dem
Waſſer, ebenſo Hero ... Nein, nein, entſchuldigen Sie,
es war Leander.“
„Egal. Laſſen Sie's, wie's iſt. Solche verwechſelte
[280] Schillerſtelle thut einem immer wohl. Übrigens können
Sie mich in meinem Coupé begleiten; vom Kronprinzen¬
ufer aus haben Sie knapp noch halben Weg bis in
Ihre Kaſerne.“
Das Coupé that ſeine Schuldigkeit, und es ſchlug
eben erſt acht, als Woldemar vor dem Barbyſchen Hauſe
hielt und, ſich von Czako verabſchiedend, die Treppe
hinauf ſtieg. Er fand nur die Familie vor, was ihm
ſehr lieb war, weil er kein allgemeines Geſpräch führen,
ſondern ſich lediglich für ſeine Reiſe Rats erholen wollte.
Der alte Graf kannte London beſſer als Berlin, und
auch Meluſine war ſchon über ſiebzehn, als man, bald
nach dem Tode der Mutter, England verlaſſen und ſich
auf die Graubündner Güter zurückgezogen hatte. Darüber
waren nun wieder nah' an anderthalb Jahrzehnte ver¬
gangen, aber Vater und Töchter hingen nach wie vor
an Hydepark und dem ſchönen Hauſe, das ſie da bewohnt
hatten, und gedachten dankbar der in London verlebten
Tage. Selbſt Armgard ſprach gern von dem Wenigen,
deſſen ſie ſich noch aus ihrer frühen Kindheit her er¬
innerte.
„Wie glücklich bin ich,“ ſagte Woldemar, „Sie allein
zu finden! Das klingt freilich ſehr ſelbſtiſch, aber ich
bin doch vielleicht entſchuldigt. Wenn Beſuch da wäre,
nehmen wir beiſpielsweiſe Wrſchowitz, und ich ließe mich
hinreißen, von der Prinzeſſin von Wales und in natür¬
licher Konſequenz von ihren zwei Schweſtern Dagmar
und Thyra zu ſprechen, ſo hätt' ich vielleicht wegen
Dänenfreundlichkeit heut' Abend noch ein Duell auszu¬
fechten. Was mir doch unbequem wäre. Beſſer iſt beſſer.“
Der alte Barby nickte vergnüglich.
„Ja, Herr Graf,“ fuhr Woldemar fort, „ich komme,
mich von Ihnen und den Damen zu verabſchieden, aber
[281] ich komme vor allem auch, um mich in zwölfter Stunde
noch nach Möglichkeit zu informieren. In dem Augen¬
blick, wo der gänzlich ignorante Kandidatus in ſeinen
Frack fährt, guckt er — ſo was ſoll vorkommen — noch
einmal ins Corpus juris und lieſt, ſagen wir zehn
Zeilen, und gerad' über dieſe wird er nachher gefragt
und ſieht ſich gerettet. Dergleichen könnte mir doch auch
vorbehalten ſein. Sie waren lange drüben und die
Damen ebenſo. Auf was muß ich achten, was ver¬
meiden, was thun? Vor allem, was muß ich ſehn und
was nicht ſehn? Das letztere vielleicht das Wichtigſte
von allem.“
„Gewiß, lieber Stechlin. Aber ehe wir anfangen,
rücken Sie hier ein und gönnen Sie ſich eine Taſſe Thee.
Freilich, daß Sie den Thee würdigen werden, iſt ſo gut
wie ausgeſchloſſen; dazu ſind Sie viel zu aufgeregt.
Sie ſind ja wie ein Waſſerfall; ich erkenne Sie kaum
wieder.“
Woldemar wollte ſich entſchuldigen.
„Nur keine Entſchuldigungen. Und am wenigſten
über das. Alles iſt heutzutage ſo nüchtern, daß ich
immer froh bin, mal einer Aufregung zu begegnen;
Aufregung kleidet beſſer als Indifferenz und jedenfalls
iſt ſie intereſſanter. Was meinſt du dazu, Meluſine?“
„Papa ſchraubt mich. Ich werde mich aber hüten,
zu antworten.“
„Und ſo denn wieder zur Sache. Ja, lieber Stech¬
lin, was thun, was ſehn? Oder wie Sie ganz richtig
bemerken, was nicht ſehn? Überall etwas ſehr ſchwieriges.
In Italien vertrödelt man die Zeit mit Bildern, in
England mit Hinrichtungsblöcken. Sie haben drüben
ganze Kollektionen davon. Alſo möglichſt wenig Hiſto¬
riſches. Und dann natürlich keine Kirchen, immer mit
Ausnahme von Weſtminſter. Ich glaube, was man ſo
mit billiger Wendung „Land und Leute“ nennt, das iſt
[282] und bleibt das Beſte. Die Themſe hinauf und hinunter,
Richmond-Hill (auch jetzt noch, trotzdem wir ſchon No¬
vember haben) und Werbekneipen und Dudelſackspfeifer.
Und wenn Sie bei Paſſierung eines ſtillen Squares einem
ſogenannten ‚Straßen-Raffael‘ begegnen, dann ſtehen
bleiben und zuſehen, was das ſonderbare Genie mit
ſeiner linken und oft verkrüppelten Hand auf die breiten
Straßenſteine hinmalt. Denn dieſe Straßen-Raffaels
haben immer nur eine linke Hand.“
„Und was malt er?“
„Was? Das wechſelt. Er iſt im ſtande und zaubert
Ihnen in zehn Minuten eine richtige Sixtina aufs
Trottoir. Aber in der Regel iſt er mehr Ruysdael oder
Hobbema. Landſchaften ſind ſeine Force; dazu See¬
ſtücke. Die Klippe von Dover hab' ich wohl zwanzig¬
mal geſehn und über das Meer hin den zitternden
Mondſtrahl. Da haben Sie ſchon was zur Auswahl.
Und nun fragen Sie Meluſine. Die hat von London
und Umgegend viel mehr geſehn als ich und weiß, glaub'
ich, in Hampton-Court und Waltham-Abbey beſſer
Beſcheid als an der Oberſpree, natürlich das Eierhäuschen
ausgenommen. Und wenn Meluſine verſagen ſollte, nun,
ſo haben wir ja noch unſere Tochter Cordelia. Cordelia
war damals freilich erſt ſechs oder doch nicht viel mehr.
Aber Kindermund thut Wahrheit kund. Armgard, wie
wär' es, wenn du dich unſers Freundes annähmeſt.“
„Ich weiß nicht, Papa, ob Herr von Stechlin da¬
mit einverſtanden iſt oder auch nur ſein kann. Viel¬
leicht ging' es, wenn du nur nicht von meinen ſechs
Jahren geſprochen hätteſt. Aber ſo. Mit ſechs Jahren
hat man eben nichts erlebt, was, in den Augen andrer,
des Erzählens wert wäre.“
„Comteſſe, geſtatten Sie mir ... die Dinge an
ſich ſind gleichgültig. Alles Erlebte wird erſt was durch
den, der es erlebt.“
„Ei,“ ſagte Meluſine. „So bin ich zum Erzählen
noch mein Lebtag nicht aufgefordert worden. Nun wirſt
du ſprechen müſſen, Armgard.“
„Und ich will auch, ſelbſt auf die Gefahr hin
einer Niederlage.“
„Keine Vorreden, Armgard. Am wenigſten, wenn
ſie wie Selbſtlob klingen.“
„Alſo wir hatten damals eine alte Perſon im
Hauſe, die ſchon bei Meluſine Kindermuhme geweſen
war, und hieß Suſan. Ich liebte ſie ſehr, denn ſie
hatte wie die meiſten Iriſchen etwas ungemein Heiteres
und Gütiges. Ich ging viel mit ihr im Hydepark
ſpazieren, wohnten wir doch in der an ſeiner Nordſeite
ſich hinziehenden großen Straße. Hydepark erſchien mir
immer ſehr ſchön. Aber weil es tagaus tagein dasſelbe
war, wollt' ich doch gern einmal was andres ſehen,
worauf Suſan auch gleich einging, trotzdem es ihr
eigentlich verboten war. ‚Ei freilich, Comteſſe,‘ ſagte ſie,
‚da wollen wir nach Martins le Grand.‘ ‚Was iſt das?‘
fragte ich; aber ſtatt aller Antwort gab ſie mir nur ein
kleines Mäntelchen um, denn es war ſchon Spätherbſt,
ſo etwa wie jetzt, und dunkelte auch ſchon. Aus dem,
was dann kam, muß ich annehmen, daß es um die
fünfte Stunde war. Und ſo brachen wir denn auf,
unſre Straße hinunter, und weil an dem Parkgitter ent¬
lang lauter große Röhren gelegt waren, um hier neu
zu kanaliſieren, ſo ſprang ich auf die Röhren hinauf,
und Suſan hielt mich an meinem linken Zeigefinger.
So gingen wir, ich immer auf den Röhren oben, bis
wir an eine Stelle kamen, wo der Park aufhörte. Hier
war gerad' ein Droſchkenſtand, und Hafer und Häckſel
lagen umher und zahlloſe Sperlinge dazwiſchen. In
der Mitte von dem allem aber ſtand ein eiſerner Brunnen.
Auf den wies Suſan hin und ſagte: ‚Look at it, dear
Armgard. There stood Tyburn-Gallows.‘ Und wer
[284] ſo viel geſtohlen hatte, wie gerad' ein Strick koſtete,
der wurde da gehängt.“
„Eine merkwürdige Kindermuhme,“ ſagte Stechlin.
„Und erſchraken Sie nicht, Comteſſe?“
„Nein, von Erſchrecken, ſo lange Suſan bei mir
war, war keine Rede. Sie hätte mich gegen eine Welt
verteidigt.“
„Das ſöhnt wieder aus.“
„Und kurz und gut, wir blieben auf unſerm Weg
und ſtiegen alsbald in ein zweirädriges Cab, aus dem
heraus wir ſehr gut ſehen konnten, und jagten die Ox¬
fordſtraße hinunter in die City hinein, in ein immer
dichter werdendes Straßengewirr, drin ich nie vorher
gekommen war und auch nachher nicht wieder gekommen
bin. Bloß vor zwei Jahren, als wir auf Beſuch drüben
waren und ich den alten Plätzen wieder nachging.“
„Ich glaube,“ ſagte Meluſine, „daß du bei dieſem
zweiten Beſuch eine gute Anleihe machſt. Denn von
dem mit Suſan Geſehenen wirſt du zur Zeit nicht mehr
viel zur Verfügung haben.“
„Doch, doch. Und nun hielt unſer Hanſom-Cab
vor einem großen Hauſe, das halb wie ein Palaſt und
halb wie ein griechiſcher Tempel ausſah, und unter deſſen
Säulengang hinweg wir in eine große, mit vielen hundert
Menſchen erfüllte Halle traten. Über ihren Köpfen aber
lag es wie ein Strom von Licht, und ganz nach hinten
zu, wo die Lichtmaſſe ſich zu verdichten ſchien, ſtanden
auf einem Podium zwei in rote Röcke gekleidete Be¬
dienſtete mit ein paar großen Behältern links und rechts
neben ſich, die wie Futterkiſten mit weit aufgeklapptem
Deckel ausſahen.“
„Und nun laß Stechlin raten, was es war.“
„Er braucht es nicht zu raten,“ fuhr Armgard
fort, „er weiß es natürlich ſchon. Aber er muß trotz¬
dem aushalten. Denn er hat es ſelber ſo gewollt.
[285] Alſo Podium und Rotröcke ſamt aufgeklappter Kiſte
links und rechts. Und die hell erleuchtete Uhr darüber
zeigte, daß es nur noch eine Minute bis ſechs war. An
ein ſich Herandrängen war nicht zu denken, und ſo flogen
denn die Brief- und Zeitungspakete, die noch mit den
letzten Poſtzügen fort ſollten, in weitem Bogen über die
Köpfe der in Front Stehenden weg, was aber dabei
ſtatt in die Behälter bloß auf das Podium fiel, das
wurde von den Rotröcken mit einer geſchickten Fu߬
bewegung in die Futterkiſten wie hineingeharkt. Und nun
ſetzte der Uhrzeiger ein, und das Fliegen der Pakete
ſteigerte ſich, bis genau mit dem ſechſten Schlag auch
der Deckel jeder der beiden Kiſten zuſchlug.“
„Reizend, Comteſſe. Natürlich ſeh' ich mir das an,
und wenn ich ein Rendezvous mit der Königin darüber
verſäumen müßte.“
„Nichts Antimonarchiſches,“ lachte der alte Graf.
„Und ſo kommen Suſans Unthaten ſchließlich noch ans
Licht.“
„Und meine eignen dazu. Glücklicherweiſe durch
mich ſelbſt.“
Das Geſpräch ſetzte ſich noch eine Weile fort, und
allerlei Schilderungen aus dem Klein- und Alltagsleben
behielten dabei die Oberhand. Ein paarmal, weil er
wohl ſah, daß Woldemar gern auch andres zu hören
wünſchte, verſuchte der alte Graf das Thema zu wechſeln,
aber beide Damen blieben bei „shopping“ und „five
o'clock tea“, bis Meluſine, der Woldemars Ungeduld
ebenfalls nicht entgangen war, mit einemmale fragte:
„Haben Sie denn je von Traitors-Gate gehört?“
„Nein,“ ſagte Woldemar. „Ich kann es mir aber
überſetzen und meine Schlüſſe daraus ziehn.“
„Das reicht aus. Alſo natürlich Tower. Nun
ſehen Sie, Traitors-Gate, das war meine Domäne, wenn
Beſuch aus Deutſchland kam und ich wohl oder übel
[286] den Führer machen mußte. Vieles im Tower lang¬
weilte mich, aber Traitors-Gate nie, vielleicht deshalb
nicht, weil es ziemlich zu Anfang liegt, ſo daß ich, wenn
wir’s erreichten, immer noch bei Friſche war, nicht ab¬
geſtumpft durch all die Schrecklichkeiten, die dann weiter¬
hin folgen.“
„Alſo Traitors-Gate muß ich ſehn?“
„Unbedingt. Freilich, wenn ich dann wieder er¬
wäge, daß an dieſer berühmten Stelle nichts unmittel¬
bar Wirkungsvolles zu ſehn iſt, ſo muß ich mich bei
meinen Ratſchlägen auf Ihre Phantaſie verlaſſen können.
Und ob das geht, weiß ich nicht. Wer aus der Mark
iſt, hat meiſt keine Phantaſie.“
Der alte Graf und Armgard ſchwiegen, und auch
Meluſine ſah wohl, daß ſie mit ihrer Bemerkung etwas
zu weit gegangen war. Irgend eine Reparierung ſchien
alſo geboten. „Ich will’s aber doch mit Ihnen wagen,“
nahm ſie das Geſpräch wieder auf und lachte. „Trai¬
tors-Gatte. Nun ſehen Sie, Sie kommen da vom Ein¬
gange her einen ſchmalen Gang entlang, und mit einem
Male haben Sie ſtatt der grauen Steinwand ein eiſen¬
beſchlagenes Holzthor neben ſich. Hinter dieſem Thor
aber befindet ſich ein kleiner, ganz unten in der Tiefe
gelegener Waſſerhof, von dem aus eine mehrſtufige
Treppe heraufführt und an eben der Stelle mündet, an
der Sie ſtehn. Und nun rechnen Sie dreihundert Jahre
zurück. Wem ſich die Pforte damals aufthat, um ſich
hinter ihm wieder zu ſchließen, der hatte vom Leben
Abſchied genommen .... Es ſind da, verzeihen Sie das
Wort, lauter glibbrige Stufen und wer alles ſtieg dieſe
Stufen hinauf: Eſſex, Sir Walter Raleigh, Thomas Morus
und zuletzt noch jene Clanhäuptlinge, die für Prince Charlie
gefochten hatten und deren Köpfe, wenige Tage
ſpäter, von Temple-Bar herab, auf die City niederſahen.“
„Liegt, Gott ſei Dank, weit zurück.“
[287]„Ja, weit zurück. Aber es kann wiederkommen.
Und gerade das war es, was immer, wenn ich da
ſo ſtand, den größten Eindruck auf mich machte. Dieſe
Möglichkeit, daß es wiederkehre. Denn ich erinnere
mich noch ſehr wohl — ja, du warſt es ſelbſt, Papa, der
es mir erzählte — daß Lord Palmerſton einmal, un¬
wirſch über die koburgiſche Nebenpolitik (ich glaube während
der Krimkriegtage) ſich dahin geäußert hätte: „Dieſer Prince-
Conſort, er thäte gut, ſich unſer Traitors-Gate bei Ge¬
legenheit anzuſehn. Es iſt zwar ſchon lange, daß Könige
da die glibbrige Treppe hinaufgeſtiegen ſind, aber es
iſt doch noch nicht ſo lange, daß wir uns deſſen nicht
mehr entſinnen könnten. Und ein Prince-Conſort iſt
noch lange nicht ein König.“
Woldemar, als Meluſine dies mit überlegener Miene
geſagt hatte, lächelte vor ſich hin, was die Gräfin der¬
artig verdroß, daß ſie mit einer gewiſſen Ge¬
reiztheit hinzuſetzte: „Sie lächeln. Da ſeh' ich doch,
wie ſehr ich im Rechte war, Ihnen die Phantaſie ab¬
zuſprechen.“
„Verzeihen Sie mir ...“
„Und nun werden Sie auch noch pathetiſch. Das
iſt die richtige Ergänzung. Im übrigen, wie könnt' ich
mit Ihnen ernſthaft zürnen! Ein berühmter deutſcher
Profeſſor ſoll einmal irgendwo geſagt haben: ‚niemand
ſei verpflichtet, ein großer Mann zu ſein.‘ Und ebenſo¬
wenig wird er ‚große Phantaſie‘ als etwas Pflicht¬
mäßiges gefordert haben.“
Woldemar küßte ihr die Hand. „Wiſſen Sie,
Gräfin, daß Sie doch eigentlich recht hochmütig ſind?“
„Vielleicht. Aber mancher entwaffnet mich wieder.
Und zu dieſen gehören Sie.“
„Das iſt nun auch wieder aus dem Ton.“
„Ich weiß es nicht. Aber laſſen wir's. Und ver¬
[288] ſprechen Sie mir lieber, mir von Windſor oder London
aus eine Karte zu ſchreiben ... nein, eine Karte, das
geht nicht ... alſo einen Brief, darin Sie mir ein
Wort über die Engländerinnen ſagen, und ob Sie jede
taillenloſe Rotblondine drüben auch ſo ſchön gefunden
haben werden, wie's von den Kontinentalen, wenn
ſie dies Thema berühren, faſt immer verſichert wird.“
„Es wird davon abhängen, an wen ich gerade denke.“
„Nach dieſer Bemerkung iſt ihnen alles verziehn.“
Woldemar blieb bis neun. Er hatte gleich in den
Zeilen, in denen er ſich anmeldete, die Damen wiſſen
laſſen, daß er ſeinen Beſuch auf eine kurze Stunde be¬
ſchränken müſſe. So war er denn bei guter Zeit wieder
daheim. Auf ſeinem Tiſche fand er ein Briefchen vor
und erkannte Rex' Handſchrift. „Lieber Stechlin,“ ſo
ſchrieb dieſer, „ich höre eben, daß Sie nach London
gehn. In der Zeitung, wo's ſchon geſtanden haben
ſoll, hab' ich es überſehn. Ich beglückwünſche Sie von
Herzen zu dieſer Auszeichnung und lege ihnen eine
Karte bei, die Sie (wenn's Ihnen paßt) bei meinem
Freunde Ralph Waddington einführen ſoll. Er iſt
Advokat und einer der angeſehenſten Führer unter den
Irvingianern. Fürchten Sie übrigens keine Bekehrungs¬
verſuche. Waddington iſt ein durchaus feiner Mann,
alſo zurückhaltend. Er kann ihnen aber mannigfach
behilflich ſein, wenn Ihnen daran gelegen ſein ſollte,
ſich um das Weſen der engliſchen Diſſenter, ihre Chapels
und Tabernakels zu kümmern. Er iſt ein Wiſſenſchaftler
auf dieſem Gebiet. Und ich kenne ja Ihre Vorliebe
für derlei Fragen.“
Stechlin legte den Brief unter den Briefbeſchwerer
und ſagte: „Der gute Rex! Er überſchätzt mich. Diſſenter¬
ſtudien. Es genügt mir, wenn ich einen einzigen Quäker
ſehe.“
Dreiundzwanzigſtes Kapitel.
Was Rex da ſchrieb, hatte doch ein Gutes gehabt:
Woldemar, erheitert bei dem Gedanken, ſich durch Ralph
Waddington in ein Tabernakel eingeführt zu ſehn, ſah
ſich mit einemmale einer gewiſſen Abſpannung entriſſen
und war froh darüber, denn er brauchte durchaus
Stimmung, um noch einige Briefe zu ſchreiben. Das
ging ihm nun leichter von der Hand, und als elf Uhr
kaum heran war, war alles erledigt.
Der andre Morgen ſah ihn ſelbſtverſtändlich früh
auf. Fritz war um ihn her und half, wo noch zu
helfen war. „Und nun, Fritz,“ ſo waren Woldemars
letzte Worte, „ſieh nach dem Rechten. Schicke mir nichts
nach; Zeitungen wirf weg. Und die drei Briefe hier,
wenn ich fort bin, die thue ſofort in den Kaſten ...
Iſt die Droſchke ſchon da?“
„Zu Befehl, Herr Rittmeiſter.“
„Na, dann mit Gott. Und jeden Tag lüften.
Und paß auf die Pferde.“
Damit verabſchiedete ſich Woldemar.
Von den drei Briefen war einer nach Stechlin
hin adreſſiert. Er traf, weil er noch mit dem erſten
Zuge fortkonnte, gleich nach Tiſch bei dem Alten ein
und lautete:
„Mein lieber Papa. Wenn du dieſe Zeilen er¬
hältſt, ſind wir ſchon auf dem Wege. ‚Wir‘ das will
ſagen: unſer Oberſt, unſer zweitälteſter Stabsoffizier,
ich und zwei jüngere Offiziere. Aus deinen eignen
Soldatentagen her kennſt du den Charakter ſolcher Ab¬
ordnungen. Nachdem wir ‚Regiment Königin von Gro߬
britannien und Irland‘ geworden ſind, war dies ‚uns
drüben vorſtellen‘ nur noch eine Frage der Zeit. Dieſer
Miſſion beigeſellt zu ſein, iſt ſelbſtverſtändlich eine große
Ehre für mich, doppelt, wenn ich die Namen, über die
wir in unſerm Regiment Verfügung haben, in Er¬
wägung ziehe. Die Zeiten, wo man das Wort ‚hiſtoriſche
Familie‘ betonte, ſind vorüber. Auch an Tante Adel¬
heid hab' ich in dieſer Sache geſchrieben. Was mir
perſönlich an Glücksgefühl vielleicht noch fehlen mag,
wird ſie leicht aufbringen. Und ich freue mich deſſen,
weil ich ihr, alles in allem, doch ſo viel verdanke.
Daß ich mich von Berlin gerade jetzt nicht gerne
trenne, ſei nur angedeutet; du wirſt den Grund davon
unſchwer erraten. Mit beſten Wünſchen für dein Wohl,
unter herzlichen Grüßen an Lorenzen, wie immer dein
Woldemar.“
Dubslav ſaß am Kamin, als ihm Engelke den
Brief brachte. Nun war der Alte mit dem Leſen durch
und ſagte: „Woldemar geht nach England. Was ſagſt
du dazu, Engelke?“
„So was hab' ich mir all immer gedacht.“
„Na, dann biſt du klüger geweſen als ich. Ich
habe mir gar nichts gedacht. Und nu noch drei Tage,
ſo ſtellt er ſich mit ſeinem Oberſt und ſeinem Major
vor die Königin von England hin und ſagt: „Hier
bin ich.“
„Ja, gnäd'ger Herr, warum ſoll er nich?“
„Is auch 'n Standpunkt. Und vielleicht ſogar
der richtige. Volksſtimme, Gottesſtimme. Na, nu geh
[291] mal zu Paſtor Lorenzen und ſag ihm, ich ließ ihn
bitten. Aber ſage nichts von dem Brief; ich will ihn
überraſchen. Du biſt mitunter 'ne alte Plappertaſche.“
Schon nach einer halben Stunde war Lorenzen da.
„Haben befohlen ...“
„Haben befohlen. Ja, das iſt gerade ſo das
Richtige; ſieht mir ähnlich ... Nun, Lorenzen, ſchieben
Sie ſich mal 'nen Stuhl 'ran, und wenn Engelke nicht
geplaudert hat (denn er hält nicht immer dicht), ſo hab'
ich eine richtige Neuigkeit für Sie. Woldemar iſt nach
England ...“
„Ah, mit der Abordnung.“
„Alſo wiſſen Sie ſchon davon?“
„Nein, ausgenommen das eine, daß eine Depu¬
tation oder Geſandtſchaft beabſichtigt ſei. Das las ich
und dabei hab' ich dann freilich auch an Woldemar
gedacht.“
Dubslav lachte. „Sonderbar. Engelke hat ſich
ſo was gedacht, Lorenzen hat ſich auch ſo was gedacht.
Nur der eigne Vater hat an gar nichts gedacht.“
„Ach, Herr von Stechlin, das iſt immer ſo. Väter
ſind Väter und können nie vergeſſen, daß die Kinder
Kinder waren. Und doch hört es mal auf damit.
Napoleon war mit zwanzig ein armer Leutnant und an
Anſehn noch lange kein Stechlin. Und als er ſo alt
war, wie jetzt unſer Woldemar, ja, da ſtand er ſchon
zwiſchen Marengo und Auſterlitz.“
„Hören Sie, Lorenzen, Sie greifen aber hoch.
Meine Schweſter Adelheid wird ſich Ihnen übrigens
wohl anſchließen und von heut' ab eine neue Zeit¬
rechnung datieren. Ich nehm' es ruhiger, trotzdem ich
einſehe, daß es nach großer Auszeichnung ſchmeckt. Und
iſt er wieder zurück, dann wird er auch allerlei Gutes
19*[292] davon haben. Aber ſo lang er drüben iſt! Ich trau'
der Sache nicht. Von Behagen jedenfalls keine Rede.
Die Vettern ſind nun mal nicht zufrieden zu ſtellen;
vielleicht ärgern ſie ſich, daß es draußen in der Welt
auch noch ein ‚Regiment Königin von Großbritannien
und Irland‘ giebt. Das beſorgen ſie ſich lieber ſelbſt
und nehmen ſo was, wenn andre damit kommen, wie
'ne Prätenſion. Wie ſtehen denn Sie dazu. Sie haben
die Beefeaters vielleicht in Ihr Herz geſchloſſen wegen
der vielen Diſſenter. Ein Kardinal, der freilich auch
noch Gourmand war, ſoll mal geſagt haben: ‚Schreck¬
liches Volk; hundert Sekten und bloß eine Sauce.‘“
„Ja,“ lachte Lorenzen, „da bin ich freilich für die
‚Beefeaters‘, wie Sie ſagen, und gegen den Kardinal.
Das mit den hundert Sekten laſſ' ich auf ſich beruhn,
(mein Geſchmack, beiläufig, iſt es nicht) aber unter allen
Umſtänden bin ich für höchſtens eine Sauce. Das iſt
das einzig Richtige, weil Geſunde. Die Dinge müſſen
in ſich etwas ſein, und wenn das zutrifft, ſo iſt eigentlich
jede ‚Sauce‘, und nun gar erſt die Sauce im Plural, von
vornherein ſchon gerichtet. Aber laſſen wir den Kardinal
und ſeine Gewagtheiten und nehmen wir den Gegenſtand
ſeiner Abneigung: England. Es hat für mich eine Zeit
gegeben, wo ich bedingungslos dafür ſchwärmte. Nicht
zu verwundern. Hieß es doch damals in dem ganzen
Kreiſe, drin ich lebte: „Ja, wenn wir England nicht
mehr lieben ſollen, was ſollen wir dann überhaupt noch
lieben?“ Dieſe halbe Vergötterung hab' ich noch ehrlich
mit durchgemacht. Aber das iſt nun eine hübſche Weile
her. Sie ſind drüben ſchrecklich 'runtergekommen, weil
der Kult vor dem goldenen Kalbe beſtändig wächſt;
lauter Jobber und die vornehme Welt obenan. Und
dabei ſo heuchleriſch; ſie ſagen „Chriſtus“ und meinen
Kattun.“
„Is leider ſo, wenigſtens nach dem bißchen, was
[293] ich davon weiß. Und alles in allem, und neuerdings
erſt recht, bin ich deshalb immer für Rußland geweſen.
Wenn ich da ſo an unſern Kaiſer Nikolaus zurückdenke
und an die Zeit, wo ſeine Uniform als Geſchenk bei
uns eintraf und dann als Kirchenſtück in die Garniſons¬
kirche kam. Natürlich in Potsdam. Wir haben zwar
die Reliquien abgeſchafft, aber wir haben ſie doch auf
unſre Art, und ganz ohne ſo was geht es nu mal
nicht. Mit dem alten Fritzen fing es natürlich an.
Wir haben ſeinen Krückſtock und den Dreimaſter und
das Taſchentuch (na, das hätten ſie vielleicht weglaſſen
können), und zu den drei Stücken haben wir nu jetzt
auch noch die Nikolaus-Uniform.“
Lorenzen ſah verlegen vor ſich hin; etwas dagegen
ſagen, ging nicht, und zuſtimmen noch weniger.
Dubslav aber fuhr fort: „Und dann ſind ſie da
forſcher in Petersburg und geht alles mehr aus dem
Vollen, auch wenn die beſten Steine mitunter ſchon
'rausgebrochen ſind. So was kommt vor; is eben noch
ein Naturvolk. Ich kann das ‚Schenken‘ eigentlich nicht
leiden, es hat ſo was von Beſtechung und ſieht aus
wie 'n Trinkgeld. Und Trinkgeld iſt noch ſchlimmer als
Beſtechung und paßt mir eigentlich ganz und gar nicht.
Aber es hat doch auch wieder was Angenehmes, ſolche
Tabatiere. Wenn es einem gut geht, iſt es ein Familien¬
ſtück, und wenn es einem ſchlecht geht, iſt es 'ne letzte
Zuflucht. Natürlich, ein ganz reinliches Gefühl hat man
nicht dabei.“
Lorenzen blieb eine volle Stunde. Der Alte war
immer froh, wenn ſich ihm Gelegenheit bot, ſich mal
ausplaudern zu können, und heute ſtanden ja die denk¬
bar beſten Themata zur Verfügung: Woldemar, Eng¬
land, Kaiſer Nikolaus und dazwiſchen Tante Adelheid,
[294] über die zwar immer nur kurze Worte fielen, aber doch
ſo, daß ſie, weil ſpöttiſch, die gute Laune des Alten
weſentlich ſteigerten.
Und in dieſer guten Laune war er auch noch, als
er, um die fünfte Stunde ſeinen Eichenſtock und ſeinen
eingeknautſchten Filzhut vom Riegel nahm, um am See
hin, in der Richtung auf Globſow zu, ſeinen gewöhn¬
lichen Spaziergang zu machen. Unmittelbar am Süd¬
ufer, da wo die Wand ſteil abfiel, befand ſich eine von
Buchenzweigen überdachte Steinbank. Das war ſein
Lieblingsplatz. Die Sonne ſtand ſchon unterm Horizont,
und nur das Abendrot glühte noch durch die Bäume.
Da ſaß er nun und überdachte ſein Leben, Altes und
Neues, ſeine Kindheits- und ſeine Leutnantſtage, die
Tage kurz vor ſeiner Verheiratung, wo das junge blaſſe
Fräulein, das ſeine Frau werden ſollte, noch Lieblings¬
hofdame bei der alten Prinzeß Karl war. All das zog
jetzt wieder an ihm vorüber, und dazwiſchen ſeine
Schweſter Adelheid, in jenen Tagen noch leidlich gut bei
Weg, aber auch ſchon hart und herbe wie heute, ſo daß
ſie den reizenden Kerl, den Baron Krech, bloß weil er
über ein ſchon halbabgeſtorbenes ‚Verhältnis‘ und eine
freilich noch fortlebende Spielſchuld verfügte, durch
ihre Tugend weggegrault hatte. Das waren die alten
Geſchichten. Und dann wurde Woldemar geboren, und
die junge Frau ſtarb, und der Junge wuchs heran und
lernte bei Lorenzen all das dumme Zeug, das Neue
(dran vielleicht doch was war), und nun fuhr er nach
England 'rüber und war vielleicht ſchon in Köln und
in ein paar Stunden in Oſtende.
Dabei ſah er vor ſich hin und malte mit ſeinem
Stock Figuren in den Sand. Der Wald war ganz ſtill;
auf dem See ſchwanden die letzten roten Lichter, und
aus einiger Entfernung klangen Schläge herüber, wie
wenn Leute Holz fällen. Er hörte mit halbem Ohr
[295] hin und ſah eben auf die von Globſow her herauf¬
führende ſchmale Straße, als er einer alten Frau von
wohl ſiebzig gewahr wurde, die, mit einer mit
Reiſig bepackten Kiepe, den leis anſteigenden Weg herauf¬
kam, etliche Schritte vor ihr ein Kind mit ein paar
Enzianſtauden in der Hand. Das Kind, ein Mädchen,
mochte zehn Jahr ſein, und das Licht fiel ſo, daß das
blonde wirre Haar wie leuchtend um des Kindes Kopf
ſtand. Als die Kleine bis faſt an die Bank heran war,
blieb ſie ſtehn und erwartete da das Näherkommen der
alten Frau. Dieſe, die wohl ſah, daß das Kind in
Furcht oder doch in Verlegenheit war, ſagte: „Geih man
vorupp, Agnes; he deiht di nix.“
Das Kind, ſich bezwingend, ging nun auch wirk¬
lich, und während es an der Bank vorüberkam, ſah es
den alten Herrn mit großen klugen Augen an.
Inzwiſchen war auch die Alte herangekommen.
„Na, Buſchen,“ ſagte Dubslav, „habt Ihr denn
auch bloß Bruchholz in Eurer Kiepe? Sonſt packt Euch
der Förſter.“
Die Alte griente. „Jott, jnädiger Herr, wenn Se
doabi ſinn, denn wird he joa woll nich.“
„Na, ich denk' auch; is immer nich ſo ſchlimm.
Und wer is denn das Kind da?“
„Dat is joa Karlinens.“
„So, ſo, Karlinens. Is ſie denn noch in Berlin?
Und wird er ſie denn heiraten? Ich meine den Rentſch
in Globſow.“
„Ne, he will joa nich.“
„Is aber doch von ihm?“
„Joa, ſe ſeggt ſo. Awers he ſeggt, he wihr et nich.“
Der alte Dubslav lachte. „Na, hört, Buſchen, ich
kann's ihm eigentlich nich verdenken. Der Rentſch is
ja doch ein ganz ſchwarzer Kerl. Un nu ſeht Euch mal
das Kind an.“
„Dat hebb ick ehr ook all ſeggt. Un Karline weet
et ook nich ſo recht un lacht man ümmer. Un ſe brukt
em ook nich.“
„Geht es ihr denn ſo gut?“
„Joa; man kann et binah ſeggen. Se plätt't
ümmer. Alle ſo'ne plätten ümmer. Ick wihr oak diſſen
Summer mit Agneſſen (ſe heet Agnes) in Berlin, un
doa wihr'n wi joa toſamen in'n Cirkus. Un Karline
wihr ganz fidel.“
„Na, das freut mich. Und Agnes, ſagt Ihr, heißt
ſie. Is ein hübſches Kind.“
„Joa, det is ſe. Un is ook en gaudes Kind; ſe
weent gliks un is immer ſo patſchlich mit ehre lütten
Hänn'. Sünne ſinn immer ſo.“
„Ja, das is richtig. Aber Ihr müßt aufpaſſen,
ſonſt habt Ihr 'nen Urenkel, Ihr wißt nicht wie. Na,
gu'n Abend, Buſchen.“
„'n Abend, jnäd'ger Herr.“
Vierundzwanzigſtes Kapitel.
Der Baron Berchtesgadenſche Wagen fuhr am Kron¬
prinzen-Ufer vor und die Baronin, als ſie gehört hatte,
daß die Herrſchaften oben zu Hauſe ſeien, ſtieg langſam
die Treppe hinauf, denn ſie war nicht gut zu Fuß und
ein wenig aſthmatiſch. Armgard und Meluſine begrüßten
ſie mit großer Freude. „Wie gut, wie hübſch, Baronin,“
ſagte Meluſine, „daß wir Sie ſehn. Und wir erwarten
auch noch Beſuch. Wenigſtens ich. Ich habe ſolch
Kribbeln in meinem kleinen Finger, und dann kommt
immer wer. Wrſchowitz gewiß (denn er war drei Tage
lang nicht hier) und vielleicht auch Profeſſor Cujacius.
Und wenn nicht der, ſo Dr. Puſch, den Sie noch nicht
kennen, trotzdem Sie ihn eigentlich kennen müßten, —
noch alte Bekanntſchaft aus Londoner Tagen her. Mög¬
licherweiſe kommt auch Frommel. Aber vor allem,
Baronin, was bringen Sie für Wetter mit? Lizzi ſagte
mir eben, es neble ſo ſtark, man könne die Hand vor
Augen nicht ſehn.“
„Lizzi hat Ihnen ganz recht berichtet, der richtige
London Fog, wobei mir natürlich Ihr Freund Stechlin
einfällt. Aber über den ſprechen wir nachher. Jetzt
ſind wir noch beim Nebel. Es war draußen wirklich
ſo, daß ich immer dachte, wir würden zuſammenfahren;
und am Brandenburgerthor, mit den großen Kande¬
[298] labern dazwiſchen, ſah es beinah' aus wie ein Bild
von Skarbina. Kennen Sie Skarbina?“
„Gewiß,“ ſagte Meluſine, „den kenn' ich ſehr gut.
Aber allerdings erſt von der letzten Ausſtellung her.
Und was, außer den Gaslaternen im Nebel, mir ſo
eigentlich von ihm vorſchwebt, das iſt ein kleines Bild:
langer Hotelkorridor, Thür an Thür, und vor einer der
vielen Thüren ein paar Damenſtiefelchen. Reizend.
Aber die Hauptſache war doch die Beleuchtung. Von
irgend woher fiel ein Licht ein und vergoldete das
Ganze, den Flur und die Stiefelchen.“
„Richtig,“ ſagte die Baronin. „Das war von ihm.
Und gerade das hat Ihnen ſo ſehr gefallen?“
„Ja. Was auch natürlich iſt. In meinen italie¬
niſchen Tagen — wenn ich von ‚italieniſchen Tagen‘
ſpreche, ſo meine ich übrigens nie meine Verheiratungs¬
tage; während meiner Verheiratungstage hab' ich Gott
ſei Dank ſo gut wie garnichts geſehn, kaum meinen
Mann, aber freilich immer noch zu viel — alſo während
meiner italieniſchen Tage hab' ich vor ſo vielen Himmel¬
fahrten geſtanden, daß ich jetzt für Stiefeletten im
Sonnenſchein bin.“
„Ganz mein Fall, liebe Meluſine. Freilich bin
ich jetzt nebenher auch noch fürs Japaniſche: Waſſer und
drei Binſen und ein Storch daneben. In meinen Jahren
darf ich ja von Storch ſprechen. Früher hätt' ich viel¬
leicht Kranich geſagt.“
„Nein, Baronin, das glaub' ich Ihnen nicht. Sie
waren immer für das, was Sie jetzt Realismus nennen,
was meiſtens mehr Ton und Farbe hat, und dazu ge¬
hört auch der Storch. Deshalb lieb' ich Sie ja gerade
ſo ſehr. Ach, daß doch das Natürliche wieder obenauf
käme.“
„Kommt, liebe Meluſine.“
[299]
Meluſinens kribbelnder kleiner Finger behielt recht.
Es kam wirklich Beſuch, erſt Wrſchowitz, dann aber —
ſtatt der drei, die ſie noch nebenher gemutmaßt hatte —
nur Czako.
Der Empfang des einen wie des andern der beiden
Herren hatte vorn im Damenzimmer ſtattgefunden, ohne
Gegenwart des alten Grafen. Dieſer erſchien erſt, als
man zum Thee ging; er hieß ſeine Gäſte herzlich will¬
kommen, weil er jederzeit das Bedürfnis hatte, von dem,
was draußen in der Welt vorging, etwas zu hören. Da¬
für ſorgte denn auch jeder auf ſeine Weiſe: die Baronin
durch Mitteilungen aus der oberen Geſellſchaftsſphäre,
Czako durch Avancements und Demiſſionen und Wrſcho¬
witz durch „Krittikk“. Alles, was zur Sprache kam, hatte
für den alten Grafen ſo ziemlich den gleichen Wert, aber
das Liebſte waren ihm doch die Hofnachrichten, die die
Baronin mit glücklicher Ungeniertheit zum beſten gab.
Wendungen wie „ich darf mich wohl Ihrer Diskretion
verſichert halten“ waren ihr gänzlich fremd. Sie hatte
nicht bloß ganz allgemein den Mut ihrer Meinung, ſon¬
dern dieſen Mut auch in betreff ihrer jedesmaligen Spezial¬
geſchichte, von der man in der Regel freilich ſagen durfte,
daß ſie deſſelben auch dringend bedürftig war.
„Sagen Sie, liebe Freundin,“ begann der alte Graf,
„was wird das jetzt ſo eigentlich mit den Briefen bei
Hofe?“
„Mit den Briefen? O, das wird immer ſchöner.“
„Immer ſchöner?“
„Nun, immer ſchöner,“ lachte hier die Baronin, „iſt
vielleicht nicht gerade das rechte Wort. Aber es wird
immer geheimnisvoller. Und das Geheimnisvolle hat nun
mal das, worauf es ankommt, will ſagen den Charme.
Schon die beliebte Wendung „rätſelhafte Frau“ ſpricht
dafür; eine Frau, die nicht rätſelhaft iſt, iſt eigentlich gar
keine, womit ich mir perſönlich freilich eine Art Todes¬
[300] urteil ausſpreche. Denn ich bin alles, nur kein Rätſel.
Aber am Ende, man iſt, wie man iſt, und ſo muß ich
dies Manko zu verwinden ſuchen .... Es heißt immer
‚üble Nachrede, drin man ſich mehr oder weniger mit
Vorliebe gefalle, ſei was Sündhaftes‘, Aber was heißt hier
‚üble Nachrede‘? Vielleicht iſt das, was uns ſo bruch¬
ſtückweiſe zu Gehör kommt, nur ein ſchwaches Echo vom
Eigentlichen, und bedeutet eher ein zu wenig als ein zu
viel. Im übrigen, wie's damit auch ſei, mein Sinn iſt nun
mal auf das Senſationelle gerichtet. Unſer Leben verläuft,
offen geſtanden, etwas durchſchnittsmäßig, alſo langweilig,
und weil dem ſo iſt, ſetz' ich getroſt hinzu: ‚Gott ſei Dank,
daß es Skandale giebt‘. Freilich für Armgard iſt ſo was
nicht geſagt. Die darf es nicht hören.“
„Sie hört es aber doch,“ lachte die Comteſſe, „und
denkt dabei: was es doch für ſonderbare Neigungen und
Glücke giebt. Ich habe für dergleichen gar kein Organ.
Unſre teure Baronin findet unſer Leben langweilig und
ſolche Chronik intereſſant. Ich, umgekehrt, finde ſolche
Chronik langweilig und unſer alltägliches Leben inter¬
eſſant. Wenn ich den Rudolf unſers Portier Hartwig
unten mit ſeinem Hoop und ſeinen dünnen langen Berliner
Beinen über die Straße laufen ſehe, ſo find' ich das
intereſſanter als dieſe ſogenannte Pikanterie.“
Meluſine ſtand auf und gab Armgard einen Kuß.
„Du biſt doch deiner Schweſter Schweſter, oder mein Er¬
ziehungsprodukt, und zum erſtenmal in meinem Leben
muß ich meine teure Baronin ganz im Stiche laſſen. Es
iſt nichts mit dieſem Klatſch; es kommt nichts dabei
heraus.“
„Ach, liebe Meluſine, das iſt durchaus nicht richtig.
Es kommt umgekehrt ſehr viel dabei heraus. Ihr Barbys
ſeid alle ſo ſchrecklich diskret und ideal, aber ich für mein
Teil ich bin anders und nehme die Welt, wie ſie iſt; ein
Bier und ein Schnaderhüpfl und mal ein Haberfeld¬
[301] treiben, damit kommt man am weiteſten. Was wir da
jetzt hier erleben, das iſt auch ſolch Haberfeldtreiben, ein
Stück Fehme.“
„Nur keine heilige.“
„Nein,“ ſagte die Baronin, „keine heilige. Die Fehme
war aber auch nicht immer heilig. Habe mir da neulich
erſt den Götz wieder angeſehn, bloß wegen dieſer Scene. Die
Poppe beiläufig vorzüglich. Und der ſchwarze Mann von
der Fehme ſoll im Urtext noch viel ſchlimmer geweſen
ſein, ſo daß man es (Goethe war damals noch ſehr jung)
eigentlich kaum leſen kann. Ich würde mir's aber doch
getrauen. Und nun wend' ich mich an unſre Herren, die
dies difficile Kampffeld, ich weiß nicht ritterlicher- oder
unritterlicherweiſe, mir ganz allein überlaſſen haben. Dr.
Wrſchowitz, wie denken Sie darüber?“
„Ich denke darüber ganz wie gnädige Frau. Was
wir da leſen wie Runenſchrift ... nein, nicht wie
Runenſchrift ... (Wrſchowitz unterbrach ſich hier mißmutig
über ſein eignes Hineingeraten in's Skandinaviſche) — was
wir da leſen in Briefen vom Hofe, das iſt Krittikk. Und
weil es Krittikk iſt, iſt es gutt. Mag es auch ſein Mi߬
brauch von Krittikk. Alles hat Mißbrauch. Gerechtigkeit
hat Mißbrauch, Kirche hat Mißbrauch, Krittikk hat Mi߬
brauch. Aber trotzdem. Auf die Fehme kommt es an,
und das große Meſſer muß wieder ſtecken im Baum.“
„Brrr,“ ſagte Czako, was ihm einen ernſten Augen¬
aufſchlag von Wrſchowitz eintrug. —
Als man ſich nach einer halben Stunde von Tiſch
erhoben hatte, wechſelte man den Raum und begab ſich
in das Damenzimmer zurück, weil der alte Graf etwas
Muſik hören und ſich von Armgards Fortſchritten über¬
zeugen wollte. „Dr. Wrſchowitz hat vielleicht die Güte,
dich zu begleiten.“
So folgte denn ein Quatremains und als man da¬
mit aufhörte, nahm der alte Barby Veranlaſſung, ſeiner
[302] Vorliebe für ſolch vierhändiges Spiel Ausdruck zu geben,
was Wrſchowitz, deſſen Künſtlerüberheblichkeit keine Grenzen
kannte, zu der ruhig lächelnden Gegenbemerkung veran¬
laßte, daß man dieſer Auffaſſung bei Dilettanten ſehr
häufig begegne. Der alte Graf, wenig befriedigt von
dieſer „Krittikk“, war doch andrerſeits viel zu vertraut
mit Künſtlerallüren im allgemeinen und mit den Wrſcho¬
witzſchen im beſonderen, um ſich ernſtlich über ſolche Worte
zu verwundern. Er begnügte ſich vielmehr mit einer ge¬
meſſenen Verbeugung gegen den Muſikdoktor und zog, auf
einer nebenſtehenden Cauſeuſe Platz nehmend, die gute
Frau von Berchtesgaden ins Geſpräch, von der er wußte,
daß ihre Munterkeiten nie den Charakter „goldener Rück¬
ſichtsloſigkeiten“ annahmen.
Wrſchowitz ſeinerſeits war an dem aufgeklappten
Flügel ſtehen geblieben, ohne jede Spur von Verlegen¬
heit, ſo daß ein Sichkümmern um ihn eigentlich nicht nötig
geweſen wäre. Trotzdem hielt es Czako für angezeigt, ſich
ſeiner anzunehmen und dabei die herkömmliche Frage zu
thun „ob er, der Herr Dr. Wrſchowitz, ſich ſchon in Berlin
eingelebt habe?“
„Hab' ich,“ ſagte Wrſchowitz kurz.
„Und beklagen es nicht, Ihr Zelt unter uns auf¬
geſchlagen zu haben?“
„Au contraire. Berlin eine ſchöne Stadt, eine ſerr
gutte Stadt. Eine ſerr gutte Stadt pour moi en parti¬
culier et pour les étrangers en général. Eine ſerr
gutte Stadt, weil es hat Muſikk und weil es hat Krittikk.“
„Ich bin beglückt, Dr. Wrſchowitz, ſpeziell aus Ihrem
Munde ſo viel Gutes über unſre Stadt zu hören. Im
allgemeinen iſt die ſlaviſche, beſonders die tſchechiſche
Welt ...“
„O, die tſchechiſche Welt. Vanitas vanitatum.“
„Es iſt ſehr ſelten, in nationalen Fragen einem ſo
freien Drüberſtehn zu begegnen ... Aber wenn es Ihnen
[303] recht iſt, Dr. Wrſchowitz, wir ſtehen hier wie zwei Schild¬
halter neben dieſem aufgeklappten Klavier, — vielleicht
daß wir uns ſetzen könnten. Gräfin Meluſine lugt ohne¬
hin ſchon nach uns aus.“ Und als Wrſchowitz ſeine Zu¬
ſtimmung zu dieſem Vorſchlage Czakos ausgedrückt hatte,
ſchritten beide Herren vom Klavier her auf den Kamin
zu, vor dem ſich die Gräfin auf einem Fauteuil nieder¬
gelaſſen hatte. Neben ihr ſtand ein Marmortiſchchen, drauf
ſie den linken Arm ſtützte.
„Nun endlich, Herr von Czako. Vor allem aber
rücken Sie Stühle heran. Ich ſah die beiden Herren in
einem anſcheinend intimen Geſpräche. Wenn es ſich um
etwas handelte, dran ich teilnehmen darf, ſo gönnen Sie
mir dieſen Vorzug. Papa hat ſich, wie Sie ſehn, mit der
Baronin engagiert, ich denke mir über berechtigte bajuvariſche
Eigentümlichkeiten, und Armgard denkt über ihr Spiel
nach und all die falſchen Griffe. Was müſſen Sie gelitten
haben, Wrſchowitz. Und nun noch einmal, Hauptmann
Czako, worüber plauderten Sie?“
„Berlin.“
„Ein unerſchöpfliches Thema für die Mediſance.“
„Worauf Dr. Wrſchowitz zu meinem Staunen ver¬
zichtete. Denken Sie ſich, gnädigſte Gräfin, er ſchien alles
loben zu wollen. Allerdings waren wir erſt bei Muſik
und Kritik. Über die Menſchen noch kein Wort.“
„O, Wrſchowitz, das müſſen Sie nachholen. Ein
Fremder ſieht mehr als ein Einheimiſcher. Alſo frei weg
und ohne Scheu. Wie ſind die Vornehmen? Wie ſind
die kleinen Leute?“
Wrſchowitz wiegte den Kopf hin und her, als ob er
überlege, wie weit er in ſeiner Antwort gehen könne.
Dann mit einem Male ſchien er einen Entſchluß gefaßt
zu haben und ſagte: „Oberklaſſe gutt, Unterklaſſe ſerr gutt;
Mittelklaſſe nicht ſerr gutt.“
„Kann ich zuſtimmen,“ lachte Meluſine. „Fehlen nur
noch ein paar Details. Wie wär' es damit?“
„Mittelklaſſberliner findet gutt, was er ſagt, aber
findet nicht gutt, was ſagt ein andrer.“
Czako, trotzdem er ſich getroffen fühlte, nickte.
„Mittelklaſſberliner, wenn ſpricht andrer, fällt in
Krampf. In verſteckten Krampf oder auch in nicht ver¬
ſteckten Krampf. In verſtecktem Krampf iſt er ein Bild des
Jammers, in nicht verſtecktem Krampf iſt er ein Affront.“
„Brav, Wrſchowitz. Aber mehr. Ich bitte.“
„Berliner, immer an der Tete. So wenigſtens
glaubt er. Berliner immer Held. Berliner weiß alles,
findet alles, entdeckt alles. Erſt Borſig, dann Stephenſon,
erſt Rudolf Hertzog, dann Herzog Rudolf, erſt Pfeffer¬
küchler Hildebrand, dann Papſt Hildebrand.“
„Nicht geſchmeichelt, aber ähnlich. Und nun, Wrſcho¬
witz, noch eins, dann ſind Sie wieder frei ... Wie ſind
die Damen?“
„Ach, gnädigſte Gräfin ...“
„Nichts, nichts. Die Damen.“
„Die Damen. O, die Damen ſerr gutt. Aber nicht
ſpeziffiſch. Speziffiſch in Berlin bloß die Madamm.“
„Da bin ich aber doch neugierig.“
„Speziffiſch bloß die Madamm. Ich war, gnädigſte
Gräfin, in Pettersburg und ich war in Moscoù. Und
war in Budapeſt. Und war auch in Saloniki. Ah, Saloniki!
Schöne Damen von Helikon und ſchöne Damen von Libanon,
hoch und ſchlank wie die Ceder. Aber keine Madamm.
Madamm nirgendwo; Madamm bloß in Berlin.“
„Aber Wrſchowitz, es müſſen doch ſchließlich Ähnlich¬
keiten da ſein. Eine Madamm iſt doch immerhin auch
eine Dame, wenigſtens eine Art Dame. Schon das Wort
ſpricht es aus.“
„Nein, gnäddigſte Gräfin; rien du tout. Dame!
Dame denkt an Galan, Dame denkt an Putz; oder vielleicht
[305] auch an Divorçons. Aber Madamm denkt bloß an Rike
draußen und mitunter auch an Paul. Und wenn ſie
zu Paul ſpricht, der ihr Jüngſter iſt, ſo ſagt ſie:
‚Jott, dein Vater.‘ Oh, die Madamm! Einige ſagen,
ſie ſtürbe aus, andre ſagen, ſie ſtürbe nie.“
„Wrſchowitz,“ ſagte Meluſine „wie ſchade, daß die
Baronin und Papa nicht zugehört haben, und daß unſer
Freund Stechlin, der ſolche Themata liebt, nicht hier iſt.
Übrigens hatten wir heut ein Telegramm von ihm. Haben
Sie vielleicht auch Nachricht, Herr Hauptmann?“
„Heute, gnädigſte Gräfin. Und auch ein Telegramm.
Ich hab' es mitgebracht, weil ich an die Möglichkeit dachte ...“
„Bitte, leſen.“
Und Czako las: „London, Charing Croß-Hotel. Alles
über Erwarten groß. Sieben unvergeßliche Tage. Rich¬
mond ſchön. Windſor ſchöner. Und die Nelſonſäule vor
mir. Ihr v. St.“
Meluſine lachte. „Das hat er uns auch telegraphiert.“
„Ich fand es wenig,“ ſtotterte Czako verlegen und
als Doublette find' ich es noch weniger. Und ein Mann
wie Stechlin, ein Mann in Miſſion! Und jetzt ſogar unter
den Augen Ihrer Majeſtät von Großbritannien und
Indien.“
Alles ſtimmte dem, „daß es wenig ſei“, zu. Nur der
alte Graf wollte davon nichts wiſſen.
„Was verlangt Ihr? Es iſt umgekehrt ein ſehr
gutes Telegramm, weil ein richtiges Telegramm; Richmond
Windſor, Nelſonſäule. Soll er etwa telegraphieren, daß
er ſich ſehnt, uns wieder zu ſehn? Und das wird er nicht
einmal können, ſo rieſig verwöhnt er jetzt iſt. Ihr werdet
Euch alle ſehr zuſammennehmen müſſen. Auch du, Meluſine.“
„Natürlich, ich am meiſten.“
Fontane, Der Stechlin. 20
Verlobung.
Weihnachtsreiſe nach Stechlin.
20*[[308]][[309]]Fünfundzwanzigſtes Kapitel.
Drei Tage ſpäter war Woldemar zurück und meldete
ſich für den nächſten Abend am Kronprinzenufer an. Er
traf nur die beiden Damen, die, Meluſine voran, kein
Hehl aus ihrer Freude machten. „Papa läßt Ihnen ſein
Bedauern ausſprechen, Sie nicht gleich heute mitbegrüßen
zu können. Er iſt bei den Berchtesgadens zur Spiel¬
partie, bei der er natürlich nicht fehlen durfte. Das iſt
„Dienſt“, weit ſtrenger als der Ihrige. Wir haben Sie
nun ganz allein, und das iſt auch etwas Gutes. An
Beſuch iſt kaum zu denken; Rex war erſt geſtern auf eine
kurze Viſite hier, etwas ſteif und formell wie gewöhnlich,
und mit Ihrem Freunde Czako haben wir letzten Sonn¬
abend eine Stunde verplaudern können. Wrſchowitz war
an demſelben Abend auch da; beide treffen ſich jetzt öfter
und vertragen ſich beſſer als ich bei Beginn der Bekannt¬
ſchaft dachte. Wer alſo ſollte noch kommen? ... Und
nun ſetzen Sie ſich, um Ihr Reiſefüllhorn über uns
auszuſchütten; — die Füllhörner, die jetzt Mode ſind,
ſind meiſt Bonbontüten, und genau ſo was erwart' ich
auch von Ihnen. Sie ſollten mir in einem Briefe von
den Engländerinnen ſchreiben. Aber wer darüber nicht
ſchrieb, das waren Sie, wenn wir uns auch entſchließen
wollen, Ihr Telegramm für voll anzuſehn.“ Und dabei
lachte Meluſine. „Vielleicht haben Sie uns in unſrer
Eitelkeit nicht kränken wollen. Aber offen Spiel iſt immer
[310] das beſte. Wovon Sie nicht geſchrieben, davon müſſen
Sie jetzt ſprechen. Wie war es drüben? Ich meine mit
der Schönheit.“
„Ich habe nichts einzelnes geſehn, was mich frappiert
oder gar hingeriſſen hätte.“
„Nichts Einzelnes. Soll das heißen, daß Sie dafür
das Ganze beinah' bewundert haben, will alſo ſagen, die
weibliche Totalität?“
„Faſt könnt' ich dem zuſtimmen. Ich erinnere mich,
daß mir vor Jahr und Tag ſchon ein Freund einmal
ſagte, „in der ganzen Welt fände man, Gott ſei Dank,
ſchöne Frauen, aber nur in England ſeien die Frauen
überhaupt ſchön“.“
„Und das haben Sie geglaubt?“
„Es liegt eigentlich ſchlimmer, gnädigſte Gräfin.
Ich hab' es nicht geglaubt; aber ich hab' es, meinem
Nichtglauben zum Trotz, nachträglich beſtätigt gefunden.“
„Und Sie ſchaudern nicht vor ſolcher Übertreibung?“
„Ich kann es nicht, ſo ſehr ich gerade hier eine Ver¬
pflichtung dazu fühle ...“
„Keine Beſtechungen.“
„Ich ſoll ſchaudern vor einer Übertreibung,“ fuhr
Woldemar fort. „Aber Sie werden mir, Frau Gräfin,
dies Schaudern vielleicht erlaſſen, wenn ich Erklärungen
abgegeben haben werde. Der Englandſchwärmer, den ich
da vorhin citierte, war ein Freund von zugeſpitzten Sätzen,
und zugeſpitzte Sätze darf man nie wörtlich nehmen. Und
am wenigſten auf dieſem difficilen Gebiete. Nirgends in
der Welt blühen Schönheiten wie die gelben Butterblumen
übers Feld hin; wirkliche Schönheiten ſind ſchließlich
immer Seltenheiten. Wären ſie nicht ſelten, ſo wären ſie
nicht ſchön, oder wir fänden es nicht, weil wir einen
andern Maßſtab hätten. All das ſteht feſt. Aber es
giebt doch Durchſchnittsvorzüge, die den Typus des
Ganzen beſtimmen, und dieſem Maße nicht geradezu
[311] frappierender, aber doch immerhin noch ſehr gefälliger
Durchſchnittsſchönheit, dem bin ich drüben begegnet.“
„Ich laſſ' es mit dieſer Einſchränkung gelten, und
Sie werden in Papa, mit dem wir oft darüber ſtreiten,
einen Anwalt für ihre Meinung finden. Durchſchnitts¬
vorzüge. Zugegeben. Aber was ſich darin ausſpricht,
das beinah' Unperſönliche, das Typiſche ...“
Meluſine ſchrak in dieſem Augenblick leiſe zuſammen,
weil ſie draußen die Klingel gehört zu haben glaubte.
Wirklich, Jeſerich trat ein und meldete: Profeſſor Cujacius.
„Um Gottes willen,“ entfuhr es der Gräfin, und die kleine
Pauſe benutzend, die ihr noch blieb, flüſterte ſie Wol¬
demar zu: „Cujacius ... Malerprofeſſor. Er wird über
Kunſt ſprechen; bitte, widerſprechen Sie ihm nicht, er
gerät dabei ſo leicht in Feuer oder in mehr als das.“
Und kaum, daß Meluſine ſo weit gekommen war, erſchien
auch ſchon Cujacius und ſchritt unter raſcher Verbeugung
gegen Armgard auf die Gräfin zu, dieſer die Hand zu
küſſen. Sie hatte ſich inzwiſchen geſammelt und ſtellte
vor: „Profeſſor Cujacius, ... Rittmeiſter von Stechlin.“
Beide verneigten ſich gegeneinander, Woldemar ruhig,
Cujacius mit dem ihm eignen ſuperioren Apoſtelausdruck,
der, wenn auch ungewollt, immer was Provozierendes
hatte. „Bin,“ ſo ließ er ſich mit einer gewiſſen Konde¬
ſcenz vernehmen, „durch Gräfin Meluſine ganz auf dem
Laufenden. Abordnung, England, Windſor. Ich habe
Sie beneidet, Herr Rittmeiſter. Eine ſo ſchöne Reiſe.“
„Ja, das war ſie, nur leider zu kurz, ſo daß ich
intimeren Dingen, beiſpielsweiſe der engliſchen Kunſt,
nicht das richtige Maß von Aufmerkſamkeit widmen konnte.“
„Worüber Sie ſich getröſten dürfen. Was ich per¬
ſönlich an ſolcher Reiſe jedem beneiden möchte, das ſind
ausſchließlich die großen Geſamteindrücke, der Hof und
die Lords, die die Geſchichte des Landes bedeuten.“
„All das war auch mir die Hauptſache, mußt' es
[312] ſein. Aber ich hätte mich dem ohnerachtet auch gern um
Künſtleriſches gekümmert, ſpeziell um Maleriſches. So
zum Beiſpiel um die Schule der Präraffaeliten.“
„Ein überwundener Standpunkt. Einige waren da,
deren Auftreten auch von uns (ich ſpreche von den Künſt¬
lern meiner Richtung) mit Aufmerkſamkeit und ſelbſt mit
Achtung verfolgt wurde. So beiſpielsweiſe Millais ...“
„Ah, der. Sehr wahr. Ich erinnere mich ſeines
bedeutendſten Bildes, das leider nach Amerika hin ver¬
kauft wurde. Wenn ich nicht irre, zu einem enormen
Preiſe.“
Cujacias nickte. „Mutmaßlich das vielgefeierte
‚Angelusbild‘, was Ihnen vorſchwebt, Herr Rittmeiſter,
eine von Händlern heraufgepuffte Marktware, für die
Sie glücklicherweiſe den engliſchen Millais, will alſo
ſagen, den ‚a, i, s‘ = Millais nicht verantwortlich machen
dürfen. Der Millet, der für eine, wie Sie ſchon be¬
merkten, lächerlich hohe Summe nach Amerika hin ver¬
kauft wurde, war ein ‚e, t‘ = Millet, Vollblutpariſer oder
wenigſtens Franzoſe.“
Woldemar geriet über dieſe Verwechslung in eine
kleine Verlegenheit, die Damen mit ihm, alles ſehr zur
Erbauung des Profeſſors, deſſen raſch wachſendes Über¬
legenheitsgefühl unter dem Eindruck dieſes Fauxpas immer
neue Blüten übermütiger Laune trieb. „Im übrigen ſei
mir's verziehen,“ fuhr er, immer leuchtender werdend,
fort, „wenn ich mein Urteil über beide kurz dahin zuſammen¬
faſſe: ‚ſie ſind einander wert‘ und die zwei großen weſt¬
lichen [Kulturvölker] mögen ſich darüber ſtreiten, wer von
ihnen am meiſten genasführt wurde. Der franzöſiſche
Millet iſt eine Null, ein Zwerg, neben dem der engliſche ver¬
gleichsweiſe zum Rieſen anwächſt, wohlverſtanden ver¬
gleichsweiſe. Trotzdem, wie mir geſtattet ſein mag zu
wiederholen, war er zu Beginn ſeiner Laufbahn ein Gegen¬
ſtand unſrer hieſigen Aufmerkſamkeit. Und mit Recht.
[313] Denn das Präraffaelitentum, als deſſen Begründer und
Vertreter ich ihn anſehe, trug damals einen Zukunftskeim
in ſich; eine große Revolution ſchien ſich anbahnen zu
wollen, jene große Revolution, die Rückkehr heißt. Oder
wenn Sie wollen „Reaktion“. Man hat vor ſolchen Wörtern
nicht zu erſchrecken. Wörter ſind Kinderklappern.“
„Und dieſer engliſche Millais, — den mit dem fran¬
zöſiſchen verwechſelt zu haben ich aufrichtig bedaure, —
dieſer ‚a, i, s‘ = Millais, dieſer große Reformer, iſt, wenn
ich Sie recht verſtehe, ſich ſelber untreu geworden.“
„Man wird dies ſagen dürfen. Er und ſeine Schule
verfielen in Excentricitäten. Die Zucht ging verloren und
das ſtraft ſich auf jedem Gebiet. Was da neuerdings in
der Welt zuſammengekleckſt wird, zumal in der ſchottiſchen
und amerikaniſchen Schule, die ſich jetzt auch bei uns breit
zu machen ſucht, das iſt der Überſchwang einer an ſich
beachtenswerten Richtung. Der Zug, der unter Mittel¬
dampf gut und erfreulich fuhr, unter Doppeldampf (und
das reicht noch nicht einmal aus) iſt er entgleiſt; er liegt
jetzt neben den Schienen und puſtet [und] keucht. Und ein
Jammer nur, daß ſeine Heizer nicht mit auf dem Platze
geblieben ſind. Das iſt der Fluch der böſen That ...
ich verzichte darauf, in Gegenwart der Damen das Citat
zu Ende zu führen.“
Eine kleine Pauſe trat ein, bis Woldemar, der einſah,
daß irgend was geſagt werden müſſe, ſich zu der Be¬
merkung aufraffte: „Von Neueren hab' ich eigentlich
nur Seeſtücke kennen gelernt; dazu die Phantaſtika des
Malers William Turner, leider nur flüchtig. Er hat die
„drei Männer im feurigen Ofen“ gemalt. Stupend. Etwas
Großartiges ſchien mir aus ſeinen Schöpfungen zu ſprechen,
wenigſtens in allem, was das Kolorit angeht.“
„Eine gewiſſe Großartigkeit,“ nahm Cujacius mit
lächelnd überlegener Miene wieder das Wort, „iſt ihm
nicht abzuſprechen. Aber aller Wahnſinn wächſt ſich leicht
[314] ins Großartige hinein und düpiert dann regelmäßig die
Menge. Mundus vult decipi. Allem vorauf in Eng¬
land. Es giebt nur ein Heil: Umkehr, Rückkehr zur
keuſchen Linie. Die Koloriſten ſind das Unglück in der
Kunſt. Einige wenige waren hervorragend, aber nicht
parceque, ſondern quoique. Noch heute wird es mir
obliegen, in unſerm Verein über eben dieſes Thema zu
ſprechen. Gewiß unter Widerſpruch, vielleicht auch unter
Lärm und Gepolter; denn mit den richtigen Linien in der
Kunſt ſind auch die richtigen Formen in der Geſellſchaft
verloren gegangen. Aber viel Feind', viel Ehr', und jede
Stelle verlangt heutzutage ihren Mann von Worms, ihren
Luther. ‚Hier ſtehe ich‘. Am elendeſten aber ſind die
paktierenwollenden Halben. Zwiſchen ſchön und häßlich
iſt nicht zu paktieren.“
„Und ſchön und häßlich,“ unterbrach hier Meluſine,
(froh, überhaupt unterbrechen zu können,) „war auch die
große Frage, die wir, als wir Sie begrüßen durften, eben
unter Diskuſſion ſtellten. Herr von Stechlin ſollte beichten
über die Schönheit der Engländerinnen. Und nun frag'
ich Sie, Herr Profeſſor, finden auch Sie ſie ſo ſchön, wie
einem hierlandes immer verſichert wird?“
„Ich ſpreche nicht gern über Engländerinnen,“ fuhr
Cujacius fort. „Etwas von Idioſynkraſie beherrſcht mich
da. Dieſe Töchter Albions, ſie ſingen ſo viel und muſizieren
ſo viel und malen ſo viel. Und haben eigentlich kein
Talent.“
„Vielleicht. Aber davon dürfen Sie jetzt nicht ſprechen.
Bloß das eine: ſchön oder nicht ſchön?“
„Schön? Nun denn ‚nein‘. Alles wirkt wie tot.
Und was wie tot wirkt, wenn es nicht der Tod ſelbſt iſt,
iſt nicht ſchön. Im übrigen, ich ſehe, daß ich nur noch
zehn Minuten habe. Wie gerne wär' ich an einer Stelle
geblieben, wo man ſo vielem Verſtändnis und Entgegen¬
kommen begegnet. Herr von Stechlin, ich erlaube mir,
[315] Ihnen morgen eine Radierung nach einem Bilde des rich¬
tigen engliſchen Millais zu ſchicken. Dragonerkaſerne,
Halleſches Thor, — ich weiß. Übermorgen laſſ' ich die
Mappe wieder abholen. Name des Bildes: ‚Sir Iſumbras‘.
Merkwürdige Schöpfung. Schade, daß er, der Vater des
Präraffaelitentums, dabei nicht aushielt. Aber nicht zu
verwundern. Nichts hält jetzt aus, und mit nächſtem
werden wir die Berühmtheiten nach Tagen zählen. Tizian
entzückte noch mit hundert Jahren; wer jetzt fünf Jahre
gemalt hat, iſt altes Eiſen. Gnädigſte Gräfin, Comteſſe
Armgard ... Darf ich bitten, mich meinem Gönner,
Ihrem Herrn Vater, dem Grafen, angelegentlichſt empfehlen
zu wollen.“
Woldemar, die Honneurs des Hauſes machend, was
er bei ſeiner intimen Stellung durfte, hatte den Profeſſor
bis auf den Korridor geleitet und ihm hier den Künſtler¬
mantel umgegeben, den er, in unverändertem Schnitt, ſeit
ſeinen Romtagen trug. Es war ein Radmantel. Dazu
ein Kalabreſer von Seidenfilz.
„Er iſt doch auf ſeine Weiſe nicht übel,“ ſagte Wolde¬
mar, als er bei den Damen wieder eintrat. „An einem
ſtarken Selbſtbewußtſein, dran er wohl leidet, darf man
heutzutage nicht Anſtoß nehmen, vorausgeſetzt, daß die
Thatſachen es einigermaßen rechtfertigen.“
„Ein ſtarkes Selbſtbewußtſein iſt nie gerechtfertigt,“
ſagte Armgard, „Bismarck vielleicht ausgenommen. Das
heißt alſo in jedem Jahrhundert einer.“
„Wonach Cujacius günſtigſtenfalls der zweite wäre,„
lachte Woldemar. „Wie ſteht es eigentlich mit ihm? Ich
habe nie von ihm gehört, was aber nicht viel beſagen
will, namentlich nachdem ich Millais und Millet glücklich
verwechſelt habe. Nun geht alles ſo in einem hin. Iſt
er ein Mann, den ich eigentlich kennen müßte?“
„Das hängt ganz davon ab,“ ſagte Meluſine, „wie
Sie ſich einſchätzen. Haben Sie den Ehrgeiz, nicht bloß
den eigentlichen alten Giotto von Florenz zu kennen,
ſondern auch all die Giottinos, die neuerdings in Oſt¬
elbien von Rittergut zu Rittergut ziehn, um für Kunſt und
Chriſtentum ein übriges zu leiſten, ſo müſſen Sie Cujacius
freilich kennen. Er hat da die große Lieferung; iſt übrigens
lange nicht der Schlimmſte. Selbſt ſeine Gegner, und er
hat deren ein gerüttelt und geſchüttelt Maß, geſtehen ihm
ein hübſches Talent zu, nur verdirbt er alles durch ſeinen
Dünkel. Und ſo hat er denn keine Freunde, trotzdem er
beſtändig von Richtungsgenoſſen ſpricht und auch heute
wieder ſprach. Gerade dieſe Richtungsgenoſſen aber hat
er aufs entſchiedenſte gegen ſich, was übrigens nicht bloß
an ihm, ſondern auch an den Genoſſen liegt. Gerade die,
die dasſelbe Ziel verfolgen, bekämpfen ſich immer am
heftigſten untereinander, vor allem auf chriſtlichem Gebiet,
auch wenn es ſich nicht um chriſtliche Dogmen, ſondern
bloß um chriſtliche Kunſt handelt. Zu des Profeſſors
Lieblingswendungen zählt die, daß er ‚in der Tradition
ſtehe‘, was ihm indeſſen nur Spott und Achſelzucken
einträgt. Einer ſeiner Richtungsgenoſſen, — als ob er
mich perſönlich dafür hätte verantwortlich machen wollen,
— fragte mich erſt neulich voll ironiſcher Teilnahme:
‚Steht denn Ihr Cujacius immer noch in der Tradition?‘
Und als ich ihm antwortete: ‚Sie ſpötteln darüber, hat
er denn aber keine?‘ bemerkte dieſer Spezialkollege: ‚Ge¬
wiß hat er eine Tradition, und das iſt ſeine eigne. Seit
fünfundvierzig Jahren malt er immer denſelben Chriſtus
und bereiſt als Kunſt-, aber faſt auch ſchon als Kirchen-
Fanatiker, die ihm unterſtellten Provinzen, ſo daß man
betreffs ſeiner beinah' ſagen kann: ‚Es predigt ſein Chriſtus
allerorten, iſt aber drum nicht ſchöner geworden‘.“
„Meluſine, du darfſt ſo nicht weiter ſprechen,“ unter¬
brach hier Armgard. „Sie wiſſen übrigens, Herr von Stechlin,
[317] wie's hier ſteht, und daß ich meine ältere Schweſter, die
mich erzogen hat, (hoffentlich gut,) jetzt nachträglich mit¬
unter meinerſeits erziehen muß.“ Dabei reichte ſie Meluſine
die Hand. „Eben erſt iſt er fort, der arme Profeſſor,
und jetzt ſchon ſo ſchlechte Nachrede. Welchen Troſt ſoll
ſich unſer Freund Stechlin daraus ſchöpfen? Er wird
denken: heute dir, morgen mir.“
„Du ſollſt in allem recht haben, Armgard, nur nicht
in dieſem letzten. Schließlich weiß doch jeder, was er
gilt, ob er geliebt wird oder nicht, vorausgeſetzt, daß er
ein Gentleman und nicht ein Gigerl iſt. Aber Gentleman.
Da hab' ich wieder die Einhake-Öſe für England. Das
Schönheitskapitel iſt erledigt, war ohnehin nur Caprice.
Von all dem andern aber, das ſchließlich doch wichtiger
iſt, wiſſen wir noch immer ſo gut wie gar nichts. Wie
war es in Tower? Und hab' ich recht behalten mit
Traitors Gate?“
„Nur in einem Punkt, Gräfin, in Ihrem Mißtrauen
gegen meine Phantaſie. Die verſagte da total, wenn es
nicht doch vielleicht an der Sache ſelbſt, alſo an Traitors
Gate, gelegen hat. Denn an einer anderen Stelle konnt'
ich mich meiner Phantaſie beinah' berühmen und am
meiſten da, wo, (wie mir übrigens nur zu begreiflich,) auch
Sie perſönlich mit ſo viel Vorliebe verweilt haben.“
„Und welche Stelle war das?“
„Waltham-Abbey.“
„Waltham-Abbey? Aber davon weiß ich ja gar
nichts. Waltham-Abbey kenn' ich nicht, kaum dem Namen
nach.“
„Und doch weiß ich beſtimmt, daß mir Ihr Herr
Papa gerade am Abend vor meiner Abreiſe ſagte: „das
muß Meluſine wiſſen; die weiß ja dort überall Beſcheid
und kennt, glaub' ich, Waltham-Abbey beſſer, als Treptow
oder Stralau.“
„So bilden ſich Renommees,“ lachte Meluſine. „Der
[318] Papa hat das auf gut Glück hin geſagt, hat bloß ein
beliebiges Beiſpiel herausgegriffen. Und nun dieſe Trag¬
weite! Laſſen wir das aber und ſagen Sie mir lieber:
was iſt Waltham-Abbey? Und wo liegt es?“
„Es liegt ganz in der Nähe von London und iſt
eine Nachmittagsfahrt, etwa wie wenn man das Mauſoleum
in Charlottenburg beſucht oder das in der Potsdamer
Friedenskirche.“
„Hat es denn etwas von einem Mauſoleum?“
„Ja und nein. Der Denkſtein fehlt, aber die ganze
Kirche kann als ein Denkmal gelten.“
„Als ein Denkmal für wen?“
„Für König Harald.“
„Für den, den Editha Schwanenhals auf dem Schlacht¬
felde von Haſtings ſuchte?“
„Für denſelben.“
„Ich habe während meiner Londoner Tage das
Bild von Horace Vernet geſehn, das den Moment dar¬
ſtellt, wo die ſchöne Col de Cygne zwiſchen den Toten
umherirrt. Und ich erinnre mich auch, daß zwei Mönche
neben ihr herſchritten. Aber weiter weiß ich nichts. Und
am wenigſten weiß ich, was daraus wurde.“
„Was daraus wurde, — das iſt eben der Schlußakt
des Dramas. Und dieſer Schlußakt heißt Waltham-Abbey.
Die Mönche, deren Sie ſich erinnern, und die da neben
Editha herſchritten, das waren Waltham-Abbeymönche,
und als ſie ſchließlich gefunden hatten, was ſie ſuchten,
legten ſie den König auf dichtes Baumgezweig und trugen
ihn den weiten Weg bis nach Waltham-Abbey zurück.
Und da begruben ſie ihn.“
„Und die Stätte, wo ſie ihn begruben, die haben
Sie beſucht?“
„Nein, nicht ſein Grab; das exiſtiert nicht. Man
weiß nur, daß man ihn dort überhaupt begrub. Und als
ich da, die Sonne ging eben unter, in einem uralten
[319] Lindengange ſtand, zwiſchen Grabſteinen links und rechts
und das Abendläuten von der Kirche her begann, da war
es mir, als käme wieder der Zug mit den Mönchen den
Lindengang herauf, und ich ſah Editha und ſah auch
den König, trotzdem ihn die Zweige halb verdeckten. Und
dabei (wenn auch eigentlich der Papa ſchuld iſt und nicht
Sie, Gräfin) gedacht ich Ihrer in alter und neuer
Dankbarkeit.“
„Und daß Sie mich beſiegt haben. Aber das ſage
nur ich. Sie ſagen es natürlich nicht, denn Sie ſind nicht
der Mann, ſich eines Sieges zu rühmen, noch dazu über
eine Frau. Waltham-Abbey kenn' ich nun, und an Ihre
Phantaſie glaub' ich von heut an, trotzdem Sie mich mit
Traitors Gate im Stiche gelaſſen. Daß ſie nebenher noch,
und zwar Armgard zu Ehren, in Martins le Grand
waren, deſſen bin ich ſicher und ebenſo, daß Sie Papas
einzige Forderung erfüllt und der Kapelle Heinrichs des
Siebenten Ihren Beſuch gemacht haben, dieſem Wunder¬
werk der Tudors. Welchen Eindruck hatten Sie von der
Kapelle?
„Den denkbar großartigſten. Ich weiß, daß man die
herabhängenden Trichter, die ſie ‚Tromben‘ nennen, unſchön
gefunden hat, aber äſthetiſche Vorſchriften exiſtieren für
mich nicht. Was auf mich wirkt, wirkt. Ich konnte mich
nicht ſatt ſehen daran. Trotzdem, das Eigentlichſte war
doch noch wieder ein andres und kam erſt, als ich da
zwiſchen den Sarkophagen der beiden feindlichen Köni¬
ginnen ſtand. Ich wüßte nicht, daß etwas je ſo be¬
weglich und eindringlich zu mir gepredigt hätte, wie gerade
dieſe Stelle.“
„Und was war es, was Sie da ſo bewegte?“
„Das Gefühl: ‚zwiſchen dieſen beiden Gegenſätzen
pendelt die Weltgeſchichte.‘ Zunächſt freilich ſcheinen wir
da nur den Gegenſatz zwiſchen Katholizismus und Pro¬
teſtantismus zu haben, aber weit darüber hinaus (weil
[320] nicht an Ort und Zeit gebunden) haben wir bei tiefergehender
Betrachtung den Gegenſatz von Leidenſchaft und Berechnung
von Schönheit und Klugheit. Und das iſt der Grund,
warum das Intereſſe daran nicht ausſtirbt. Es ſind große
Typen, dieſe feindlichen Königinnen.“
Beide Schweſtern ſchwiegen. Dann ſagte Meluſine,
der daran lag, wieder ins Heitere hinüber zu lenken:
„Und nun, Armgard, ſage, für welche von den beiden
Königinnen biſt du?“
„Nicht für die eine und nicht für die andre. Nicht
einmal für beide. Gewiß ſind es Typen. Aber es giebt
andre, die mir mehr bedeuten, und, um es kurz zu ſagen,
Eliſabeth von Thüringen iſt mir lieber als Eliſabeth von
England. Andern leben und der Armut das Brot geben
— darin allein ruht das Glück. Ich möchte, daß ich mir
das erringen könnte. Aber man erringt ſich nichts.
Alles iſt Gnade.“
„Du biſt ein Kind,“ ſagte Meluſine, während ſie ſich
mühte, ihrer Bewegung Herr zu werden. „Du wirſt noch
Unter den Linden für Geld gezeigt werden. Auf der
einen Seite ‚die Mädchen von Dahomey‘, auf der
andern du.“
Stechlin ging. Armgard gab ihm das Geleit bis
auf den Korridor. Es war eine Verlegenheit zwiſchen
beiden, und Woldemar fühlte, daß er etwas ſagen müſſe.
„Welche liebenswürdige Schweſter Sie haben.“
Armgard errötete. „Sie werden mich eiferſüchtig
machen.“
„Wirklich, Comteſſe?“
„Vielleicht ... Gute Nacht.“
Eine halbe Stunde ſpäter ſaß Meluſine neben dem
Bett der Schweſter und beide plauderten noch. Aber
[321] Armgard war einſylbig, und Meluſine bemerkte wohl,
daß die Schweſter etwas auf dem Herzen habe.
„Was haſt du, Armgard? Du biſt ſo zerſtreut, ſo
wie abweſend.“
„Ich weiß es nicht. Aber ich glaube faſt ...“
„Nun was?“
„Ich glaube faſt, ich bin verlobt.“
Fontane, Der Stechlin. 21
Sechsundzwanzigſtes Kapitel.
Und was die jüngere Schweſter der älteren zugeflüſtert
hatte, das wurde wahr und ſchon wenige Tage nach
dieſem erſten Wiederſehn waren Armgard und Woldemar
Verlobte. Der alte Graf ſah einen Wunſch erfüllt, den
er ſeit lange gehegt und Meluſine küßte die Schweſter
mit einer Herzlichkeit, als ob ſie ſelber die Glückliche
wäre.“
„Du gönnſt ihn mir doch?“
„Ach, meine liebe Armgard,“ ſagte Meluſine, „wenn
du wüßteſt! Ich habe nur die Freude, du haſt auch
die Laſt.“
An demſelben Abende noch, wo die Verlobung ſtatt¬
gefunden hatte, ſchrieb Woldemar nach Stechlin und nach
Wutz; der eine Brief war ſo wichtig, wie der andre, denn
die Tante-Domina, deren Mißſtimmung ſo gut wie gewiß
war, mußte nach Möglichkeit verſöhnlich geſtimmt werden.
Freilich blieb es fraglich, ob es glücken würde.
Zwei Tage ſpäter waren die Antwortbriefe da, von
denen diesmal der Wutzer Brief über den Stechliner ſiegte,
was einfach daran lag, daß Woldemar von Wutz her nur
Ausſtellungen, von Stechlin her nur Entzücken erwartet
hatte. Das traf aber nun Beides nicht zu. Was die
Tante ſchrieb, war durchaus nicht ſo ſchlimm (ſie be¬
ſchränkte ſich auf Wiederholung der ſchon mündlich von
[323] ihr ausgeſprochenen Bedenken), und was der Alte ſchrieb,
war nicht ſo gut oder doch wenigſtens nicht ſo der
Situation angepaßt, wie's Woldemar gewärtigte. Natür¬
lich war es eine Beglückwünſchung, aber doch mehr
noch ein politiſcher Exkurs. Dubslav litt als Brief¬
ſchreiber daran, gern bei Nebenſächlichkeiten zu verweilen
und gelegentlich über die Hauptſache wegzuſehn. Er
ſchrieb:
„Mein lieber Woldemar. Die Würfel ſind nun alſo
gefallen (früher hieß es alea jacta est, aber ſo altmodiſch
bin ich denn doch nicht mehr), und da zwei Sechſen oben¬
auf liegen, kann ich nur ſagen: ich gratuliere. Nach dem
Geſpräch übrigens, das ich am dritten Oktober morgens
mit Dir führte, während wir um unſern Stechliner
Springbrunnen herumgingen (ſeit drei Tagen ſpringt er
nicht mehr; wahrſcheinlich werden die Mäuſe das Röhren¬
werk angeknabbert haben) — ſeit jenem Oktobermorgen
hab' ich ſo was erwartet, nicht mehr, aber auch nicht
weniger. Du wirſt nun alſo Carriere machen, glücklicher¬
weiſe zunächſt durch Dich ſelbſt und dann allerdings auch
durch Deine Braut und deren Familie. Graf Barby —
mit Rübenboden im Magdeburgiſchen und mit Mineral¬
quellen im Graubündiſchen — höher hinauf geht es kaum,
Du müßteſt Dich denn bis ins Katzlerſche verirren. Arm¬
gard iſt auch ſchon viel, aber Ermytrud doch mehr und
für den armen Katzler jedenfalls zu viel. Ja, mein lieber
Woldemar, Du kommſt nun alſo zu Vermögen und Ein¬
fluß und kannſt die Stechlins wieder 'raufbringen (geſtern
war Baruch Hirſchfeld hier und in allem willfährig; die
Juden ſind nicht ſo ſchlimm wie manche meinen), und
wenn Du dann hier einziehſt und ſtatt der alten Kathe
ſo was in Chateauſtil bauen läßt und vielleicht ſogar
eine Faſanenzucht anlegſt, ſo daß erſt der Poſt-Stephan
und dann der Kaiſer ſelbſt bei Dir zu Beſuch kommen
kann, ja, da kannſt Du möglicherweiſe ſelbſt das erreichen,
21*[324] was Dein alter Vater, weil Feilenhauer Torgelow mäch¬
tiger war als er, nicht erreichen konnte: den Einzug ins
Reichshaus mit dem freien Blick auf Kroll. Mehr kann
ich in dieſem Augenblick nicht ſagen, auch meine Freude
nicht höher ſpannen, und in dieſem relativen Ruhigbleiben
empfind' ich zum erſtenmal eine gewiſſe Familienähnlich¬
keit mit meiner Schweſter Adelheid, deren Glaubens¬
bekenntnis im letzten darauf hinausläuft: Kleinadel über
Hochadel, Junker über Graf. Ja, ich fühle, Deinen Gräf¬
lichkeiten gegenüber, wie ſich der Junker ein bißchen in
mir regt. Die reichen und vornehmen Herren ſind doch
immer ganz eigene Leute, die wohl Fühlung mit uns
haben, unter Umſtänden auch ſuchen, aber das Fühlung¬
halten nach oben iſt ihnen ſchließlich doch viel, viel wichtiger.
Es heißt wohl immer „wir Kleinen, wir machten alles
und könnten alles,“ aber bei Lichte beſehn, iſt es bloß
das alte: „Du glaubſt zu ſchieben und Du wirſt geſchoben.“
Glaube mir, Woldemar, wir werden geſchoben und ſind
bloß Sturmbock. Immer dieſelbe Geſchichte, wie mit
Protz und Proletarier. Die Proletarier — wie ſie noch
echt waren, jetzt mag es wohl anders damit ſein — waren
auch bloß immer dazu da, die Kaſtanien aus dem Feuer
zu holen; aber ging es dann ſchief, dann wanderte Bruder
Habenichts nach Spandau und Bruder Protz legte ſich zu
Bett. Und mit Hochadel und Kleinadel iſt es beinah'
ebenſo. Natürlich heiratet eine Ermyntrud mal einen
Katzler, aber eigentlich äugt ſie doch mehr nach einem
Stuart oder Waſa, wenn es deren noch giebt. Wird aber
wohl nich. Entſchuldige dieſen Herzenserguß, dem Du
nicht mehr Gewicht beilegen mußt, als ihm zukommt.
Es kam mir das alles ſo von ungefähr in die Feder,
weil ich grade heute wieder geleſen habe, wie man einen
von uns, der durch Eintreten eines Ippe-Büchſenſtein hätte ge¬
rettet werden können, ſchändlich im Stich gelaſſen hat. Ippe-
Büchſenſtein iſt natürlich nur Begriff. Alles in allem:
[325] ich habe zu Dir das Vertrauen, daß Du richtig gewählt
haſt, und daß man Dich nicht im Stiche laſſen wird.
Außerdem, ein richtiger Märker hat Augen im Kopf und
is beinah' ſo helle wie 'n Sachſe.
Wie immer Dein alter Vater Dubslav von Stechlin.“
Es war Ende November, als Woldemar dieſen Brief
erhielt. Er überwand ihn raſch, und am dritten Tag
las er alles ſchon mit einer gewiſſen Freudigkeit. Ganz
der Alte; jede Zeile voll Liebe, voll Güte, voll Schnurrig¬
keiten. Und eben dieſe Schnurren, trafen ſie nicht eigent¬
lich auch den Nagel auf den Kopf? Sicherlich. Was aber
das beſte war, ſo ſehr das alles im allgemeinen paſſen
mochte, auf die Barbys paßte ſo gut wie nichts davon; die
waren doch anders, die ſuchten nicht Fühlung nach oben
und nicht nach unten, die marchandierten nicht mit links
und nicht mit rechts, die waren nur Menſchen, und daß
ſie nur das ſein wollten, das war ihr Glück und zugleich
ihr Hochgefühl. Woldemar ſagte ſich denn auch, daß der
Alte, wenn er ſie nur erſt kennen gelernt haben würde,
mit fliegenden Fahnen ins Barbyſche Lager übergehen
würde. Der alte Graf, Armgard und vor allem Melu¬
ſine. Die war genau das, was der Alte brauchte, wobei
ihm das Herz aufging.
Den Weihnachtsabend verbrachte Woldemar am Kron¬
prinzenufer. Auch Wrſchowitz und Cujacius — von denen
jener natülich unverheiratet, dieſer wegen beſtändiger
Streiterei von ſeiner Frau geſchieden war — waren zu¬
gegen. Cujacius hatte gebeten, ein Krippentransparent
malen zu dürfen, was denn auch, als es erſchien, auf
einen Nebentiſch geſtellt und allſeitig bewundert wurde.
Die drei Könige waren Porträts: der alte Graf, Cujacius
ſelbſt und Wrſchowitz (als Mohrenkönig); letzterer, trotz
Wollhaar und aufgeworfener Lippe, von frappanter Ähn¬
[326] lichkeit. Auch in der Maria ſuchte man nach Anlehnungen
und fand ſie zuletzt; es war Lizzi, die, wie ſo viele Ber¬
liner Kammerjungfern, einen ſittig verſchämten Ausdruck
hatte. Nach dem Thee wurde muſiziert, und Wrſchowitz
ſpielte, — weil er dem alten Grafen eine Aufmerkſamkeit zu
erweiſen wünſchte, — die Polonaiſe von Oginski, bei deren
erſter, nunmehr um ſiebzig Jahre zurückliegenden Auf¬
führung, einem alten on dit zufolge, der polniſch gräfliche
Komponiſt im Schlußmomente ſich erſchoſſen haben ſollte.
Natürlich aus Liebe. „Brav, brav,“ ſagte der alte Graf
und war, während er ſich beinah' überſchwenglich be¬
dankte, ſo ſehr aus dem Häuschen, daß Wrſchowitz
ſchließlich ſchelmiſch bemerkte: „Den Piffpaffſchluß muß
ich mir verſagen, Herr Graff, trotzdem meine Vererrung
(Blick auf Armgard) ſerr groß iſt, faſt ſo groß wie die
Vererrung des Herrn Graffen vor Graff Oginski.“
So verlief der Heiligabend.
Schon vorher war man übereingekommen, am zweiten
Feiertage zu dritt einen Ausflug nach Stechlin zu machen,
um dort die künftige Schwiegertochter dem Schwiegervater
vorzuſtellen. Noch am Chriſtabend ſelbſt, trotzdem Mitter¬
nacht ſchon vorüber, ſchrieb denn auch Woldemar einige
Zeilen nach Stechlin hin, in denen er ſich ſamt Braut
und Schwägerin für den zweiten Feiertag abend an¬
meldete.
Rechtzeitig trafen Woldemars Zeilen in Stechlin ein.
„Lieber Papa. Wir haben vor, am zweiten Feiertage
mit dem Spätnachmittagszuge von hier aufzubrechen.
Wir ſind dann um ſieben auf dem Granſeer Bahnhof
und um neun oder nicht viel ſpäter bei dir. Armgard
iſt glücklich, dich endlich kennen zu lernen, den kennen
zu lernen, den ſie ſeit lange verehrt. Dafür, mein lieber
Papa, hab' ich Sorge getragen. Graf Barby, der nicht
gut bei Wege iſt, was ihn hindert mitzukommen, will
dir angelegentlich empfohlen ſein. Desgleichen Gräfin
[327] Ghiberti, die uns als Dame d'honneur begleiten wird.
Armgard iſt in Furcht und Aufregung wie vor einem
Examen. Sehr ohne Not. Kenn' ich doch meinen Papa,
der die Güte und Liebe ſelbſt iſt. Wie immer dein
Woldemar.“
Engelke ſtand neben ſeines Herrn Stuhl, als dieſer
die Zeilen halblaut, aber doch in aller Deutlichkeit vorlas.
„Nun, Engelke, was ſagſt du dazu?“
„Ja, gnäd'ger Herr, was ſoll ich dazu ſagen. Es
is ja doch, was man ſo 'ne ‚gute Nachricht‘ nennt.“
„Natürlich is es 'ne gute Nachricht. Aber haſt du
noch nicht erlebt, daß einen gute Nachrichten auch genieren
können?“
„Jott, gnäd'ger Herr, ich kriege keine.“
„Na, denn ſei froh; dann weißt du nicht, was ‚ge¬
miſchte Gefühle‘ ſind. Sieh, ich habe jetzt gemiſchte Ge¬
fühle. Da kommt nun mein Woldemar. Das is gut
Und da bringt er ſeine Braut mit, das is wieder gut.
Und da bringt er ſeine Schwägerin mit, und das
is wahrſcheinlich auch gut. Aber die Schwägerin iſt
eine Gräfin mit einem italieniſchen Namen, und die
Braut heißt Armgard, was doch auch ſchon ſonderbar
iſt. Und beide ſind in England geboren, und ihre
Mutter war aus der Schweiz, von einer Stelle her, von
der man nicht recht weiß, wozu ſie gehört, weil da alles
ſchon durcheinander geht. Und überall haben ſie Beſitzungen,
und Stechlin iſt doch blos 'ne Kathe. Sieh, Engelke, das
is genierlich und giebt das, was ich ‚gemiſchte Gefühle‘
nenne.“
„Nu ja, nu ja.“
„Und dann müſſen wir doch auch repräſentieren. Ich
muß ihnen doch irgend einen Menſchen vorſetzen. Ja,
wen ſoll ich ihnen vorſetzen? Viel is hier nich. Da
hab' ich Adelheiden. Natürlich, die muß ich einladen,
und ſie wird auch kommen, trotzdem Schnee gefallen iſt;
[328] aber ſie kann ja 'nen Schlitten nehmen. Vielleicht iſt ihr
Schlitten beſſer als ihr Wagen. Gott, wenn ich an das
Verdeck denke mit der großen Lederflicke, da wird mir auch
nicht beſſer. Und dabei denkt ſie, ‚ſie is was‘, was am
Ende auch wieder gut is, denn wenn der Menſch erſt
denkt, ‚es is gar nichts mit ihm‘, dann is es auch
nichts.“
„Und dann, gnäd'ger Herr, ſie is ja doch 'ne Domina
und hat 'nen Rang. Und ich hab' auch mal geleſen, ſie
ſei eigentlich mehr als ein Major.“
„Na, jedenfalls iſt ſie mehr als ihr Bruder; ſo 'n
vergeſſener Major is ein Jammer. Aber Adelheid ſelbſt,
ſo auf 'n erſten Anhieb, is auch bloß ſo ſo. Wir müſſen
jedenfalls noch wen dazu haben. Schlage was vor.
Baron Beetz und der alte Zühlen, die die beſten ſind, die
wohnen zu weit ab, und ich weiß nicht, ſeit wir die Eiſen¬
bahnen haben, laufen die Pferde ſchlechter. Oder es
kommt einem auch bloß ſo vor. Alſo die guten Nummern
fallen aus. Und da ſind wir denn wieder bei Gunder¬
mann.“
„Ach, gnäd'ger Herr, den nich. Un er ſoll ja auch
ſo zweideutig ſein. Uncke hat es mir geſagt; Uncke hat
freilich immer das Wort ‚zweideutig‘. Aber es wird wohl
ſtimmen. Un dann die Frau Gundermann. Das is 'ne
richtige Berlinſche. Verlaß is auf ihm nich und auf ihr nich.“
„Ja, Engelke, du ſollſt mir helfen und machſt es bloß
noch ſchlimmer. Wir könnten es mit Katzler verſuchen,
aber da iſt das Kind krank, und vielleicht ſtirbt es. Und
dann haben wir natürlich noch unſern Paſtor; nu der
ginge, bloß daß er immer ſo ſtill daſitzt, wie wenn er
auf den heiligen Geiſt wartet. Und mitunter kommt er;
aber noch öfter kommt er nicht. Und ſolche Herrſchaften,
die dran gewöhnt ſind, daß einer in einem fort was
Feines ſagt, ja, was ſollen die mit unſerm Lorenzen?
Er iſt ein Schweiger.“
„Aber er ſchweigt doch immer noch beſſer, als die
Gundermannſche red't.“
„Das is richtig. Alſo Lorenzen, und vielleicht, wenn
das Kind ſich wieder erholt, auch Katzler. Ein Schelm
giebt mehr, als er hat. Und dann, Engelke, ſolche Damen,
die überall 'rum in der Welt waren, da weiß man nie,
wie der Haſe läuft. Es iſt möglich, daß ſie ſich für
Krippenſtapel intereſſieren. Oder höre, da fällt mir noch
was ein. Was meinſt du zu Koſeleger?“
„Den hatten wir ja noch nie.“
„Nein, aber Not lehrt beten. Ich mache mir eigent¬
lich nicht viel aus ihm, indeſſen is und bleibt er doch
immer ein Superintendent, und das klingt nach was.
Und dann war er ja mit 'ner ruſſiſchen Großfürſtin auf
Reiſen, und ſolche Großfürſtin is eigentlich noch mehr als
'ne Prinzeſſin. Alſo ſprich mal mit Kluckhuhn, der ſoll
'nen Boten ſchicken. Ich ſchreibe gleich 'ne Karte.“
Katzler ſagte ab oder ließ es doch unbeſtimmt, ob er
kommen könne, Koſeleger dagegen, was ein Glück war,
nahm an, und auch Schweſter Adelheid antwortete durch
den Boten, den Dubslav geſchickt hatte: „daß ſie den
zweiten Feiertag in Stechlin eintreffen und ſo weit wie
dienlich und ſchicklich nach dem Rechten ſehn würde.“ Adel¬
heid war in ihrer Art eine gute Wirtin und ſtammte
noch aus den alten Zeiten, wo die Damen bis zum
„Schlachten“ und „Aal-abziehen“ herunter alles lernten
und alles konnten. Alſo nach dieſer Seite hin entſchlug
ſich Dubslav jeder Befürchtung. Aber wenn er ſich dann
mit einem Male vergegenwärtigte, daß es ſeiner Schweſter
vielleicht in den Sinn kommen könne, ſich auf ihren Ur¬
adel oder auf die Vorzüge ſechshundertjähriger märkiſcher
„Eingeſeſſenheit“ zu beſinnen, ſo fiel alles, was er ſich
in dem mit Engelke geführten Geſpräch an Troſt zuge¬
[330] ſprochen hatte, doch wieder von ihm ab. Ihm bangte
vor der Möglichkeit einer ſeitens ſeiner Schweſter „auf¬
geſetzten hohen Miene“ wie vor einem Geſpenſt, und des¬
gleichen vor der Koſtümfrage. Wohl war er ſich, ob er
nun ſeine rote Landſtandsuniform oder ſeinen hochkragigen
ſchwarzen Frack anlegte, ſeiner eignen altmodiſchen Er¬
ſcheinung voll bewußt, aber nebenher, was ſeine Perſon
anging, doch auch wieder einer gewiſſen Patriarchalität.
Einen gleichen Troſt konnt' er dem äußern Menſchen ſeiner
Schweſter Adelheid nicht entnehmen. Er wußte genau,
wie ſie kommen würde: ſchwarzes Seidenkleid, Rüſche mit
kleinen Knöpfelchen oben und die Siebenkurfürſtenbroſche.
Was ihn aber am meiſten ängſtigte, war der Moment
nach Tiſch, wo ſie, wenn ſie ſich einigermaßen behaglich
zu fühlen anfing, ihre Wutzer Geſamtchauſſure auf das
Kamingitter zu ſtellen und die Wärme von unten her ein¬
zuſaugen pflegte.
Gleich nach ſieben trafen Woldemar und die Barby¬
ſchen Damen auf dem Granſeer Bahnhof ein und fanden
Martin und den Stechlinſchen Schlitten vor, letzterer in¬
ſoweit ein Prachtſtück, als er ein richtiges Bärenfell hatte,
während andrerſeits Geläut und Schneedecken und faſt
auch die Pferde mehr oder weniger zu wünſchen übrig
ließen. Aber Meluſine ſah nichts davon und Armgard
noch weniger. Es war eine reizende Fahrt; die Luft
ſtand, und am ſtahlblauen Himmel oben blinkten die
Sterne. So ging es zwiſchen den eingeſchneiten Feldern
hin, und wenn ihre Kappen und Hüte hier und dort die
herniederhängenden Zweige ſtreiften, fielen die Flocken in
ihren Schlitten. In den Dörfern war überall noch
Leben, und das Anſchlagen der Hunde, das vom nächſten
Dorf her beantwortet wurde, klang übers Feld. Alle
drei Schlitteninſaſſen waren glücklich, und ohne daß ſie
[331] viel geſprochen hätten, bogen ſie zuletzt, eine weite Kurve
machend, in die Kaſtanienallee ein, die ſie nun raſch,
über Dorfplatz und Brücke fort, bis auf die Rampe von
Schloß Stechlin führte. Dubslav und Engelke ſtanden
hier ſchon im Portal und waren den Damen beim Aus¬
ſteigen behilflich. Beim Eintritt in den großen Flur war
für dieſe das erſte, was ſie ſahen, ein mächtiger, von der
Decke herabhängender Miſtelbuſch; zugleich ſchlug die
Treppenuhr, deren Hippenmann wie verwundert und
beinah' verdrießlich auf die fremden Gäſte herniederſah.
Viele Lichter brannten, aber es wirkte trotzdem alles wie
dunkel. Woldemar war ein wenig befangen, Dubslav
auch. Und nun wollte Armgard dem Alten die Hand
küſſen. Aber das gab dieſem ſeinen Ton und ſeine gute
Laune wieder. „Umgekehrt wird ein Schuh draus.“
„Und zuletzt ein Pantoffel,“ lachte Meluſine.
Siebenundzwanzigſtes Kapitel.
„Das iſt eine Dame und ein Frauenzimmer dazu,“
ſagte ſich Dubslav ſtill in ſeinem alten Herzen, als er
jetzt Meluſine den Arm bot, um ſie vom Flur her in den
Salon zu führen. „So müſſen Weiber ſein.“
Auch Adelheid mühte ſich, Entgegenkommen zu zeigen,
aber ſie war wie gelähmt. Das Leichte, das Heitre, das
Sprunghafte, das die junge Gräfin in jedem Wort zeigte,
das alles war ihr eine fremde Welt, und daß ihr eine
innere Stimme dabei beſtändig zuraunte: „Ja, dies Leichte,
das du nicht haſt, das iſt das Leben, und das Schwere,
das du haſt, das iſt eben das Gegenteil davon,“ — das
verdroß ſie. Denn trotzdem ſie beſtändig Demut predigte,
hatte ſie doch nicht gelernt, ſich in Demut zu überwinden.
So war denn alles, was über ihre Lippen kam, mehr
oder weniger verzerrt, ein Verſuch zu Freundlichkeiten,
die ſchließlich in Herbigkeiten ausliefen. Lorenzen, der
erſchienen war, half nach Möglichkeit aus, aber er war
kein Damenmann, noch weniger ein Cauſeur, und ſo kam
es denn, daß Dubslav mit einer Art Sehnſucht nach dem
Oberförſter ausblickte, trotzdem er doch ſeit Mittag wußte,
daß er nicht kommen würde. Das jüngſte Töchterchen
war nämlich geſtorben und ſollte den andern Tag ſchon
auf einem kleinen, von Weihnachtsbäumen umſtellten
Privatfriedhofe, den ſich Katzler zwiſchen Garten und
Wald angelegt hatte, begraben werden. Es war das
[333] vierte Töchterchen in der Reihe; jede lag in einer Art
Gartenbeet und hatte, wie ein Samenkorn, deſſen Auf¬
gehen man erwartet, ein Holztäfelchen neben ſich, drauf
der Name ſtand. Als Dubslavs Einladung eingetroffen
war, war Ermyntrud, wie gewöhnlich, in Katzler ge¬
drungen, der Einladung zu folgen. „Ich wünſche nicht,
daß du dich deinen geſellſchaftlichen Pflichten entziehſt,
auch heute nicht, trotz des Ernſtes der Stunde. Geſell¬
ſchaftlichkeiten ſind auch Pflichten. Und die Barbyſchen
Damen — ich erinnere mich der Familie — werden ge¬
rade wegen der Trauer, in der wir ſtehn, in deinem Er¬
ſcheinen eine beſondre Freundlichkeit ſehn. Und das iſt
genau das, was ich wünſche. Denn die Comteſſe wird
über kurz oder lang unſre nächſte Nachbarin ſein.“ Aber
Katzler war feſt geblieben und hatte betont, daß es
Höheres gäbe als Geſellſchaftlichkeiten, und daß er durch¬
aus wünſche, daß dies gezeigt werde. Der Prinzeſſin
Auge hatte während dieſer Worte hoheitsvoll auf Katzler
geruht, mit einem Ausdruck, der ſagen zu wollen ſchien:
„Ich weiß, daß ich meine Hand keinem Unwürdigen ge¬
reicht habe.“
Katzler alſo fehlte. Doch auch Koſeleger, trotz ſeiner
Zuſage, war noch nicht da, ſo daß Dubslav in die ſonder¬
bare Lage kam, ſich den Quaden-Hennersdorfer, aus dem
er ſich eigentlich nichts machte, herbeizuwünſchen. Endlich
aber fuhr Koſeleger vor, ſein etwas verſpätetes Kommen
mit Dienſtlichkeiten entſchuldigend. Unmittelbar danach
ging man zu Tiſch, und ein Geſpräch leitete ſich ein.
Zunächſt wurde von der Nordbahn geſprochen, die, ſeit
der neuen Kopenhagener Linie, den ihr von früher her
anhaftenden Schreckensnamen ſiegreich überwunden habe.
Jetzt heiße ſie die „Apfelſinenbahn“, was doch kaum
noch übertroffen werden könne. Dann lenkte man auf
den alten Grafen und ſeine Beſitzungen im Grau¬
bündiſchen über, endlich aber auf den langen Aufenthalt
[334] der Familie drüben in England, wo beide Töchter ge¬
boren ſeien.
Dies Geſpräch war noch lange nicht erledigt, als
man ſich von Tiſch erhob, und ſo kam es, daß ſich das
Plaudern über eben dasſelbe Thema beim Kaffee, der im
Gartenſalon und zwar in einem Halbzirkel um den Kamin
herum eingenommen wurde, fortſetzte. Dubslav ſprach
ſein Bedauern aus, daß ihn in ſeiner Jugend der Dienſt
und ſpäter die Verhältniſſe daran gehindert hätten, Eng¬
land kennen zu lernen; es ſei nun doch mal das vor¬
bildliche Land, eigentlich für alle Parteien, auch für die
Konſervativen, die dort ihr Ideal mindeſtens ebenſo gut
verwirklicht fänden wie die Liberalen. Lorenzen ſtimmte
lebhaft zu, während andrerſeits die Domina ziemlich
deutliche Zeichen von Ungeduld gab. England war ihr
kein erfreuliches Geſprächsthema, was ſelbſtverſtändlich
ihren Bruder nicht hinderte, dabei zu verharren.
„Ich möchte mich,“ fuhr Dubslav fort, „in dieſer
Angelegenheit an unſern Herrn Superintendenten wenden
dürfen. Waren Sie drüben?“
„Leider nein, Herr von Stechlin, ich war nicht drüben,
ſehr zu meinem Bedauern. Und ich hätt' es ſo leicht
haben können. Aber es iſt immer wieder die alte Ge¬
ſchichte: was man in ein paar Stunden und mitunter in
ein paar Minuten erreichen kann, das verſchiebt man,
eben weil es ſo nah' iſt, und mit einemmal iſt es zu
ſpät. Ich war Jahr und Tag im Haag, und von da
nach Dover hinüber war nicht viel mehr als nach Potsdam.
Trotzdem unterblieb es, oder richtiger gerade deshalb.
Daß ich den Tunnel oder den Tower nicht geſehn, das
könnt' ich mir verzeihn. Aber das Leben drüben! Wenn
irgendwo das vielcitierte Wort von dem ‚in einem Tage
mehr gewinnen, als in des Jahres Einerlei‘ hinpaßt, ſo
da drüben. Alles modern und zugleich alles alt, einge¬
wurzelt, ſtabiliſiert. Es ſteht einzig da; mehr als irgend
[335] ein andres Land iſt es ein Produkt der Ziviliſation, ſo
ſehr, daß die Neigungen der Menſchen kaum noch dem
Geſetze der Natur folgen, ſondern nur noch dem einer
verfeinerten Sitte.“
Die Domina fühlte ſich von dem allem mehr und
mehr unangenehm berührt, beſonders als ſie ſah, daß
Meluſine, zu dem was Koſeleger ausführte, beſtändig
zuſtimmend nickte. Schließlich wurd' es ihr zuviel.
„Alles, was ich da ſo höre,“ ſagte ſie, „kann mich für
dieſes Volk nicht einnehmen, und weil ſie rundum
von Waſſer umgeben ſind, iſt alles ſo kalt und feucht,
und die Frauen, bis in die höchſten Stände hinauf, ſind
beinah' immer in einem Zuſtand, den ich hier nicht bei
Namen nennen mag. So wenigſtens hat man mir er¬
zählt. Und wenn es dann neblig iſt, dann kriegen ſie
das, was ſie den Spleen nennen, und fallen zu Hunderten
ins Waſſer, und keiner weiß, wo ſie geblieben ſind. Denn,
wie mir unſer Rentmeiſter Fix, der drüben war, aufs
Wort verſichert hat, ſie ſtehen in keinem Buch und haben
auch nicht einmal das, was wir Einwohner-Meldeamt
nennen, ſo daß man beinah' ſagen kann, ſie ſind ſo gut
wie gar nicht da. Und wie ſie kochen und braten! Alles
faſt noch blutig, beſonders das, was wir hier ‚engliſche
Beefſteaks‘ nennen. Und kann auch nicht anders ſein,
weil ſie ſo viel mit Wilden umgehn und gar keine
Gelegenheit haben, ſich einer feineren Geſittung anzu¬
ſchließen.“
Koſeleger und Meluſine wechſelten verſtändnisvoll Blicke.
Die Domina aber ſah nichts davon und fuhr unentwegt
fort: „Fix iſt ein guter Beobachter, auch von Sittenzuſtänden,
und einer ihrer Könige, worüber ich auch ſchon als Mädchen
einen Aufſatz machen mußte, hat fünf Frauen gehabt,
meiſt Hofdamen. Und eine hat er köpfen laſſen und eine
hat er wieder nach Hauſe geſchickt. Und war noch dazu
eine Deutſche. Und ſie ſollen auch keinen eigentlichen Adel
[336] mehr haben, weil mal ein Krieg war, drin ſie ſich um¬
ſchichtig enthaupteten, und als alle weg waren, haben ſie
gewöhnliche Leute 'rangezogen und ihnen die alten Namen
gegeben, und wenn man denkt, es iſt ein Graf, ſo iſt es
ein Bäcker oder höchſtens ein Bierbrauer. Aber viel Geld
ſollen ſie haben und ihre Schiffe ſollen gut ſein und dauer¬
haft und auch ſehr ſauber, faſt ſchon wie holländiſch;
aber in ihrem Glauben ſind ſie zerſplittert und fangen
auch ſchon wieder an katholiſch zu werden.“
Der alte Dubslav, als die Schweſter mit ihrem Vor¬
trag über England einſetzte, hatte ſich mit einem ‚Schick¬
ſal, nimm deinen Lauf‘ ſofort reſigniert. Woldemar aber
war immer wieder und wieder bemüht geweſen, einen
Themawechſel eintreten zu laſſen, worin er vielleicht
auch reüſſiert hätte, wenn nicht Koſeleger geweſen wäre.
Dieſer — entweder weil er als äſthetiſcher Feinſchmecker
an Adelheids Auslaſſungen ein aufrichtiges Gefallen fand
oder aber weil er die von ihm ſelbſt angeregte Frage hin¬
ſichtlich „Natur und Sitte“ (die ſein Steckenpferd war)
gern weiter ſpinnen wollte — hielt an England feſt und
ſagte: „Die Frau Domina ſcheint mir davon auszugehn,
daß gerade der mitunter ſchon an den Wilden grenzende
Naturmenſch drüben in vollſter Blüte ſteht. Und
ich will das auch nicht in jedem Punkte beſtreiten. Aber
daneben begegnen wir einem Lebens- und Geſellſchafts-
Raffinement, das ich, trotz manchem Anfechtbaren, als
einen höchſten Kulturausdruck bezeichnen muß. Ich er¬
innere mich unter anderm eines gerade damals geführten
Prozeſſes, über den ich, als ich im Haag lebte, meiner
kaiſerlichen Hoheit täglich Bericht erſtatten mußte (High
life-Prozeſſe gingen ihr über alles), und der Gegenſtand,
um den ſich's dabei handelte, war ſo recht der Ausdruck
eines verfeinerten oder meinetwegen auch überfeinerten
Kulturlebens. So recht das Gegenteil von bloßem Natur¬
burſchentum. Es iſt freilich eine ziemlich lange Geſchichte ...“
„Schade,“ ſagte Dubslav. „Aber trotzdem, — wenn
überhaupt erzählbar ...“
„O, gewiß, gewiß; das denkbar Harmloſeſte ...“
„Nun denn, lieber Superintendent, wenn wirklich
ſo harmlos, ſo mach' ich mich ohne weiteres zum Anwalt
unſrer gewiß neugierigen Damen, meine Schweſter, die
Domina, mit eingeſchloſſen. Wie war es? Wie verlief
die Geſchichte, für die ſich eine kaiſerliche Hoheit ſo lebhaft
intereſſieren konnte?“
„Nun wenn es denn ſein ſoll,“ nahm Koſeleger lang¬
ſam und wie bloß einer Preſſion nachgebend, das Wort,
„es lebte da zu jener Zeit eine ſchöne Herzogin in Lon¬
don, die's nicht ertragen konnte, daß die Jahre nicht ſpur¬
los an ihr vorübergehen wollten; Fältchen und Krähen¬
füße zeigten ſich. In dieſer Bedrängnis hörte ſie von
ungefähr von einer ‚plaſtiſchen Künſtlerin‘, die durch Auf¬
trag einer Wachspaſte die Jugend wieder herzuſtellen wiſſe.
Dieſe Künſtlerin wurde gerufen, und die Wiederherſtellung
gelang auch. Aber nun traf eines Tages die [Rechnung]
ein, ‚die Bill‘, wie ſie da drüben ſagen. Es war eine
Summe, vor der ſelbſt eine Herzogin erſchrecken durfte.
Und da die Künſtlerin auf ihrer Forderung beharrte, ſo
kam es zu dem angedeuteten Prozeß, der ſich alsbald zu
einer cause célèbre geſtaltete.“
„Sehr begreiflich,“ verſicherte Dubslav, und Meluſine
ſtimmte zu.
Zahlreiche Perſonen traten in der Verhandlung auf,
und als Sachverſtändige wurden zuletzt auch Konkurren¬
tinnen auf dieſem Spezialgebiete der ‚plaſtiſchen Kunſt‘
vernommen. Alle fanden die Forderung erheblich zu hoch
und der Sieg ſchien ſich raſch der Herzogin zuneigen zu
wollen. Aber in eben dieſem Augenblicke trat die ſich arg
bedrängt ſehende Künſtlerin an den Vorſitzenden des Ge¬
richtshofes heran und bat ihn, an die erſchienenen Fach¬
genoſſinnen einfach die Frage nach der Dauer der durch
Fontane, Der Stechlin. 22[338] ihre Kunſt wiederhergeſtellten Jugend und Schönheit richten
zu wollen, eine Bitte, der der Oberrichter auch ſofort nach¬
kam. Was darauf geantwortet wurde, lautete hinſichtlich
der Dauer ſehr verſchieden. Als aber, trotz der Ver¬
ſchiedenheit dieſer Angaben, keine der Konkurrentinnen mehr
als ein Vierteljahr zu garantieren wagte, wandte ſich die
Verklagte ruhig an den hohen Gerichtshof und ſagte nicht
ohne Würde: ‚Meine Herren Richter, meine Mitkünſtlerinnen,
wie Sie ſoeben vernommen, helfen auf Zeit; was ich
leiſte, iſt ‚beautifying for ever‘. Alles war von
dieſem Worte hingeriſſen, der hohe Gerichtshof mit, und
die Herzogin hatte die Rieſenſumme zu zahlen.“
„Und wäre dergleichen hierlandes möglich?“ fragte
Meluſine.
„Ganz unmöglich,“ entgegnete der für alles Fremde
ſchwärmende Koſeleger. „Es kann hier einfach deshalb
nicht vorkommen, weil uns der dazu nötige höhere Kultur¬
zuſtand und die dem entſprechende Anſchauung fehlt. In
unſerm guten Preußen, und nun gar erſt in unſer Mark,
ſieht man in einem derartigen Hergange nur das Karri¬
kierte, günſtigſten Falls das Groteske, nicht aber jenes Hoch¬
maß geſellſchaftlicher Verfeinerung, aus dem allein ſich ſolche
Dinge, die man im übrigen um ihres Raffinements willen
belächeln oder verurteilen mag, entwickeln können.“
Die meiſten waren einverſtanden, allen voraus Dubslav,
dem dergleichen immer einleuchtete, während die Domina
von „Horreur“ ſprach und ſichtlich unmutig den Kopf hin
und her bewegte. Woldemar erneute natürlich ſeine Ver¬
ſuche, die der Tante ſo mißfällige Konverſation auf andres
überzulenken, bei welcher Gelegenheit er nach dem Berühren
verſchiedenſter Themata zuletzt auch auf den Coventgarden¬
markt und den engliſchen Gemüſebau zu ſprechen kam.
Das paßte der Domina.
„Ja, Gemüſebau,“ ſagte ſie, „das iſt eine wunderbare
Sache, daran hat man eine wirkliche Freude. Kloſter
[339] Wutz iſt eigentlich eine Gartengegend; unſer Spargel iſt
denn auch weit und breit der beſte, und meine gute
Schmargendorff hat Artiſchocken gezogen ſo groß wie 'ne
Sonnenblume. Freilich, es will ſie keiner ſo recht, und
alle ſagen immer: ‚es dauert ſo lange, wenn man ſo jedes
Blatt nehmen muß, und eigentlich hat man nichts davon,
auch wenn die Sauce noch ſo dick iſt.‘ Viel mehr Glück
hat unſre alte Schimonski mit ihren großen Erdbeeren
— ich meine natürlich nicht die Schimonski ſelber; ſie ſelber
kann gar nichts, aber ſie hat eine ſehr geſchickte Perſon —
und ein Berliner Händler kauft ihr alles ab, bloß daß
die Schnecken oft die Hälfte jeder Erdbeere wegfreſſen.
Man ſollte nicht glauben, daß ſolche Tiere ſolchen feinen
Geſchmack haben. Aber wenn es wegen der Schnecken
auch unſicher iſt, Dubslav, du ſollteſt ſolche Zucht doch
auch verſuchen. Wenn es einſchlägt, iſt es ſehr vorteil¬
haft. Die Schimonski wenigſtens hat mehr davon als
von ihren Hühnern, trotzdem ſie gut legen. Denn mal
ſind ſie billig, die Eier, und dann wieder verderben ſie,
und die ſchlechten werden einem berechnet und abgezogen,
und die Streiterei nimmt kein Ende.“
Kurz vor elf brach das Geſpräch ab, und man zog
ſich zurück. Der alte Dubslav ließ es ſich nicht nehmen,
die Damen perſönlich treppauf bis an ihre Zimmer zu
führen und ſich da unter Handkuß von ihnen zu verab¬
ſchieden. Es waren dieſelben zwei Räume, die vor gerad'
einem Vierteljahr Rex und Czako bewohnt hatten, das
größere Zimmer jetzt für Meluſine, das kleinere für
Armgard beſtimmt. Aber als nun beide vor ihren Reiſe¬
taſchen ſtanden und ſich oberflächlich daran zu thun
machten, ſagte Meluſine: „Dies Himmelbett iſt alſo für
mich. Wenn es dir gleich iſt, beziehe du lieber dies
Ehrenlager und laſſe mir das kleine Schlafzimmer. Zu¬
ſammen ſind wir ja doch; die Thür ſteht auf.“
„Ja Meluſine, wenn du's durchaus wünſcht, dann
22 *[340] natürlich. Aber ich verſtehe dich nicht recht. Man will
dich auszeichnen, und wenn du das ablehnſt, ſo kann es
auffallen. Man muß doch in einem Hauſe, wo man noch
halb fremd iſt, alles ſo thun, wie's gewünſcht wird.“
Meluſine ging auf die Schweſter zu, ſah ſie halb
verlegen, halb ſchelmiſch an und ſagte: „Natürlich haſt
du recht. Aber ich bitte dich trotzdem darum. Und es
braucht es ja auch keiner zu merken. Direkte Kontrolle
wird ja wohl ausgeſchloſſen ſein, und ich mache keine
tiefere Kute wie du.“
„Gut, gut,“ lachte Armgard. „Aber ſage, was ſoll
das alles? Du biſt doch ſonſt ſo leichtlebig. Und wenn
es dir hier in dem erſten Zimmer, weil es ſo nah' an
der ſcharfen Flurecke liegt, wirklich etwas ängſtlich zu
Mute ſein ſollte, nun ſo können wir ja zuriegeln.“
„Das hilft nichts, Armgard. In ſolchen alten
Schlöſſern giebt es immer Tapetenthüren. Und was das
hier angeht,“ und ſie wies dabei auf das Bett, „alle
Spukgeſchichten ſind immer gerad' in Himmelbetten
paſſiert; ich habe noch nie gehört, daß Geſpenſter an eine
Birkenmaſerbettſtelle herangetreten wären. Und haſt du
nicht unten den mistle-toe geſehn? Miſtelbuſch iſt auch
noch ſo Überbleibſel aus heidniſcher Zeit her, bei den alten
Deutſchen gewiß und bei den Wenden wohl auch, für den
Fall, daß die Stechlins wirkliche Wenden ſind. Wenn
ich Tante Adelheid anſehe, glaub' ich es beinah'. Und
wie ſie von den Hühnern ſprach und den Eiern. Alles
ſo wendiſch. Ich glaube ja nicht eigentlich an Geſpenſter,
wiewohl ich auch nicht ganz dagegen bin, aber wie dem
auch ſein möge, wenn ich mir denke, Tante Adelheid er¬
ſchiene mir hier und brächte mir eine Erdbeere, die die
Schnecken ſchon angeknabbert haben, ſo wäre das mein
Tod.“
Armgard lachte.
„Ja, du lachſt, aber haſt du denn die Augen von
[341] ihr geſehn? Und haſt du ihre Stimme gehört? Und
die Stimme, wie du doch weißt, iſt die Seele.“
„Gewiß. Aber, Seele oder nicht, ſie kann dir doch
nichts thun mit ihrer Stimme und dir auch nicht er¬
ſcheinen. Und wenn ſie trotzdem kommt, nun ſo rufſt
du mich.“
„Am liebſten wär' es mir, du bliebſt gleich bei mir.“
„Aber Meluſine ...“
„Nun gut, nun gut. Ich ſehe wohl ein, daß das
nicht gut geht. Aber was anders! Ich habe da vorhin
eine Bibel oder vielleicht auch bloß ein Geſangbuch liegen
ſehn, da auf dem Brettchen, wo die kleine Puppe ſteht.
Beiläufig auch was Sonderbares, dieſe Puppe. Bitte,
nimm die Bibel von der Etagere fort und lege ſie mir
hier auf den Nachttiſch. Und das Licht laß brennen.
Und wenn du im Bett liegſt, ſprich immer zu, bis ich
einſchlafe.“
Achtundzwanzigſtes Kapitel.
Am andern Morgen traf man ſich beim Frühſtück.
Es war ziemlich ſpät geworden, ohne daß Dubslav, wie
das ſonſt wohl auf dem Lande Gewohnheit iſt, unge¬
duldig geworden wäre. Nicht daſſelbe ließ ſich von Tante
Adelheid ſagen. „Ich finde das lange Wartenlaſſen nicht
gerade paſſend, am wenigſten Perſonen gegenüber, denen
man Reſpekt bezeigen will. Oder geh' ich vielleicht zu
weit, wenn ich hier von Reſpektbezeigung ſpreche?“ So
hatte ſich Adelheid zu Dubslav geäußert. Als nun aber
die Barbyſchen Damen wirklich erſchienen, bezwang ſich
die Domina und ſtellte all die Fragen, die man an ſolchem
Begrüßungsmorgen zu ſtellen pflegt. In aller Unbefangen¬
heit antworteten die Schweſtern, am unbefangenſten Melu¬
ſine, die bei der Gelegenheit dem alten Dubslav erzählte,
daß ſie nicht umhin gekonnt hätte, ſich die Bibel an ihr
Bett zu legen.“
„Und mit der Abſicht, drin zu leſen?“
„Beinah'. Aber es wurde nichts daraus. Armgard
plauderte ſo viel, freilich auf meinen Wunſch. Ich hörte
von der Treppe her immer die Uhr ſchlagen und las da¬
bei beſtändig das Wort ‚Muſeum‘. Aber das war
natürlich ſchon im Traum. Ich ſchlief ſchon ganz feſt.
Und heute früh bin ich wie der Fiſch im Waſſer.“
Dubslav hätte dies gern beſtätigt, dabei nach einem
Spezialfiſch ſuchend, der ſo recht zum Vergleich für Melu¬
[343] ſine gepaßt hätte. Die Blicke ſeiner Schweſter aber, die
zu fragen ſchienen „haſt du gehört?“ ließen ihn wieder
davon abſtehn, und nachdem noch einiges über den großen
Oberflur und ſeine Bilder und Schränke geſprochen worden
war, wurde, genau wie vor einem [Vierteljahr], wo Rex
und Czako zu Beſuch da waren, ein Programm verab¬
redet, das dem damaligen ſehr ähnlich ſah: Ausſichts¬
turm, See, Globſow; dann auf dem Rückwege die Kirche,
vielleicht auch Krippenſtapel. Und zuletzt das „Muſeum.“
Aber manches davon war unſicher und hing vom Wetter
ab. Nur den See wollte man unter allen Umſtänden
ſehn. Engelke wurde beauftragt, mit Plaids und Decken
vorauszugehn und ein paar Leute zum Wegſchaufeln des
Schnees mitzunehmen, lediglich für den Fall, daß die
Damen vielleicht Luſt bezeigen ſollten, die Sprudel- und
Trichterſtelle genauer zu ſtudieren. „Und wenn wir auf
unſerm Hofe keine Leute haben, ſo geh' ins Schulzenamt
und bitte Rolf Krake, daß er aushilft.“
Meluſine, die dieſer Befehlserteilung zugehört hatte,
war überraſcht, in einem märkiſchen Dorfe dem Namen
„Rolf Krake“ zu begegnen, und erfuhr denn auch alsbald
den Zuſammenhang der Dinge. Sie war ganz enchan¬
tiert davon und ſagte: „Das iſt hübſch. Aller aufge¬
ſteifter Patriotismus iſt mir ein Greuel, aber wenn er
dieſe Formen annimmt und ſich in Humor und ſelbſt in
Ironie kleidet, dann iſt er das beſte was man haben
kann. Ein Mann, der ſolchen Beinamen hat, der lebt,
der iſt in ſich eine Geſchichte.“ Dubslav küßte ihr die
Hand, Adelheid aber wandte ſich demonſtrativ ab; ſie
wollte nicht Zeuge dieſer ewigen Huldigungen ſein. „Wenn
man ein alter Major iſt, iſt man eben ein alter Major
und nicht ein junger Leutnant. Dubslav iſt zwanzig,
aber zwanzig Jahr a. D.“
Es war gegen zehn, als man aufbrach, um zunächſt
auf den Ausſichtsturm zu ſteigen, und nachdem man von
[344] der oberſten Etage her die Waldlandſchaft, die ſich auch
in ihrem Schneeſchmuck wundervoll ausnahm, gebührend
bewundert und dann den Abſtieg glücklich bewerkſtelligt
hatte, paſſierte man den Schloßhof mit der Glaskugel,
um über den Dorfplatz fort in die nach dem See hin¬
unterführende große Straße einzubiegen. Auf dem Dorf¬
platze war alles winterlich ſtill, nur vor dem Kruge ſtanden
drei Menſchen: Engelke, der die Schneeſchipper voraus¬
geſchickt hatte, mit ſeinen Plaids über den Arm, neben
ihm Schulze Kluckhuhn und neben dieſem Gendarm Uncke,
das Karabinergewehr über die Schulter gehängt.
„Da treffen wir ja die ganze hohe Obrigkeit,“ ſagte
Dubslav. „Engelke kann ich auch mitrechnen, der regiert
mich, is alſo eigentlich die Feudalitätsſpitze.“
Während dieſer Worte waren die Herrſchaften an die
Gruppe herangetreten.
„Freut mich, daß ich Sie treffe, Kluckhuhn. Ich
denke Sie begleiten uns ... Frau Gräfin, darf ich Ihnen
hier unſern Dorfherrſcher vorſtellen? Schulze Kluckhuhn,
alter Vierundſechziger.“
Und nun ordnete ſich der Zug. Dubslav und Uncke
ſchloſſen ab, Woldemar, Armgard und Tante Adelheid
hielten die Mitte; Meluſine ſchritt voran, Rolf Krake
neben ihr.
„Ich bin froh,“ ſagte Meluſine, „Sie bei dieſer
Partie mit dabei zu ſehn. Der alte Herr von Stechlin
hat mir ſchon von Ihnen erzählt und daß Sie vierund¬
ſechzig mit dabei geweſen. Und ich weiß auch Ihren
Namen; das heißt den zweiten. Und ich darf ſagen,
ich freue mich immer, wenn ich ſo was Hübſches
höre.“
„Ach, Rolf Krake,“ lachte Kluckhuhn. „Ja, Frau
Gräfin, wer den Schaden hat, darf für den Spott nicht
ſorgen. Das heißt, von ‚Schaden‘ darf ich eigentlich nicht
reden, den hab' ich nicht ſo recht davon gehabt; ich bin
[345] nicht mal angeſchoſſen worden. Und doch is ſo was
billig, wenn's erſt losgeht.“
„Ja, Schulze Kluckhuhn, unſereinem iſt ſo was leider
immer verſchloſſen oder, wie die Leute hier ſagen, verpurrt.
Und doch iſt das das eigentliche Leben. So immer bloß
einſitzen und ein bißchen Charpie zupfen, das iſt gar nichts.
Mit dabei ſein, das macht glücklich. Es war aber trotz¬
dem wohl ein eigenes Gefühl, als Sie da ſo von Düppel
nach Alſen 'rüberfuhren und das unheimliche Schiff, der
Rolf Krake, ſo dicht daneben lag.“
„Ja, das war es, Frau Gräfin, ein ganz eigenes
Gefühl. Und mitunter erſcheint mir der Rolf Krake noch
im Traum. Un is auch nicht zu verwundern. Denn
Rolf Krake war wie ein richtiges Geſpenſt. Und wenn
ſolch Geſpenſt einen packt, ja, da iſt man weg. ...
Und dabei bleib' ich, Frau Gräfin, ſechsundſechzig war
nicht viel und ſiebzig war auch nicht viel.“
„Aber die großen Verluſte ...“
„Ja, die Verluſte waren groß, das iſt richtig. Aber
Verluſte, Frau Gräfin, das is eigentlich gar nichts. Natür¬
lich wen es trifft, für den is es was. Aber ich meine
jetzt das, was man dabei ſo das Moraliſche nennt; und
darauf kommt es an, nicht auf die Verluſte, nicht auf viel
oder wenig. Wenn einer eine Böſchung 'rauf klettert und
nu ſteht er oben und ſchleicht ſich 'ran, immer mit 'nem
Pulverſack und 'nem Zünder in der Hand und nu legt
er an und nu fliegt alles in die Luft und er mit. Und
nu iſt die Feſtung oder die Schanze offen. Ja, Frau
Gräfin, das iſt was. Und das hat unſer Pionier Klinke
gethan. Der war moraliſch. Ich weiß nicht, ob Frau
Gräfin mal von ihm gehört haben, aber dafür leb' ich
und ſterb' ich: immer bloß das Kleine, da zeigt ſich's, was
einer kann. Wenn ein Bataillon 'ran muß un ich ſtecke
mitten drin, ja, was will ich da machen? Da muß ich
[346] mit. Und baff, da lieg' ich. Und nu bin ich ein Held.
Aber eigentlich bin ich keiner. Es iſt alles bloß „Muß“
und ſolche Mußhelden giebt es viele. Das is, was ich
die großen Kriege nenne. Klinke mit ſeinem Pulverſack,
ja, der war bloß was Kleines, aber er war doch groß.
Und ebenſo (wenn er auch unſer Feind war) dieſer Rolf
Krake.“
So ging hiſtoriſch-retroſpektiv das Geſpräch an der
Tete, während Dubslav und Uncke, die den Zug abſchloſſen,
mit ihrem Thema mehr in der Gegenwart ſtanden.
„Is mir lieb, Uncke, Sie mal wieder zu treffen.
Seit Rheinsberg hab' ich Sie nicht mehr geſehn. Ich
denke mir, Torgelow is nu wohl ſchon im beſten Gange.
So wie Bebel. Ich kriege natürlich jeden Tag meine
Zeitung, aber es is mir immer zu viel und das große
Format und das dünne Papier. Da kuck' ich denn nich
immer ganz genau zu. Hat er denn ſchon geſprochen?“
„Ja, Herr Major, geſprochen hat er ſchon. Aber
nich viel. Un war auch kein rechter Beifall. Auch nich
mal bei ſeinen eignen Leuten.“
Er wird wohl die Sache noch nicht recht weg haben.
Ich meine das, was ſie jetzt das Parlamentariſche nennen.
Das ſchad't aber nichts und iſt eigentlich egal. Wichtiger
is, wie ſie hier in unſerm Ruppiner Winkel, in unſerm
Rheinsberg-Wutz über ihn denken. Sind ſie denn da mit
ihm zufrieden?“
„Auch nicht, Herr Major. Sie ſagen, er ſei zwei¬
deutig.“
„Ja, Uncke, ſo heißt es überall. Das is nu mal
ſo, das is nicht zu ändern. In Frankreich heißt es immer
gleich „Verrat“ und hier ſagen ſie „zweideutig“. Da war
auch einer von uns, den ich nicht nennen will, von dem
hieß es auch ſo ...“
„Von dem hieß es auch ſo. Ja, Herr Major. Und
Pyterke, der immer gut Beſcheid weiß, der ſagte mir ſchon
[347] damals in Rheinsberg: ‚Uncke, glauben Sie mir, da hat
ſich der Herr Major eine Schlange an ſeinem Buſen groß
gezogen.‘“
„Kann ich mir denken; klingt ganz nach Pyterke.
Der ſpricht immer ſo gebildet. Aber is es auch richtig?“
„Is ſchon richtig, Herr Major. Herr Major denken
immer das Gute von 'nem Menſchen, weil Sie ſo viel
zu Hauſe ſitzen und ſelber ſo ſind. Aber wer ſo 'rum
kommt wie ich. Alle lügen ſie. Was ſie meinen, das
ſagen ſie nich und was ſie ſagen, das meinen ſie nich.
Is kein Verlaß mehr; alles zweideutig.“
„Ja, ſo rund 'raus, Uncke, das war früher, aber
das geht jetzt nicht mehr. Man darf keinem ſo alles auf
die Naſe binden. Das is eben, was ſie jetzt ‚politiſches
Leben‘ nennen.“
„Ach, Herr Major, das mein' ich ja gar nicht. Das
Politiſche ... Jott, wenn einer ſich ins Politiſche zwei¬
deutig macht, na, dann muß ich ihn anzeigen, das is
Dienſt. Darum gräm' ich mich aber nich. Aber was
nich Dienſt is, was man ſo bloß noch nebenbei ſieht, das
kann einen mitunter leid thun. So bloß als Menſch.“
„Aber, lieber Uncke, was is denn eigentlich los?
Wenn man Sie ſo hört, da ſollte man ja wahrhaftig
glauben, es ginge zu Ende ... Nu ja, in der Welt
draußen da klappt nich immer alles. Aber ſo im Schoß
der Familie ...“
„Jott, Herr Major, das is es ja eben. In dieſem
Schoß der Familie, da is es ja gerad' am ſchlimmſten.
Und ſogar in dem jüdiſchen Schoß, der doch immer noch
der beſte war.“
„Beiſpiele, Uncke, Beiſpiele.“
„Da haben wir nu hier, um bloß ein Beiſpiel zu
geben, unſern guten alten Baruch Hirſchfeld in Granſee.
Frommer alter Jude ...“
„Kenn' ich. Kenn' ich ganz gut, beinah' zu gut.
[348] Nu, der hat 'nen Sohn und mit dem is er mitunter ver¬
ſchiedner Meinung. Aber dagegen is doch nicht viel zu
ſagen; das is in der ganzen Welt ſo. Der Alte hängt
noch am Alten und der Junge, nu, der is eben ein Jung¬
ſcher und bramarbaſiert ein bißchen. Ich weiß nicht recht,
zu welcher Partei er ſich hält, er wird aber wohl für
Torgelow geſtimmt haben. Nu, mein Gott, warum nicht?
Das thun jetzt viele. Daran muß man ſich gewöhnen.
Das is eben das Politiſche.“
„Nein, Herr Major. Herr Major wollen verzeihn,
aber bei dieſem Iſidor is es nicht das Politiſche. Komme
ja jeden dritten Tag hin und ſeh' den Alten in ſeinem
Laden und höre, was er da redt und redt. Und der
Junge redt auch und redt immer ‚von's Prinzip‘. Das
Prinzip is ihm aber egal. Er will bloß mogeln und
den Alten an die Wand drücken. Und das iſt das, was
ich das Zweideutige nenne.“
Armgard, Woldemar und Tante Adelheid hatten die
Mitte genommen. Als ſie bis in die Nähe der Seeſpitze
gekommen waren, immer unter einem verſchneiten Buchen-
und Eichengange hin, wurden ſie durch ein Geräuſch wie
von brechenden kleinen Äſten aufmerkſam gemacht, und ihr
Auge nach oben richtend, gewahrten ſie, wie zwei Eich¬
hörnchen über ihnen ſpielten und in beſtändigem Sich¬
haſchen von Baum zu Baum ſprangen. Die Zweige
knickten, und der Schnee ſtäubte hernieder. Armgard
mochte ſich von dem Schauſpiel nicht trennen, lachte, wenn
die momentan verſchwundenen Tierchen mit einem Male
wieder zum Vorſchein kamen und gab ihre Beobachtung
erſt auf, als die Domina, nicht direkt unfreundlich, aber
doch ziemlich ungeduldig und jedenfalls wie gelangweilt,
zu ihr bemerkte: „Ja, Comteſſe, die ſpringen; es ſind eben
Eichhörnchen.“ Einige Minuten ſpäter hatten alle die
[349] Bank erreicht, von der aus man den beſten Blick auf den
zugefrorenen See hatte. Das Eis zeigte ſich hoch mit
Schnee bedeckt, aber in ſeiner Mitte war doch ſchon eine
gefegte Stelle, zu der vom Ufer her eine ſchmale, gleich¬
falls freigeſchaufelte Straße hinüberführte. Engelke legte
die Decken über die Bank, und die Damen, die von dem
halbſtündigen und zuletzt etwas anſteigenden Wege müde
geworden waren, nahmen alle drei Platz, während ſich
Rolf Krake und Uncke wie Schildhalter zu beiden Seiten
der Bank aufſtellten. Dubslav dagegen plazierte ſich in
Front und machte, während er einen landläufigen Führer¬
ton anſchlug, den Cicerone. „Hab' die Ehr', Ihnen hier
die große Sehenswürdigkeit von Dorf und Schloß Stechlin
zu präſentieren, unſern See, meinen See, wenn Sie mir
das Wort geſtatten wollen. Alle möglichen berühmten
Naturforſcher waren hier und haben ſich höchſt ſchmeichel¬
haft über den See geäußert. Immer hieß es: ‚es ſtehe
wiſſenſchaftlich feſt‘. Und das iſt jetzt das Höchſte. Früher
ſagte man: ‚es ſteht in den Akten‘. Ich laſſe dabei dahin¬
geſtellt ſein, wovor man ſich tiefer verbeugen muß.“
„Ja,“ ſagte Meluſine, „das iſt nun alſo der große
Moment. Orientiert bin ich. Aber wie das mit allem
Großen geht, ich empfinde doch auch etwas von Ent¬
täuſchung.“
„Das iſt, weil wir Winter haben, gnädigſte Gräfin.
Wenn Sie die offene Seefläche vor ſich hätten und in der
Vorſtellung ſtünden: ‚jetzt bildet ſich der Trichter und jetzt
ſteigt es herauf‘, ſo würden Sie mutmaßlich nichts von
Enttäuſchung empfinden. Aber jetzt! Das Eis macht
ſtill und duckt das Revolutionäre. Da kann ſelbſt unſer
Uncke nichts notieren. Nicht wahr, Uncke?“
Uncke ſchmunzelte.
„Im übrigen ſeh' ich zu meiner Freude — und das
verdanken wir wieder unſerm guten Kluckhuhn, der an
alles denkt und alles vorſieht — daß die Schneeſchipper
[350] auch ein paar ihrer Pickäxte mitgebracht haben. Ich taxiere
das Eis auf nicht dicker als zwei Fuß, und wenn ſich die
Leute dran machen, ſo haben wir in zehn Minuten eine
große Lune, und der Hahn, wenn er nur ſonſt Luſt hat,
kommt aus ſeiner Tiefe herauf. Befehlen Frau Gräfin?“
„Um Gottes willen, nein. Ich bin ſehr für ſolche
Geſchichten und bin glücklich, daß die Familie Stechlin
dieſen See hat. Aber ich bin zugleich auch abergläubiſch
und mag kein Eingreifen ins Elementare. Die Natur
hat jetzt den See überdeckt; da werd' ich mich alſo hüten,
irgend was ändern zu wollen. Ich würde glauben, eine
Hand führe heraus und packte mich.“
Adelheid war bei dieſen Worten immer gerader und
länger geworden und rückte mit Oſtentation von Meluſine
weg, mehr der Banklehne zu, wo, halb wie das gute
Gewiſſen, halb wie die göttliche Weltordnung, Uncke ſtand
und durch ſeine bloße Gegenwart den Gemütszuſtand
der Domina wieder beſchwichtigte. Nur von Zeit zu Zeit
ſah ſie fragend, forſchend und vorwurfsvoll auf ihren
Bruder.
Dieſer wußte genau, was in ſeiner Schweſter Seele
vorging. Es erheiterte ihn ungemein, aber es beunruhigte
ihn doch auch. Wenn dieſe Gefühle wuchſen, wohin ſollte
das führen? Die Möglichkeit einer ſchrecklichen Scene, die
ſein Haus mit einer nicht zu tilgenden Blame behaftet
hätte, trat dabei vor ſeine Seele.
Der Himmel hatte aber ein Einſehn. Schon ſeit
einer Viertelſtunde lag ein grauer Ton über der Land¬
ſchaft und plötzlich fielen Flocken, erſt vereinzelte, dann
dicht und reichlich. Den Weg bis Globſow fortzuſetzen,
daran war unter dieſen Umſtänden gar nicht mehr zu
denken, und ſo brach man denn auf, um ins Schloß
zurückzukehren. Auch auf einen Beſuch in der Kirche, weil
es da zu kalt ſei, wurde verzichtet.
Neunundzwanzigſtes Kapitel.
Der Heimweg war gemeinſchaftlich angetreten worden,
aber doch nur bis an die Dorfſtraße. Hier teilte man
ſich in drei Gruppen, eine jede mit verſchiedenem Ziel:
Dubslav, Tante Adelheid und Armgard gingen auf das
Herrenhaus, Uncke und Rolf Krake auf das Schulzenamt,
Woldemar und Meluſine dagegen auf die Pfarre zu.
Woldemar freilich nur bis an den Vorgarten, wo er ſich
von Meluſine verabſchiedete.
Lorenzen, ſo lang er Woldemar und Meluſine ſich
ſeiner Pfarre nähern ſah, hatte verlegen am Fenſter
geſtanden, kam aber, als das Paar ſich draußen trennte,
ſo ziemlich wieder zu ſich. Er war nun ſchon ſo lange
jeder Damenunterhaltung entwöhnt, daß ihm ein Beſuch
wie der der Gräfin zunächſt nur Verlegenheit ſchaffen
konnte, wenn's denn aber durchaus ſein mußte, ſo war
ihm ein Tete-a-Tete mit ihr immer noch lieber, als eine
Plauderei zu dritt. Er ging ihr denn auch bis in den
Flur entgegen, war ihr hier beim Ablegen behilflich
und ſprach ihr — weil er jede Scheu raſch von ſich ab¬
fallen fühlte — ganz aufrichtig ſeine Freude aus, ſie in ſeiner
Pfarre begrüßen zu dürfen. „Und nun bitt' ich Sie,
Frau Gräfin, ſich's unter meinen Büchern hier nach
Möglichkeit bequem machen zu wollen. Ich bin zwar
auch Inhaber einer Putzſtube, mit einem dezenten Teppich
und einem kalten Ofen; aber ich könnte das geſundheitlich
[352] nicht verantworten. Hier haben wir wenigſtens eine gute
Temperatur.“
„Die immer die Hauptſache bleibt. Ach, eine gute
Temperatur! Geſellſchaftlich iſt ſie beinah' alles und
dabei leider doch ſo ſelten. Ich kenne Häuſer, wo, wenn
Sie den Widerſinn verzeihen wollen, der kalte Ofen gar
nicht ausgeht. Aber erlaſſen Sie mir gütigſt den Sofa¬
platz hier; ich fühle mich dazu noch nicht ‚alte Dame‘
genug und möcht' auch gern en vue der beiden Bilder
bleiben, trotzdem ich das eine davon ſchon ſo gut wie
kenne.“
„Die Kreuzabnahme?“
„Nein! das andre.“
„Die Lind alſo?“
„Ja.“
„So haben Sie das ſchöne Bild in der National¬
galerie geſehn?“
„Auch das. Aber doch freilich erſt ſeit ganz kurzem,
während ich von Ihrer Aquarellkopie ſchon ſeit ein paar
Monaten weiß. Das war auf einer Dampfſchiffahrt, die
wir nach dem ſogenannten ‚Eierhäuschen‘ machten und
der Ausplauderer über das Bild da vor mir, war niemand
anders als Ihr Zögling Woldemar, auf den Sie ſtolz
ſein können. Er freilich würde den Satz umkehren, oder
ſage ich lieber, er that es. Denn er ſprach mit ſolcher
Liebe von Ihnen, daß ich Sie von jenem Tag an auch
herzlich liebe, was Sie ſich ſchon gefallen laſſen müſſen. Ein
Glück nur, daß er ſich draußen verabſchiedet hat und
nicht hören kann, was ich hier ſage ...“
Lorenzen lächelte.
„Sonſt hätten ſich dieſe Bekenntniſſe verboten. Aber
da ſie nun mal gemacht ſind und man nie weiß, wann
und wie man wieder zuſammenkommt, ſo laſſen Sie mich
darin fortfahren. Woldemar erzählte mir — Pardon für
meine Indiskretion — von Ihrer Schwärmerei für die
[353] Lind. Und da horchten wir denn auf und beneideten
Sie faſt. Nichts beneidenswerter als eine Seele, die
ſchwärmen kann. Schwärmen iſt fliegen, eine himmliſche
Bewegung nach oben.“
Lorenzen ſtutzte. Das war doch mehr, als eine bloß
liebenswürdige Dame aus der Geſellſchaft.
„Und um es kurz zu machen,“ fuhr Meluſine fort,
„Woldemar ſprach bei dieſer Gelegenheit wie von Ihrer
erſten Liebe“ (und dabei wies ſie lächelnd auf das
Bildchen der Lind) „ſo auch von Ihrer letzten, — nein,
nein, nicht von Ihrer letzten; Sie werden immer eine
neue finden — ſprach alſo von Ihrer Begeiſterung für
den herrlichen Mann da weit unten am Tajo, von Ihrer
Begeiſterung für den Joao de Deus. Und als er aus¬
geſprochen hatte, da haben wir uns alle, die wir zu¬
gegen waren, um den „Un Santo“ geſchart und einen
geheimen Bund geſchloſſen. Erſt um den „Un Santo“
und zum zweiten um Sie ſelbſt. Und nun frag' ich Sie,
wollen Sie mitthun in dieſem unſerm Bunde, der ohne
Sie gar nicht exiſtierte. Mir iſt manches verquer ge¬
gangen. Aber ich bin, denk' ich, dem Tage nahe, der
mich ahnen läßt, daß unſre Prüfungen auch unſre Segnungen
ſind und daß mir alles Leid nur kam, um den Stab,
der trägt und ſtützt, feſter zu umklammern. Ich darf
leider nicht hinzuſetzen, daß dieſer Stab (möglich, daß er
ſich einſt dazu auswächſt) das Kreuz ſei. Meiner ganzen
Natur nach bin ich ungläubig. Aber ich hoffe, ſagen zu
dürfen: ich bin wenigſtens demütig.“
„Wenigſtens demütig,“ wiederholte Lorenzen lang¬
ſam, zugleich halb verlegen vor ſich hinblickend, und
Meluſine, die Zweifel, die ſich in der Wiederholung
dieſer Worte ziemlich deutlich ausſprachen, mit ſcharfem
Ohre heraushörend, fuhr in plötzlich verändertem [und] bei¬
nah' heiterem Tone fort: „Wie grauſam Sie ſind. Aber
Sie haben recht. Demütig. Und daß ich mich deſſen
Fontane, Der Stechlin. 23[354] auch noch berühme. Wer iſt demütig? Wir alle ſind im
letzten doch eigentlich das Gegenteil davon. Aber das
darf ich ſagen, ich habe den Willen dazu.“
„Und ſchon der gilt, Frau Gräfin. Nur freilich iſt
Demut nicht genug; ſie ſchafft nicht, ſie fördert nicht nach
außen, ſie belebt kaum.“
„Und iſt doch mindeſtens der Anfang zum Beſſern,
weil ſie mit dem Egoismus aufräumt. Wer die Staffel
hinauf will, muß eben von unten an dienen. Und ſoviel
bleibt, es birgt ſich in ihr die Löſung jeder Frage, die
jetzt die Welt bewegt. Demütig ſein heißt chriſtlich ſein,
chriſtlich in meinem, vielleicht darf ich ſagen in unſrem
Sinne. Demut erſchrickt vor dem zweierlei Maß. Wer
demütig iſt, der iſt duldſam, weil er weiß, wie ſehr er
ſelbſt der Duldſamkeit bedarf; wer demütig iſt, der ſieht
die Scheidewände fallen und erblickt den Menſchen im
Menſchen.“
„Ich kann Ihnen zuſtimmen,“ lächelte Lorenzen.
„Aber wenn ich, Frau Gräfin, in Ihren Mienen richtig
leſe, ſo ſind dieſe Bekenntniſſe doch nur Einleitung zu
was andrem. Sie halten noch das Eigentliche zurück und
verbinden mit Ihrer Ausſprache, ſo ſonderbar es klingen
mag, etwas Spezielles und beinah' Praktiſches.“
„Und ich freue mich, daß Sie das herausgefühlt
haben. Es iſt ſo. Wir kommen da eben von Ihrem
Stechlin her, von Ihrem See, dem Beſten, was ſie hier
haben. Ich habe mich dagegen gewehrt, als das Eis
aufgeſchlagen werden ſollte, denn alles Eingreifen oder
auch nur Einblicken in das, was ſich verbirgt, erſchreckt
mich. Ich reſpektiere das Gegebene. Daneben aber freilich
auch das Werdende, denn eben dies Werdende wird über
kurz oder lang abermals ein Gegebenes ſein. Alles Alte,
ſo weit es Anſpruch darauf hat, ſollen wir lieben, aber
für das Neue ſollen wir recht eigentlich leben. Und vor
allem ſollen wir, wie der Stechlin uns lehrt, den großen
[355] Zuſammenhang der Dinge nie vergeſſen. Sich abſchließen,
heißt ſich einmauern, und ſich einmauern iſt Tod. Es
kommt darauf an, daß wir gerade das beſtändig gegen¬
wärtig haben. Mein Vertrauen zu meinem Schwager iſt
unbegrenzt. Er hat einen edeln Charakter, aber ich weiß
nicht, ob er auch einen feſten Charakter hat. Er iſt feinen
Sinnes, und wer fein iſt, iſt oft beſtimmbar. Er iſt auch
nicht geiſtig bedeutend genug, um ſich gegen abweichende
Meinungen, gegen Irrtümer und Standesvorurteile wehren
zu können. Er bedarf der Stütze. Dieſe Stütze ſind Sie
meinem Schwager Woldemar von Jugend auf geweſen.
Und um was ich jetzt bitte, das heißt: ‚Seien Sie's
ferner‘.“
„Daß ich Ihnen ſagen könnte, wie freudig ich in
Ihren Dienſt trete, gnädigſte Gräfin. Und ich kann es
um ſo leichter, als Ihre Ideale, wie Sie wiſſen, auch die
meinigen ſind. Ich lebe darin und empfind' es als eine
Gnade, da, wo das Alte verſagt, ganz in einem Neuen
aufzugehn. Um ein ſolches ‚Neues‘ handelt es ſich. Ob
ein ſolches ‚Neues‘ ſein ſoll (weil es ſein muß) oder ob
es nicht ſein ſoll, um dieſe Frage dreht ſich alles. Es
giebt hier um uns her eine große Zahl vorzüglicher Leute,
die ganz ernſthaft glauben, das uns Überlieferte — das
Kirchliche voran (leider nicht das Chriſtliche) — müſſe
verteidigt werden, wie der ſalomoniſche Tempel. In
unſerer Oberſphäre herrſcht außerdem eine naive Neigung,
alles ‚Preußiſche‘ für eine höhere Kulturform zu halten.“
„Genau wie Sie ſagen. Aber ich möchte doch, um
der Gerechtigkeit willen, die Frage ſtellen dürfen, ob dieſer
naive Glaube nicht eine gewiſſe Berechtigung hat?“
„Er hatte ſie mal. Aber das liegt zurück. Und kann
nicht anders ſein. Der Hauptgegenſatz alles Modernen
gegen das Alte beſteht darin, daß die Menſchen nicht
mehr durch ihre Geburt auf den von ihnen einzunehmenden
Platz geſtellt werden. Sie haben jetzt die Freiheit, ihre
23*[356] Fähigkeiten nach allen Seiten hin und auf jedem Gebiete
zu bethätigen. Früher war man dreihundert Jahre lang
ein Schloßherr oder ein Leinenweber; jetzt kann jeder
Leinenweber eines Tages ein Schloßherr ſein.“
„Und beinah' auch umgekehrt,“ lachte Meluſine. „Doch
laſſen wir dies heikle Thema. Viel, viel lieber hör' ich
ein Wort von Ihnen über den Wert unſrer Lebens- und
Geſellſchaftsformen, über unſre Geſamtanſchauungsweiſe,
deren beſondere Zuläſſigkeit Sie, wie mir ſcheint, ſo nach¬
drücklich anzweifeln.“
„Nicht abſolut. Wenn ich zweifle, ſo gelten dieſe
Zweifel nicht ſo ſehr den Dingen ſelbſt, als dem Hoch¬
maß des Glaubens daran. Daß man all dieſe Mittel¬
maßdinge für etwas Beſonderes und Überlegenes und
deshalb, wenn's ſein kann, für etwas ewig zu Konſer¬
vierendes anſieht, das iſt das Schlimme. Was mal galt,
ſoll weiter gelten, was mal gut war, ſoll weiter ein Gutes
oder wohl gar ein Beſtes ſein. Das iſt aber unmöglich,
auch wenn alles, was keineswegs der Fall iſt, einer ge¬
wiſſen Herrlichkeitsvorſtellung entſpräche ... Wir haben,
wenn wir rückblicken, drei große Epochen gehabt. Deſſen
ſollen wir eingedenk ſein. Die vielleicht größte, zugleich
die erſte, war die unter dem Soldatenkönig. Das war
ein nicht genug zu preiſender Mann, ſeiner Zeit wunder¬
bar angepaßt und ihr zugleich voraus. Er hat nicht bloß
das Königtum ſtabiliert, er hat auch, was viel wichtiger,
die Fundamente für eine neue Zeit geſchaffen und an die
Stelle von Zerfahrenheit, ſelbſtiſcher Vielherrſchaft und
Willkür Ordnung und Gerechtigkeit geſetzt. Gerechtigkeit,
das war ſein beſter ‚rocher de bronce‘.“
„Und dann?“
„Und dann kam Epoche zwei. Die ließ, nach jener
erſten, nicht lange mehr auf ſich warten und das ſeiner
Natur und ſeiner Geſchichte nach gleich ungeniale Land
ſah ſich mit einem Male von Genie durchblitzt.“
„Muß das ein Staunen geweſen ſein.“
„Ja. Aber doch mehr draußen in der Welt als
daheim. Anſtaunen iſt auch eine Kunſt. Es gehört etwas
dazu, Großes als groß zu begreifen .. Und dann kam die
dritte Zeit. Nicht groß und doch auch wieder ganz groß.
Da war das arme, elende, halb dem Untergange verfallene
Land nicht von Genie, wohl aber von Begeiſterung durch¬
leuchtet, von dem Glauben an die höhere Macht des
Geiſtigen, des Wiſſens und der Freiheit.“
„Gut, Lorenzen. Aber weiter.“
„Und all das, was ich da ſo hergezählt, umfaßte
zeitlich ein Jahrhundert. Da waren mir den andern vor¬
aus, mitunter geiſtig und moraliſch gewiß. Aber der
‚Non soli cedo-Adler‘ mit ſeinem Blitzbündel in den
Fängen, er blitzt nicht mehr, und die Begeiſterung iſt tot.
Eine rückläufige Bewegung iſt da, längſt Abgeſtorbenes,
ich muß es wiederholen, ſoll neu erblühn. Es thut es
nicht. In gewiſſem Sinne freilich kehrt alles einmal
wieder, aber bei dieſer Wiederkehr werden Jahrtauſende
überſprungen; wir können die römiſchen Kaiſerzeiten, Gutes
und Schlechtes, wieder haben, aber nicht das ſpaniſche
Rohr aus dem Tabakskollegium und nicht einmal den
Krückſtock von Sansſouci. Damit iſt es vorbei. Und gut,
daß es ſo iſt. Was einmal Fortſchritt war, iſt längſt
Rückſchritt geworden. Aus der modernen Geſchichte, der
eigentlichen, der leſenswerten, verſchwinden die Bataillen
und die Bataillone (trotzdem ſie ſich beſtändig vermehren)
und wenn ſie nicht ſelbſt verſchwinden, ſo ſchwindet doch
das Intereſſe daran. Und mit dem Intereſſe das Preſtige.
An ihre Stelle treten Erfinder und Entdecker, und James
Watt und Siemens bedeuten uns mehr als du Guesclin
und Bayard. Das Heldiſche hat nicht direkt abgewirt¬
ſchaftet und wird noch lange nicht abgewirtſchaftet haben,
aber ſein Kurs hat nun mal ſeine beſondere Höhe ver¬
loren, und anſtatt ſich in dieſe Thatſache zu finden, ver¬
[358] ſucht es unſer Regime, dem Niederſteigenden eine künſt¬
liche Hauſſe zu geben.“
„Es iſt, wie Sie ſagen. Aber gegen wen richtet
ſich's? Sie ſprachen von ‚Regime‘. Wer iſt dies Regime?
Menſch oder Ding? Iſt es die von alter Zeit her über¬
nommene Maſchine, deren Räderwerk tot weiterklappert,
oder iſt es Der, der an der Maſchine ſteht? Oder end¬
lich iſt es eine beſtimmte abgegrenzte Vielheit, die die Hand
des Mannes an der Maſchine zu beſtimmen, zu richten
trachtet? In allem, was Sie ſagen, klingt eine ſich auf¬
lehnende Stimme. Sind Sie gegen den Adel? Stehen
Sie gegen die ‚alten Familien‘?“
„Zunächſt: nein. Ich liebe, hab' auch Urſach' dazu,
die alten Familien und möchte beinah' glauben, jeder
liebt ſie. Die alten Familien ſind immer noch populär,
auch heute noch. Aber ſie verthun und verſchütten dieſe
Sympathien, die doch jeder braucht, jeder Menſch und
jeder Stand. Unſre alten Familien kranken durchgängig
an der Vorſtellung, ‚daß es ohne ſie nicht gehe‘, was
aber weit gefehlt iſt, denn es geht ſicher auch ohne ſie;
— ſie ſind nicht mehr die Säule, die das Ganze trägt, ſie
ſind das alte Stein- und Moosdach, das wohl noch laſtet
und drückt, aber gegen Unwetter nicht mehr ſchützen kann.
Wohl möglich, daß ariſtokratiſche Tage mal wiederkehren,
vorläufig, wohin wir ſehen, ſtehen wir im Zeichen
einer demokratiſchen Weltanſchauung. Eine neue Zeit
bricht an. Ich glaube, eine beſſere und eine glücklichere.
Aber wenn auch nicht eine glücklichere, ſo doch mindeſtens
eine Zeit mit mehr Sauerſtoff in der Luft, eine Zeit, in
der wir beſſer atmen können. Und je freier man atmet,
je mehr lebt man. Was aber Woldemar angeht, meiner
ſind Sie ſicher, Frau Gräfin. Bleibt freilich, als Haupt¬
faktor, noch die Comteſſe. Für die müſſen Sie die Bürg¬
ſchaft übernehmen. Die Frauen beſtimmen ſchließlich doch
alles.“
„So heißt es immer. Und wir ſind eitel genug, es
zu glauben. Aber das führt uns auf ganz neue Gebiete.
Vorläufig Ihre Hand zur Beſieglung. Und nun erlauben
Sie mir, nach dieſem unſerm revolutionären Diskurſe, zu
den Hütten friedlicher Menſchen zurückzukehren. Ich habe
mich bei dem alten Herrn nur auf eine halbe Stunde
beurlaubt und rechne darauf, daß Sie mich, wenn nicht
bis ins ‚Muſeum‘ ſelbſt (das dem Programm nach beſucht
werden ſollte), ſo doch wenigſtens bis auf die Schlo߬
rampe begleiten.“
Dreißigſtes Kapitel.
Lorenzen that, wie gewünſcht, und auf dem Wege
zum Schloß plauderten beide weiter, wenn auch über ſehr
andere Dinge.
„Was iſt es eigentlich mit dieſem ‚Muſeum‘?“ fragte
Meluſine; „kann ich mir doch kaum was Rechtes darunter
vorſtellen. Eine alte Papptafel mit Inſchrift hängt da
ſchräg über der Saalthür, alles dicht neben meinem
Schlafzimmer und ich habe mich etwas davor geängſtigt.“
„Sehr mit Unrecht, gnädigſte Gräfin. Die primitive
Papptafel, die freilich verwunderlich genug ausſieht, ſollte
wohl nur andeuten, daß es ſich bei der ganzen Sache
mehr um einen Scherz als um etwas Ernſthaftes handelt.
Etwa wie bei Sammlung von Meerſchaumpfeifen und
Tabaksdoſen. Und Sie werden auch vorwiegend ſolchen
Seltſamkeiten begegnen. Anderſeits aber iſt es auch wieder
ein richtiges hiſtoriſches Muſeum, trotzdem es nur halb
das geworden iſt, worauf Herr von Stechlin anfänglich
aus war.“
„Und das war?“
„Das war mehr etwas Groteskes. Es mögen nun
wohl ſchon zwanzig Jahre ſein, da las er eines Tages
in der Zeitung von einem Engländer, der hiſtoriſche
Thüren ſammle und neuerdings ſogar für eine enorme
Summe, ich glaube es waren tauſend Pfund, die Gefäng¬
nißthür erſtanden habe, durch die Ludwig XVI. und dann
[361] ſpäter Danton und Robespierre zur Guillotinierung ab¬
geführt worden ſeien. Und dieſe Notiz machte ſolchen
Eindruck auf unſern liebenswürdigen Stechliner Schlo߬
herrn, daß er auch ſolche hiſtoriſche Thürenſammlung an¬
zulegen beſchloß. Er iſt aber nicht weit damit gekommen
und hat ſich mit dem Küſtriner Schloßfenſter begnügen
müſſen, an dem Kronprinz Friedrich ſtand, als Katte zur
Enthauptung vorüber geführt wurde. Doch auch das iſt
unſicher, ja, die meiſten wollen nichts davon wiſſen. Nur
Krippenſtapel hält noch daran feſt.“
„Krippenſtapel?“
„Ja. Der Name frappiert Sie. Das iſt nämlich
unſer Lehrer hier, Liebling des alten Herrn und ſein Be¬
rater in derlei Dingen. Der hat ihm denn auch das
gegenwärtige ‚Muſeum‘, das man als Abſchlagszahlung
auf die ‚hiſtoriſchen Thüren‘ anſehen kann, zuſammen¬
geſtellt. Außer dem angezweifelten Fenſter werden Frau
Gräfin noch ein paar phantaſtiſche Regentraufen finden
und vor allem viele Wetterhähne, die von alten märkiſchen
Kirchtürmen herabgenommen wurden. Einige ſollen ganz
intereſſant ſein. Ich habe keinen Sinn dafür. Aber
Krippenſtapel hat einen Katalog angefertigt.“
Unter dieſen Worten waren beide bis an die Rampe
gekommen, auf der Engelke ſchon ſtand und auf die Gräfin
wartete. Lorenzen empfahl ſich. Aber auch Meluſine
wollte nicht gleich in’s Muſeum hinauf, zog es vielmehr
vor, erſt unten in das große Geſellſchaftszimmer einzu¬
treten und ſich da zu wärmen.
Engelke machte ſich auch ſofort am Kamin zu ſchaffen,
was der Gräfin gut paßte, weil ſie noch manches fragen
wollte.
„Das iſt recht, Engelke, daß Sie Kohlen aufſchütten
und auch Kienäpfel. Ich freue mich immer, wenn es ſo
luſtig brennt. Und oben im ‚Muſeum‘ wird es wohl
noch kalt ſein.“
„Ja, kalt iſt es, Frau Gräfin. Aber mit der Kälte,
na, das ging' am Ende noch, und der viele Staub, der
oben liegt, das ginge vielleicht auch noch; Staub wärmt.
Und die Dachtraufen und Wetterhähne thun auch keinem
Menſchen was ...“
„Aber was iſt denn ſonſt noch?“
„Ach, ich meine bloß die verdammten Dinger, die
Spinnen [...]“
„Um Gottes willen, Spinnen?“ erſchrak Meluſine.
„Ja, Spinnen, Frau Gräfin. Aber ſo ganz ſchlimme
ſind nich dabei. Solche mit 'm Kreuz oben hab' ich bei
uns noch nicht geſehn. Bloß ſolche, die Schneider heißen.“
„Ach, das ſind die, die die langen Beine haben.“
„Ja, lange Beine haben ſie. Aber ſie thun einem
nichts. Und eigentlich ſind es ſehr ängſtliche Tiere und
verkriechen ſich, wenn ſie hören, daß aufgeſchloſſen wird,
und bloß wenn Krippenſtapel kommt, dann kommen ſie
alle 'raus un kucken ſich um. Krippenſtapeln, den kennen
ſie ganz [gut], und ich hab' auch mal geſehn, daß er ihnen
Fliegen mitbringt, und machen ſich dann gleich drüber her.“
„Aber das iſt ja grauſam. Iſt es denn ein guter
Menſch?“
„O, ſehr gut, Frau Gräfin. Und als ich ihm mal
ſo was ſagte, ſagte er: ‚Ja, Engelke, das is nu mal ſo;
einer frißt den andern auf'.“
Das Geſpräch ſetzte ſich noch eine Weile fort; dann
ſagte Meluſine: „Nun, Engelke, iſt es aber wohl die höchſte
Zeit für das Muſeum, ſonſt komm' ich zu ſpät und ſeh'
und höre gar nichts mehr. Ich bin nun auch wieder
warm geworden.“ Dabei erhob ſie ſich und ſtieg die
Doppeltreppe hinauf und klopfte. Sie wollte nicht gleich
eintreten.
Auf ihr Klopfen wurde ſehr bald von innen her ge¬
öffnet, und Krippenſtapel, mit der Hornbrille, ſtand vor
ihr. Er verbeugte ſich und trat zurück, um den Platz
[363] freizugeben. Aber Meluſine, deren Angſt vor ihm wieder¬
kehrte, zauderte, was eine momentane Verlegenheit ſchuf.
Inzwiſchen war aber auch Dubslav herangekommen. „Ich
fürchtete ſchon, daß Lorenzen Sie nicht herausgeben würde.
Seine Gelegenheiten, hier in Stechlin ein Geſpräch zu
führen, ſind nicht groß und nun gar ein Geſpräch mit
Gräfin Meluſine! Nun, er hat es gnädig gemacht. Jetzt
aber, Gräfin, halten Sie gefälligſt Umſchau; vielleicht daß
Lorenzen ſchon geplaudert hat oder gar Engelke.“
„So ganz im Dunkeln bin ich nicht mehr; ein
Küſtriner Schloßfenſter, ein paar Kirchendachreliquien und
dazu Wetterhähne, — lauter Gegenſtände (denn ich bin
auch ein bißchen fürs Aparte), zu deren Auswahl ich
Ihnen gratuliere.“
„Wofür ich der Frau Gräfin dankbar bin, ohne
ſonderlich überraſcht zu ſein. Ich wußte, Damen wie
Gräfin Ghiberti haben Sinn für derlei Dinge. Darf ich
Ihnen übrigens zunächſt hier dieſen Lebuſer Biſchof zeigen
und hier weiter einen Heiligen oder vielleicht Anachoreten?
Beide, Biſchof und Anachoret, ſind ſehr unähnlich unterein¬
ander, ſchon in Bezug auf Leibesumfang, — der richtige
Gegenſatz von Refektorium und Wüſte. Wenn ich den
Heiligen hier ſo ſehe, taxier' ich ihn höchſtens auf eine
Dattel täglich. Und nun denk' ich, wir fahren in unſrer
Beſichtigung fort, Krippenſtapel war nämlich eben dabei,
der Comteſſe Armgard unſern Derfflingerſchen Dragoner
mit der kleinen Standarte und der Jahreszahl 1675 zu
zeigen. Bitte, Gräfin Meluſine, bemerken Sie hier die
Zahl, dicht unter dem brandenburgiſchen Adler. Es wirkt,
wie wenn er die Nachricht vom Siege bei Fehrbellin über¬
bringen wolle. Daß es ein Dragoner iſt, iſt klar; der
Filzhut mit der breiten Krempe hebt jeden Zweifel, und
ich hab' es für mein gutes Recht gehalten, ihn auch
ſpeziell als Derfflingerſchen Dragoner feſtzuſetzen. Aber
mein Freund Krippenſtapel will davon nichts wiſſen, und
[364] wir liegen darüber ſeit Jahr und Tag in einer ernſten
Fehde. Glücklicherweiſe unſre einzige. Nicht wahr Krippen¬
ſtapel?“
Dieſer lächelte und verbeugte ſich.
„Die beiden Damen,“ fuhr Dubslav fort, „mögen
aber nicht etwa glauben, daß ich mich für berechtigt halte,
die freie Wiſſenſchaft hier in meinem Muſeum in Banden
zu ſchlagen. Grad' umgekehrt. Ich kann alſo nur wieder¬
holen: ‚Krippenſtapel, Sie haben das Wort‘. Und nun, bitte,
ſetzen Sie den Damen Ihrerſeits auseinander, warum es
nach ganz beſtimmten Begleiterſcheinungen ein Derff¬
lingerſcher nicht ſein kann. Bilderbücher aus der Zeit
her hat man nicht, und die großen Gobelins laſſen einen
im Stich und beweiſen gar nichts.“
Unter dieſen Worten hatte Krippenſtapel die den
Gegenſtand des Streits bildende Wetterfahne wieder in die
Hand genommen, und als er ſah, daß die Gräfin, — die,
wie das in ihrer Natur lag, den vor zehn Minuten noch
ſo gefürchteten ‚Fliegentöter‘ längſt in ihr Herz geſchloſſen
hatte — ihm freundlich zunickte, ließ er auf Geltend¬
machung ſeines Standpunkts auch nicht lange mehr warten
und ſagte: „Ja, Frau Gräfin, der Streit ſchwebt nun
ſchon ſo lange, wie wir den Dragoner überhaupt haben,
und Herr von Stechlin wäre wohl ſchon längſt in das
gegneriſche Lager, in dem ich und Oberlehrer Tucheband
ſtehn, übergegangen, wenn er nicht an meiner wiſſenſchaft¬
lichen Ereiferung ſeine beſtändige Freude hätte. Tuche¬
band, einer unſrer Beſten und ein Mann, der nicht leicht
vorbei ſchießt, hat auch in dieſer Frage gleich das Richtige
getroffen. Er hat nämlich den Ort in Erwägung gezogen,
von wo dieſe Wetterfahne ſtammt. Sie ſtammt aus dem
wenigſtens damals noch der alten Familie von Mörner
zugehörigen Dorfe Zellin in der Neumark. Das Regiment
aber, das ſich bei Fehrbellin vor allen andern auszeichnete,
war das Dragoner-Regiment Mörner. Es iſt alſo kein
[365] Derfflingerſcher, ſondern ein Mörnerſcher Dragoner, der,
in fliegender Eile, die Nachricht von dem erfochtenen Siege
nach Zellin bringt.“
„Bravo,“ ſagte Meluſine. „Wenn ich je eine richtige
Schlußfolgerung gehört habe (die meiſten ſind Blender),
ſo haben wir ſie hier. Herr von Stechlin, ich kann Ihnen
nicht helfen, Sie ſind beſiegt.“
Dubslav war einverſtanden und küßte Meluſine die
Hand, ohne ſich um die mißbilligenden Blicke ſeiner
Schweſter zu kümmern, die jetzt ihrerſeits auf endliche
Vorführung der ‚beiden Mühlen‘ drang, ihrer zwei Lieb¬
lingsſtücke. Dieſe beiden Mühlen, ſo verſicherte ſie, ſeien
das einzige, was hier überhaupt einen Anſpruch auf
‚Muſeum‘ erheben dürfe. Beinah' war es wirklich ſo,
wie ſelbſt Krippenſtapel zugab, trotzdem ſich, bis wenigſtens
ganz vor kurzem, nichts von hiſtoriſcher Kontroverſe (die
doch ſchließlich immer die Hauptſache bleibt) daran geknüpft
hatte. Neuerdings [freilich] hatte ſich das geändert. Zwei
Berliner Herren vom Gewerbemuſeum waren über die
Mühlen in Streit geraten, ſpeziell über ihren Urſprungs¬
ort. Zwar hatte man ſich vorläufig dahin geeinigt, daß
die Waſſermühle holländiſch, die Windmühle dagegen (eine
richtige alte Bockmühle) eine Nürnberger Arbeit ſei;
Krippenſtapel aber hatte bei dieſem Friedensſchluſſe nur
gelächelt. Er war viel zu ſehr ernſter Wiſſenſchafts¬
menſch, als daß er nicht hätte herausfühlen ſollen, wie
dieſe ſogenannte ‚Beilegung‘ nichts als eine Verkleiſterung
war. Der Ausbruch neuer Streitigkeiten ſtand nahe
bevor.
Die waren aber zunächſt wenigſtens ausgeſchloſſen, da
beide Schweſtern, Armgard wie Meluſine, wie Kinder vor
einem Lieblingsſpielzeug, in einem ganz ausbündigen Ver¬
gnügen aufgingen. Die Windmühle klapperte, daß es eine
Luſt war, und das Rad der Waſſermühle, wenn es grad' in
der Sonne blitzte, gab einen ſolchen Silberſchein, daß es
[366] ausſah, als fiele das blinkende Waſſer wirklich über die
Schaufelbretter. All das wurde geſehn und bewundert,
und was nicht geſehn wurde, nahm man auf Treu' und
Glauben mit in den Kauf. Von den Spinnen kam keine
zum Vorſchein; nur hier und da hingen lange graue Ge¬
webe, was jedoch nur feierlich ausſah, und als Mittag
heran war, verließ man das „Muſeum“, um ſich erſt eine
Stunde zu ruhn und dann bei Tiſche wiederzuſehn. Die
Gräfin aber, ehe ſie den großen, wüſten Raum verließ,
trat noch einmal an Krippenſtapel heran, um ihn, unter
gewinnendſtem Lächeln, zu bitten, ihr, ſobald ein ernſterer
Streit über die beiden Mühlen entbrennen ſollte, die be¬
treffenden Schriftſtücke nicht vorzuenthalten.
Krippenſtapel verſprach alles.
Auf drei war das Mittagsmahl angeſetzt. Schon
eine Viertelſtunde vorher erſchien Lorenzen und traf den
alten Dubslav in einer gewiſſen ſtattlichen Herrichtung an
oder, wie er ſich ſelbſt zu Engelke geäußert hatte, „ganz
feudal“.
„Ach, daß iſt gut, Lorenzen, daß Sie ſchon kommen.
Ich habe noch allerhand auf dem Herzen. Es muß doch
was geſchehn, eine richtige Begrüßung (denn das geſtern
abend war zu wenig) oder aber ein ſolennes Abſchieds¬
wort, kurzum irgend was, das in das Gebiet der Toaſte
gehört. Und da müſſen Sie helfen. Sie ſind ein Mann
von Fach, und wer jeden Sonntag predigen kann, kann
doch ſchließlich auch 'ne Tiſchrede halten.“
„Ja, das ſagen Sie ſo, Herr von Stechlin. Mit¬
unter iſt eine Tiſchrede leicht und eine Predigt ſchwer,
aber es kann auch umgekehrt liegen. Außerdem, wenn
Sie ſich nur erſt mit dem Gedanken vertraut gemacht
haben, daß es ſo ſein muß, dann geht es auch. Sie
werden ſehn, das Herz, wie immer, macht den Redner.
[367] Und dazu dieſe Damen, beide von ſo ſeltener Liebens¬
würdigkeit. Was die Gräfin angeht ...“
„Ja,“ lachte der Alte, „was die Gräfin angeht ...
Sie machen ſich's bequem, Paſtor. Die Gräfin, — wenn
ſich's um die handelte, da könnt' ich's vielleicht auch.
Aber die Comteſſe, die hat ſo was Ernſtes. Und dann
iſt ſie zum Übrigen auch noch meine Schwiegertochter
oder ſoll es wenigſtens werden, und da muß ich doch
ſprechen wie 'ne Reſpektsperſon. Und das iſt ſchwer, viel¬
leicht, weil ſich in meiner Vorſtellung die Gräfin immer
vor die Comteſſe ſchiebt.“
Dubslav ſprach noch ſo weiter. Aber es half ihm
nichts; Lorenzen war in ſeinem Widerſtande nicht zu be¬
ſiegen, und ſo kam denn die Tiſch- und endlich auch die
gefürchtete Redezeit heran. Der Alte hatte ſich ſchließlich
drin gefunden. „Meine lieben Gäſte,“ hob er an, „ge¬
liebte Braut, hochverehrte Brautſchweſter! Ein andres
Wort, um meine Beziehungen zu Gräfin Meluſine zu be¬
zeichnen, hat vorläufig die deutſche Sprache nicht, was
ich bedaure. Denn das Wort ſagt mir lange nicht genug.
Wenige Stunden erſt iſt es, daß ich Sie, meine Damen,
an dieſer Stelle begrüßen durfte, noch kein voller Tag,
und ſchon iſt der Abſchied da. Währenddem hab ich kein
‚Du‘ beantragt, aber es liegt doch in der Luft, mehr noch
auf meiner Lippe ... Teuerſte Armgard! dies alte Haus
Stechlin alſo ſoll Ihre dereinſtige Heimſtätte werden; Sie
werden ſie zu neuem Leben erheben. Unter meinem Regime
war es nicht viel damit. Auch heute nicht. Ich habe
nur das gute Gewiſſen, Ihnen während dieſer kurzen
Spanne Zeit alles gezeigt zu haben, was gezeigt werden
konnte: mein Muſeum und meinen See. Die Sprudel¬
ſtelle (die Winterhand lag darauf) hat geſchwiegen, aber
mein Derfflingerſcher Dragoner — in Krippenſtapels Ab¬
weſenheit darf ich ihn ja wieder ſo nennen — hat dafür um
ſo deutlicher zu Ihnen geſprochen. Er hat die Zahl 1675
[368] in ſeiner Standarte und trägt die Siegesnachricht von
Fehrbellin ins märkiſche Land. Erleb' ich's noch und
giebt Krippenſtapel ſeine Zuſtimmung, ſo ſtell' ich, kurz
oder lang, auch meinerſeits einen Dragoner auf meinen
Dachreiter (einen Turm hab' ich nicht) und zwar einen
Dragoner vom Regiment Königin von Großbritannien
und Irland, und auch er trägt eine Siegesbotſchaft ins
Land. Nicht die von Königgrätz und nicht die von Mars¬
la-Tour, aber die von einem gleich gewichtigen Siege.
Das Haus Barby lebe hoch und meine liebe Schwieger¬
tochter Armgard!“
Alle waren bewegt. Am meiſten Lorenzen. Als er
an den Alten heran trat, flüſterte er ihm zu: „Sehn Sie.
Ich wußt' es.“ Armgard küßte dem Alten die Hand,
Meluſine ſtrahlte. „Ja, die alte Garde!“ ſagte ſie. Nur
Schweſter Adelheid konnte ſich in dieſer allgemeinen Freude
nicht gut zurechtfinden. Alle Feierungen mußten eben
das Maß halten, das ſie vorſchrieb. Sie hatte den
landesüblichen Zug: „Nur nicht zuviel von irgend was,
am wenigſten aber von Huldigungen oder gar von Hin¬
gebung.“
Als man wieder ſaß, ſagte Meluſine: „Krippenſtapel
wird übrigens verſtimmt ſein, wenn er von Ihrem Trink¬
ſpruche hört. Es war doch eigentlich eine erneute feier¬
liche Proklamierung des Derfflingerſchen. Und was bei
ſolcher Gelegenheit geſagt wird, das gilt ... Intereſſiert
ſich übrigens irgendwer für dies Ihr Muſeum?“
„Dann und wann ein Mann von Fach. Sonſt
niemand.“
„Was ſie verdrießt.“
„Nein, gnädigſte Gräfin. Nicht im geringſten. Ich
nehme nicht vieles ernſthaft, und am wenigſten ernſthaft
nehm' ich mein Muſeum. Es iſt freilich von mir aus¬
gegangen und intereſſierte mich auch eine Weile, hinterher
aber hat ſich eigentlich alles ohne mich gemacht. Das
[369] iſt ſo die Regel. Iſt überhaupt erſt ein Anfang da, ſo
laufen die Dinge von ſelber weiter, und die Leute laſſen
einen nicht wieder los, halten einen feſt, man mag wollen
oder nicht. Ich hätte vielleicht alles ſchon längſt wieder
aufgegeben, man will's aber nicht. Einigen gereicht es zur
Befriedigung, mich für einen Querkopf halten zu können
und andre ſprechen wenigſtens von Originalitätshaſcherei.
Man muß eben allerhand über ſich ergehen laſſen.“
Fontane, Der Stechlin. 24
Einunddreißigſtes Kapitel.
Um fünf Uhr brachen Woldemar und die Barbyſchen
Damen auf, um den Zug, der um ſieben Uhr Granſee
paſſierte, nicht zu verſäumen. Es dunkelte ſchon, aber
der Schnee ſorgte für einen Lichtſchimmer; ſo ging es
über die Bohlenbrücke fort in die Kaſtanienallee mit
ihrem kahlen und übereiſten Gezweige hinein.
Lorenzen war noch im Schloſſe zurückgeblieben und
ſetzte ſich, um wieder warm zu werden, — auf der Rampe
war's kalt und zugig geweſen — in die Nähe des Kamins,
dem alten Dubslav gegenüber. Dieſer hatte ſeinen Meer¬
ſchaum angezündet und ſah behaglich in die Flamme,
blieb aber ganz gegen ſeine Gewohnheit ſchweigſam, weil
eben noch eine dritte Perſon da war, die von den liebens¬
würdigen Damen, über die ſich auszulaſſen es ihn in ſeiner
Seele drängte, ganz augenſcheinlich nichts hören wollte.
Dieſe dritte Perſon war natürlich Tante Adelheid. Die
wollte nicht ſprechen. Andrerſeits mußte durchaus der
Verſuch einer Konverſation gemacht werden, und ſo griff
denn Dubslav zu den Gundermanns hinüber, um in ein
paar Worten ſein Bedauern darüber auszudrücken, daß er die
Siebenmühlner nicht habe mit heranziehn können. „Engelke
ſei ſo ſehr dagegen geweſen.“ All dies Bedauern, —
wie's der ganzen Sachlage nach nicht anders ſein konnte, —
kam flau genug heraus, aber die Domina war ſo hochgradig
verſtimmt, daß ihr ſelbſt ſo nüchterne, das Verbindliche
[371] nur ganz leiſe, nur ganz obenhin ſtreifende Worte ſchon
zuwider waren. „Ach, laß doch dieſe geborne Helfrich,“
ſagte ſie, „dieſe Tochter von dem alten Hauptmann, der die
Schlacht bei Leipzig gewonnen haben ſoll. So wenigſtens
erzählt ſie beſtändig. Eine ſchreckliche Frau, die
gar nicht in unſre Geſellſchaft paßt. Und dabei ſo laut.
Ich kann es nicht leiden, wenn wir ſo mit Gewalt nach
oben blicken ſollen, aber dieſe Helfrich, das muß ich
ſagen, iſt denn doch auch nicht mein Geſchmack. Ich halte
das Unter-ſich-bleiben für das einzig Richtige. Beſcheidene
Verhältniſſe, aber beſtimmt gezogene Grenzen.“
Lorenzen hütete ſich zu widerſprechen, verſuchte viel¬
mehr umgekehrt durch ein halbes Eingehn auf Adelheid
und ihren Ton, eine beſſere Laune wieder herzuſtellen.
Als er aber ſah, daß er damit ſcheiterte, brach er auf.
Und nun waren die beiden alten Geſchwiſter allein.
Dubslav ging im Zimmer unruhig auf und ab und
trat nur dann und wann an den Tiſch heran, auf dem
noch vom Kaffee her die Liquerflaſchen ſtanden. Er wollte
was ſagen, traute ſich's aber nicht recht, und erſt als er
zu zwei Curaçaos auch noch einen Benediktiner hinzu¬
gefügt hatte, wandte er ſich an die Schweſter, die, ſchweig¬
ſam wie er ſelbſt, ihre kleine goldene Kette hin und
her zog.
„Ja,“ ſagte er „jetzt ſind ſie nun wohl ſchon in
Woltersdorf.“
„Ich vermute drüber 'raus, Woldemar wird die
Pferde natürlich ausholen laſſen. Es ſind, glaub' ich,
Damen, die nicht gerne langſam fahren.“
„Du ſagſt das ſo, Adelheid, als ob du's tadeln
wollteſt, überhaupt als ob dir die Damen nicht ſonderlich
gefallen hätten. Das ſollte mir leid thun. Ich bin ſehr
glücklich über die Partie. Gewiß, ſowohl die Gräfin wie
die Comteſſe ſind verwöhnt; das merkt man. Aber ich
möchte ſagen, je verwöhnter ſie ſind ...“
„Deſto beſſer gefallen ſie dir. Das ſieht dir ähn¬
lich. Ich liebe mehr unſre Leute. Beide ſind doch beinah'
wie Fremde.“
„Nun, das iſt nicht ſchlimm.“
„Doch. Mir widerſteht das Fremde. Laß dir er¬
zählen. Da war ich vorigen Sommer mit der Schmargen¬
dorff in Berlin und ging zu Joſty, weil die Schmargen¬
dorff, die ſo was liebt, gern eine Taſſe Schokolade trinken
wollte.“
„Du hoffentlich auch.“
„Allerdings. Ich auch. Aber ich kam nicht recht
dazu, nippte bloß, weil ich mich über die Maßen ärgern
mußte. Denn an dem Tiſche neben mir ſaß ein Herr
und eine Dame, wenn es überhaupt eine Dame war.
Aber Engländer waren es. Er ſteckte ganz in Flanell
und hatte die Beinkleider umgekrempelt, und die Dame
trug einen Rock und eine Bluſe und einen Matroſenhut.
Und der Herr hatte ein Windſpiel, das immer zitterte,
trotzdem fünfundzwanzig Grad Wärme waren.“
„Ja, warum nicht?“
„Und zwiſchen ihnen ſtand eine Tablette mit Waſſer
und Cognac, und die Dame hielt außerdem noch eine
Zigarette zwiſchen den Fingern und ſah in die Ringel¬
wölkchen hinein, die ſie blies.“
„Scharmant. Das muß ja reizend ausgeſehn haben.“
„Und ich verwette mich, dieſe Meluſine raucht auch.“
„Ja, warum ſoll ſie nicht? Du ſchlachteſt Gänſe.
Warum ſoll Meluſine nicht rauchen?“
„Weil Rauchen männlich iſt.“
„Und ſchlachten weiblich ... Ach, Adelheid, wir
können uns über ſo was nicht einigen. Ich gelte ſchon
für leidlich altmodiſch, aber du, du biſt ja geradezu
petrefakt.“
„Ich verſtehe das Wort nicht und wünſche nur, daß
es etwas iſt, deſſen du dich nicht zu ſchämen haſt. Es
[373] klingt ſonderbar genug. Aber ich weiß, du liebſt der¬
gleichen und liebſt gewiß auch (und haſt ſo deine Vor¬
ſtellungen dabei) den Namen Meluſine.“
„Kann ich beinah' ſagen.“
„Ich dacht' es mir.“
„Ja, Schweſter, du haſt gut reden. So ſicher wie
du wohnt eben nicht jeder. Adelheid! das iſt ein Name,
der paßt immer. Und im Kirchenbuche, wie mir Lorenzen
erſt neulich gezeigt hat, ſteht ſogar Adelheide. Das Schluß-‚e‘
iſt bei der ſchlechten Wirtſchaft in unſerm Hauſe ſo mit
drauf gegangen. Die Stechline haben immer alles ver¬
urſcht.“
„Ich bitte dich, wähle doch andere Worte.“
„Warum? Verurſcht iſt ein ganz gutes Wort. Und
außerdem, ſchon der alte Kortſchädel ſagte mir mal, man
müſſe gegen Wörter nicht ſo ſtreng ſein und gegen Namen
erſt recht nicht, da ſitze manch einer in einem Glashauſe.
Hältſt du Rentmeiſter Fix für einen ſchönen Namen?
Und als ich noch bei den Küraſſieren in Brandenburg
war, in meinem letzten Dienſtjahr, da hatten wir dicht
bei uns einen kleinen Mann von der Feuerverſicherung,
der hieß Briefbeſchwerer. Ja, Adelheid, wenn ich dem
gegenüber ſo verfahren wäre, wie du jetzt mit Gräfin
Meluſine, ſo hätt' ich mir den Mann als eine halbe
Bombe vorſtellen müſſen oder als einen Kugelmann.
Denn damals, es war Anno vierundſechzig, waren alle
‚Briefbeſchwerer‘ bloß ‚Kugelmänner‘: 'ne Flintenkugel oben
und zwei Flintenkugeln unten. Und natürlich 'ne Kartätſchen¬
kugel als Bauch in der Mitte. Das Feuerverſicherungs¬
männchen aber, das zufällig ſo ſonderbar hieß, das war
ſo dünn wie 'n Strich.“
„Ja, Dubslav, was ſoll das nun alles wieder? Du
giebſt da deinem Zeiſig mal wieder ein gut Stück Zucker.
Ich ſage Zeiſig, weil ich nicht verletzlich werden will.“
„Küſſ' die Hand ...“
[374]„Und was ich dir zur Sache darauf zu ſagen habe,
das iſt das. Ich habe nichts dagegen, daß jemand Brief¬
beſchwerer heißt, und überlaſſ' es ihm, ob er ein Strich
oder ein Kugelmann ſein will. Aber ich habe ſehr viel
gegen Meluſine. Briefbeſchwerer, nu, das iſt bloß ein
Zufall, Meluſine aber iſt kein Zufall, und ich kann dir
bloß ſagen, dieſe Meluſine iſt eben eine richtige Meluſine.
Alles an dieſer Perſon ...“
„Ich bitte dich, Adelheid ...“
„Alles an dieſer Dame, wenn ſie durchaus ſo etwas
ſein ſoll, iſt verführeriſch. Ich habe ſo was von Koketterie
noch nie geſehn. Und wenn ich mir dann unſern armen
Woldemar daneben denke! Der is ja ſolcher Eva gegen¬
über von Anfang an verloren. Eh' er noch weiß, was
los iſt, iſt er ſchon umſtrickt, trotzdem er doch bloß ihr
Schwager iſt. Oder vielleicht auch grade deshalb. Und
dazu das ewige Sich-biegen und -wiegen in den Hüften.
Alles wie zum Beweiſe, daß es mit der Schlange denn
doch etwas auf ſich hat. Und wie ſie nun gar erſt mit
dem Lorenzen umſprang. Aber freilich, der iſt wo möglich
noch leichter zu fangen, als Woldemar. Er ſah ſie immer
an wie 'ne Offenbarung. Und ſie iſt auch ſo was. Da¬
rüber is kein Zweifel. Aber wovon?“
Hochzeit.
[[376]][[377]]Zweiunddreißigſtes Kapitel.
Zu guter Zeit waren die Reiſenden wieder in Berlin
zurück. Woldemar hatte Braut und Schwägerin bis an
das Kronprinzen-Ufer begleitet, mußte jedoch auf Ver¬
bleib im Barbyſchen Hauſe verzichten, weil im Kaſino
eine kleine Feſtlichkeit ſtattfand, der er beiwohnen wollte.
Der alte Graf ging, als unten die Droſchke hielt,
mühſamlich auf ſeinem Zimmerteppich auf und ab, weil
ihn ſein Fuß, wie ſtets wenn das Wetter umſchlug, mal
wieder mit einer ziemlich heftigen Neuralgie quälte.
„Nun, da ſeid ihr ja wieder. Der Zug muß Ver¬
ſpätung gehabt haben. Und wo iſt Woldemar?“
Man gab ihm Auskunft und daß Woldemar wegen
ſeines Nichterſcheinens um Entſchuldigung bäte. „Gut, gut.
Und nun ſetzt euch und erzählt. Mit dem Conte, das ließ
damals allerlei zu wünſchen übrig ... verzeih, Meluſine.
Da möcht' ich denn begreiflicherweiſe, daß es uns dies¬
mal beſſer ginge. Woldemar macht mir natürlich kein
Kopfzerbrechen, aber die Familie, der alte Stechlin.
Armgard braucht ſelbſtverſtändlich auf eine ſo delikate
Frage nicht zu antworten, wenn ſie nicht will, wiewohl
erfahrungsmäßig ein Unterſchied iſt zwiſchen Schwieger¬
müttern und Schwiegervätern. Dieſe ſind mitunter ver¬
bindlicher als der Sohn.“
Armgard lachte. „Mir Papa, paſſiert ſo was
Nettes nicht. Aber mit Meluſine war es wieder das
[378] Herkömmliche. Der alte Stechlin fing an und der Paſtor
folgte. Wenigſtens ſchien es mir ſo.“
„Dann bin ich beruhigt, vorausgeſetzt, daß Melu¬
ſine über den neuen Schwiegervater ihren richtigen alten
Vater nicht vergißt.“
Sie ging auf ihn zu und küßte ihm die Hand.
„Dann bin ich beruhigt,“ wiederholte der Alte.
„Meluſine gefällt faſt immer. Aber manchem gefällt ſie
freilich auch nicht. Es giebt ſo viele Menſchen, die
haben einen natürlichen Haß gegen alles, was liebens¬
würdig iſt, weil ſie ſelber unliebenswürdig ſind. Alle
beſchränkten und aufgeſteiften Individuen, alle, die eine
bornierte Vorſtellung vom Chriſtentum haben — das
richtige ſieht ganz anders aus — alle Phariſäer und
Gernegroß, alle Selbſtgerechten und Eiteln fühlen ſich
durch Perſonen wie Meluſine gekränkt und verletzt, und
wenn ſich der alte Stechlin in Meluſine verliebt hat,
dann lieb' ich ihn ſchon darum, denn er iſt dann eben
ein guter Menſch. Mehr brauch' ich von ihm gar nicht
zu wiſſen. Übrigens konnt' es kaum anders ſein. Der
Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Aber auch um¬
gekehrt: wenn ich den Apfel kenne, kenn' ich auch den
Stamm ... Und wer war denn noch da? Ich meine,
von Verwandtſchaft?“
„Nur noch Tante Adelheid von Kloſter Wutz,“
ſagte Armgard.
„Das iſt die Schweſter des Alten?“
„Ja, Papa. Ältere Schweſter. Wohl um zehn
Jahr älter und auch nur Halbſchweſter. Und eine
Domina.“
„Sehr fromm?“
„Das wohl eigentlich nicht.“
„Du biſt ſo einſilbig, Sie ſcheint dir nicht recht
gefallen zu haben.“
Armgard ſchwieg.
[379]
„Nun, Meluſine, dann ſprich du. Nicht fromm
alſo; das iſt gut. Aber vielleicht hautaine?“
„Faſt könnte man's ſagen,“ antwortete Meluſine.
„Doch paßt es auch wieder nicht recht, ſchon deshalb
nicht, weil es ein franzöſiſches Wort iſt. Tante Adel¬
heid iſt eminent unfranzöſiſch.“
„Ah, ich verſteh'. Alſo komiſche Figur.“
„Auch das nicht ſo recht, Papa. Sagen wir ein¬
fach, zurückgeblieben, vorweltlich.“
Der alte Graf lachte. „Ja, das iſt in allen alten
Familien ſo, vor allem bei reichen und vornehmen
Juden. Kenne das noch von Wien her, wo man über¬
haupt ſolche Fragen ſtudieren kann. Ich verkehrte da
viel in einem großen Banquierhauſe, drin alles nicht
bloß voll Glanz, ſondern auch voll Orden und Uniformen
war. Faſt zuviel davon. Aber mit einem Male traf
ich in einer Ecke, ganz einſam und doch beinah' ver¬
gnüglich, einen merkwürdigen Urgreis, der wie der alte
Gobbo — der in dem Stück von Shakeſpeare vorkommt
— ausſah und als ich mich ſpäter bei einem Tiſch¬
nachbar erkundigte, ‚wer denn das ſei‘, da hieß es: ‚Ach,
das iſt ja Onkel Manaſſe‘. Solche Onkel Manaſſes
giebt es überall, und ſie können unter Umſtänden auch
‚Tante Adelheid‘ heißen.“
Daß der alte Graf das ſo leicht nahm, erfreute
die Töchter ſichtlich, und als Jeſerich bald danach das
Theezeug brachte, wurd' auch Armgard mitteilſamer und
erzählte zunächſt von Superintendent Koſeleger und Paſtor
Lorenzen, danach vom Stechlinſee (der ganz überfroren
geweſen ſei, ſo daß ſie die berühmte Stelle nicht hätten
ſehen können) und zuletzt von dem Muſeum und den
Wetterfahnen.
Dieſe waren das, was den alten Grafen am meiſten
intereſſierte. „Wetterfahnen, ja, die müſſen geſammelt
werden, nicht bloß alte Dragoner in Blech geſchnitten,
[380] ſondern auch allermodernſte Silhouetten, ſagen wir aus
der Diplomatenloge. Da kommt dann ſchon eine ganz hübſche
Galerie zuſammen. Und wißt ihr, Kinder, das mit dem
Muſeum giebt mir erſt eine richtige Vorſtellung von dem
Alten und eine volle Befriedigung, beinah' mehr noch,
als daß ihm Meluſine gefallen hat. Ich bin ſonſt nicht
für Sammler. Aber wer Wetterfahnen ſammelt, das will
doch was ſagen, das iſt nicht bloß eine gute Seele,
ſondern auch eine kluge Seele, denn es is da ſo was
drin, wie ein Fingerknips gegen die Geſellſchaft. Und
wer den machen kann, das iſt mein Mann, mit dem kann
ich leben.“
Man blieb nicht lange mehr beiſammen; beide
Schweſtern, ziemlich ermüdet von der Tagesanſtrengung,
zogen ſich früh zurück, aber ihr Geſpräch über Schloß
Stechlin und die beiden Geiſtlichen und vor allem über
die Domina (gegen die Meluſine heftig eiferte) ſetzte ſich
noch in ihrem Schlafzimmer fort.
„Ich glaube,“ ſagte Armgard, „du legſt zu viel Ge¬
wicht auf das, was du das Äſthetiſche nennſt. Und
Woldemar thut es leider auch. Er läßt auf ſeine Mark
Brandenburg ſonſt nichts kommen, aber in dieſem Punkte
ſpricht er beinah' ſo wie du. Wohin er blickt, überall
vermißt er das Schönheitliche. Das Wenige, was da¬
nach ausſieht, ſo klagt er beſtändig, ſei bloß Nachahmung.
Aus eignem Trieb heraus würde hier nichts derart ge¬
boren.“
„Und daß er ſo klagt, das iſt das, was ich ſo ziem¬
lich am meiſten an ihm ſchätze. Du meinſt, daß ich, wenn
ich von der Domina ſpreche, zu viel Gewicht auf dieſe
doch bloß äußerlichen Dinge lege. Glaube mir, dieſe
Dinge ſind nicht bloß äußerlich. Wer kein feines Gefühl
hat, ſei's in Kunſt, ſei's im Leben, der exiſtiert für mich
[381] überhaupt nicht und für meine Freundſchaft und Liebe nun
ſchon ganz gewiß nicht. Da haſt du mein Programm. Unſer
ganzer Geſellſchaftszuſtand, der ſich wunder wie hoch
dünkt, iſt mehr oder weniger Barbarei; Lorenzen, von dem
du doch ſo viel hältſt, hat ſich ganz in dieſem Sinne gegen
mich ausgeſprochen. Ach, wie weit voraus war uns doch die
Heidenzeit, die wir jetzt ſo verſtändnislos bemängeln! Und
ſelbſt unſer ‚dunkles Mittelalter‘ — ſchönheitlich ſtand es
höher als wir, und ſeine Scheiterhaufen, wenn man nicht
gleich ſelbſt an die Reihe kam, waren gar nicht ſo ſchlimm.“
„Ich erlebe noch,“ lachte Armgard, „daß du 'nen
neuen Kreuzzug oder ähnliches predigſt. Aber wir ſind
von unſerm eigentlichen Thema ganz abgekommen, von
der Domina. Du ſagteſt, ihre Gefühle widerſprächen ſich
untereinander. Welche Gefühle?“
„Darauf iſt leicht Antwort geben. Erſt beglück¬
wünſcht ſie ſich zu ſich ſelbſt, und hinterher ärgert ſie ſich
über ſich ſelbſt. Und daß ſie das muß, daran ſind wir
ſchuld, und das kann ſie uns nicht verzeihn.“
„Ich würde vielleicht zuſtimmen, wenn das, was du
da ſagſt, nicht ſo ſehr eitel klänge ... Sie hat übrigens
einen guten Verſtand.“
„Den hat ſie, gewiß, den haben ſie alle hier oder doch
die meiſten. Aber ein guter Verſtand, ſo viel er iſt, iſt
auch wieder recht wenig und ſchließlich — ich muß leider
zu dieſem Berolinismus greifen — iſt dieſe gute Do¬
mina doch nichts weiter als eine Stakete, lang und ſpitz.
Und nicht mal grüngeſtrichen.“
„Und der Alte? Der wenigſtens wird doch vor deiner
Kritik beſtehn.“
„O, der; der iſt hors concours und geht noch über
Woldemar hinaus. Was meinſt du, wenn ich den Alten
heiratete?“
„Sprich nicht ſo, Meluſine. Ich weiß ja recht gut,
wie das alles von dir gemeint iſt, Übermut und wieder
[382] Übermut. Aber er iſt doch am Ende noch nicht ſo ſtein¬
alt. Und du, ſo lieb ich dich habe, du biſt ſchließlich
imſtande, dich in ſolche Kompliziertheiten von Schwieger¬
vater und Schwager, alles in einem, und wo möglich
noch allerhand dazu, zu verlieben.“
„Jedenfalls mehr als in den, der dieſe Kompliziert¬
heiten darſtellt oder gar erſt ſchaffen ſoll ... Alſo, ſei
ruhig, freundlich Element.“
Dreiunddreißigſtes Kapitel.
Das war in den letzten Dezembertagen; auf Ende
Februar hatte man die Hochzeit des jungen Paares feſt¬
geſetzt. In der Zwiſchenzeit war ſeitens des alten Grafen
erwogen worden, ob die Trauung nicht doch vielleicht auf einem
der Barbyſchen Elbgüter ſtattfinden ſolle, die Braut ſelbſt
aber war dagegen geweſen und hatte mit einer ihr ſonſt
nicht eignen Lebhaftigkeit verſichert: ſie hänge an der
Armee, weshalb ſie — ganz abgeſehn von ihrem teuren
Frommel — die Berliner Garniſonkirche weit vorziehe.
Daß dieſe, nach Anſicht vieler, bloß ein großer Schuppen
ſei, habe für ſie gar keine Bedeutung; was ihr an der
Garniſonkirche ſo viel gelte, das ſeien die großen Erinne¬
rungen und ein Gotteshaus, drin die Schwerins und die
Zietens ſtänden (und wenn ſie nicht drin ſtänden, ſo doch
andre, die kaum ſchlechter wären) — eine hiſtoriſch ſo be¬
vorzugte Stelle wäre ihr an ihrem Trautage viel lieber als
ihre Familienkirche, trotz der Särge ſo vieler Barbys
unterm Altar. Woldemar war ſehr glücklich darüber,
ſeine Braut ſo preußiſch-militäriſch zu finden, die denn
auch, als einmal die Zukunft und mit ihr die Frage nach
‚Verbleib oder Nichtverbleib‘ in der Armee durchgeſprochen
wurde, lachend erwidert hatte: „Nein Woldemar, nicht
jetzt ſchon Abſchied; ich bin ſehr für Freiheit, aber doch
beinah’ mehr noch für Major.“
[384]
Auf drei Uhr war die Trauung feſtgeſetzt. Schon
eine halbe Stunde vorher erſchien der Brautwagen und
hielt vor dem Schickedanzſchen Hauſe, deſſen Flur auszu¬
ſchmücken, ſich die Frau Verſicherungsſekretärin nicht hatte
nehmen laſſen. Von der Treppe bis auf das Trottoir
hinaus waren zu beiden Seiten Blumeneſtraden aufgeſtellt,
auf denen die Lieblinge der Frau Schickedanz in einer
Schönheit und Fülle ſtanden, als ob es ſich um eine Mai¬
blumenausſtellung gehandelt hätte. Hinter den verſchiedenen
Eſtraden aber hatten alle Hausbewohner Aufſtellung ge¬
nommen, Lizzi, Frau Imme und ſämtliche Hartwichs und
natürlich auch Hedwig, die, nach ganz kurzem Dienſt im
Kommerzienrat Seligmannſchen Hauſe, vor etwa acht
Tagen ihre Stelle wieder aufgegeben hatte.
„Gott, Hedwig, war es denn wieder ſo was?“
„Nein, Frau Imme, diesmal war es mehr.“
Frommel traute. Die Kirche war dicht beſetzt, auch
von bloß Neugierigen, die ſich, ehe die große Orgel
einſetzte, die merkwürdigſten Dinge mitzuteilen hatten.
Die Barbys ſeien eigentlich Italiener aus der Gegend
von Neapel, und der alte Graf, was man ihm auch
noch anſehe, ſei in ſeinen jungen Jahren unter den
Carbonaris geweſen; aber mit einem Male hab' er ge¬
ſchwenkt und ſei zum Verräter an ſeiner heiligen Sache
geworden. Und weil in ſolchem Falle jedesmal einer zur
Vollſtreckung der Gerechtigkeit ausgeloſt würde (was der
Graf auch recht gut gewußt habe), hab' er vorſichtiger¬
weiſe ſeine ſchöne Heimat verlaſſen und ſei nach Berlin
gekommen und ſogar an den Hof. Und Friedrich Wil¬
helm IV., der ihn ſehr gern gemocht, hab' auch immer
italieniſch mit ihm geſprochen.
[385]
Das Hochzeitsmahl fand im Barbyſchen Hauſe
ſtatt, notgedrungen en petit comité, da das große
Mittelzimmer, auch bei geſchickteſter Anordnung, immer
nur etwa zwanzig Perſonen aufnehmen konnte. Der
weitaus größte Teil der Geſellſchaft ſetzte ſich aus uns
ſchon bekannten Perſonen zuſammen, obenan natürlich
der alte Stechlin. Er war gern gekommen, trotzdem
ihm die Weltabgewandtheit, in der er lebte, den Ent¬
ſchluß anfänglich erſchwert hatte. Tante Adelheid fehlte.
„Tröſten wir uns,“ ſagte Meluſine mit einer ihr kleiden¬
den Überheblichkeit. Selbſtverſtändlich waren die Berchtes¬
gadens da, desgleichen Rex und Czako, ſowie Cujacius
und Wrſchowitz. Außerdem ein, behufs Abſchluß ſeiner
landwirtſchaftlichen Studien, erſt ſeit kurzem in Berlin
lebender junger Baron von Planta, Neffe der verſtorbenen
Gräfin, zu dem ſich zunächſt ein Premierlieutenant von
Szilagy (Freund und früherer Regimentskamerad von
Woldemar) und des weiteren ein Dr. Puſch geſellte, den die
Barbys noch von ihren Londoner Tagen her gut kannten.
Dem Brautpaare gegenüber ſaßen die beiden Väter, be¬
ziehungsweiſe Schwiegerväter. Da weder der eine noch
der andre zu den Rednern zählte, ſo ließ Frommel das
Brautpaar in einem Toaſte leben, drin Ernſt und Scherz,
Chriſtlichkeit und Humor in glücklichſter Weiſe verteilt
waren. Alles war entzückt, der alte Stechlin, Frommels
Tiſchnachbar, am meiſten. Beide Herren hatten ſich ſchon
vorher angefreundet, und als nach Erledigung des offi¬
ziellen Toaſtes das Tiſchgeſpräch ganz allgemein wieder
in Konverſation mit dem Nachbar überging, ſahen ſich
Frommel und der alte Stechlin in Anknüpfung einer
intimeren Privatunterhaltung nicht weiter behindert.
„Ihr Herr Sohn,“ ſagte Frommel, „wovon ich
mich perſönlich überzeugen konnte, wohnt ſehr hübſch.
Darf ich daraus ſchließen, daß Sie ſich bei ihm ein¬
logiert haben?“
„Nein, Herr Hofprediger. So bei Kindern wohnen
iſt immer mißlich. Und mein Sohn weiß das auch;
er kennt den Geſchmack oder meinetwegen auch bloß
die Schrullenhaftigkeit ſeines Vaters, und ſo hat er
mich, was immer das beſte bleibt, in einem Hotel
untergebracht.“
„Und Sie ſind da zufrieden?“
„Im höchſten Maße, wiewohl es ein bißchen über
mich hinausgeht. Ich bin noch aus der Zeit von Hotel
de Brandebourg, an dem mich immer nur die Franzöſierung
ärgerte, — ſonſt alles vorzüglich. Aber ſolche Gaſthäuſer
ſind eben, ſeit wir Kaiſer und Reich ſind, mehr oder
weniger altmodiſch geworden, und ſo bin ich denn durch
meinen Sohn im Hotel Briſtol untergebracht worden.
Alles erſten Ranges, kein Zweifel, wozu noch kommt,
daß mich der bloße Name ſchon erheitert, der neuer¬
dings jeden Mitbewerb ſo gut wie ausſchließt. Als ich
noch Lieutenant war, freilich lange her, mußten alle
Witze von Glasbrenner oder von Beckmann ſein. Beck¬
mann war erſter Komiker, und wenn man in Geſell¬
ſchaft ſagte: ‚da hat ja wieder der Beckmann ...‘ ſo
war man mit ſeiner Geſchichte ſo gut wie 'raus. Und
wie damals mit den Witzen, ſo heute mit den Hotels.
Alle müſſen ‚Briſtol‘ heißen. Ich zerbreche mir den Kopf
darüber, wie gerade Briſtol dazu kommt. Briſtol iſt
doch am Ende nur ein Ort zweiten Ranges, aber Hotel
Briſtol iſt immer prima. Ob es hier wohl Menſchen
giebt, die Briſtol je geſehn haben? Viele gewiß nicht,
denn Schiffskapitäne, die zwiſchen Briſtol und New-
York fahren, ſind in unſerm guten Berlin immer noch
Raritäten. Übrigens darf ich bei allem Reſpekt vor
meinem berühmten Hotel ſagen, unberühmte ſind meiſt
intereſſanter. So zum Beiſpiel bayriſche Wirtshäuſer
im Gebirge, wo man eine dicke Wirtin hat, von der
es heißt, ſie ſei mal ſchön geweſen, und ein Kaiſer oder
[387] König habe ihr den Hof gemacht. Und dazu dann
Forellen und ein Landjäger, der eben einen Wilderer
oder Haberfeldtreiber über den ſtillen See bringt. An
ſolchen Stellen iſt es am ſchönſten. Und iſt der See
aufgeregt, ſo iſt es noch ſchöner. Das alles würde
mir unſer Baron Berchtesgaden, der da drüben ſitzt,
gewiß gern beſtätigen und Sie, Herr Hofprediger, be¬
ſtätigen es mir ſchließlich auch. Denn mir fällt eben
ein, Sie waren ja mit unſerm guten Kaiſer Wilhelm,
dem letzten Menſchen, der noch ein wirklicher Menſch
war, immer in Gaſtein zuſammen und viel an ſeiner
Seite. Jetzt hat man ſtatt des wirklichen Menſchen den
ſogenannten Übermenſchen etabliert; eigentlich giebt es
aber bloß noch Untermenſchen, und mitunter ſind es
gerade die, die man durchaus zu einem „Über“ machen
will. Ich habe von ſolchen Leuten geleſen und auch
welche geſehn. Ein Glück, daß es, nach meiner Wahr¬
nehmung, immer entſchieden komiſche Figuren ſind,
ſonſt könnte man verzweifeln. Und daneben unſer alter
Wilhelm! Wie war er denn ſo, wenn er ſo ſtill ſeine
Sommertage verbrachte? Können Sie mir was von
ihm erzählen? So was, woran man ihn ſo recht
eigentlich erkennt.“
„Ich darf ſagen ‚ja‘, Herr von Stechlin. Habe
ſo was mit ihm erlebt. Eine ganz kleine Geſchichte;
aber das ſind gerade die beſten. Da hatten wir mal
einen ſchweren Regentag in Gaſtein, ſo daß der alte
Herr nicht ins Freie kam, und ſtatt draußen in den
Bergen, in ſeinem großen Wohnzimmer ſeinen gewohnten
Spaziergang machen mußte, ſo gut es eben ging. Unter
ihm aber (was er wußte) lag ein Schwerkranker. Und
nun denken Sie ſich, als ich bei dem guten alten Kaiſer
eintrete, ſeh' ich ihn, wie er da lange Läufer und
Teppiche zuſammenſchleppt und übereinander packt, und
als er mein Erſtaunen ſieht, ſagt er mit einem unbe¬
25*[388] ſchreiblichen und mir unvergeßlichen Lächeln: ‚Ja, lieber
Frommel, da unter mir liegt ein Kranker; ich mag nicht,
daß er die Empfindung hat, ich trample ihm da ſo
über den Kopf hin ...‘ Sehn Sie, Herr von Stechlin,
da haben Sie den alten Kaiſer.“
Dubslav ſchwieg und nickte. „Wie beneid' ich Sie,
ſo was erlebt zu haben,“ hob er nach einer Weile an.
„Ich kannt' ihn auch ganz gut, das heißt in Tagen,
wo er noch Prinz Wilhelm war, und dann oberflächlich
auch ſpäter noch. Aber ſeine eigentliche Zeit iſt doch
ſeine Kaiſerzeit.“
„Gewiß, Herr von Stechlin. Es wächſt der Menſch
mit ſeinen größern Zwecken.“
„Richtig, richtig,“ ſagte Dubslav, „das ſchwebte
mir auch vor; ich konnt' es bloß nicht gleich finden.
Ja, ſo war er, und ſo einen kriegen wir nicht wieder.
Übrigens ſag' ich das in aller Reverenz. Denn ich bin
kein Frondeur. Fronde mir gräßlich und paßt nicht für
uns. Bloß mitunter, da paßt ſie doch vielleicht.“
Inzwiſchen war die ſiebente Stunde herangekommen
und um halb acht ging der Zug, mit dem das junge
Paar noch bis Dresden wollte, dieſer herkömmlich erſten
Etappe für jede Hochzeitsreiſe nach dem Süden. Man
erhob ſich von der Tafel, und während die Gäſte,
bunte Reihe machend, untereinander zu plaudern be¬
gannen, zogen ſich Woldemar und Armgard unbemerkt
zurück. Ihr Reiſegepäck war ſeit einer Stunde ſchon
voraus, und nun hielt auch der vierſitzige Wagen vor
dem Barbyſchen Hauſe. Die Baronin und Meluſine
hatten ſich zur Begleitung des jungen Paares [mitein¬
ander] verabredet und nahmen jetzt, ohne daß Wol¬
demar und Armgard es hindern konnten, die beiden
[389] Rückſitze des Wagens ein. Das ergab aber, beſonders
zwiſchen den zwei Schweſtern, eine vollkommene Rang-
und Höflichkeitsſtreiterei. „Ja, wenn es jetzt in die
Kirche ginge,“ ſagte Armgard, „ſo hätteſt du recht.
Aber unſer Wagen iſt ja ſchon wieder ein ganz einfacher
Landauer geworden, und Woldemar und ich ſind, vier
Stunden nach der Trauung, ſchon wider wie zwei ge¬
wöhnliche Menſchen. Und ſich deſſen bewußt zu werden,
damit kann man nicht früh genug anfangen.“
„Armgard, du wirſt mir zu geſcheit,“ ſagte Me¬
luſine.
Man einigte ſich zuletzt, und als der Wagen am
Anhalter Bahnhof eintraf, waren Rex und Czako bereits
da, — beide mit Rieſenſträußen, — zogen ſich aber un¬
mittelbar nach Überreichung ihrer Bouquets wieder zurück.
Nur die Baronin und Meluſine blieben noch auf dem
Bahnſteig und warteten unter lebhafter Plauderei bis
zum Abgange des Zuges. In dem von dem jungen
Paare gewählten Coupé befanden ſich noch zwei Reiſende;
der eine, blond und artig und mit goldener Brille,
konnte nur ein Sachſe ſein, der andre dagegen, mit
Pelz und Juchtenkoffer, war augenſcheinlich ein „Inter¬
nationaler“ aus dem Oſten oder ſelbſt aus dem Süd¬
oſten Europas.
Nun aber hörte man das Signal, und der Zug
ſetzte ſich in [Bewegung].
Die Baronin und Meluſine grüßten noch mit ihren
Tüchern. Dann beſtiegen ſie wieder den draußen haltenden
Wagen. Es war ein herrliches Wetter, einer jener Vor¬
frühlingstage, wie ſie ſich gelegentlich ſchon im Februar
einſtellen.
„Es iſt ſo ſchön,“ ſagte Meluſine. „Benutzen
wir's. Ich denke, liebe Baronin, wir fahren hier zu¬
[390] nächſt am Kanal hin in den Tiergarten hinein und dann
an den Zelten vorbei bis in Ihre Wohnung.“
Eine Weile ſchwiegen beide Damen; im Augenblick
aber, wo ſie von dem holprigen Pflaſter in den ſtillen
Aſphaltweg einbogen, ſagte die Baronin: „Ich begreife
Stechlin nicht, daß er nicht ein Coupé apart genommen.“
Meluſine wiegte den Kopf.
„Den mit der goldenen Brille,“ fuhr die Baronin
fort, „den nehm' ich nicht ſchwer. Ein Sachſe thut
keinem was und iſt auch kaum eine Störung. Aber
der andre mit dem Juchtenkoffer. Er ſchien ein Ruſſe,
wenn nicht gar ein Rumäne. Die arme Armgard.
Nun hat ſie ihren Woldemar und hat ihn auch wieder
nicht.“
„Wohl ihr.“
„Aber Gräfin ...“
„Sie ſind verwundert, liebe Baronin, mich das
ſagen zu hören. Und doch hat's damit nur zu ſehr
ſeine Richtigkeit: gebranntes Kind ſcheut das Feuer.“
„Aber Gräfin ...“
„Ich verheiratete mich, wie Sie wiſſen, in Florenz
und fuhr an demſelben Abende noch bis Venedig.
Venedig iſt in einem Punkte ganz wie Dresden: näm¬
lich erſte Station bei Vermählungen. Auch Ghiberti
— ich ſage immer noch lieber ‚Ghiberti‘ als ‚mein
Mann‘; ‚mein Mann‘ iſt überhaupt ein furchtbares
Wort — auch Ghiberti alſo hatte ſich für Venedig ent¬
ſchieden. Und ſo hatten wir denn den großen Apennin¬
tunnel zu paſſieren.“
„Weiß, weiß. Endlos.“
„Ja, endlos. Ach, liebe Baronin, wäre doch da
wer mit uns geweſen, ein Sachſe, ja ſelbſt ein Rumäne.
Wir waren aber allein. Und als ich aus dem Tunnel
heraus war, mußt' ich, welchem Elend ich entgegenlebte.“
„Liebſte Meluſine, wie beklag' ich Sie; wirklich,
[391] teuerſte Freundin, und ganz aufrichtig. Aber ſo gleich
ein Tunnel. Es iſt doch auch wie ein Schickſal.“
Rex und Czako hatten ſich unmittelbar nach Über¬
reichung ihrer Bouquets vom Bahnhof her in die
Königgrätzerſtraße zurückgezogen, und hier angekommen,
ſagte Czako: „Wenn es Ihnen recht iſt, Rex, ſo gehen
wir bis in das Reſtaurant Bellevue.“
„Taſſe Kaffee?“
„Nein; ich möchte gern was ordentliches eſſen.
Drei Löffel Suppe, 'ne Forelle en miniature und ein
Poulardenflügel, — das iſt zu wenig für meine Ver¬
hältniſſe. Rund heraus, ich habe Hunger.“
„Sie werden ſich zu gut unterhalten haben.“
„Nein, auch das nicht. Unterhaltung ſättigt außerdem,
wenigſtens Menſchen, die wie ich, wenn Sie auch drüber
lachen, aufs Geiſtige geſtellt ſind. Ein bißchen mag
ich übrigens an meinem elenden Zuſtande ſelbſt ſchuld
ſein. Ich habe nämlich immer nur die Gräfin an¬
geſehn und begreife nach wie vor unſren Stechlin nicht.
Nimmt da die Schweſter! Er hatte doch am Ende die
Wahl. Der kleine Finger der Gräfin (und ihr kleiner Zeh'
nun ſchon ganz gewiß) iſt mir lieber als die ganze Comteſſe.“
„Czako, Sie werden wieder frivol.“
Vierunddreißigſtes Kapitel.
Unter den Hochzeitsgäſten hatte ſich, wie ſchon kurz
erwähnt, auch ein Dr. Puſch befunden, ein gewandter
und durchaus weltmänniſch wirkender Herr mit gepflegtem,
aber ſchon angegrautem Backenbart. Er war vor etwa
fünfundzwanzig Jahren an der Aſſeſſorecke geſcheitert und
hatte damals nicht Luſt gehabt, ſich ein zweites Mal
in die Zwickmühle nehmen zu laſſen. „Das Studium
der Juriſterei iſt langweilig und die Carriere hinterher
miſerabel“ — ſo war er denn als Korreſpondent für
eine große rheiniſche Zeitung nach England gegangen
und hatte ſich dort auf der deutſchen Botſchaft einzu¬
führen gewußt. Das ging ſo durch Jahre. Ziemlich
um dieſelbe Zeit aber, wo der alte Graf ſeine Londoner
Stellung aufgab, war auch Dr. Puſch wieder flügge ge¬
worden und hatte ſich nach Amerika hinüber begeben.
Er fand indeſſen das Freie dort freier, als ihm lieb war,
und kehrte ſehr bald, nachdem er es erſt in New-York, dann
in Chicago verſucht hatte, nach Europa zurück. Und
zwar nach Deutſchland. „Wo ſoll man am Ende leben?“
Unter dieſer Betrachtung nahm er ſchließlich in Berlin
wieder ſeinen Wohnſitz. Er war ungeniert von Natur
und ein klein wenig überheblich. Als wichtigſtes Er¬
eignis ſeiner letzten ſieben Jahre galt ihm ſein Übertritt
vom Pilſener zum Weihenſtephan. „Sehen Sie, meine
Herren, vom Weihenſtephan zum Pilſener, das kann
[393] jeder; aber das Umgekehrte, das iſt was. Chineſen
werden chriſtlich, gut. Aber wenn ein Chriſt ein Chineſe
wird, das iſt doch immer noch eine Sache von Belang.“
Puſch, als er ſich in Berlin niederließ, hatte ſich
auch bei den Barbys wieder eingeführt; Meluſine ent¬
ſann ſich ſeiner noch, und der alte Graf war froh, die
zurückliegenden Zeiten wieder durchſprechen und von
Sandrigham und Hatfieldhouſe, von Chatsworth und
Pembroke-Lodge plaudern zu können. Eigentlich paßte
der etwas weitgehende Ungeniertheitston, in dem der
Doktor ſeiner Natur wie ſeiner New-Yorker Schulung
nach zu ſprechen liebte, nicht ſonderlich zu den Gepflogen¬
heiten des alten Grafen; aber es lag doch auch wieder
ein gewiſſer Reiz darin, ein Reiz, der ſich noch ver¬
doppelte durch das, was Puſch aus aller Welt Enden
mitzuteilen wußte. Brillanter Korreſpondent, der er war,
unterhielt er Beziehungen zu den Miniſterien und, was
faſt noch ſchwerer ins Gewicht fiel, auch zu den Ge¬
ſandtſchaften. Er hörte das Gras wachſen. Auf Titu¬
laturen ließ er ſich nicht ein; die vielen Telegramme
hatten einen gewiſſen allgemeinen Telegrammſtil in ihm
gezeitigt, deſſen er ſich nur entſchlug, wenn er ins Aus¬
malen kam. Es war im Zuſammenhang damit, daß er
gegen Worte wie: „Wirklicher Geheimer Ober-Regierungs¬
rat“ einen förmlichen Haß unterhielt. Herzog von Ujeſt
oder Herzog von Ratibor waren ihm, trotz ihrer Kürze,
immer noch zu lang, und ſo warf er denn ſtatt ihrer
einfach mit ‚Hohenlohes‘ um ſich. In der That, er
hatte mancherlei Schwächen. Aber dieſe waren doch
auch wieder von eben ſo vielen Tugenden begleitet. So
beiſpielsweiſe ſah er über alles, was ſich an Liebes¬
geſchichten ereignete, mit einer beinah’ vornehmen Gleich¬
gültigkeit hinweg, was manchem ſehr zu patz kam. Ob
dies Drüberhinſehn bloß Geſchäftsmaxime war, oder ob
er all dergleichen einfach alltäglich und deshalb mehr
[394] oder weniger langweilig fand, war nicht recht feſtzuſtellen;
er kultivierte dafür mit Vorliebe das Finanzielle, viel¬
leicht davon ausgehend, daß, wer die Finanzen hat,
auch ſelbſtverſtändlich alles andere hat, beſonders die
Liebe.
Das war Dr. Puſch. Er ſchloß ſich, als man auf¬
brach, einer Gruppe von Perſonen an, die den „an¬
geriſſenen Abend“ noch in einem Lokal verbringen wollten.
„Ja, wo?“
„Natürlich Siechen.“
„Ach, Siechen. Siechen iſt für Philiſter.“
„Nun denn alſo, beim ,ſchweren Wagner‘.“
„Noch philiſtröſer. Ich bin für Weihenſtephan.“
„Und ich für Pilſener.“
Man einigte ſich ſchließlich auf ein Lokal in der
Friedrichſtraße, wo man beides haben könne.
Die Herren, die dahin aufbrachen, waren außer
Puſch noch der junge Baron Planta, dann Cujacius
und Wrſchowitz und abſchließend Premierleutnant von
Szilagy, der, wie ſchon angedeutet, früher bei den Garde¬
dragonern geſtanden, aber wegen einer großen General¬
begeiſterung für die Künſte, das Malen und Dichten
obenan, ſchon vor etlichen Jahren ſeinen Abſchied ge¬
nommen hatte. Mit ſeinen Genrebildern war er nicht
recht von der Stelle gekommen, weshalb er ſich neuer¬
dings der Novelleſtik zugewandt und einen Sammelband
unter dem beſcheidenen Titel „Bellis perennis“ ver¬
öffentlicht hatte. Lauter kleine Liebesgeſchichten.
Alle fünf Herren, mit alleiniger Ausnahme des jungen
Graubündner Barons, erwieſen ſich von Anfang an als
ziemlich aufgeregt und jeder ihnen Zuhörende hätte ſofort
das Gefühl haben müſſen, daß hier viel Exploſionsſtoff
aufgehäuft ſei. Trotzdem ging es zunächſt gut; Wrſcho¬
witz hielt ſich in Grenzen, und ſelbſt Cujacius, der nicht
gern andern das Wort ließ, freute ſich über Puſchs
[395] Schwadronage, vielleicht weil er nur das heraushörte,
was ihm gerade paßte.
Leutnant von Szilagy — man kam vom Hun¬
dertſten aufs Tauſendſte — wurde bei den Fragen, die
hin und her gingen, von ungefähr auch nach ſeinem
Novellenbande gefragt und ob er Freude daran gehabt habe.
„Nein, meine Herren,“ ſagte Szilagy, „das kann
ich leider nicht ſagen. Ich habe Bellis perennis auf
eigne Koſten herſtellen laſſen und hundertzehn Rezenſions¬
exemplare verſchickt, unter Beilegung eines Zettels; der
iſt denn auch von einigen Zeitungen abgedruckt worden,
aber nur von ganz wenigen. Im übrigen ſchweigt die Kritik.“
„O, Krittikk,“ ſagte Wrſchowitz. „Ich liebe Krittikk.
Aber gutte Krittikk ſchweigt.“
„Und doch,“ fuhr Szilagy fort, der ſich in dem
etwas delphiſchen Ausſpruch des guten Wrſchowitz nicht
gleich zurecht finden konnte, „doch ſind dieſe ſchmerzlichen
Gefühle nichts gegen das, was voraufgegangen. Ich
unterhielt nämlich vor Erſcheinen des Buches ſelbſt die
Hoffnung in mir, einige dieſer kleinen Arbeiten in einem
Parteiblatt und, als dies mißlang, in einem Familien¬
journal unterbringen zu können. Aber ich ſcheiterte ...“
„Ja, natürlich ſcheiterten Sie,“ ſagte Puſch, „das
ſpricht für Sie. Laſſen Sie ſich ſagen und raten, denn
ich weiß in dieſen Dingen einigermaßen Beſcheid. War
nämlich drüben, ja ich darf beinah' ſagen, ich war
doppelt drüben, erſt drüben in England und dann drüben
in Amerika. Da verſteht man's. Ja, du lieber Himmel,
dies bedruckte Löſchpapier! Man lebt davon und es
regiert eigentlich die Welt. Aber, aber ... Und dabei,
wenn ich recht gehört habe, ſprachen Sie von Partei¬
blatt, — furchtbar. Und dann ſprachen Sie von Familien¬
journal, — zweimal furchtbar!“
„Haben Sie ſelbſt Erfahrungen gemacht auf dieſem
ſchwierigen Gebiete?“
„Nein, Herr von Szilagy, ſo tief ließ mich die
Gnade nicht ſinken. Aber ich treibe mein Weſen über
dem Strich, und wenn man ſo Wand an Wand wohnt,
da weiß man doch einigermaßen, wie's bei dem Nachbar
ausſieht. Ach, und außerdem, wie ſo mancher hat mir ſein
Herz ausgeſchüttet und mir dabei ſeine liebe Not geklagt!
Wer's nicht leicht nimmt, der iſt verloren. Roman,
Erzählung, Kriminalgeſchichte. Jeder, der der großen
Maſſe genügen will, muß ein Loch zurückſtecken. Und
wenn er das redlich gethan hat, dann immer noch eins.
Es giebt eine Normalnovelle. Etwa ſo: tiefverſchuldeter
adeliger Aſſeſſor und ‚Sommerleutnant‘ liebt Gouver¬
nante von ſtupender Tugend, ſo ſtupende, daß ſie, wenn
geprüft, ſelbſt auf dieſem ſchwierigſten Gebiete beſtehen
würde. Plötzlich aber iſt ein alter Onkel da, der den
halb entgleiſten Neffen an eine reiche Couſine ſtandes¬
gemäß zu verheiraten wünſcht. Höhe der Situation!
Drohendſter Konflikt. Aber in dieſem bedrängten Moment
entſagt die Couſine nicht nur, ſondern vermacht ihrer
Rivalin auch ihr Geſamtvermögen. Und wenn ſie nicht
geſtorben ſind, ſo leben ſie heute noch ... Ja, Herr von
Szilagy, wollen Sie damit konkurrieren?“
Alles ſtimmte zu; nur Baron Planta meinte:
„Dr. Puſch, pardon, aber ich glaube beinah', Sie über¬
treiben. Und Sie wiſſen es auch.“
Puſch lachte: „Wenn man etwas derart ſagt, über¬
treibt man immer. Wer ängſtlich abwägt, ſagt gar
nichts. Nur die ſcharfe Zeichnung, die ſchon die Karri¬
katur ſtreift, macht eine Wirkung. Glauben Sie, daß
Peter von Amiens den erſten Kreuzzug zuſammen ge¬
trommelt hätte, wenn er ſo etwa beim Erdbeerpflücken
einem Freunde mitgeteilt hätte, das Grab Chriſti ſei
vernachläſſigt, und es müſſe für ein Gitter geſorgt
werden?!“
„Sehr gutt, ſehr gutt.“
[397]„Und ſo auch, meine Herren, wenn ich von
moderner Litteratur ſpreche. Herr von Szilagy, den
wir ſo glücklich ſind, unter uns zu ſehn, ſoll aufgerichtet,
ſeine Seele ſoll mit neuem Vertrauen erfüllt werden.
Oder aber mit Heiterkeit, was noch beſſer iſt. Er ſoll
wieder lachen können. Und wenn man ſolche Wirkung er¬
zielen will, ja, dann muß man eben deutlich und zugleich
etwas phantaſtiſch ſprechen. Indeſſen auch ernſthaft an¬
geſehen, wie ſteht es denn mit der Herſtellung (ich ver¬
meide mit Vorbedacht das Wort ‚Schöpfung‘) oder
gar mit dem Verſchleiß der meiſten dieſer Dinge!
Laſſen Sie mich in einem Bilde ſprechen. Da haben
wir jetzt in unſern Blumenläden allerlei Kränze, voran
den aus Eichenlaub und Lorbeer beſtehenden und meiſt
noch behufs beſſerer Dauerbarkeit auf eine herzhafte
Weidenrute geflochtenen Urkranz. Und [n]un treten Sie,
je nach der Situation, an die ſich I[n]hen mit betrübter
oder auch mit lächelnder Miene nähernde Kranzbinderin
heran, um zu Begräbnis oder Trauung Ihre Beſtellung
zu machen, zu drei Mark oder zu fünf oder zu zehn.
Und genau dieſer Beſtellung entſprechend, werden in den
vorgeſchilderten Urkranz etliche Georginen oder Teichroſen
eingebunden und bei ſtattgehabter Höchſtbewilligung ſogar
eine Orchidee von ganz unglaublicher Form und Farbe.“
„Kenne die Orchidee,“ rief Wrſchowitz in höchſter
Ekſtaſe „lila mit gelb.“
Puſch nickte, zugleich in ſteigendem Übermut fort¬
fahrend: „Und genau ſo mit der Urnovelle. Die liegt
fertig da wie der Urkranz; nichts fehlt, als der Auf¬
putz, der nunmehr freundſchaftlich verabredet wird. Bei
Höchſtbewilligung wird ein Verſtoß gegen die Sittlich¬
keit eingeflochten. Das iſt dann die große Orchidee,
lila mit gelb, wie Freund Wrſchowitz ſehr richtig her¬
vorgehoben hat.“
„Unter dieſen Umſtänden,“ bemerkte hier Baron
[398] Planta, „will es mir als ein wahres Glück erſcheinen,
daß Herr von Szilagy, wie ich höre, mehrere Eiſen im
Feuer hat. Was ihm die Novelliſtik ſchuldig bleibt,
muß ihm die Malerei bringen.“
„Was ſie leider bisher nicht that und mutma߬
lich auch nie thuen wird,“ lachte Szilagy halb wehmütig,
„trotzdem ich vom Genrebild aus, mit dem ich anfing,
eine Schwenkung gemacht und mich unter Anleitung
meines Freundes Salzmann neuerdings der Marinemalerei
zugewandt habe. Mitunter auch Bataillen. Und was die
blauen Töne betrifft, ſo darf ich vielleicht behaupten, hinter
keinem zurückgeblieben zu ſein. Habe mich außerdem in
Gudin und William Turner vergafft. Aber trotzdem ...“
„Aber trotzdem ohne rechten Erfolg,“ unterbrach
hier Cujacius, „was mich nicht Wunder nimmt. Was
wollen Sie mit Gudin oder gar mit Turner? Wer
das Meer malen will, muß nach Holland gehn und die
alten Niederländer ſtudieren. Und unter den Modernen
vor allem die Skandinaven: die Norweger, die Dänen.“
Wrſchowitz zuckte zuſammen.
„Wir haben da beiſpielsweiſe den Melby, Däne
pur sang, der ſehr gut und beinah' bedeutend iſt.“
„O nein, nein,“ platzte jetzt Wrſchowitz mit immer
mehr erzitternder Stimme heraus. „Nicht ſerr gutt,
nicht bedeutend, auch nicht einmal beinah bedeutend.“
„Der ſehr bedeutend iſt,“ wiederholte Cujacius.
„Grade darin bedeutend, daß er nicht bedeutend ſein
will. Er erhebt keine falſchen Prätenſionen; er iſt
ſchlicht, ohne Phantaſtereien, aber ſtimmungsvoll; und
wenn ich Bilder von ihm ſehe, beſonders ſolche wo das
graublaue Meer an einer Klippe brandet, ſo berührt
mich das jedesmal ſpezifiſch ſkandinaviſch, etwa wie der
oſſianiſche Meereszauber in den Kompoſitionen unſers
trefflichen Niels Gade.“
„Niels Gade? Von Niels Gade ſpricht man
nicht.“
„Ich ſpreche von Niels Gade. Seine Kompo¬
ſitionen reichen bis an Mendelsſohn heran.“
„Was ihn nicht größer macht.“
„Doch, mein Herr Doktor. Wirkliche Kunſtgrößen
zu ſtürzen, dazu reichen Überheblichkeiten nicht aus.“
„Was Sie nicht abhielt, mein Herr Profeſſor, den
großen Gudin culbütieren zu wollen.“
„Über Malerei zu ſprechen, ſteht mir zu.“
„Über Muſik zu ſprechen, ſteht mir zu.“
„Sonderbar. Immer Perſonen aus unkontrolier¬
baren Grenzbezirken führen bei uns das große Wort.“
„Ich bin Tſcheche. Weiß aber, daß es ein deut¬
ſches Sprichwort giebt: „Der Deutſche lüggt, wenn er
höfflich wird“.“
„Weshalb ich unter Umſtänden darauf verzichte.“
„En quoi vous réussissez à merveille.“
„Aber meine Herren,“ warf Puſch hier ein, den
die ganze Streiterei natürlich entzückte, „könnten wir
nicht das Kriegsbeil begraben? Proponiere: Begegnung
auf halbem Wege; shaking hands. Nehmen Sie zurück,
hüben und drüben.“
„Nie,“ donnerte Cujacius.
„Jamais,“ ſagte Wrſchowitz.
Und damit erhoben ſich alle. Cujacius und Puſch
hatten die Tete, Wrſchowitz und Baron Planta folgten
in einiger Entfernung. Szilagy war vorſichtigerweiſe
abgeſchwenkt.
Wrſchowitz, immer noch in großer Erregung, mühte
ſich dem jungen Graubündner auseinander zu ſetzen,
daß Cujacius ganz allgemein den Ruf eines Krakehlers
habe. „Je vous assure, Monsieur le Baron, il est
un fou et plus que ça — un blagueur.“
[400]
Baron Planta ſchwieg und ſchien ſeinen Begleiter
im Stich laſſen zu wollen. Aber er bekehrte ſich, als
er einen Augenblick danach von der Front her die mit
immer ſteigender Heftigkeit ausgeſtoßenen Worte hörte:
Kaſchube, Wende, Böhmake.
Fünfunddreißigſtes Kapitel.
Um dieſelbe Stunde, wo ſich die fünf Herren von
der Barbyſchen Hochzeitstafel entfernt hatten, waren
auch Baron Berchtesgaden und Hofprediger Frommel
aufgebrochen, ſo daß ſich, außer dem Brautvater, nur
noch der alte Stechlin im Hochzeitshauſe befand. Dieſer
hatte ſich — Meluſine war vom Bahnhofe noch nicht
wieder da — vom Eßſaal her zunächſt in das verwaiſte
Damenzimmer und von dieſem aus auf die Loggia
zurückgezogen, um da die Lichter im Strom ſich ſpiegeln
zu ſehn und einen Zug friſche Luft zu thun. An dieſer
Stelle fand ihn denn auch ſchließlich der alte Graf und
ſagte, nachdem er ſeinem Staunen über den geſundheitlich
etwas gewagten Aufenthalt Ausdruck gegeben hatte:
„Nun aber, mein lieber Stechlin, wollen wir endlich
einen kleinen Schwatz haben und uns näher mit ein¬
ander bekannt machen. Ihr Zug geht erſt zehn ein halb;
wir haben alſo noch beinah’ anderthalb Stunden.“
Und dabei nahm er Dubslavs Arm, um ihn in
ſein Wohnzimmer, das bis dahin als Eſtaminet gedient
hatte, hinüberzuführen.
„Erlauben Sie mir,“ fuhr er hier fort, „daß ich
zunächſt mein halb eingewickeltes und halb eingeſchientes
Elefantenbein auf einen Stuhl ſtrecke; es hat mich all
die Zeit über ganz gehörig gezwickt, und namentlich das
Stehen vor dem Altar iſt mir blutſauer geworden.
Fontane, Der Stechlin. 26[402] Bitte, rücken Sie heran. Es ging während unſers kleinen
Diners alles ſo raſch, und ich wette, Sie ſind bei dem
Kaffee ganz erheblich zu kurz gekommen. Der Moment,
wo das Bier herumgereicht wird, iſt in den Augen des
modernen Menſchen immer das wichtigſte; da wird dann
der Kaffeezeit manches abgeknapſt.“
Und dabei drückte er auf den Knopf der Klingel.
„Jeſerich, noch eine Taſſe für Herrn von Stechlin
und natürlich einen Cognac oder Curaçao oder lieber
die ganze ‚Benedektinerabtei‘, — Witz von Cujacius,
für den Sie mich alſo nicht verantwortlich machen
dürfen ... Leider werde ich Ihnen dieſem ‚zweiten
Kaffee‘ nicht Geſellſchaft leiſten können; ich habe mich
ſchon bei Tiſche mit einer lügneriſch und bloß anſtands¬
halber in einen Champagnerkübel geſtellten Apollinaris¬
flaſche begnügen müſſen. Aber was hilft es, man will
doch nicht auffallen mit all ſeinen Gebreſten.“
Dubslav war der Aufforderung des alten Grafen
nachgekommen und ſaß, eine Lampe mit grünem Schirm
zwiſchen ſich und ihm, ſeinem Wirte gerade gegenüber.
Jeſerich kam mit der Tablette.
„Den Cognac,“ fuhr der alte Barby fort, „kann
ich Ihnen empfehlen; noch Beziehungen aus Zeiten her,
wo man mit einem Franzoſen ungeniert ſprechen und
nach einer guten Firma fragen konnte. Waren Sie ſieb¬
zig noch mit dabei?“
„Ja, ſo halb. Eigentlich auch das kaum. Aus
meinem Regiment war ich lange heraus. Nur als
Johanniter.“
„Ganz wie ich ſelber.“
„Eine wundervolle Zeit dieſer Winter ſiebzig,“ fuhr
Dubslav fort, „auch rein perſönlich angeſehn. Ich hatte
damals das, was mir zeitlebens, wenn auch nicht abſolut,
ſo doch mehr als wünſchenswert gefehlt hatte: Fühlung
mit der großen Welt. Es heißt immer, der Adel ge¬
[403] höre auf ſeine Scholle, und je mehr er mit der ver¬
wachſe, deſto beſſer ſei es. Das iſt auch richtig. Aber
etwas ganz Richtiges giebt es nicht. Und ſo muß ich
denn ſagen, es war doch 'was Erquickliches, den alten
Wilhelm ſo jeden Tag vor Augen zu haben. Hab'
ihn freilich immer nur flüchtig geſehn, aber auch das
war ſchon eine Herzensfreude. Sie nennen ihn jetzt
den ‚Großen‘ und ſtellen ihn neben Fridericus Rex.
Nun, ſo einer war er ſicherlich nicht, an den reicht er
nicht 'ran. Aber als Menſch war er ihm über, und das
giebt, mein' ich, in gewiſſem Sinne den Ausſchlag,
wenn auch zur ‚Größe‘ noch was anders gehört. Ja,
der alte Fritz! Man kann ihn nicht hoch genug ſtellen;
nur in einem Punkte find' ich trotzdem, daß wir eine
falſche Poſition ihm gegenüber einnehmen, gerade wir
vom Adel. Er war nicht ſo ſehr für uns, wie wir
immer glauben oder wenigſtens nach außen hin ver¬
ſichern. Er war für ſich und für das Land oder, wie
er zu ſagen liebte, ‚für den Staat‘. Aber daß wir
als Stand und Kaſte ſo recht was von ihm gehabt
hätten, das iſt eine Einbildung.“
„Überraſcht mich, aus Ihrem Munde zu hören.“
„Iſt aber doch wohl richtig. Wie lag es denn
eigentlich? Wir hatten die Ehre, für König und Vater¬
land hungern und durſten und ſterben zu dürfen, ſind
aber nie gefragt worden, ob uns das auch paſſe. Nur
dann und wann erfuhren wir, daß wir ,Edelleute‘ ſeien
und als ſolche mehr ,Ehre‘ hätten. Aber damit war
es auch gethan. In ſeiner innerſten Seele rief er uns
eigentlich genau dasſelbe zu, wie den Grenadieren bei
Torgau. Wir waren Rohmaterial und wurden von ihm
mit meiſt ſehr kritiſchem Auge betrachtet. Alles in allem,
lieber Graf, find' ich unſer Jahr dreizehn eigentlich um
ein Erhebliches größer, weil alles, was geſchah, weniger
den Befehlscharakter trug und mehr Freiheit und Selbſt¬
26 *[404] entſchließung hatte. Ich bin nicht für die patentierte
Freiheit der Parteiliberalen, aber ich bin doch für ein
beſtimmtes Maß von Freiheit überhaupt. Und wenn
mich nicht alles täuſcht, ſo wird auch in unſern Reihen
allmählich der Glaube lebendig, daß wir uns dabei, —
beſonders auch rein praktiſch-egoiſtiſch, — am beſten ſtehn.“
Der alte Barby freute ſich ſichtlich dieſer Worte.
Dubslav aber fuhr fort: „Übrigens, das muß ich ſagen
dürfen, lieber Graf, Sie wohnen hier brillant an Ihrem
Kronprinzenufer; ein entzückender Blick, und Fremde
würden vielleicht kaum glauben, daß an unſrer alten
Spree ſo was hübſches zu finden ſei. Die Nieder¬
laſſungs- und ſpeziell die Wohnungsfrage ſpielt doch,
wo ſich's um Glück und Behagen handelt, immer ſtark
mit, und gerade Sie, der Sie ſo lange draußen
waren, werden, ehe Sie hier dies Vis-a-vis von unſrer
Jungfernheide wählten, nicht ohne Bedenken geweſen
ſein. In Bezug auf die Landſchaft gewiß und in Bezug
auf die Menſchen vielleicht.“
„Sagen wir, auch da gewiß. Ich hatte wirklich
ſolche Bedenken. Aber ſie ſind niedergekämpft. Vieles
gefiel mir durchaus nicht, als ich, nach langen, langen
Jahren, aus der Fremde wieder nach hier zurückkam,
und vieles gefällt mir auch noch nicht. Überall ein zu
langſames Tempo. Wir haben in jedem Sinne zu viel
Sand um uns und in uns, und wo viel Sand iſt, da
will nichts recht vorwärts, immer bloß hüh und hott.
Aber dieſer Sandboden iſt doch auch wieder tragfähig, nicht
glänzend, aber ſicher. Er muß nur, und vor allem der
moraliſche, die richtige Witterung haben, alſo zu rechter
Zeit Regen und Sonnenſchein. Und ich glaube, Kaiſer
Friedrich hätt' ihm dieſe Witterung gebracht.“
„Ich glaub' es nicht,“ ſagte Dubslav.
„Meinen Sie, daß es ihm ſchließlich doch nicht ein
rechter Ernſt mit der Sache war?“
„O nein, nein. Es war ihm Ernſt, ganz und gar.
Aber es würd' ihm zu ſchwer gemacht worden ſein.
Rund heraus, er wäre geſcheitert.“
„Woran?“
„An ſeinen Freunden vielleicht, an ſeinen Feinden
gewiß. Und das waren die Junker. Es heißt immer,
das Junkertum ſei keine Macht mehr, die Junker fräßen
den Hohenzollern aus der Hand und die Dynaſtie züchte
ſie bloß, um ſie für alle Fälle parat zu haben. Und
das iſt eine Zeit lang vielleicht auch richtig geweſen.
Aber heut iſt es nicht mehr richtig, es iſt heute grund¬
falſch. Das Junkertum (trotzdem es vorgiebt, ſeine
Strohdächer zu flicken, und ſie gelegentlich vielleicht auch
wirklich flickt) dies Junkertum — und ich bin inmitten
aller Loyalität und Devotion doch ſtolz, dies ſagen zu
können — hat in dem Kampf dieſer Jahre koloſſal an
Macht gewonnen, mehr als irgend eine andre Partei,
die Sozialdemokratie kaum ausgeſchloſſen, und mitunter
iſt mir's, als ſtiegen die ſeligen Quitzows wieder aus
dem Grabe herauf. Und wenn das geſchieht, wenn
unſre Leute ſich auf das beſinnen, worauf ſie ſich ſeit
über vierhundert Jahren nicht mehr beſonnen haben,
ſo können wir was erleben. Es heißt immer: ‚un¬
möglich‘. Ah bah, was iſt unmöglich? Nichts iſt un¬
möglich. Wer hätte vor dem 18. März den ‚18. März‘
für möglich gehalten, für möglich in dieſem echten und
rechten Philiſterneſt Berlin! Es kommt eben alles mal
an die Reihe; das darf nicht vergeſſen werden. Und
die Armee! Nun ja. Wer wird etwas gegen die Armee
ſagen? Aber jeder glückliche General iſt immer eine
Gefahr! Und unter Umſtänden auch noch andre. Sehen
Sie ſich den alten Sachſenwalder an, unſren Zivil-
Wallenſtein. Aus dem hätte ſchließlich doch Gott weiß
was werden können.“
„Und Sie glauben,“ warf der Graf hier ein, „an
[406] dieſer ſcharfen Quitzow-Ecke wäre Kaiſer Friedrich ge¬
ſcheitert?“
„Ich glaub' es.“
„Hm, es läßt ſich hören. Und wenn ſo, ſo wär'
es ſchließlich ein Glück, daß es nach den 99 Tagen
anders kam und wir nicht vor dieſe Frage geſtellt wurden.“
„Ich habe mit meinem Woldemar, der einen ſtark
liberalen Zug hat (ich kann es nicht loben und mag's
nicht tadeln) oft über dieſe Sache geſprochen. Er war
natürlich für Neuzeit, alſo für Experimente ... Nun
hat er inzwiſchen das beſſere Teil erwählt, und während
wir hier ſprechen, iſt er ſchon über Trebbin hinaus.
Sonderbar, ich bin nicht allzu viel gereiſt, aber immer,
wenn ich an dieſem märkiſchen Neſte vorbei kam, hatt'
ich das Gefühl: ‚jetzt wird es beſſer, jetzt biſt du frei‘.
Ich kann ſagen, ich liebe die ganze Sandbüchſe da herum,
ſchon bloß aus dieſem Grunde.“
Der alte Graf lachte behaglich. „Und Trebbin
wird ſich von dieſer Ihrer Schwärmerei nichts träumen
laſſen. Übrigens haben Sie recht. Jeder lebt zu Hauſe
mehr oder weniger wie in einem Gefängnis und will
weg. Und doch bin ich eigentlich gegen das Reiſen
[überhaupt] und ſpeziell gegen die Hochzeitsreiſerei. Wenn
ich ſo Perſonen in ein Coupé nach Italien einſteigen
ſehe, kommt mir immer ein Dankgefühl, dieſes ‚höchſte
Glück auf Erden‘ nicht mehr mitmachen zu müſſen. Es
iſt doch eigentlich eine Qual, und die Welt wird auch
wieder davon zurückkommen; über kurz oder lang wird
man nur noch reiſen, wie man in den Krieg zieht oder
in einen Luftballon ſteigt, bloß von Berufs wegen.
Aber nicht um des Vergnügens willen. Und wozu denn
auch? Es hat keinen rechten Zweck mehr. In alten Zeiten
ging der Prophet zum Berge, jetzt vollzieht ſich das
Wunder und der Berg kommt zu uns. Das Beſte vom
Parthenon ſieht man in London und das Beſte von Per¬
[407] gamum in Berlin, und wäre man nicht ſo nachſichtig mit
den lieben, nie zahlenden Griechen verfahren, ſo könnte
man ſich, (am Kupfergraben,) im Laufe des Vormittags
in Mykenä und nachmittags in Olympia ergehn.“
„Ganz Ihrer Meinung, teuerſter Graf. Aber doch
zugleich auch ein wenig betrübt, Sie ſo dezidiert gegen
alle Reiſerei zu finden. Ich ſtand nämlich auf dem
Punkte, Sie nach Stechlin hin einzuladen, in meine
alte Kathe, die meine guten Globſower unentwegt ein
‚Schloß‘ nennen.“
„Ja, lieber Stechlin, Ihre ‚Kathe‘, das iſt was
andres. Und um Ihnen ganz die Wahrheit zu ſagen,
wenn Sie mich nicht eingeladen hätten (eigentlich iſt
es ja noch nicht geſchehn, aber ich greife bereits vor),
ſo hätt' ich mich bei Ihnen angemeldet. Das war
ſchon lange mein Plan.“
In dieſem Augenblicke ging draußen die Klingel.
Es war Meluſine.
„Bringe den Vätern, reſpektive Schwiegervätern
allerſchönſte Grüße. Die Kinder ſind jetzt mutmaßlich
ſchon über Wittenberg, die große Luther- beziehungs¬
weiſe Apfelkuchenſtation hinaus und in weniger als zwei
Stunden fahren ſie in den Dresdener Bahnhof ein.
O dieſe Glücklichen! Und dabei verwett' ich mich,
Armgard hat bereits Sehnſucht nach Berlin zurück.
Vielleicht ſogar nach mir.“
„Kein Zweifel,“ ſagte Dubslav. Die Gräfin ſelbſt
aber fuhr fort: „Ehe man nämlich ganz Abſchied von dem
alten Leben nimmt, ſehnt man ſich noch einmal gründ¬
lich danach zurück. Freilich, Schweſter Armgard wird
weniger davon empfinden als andere. Sie hat eben
den liebenswürdigſten und beſten Mann und ich könnt'
ihn ihr beinah' beneiden, trotzdem ich noch im Abſchieds¬
moment einen wahren Schreck kriegte, als ich ihn ſagen
hörte, daß er morgen vormittag mit ihr vor die Sixtiniſche
[408] Madonna treten wolle. Worte, bei denen er noch dazu
wie verklärt ausſah. Und das find' ich einfach unerhört.
Warum, werden Sie mich vielleicht fragen. Nun denn, weil
es erſtens eine Beleidigung iſt, ſich auf eine Madonna
ſo extrem zu freuen, wenn man eine Braut oder gar
eine junge Frau zur Seite hat, und zweitens, weil
dieſer geplante Galeriebeſuch einen Mangel an Diſpo¬
ſition und Ökonomie bedeutet, der mich für Woldemars
ganze Zukunft beſorgt machen kann. Dieſe Zukunft
liegt doch am Ende nach der agrariſchen Seite hin und
richtige „Diſpoſitionen“ bedeuten in der Landwirtſchaft
ſo gut wie alles.“
Der alte Graf wollte widerſprechen, aber Melu¬
ſine ließ es nicht dazu kommen und fuhr ihrerſeits fort:
„Jedenfalls, — das iſt nicht wegzudisputieren, — fährt
unſer Woldemar jetzt in das Land der Madonnen hinein
und will da mutmaßlich mit leidlich friſchen Kräften
antreten; wenn er ſich aber ſchon in Deutſchland
etappenweiſe verthut, ſo wird er, wenn er in Rom iſt,
wohl ſein Programm ändern und im Café Cavour eine
Berliner Zeitung leſen müſſen, ſtatt nebenan im Palazzo
Borgheſe Kunſt zu ſchwelgen. Ich ſage mit Vorbedacht:
eine Berliner Zeitung, denn wir werden jetzt Welt¬
ſtadt und wachſen mit unſerer Preſſe ſchon über Char¬
lottenburg hinaus ... Übrigens läßt, wie das junge
Paar, ſo auch die Baronin beſtens grüßen. Eine reizende
Frau, Herr von Stechlin, die grad Ihnen ganz beſonders
gefallen würde. Glaubt eigentlich gar nichts und geriert
ſich dabei ſtreng katholiſch. Das klingt widerſinnig und
iſt doch richtig und reizend zugleich. All die Süddeutſchen
ſind überhaupt viel netter als wir, und die netteſten,
weil die natürlichſten, ſind die Bayern.“
Sonnenuntergang.
[[410]][[411]]Sechsunddreißigſtes Kapitel.
Der alte Dubslav, als er bald nach elf auf
ſeinem Granſeer Bahnhof eintraf, fand da Martin und
ſeinen Schlitten bereits vor. Engelke hatte zum Glück
für warme Sachen geſorgt, denn es war inzwiſchen
recht kalt geworden. Im erſten Augenblicke that dem
Alten, in deſſen Coupé die herkömmliche Stickluft gebrütet
hatte, der draußen wehende Oſtwind überaus wohl,
ſehr bald aber ſtellte ſich ein Fröſteln ein. Schon tags
zuvor, bei Beginn ſeiner Reiſe, war ihm nicht ſo recht zu
Mute geweſen, Kopfweh, Druck auf die Schläfe; jetzt
war derſelbe Zuſtand wieder da. Trotzdem nahm er's
leicht damit und ſah in das Sterngeflimmer über ihm.
Die wie Rieſenbeſen aufragenden Pappeln warfen
dunkle, groteske Schatten über den Weg, während er
die nach links und rechts hin liegenden toten Schnee¬
felder mit den wechſelnden Bildern alles deſſen, was ihm
der zurückliegende Tag gebracht hatte, belebte. Da
ſah er wieder die mit rotem Teppich belegte Hotel-
Marmortreppe mit dem Oberkellner in Geſandtſchafts¬
attachéhaltung, und im nächſten Augenblicke den Gar¬
niſonkirchenküſter, den er anfänglich für einen zur
Feier eingeladenen Konſiſtorialrat gehalten hatte. Da¬
neben aber ſtand die blaſſe, ſchöne Braut und die
reizende, bieg- und ſchmiegſame Meluſine. „Ja, der
alte Barby, wenn er auf die ſieht, der hat's gut, der
[412] kann es aushalten. Immer einen guten und klugen
Menſchen um ſich haben, immer was hören und ſehen,
was einen anlacht und erquickt, das iſt was. Aber ich!
Ich für meinen Teil, gleichviel ob mit oder ohne Schuld,
ich war immer nur auf ein Pflichtteil geſetzt, — als
Kind, weil ich faul war, und als Leutnant, weil
ich nicht recht was hatte. Dann kam ein Lichtblick.
Aber gleich darnach ſtarb ſie, die mir Stab und Stütze
hätte ſein können, und durch all die dreißig Jahre,
die ſeitdem kamen und gingen, blieb mir nichts, als
Engelke (der noch das beſte war) und meine Schweſter
Adelheid. Gott verzeih mir's, aber ein Troſt war die
nicht; immer bloß herbe wie 'n Holzapfel.“
Unter ſolchen Betrachtungen fuhr er in das Dorf
ein und hielt gleich darnach vor der Thür ſeines alten
Hauſes. Engelke war ſchon da, half ihm und that
ſein Beſtes, ihn aus der ſchweren Wolfsſchur heraus¬
zuwickeln. Der immer noch Fröſtelnde ſtapfte dabei
mit den Füßen, warf ſeinen Staatshut — den er
unterwegs, weil er ihn drückte, wohl hundertmal ver¬
wünſcht hatte — mit erſichtlicher Befriedigung beiſeite
und ſagte gleich danach beim Eintreten in ſein Zimmer:
„Ach, das is recht, Engelke. Du haſt ein Feuer ge¬
macht; du weißt, was einem alten Menſchen gut thut.
Aber es reicht noch nicht aus. Ob wohl unten noch
heißes Waſſer iſt? So 'n feſter Grog, der ſollte mir
jetzt paſſen; ich friere Stein und Bein.“
„Heiß Waſſer is nicht mehr, gnädiger Herr. Aber
ich kann ja 'ne Kaſſeroll' aufſtellen. Oder noch beſſer,
ich hole den Petroleumkocher.“
„Nein, nein, Engelke, nicht ſo viel Umſtände. Das
mag ich nicht. Und den Petroleumkocher, den erſt recht
nich; da kriegt man bloß Kopfweh, und ich habe ſchon
genug davon. Aber bringe mir den Cognac und kaltes
Waſſer. Und wenn man dann ſo halb und halb
[413] nimmt, dann is es ſo gut, als wär' es ganz heiß ge¬
weſen.“
Engelke brachte, was gefordert, und eine Viertel¬
ſtunde danach ging Dubslav zu Bett.
Er ſchlief auch gleich ein. Aber bald war er
wieder wach und druſte nur noch ſo hin. So kam
endlich der Morgen heran.
Als Engelke zu gewohnter Stunde das Frühſtück
brachte, ſchleppte ſich Dubslav mühſamlich von ſeinem
Schlafzimmer bis an den Frühſtückstiſch. Aber es
ſchmeckte ihm nicht. „Engelke, mir iſt ſchlecht; der
Fuß iſt geſchwollen, und das mit dem Cognac geſtern
abend war auch nicht richtig. Sage Martin, daß er
nach Granſee fährt und Doktor Sponholz mitbringt.
Und wenn Sponholz nicht da iſt — der arme Kerl
kutſchiert in einem fort rum; ohne Landpraxis geht es
nicht — dann ſoll er warten, bis er kommt.“
Es traf ſich ſo, wie Dubslav vermutet hatte;
Sponholz war wirklich auf Landpraxis und kam erſt
nachmittags zurück. Er aß einen Biſſen und ſtieg dann
auf den Stechliner Wagen.
„Na, Martin, was macht denn der gnäd'ge Herr?“
„Joa, Herr Doktor, ick möt doch ſeggen, he ſeiht
en beten verännert ut; em wihr ſchon nich ſo recht
letzten Sünndag un doa müßt' he joa nu grad nach
Berlin. Un ick weet ſchon, wenn ihrſt een' nach Berlin
muß, denn is ok ümmer wat los. Ick weet nich, wat
ſe doa mit 'n ollen Minſchen moaken.“
„Ja, Martin, das iſt die große Stadt. Da über¬
nehmen ſie ſich denn. Und dann war ja auch Hoch¬
zeit. Da werden ſie wohl ein bißchen gepichelt haben.
Und vorher die kalte Kirche. Und dazu ſo viele feine
Damen. Daran iſt der gnäd'ge Herr nicht mehr ge¬
[414] wöhnt, und dann will er ſich berappeln und ſtrengt ſich
an, und da hat man denn gleich was weg.“
Es dämmerte ſchon, als der kleine Jagdwagen auf
der Rampe vorfuhr. Sponholz ſtieg aus und Engelke nahm
ihm den grauen Mantel mit Doppelkragen ab und auch
die hohe Lammfellmütze, darin er — freilich das einzige
an ihm, das dieſe Wirkung ausübte — wie ein Perſer
ausſah.
So trat er denn bei Dubslav ein. Der alte Herr
ſaß an ſeinem Kamin und ſah in die Flamme.
„Nun, Herr von Stechlin, da bin ich. War über
Land. Es geht jetzt ſcharf. Jeder dritte huſtet und
hat Kopfweh. Natürlich Influenza. Ganz verdeubelte
Krankheit.“
„Na, die wenigſtens hab' ich nicht.“
„Kann man nicht wiſſen. Ein bißchen fliegt jedem
leicht an. Nun, wo ſitzt es?“
Dubslav wies auf ſein rechtes Bein und ſagte:
„Stark geſchwollen. Und das andre fängt auch an.“
„Hm. Na, wollen mal ſehen. Darf ich bitten?“
Dubslav zog ſein Beinkleid herauf, den Strumpf
herunter und ſagte: „Da is die Beſcherung. Gicht
iſt es nicht. Ich habe keine Schmerzen ... Alſo was
andres.“
Sponholz tippte mit dem Finger auf dem ge¬
ſchwollenen Fuß herum und ſagte dann: „Nichts von
Belang, Herr von Stechlin. Einhalten, Diät, wenig
trinken, auch wenig Waſſer. Das verdammte Waſſer
drückt gleich nach oben, und dann haben ſie Atemnot.
Und von Medizin bloß ein paar Tropfen. Bitte, bleiben
Sie ſitzen; ich weiß ja Beſcheid hier.“ Und dabei ging
er an Dubslavs Schreibtiſch heran, ſchnitt ſich ein Stück
Papier ab und ſchrieb ein Rezept. „Ihr Kutſcher, das
wird das beſte ſein, kann bei der Apotheke gleich mit
vorfahren.
[415]
Im Vorflur, nach Verabſchiedung von Dubslav,
fuhr Sponholz alsbald wieder in ſeinen Mantel. Engelke
half ihm und ſagte dabei: „Na, Herr Doktor?“
„Nichts, nichts, Engelke!“
Martin mit ſeinem Jagdwagen hielt noch wartend
auf der Rampe draußen und ſo ging es denn in raſcher
Fahrt wieder nach der Stadt zurück, von wo der alte
Kutſcher die Tropfen gleich mitbringen ſollte.
Der Winterabend dämmerte ſchon, als Martin zurück
war und die Medizin an Engelke abgab. Der brachte
ſie ſeinem Herrn.
„Sieh mal,“ ſagte dieſer, als er das rundliche
Fläſchchen in Händen hielt, „die Granſeer werden jetzt
auch fein. Alles in roſa Seidenpapier gewickelt.“ Auf
einem angebundenen Zettel aber ſtand: „Herrn Major
von Stechlin. Dreimal täglich zehn Tropfen.“ Dubslav
hielt die kleine Flaſche gegen das Licht und tröpfelte
die vorgeſchriebene Zahl in einen Löffel Waſſer. Als er
ſie genommen hatte, bewegte er die Lippen hin und
her, etwa wie wenn ein Kenner eine neue Weinſorte
probt. Dann nickte er und ſagte: „Ja, Engelke, nu
geht es los. Fingerhut.“
Der alte Dubslav nahm durch mehrere Tage hin
ſeine Tropfen ganz gewiſſenhaft und fand auch, daß
ſich's etwas beſſere. Die Geſchwulſt ging um ein Ge¬
ringes zurück. Aber die Tropfen nahmen ihm den
Appetit, ſo daß er noch weniger aß, als ihm geſtattet war.
Es war ein ſchöner Frühmärzentag, die Mittags¬
zeit ſchon vorüber. Dubslav ſaß an der weit offen¬
ſtehenden Glasthür ſeines Gartenſalons und las die
Zeitung. Es ſchien indes, daß ihm das, was er las,
nicht ſonderlich gefiel. „Ach, Engelke, die Zeitung iſt
[416] ja ſo weit ganz gut; nur ſo für den ganzen Tag iſt ſie
doch zu wenig. Du könnteſt mir lieber ein Buch bringen.“
„Was für eines?“
„Is egal.“
„Da liegt ja noch das kleine gelbe Buch: „Keine
Lupine mehr!“
„Nein, nein; nicht ſo was. Lupine, davon hab'
ich ſchon ſo viel geleſen; das wechſelt in einem fort
und eins iſt ſo dumm wie das andre. Die Landwirt¬
ſchaft kommt doch nicht wieder obenauf oder wenigſtens
nicht durch ſo was. Bringe mir lieber einen Roman;
früher in meiner Jugend ſagte man Schmöker. Ja,
damals waren alle Wörter viel beſſer als jetzt. Weißt
du noch, wie ich mir in dem Jahre, [wo] ich Zivil wurde,
den erſten Schniepel machen ließ? Schniepel is auch ſolch
Wort und doch wahrhaftig beſſer als Frack. Schniepel
hat ſo was Fideles: Einſegnung, Hochzeit, Kindtaufe.“
„Gott, gnädiger Herr, immer is es doch auch
nicht ſo. Die meiſten Schniepel ſind doch, wenn einer
begraben wird.“
„Richtig, Engelke. Wenn einer begraben wird.
Das war ein guter Einfall von dir. Früher würd'
ich geſagt haben ‚zeitgemäß‘; jetzt ſagt man ‚opportun‘.
Haſt du ſchon mal davon gehört?“
„Ja, gnädiger Herr, gehört hab' ich ſchon mal
davon.“
„Aber nich verſtanden. Na, ich eigentlich auch
nich. Wenigſtens nicht ſo recht. Und du, du warſt
ja nich mal auf Schulen.“
„Nein, gnädiger Herr.“
„Alles in allem, ſei froh drüber ... Aber
Engelke, wenn du mir nu ein Buch gebracht haſt, dann
will ich mich mit meinem Stuhl doch lieber gleich auf die
Veranda 'rausrücken. Es iſt wie Frühling heut. Solche
guten Tage muß man mitnehmen. Und bringe mir
[417] auch 'ne Decke. Früher war ich nich ſo für's Pimplige;
jetzt aber heißt es: beſſer bewahrt als beklagt.“
In dem ganzen Dreieck zwiſchen Rheinsberg, Kloſter
Wutz und Granſee hatte ſich die Nachricht von des alten
Dubslav ernſter Erkrankung mehr und mehr herumge¬
ſprochen, und es war wohl im Zuſammenhange damit,
daß ungefähr um dieſelbe Stunde, wo Dubslav und
Engelke ſich über „Schniepel“ und „opportun“ unter¬
hielten, ein Einſpänner auf die Stechliner Rampe fuhr,
ein etwas ſonderbares Gefährt, dem der alte Baruch
Hirſchfeld langſam und vorſichtig entſtieg. Engelke war
ihm dabei behilflich und meldete gleich danach, daß der
Alte da ſei.
„Der alte Baruch! Um Gottes willen, Engelke,
was will denn der? Es iſt ja doch glücklicherweiſe nichts
los. Und ſo ganz aus freien Stücken. Na, laß ihn
kommen.“
Und Baruch Hirſchfeld trat gleich darauf ein.
Dubslav, in ſeine Decke gewickelt, begrüßte den
Alten. „Aber, Baruch, um alles in der Welt, was
giebt es? Was bringen Sie? Gleichviel übrigens, ich freue
mich, Sie zu ſehn. Machen Sie ſich’s ſo bequem, wie’s
auf den drei Latten eines Gartenſtuhls überhaupt möglich
iſt. Und dann noch einmal: Was giebt es? Was
bringen Sie?“
„Herr Major wollen entſchuldigen, es giebt nichts,
und ich bringe auch nichts. Ich kam da bloß ſo vor¬
bei, Geſchäfte mit Herrn von Gundermann, und da
wollt’ ich mir doch die Freiheit genommen haben, mal
nach der Geſundheit zu fragen. Habe gehört, der Herr
Major ſeien nicht ganz gut bei Wege.“
„Nein, Baruch, nicht ganz gut bei Wege, beinahe
ſchon ſchlecht genug. Aber laſſen wir das ſchlimme
Fontane, Der Stechlin. 27[418] Neue; das Alte war doch eigentlich beſſer (das heißt
dann und wann), und manchmal denk' ich ſo an alles
zurück, was mir ſo gemeinſchaftlich miteinander durch¬
gemacht haben.“
„Und immer glatt, Herr Major, immer glatt, ohne
Schwierigkeiten.“
„Ja,“ lachte Dubslav, „gemacht hab' ich keine
Schwierigkeiten, aber gehabt hab' ich genug. Und
das weiß keiner beſſer als mein Freund Baruch. Und
nun ſagen Sie mir vor allem, was macht Ihr Iſidor,
der große Volksfreund? Iſt er mit Torgelow noch zu¬
frieden? Oder ſieht er, daß ſie da auch mit Waſſer
kochen? Ich wundere mich bloß, daß ein Sohn von
Baruch Hirſchfeld, Sohn und Firmateilhaber, ſo ſehr
für den Umſturz iſt.“
„Nicht für den Umſturz, Herr Major. Iſidor,
wenn ich ſo ſagen darf, iſt für die alte Valuta. Aber
nebenher hat er ein Herz für die Menſchheit.“
„Hat er? Na, das iſt recht.“
„Und das Herz für die Menſchheit, das haben wir
alle, Herr Major. Und kommt uns dabei was heraus,
ſo haben wir, wenn ich ſo ſagen darf, die Dividende.
Gott der Gerechte, wir brauchen's. Und weil ich rede
von Dividende, will ich auch reden von Hypothek.
Wir haben da ſeit letzten Freitag 'n Kapital, Granſeer
Bürger, und will's hergeben zu dreiundeinhalb.“
„Nu, Baruch, das iſt hübſch. Aber im Augenblick
bin ich's nicht benötigt. Vielleicht ſpäter mal mein Wol¬
demar. Der hat, wie Sie wiſſen, 'ne reiche Partie ge¬
macht, und wer viel erheiratet, der braucht auch viel.
Man denkt immer, ‚dann hört es auf‘, aber das iſt
falſch, dann fängt es erſt recht an. Unter allen Um¬
ſtänden ſeien Sie bedankt, daß Sie mal haben ſehen
wollen, wie's mit mir ſteht. Ich kann leider nur wieder¬
holen, ſchlecht genug. Aber eine Weile dauert es wohl
[419] noch. Und wenn auch nicht, mit meinem Sohne wird
ſich, denk' ich, gerade ſo wie zwiſchen uns zwei beiden,
alles glatt abwickeln, glatter noch, und vielleicht können
ſie gemeinſchaftlich mal was Nettes herauswirtſchaften,
was Ordentliches, was Großes, was ſich ſehen laſſen kann.
Das heißt dann neue Zeit. Und nun, Baruch, müſſen Sie
noch ein Glas Sherry nehmen. In unſerm Alter iſt
das immer das beſte. Das heißt für Sie, der Sie
noch gut im Gange ſind. Ich darf bloß noch mit an¬
ſtoßen.“
Eine Viertelſtunde ſpäter fuhr Baruch auf ſeinem
Wägelchen wieder in den Stechliner Wald hinein und
dachte wenig befriedigt über alles nach, was er da
drinnen gehört hatte. Die geträumten Schloß Stechlin-
Tage ſchienen mit einemmale für immer vorüber. Alles,
was der alte Herr da ſo nebenher von „gemeinſchaftlich
herauswirtſchaften“ geſagt hatte, war doch bloß ein
Stich, eine Pike geweſen.
Ja, Baruch fühlte was wie Verſtimmung. Aber
Dubslav auch. Es war ihm zu Sinn, als hätt' er
ſeinen alten Granſeer Geld- und Geſchäftsfreund (trotz¬
dem er deſſen letzte Pläne nicht einmal ahnte), zum
erſtenmal auf etwas Heimlichem und Verſtecktem ertappt,
und als Engelke kam, um die Sherryflaſche wieder
wegzuräumen, ſagte er: „Engelke, mit Baruch is es
auch nichts. Ich dachte wunder, was das für ein
Heiliger wär', und nun is der Pferdefuß doch ſchließlich
'rausgekommen. Wollte mir da Geld auf Hypothek
beinah' aufzwingen, als ob ich nicht ſchon genug da¬
von hätte ... Sonderbar, Uncke, mit ſeinem ewigen ‚zwei¬
deutig‘, wird am Ende doch recht behalten. Überhaupt
ſolche Polizeimenſchen mit 'nem Karabiner über die
Schulter, das ſind, bei Lichte beſehn immer die feinſten
Menſchenkenner. Ich ärgere mich, daß ich's nicht eher
gemerkt habe. So dumm zu ſein! Aber das mit der
27*[420] ‚Krankheit‘ heute, das war mir doch zu viel. Wenn
ſich die Menſchen erſt nach Krankheit erkundigen, dann
iſt es immer ſchlimm. Eigentlich is es jedem gleich,
wie's einem geht. Und ich habe ſogar welche gekannt,
die ſahen ſich, wenn ſie ſo fragten, immer ſchon die Möbel
und Bilder an und dachten an nichts wie an Auktion.“
Siebenunddreißigſtes Kapitel.
Auch die nächſten Tage waren beinahe ſommerlich,
thaten dem Alten wohl und erleichterten ihm das Atmen.
Er begann wieder zu hoffen, ſprach mit Wirtſchafts¬
inſpektor und Förſter und war nicht bloß voll wieder¬
erwachten Intereſſes, ſondern überhaupt guter Dinge.
So kam Mitte März heran. Der Himmel war
blau, Dubslav ſaß auf ſeiner Veranda, den kleinen
Springbrunnen vor ſich, und ſah dabei das leichte weiße
Gewölk ziehen. Vom Park her vernahm er den erſten
Finkenſchlag. Er mochte wohl ſchon eine Stunde ſo
geſeſſen haben, als Engelke kam und den Doktor meldete.
„Das iſt recht, Sponholz, daß Sie kommen. Nicht
um mir zu helfen (das iſt immer ſchlimm, wenn einem
erſt geholfen werden ſoll), nein, um zu ſehen, daß Sie
mir ſchon geholfen haben. Dieſe Tropfen. Es iſt doch
was damit. Wenn ſie nur nicht ſo ſchlecht ſchmeckten;
ich muß mir immer einen Ruck geben. Und daß ſie ſo
grün ſind. Grün iſt Gift, heißt es bei den Leuten.
Eigentlich eine ganz dumme Vorſtellung. Wald und
Wieſe ſind auch grün und doch ſo ziemlich unſer Beſtes.“
„Ja, es iſt ein Spezifikum. Und ich bin froh,
daß die Digitalis hier bei Ihnen mal wieder zeigt,
was ſie kann. Und bin doppelt froh, weil ich mich
auf ſechs Wochen von Ihnen verabſchieden muß.“
„Auf ſechs Wochen. Aber, Doktor, das is ja 'ne
[422] halbe Ewigkeit. Haben Sie Schulden gemacht und ſollen
in Priſon?“
„Man könnte beinahe ſo was denken. Denn ſo
lange Granſee hiſtoriſch beglaubigt daſteht, iſt noch kein
Doktor auf ſechs Wochen weg geweſen, noch dazu ein
Kreisphyſikus. Eine Doktorexiſtenz geſtattet ſolchen Luxus
nicht. Wie lebt man denn hier? Und wie hat man
gelebt? Immer Furunkel aufgeſchnitten, immer Karbol¬
watte, immer in den Wagen geſtiegen, immer einem
alten Erdenbürger ſeinen Entlaſſungsſchein ausgeſtellt
oder einen neuen Erdenbürger geholt. Und nun ſechs
Wochen weg. Wie ich meinen Kreis wiederfinden werde ...
nu, vielleicht hat Gott ein Einſehen.“
„Er iſt doch wohl eigentlich der beſte Aſſiſtenzarzt.“
„Und vor allem der billigſte. Der andre, den ich
mir aus Berlin habe verſchreiben müſſen (ach, und ſo
viel Schreiberei), der iſt teurer. Und meine Reiſe kommt
mir ohnedies ſchon teuer genug.“
„Aber wohin denn, Doktor?“
„Nach Pfäffers.“
„Pfäffers. Kenn' ich nicht. Und was wollen Sie
da? Warum? Wozu?“
„Meine Frau laboriert an einem Rheumatismus,
hochgradig, ſchon nicht mehr ſchön. Und da iſt denn
Pfäffers der letzte Trumpf. Schweizerbad mit allen
Schikanen und wahrſcheinlich auch mit allen Koſten.
Ein Granſeer, der allerdings für Geld gezeigt werden
kann, war mal an dieſem merkwürdigen Ort und hat
mir denn auch 'ne Beſchreibung davon gemacht. Habe
natürlich auch noch im Bädeker nachgeſchlagen und unter
anderm einen Fluß da verzeichnet gefunden, der Tamina
heißt. Erinnert ein bißchen an Zauberflöte und klingt
ſoweit ganz gut. Aber trotzdem eine tolle Geſchichte,
dies Pfäffers. Soweit es nämlich als Bad in Betracht
kommt, iſt es nichts als ein Felſenloch, ein großer Back¬
[423] ofen, in den man hineingeſchoben wird. Und da hockt
man denn, wie die Indianer hocken, und die Dämpfe
ſteigen ſiedeheiß von unten herauf. Wer da nicht wieder
zuſtande kommt, der kann überhaupt einpacken. Übrigens
will ich für meine Perſon gleich mit hineinkriechen. Denn
das darf ich wohl ſagen, wer ſo fünfunddreißig Jahre
lang durch Kreis Granſee hin und her kutſchiert iſt, mit¬
unter bei Oſtwind, der hat ſich ſein Gliederreißen ehrlich
verdient. Sonderbar, daß der Hauptteil davon auf meine
Frau gefallen iſt.“
„Ja, Sponholz, in einer chriſtlichen Ehe ...“
„Freilich, Herr Major, freilich. Wiewohl das mit
‚chriſtlicher Ehe‘ auch immer bloß ſo ſo iſt. Da hatten wir,
als ich noch Militär war, einen Compagniechirurgus,
richtige alte Schule, der ſagte, wenn er von ſo was
hörte: ‚Ja, chriſtliche Ehe, ganz gut, kenn' ich. Is wie
Schinken in Burgunder. Das eine is immer da, aber das
andere fehlt.‘“
„Ja,“ ſagte Dubslav, „dieſe richtigen alten Com¬
pagniechirurguſſe, die hab' ich auch noch gekannt. Blutige
Cyniker, jetzt leider ausgeſtorben ... Und in ſolchem
Pfäfferſchen Backofen wollen Sie ſechs Wochen zu¬
bringen?“
„Nein, Herr von Stechlin, nicht ſo lange. Bloß
vier, höchſtens vier. Denn es ſtrengt ſehr an. Aber
wenn man nu doch mal da iſt, ich meine in der Schweiz
und da herum, wo ſie ſtellenweiſe ſchon italieniſch
ſprechen, da will man doch ſchließlich auch gern in das
gelobte Land Italia hineinkucken. Und da haben wir
denn alſo, meine Frau und ich, vor, von dieſem Pfäffers
aus erſt noch durch die Viamala zu fahren, den Splügen
hinauf oder auf irgend einen andern Paß. Und wenn wir
dann einen Blick in all die Herrlichkeit drüben hinein ge¬
than haben, dann kehren wir wieder um, und ich für meine
Perſon ziehe mir wieder meinen grauen Mantel an (denn
[424] für die Reiſe hab' ich mir einen neuen Paletot bauen
laſſen) und kutſchiere wieder durch Kreis Granſee.“
„Na, Sponholz, das freut mich aber wirklich, daß
Sie mal 'rauskommen. Und bloß wenn Sie durch die
Viamala fahren, da müſſen Sie ſich in acht nehmen.“
„Waren Sie denn mal da, Herr Major?“
„Bewahre. Meine Weltfahrten, mit ganz ſchwachen
Ausnahmen, lagen immer nur zwiſchen Berlin und
Stechlin. Höchſtens mal Dresden und ein bißchen ins
Bayriſche. Wenn man ſo gar nicht mehr weiß, wo man
hin ſoll, fährt man natürlich nach Dresden. Alſo
Viamala nie geſehen. Aber ein Bild davon. Im all¬
gemeinen iſt Bilderankucken auch nicht gerade mein Fall,
und wenn die Muſeums von mir leben ſollten, dann
thäten ſie mir leid. Indeſſen wie ſo der Zufall ſpielt,
mal ſieht man doch ſo was, und war da auf dem
Viamala-Bilde 'ne Felſenſchlucht mit Figuren von einem
ſehr berühmten Malermenſchen, der, glaub' ich, Böcking
oder Böckling hieß.“
„Ah ſo. Einer, wenn mir recht iſt, heißt Böcklin.“
„Wohl möglich, daß es der geweſen iſt. Ja, ſogar
ſehr wahrſcheinlich. Nun ſehen Sie, Doktor, da war denn
alſo auf dieſem Bilde dieſe Viamala, mit einem kleinen
Fluß unten, und über den Fluß weg lief ein Brücken¬
bogen, und ein Zug von Menſchen (es können aber auch
Ritter geweſen ſein) kam grade die Straße lang.
Und alle wollten über die Brücke.“
„Sehr intereſſant.“
„Und nun denken Sie ſich, was geſchieht da?
Grade neben dem Brückenbogen, dicht an der rechten
Seite, thut ſich mit einem Male der Felſen auf, etwa
wie wenn morgens ein richtiger Spießbürger ſeine Laden
aufmacht und nachſehen will, wie's Wetter iſt. Der
aber, der an dieſer Brücke da von ungefähr 'rauskuckte,
hören Sie, Sponholz, das war kein Spießbürger, ſondern
[425] ein richtger Lindwurm oder ſo was ähnliches aus der
ſogenannten Zeit der Saurier, alſo ſo weit zurück, daß
ſelbſt der älteſte Adel, (die Stechline mit eingeſchloſſen,)
nicht dagegen ankann, und dies Bieſt, als der heran¬
kommende Zug eben den Fluß paſſieren wollte, war mit
ſeinem aufgeſperrten Rachen bis dicht an die Menſchen
und die Brücke heran, und ich kann Ihnen bloß ſagen,
Sponholz, mir ſtand, als ich das ſah, der Atem ſtill,
weil ich deutlich fühlte, nu noch einen Augenblick, dann
ſchnappt er zu und die ganze Beſcherung is weg.“
„Ja, Herr von Stechlin, da hat man bloß den
Troſt, daß die Saurier, ſo viel ich weiß, ſeitdem aus¬
geſtorben ſind. Aber meiner Frau will ich dieſe Ge¬
ſchichte doch lieber nicht erzählen; die kriegt nämlich
mitunter Ohnmachten. In Doktorhäuſern iſt immer
was los.“
Dubslav nickte.
„Und nur das eine möcht' ich Ihnen noch ſagen,
Herr von Stechlin, mit der Digitalis immer ruhig ſo
weiter, und wenn der Appetit nicht wieder kommt, lieber
nur zweimal täglich. Und nie mehr als zehn Tropfen.
Und wenn Sie ſich unpaß fühlen, mein Stellvertreter
iſt von allem unterrichtet. Er wird Ihnen gefallen.
Neue Schule, moderner Menſch; aber doch nicht zu viel
davon (ſo wenigſtens hoff' ich) und jedenfalls ſehr ge¬
ſcheit. An ſeinem Namen, — er heißt nämlich Moſcheles,
— dürfen Sie nicht Anſtoß nehmen. Er iſt aus Brünn
gebürtig und da heißen die meiſten ſo.“
Der Alte drückte mit allem ſeine Zuſtimmung aus,
auch mit dem Namen, trotzdem dieſer ihm quälende Er¬
innerungen weckte. Schon vor etlichen fünfzig Jahren
habe er Muſikſtücke ſpielen müſſen, die alle auf den
Namen „Moſcheles“ liefen. Aber das wolle er den
Inſichtſtehenden nicht weiter entgelten laſſen.
Und nach dieſen beruhigenden Verſicherungen em¬
[426] pfahl ſich Sponholz und fuhr zu weiteren Abſchieds¬
beſuchen in die Grafſchaft hinein.
Am zweitfolgenden Tage brachen die Sponholzſchen
Eheleute von Granſee nach Pfäffers hin auf; die Frau,
ſehr leidend, war ſchweigſam, er aber befand ſich in
einem hochgradigen Reiſefieber, was ſich, als ſie draußen
auf dem Bahnhof angelangt waren, in immer wach¬
ſender Geſprächigkeit äußerte.
Mehrere Freunde (meiſt Logenbrüder) hatten ihn
bis hinaus begleitet. Sponholz kam hier ſofort vom
Hundertſten aufs Tauſendſte. „Ja, unſer guter Stech¬
lin, mit dem ſteht es ſo ſo ... Baruch hat ihn auch
geſehn und ihn einigermaßen verändert gefunden ...
Und Sie, Kirſtein, Sie ſchreiben mir natürlich, wenn
der junge Burmeiſter eintritt; ich weiß, er will nicht
recht (bloß der Vater will) und ſoll ſogar von ‚Hokus¬
pokus‘ geſprochen haben. Aber dergleichen muß man
leicht nehmen. Unwiſſenheit, Verkennungen, über ſo
was ſind wir weg; viel Feind', viel Ehr' ... Nur,
es noch einmal zu ſagen, der Alte drüben in Stechlin
macht mir Sorge. Man muß aber hoffen; bei Gott kein
Ding unmöglich iſt. Und zu Moſcheles hab' ich Ver¬
trauen; ihn auskultieren zu ſehn, iſt ein wahres Ver¬
gnügen für 'nen Fachmann.“
So klang, was Sponholz noch in letzter Minute
vom Coupéfenſter aus zum beſten gab. Alles, am
meiſten aber das über den alten Stechlin Geſagte, wurde
weitergetragen und drang bis auf die Dörfer hinaus,
ſo namentlich auch bis nach Quaden-Hennersdorf zu
Superintendent Koſeleger, der ſeit kurzem mit Ermyn¬
trud einen lebhaften Verkehr unterhielt und, angeregt
durch die mit jedem Tage kirchlicher werdende Prinzeſſin,
einen energiſchen Vorſtoß gegen den Unglauben und die
[427] in der Grafſchaft überhandnehmende Laxheit plante.
Koſeleger ſowohl wie die Prinzeſſin wollten zu dieſem
Zwecke beim alten Dubslav als ‚nächſtem Objekt‘
einſetzen, und hielten ſein Aſthma für den geeig¬
netſten Zeitpunkt. In einem Briefe der Prinzeſſin
an Koſeleger hieß es dementſprechend: „Ich will die
gute Geſinnung des alten Herrn in nichts anzweifeln;
außerdem hat er etwas ungemein Affables. Ich bin
ihm menſchlich durchaus zugethan. Aber ſein Prinzip,
das nichts Höheres kennt, als ‚leben und leben laſſen‘,
hat in unſrer Gegend alle möglichen Irrtümer und Son¬
derbarkeiten ins Kraut ſchießen laſſen. Nehmen Sie bei¬
ſpielsweiſe dieſen Krippenſtapel. Und nun den Lorenzen
ſelbſt! Katzler, mit dem ich geſtern über unſern Plan
ſprach, hat mich gebeten, mit Rückſicht auf die Krank¬
heit des alten Herrn wenigſtens vorläufig von allem
Abſtand zu nehmen, aber ich hab' ihm widerſprechen
müſſen. Krankheit (ſo viel iſt richtig) macht ſchroff und
eigenſinnig, aber in bedrängten Momenten auch wiederum
ebenſo gefügig, und es ſind wohl auch hier wieder
gerade die Auferlegungen und Bitterniſſe, daraus ein
Segen für den Kranken, und jedenfalls für die Ge¬
ſamtheit unſres Kreiſes entſpringen wird. Unter allen
Umſtänden aber muß uns das Bewußtſein tröſten, unſre
Pflicht erfüllt zu haben.“
Es war eine Woche nach Sponholz' Abreiſe, daß
Ermyntrud dieſe Zeilen ſchrieb, und ſchon am andern
Vormittage fuhr Koſeleger, der mit der Prinzeſſin im
weſentlichen derſelben Meinung war, auf die Stechliner
Rampe. Gleich danach trat Engelke bei Dubslav ein
und meldete den Herrn Superintendenten.
„Superintendent? Koſeleger?“
[428]„Ja, gnäd'ger Herr. Superintendent Koſeleger. Er
ſieht ſehr wohl aus, und ganz blank.“
„Was es doch für merkwürdige Tage giebt. Heute,
(du ſollſt ſehn), iſt wieder ſo einer. Mit Moſcheles
fing's an. Sage dem Herrn Superintendenten, ich ließe
bitten.“
„Ich komme hoffentlich zu guter Stunde, Herr von
Stechlin.“
„Zur allerbeſten, Herr Superintendent. Eben war
der neue Doktor hier. Und eine Viertelſtunde, wenn's
mit dem „praesente medico“ nur ein ganz klein wenig
auf ſich hat, muß ſolche Doktorgegenwart doch wohl noch
nachwirken.“
„Sicher, ſicher. Und dieſer Moſcheles ſoll ſehr ge¬
ſcheit ſein. Die Wiener und Prager verſtehn es; nament¬
lich alles, was nach der Seite hin liegt.“
„Ja,“ ſagte Dubslav, „nach der Seite hin,“ und
wies auf Bruſt und Herz. „Aber, offen geſtanden, nach
mancher andern Seite hin iſt mir dieſer Moſcheles nicht
ſehr ſympathiſch. Er faßt ſeinen Stock ſo ſonderbar
an und ſchlenkert auch ſo.“
„Ja, ſo was muß man unter Umſtänden mit in
den Kauf nehmen. Und dann heißt es ja auch, der
Major von Stechlin habe mehr oder weniger einen philo¬
ſemitiſchen Zug.“
„Den hat der Major von Stechlin auch wirklich, weil
er Unchriſtlichkeiten nicht leiden kann und Prinzipien¬
reitereien erſt recht nicht. Ich gehöre zu denen, die
ſich immer den Einzelfall anſehn. Aber freilich, mancher
Einzelfall gefällt mir nicht. So zum Beiſpiel der hier
mit dem neuen Doktor. Und auch mein alter Baruch
Hirſchfeld, den der Herr Superintendent mutmaßlich kennen
werden, auch der gefällt mir nicht mehr ſo recht. Ich
hielt große Stücke von ihm, aber — vielleicht daß ſein
[429] Sohn Iſidor ſchuld iſt — mit einem Mal iſt der Pferde¬
fuß 'rausgekommen.“
„Ja,“ lachte Koſeleger, „der kommt immer mal
'raus. Und nicht bloß bei Baruch. Ich muß aber ſagen,
das alles hat mit der Raſſe viel, viel weniger zu ſchaffen,
als mit dem jeweiligen Beruf. Da war ich eben bei
der Frau von Gundermann ...“
„Und da war auch ſo was?“
„In gewiſſem Sinne, ja. Natürlich ein bißchen
anders, weil es ſich um etwas Weibliches handelte.
‚Stütze der Hausfrau‘. Und da bändelt ſich denn leicht
was an. Eben dieſe ‚Stütze der Hausfrau‘ war bis
vor kurzem noch Erzieherin, und mit Erzieherinnen, alten
und jungen, hat's immer einen Haken, wie mit den
Lehrern überhaupt. Es liegt im Beruf. Und der Semi¬
nariſt ſteht oben an.“
„Ich kann mich nicht erinnern,“ ſagte Dubslav,
„in unſerer Gegend irgend was gröblich Verletzliches
erlebt zu haben.“
„O, ich bin mißverſtanden,“ beſchwichtigte Koſeleger
und rieb ſich mit einem gewiſſen Behagen ſeine wohl¬
gepflegten Hände. „Nichts von Vergehungen auf eroti¬
ſchem Gebiet, wiewohl es bei den Gundermanns, (die
gerad' in dieſem Punkte viel heimgeſucht werden,) auch
diesmal wieder, ich möchte ſagen dieſe kleine Nebenform
angenommen hatte. Nein, der große Seminariſtenpferdefuß,
an den ich bei meiner erſten Bemerkung dachte, trägt ganz
andere Signaturen: Unbotmäßigkeit, Überſchätzung und
infolge davon ein eigentümliches Beſtreben, ſich von den
Heilsgütern loszulöſen, und die Befriedigung des inneren
Menſchen in einer falſchen Wiſſenſchaftlichkeit zu ſuchen.“
„Ich will das nicht loben; aber auch ſolche ‚falſche
Wiſſenſchaftlichkeit‘ zählt, dächt ich, in unſerer alten Graf¬
ſchaft zu den allerſeltenſten Ausnahmen.“
„Nicht ſo ſehr als Sie vermuten, Herr Major,
[430] und aus Ihrer eigenen Stechliner Schule ſind mir Klagen
kirchlich gerichteter Eltern über ſolche Dinge zugegangen.
Allerdings Altlutheraner aus der Globſower Gegend.
Indeſſen ſo läſtig dieſe Leute zu Zeiten ſind, ſo haben
ſie doch andrerſeits den Ernſt des Glaubens und finden,
wie ſie ſich in einem Skriptum an mich ausgedrückt
haben, in der Krippenſtapelſchen Lehrmethode dieſen
Ernſt des Glaubens arg vernachläſſigt.“
Dubslav wiegte den Kopf hin und her, und hätte
trotz allen Reſpekts vor dem Vertreter einer kirchlichen Be¬
hörde wahrſcheinlich ziemlich ſcharf und ſpitz geantwortet,
wenn ihm nicht alles, was er da hörte, gleichzeitig in einem
heiteren Licht erſchienen wäre. Krippenſtapel, ſein Krippen¬
ſtapel, er, der den alten Fritzen ſo gut wie den Kate¬
chismus, aber den Katechismus auch reichlich ſo gut
wie den alten Fritzen kannte, — Krippenſtapel, ſein
großartiger Bienenvater, ſein korreſpondierendes Mit¬
glied märkiſch-hiſtoriſcher Vereine, die Seele ſeines ‚Mu¬
ſeums‘, ſein guter Freund, dieſer Krippenſtapel ſollte
den ‚Ernſt des Glaubens‘ verkannt haben, bei ihm ſollte
der Seminariſtenhochmut zu gemeingefährlichem Aus¬
bruch gekommen ſein. Wohl entſann er ſich, in eigenſter
Perſon (was ihn in dieſem Augenblick ein wenig ver¬
ſtimmte) gelegentlich ſehr ähnliches geſagt zu haben. Aber
doch immer nur ſcherzhaft. Und wenn zwei dasſelbe thun,
ſo iſt es nicht mehr dasſelbe. Traf dieſer Satz je zu,
ſo hier. Er erhob ſich alſo mit einiger Anſtrengung
von ſeinem Platz, ging auf Koſeleger zu, ſchüttelte ihm
die Hand und ſagte: „Herr Superintendent, ſo wie
Sie's da ſagen, ſo kann es nicht ſein. Von richtigen
Altlutheranern giebt es hier überhaupt nichts, und am
wenigſten in Globſow; die glauben ſozuſagen gar nichts.
Ich wittere da was von Intrigue. Da ſtecken andere
dahinter. Bei meinem alten Baruch iſt der Pferdefuß
'rausgekommen, aber bei meinem alten Krippenſtapel
[431] iſt er nicht 'rausgekommen und wird auch nicht 'raus¬
kommen, weil er überhaupt nicht da iſt. Meinen alten
Krippenſtapel, den kenn' ich.“
Koſeleger, Weltmann, wie er war, lenkte raſch ein,
ſprach von Konventiklerbeſchränktheit und gab die Mög¬
lichkeit einer Intrigue zu.
„Natürlich wird es einem ſchwer, in dieſem Erden¬
winkel an derlei Dinge zu glauben, denn ‚Intrigue‘
zählt ganz eminent zu den höheren Kulturformen. In¬
trigue hat hier in unſerer alten Grafſchaft, glaub' ich,
noch keinen Boden. Aber andrerſeits iſt es doch freilich
wahr, daß heutzutage die Verwerflichkeiten, ja ſelbſt die
Verbrechen und Laſter, nicht bloß im Gefolge der Kultur
auftreten, ſondern umgekehrt ihr voranſchreiten, als be¬
klagenswerte Herolde falſcher Geſittung! Bedenken Sie,
was wir neuerdings in unſern Äquatorialprovinzen erlebt
haben. Die Ziviliſation iſt noch nicht da und ſchon
haben wir ihre Gräuel. Man erſchauert, wenn man
davon lieſt und freut ſich der kleinen und alltäglichen
Verhältniſſe, drin der Wille Gottes uns gnädig ſtellte.“
Nach dieſen Worten, die was von einem guten
Abgang hatten, erhob ſich Koſeleger und der Alte,
ſeinerſeits ſeinen Arm in den des Superintendenten
einhakend, „um ſich“, wie er ſagte, „auf die Kirche
zu ſtützen“, begleitete ſeinen Beſuch bis wieder auf die
Rampe hinaus und grüßte noch mit der Hand, als der
Wagen ſchon über die Bohlenbrücke fuhr. Dann wandte
er ſich raſch an Engelke, der neben ihm ſtand, und
ſagte:
„Engelke, ſchade, daß ich mit dir nicht wetten
kann. Luſt hätt' ich. Heute kommt noch wer, du wirſt
es ſehn. Eine Woche lang läßt ſich keine Katze blicken,
aber wenn unſer Schickſal erſt mal 'nen Entſchluß ge¬
faßt hat, dann kann es ſich auch wieder nicht genug
thun. Man gewinnt dreimal das große Los oder man
[432] ſtößt ſich dreimal den Kopp. Und immer an derſelben
Stelle.“
Es ſchlug zwölf, als Dubslav vom Portal her
wieder den Flur paſſierte. Dabei ſah er nach dem
Hippenmann hinauf und zählte die Schläge. „Zwölf“,
ſagte er „und um zwölf iſt alles aus und dann fängt
der neue Tag an. Es giebt freilich zwei Zwölfen, und
die Zwölf, die da oben jetzt ſchlägt, das is die Mittags¬
zwölf. Aber Mittag! ... Wo biſt du Sonne ge¬
blieben!“ All dem weiter nachhängend, wie er jetzt öfter
that, kam er an ſeinen Kaminplatz und nahm eine
Zeitung in die Hand. Er ſah jedoch kaum drauf hin
und beſchäftigte ſich, während er zu leſen ſchien, eigent¬
lich nur mit der Frage, „wer wohl heute noch kommen
könne“, und dabei neben andren Perſonen aus ſeiner
Umgebung auch an Lorenzen denkend, kam er zu dem
Schlußreſultat, daß ihm Lorenzen „mit all ſeinem neuen
Unſinn“ doch am Ende lieber ſei als Koſeleger mit ſeinen
Heilsgütern, von denen er wohl zwei-, dreimal geſprochen
hatte. „Ja, die Heilsgüter, die ſind ganz gut. Verſteht
ſich. Ich werde mich nicht ſo verſündigen. Die Kirche kann
was, is was, und der alte Luther, nu der war ſchon
ganz gewiß was, weil er ehrlich war und für ſeine Sache
ſterben wollte. Nahe dran war er. Eigentlich kommt's
doch immer bloß darauf an, daß einer ſagt, ‚dafür
ſterb' ich‘. Und es dann aber auch thut. Für was,
is beinah' gleich. Daß man überhaupt ſo was kann,
wie ſich opfern, das iſt das Große. Kirchlich mag es
ja falſch ſein, was ich da ſo ſage; aber was ſie jetzt
‚ſittlich‘ nennen (und manche ſagen auch ‚ſchönheitlich‘,
aber das is ein zu dolles Wort), alſo was ſie jetzt ſittlich
nennen, ſo bloß auf das hin angeſehn, da is das
perſönliche ſich einſetzen und für was ſterben können
[433] und wollen doch das Höchſte. Mehr kann der Menſch
nich. Aber Koſeleger. Der will leben.“
Und während er noch ſo vor ſich hin ſeinen
Faden ſpann, war ſein gutes altes Faktotum einge¬
treten, an das er denn auch ohne weiteres und bloß
zu eignem Ergötzen die Frage richtete: „Nich wahr,
Engelke?“
Der aber hörte gar nichts mehr, ſo ſehr war er
in Verwirrung, und ſtotterte nur aus ſich heraus: „Ach
Gott, gnäd'ger Herr, nu is es doch ſo gekommen.“
„Wie? Was?“
„Die Frau Gemahlin von unſerm Herrn Ober¬
förſter ...“
„Was? Die Prinzeſſin?“
„Ja, die Frau Katzler, Durchlaucht.“
„Alle Wetter, Engelke ... Da haben wir's. Aber
ich hab' es ja geſagt, ich wußt' es. Wie ſo 'n Tag
anfängt, ſo bleibt er, ſo geht es weiter ... Und wie
das hier durcheinander liegt, alles wie Kraut und
Rüben. Nimm die Zudecke weg, ach was Zudecke, die
reine Pferdedecke; wir müſſen eine andre haben. Und
nimm auch die grünen Tropfen weg, daß es nicht gleich
ausſieht wie 'ne Krankenſtube ... Die Prinzeſſin ...
Aber raſch, Engelke, flink ... Ich laſſe bitten, ich laſſe
die Frau Oberförſterin bitten.“
Dubslav rückte ſich, ſo gut es ging, zurecht; im
übrigen aber hielt er's in ſeinem deſolaten Zuſtande
doch für beſſer, in ſeinem Rollſtuhl zu bleiben, als der
Prinzeſſin entgegen zu gehn oder ſie durch ein Sicherheben
von ſeinem Sitz mehr oder weniger feierlich zu begrüßen.
Ermyntrud paßte ſich ſeinen Intentionen denn auch an
und gab durch eine gemeſſene Handbewegung zu ver¬
ſtehen, daß ſie nicht zu ſtören wünſche. Gleich danach
legte ſie den rechten Arm auf die Lehne eines neben¬
ſtehenden Stuhles und ſagte: „Ich komme, Herr von
Fontane, Der Stechlin. 28[434] Stechlin, um nach Ihrem Befinden zu fragen; Katzler
(ſie nannte ihn, unter gefliſſentlichſter Vermeidung des
allerdings plebejen „mein Mann“, immer nur bei ſeinem
Familiennamen) hat mir von Ihrem Unwohlſein erzählt und
mir Empfehlungen aufgetragen. Ich hoffe, es geht beſſer.“
Dubslav dankte für ſo viel Freundlichkeit und bat,
das um ihn her herrſchende Übermaß von Unordnung
entſchuldigen zu wollen. „Wo die weibliche Hand fehlt,
fehlt alles.“ Er fuhr ſo noch eine Weile fort, in allerlei
Worten und Wendungen, wie ſie ihm von alter Zeit
her geläufig waren; eigentlich aber war er wenig bei
dem, was er ſagte, ſondern hing ausſchließlich an
dem halb Nonnen-, halb Heiligenbildartigen ihrer Er¬
ſcheinung, das durch einen großen, aus mattweißen
Kugeln beſtehenden Halsſchmuck ſamt Elfenbeinkreuz,
noch geſteigert wurde. Sie mußte jedem, auch dem
Kritiſchſten, auffallen, und Dubslav, der — ſo ſehr er
dagegen ankämpfte — ganz unter der Vorſtellung ihrer
Prinzeſſinnenſchaft ſtand, vergaß auf Augenblicke Krank¬
heit und Alter und fühlte ſich nur noch als Ritter
ſeiner Dame. Daß ſie ſtehen blieb, war ihm im erſten
Augenblicke ſtörend, bald aber war es ihm recht, weil
ihm einleuchtete, daß ihr „Bild“ erſt dadurch zu voller
Wirkung kam. Ermyntrud ſelbſt war ſich deſſen auch
voll bewußt und Frau genug, auf dieſe Vorzüge nicht
ohne Not zu verzichten.
„Ich höre, daß Doktor Sponholz, den ich als
Arzt ſehr ſchätzen gelernt habe, ſeine Kranken, während
er in Pfäffers iſt, einem jungen Stellvertreter anver¬
traut hat. Junge Ärzte ſind meiſt klüger als die alten,
aber doch weniger Ärzte. Man bringt außerdem dem
Alter mehr Vertrauen entgegen. Alte Doktoren ſind
wie Beichtiger, vor denen man ſich gern offenbart.
Freilich können ſie den geiſtlichen Zuſpruch nicht voll
erſetzen, der in jeder ernſtlichen Krankheit doch das
[435] eigentlich Heilſame bleibt. Ärzte ſelbſt — ich hab'
einen Teil meiner Jugend in einem Diakoniſſenhauſe
verbracht — Ärzte ſelbſt, wenn ſie ihren Beruf recht
verſtehn, urteilen in dieſem Sinne. Sogenannte Medi¬
kamente ſind und bleiben ein armer Notbehelf; alle
wahre Hilfe fließt aus dem Wort. Aber freilich, das
richtige Wort wird nicht überall geſprochen.“
Dubslav ſah etwas unruhig um ſich her. Es
war ganz klar, daß die Prinzeſſin gekommen war, ſeine
Seele zu retten. Aber woher kam ihr die Wiſſenſchaft,
daß ſeine Seele deſſen bedürftig ſei? Das verlohnte ſich
doch in Erfahrung zu bringen, und ſo bezwang er ſich
denn und ſagte: „Gewiß, Durchlaucht, das Wort iſt
die Hauptſache. Das Wort iſt das Wunder; es läßt
uns lachen und weinen, es erhebt uns und demütigt
uns, es macht uns krank und macht uns geſund. Ja
es giebt uns erſt das wahre Leben hier und dort. Und
dies letzte höchſte Wort, das haben wir in der Bibel.
Daher nehm' ich's. Und wenn ich manches Wort nicht
verſtehe, wie wir die Sterne nicht verſtehn, ſo haben
wir dafür die Deuter.“
„Gewiß. Aber es giebt der Deuter ſo viele.“
„Ja,“ lachte Dubslav, „und wer die Wahl hat,
hat die Qual. Aber ich perſönlich, ich habe keine Wahl.
Denn genau ſo wie mit dem Körper, ſo ſteht es für
mich auch mit der Seele. Man behilft ſich mit dem,
was man hat. Nehm' ich da zunächſt meinen armen,
elenden Leib. Da ſitzt es mir hier und ſteigt und drückt
und quält mich, und ängſtigt mich, und wenn die Angſt
groß iſt, dann nehm' ich die grünen Tropfen. Und
wenn es mich immer mehr quält, dann ſchick' ich nach
Granſee hinein, und dann kommt Sponholz. Das
heißt, wenn er gerade da iſt. Ja, dieſer Sponholz iſt
auch ein Wiſſender und ein ‚Deuter‘. Sehr wahrſchein¬
lich, daß es klügere und beſſere giebt; aber in Er¬
28 *[436] mangelung dieſer beſſeren muß er für mich aus¬
reichen.“
Ermyntrud nickte freundlich und ſchien ihre Zu¬
ſtimmung ausdrücken zu wollen.
„Und,“ fuhr Dublav fort, „ich muß es wieder¬
holen, genau ſo wie mit dem Leib, ſo auch mit der
Seele. Wenn ſich meine arme Seele ängſtigt, dann
nehm' ich mir Troſt und Hilfe, ſo gut ich ſie gerade
finden kann. Und dabei denk' ich dann, der nächſte
Troſt iſt der beſte. Den hat man am ſchnellſten, und
wer ſchnell giebt, der giebt doppelt. Eigentlich muß
man es lateiniſch ſagen. Ich rufe mir Sponholz, weil
ich ihn, wenn benötigt, in ziemlicher Nähe habe; den
andern aber, den Arzt für die Seele, den hab' ich
glücklicherweiſe noch näher und brauche nicht mal nach
Granſee hineinzuſchicken. Alle Worte, die von Herzen
kommen, ſind gute Worte, und wenn ſie mir helfen
(und ſie helfen mir), ſo frag' ich nicht viel danach, ob
es ſogenannte ,richtige‘ Worte ſind oder nicht.“
Ermyntrud richtete ſich höher auf; ihr bis dahin
verbindliches Lächeln war ſichtlich in raſchem Hinſchwinden.
„Überdies,“ ſo ſchloß Dubslav ſeine Bekenntnis¬
rede, „was ſind die richtigen Worte? Wo ſind ſie?“
„Sie haben Sie, Herr von Stechlin, wenn Sie ſie
haben wollen. Und Sie haben ſie nah, wenn auch
nicht in Ihrer unmittelbarſten Nähe. Mich perſönlich
haben dieſe Worte während ſchwerer Tage geſtützt und
aufgerichtet. Ich weiß, er hat Feinde, voran im eignen
Lager. Und dieſe Feinde ſprechen von ‚ſchönen Worten‘.
Aber ſoll ich mich einem Heilswort verſchließen, weil es
ſich in Schönheit kleidet? Soll ich eine mich ſegnende
Hand zurückweiſen, weil es eine weiche Hand iſt? Sie
haben Sponholz genannt. Unſer Superintendent liegt
wohl weit über dieſen hinaus und wenn es nicht eitel
und vermeſſen wäre, würd' ich eine gnäd'ge Fügung darin
[[437]] zu ſehn glauben, daß er an dieſe ſterile Küſte verſchlagen
werden mußte, gerade mir eine Hilfe zu ſein. Aber,
was er an mir that, kann er auch an andern thun.
Er hat eben das, was zum Siege führt; wer die
Seele hat, hat auch den Leib.“
Unter dieſen Worten war Ermyntrud von ihrem
Stuhl an Dubslav herangetreten und neigte ſich über
ihn, um ihm, halb wie ſegnend, die Stirn zu küſſen.
Das Elfenbeinkreuz berührte dabei ſeine Bruſt. Sie
ließ es eine Weile da ruhen. Dann aber trat ſie wieder
zurück, und ſich zweimal unter hoheitsvollem Gruß ver¬
neigend, verließ ſie das Zimmer. Engelke, der draußen
im Flur ſtand, eilte vorauf, ihr beim Einſteigen in den
kleinen Katzlerſchen Jagdwagen behilflich zu ſein.
Als Dubslav wieder allein war, nahm er das
Schüreiſen, das grad' vor ihm auf dem Kaminſtein lag,
und fuhr in die halb niedergebrannten Scheite. Die
Flamme ſchlug auf und etliche Funken ſtoben. „Arme
Durchlaucht. Es iſt doch nicht gut, wenn Prinzeſſinnen
in Oberförſterhäuſer einziehn. Sie ſind dann aus ihrem
Fahrwaſſer heraus und greifen nach allem möglichen,
um in der ſelbſtgeſchaffenen Alltäglichkeit nicht unter¬
zugehn. Einen beſſern Troſtſpender als Koſeleger konnte
ſie freilich nicht finden; er gab ihr den Troſt, deſſen
er ſelber bedürftig iſt. Im übrigen mag ſie ſich aufrichten
laſſen, von wem ſie will. Der Alte auf Sansſouci,
mit ſeinem ‚nach der eignen Façon ſelig werden‘, hat's
auch darin getroffen. Gewiß. Aber wenn ich euch eure
Façon laſſe, ſo laßt mir auch die meine. Wollt nicht alles
beſſer wiſſen, kommt mir nicht mit Anzettelungen, erſt
gegen meinen guten Krippenſtapel, der kein Wäſſerchen
trübt, und nun gar gegen meinen klugen Lorenzen, der
euch alle in die Taſche ſteckt. An ihn perſönlich wagen
ſie ſich nicht 'ran, und da kommen ſie nun zu mir und
wollen mich umſtimmen und denken, weil ich krank bin,
[438] muß ich auch ſchwach ſein. Aber da kennen ſie den
alten Stechlin ſchlecht, und er wird nun wohl ſeinen
märkiſchen Dickkopf aufſetzen. Auch ſogar gegen Ippe-
Büchſenſtein und die Elfenbeinkugeln, die ja ſchon der
reine Roſenkranz ſind. Und es wird auch noch ſo was.
Eigentlich bin ich übrigens ſelber ſchuld. Ich habe
mir durch den prinzeßlichen Augenaufſchlag und die vier
Kindergräber im Garten zu ſehr imponieren laſſen.
Aber es fällt doch allmählich wieder ab, und ein Glück,
daß ich meinen Engelke habe.“
Vor Erregung war er aus ſeinem Rollſtuhl auf¬
geſtanden und drückte auf den Klingelknopf. „Engelke,
geh zu Lorenzen und ſag ihm, ich ließ ihn bitten. Der
ſoll dann aber heut auch der letzte ſein ... Denke
dir, Engelke, ſie wollen mich bekehren!“
„Aber, gnäd'ger Herr, das is ja doch das beſte.“
„Gott, nu fängt der auch noch an.“
Achtunddreißigſtes Kapitel.
Lorenzen kam nicht; er war nach Rheinsberg, wo
die Geiſtlichen aus dem öſtlichen Teil der Grafſchaft
eine Konferenz hatten. Aber ſtatt Lorenzen kam Doktor
Moſcheles und ſprach von allem möglichen, erſt ganz
kurz von Dubslavs Zuſtand, den er nicht gut und nicht
ſchlecht fand, dann von Koſeleger, von Katzler, auch
von Sponholz (von dem ein Brief eingetroffen war),
am ausführlichſten aber von Rechtsanwalt Katzenſtein
und von Torgelow. „Ja, dieſer Torgelow,“ ſagte
Moſcheles. „Es war ein Mißgriff, ihn zu wählen.
Und wenn es noch nötig geweſen wäre, wenn die Partei
keinen Beſſeren gehabt hätte! Aber da haben ſie denn
doch noch ganz andre Leute.“ Dubslav war davon
wenig angenehm berührt, weil er aus der perſönlichen
Niedrigſtellung Torgelows die Hochſtellung der Torgelow¬
ſchen Partei heraushörte.
Der Beſuch hatte wohl eine halbe Stunde gedauert.
Als Moſcheles wieder fort war, ſagte Dubslav: „Engelke,
wenn er wiederkommt, ſo ſag' ihm, ich ſei nicht da.
Das wird er natürlich nicht glauben; weiß er doch am
beſten, daß ich an mein Zimmer und meinen Rollſtuhl
gebunden bin. Aber trotzdem; ich mag ihn nicht. Es
war eine Dummheit von Sponholz, ſich grade dieſen
auszuſuchen, ſolchen Allerneueſten, der nach Sozial¬
demokratie ſchmeckt und dabei ſeinen Stock ſo ſonderbar
[440] anfaßt, immer grad’ in der Mitte. Und dazu auch noch
’nen roten Schlips.“
„Es ſind aber ſchwarze Käfer drin.“
„Ja, die ſind drin, aber ganz kleine. Das machen
ſie ſo, damit es nicht jeder gleich merkt, wes Geiſtes
Kind ſo einer iſt, und wohin er eigentlich gehört. Aber
ich merk’ es doch, auch wenn er an Kaiſer Wilhelms
Geburtstag mit ’ner papiernen Kornblume kommt. Alſo
du ſagſt ihm, ich ſei nicht da.“
Engelke widerſprach nicht, hatte jedoch ſo ſeine
Gedanken dabei. „Der alte Doktor iſt weg und den
neuen will er nicht. Un den aus Wutz will er auch
nich, weil der ſo viel mit der Domina zuſammenhockt.
Un dabei kommt er doch immer mehr ’runter. Er denkt:
‚Es is noch nich ſo ſchlimm.‘ Aber es is ſchlimm.
Is genau ſo wie mit Bäcker Knaack. Un Kluckhuhn
ſagte mir ſchon vorige Woche: ‚Engelke, glaube mir, es
wird nichts; ich weiß Beſcheid.‘“
Das war am Montag. Am Freitag fuhr Moſcheles
wieder vor und verfärbte ſich, als Engelke ſagte, ‚der
gnäd’ge Herr ſei nicht da‘.
„So, ſo. Nicht da.“
Das war doch etwas ſtark. Moſcheles ſtieg alſo
wieder auf ſeinen Wagen und beſtärkte ſich, während
er nach Granſee zurückfuhr, in ſeinen durchaus ab¬
lehnenden Anſchauungen über den derzeitigen Geſell¬
ſchaftszuſtand. „Einer iſt wie der andre. Was wir
brauchen, is ein Generalkladderadatſch, Krach, tabula
rasa.“ Zugleich war er entſchloſſen, von einem er¬
neuten Krankenbeſuch abzuſtehen. „Der gnäd’ge Herr
auf, von und zu Stechlin kann mich ja rufen laſſen,
wenn er mich braucht. Hoffentlich unterläßt er’s.“
Dieſer Wunſch erfüllte ſich denn auch. Dubslav
ließ ihn nicht rufen, wiewohl guter Grund dazu geweſen
wäre, denn die Beſchwerden wuchſen plötzlich wieder,
und wenn ſie zeitweilig nachließen, waren die geſchwollenen
Füße ſofort wieder da. Engelke ſah das alles mit
Sorge. Was blieb ihm noch vom Leben, wenn er ſeinen
gnäd'gen Herrn nicht mehr hatte? Jeder im Haus
mißbilligte des Alten Eigenſinn, und Martin, als er
eines Tages vom Stall her in die nebenan gelegene
niedrige Stube trat, wo ſeine Frau Kartoffeln ſchälte,
ſagte zu dieſer: „Ick weet nich, Mutter, worüm he den
jungſchen Dokter rutgrulen däd. De Jungſche is doch
klöger, as de olle Sponholz is. Doa möt man blot
de Globſower über Sponholzen hüren. ‚Joa, oll Spon¬
holz‘, ſo ſeggen ſe, ‚de is joa ſo wiet ganz good, awers
he ſeggt man ümmer: Kinnings, krank is he egentlich
nich, he brukt man blot 'ne Supp' mit en beten wat
in!‘ Joa, Sponholz, de kann ſo wat ſeggen, de hett
wat dato. Awers de Globſower! Wo ſalln de 'ne
Supp' herkregen mit en beten wat in?“
So verging Tag um Tag, und Dubslav, dem
herzlich ſchlecht war, ſah nun ſelber, daß er ſich in jedem
Punkt übereilt hatte. Moſcheles war doch immerhin ein
richtiger Stellvertreter geweſen, und wenn er jetzt einen
andern nahm, ſo traf das Sponholzen auch mit. Und
das mocht' er nicht. In dieſer Notlage ſann er hin
und her, und eines Tages, als er mal wieder in rechter
Bedrängnis und Atemnot war, rief er Engelke und ſagte:
„Engelke, mir is ſchlecht. Aber rede mir nich von dem
Doktor. Ich mag unrecht haben, aber ich will ihn nicht.
Sage, wie ſteht das eigentlich mit der Buſchen? Die
ſoll ja doch letzten Herbſt unſ' Koſſät Rohrbeckens Frau
wieder auf die Beine gebracht haben.“
„Ja, die Buſchen ...“
„Na, was meinſt du?“
[442]„Ja, die Buſchen, die weiß Beſcheid. Verſteht ſich.
Man bloß, daß ſie 'ne richtige alte Hexe is, und um
Walpurgis weiß keiner, wo ſie is. Und die Mächens
gehen Sonnabends auch immer hin, wenn's ſchummert,
und Uncke hat auch ſchon welche notiert und beim Land¬
rath Anzeige gemacht. Aber ſie ſtreiten alle Stein und Bein;
und ein paar haben auch ſchon geſchworen, ſie wüßten
von gar nichts.“
„Kann ich mir denken und vielleicht war's auch
nich ſo ſchlimm. Und dann, Engelke, wenn du meinſt,
daß ſie ſo gut Beſcheid weiß, da wär's am Ende das
beſte, du gingſt mal hin oder ſchickteſt wen. Denn deine
alten Beine wollen auch nich mehr ſo recht, und außer¬
dem is Schlackerwetter. Und wenn du mir auch noch
krank wirſt, ſo hab' ich ja keine Katze mehr, die ſich
um mich kümmert. Woldemar is weit weg. Und wenn
er auch in Berlin wäre, da hat er ja doch ſeinen Dienſt
und ſeine Schwadron und kann nich den ganzen Tag
bei ſeinem alten Vater ſitzen. Und außerdem, Kranken¬
pflegen iſt überhaupt was Schweres; darum haben die
Katholiken auch 'nen eignen Segen dafür. Ja, die ver¬
ſtehn es. So was verſtehn ſie beſſer als wir.“
„Nei, gnäd'ger Herr, beſſer doch wohl nich.“
„Na, laſſen wir's. So was is immer ſchwer feſt¬
zuſtellen, und weil heutzutage ſo vieles ſchwer feſtzu¬
ſtellen iſt, haben ſich ja die Menſchen auch das angeſchafft,
was ſie 'ne ‚Enquete‘ nennen. Keiner kann ſich freilich
ſo recht was dabei denken. Ich gewiß nicht. Weißt du,
was es iſt?“
„Nei, gnäd'ger Herr.“
„Siehſt du! Du biſt eben ein vernünftiger Menſch,
das merkt man gleich, und haſt auch ein Einſehn davon,
daß es eigentlich am beſten wäre, wenn ich zu der
Buſchen ſchicke. Was die Leute von ihr reden, geht
[443] mich nichts an. Und dann bin ich auch kein Mächen.
Und Uncke wird mich ja wohl nicht aufſchreiben.“
Engelke lächelte: „Na, gnäd'ger Herr, dann werd'
ich man unten mit unſe' Mamſell Pritzbur ſprechen;
die kann denn die lütte Marie 'rausſchicken. Marieken
is letzten Michaelis erſt eingeſegnet, aber ſie war auch
ſchon da.“
Noch an demſelben Nachmittag erſchien die Buſchen
im Herrenhauſe. Sie hatte ſich für den Beſuch etwas
zurecht gemacht und trug ihre beſten Kleider, auch ein
neues ſchwarzes Kopftuch. Aber man konnte nicht ſagen,
daß ſie dadurch gewonnen hätte. Faſt im Gegenteil.
Wenn ſie ſo mit 'nem Sack über die Schulter oder mit
'ner Kiepe voll Reiſig aus dem Walde kam, ſah man
nichts als ein altes, armes Weib; jetzt aber, wo ſie bei
dem alten Herrn eintrat und nicht recht wußte, warum
man ſie gerufen, ſah man ihr die Verſchlagenheit an,
und daß ſie für all und jedes zu haben ſei.
Sie blieb an der Thür ſtehen.
„Na, Buſchen, kommt man 'ran oder ſtellt Euch da
ans Fenſter, daß ich Euch beſſer ſehn kann. Es iſt ja
ſchon ganz ſchummrig.“
Sie nickte.
„Ja, mit mir is nich mehr viel los, Buſchen.
Und nu is auch noch Sponholz weg. Und den neuen
Berlinſchen, den mag ich nicht. Ihr ſollt ja Koſſät
Rohrbeckens Frau damals wieder auf die Beine ge¬
bracht haben. Mit mir is es auch ſo was. Habt Ihr
Courage, mich in die Kur zu nehmen? Ich zeig' Euch
nicht an. Wenn einem einer hilft, is das andre alles
gleich. Alſo nichts davon. Und es ſoll Euer Schaden
nicht ſein.“
„Ick weet joa, jnäd'ger Herr ... Se wihren joa
[444] nich. Un denn de Lüd', de denken ümmer, ick kann
hexen un all ſo wat. Ick kann awer joar nix un hebb
man blot en beten Liebſtöckel un Wacholder un Aller¬
mannsharniſch. Un alles blot, wie't ſinn muß. Un
de Gerichten können mi nix dohn.“
„Is mir lieb. Und geht mich übrigens auch nichts
an. Mit ſo was komm' ich Euch nich. Kann ‚Gerichte‘
ſelber nich gut leiden. Und nu ſagt mir, Buſchen, wollt'
Ihr den Fuß ſehn? Einer is genug. Der andre ſieht
ebenſo aus. Oder doch beinah'.“
„Nei, jnäd'ger Herr. Loaten's man. Ick weet joa,
wi dat is. Ihrſt ſitt et hier up de Boſt, un denn ſackt
et ſich, un denn ſitt et hier unnen. Un is all een un
dat ſülwige. Dat möt allens 'rut, un wenn et 'rut is,
denn drückt et nich mihr, un denn künnen Se wedder
gapſen.“
„Gut. Leuchtet mir ein. ‚Et muß 'rut‘, ſagt Ihr.
Und das ſag' ich auch. Aber womit wollt Ihr's ‚'rut‘¬
bringen? Das is die Sache. Welche Mittel, welche
Wege?“
„Joa, de Mittel hebb ick. Un hebben wi ihrſt de
Mittel, denn ſinnen ſich ook de Weg'. Ick ſchick' hüt
noch Agneſſen mit twee Tüten; Agnes, dat is Karlinen
ehr lütt Deern.“
„Ich weiß, ich weiß.“
„Un Agnes, de fall denn unnen in de Küch' goahn,
to Mamſell Pritzbur, un de Pritzburn de ſall denn den
Thee moaken för'n jnäd'gen Herrn. Morgens ut de
witte Tüt', un abens ut de blue Tüt'. Un ümmer
man 'nen geſtrichnen Eßlöffel vull un nich to veel
Woater; awers bullern möt et. Und wenn de Tüten
all ſinn, denn is et 'rut. Dat Woater nimmt dat Woater
weg.“
„Na gut, Buſchen. Wir wollen das alles ſo machen.
Und ich bin nicht bloß ein geduldiger Kranker, ich bin
[445] auch ein gehorſamer Kranker. Nun will ich aber bloß
noch wiſſen, was Ihr mir da in Euern Tüten ſchicken
wollt, in der weißen und in der blauen. Is doch kein
Geheimnis?“
„Nei, jnäd'ger Herr.“
„Na alſo.“
„In de witte Tüt' is Bärlapp un in de blue Tüt'
is, wat de Lüd' hier Katzenpoot nennen.“
„Verſteh', Verſteh',“ lächelte Dubslav, und dann
ſprach er wie zu ſich ſelbſt: „Nu ja, nu ja, das kann
ſchon helfen. Dazwiſchen liegt eigentlich die ganze
Weltgeſchichte. Mit Bärlapp zum Einſtreuen fängt die
ſüße Gewohnheit des Daſeins an und mit Katzenpfötchen
hört es auf. So verläuft es. Katzenpfötchen ... die
gelben Blumen, draus ſie die letzten Kränze machen ...
Na, wir wollen ſehn.“
An demſelben Abend kam Agnes und brachte die
beiden Tüten, und es geſchah, was beinah' über alles
Erwarten hinaus lag: es wurde wirklich beſſer. Die
Geſchwulſt ſchwand, und Dubslav atmete leichter. „Dat
Woater nimmt dat Woater“, an dieſem Hexenſpruch,
— den er, wenn er mit Engelke plauderte, gern citierte,
— richteten ſich ſeine Hoffnungen und ſeine Lebensgeiſter
wieder auf. Er war auch wieder für Bewegung und
ließ, wenn es das Wetter irgendwie geſtattete, ſeinen
Rollſtuhl nicht bloß auf die Veranda hinausſchieben,
ſondern fuhr auch um das Rundell herum und ſah dem
kleinen Springbrunnen zu, der wieder ſprang. Ja, es
kam ihm vor, als ob er höher ſpränge. „Findeſt du
nich auch, Engelke? Vor vier Wochen wollt' er nich.
Aber es geht jetzt wieder. Alles geht wieder, und es
iſt eigentlich dumm, ohne Hoffnung zu leben; wozu hat
man ſie denn?“
Engelke nickte bloß und legte die Zeitungen, die
gekommen waren, auf einen neben dem Frühſtückstiſch
ſtehenden Gartenſtuhl, zu unterſt die „Kreuzzeitung“ als
Fundament, auf dieſe dann die „Poſt“ und zuletzt die
Briefe. Die meiſten waren offen, Anzeigen und An¬
preiſungen, nur einer war geſchloſſen, ja ſogar ge¬
ſiegelt. Poſtſtempel: Berlin. „Gieb mir mal das Papier¬
meſſer, daß ich ihn manierlich aufſchneiden kann. Er
ſieht nach was aus, und die Handſchrift is wie von
'ner Dame, bloß ein bißchen zu dicke Grundſtriche.“
„Is am Ende von der Gräfin.“
„Engelke,“ ſagte Dubslav, „du wirſt mir zu
klug. Natürlich is er von der Gräfin. Hier is ja die
Krone.“
Wirklich es war ein Brief von Meluſine, ſamt
einer Einlage. Meluſinens Zeilen aber lauteten am
Schluß: „Und nun bitt' ich, Ihnen einen Brief bei¬
legen zu dürfen, den unſre liebe Baronin Berchtes¬
gaden geſtern aus Rom erhalten hat und zwar von
Armgard, deren volles Glück ich aus dieſem Brief und
allerhand kleinen, ihrem Charakter eigentlich fernliegenden
Übermütigkeiten erſt ſo recht erſehn habe.“
Dubslav nickte. Dann nahm er die Einlage
und las:
An wen könnt' ich von hier aus lieber ſchreiben
als an Sie? Vatikan und Lateran und Grabmal
Pio Nonos, und wenn ich Glück habe, bin ich
auch noch mit dabei, wenn am Gründonnerſtage der
große Segen geſpendet wird. Man muß eben alles
mitnehmen. Von Rom zu ſchwärmen iſt geſchmacklos
und überflüſſig dazu, weil man an die Schwärmerei ſeiner
Vorgänger doch nie heranreicht. Aber von unſerer
[447] Reiſe will ich Ihnen ſtatt deſſen erzählen. Wir nahmen
den Weg über den Brenner und waren am ſelben Abend
noch in Verona. ‚Torre di Londra‘. Was mich andern
Tags in der Capuletti- und Montecchi-Stadt am
meiſten intereſſierte, war ein großer Parkgarten, der
‚Giardino Giuſti‘, mit über zweihundert Cypreſſen,
alle fünfhundert Jahre alt und viele beinah' ſo hoch
wie das Berliner Schloß. Ich ging mit Woldemar
auf und ab, und dabei berechneten wir uns, ob wohl
die ſchöne Julia hier auch ſchon auf und ab gegangen
ſei? Nur eins ſtörte uns. Zu ſolcher Prachtavenue
von Trauerbäumen gehört als Abſchluß notwendig
ein Mauſoleum. Das fehlt aber. Im ‚Giardino
[Giuſti]‘ trafen wir Hauptmann von Gaza vom erſten
Garderegiment, der, von Neapel kommend, bereits alle
Schönheit Italiens geſehen hatte. Wir fragten ihn,
ob Verona, wie einem beſtändig verſichert wird, wirk¬
lich die ‚italieniſchſte der italieniſchen Städt‘ ſei? Haupt¬
mann von Gaza lachte. ‚Von Potsdam‘, ſo meinte er,
‚könne man vielleicht ſagen, daß es die preußiſchſte
Stadt ſei. Aber Verona die italieniſchſte? Nie und
nimmer.‘
„Über das vielgefeierte Venedig an dieſer Stelle
nur das eine. Unſer Hotel lag in Nähe einer mit Barok
überladenen Kirche: San Moſé. Daß es einen Sankt
Moſes giebt, war mir fremd und verwunderlich zu¬
gleich. Aber gleich danach dacht ich an unſere Gen¬
darmentürme und war beruhigt. Moſes geht doch
immer noch vor Gendarm.“
„Florenz überſpring' ich und erzähle Ihnen dafür
lieber vom Traſimeniſchen See, den mir auf unſerer
Eiſenbahnfahrt paſſierten. Woldemar, ein ganz klein
wenig „Taſchen-Moltke“, mochte nicht darauf ver¬
zichten, den großen Hannibal auf Herz und Nieren
zu prüfen, und ſo ſtiegen wir denn in Nähe des
[448] Sees aus, an einer kleinen Station, die, glaub' ich,
Borghetto-Tuoro heißt. Es war auch für einen Laien
über Erwarten intereſſant, und ſelbſt ich, die ich ſonſt
gar keinen Sinn für derlei Dinge habe, verſtand alles,
und fand mich leicht in jeglichem zurecht. Ja, ich
hatte das Gefühl, daß ich in dieſem hochgelegenen
Engpaß ebenfalls über die Römer geſiegt haben würde.
Der See hat viele Zu- und Abflüſſe. Einer dieſer Ab¬
flüſſe (mehr Kanal als Fluß) nennt ſich der ‚Emiſſarius‘,
was mich ſehr erheiterte. Noch intereſſanter aber
erſchien mir ein anderer Flußlauf, der, weil er am
Schlachttage von Blut ſich rötete, der ‚Sanguinetto‘
heißt. Das Diminutiv ſteigert hier ganz entſchieden
die Wirkung. Der See iſt übrigens ſehr groß, zehn
Meilen Umfang, und dabei flach, weshalb der erſte
Napoleon ihn auspumpen laſſen wollte. Da hätte ſich
dann ein neues Herzogtum gründen laſſen ...“
„Schau, Schau,“ ſagte der alte Dubslav, „wer der
blaſſen Comteſſe das zugetraut hätte! Ja, reiſen und
in den Krieg ziehen, da lernt man, da wird man
anders.“
Und er legte den Brief beiſeite.
Zugleich aber war ein ſtilles Behagen über ihn
gekommen und er überdachte, wie manche Freude das
Leben doch immer noch habe. Vor ihm, in den Park¬
bäumen, ſchlugen die Vögel, und ein Buchfink kam bis
auf den Tiſch und ſah ihn an, ganz ohne Scheu. Das
that ihm ungemein wohl. „Etwas ganz beſonders Schönes
im Leben iſt doch das Vertrauen, und wenn's auch
bloß ein Piepvogel is, der's einem entgegenbringt.
Einige haben eine ſchwarze Milz und ſagen: alles ſei
von Anfang an auf Mord und Totſchlag geſtellt. Ich
kann es aber nicht finden.“
Engelke kam, um abzuräumen. „Is ein ſchöner
Tag heut,“ ſagte Dubslav, „und die Krokuſſe kommen
[449] auch ſchon 'raus. Eigentlich hab' ich nich geglaubt,
daß ich ſo was Hübſches noch mal ſehn würde. Und
wenn ich dann denke, daß ich das alles der Buſchen
verdanke! Merkwürdige Welt! Sponholz hatte bloß
immer ſeine grünen Tropfen, und Moſcheles hatte nichts
als ſeinen ewigen Torgelow, und nu kommt die Buſchen
und mit einem Mal is es beſſer. Ja, wirklich merk¬
würdig. Und nu krieg' ich auch noch, wenn auch bloß
leihweiſe, ſolchen hübſchen Brief von einer hübſchen
jungen Frau. Noch dazu Schwiegertochter. Ja, Engelke,
ſo geht's; nich zu glauben. Und da hätteſt du vorhin
den Buchfinken ſehen ſollen, wie mich der anſah. Bloß
als du kamſt, da flog er weg; er muß ſich vor dir ge¬
grault haben.
„Ach, gnäd'ger Herr, vor mir grault ſich keine
Kreatur.“
„Will dir's glauben. Und du ſollſt ſehn, heute
haben wir 'nen guten Tag, und es kommt auch noch
wer, an dem man ſich freuen kann. Wie mir ſchlecht
war, da kam Koſeleger und die Prinzeſſin. Aber heute
kam ein Buchfink. Und ich bin ganz ſicher, der hat noch
ein Gefolge.“
Dubslavs Ahnungen behielten recht; und als der
Nachmittag da war, kam Lorenzen, der ſich, ſeitdem der
Alte ſeinen Katzenpfötchenthee trank, nur ſelten und
immer bloß flüchtig hatte ſehen laſſen. Aber das war
rein zufällig und ſollte nicht eine Mißbilligung darüber
ausdrücken, daß ſich der Alte bei der Buſchen in die Kur
gegeben.
„Nun endlich,“ empfing ihn Dubslav, als Lorenzen
eintrat. „Wo bleiben Sie? Da heißt es immer, wir
Junker wären kleine Könige. Ja, wer's glaubt! Alle
kleinen Könige haben ein Cortege, das ſich in Huldigungen
Fontane, Der Stechlin. 29[450] und Purzelbäumen überſchlägt. Aber von ſolchem Ge¬
folge habe ich noch nicht viel geſehen. Baruch iſt freilich
hier geweſen und dann Koſeleger und dann die Prin¬
zeſſin, aber der, der ſo halb ex officio kommen ſollte,
der kommt nicht und ſchickt höchſtens mal die Kulicke
oder die Elfriede mit 'ner Anfrage. Sterben und ver¬
derben kann man. Und das heißt dann Seelſorge.“
Lorenzen lächelte. „Herr von Stechlin, Ihre Seele
macht mir, trotz dieſer meiner Vernachläſſigung keine Sorge,
denn ſie zählt zu denen, die jeder Spezialempfehlung
entbehren können. Laſſen Sie mich ſehr menſchlich, ja
für einen Pfarrer beinah läſterlich ſprechen. Aber ich
muß es. Ich lebe nämlich der Überzeugung, der liebe
Gott, wenn es mal ſo weit iſt, freut ſich, Sie wieder¬
zuſehen. Ich ſage, wenn es ſo weit iſt. Aber es iſt
noch nicht ſo weit.“
„Ich weiß nicht, Lorenzen, ob Sie recht haben.
Jedenfalls aber befind' ich mich in meinem derzeitig
erträglichen Zuſtande nur mit Hilfe der Buſchen, und
ob mich das nach obenhin beſonders empfehlen kann,
iſt mir zweifelhaft. Aber laſſen wir die heikle Frage.
Erzählen Sie mir lieber etwas recht Hübſches und
Heiteres, auch wenn es nebenher etwas ganz Altes iſt,
etwa das, was man früher Miſcellen nannte. Das iſt
mir immer das liebſte geweſen und iſt es noch. Was
ich da ſo in den Zeitungen leſe, voran das Politiſche,
das weiß ich ſchon immer alles, und was ich von
Engelke höre, das weiß ich auch. Beiläufig — natürlich nur
vom alleregoiſtiſchſten Zeitungsleſerſtandpunkt aus —
ein wahres Glück, daß es Unglücksfälle giebt, ſonſt hätte man
von der Zeitungslektüre ſo gut wie gar nichts. Aber Sie,
Sie leſen auch ſonſt noch allerlei, mitunter ſogar Gutes
(freilich nur ſelten), und haben ein wundervolles Ge¬
dächtnis für Räubergeſchichten und Anekdoten aus allen
fünf Weltteilen. Außerdem ſind Sie Friederikus-Rex¬
[451] Mann, was ich Ihnen eigentlich am höchſten anrechne,
denn die Friederikus-Rex-Leute, die haben alle Herz und
Verſtand auf dem rechten Fleck. Alſo ſuchen Sie nach
irgend was der Art, nach einer alten Zieten- oder
Blücheranekdote, kann meinetwegen auch Wrangel ſein —
ich bin dankbar für alles. Je ſchlechter es einem geht
je ſchöner kommt einem ſo was kavalleriſtiſch Friſches
und Übermütiges vor. Ich ſpiele mich perſönlich nicht
auf Heldentum aus, Renommieren iſt ein elendes Hand¬
werk; aber das darf ich ſagen: ich liebe das Heldiſche.
Und Gott ſei Dank kommt dergleichen immer noch vor.“
„Gewiß kommt ſo was immer noch vor. Aber, Herr
von Stechlin, all dies Heldiſche ...“
„Nun aber Lorenzen, Sie werden doch nicht
gegen das Heldiſche ſein? So weit ſind Sie doch noch
nicht! Und wenn es wäre, da würd' ich ernſtlich böſe.“
„Das läßt Ihre Güte nicht zu.“
„Sie wollen mich einfangen. Aber diesmal glückt
es nicht. Was haben Sie gegen das Heldiſche?“
„Nichts, Herr von Stechlin, gar nichts. Im Gegen¬
teil. Heldentum iſt gut und groß. Und unter Um¬
ſtänden iſt es das allergrößte. Laſſe mir alſo den
Heroenkultus durchaus gefallen, das heißt, den echten
und rechten. Aber was ſie da von mir hören wollen,
das iſt, Verzeihung für das Wort, ein Heldentum zweiter
Güte. Mein Heldentum — ſoll heißen, was ich für
Heldentum halte — das iſt nicht auf dem Schlachtfelde
zu Hauſe, das hat keine Zeugen oder doch immer nur
ſolche, die mit zu Grunde gehn. Alles vollzieht ſich ſtumm,
einſam, weltabgewandt. Wenigſtens als Regel. Aber
freilich, wenn die Welt dann ausnahmsweiſe davon
hört, dann horch' ich mit auf, und mit geſpitzterem Ohr,
wie ein Kavalleriepferd, das die Trompete hört.“
„Gut. Meinetwegen. Aber Beiſpiele.“
29*[452]„Kann ich geben. Da ſind zunächſt die fanatiſchen
Erfinder, die nicht ablaſſen von ihrem Ziel, unbekümmert
darum, ob ein Blitz ſie niederſchlägt oder eine Exploſion
ſie in die Luft ſchleudert; da ſind des weiteren die großen
Kletterer und Steiger, ſei's in die Höh', ſei's in die
Tiefe, da ſind zum dritten, die, die den Meeresgrund
abſuchen wie 'ne Wieſe, und da ſind endlich die Welt¬
teildurchquerer und die Nordpolfahrer.“
„Ach, der ewige Nanſen. Nanſen, der, weil er die
diesſeits verlorene Hoſe jenſeits in Grönland wiederfand,
auf den Gedanken kam: ‚Was die Hoſe kann, kann ich auch.‘
Und daraufhin fuhr er über den Pol. Oder wollte wenigſtens.“
Lorenzen nickte.
„Nun ja, das war klug gedacht. Und daß dieſer
Nanſen ſich an die Sache 'ran machte, das reſpektier' ich,
auch wenn ſchließlich nichts draus wurde. Bleibt immer
noch ein Bravourſtück. Gewiß, da ſitzt nu ſo wer im
Eiſe, ſieht nichts, hört nichts, und wenn wer kommt,
iſt es höchſtens ein Eisbär. Indeſſen, er freut ſich doch,
weil es wenigſtens was Lebendiges iſt. Ich darf ſagen,
ich hab' einen Sinn für dergleichen. Aber trotzdem,
Lorenzen, die Garde bei St. Privat iſt doch mehr.“
„Ich weiß nicht, Herr von Stechlin. Echtes Helden¬
tum, oder um's noch einmal einzuſchränken, ein ſolches,
das mich perſönlich hinreißen ſoll, ſteht immer im Dienſt
einer Eigenidee, eines allereigenſten Entſchluſſes. Auch
dann noch (ja mitunter dann erſt recht), wenn dieſer
Entſchluß ſchon das Verbrechen ſtreift. Oder, was faſt
noch ſchlimmer, das Häßliche. Kennen Sie den Cooperſchen
‚Spy‘? Da haben Sie den Spion als Helden. Mit
andern Worten, ein Niedrigſtes als Höchſtes. Die Ge¬
ſinnung entſcheidet. Das ſteht mir feſt. Aber es giebt
der Beiſpiele noch andere, noch beſſere!“
„Da bin ich neugierig,“ ſagte Dubslav. „Alſo
wenn's ſein kann: Name.“
„Name: Greeley, Leutnant Greeley; Yankee pur
sang. Und im übrigen auch einer aus der Nordpol¬
fahrergruppe.“
„Will alſo ſagen: Nanſen der Zweite.“
„Nein, nicht der Zweite. Was er that, war viele
Jahre vor Nanſen.“
„Und er kam höher hinauf? Weiter nach dem Pol
zu. Oder waren ſeine Eisbär-Rencontres von noch ernſt¬
hafterer Natur?“
„All das würde mir nicht viel beſagen. Das her¬
kömmlich Heldiſche fehlt in ſeiner Geſchichte völlig. Was
an ſeine Stelle tritt, iſt ein ganz andres. Aber dies
andre, das gerade macht es.“
„Und das war?“
„Nun denn, — ich erzähle nach dem Gedächtnis
und im Einzelnen und Nebenſächlichen irr' ich vielleicht ..
Aber in der Hauptſache ſtimmt es ... Alſo zuletzt, nach
langer Irrfahrt, waren's noch ihrer fünf: Greeley ſelbſt
und vier ſeiner Leute. Das Schiff hatten ſie verlaſſen,
und ſo zogen ſie hin über Eis und Schnee. Sie wußten
den Weg, ſoweit ſich da von Weg ſprechen läßt, und
die Sorge war nur, ob das bißchen Proviant, das ſie
mit ſich führten, Schiffszwieback und geſalzenes Fleiſch,
bis an die nächſte menſchenbewohnte Stelle reichen würde.
Jedem war ein höchſtes und doch zugleich auch wieder
geringſtes Maß als tägliche Proviſion zubewilligt, und
wenn man dies Maß einhielt und kein Zwiſchenfall kam,
ſo mußt' es reichen. Und einer, der noch am meiſten bei
Kräften war, ſchleppte den geſamten Proviant. Das
ging ſo durch Tage. Da nahm Leutnant Greeley wahr,
daß der Proviant ſchneller hinſchmolz als berechnet, und
nahm auch wahr, daß der Proviantträger ſelbſt, wenn
er ſich nicht beobachtet glaubte, von den Rationen
nahm. Das war eine ſchreckliche Wahrnehmung. Denn
ging es ſo fort, ſo waren ſie ſamt und ſonders ver¬
[454] loren. Da nahm Greeley die drei andern beiſeit und
beriet mit ihnen. Eine Möglichkeit gewöhnlicher Be¬
ſtrafung gab es nicht, und auf einen Kampf ſich ein¬
zulaſſen, ging auch nicht. Sie hatten dazu die Kräfte
nicht mehr. Und ſo hieß es denn zuletzt, und es war
Greeley der es ſagte: ‚Wir müſſen ihn hinterrücks er¬
ſchießen.‘ Und als ſie bald nach dieſer Kriegsgerichtsſcene
wieder aufbrachen, der heimlich Verurtheilte vorn an der
Tete, trat Greeley von hintenher an ihn heran und ſchoß ihn
nieder. Und die That war nicht umſonſt gethan; ihre
Rationen reichten aus, und an dem Tage, wo ſie den
letzten Biſſen verzehrten, kamen ſie bis an eine Station.“
„Und was wurde weiter?“
„Ich weiß nicht mehr, ob Greeley ſelbſt bei ſeiner
Rückkehr nach New-York als Ankläger gegen ſich auf¬
trat; aber das weiß ich, daß es zu einer großen Ver¬
handlung kam.“
„Und in dieſer ...“
„... In dieſer wurd' er freigeſprochen und im
Triumph nach Hauſe getragen.“
„Und Sie ſind einverſtanden damit?“
„Mehr; ich bin voll Bewunderung. Greeley, ſtatt zu
thun, was er that, hätte zu den Gefährten ſagen können:
‚Unſer Exempel wird falſch, und wir gehen an des einen
Schuld zu Grunde; töten mag ich ihn nicht, — ſterben
wir alſo alle.‘ Für ſeine Perſon hätt' er ſo ſprechen
und handeln können. Aber es handelte ſich nicht bloß
um ihn; er hatte die Führer- und die Befehlshaberrolle,
zugleich die Richter-Pflicht und hatte die Majorität von
drei gegen eine Minorität von einem zu ſchützen. Was
dieſer eine gethan, an und für ſich ein Nichts, war
unter den Umſtänden, unter denen es geſchah, ein fluch¬
würdiges Verbrechen. Und ſo nahm er denn gegen die
geſchehene ſchwere That die ſchwere Gegenthat auf ſich.
In ſolchem Augenblicke richtig fühlen und in der Über¬
[455] zeugung des Richtigen feſt und unbeirrt ein furchtbares
Etwas thun, ein Etwas, das, aus ſeinem Zuſammen¬
hange geriſſen, allem göttlichen Gebot, allem Geſetz und
aller Ehre widerſpricht, das imponiert mir ganz un¬
geheuer und iſt in meinen Augen der wirkliche, der
wahre Mut. Schmach und Schimpf, oder doch der Vor¬
wurf des Schimpflichen, haben ſich von jeher an alles
Höchſte geknüpft. Der Bataillonsmut, der Mut in der
Maſſe (bei allem Reſpekt davor), iſt nur ein Herdenmut.“
Dubslav ſah vor ſich hin. Er war augenſcheinlich
in einem Schwankezuſtand. Dann aber nahm er die Hand
Lorenzens und ſagte: „Sie ſollen recht haben.“
Neununddreißigſtes Kapitel.
Dubslav hatte nach Lorenzens Beſuch eine gute
Nacht. „Wenn man mal ſo was andres hört, wird einem
gleich beſſer.“ Aber auch der Katzenpfötchenthee fuhr
fort, ſeine Wirkung zu thun, und was dem Kranken
am meiſten half, war, daß er die grünen Tropfen
fortließ.
„Hör, Engelke, am Ende wird es noch mal was.
Wie gefallen dir meine Beine? Wenn ich drücke, keine
Kute mehr.“
„Gewiß, gnäd'ger Herr, es wird nu wieder, un
das macht alles der Thee. Ja, die Buſchen verſteht es,
das hab' ich immer geſagt. Und geſtern abend, als
Lorenzen hier war, war auch lütt Agnes hier un hat
unten in der Küche gefragt, ,wie's denn eigentlich mit
dem gnädigen Herrn ſtünn‘? Und die Mamſell hat ihr
geſagt, ,es ſtünde gut‘.“
„Na, das is recht, daß die Alte, wie 'n richtiger
Doktor, ſich um einen kümmert und von allem wiſſen
will. Und daß ſie nicht ſelber kommt, iſt noch beſſer.
So 'n bißchen ſchlecht Gewiſſen hat ſie doch woll. Ich
glaube, daß ſie viel auf 'm Kerbholz hat, und daß die
Karline ſo is, wie ſie is, daran is doch auch bloß die
Alte ſchuld. Und das Kind wird vielleicht auch noch
ſo; ſie dreht ſich ſchon wie 'ne Puppe, und dazu das
lange blonde Zoddelhaar. Ich muß dabei immer an
[457] Bellchen denken, — weißt du noch, als die gnäd'ge
Frau noch lebte. Bellchen hatte auch ſolche Haare. Und
war auch der Liebling. Solche ſind immer Liebling.
Krippenſtapel, hör' ich, ſoll ſie auch in der Schule ver¬
wöhnen. Wenn die andern ihn noch anglotzen, dann
ſchießt ſie ſchon los. Es iſt ein kluges Ding.“
„Engelke beſtätigte, was Dubslav ſagte, und ging
dann nach unten, um dem gnäd'gen Herrn ſein zweites
Frühſtück zu holen: ein weiches Ei und eine Taſſe
Fleiſchbrühe. Als er aber aus dem Gartenzimmer auf
den großen Hausflur hinaustrat, ſah er, daß ein Wagen
vorgefahren war, und ſtatt in die Küche zu gehen, ging
er doch lieber gleich zu ſeinem Herrn zurück, um mit
verlegenem Geſicht zu melden, daß das gnäd'ge Fräu¬
lein da ſei.
„Wie? Meine Schweſter?“
„Ja, das gnäd'ge Frölen.“
„I, da ſoll doch gleich 'ne alte Wand wackeln,“
ſagte Dubslav, der einen ehrlichen Schreck gekriegt hatte,
weil er ſicher war, daß es jetzt mit Ruh' und Frieden
auf Tage, vielleicht auf Wochen, vorbei ſei. Denn Adel¬
heid mit ihren ſechsundſiebzig ſetzte ſich nicht gern auf
eine Kleinigkeit hin in Bewegung, und wenn ſie die
beinahe vier Meilen von Kloſter Wutz her herüberkam,
ſo war das kein Nachmittagsbeſuch, ſondern Einquar¬
tierung. Er fühlte, daß ſich ſein ganzer Zuſtand mit
einem Male wieder verſchlechterte, und daß eine halbe
Atemnot im Nu wieder da war.
Er hatte aber nicht lange Zeit, ſich damit zu be¬
ſchäftigen, denn Engelke öffnete bereits die Thür, und
Adelheid kam auf ihn zu. „Tag, Dubslav. Ich muß
doch mal ſehn. Unſer Rentmeiſter Fix iſt vorgeſtern
hier in Stechlin geweſen und hat dabei von deinem
letzten Unwohlſein gehört. Und daher weiß ich es. Eh'
[458] du perſönlich deine Schweſter ſo was wiſſen läßt oder
einen Boten ſchickſt ...“
„Da muß ich ſchon tot ſein,“ ergänzte der alte
Stechlin und lachte. „Nun, laß es gut ſein, Adelheid,
mach dir's bequem und rücke den Stuhl da heran.“
„Den Stuhl da? Aber, Dubslav, was du dir
nur denkſt! Das iſt ja ein Großvaterſtuhl oder doch
beinah'.“ Und dabei nahm ſie ſtatt deſſen einen kleinen,
leichten Rohrſeſſel und ließ ſich drauf nieder. „Ich
komme doch nicht zu dir, um mich hier in einen großen
Polſterſtuhl mit Backen zu ſetzen. Ich will meinen lieben
Kranken pflegen, aber ich will nicht ſelber eine Kranke
ſein. Wenn es ſo mit mir ſtünde, wär' ich zu Hauſe
geblieben. Du rechneſt immer, daß ich zehn Jahre älter
bin als du. Nun ja, ich bin zehn Jahre älter. Aber
was ſind die Jahre? Die Wutzer Luft iſt geſund, und
wenn ich die Grabſteine bei uns leſe, unter achtzig iſt
da beinah' keine von uns abgegangen. Du wirſt erſt
ſiebenundſechzig. Aber ich glaube, du haſt dein Leben
nicht richtig angelegt, ich meine deine Jugend, als du
noch in Brandenburg warſt. Und von Brandenburg
immer 'rüber nach Berlin. Na, das kennt man. Ich
habe neulich was Statiſtiſches geleſen.“
„Damen dürfen nie Statiſtiſches leſen,“ ſagte Dubs¬
lav, „es iſt entweder zu langweilig oder zu intereſſant,
— und das iſt dann noch ſchlimmer. Aber nun klingle
(verzeih, mir wird das Aufſtehn ſo ſchwer), daß uns
Engelke das Frühſtück bringt; du kommſt à la fortune
du pot und mußt fürlieb nehmen. Mein Troſt iſt, daß
du drei Stunden unterwegs geweſen. Hunger iſt der
beſte Koch.“
Beim Frühſtück, das bald danach aufgetragen wurde
— die Jahreszeit geſtattete, daß auch eine Schale mit
Kiebitzeiern aufgeſetzt werden konnte — verbeſſerte ſich
[459] die Stimmung ein wenig; Dubslav ergab ſich in ſein
Schickſal, und Adelheid wurde weniger herbe.
„Wo haſt du nur die Kiebitzeier her?“ ſagte ſie.
„Das iſt was Neues. Als ich noch hier lebte, hatten
wir keine.“
„Ja, die Kiebitze haben ſich ſeit kurzem hier ein¬
gefunden, an unſerm Stechlin, da, wo die Binſen ſtehn;
aber bloß auf der Globſower Seite. Nach der andern
Seite hin wollen ſie nicht. Ich habe mir gedacht, es
ſei vielleicht ein Fingerzeig, daß ich nun auch welche
nach Friedrichsruh ſchicken ſoll. Aber das geht nicht;
dann gelt' ich am Ende gleich für eingeſchworen, und
Uncke notiert mich. Wer dreimal Kiebitzeier ſchickt, kommt
ins ſchwarze Buch. Und das kann ich ſchon Woldemars
wegen nicht.“
„Is auch recht gut ſo. Was zu viel iſt, iſt zu
viel. Er ſoll ſich ja mit der Lucca zuſammen haben
photographieren laſſen. Und während ſie da oben in
der Regierung und mitunter auch bei Hofe ſo was thun,
fordern ſie Tugend und Sitte. Das geht nicht. Bei
ſich ſelber muß man anfangen. Und dann iſt er doch
auch ſchließlich bloß ein Menſch, und alle Menſchen¬
anbetung iſt Götzendienſt. Menſchenanbetung iſt noch
ſchlimmer als das goldene Kalb. Aber ich weiß wohl,
Götzendienſt kommt jetzt wieder auf, und Hexendienſt
auch, und du ſollſt ja auch — ſo wenigſtens hat mir
Fix erzählt — nach der Buſchen geſchickt haben.“
„Ja, es ging mir ſchlecht.“
„Gerade, wenn's einem ſchlecht geht, dann ſoll
man Gott und Jeſum Chriſtum erkennen lernen, aber
nicht die Buſchen. Und ſie ſoll dir Katzenpfötchenthee
gebracht haben und ſoll auch geſagt haben: ‚Waſſer
treibt das Waſſer.‘ Das mußt du doch heraushören,
daß das ein unchriſtlicher Spruch iſt. Das iſt, was ſie
‚beſprechen‘ nennen oder auch ‚böten‘. Und wo das
[460] alles herſtammt, ... ... Dubslav, Warum
biſt du nicht bei den grünen Tropfen geblieben und
bei Sponholz? Seine Frau war eine Pfarrerstochter
aus Kuhdorf.“
„Hat ihr auch nichts geholfen. Und nu ſitzt ſie
mit ihm in Pfäffers, einem Schweizerbadeort, und
da ſchmoren ſie gemeinſchaftlich in einem Backofen.
Er hat es mir ſelbſt erzählt, daß es ein Backofen is.“
Der erſte Tag war immerhin ganz leidlich ver¬
laufen. Adelheid erzählte von Fix, von der Schmar¬
gendorff und der Schimonski und zuletzt auch von
Maurermeiſter Lebenius in Berlin, der in Wutz eine
Ferienkolonie gründen wolle. „Gott, wir kriegen dann
ſo viel armes Volk in unſern Ort und noch dazu lauter
Berliner Bälge mit Plieraugen. Aber die grünen Wieſen
ſollen ja gut dafür ſein und unſer See ſoll Jod haben,
freilich wenig, aber doch ſo, daß man's noch gerade
finden kann.“ Adelheid ſprach in einem fort, derart,
daß Dubslav kaum zu Wort kommen konnte. Gelang es
ihm aber, ſo fuhr ſie raſch dazwiſchen, trotzdem ſie be¬
ſtändig verſicherte, daß ſie gekommen ſei, ihn zu pflegen,
und nur, wenn er auf Woldemar das Geſpräch brachte,
hörte ſie mit einiger Aufmerkſamkeit zu. Freilich, die
italieniſchen Reiſemitteilungen als ſolche waren ihr lang¬
weilig, und nur bei Nennung beſtimmter Namen, unter
denen „Tintoretto“ und „Santa Maria Novella“ oben¬
an ſtanden, erheiterte ſie ſich ſichtlich. Ja, ſie kicherte
dabei faſt ſo vergnügt wie die Schmargendorff. Ein
wirkliches, nicht ganz flüchtiges Intereſſe (wenn auch
freilich kein freundliches) zeigte ſie nur, wenn Dubslav
von der jungen Frau ſprach und hinzuſetzte: „Sie hat
ſo was Unberührtes.“
„Nu ja, nu ja. Das liegt aber doch zurück.“
„Wer keuſch iſt, bleibt keuſch.“
„Meinſt du das ernſthaft?“
„Natürlich mein' ich es ernſthaft. Über ſolche
Dinge ſpaß' ich überhaupt nicht.“
Und nun lachte Adelheid herzlich und ſagte:
„Dubslav, was haſt du nur wieder für Bücher ge¬
leſen? Denn aus dir ſelbſt kannſt du doch ſo was
nicht haben. Und von deinem Paſtor Lorenzen auch
nicht. Der wird ja wohl nächſtens 'ne ‚freie Gemeinde‘
gründen.“
So war der erſte Tag dahingegangen. Alles in
allem, trotz kleiner Ärgerlichkeiten, unterhaltlich genug
für den Alten, der, unter ſeiner Einſamkeit leidend,
meiſt froh war, irgend einen Plauderer zu finden, auch
wenn dieſer im übrigen nicht gerade der richtige war.
Aber das alles dauerte nicht lange. Die Schweſter
wurde von Tag zu Tag rechthaberiſcher und herriſcher
und griff unter der Vorgabe, „daß ihr Bruder anders
verpflegt werden müſſe“, in alles ein, auch in Dinge,
die mit der Verpflegung gar nichts zu thun hatten.
Vor allem wollte ſie ihm den Katzenpfötchenthee weg¬
disputieren, und wenn abends die kleine Meißener Kanne
kam, gab es jedesmal einen erregten Disput über die
Buſchen und ihre Hexenkünſte.
So waren denn noch keine acht Tage um, als es
für Dubslav feſtſtand, daß Adelheid wieder fort müſſe.
Zugleich ſann er nach, wie das wohl am beſten zu
machen ſei. Das war aber keine ganz leichte Sache,
da die „Kündigung“ notwendig von ihr ausgehen mußte.
So wenig er ſich aus ihr machte, ſo war er doch zu
ſehr Mann der Form und einer feineren Gaſtlichkeit,
als daß er's zuwege gebracht hätte, ſeinerſeits auf Ab¬
reiſe zu dringen.
Es war um die vierte Stunde, das Wetter ſchön,
[462] aber auch friſch. Adelheid hing ſich ihren Pelzkragen um,
ein altes Familienerbſtück, und ging zu Krippenſtapel,
um ſich ſeine Bienenſtöcke zeigen zu laſſen. Sie hoffte
bei der Gelegenheit auch was über den Paſtor zu hören,
weil ſie davon ausging, daß ein Lehrer immer über
den Prediger und der Prediger immer über den Lehrer
zu klagen hat. Jedes Landfräulein denkt ſo. Die
Bienen nahm ſie ſo mit in den Kauf.
Es begann zu dunkeln, und als die Domina
ſchließlich aus dem Herrenhauſe fort war, war das eine
freie Stunde für Dubslav, der nun nicht länger ſäumen
mochte, ſeine Mine zu legen.
„Engelke,“ ſagte er, „du könnteſt in die Küche
gehn und die Marie zur Buſchen ſchicken. Die Marie
weiß ja Beſcheid da. Und da kann ſie denn der alten
Hexe ſagen, lütt Agnes ſolle heut abend mit herauf¬
kommen und hier ſchlafen und immer da ſein, wenn ich
was brauche.“
Engelke ſtand verlegen da.
„Nu, was haſt du? Biſt du dagegen?“
„Nein, gnäd'ger Herr, dagegen bin ich wohl eigent¬
lich nich. Aber ich ſchlafe doch auch nebenan, und dann
is es ja, wie wenn ich für gar nichts mehr da wär'
und faſt ſo gut wie ſchon abgeſetzt. Und das Kind
kann doch auch nich all das, was nötig is; Agnes is
ja doch noch 'ne lütte Krabb'.“
„Ja, das is ſie. Und du ſollſt auch in der andern
Stube bleiben und alles thun wie vorher. Aber trotz¬
dem, die Agnes ſoll kommen. Ich brauche das Kind.
Und du wirſt auch bald ſehn, warum.“
Und ſo kam denn auch Agnes, aber erſt ſehr ſpät,
als ſich Adelheid ſchon zurückgezogen hatte, dabei nicht
ahnend, welche Ränke mittlerweile gegen ſie geſponnen
waren. Auf dieſe Verheimlichung kam es aber gerade an.
Dubslav hatte ſich nämlich wie Franz Moor — an
[463] den er ſonſt wenig erinnerte — herausgeklügelt, daß
Überraſchung und Schreck bei ſeinem Plan mitwirken
müßten.
Agnes ſchlief in einer nebenan aufgeſtellten eiſernen
Bettſtelle. Dubslav, gerade ſo wie ſeine Schweſter,
hatte das etwas auffällig herausgeputzte Kind bei ſeinem
Erſcheinen im Herrenhauſe gar nicht mehr geſehen; es
trug ein langes, himmelblaues Wollkleid ohne Taille,
dazu Knöpfſtiefel und lange rote Strümpfe, — lauter
Dinge, die Karline ſchon zu letzten Weihnachten geſchenkt
hatte. Gleich damals, am erſten Feiertag, hatte das
Kind den Staat denn auch wirklich angezogen, aber bloß
ſo ſtill für ſich, weil ſie ſich genierte, ſich im Dorfe
damit zu zeigen; jetzt dagegen, wo ſie bei dem gnäd'gen
Herrn in Krankenpflege gehen ſollte, jetzt war die richtige
Zeit dafür da.
Die Nacht verging ſtill; niemand war geſtört worden.
Um ſieben erſt kam Engelke und ſagte: „Nu, lütt Deern,
ſteih upp, is all ſeben.“ Agnes war auch wirklich wie
der Wind aus dem Bett, fuhr mit einem mitgebrachten
Hornkamm, dem ein paar Zähne fehlten, durch ihr etwas
gekrauſtes langes Blondhaar, putzte ſich wie ein Kätzchen,
und zog dann den himmelblauen Hänger, die roten
Strümpfe und zuletzt auch die Knöpfſtiefel an. Gleich
danach brachte ihr Engelke einen Topf mit Milchkaffee,
und als ſie damit fertig war, nahm ſie ihr Strickzeug
und ging in das große Zimmer nebenan, wo Dubslav
bereits in ſeinem Lehnſtuhl ſaß und auf ſeine Schweſter
wartete. Denn um acht nahmen ſie das erſte Frühſtück
gemeinſchaftlich.
„So, Agnes, das is recht, daß du da biſt. Haſt
du denn ſchon deinen Kaffee gehabt?“
Agnes knickſte.
„Nu ſetz dich da mal ans Fenſter, daß du bei
deiner Arbeit beſſer ſehn kannſt; du haſt ja ſchon dein
[464] Strickzeug in der Hand. Solch junges Ding wie du
muß immer was zu thun haben, ſonſt kommt ſie auf
dumme Gedanken. Nicht wahr?“
Agnes knickſte wieder, und da ſie ſah, daß ihr der
Alte weiter nichts zu ſagen hatte, ging ſie bis an das
ihr bezeichnete Fenſter, dran ein länglicher Eichentiſch
ſtand, und fing an zu ſtricken. Es war ein ſehr langer
Strumpf, brandrot und, nach ſeiner Schmalheit zu
ſchließen, für ſie ſelbſt beſtimmt.
Sie war noch nicht lange bei der Arbeit, als Adel¬
heid eintrat und auf ihren im Lehnſtuhl ſitzenden Bruder
zuſchritt. Bei der geringen Helle, die herrſchte, traf
ſich's, daß ſie von dem Gaſt am Fenſter nicht recht was
wahrnahm. Erſt als Engelke mit dem Frühſtück kam
und die plötzlich geöffnete Thür mehr Licht einfallen
ließ, bemerkte ſie das Kind und ſagte: „Da ſitzt ja wer.
Wer iſt denn das?“
„Das iſt Agnes, das Enkelkind von der Buſchen.“
Adelheid bewahrte mit Mühe Haltung. Als ſie ſich
wieder zurechtgefunden, ſagte ſie: „So, Agnes. Das
Kind von der Karline?“
Dubslav nickte.
„Das iſt mir ja 'ne Überraſchung. Und wo haſt
du ſie denn, ſeit ich hier bin, verſteckt gehalten? Ich
habe ſie ja die ganze Woche über noch nicht geſehn.“
„Konnteſt du auch nicht, Adelheid; ſie iſt erſt ſeit
geſtern Abend hier. Mit Engelke ging das nicht mehr,
wenigſtens nicht auf die Dauer. Er iſt ja ſo alt wie
ich. Und immer 'raus in der Nacht und 'rauf und
'runter und mich umdrehn und heben. Das konnt' ich
nich mehr mit anſehn.“
„Und da haſt du dir die Agnes kommen laſſen?
Die ſoll dich nun 'rumdrehn und heben? Das Kind,
das Wurm. Haha. Was du dir doch alles für Ge¬
ſchichten machſt.“
„Agnes,“ ſagte hier Dubslav, „du könnteſt mal
zu Mamſell Pritzbur in die Küche gehn und ihr ſagen,
ich möchte heute Mittag 'ne gefüllte Taube haben.
Aber nich ſo mager und auch nich ſo wenig Füllung,
und daß es nich nach alter Semmel ſchmeckt. Und dann
kannſt du gleich bei der Mamſell unten bleiben und
dir 'ne Geſchichte von ihr erzählen laſſen, vom ‚Schäfer
und der Prinzeſſin‘ oder vom ‚Fiſcher un ſine Fru‘;
Rotkäppchen wirſt du wohl ſchon kennen.“
Agnes ſtand auf, trat unbefangen an den Tiſch,
wo Bruder und Schweſter ſaßen, und machte wieder¬
holt ihren Knicks. Dabei hielt ſie das Strickzeug und
den langen Strumpf in der Hand.
„Für wen ſtrickſt du denn den?“ fragte die Domina.
„Für mich.“
Dubslav lachte. Adelheid auch. Aber es war ein
Unterſchied in ihrem Lachen. Agnes nahm übrigens
nichts von dieſem Unterſchied wahr, ſah vielmehr ohne
Furcht um ſich und ging aus dem Zimmer, um unten
in der Küche die Beſtellung auszurichten.
Als ſie hinaus war, wiederholte ſich Adelheids
krampfhaftes Lachen. Dann aber ſagte ſie: „Dubslav,
ich weiß nicht, warum du dir, ſo lang ich hier bin,
gerade dieſe Hilfskraft angenommen haſt. Ich bin deine
Schweſter und eine Märkiſche von Adel. Und bin auch
die Domina von Kloſter Wutz. Und meine Mutter war
eine Radegaſt. Und die Stechline, die drüben in der
Gruft unterm Altar ſtehn, die haben, ſoviel ich weiß,
auf ihren Namen gehalten und ſich untereinander die
Ehre gegeben, die jeder beanſpruchen durfte. Du nimmſt
hier das Kind der Karline in dein Zimmer und ſetzt es
ans Fenſter, faſt als ob's da jeder ſo recht ſehn ſollte.
Wie kommſt du zu dem Kind? Da kann ſich Wolde¬
mar freuen und ſeine Frau auch, die ſo was ‚Un¬
berührtes‘ hat. Und Gräfin Meluſine! Na, die wird
Fontane, Der Stechlin. 30[466] ſich wohl auch freun. Und die darf auch. Aber ich
wiederhole meine Frage, wie kommſt du zu dem Kind?“
„Ich hab' es kommen laſſen.“
„Haha. Sehr gut; ‚kommen laſſen‘. Der Klapper¬
ſtorch hat es dir wohl von der grünen Wieſe gebracht
und natürlich auch gleich für die roten Beine geſorgt.
Aber ich kenne dich beſſer. Die Leute hier thun immer
ſo, wie wenn du dem alten Kortſchädel ſittlich überlegen
geweſen wärſt. Ich für meine Perſon kann's nicht finden
und ſagte dir gern meine Meinung darüber. Aber ich
nehme häßliche Worte nicht gern in den Mund.“
„Adelheid, du regſt dich auf. Und ich frage mich,
warum? Du biſt ein bißchen gegen die Buſchen, —
nun gut, gegen die Buſchen kann man ſein; und du
biſt ein bißchen gegen die Karline, — nun gut, gegen
die Karline kann man auch ſein. Aber ich ſehe dir's
an, das eigentliche, was dich aufregt, das iſt nicht die
Buſchen und iſt auch nicht die Karline, das ſind bloß
die roten Strümpfe. Warum biſt du ſo ſehr gegen die
roten Strümpfe?“
„Weil ſie ein Zeichen ſind.“
„Das ſagt gar nichts, Adelheid. Ein Zeichen iſt
alles. Wovon ſind ſie ein Zeichen? Darauf kommt
es an.“
„Sie ſind ein Zeichen von Ungehörigkeit und Ver¬
kehrtheit. Und ob du nun lachen magſt oder nicht,
— denn an einem Strohhalm ſieht man eben am beſten,
woher der Wind weht — ſie ſind ein Zeichen davon,
daß alle Vernunft aus der Welt iſt und alle geſellſchaft¬
liche Scheidung immer mehr aufhört. Und das alles
unterſtützt du. Du denkſt wunder, wie feſt du biſt; aber
du biſt nicht feſt und kannſt es auch nicht ſein, denn
du ſteckſt in allerlei Schrullen und Eitelkeiten. Und
wenn ſie dir um den Bart gehn oder dich bei deinen
Liebhabereien faſſen, dann läßt du das, worauf es an¬
[467] kommt, ohne weiteres im Stich. Es ſoll jetzt viele
ſolche geben, denen ihr Humor und ihre Rechthaberei
viel wichtiger iſt als Gläubigkeit und Apoſtolikum.
Denn ſie ſind ſich ſelber ihr Glaubensbekenntnis. Aber,
glaube mir, dahinter ſteckt der Verſucher, und wohin
der am Ende führt, das weißt du, — ſo viel wird dir
ja wohl noch geblieben ſein.“
„Ich hoffe,“ ſagte Dubslav.
„Und weil du biſt wie du biſt, freuſt du dich, daß
dieſe Zierpuppe (ſchon ganz wie die Karline) rote Strümpfe
trägt und ſich neue dazu ſtrickt. Ich aber wiederhole
dir, dieſe roten Strümpfe, die ſind ein Zeichen, eine hoch¬
gehaltene Fahne.“
„Strümpfe werden nicht hochgehalten.“
„Noch nicht, aber das kann auch noch kommen.
Und das iſt dann die richtige Revolution, die Revolution
in der Sitte, — das, was ſie jetzt das „Letzte“ nennen.
Und ich begreife dich nicht, daß du davon kein Einſehn
haſt, du, ein Mann von Familie, von Zugehörigkeit
zu Thron und Reich. Oder der ſich's wenigſtens ein¬
bildet.“
„Nun gut, nun gut.“
„Und da reiſt du herum, wenn ſie den Torgelow
oder den Katzenſtein wählen wollen, und hältſt deine
Reden, wiewohl du eigentlich nicht reden kannſt ...“
„Das is richtig. Aber ich hab' auch keine ge¬
halten ...“
„Und hältſt deine Reden für König und Vaterland
und für die alten Güter und ſprichſt gegen die Freiheit.
Ich verſteh' dich nicht mit deinem ewigen „gegen die
Freiheit“. Laß ſie doch mit ihrer ganzen dummen Frei¬
heit machen, was ſie wollen. Was heißt Freiheit?
Freiheit iſt gar nichts; Freiheit iſt, wenn ſie ſich ver¬
ſammeln und Bier trinken und ein Blatt gründen. Du
haſt bei den Küraſſieren geſtanden und mußt doch wiſſen,
30*[468] daß Torgelow und Katzenſtein (was keinen Unterſchied
macht) uns nicht erſchüttern werden, uns nicht und
unſern Glauben nicht und Stechlin nicht und Wutz nicht.
Die Globſower, ſo lange ſie bloß Globſower ſind, können
gar nichts erſchüttern. Aber wenn erſt der Buſchen ihre
Enkelkinder, denn die Karline wird doch wohl ſchon
mehrere haben, ihre Knöpfſtiefel und ihre roten Strümpfe
tragen, als müßt es nur ſo ſein, ja, Dubslav, dann iſt
es vorbei. Mit der Freiheit, laß mich das wiederholen, hat
es nicht viel auf ſich; aber die roten Strümpfe, das
iſt was. Und dir trau ich ganz und gar nicht, und
der Karline natürlich erſt recht nicht, wenn es auch
vielleicht ſchon eine Weile her iſt.“
„Sagen wir ‚vielleicht‘.“
„O, ich kenne das. Du willſt das wegwitzeln, das
iſt ſo deine Art. Aber unſer Kloſter iſt nicht ſo aus
der Welt, daß mir nicht auch Beſcheid wüßten.“
„Wozu hättet ihr ſonſt euern Fix?“
„Kein Wort gegen den.“
Und in großer Erregung brach das Geſpräch ab.
Noch am ſelben Nachmittag aber verabſchiedete ſich
Adelheid von ihrem Bruder und fuhr nach Wutz zurück.
Verweile doch.
Tod. Begräbnis.
Neue Tage.
[[470]][[471]]Vierzigſtes Kapitel.
Agnes, während oben die gereizte Scene zwiſchen
Bruder und Schweſter ſpielte, war unten in der Küche
bei Mamſell Pritzbur und erzählte von Berlin, wo ſie
vorigen Sommer bei ihrer Mutter auf Beſuch geweſen
war. „Eins war da,“ ſagte ſie, „das hieß das
Aquarium. Da lag eine Schlange, die war ſo dick
wie 'n Bein.“
„Aber haſt du denn ſchon Beine geſehn?“ fragte
die Pritzbur.
„Aber, Mamſell Pritzbur, ich werde doch wohl
ſchon Beine geſehn haben ... Und dann, an einem
andern Tag, da waren wir in einem ‚Tiergarten‘, aber
in einem richtigen, mit allerlei Tieren drin. Und den
nennen ſie den ‚Zoologiſchen‘.“
„Ja, davon hab' ich auch ſchon gehört.“
„Und in dem ‚Zoologiſchen‘, da war ein ganz
kleiner See, noch viel kleiner als unſer Stechlin, und
in dem See ſtanden allerlei Vögel. Und einer, ganz
wie 'n Storch, ſtand auf einem Bein.“
Als die Mädchen das Wort „Storch“ hörten,
kamen ſie näher heran.
„Aber die Beine von dem Vogel, oder es waren
wohl mehrere Vögel, die waren viel größer als Storchen¬
beine und auch viel dicker und viel röter.“
„Und thaten ſie dir nichts?“
[472]„Nein, ſie thaten mir nichts. Bloß, wenn ſie ſo
'ne Weile geſtanden hatten, dann ſtellten ſie ſich auf
das andre Bein. Und ich ſagte zu Mutter: ‚Mutter,
komm; der eine ſieht mich immer ſo an.‘ Und da
gingen wir an eine andere Stelle, wo der Bär war.“
Das Kind erzählte noch allerlei. Die Mädchen
und auch die Mamſell freuten ſich über Agnes, und ſie
trug ihnen ein paar Lieder vor, die ihre Mutter, die
Karline, immer ſang, wenn ſie plättete, und ſie tanzte
auch, während ſie ſang, wobei ſie das himmelblaue
Kleid zierlich in die Höhe nahm, ganz ſo, wie ſie's in
der Haſenhaide geſehen hatte.
So kam der Nachmittag heran, und als es ſchon
dunkelte, ſagte Engelke: „Ja, gnäd'ger Herr, wie is
das nu mit Agneſſen? Sie is immer noch bei Mamſell
Pritzbur unten, un die Mächens, wenn ſie ſo ſingt und
tanzt, kucken ihr zu. Sie wird woll auch ſo was wie
die Karline. Soll ſie wieder nach Haus, oder ſoll ſie
hier bleiben?“
„Natürlich ſoll ſie hier bleiben. Ich freue mich,
wenn ich das Kind ſehe. Du haſt ja ein gutes Geſicht,
Engelke, aber ich will doch auch mal was andres ſehn
als dich. Wie das lütte Balg da ſo ſaß, ſo ſteif wie
'ne Prinzeß, hab' ich immer hingekuckt und ihr wohl
'ne Viertelſtunde zugeſehn, wie da die Stricknadeln
immer ſo hin und her gingen und der rote Strumpf
neben ihr baumelte. So was Hübſches hab' ich nicht
mehr geſehn, ſeit zu Weihnachten die Grafſchen hier
waren, die blaſſe Comteſſe und die Gräfin. Hat ſie
dir auch gefallen?“
Engelke griente.
„Na, ich ſehe ſchon. Alſo Agnes bleibt. Und ſie
kann ja auch nachts mal aufſtehn und mir eine Taſſe
von [dem] Thee bringen, oder was ich ſonſt grade
brauche, und du alte Seele kannſt ausſchlafen. Ach,
[473] Engelke, das Leben is doch eigentlich ſchwer. Das
heißt, wenn's auf die Neige geht; vorher is es ſo weit
ganz gut. Weißt du noch, wenn wir von Brandenburg
nach Berlin ritten? In Brandenburg war nich viel los;
aber in Berlin, da ging es.“
„Ja, gnäd'ger Herr. Aber nu kommt es.“
„Ja, nu kommt es. Nu is Katzenpfötchen dran.
So was gab es damals noch gar nicht. Aber ich will
nichts ſagen, ſonſt wird die Buſchen ärgerlich, und mit
alten Weibern muß man gut ſtehn; das is noch wich¬
tiger als mit jungen. Und, wie geſagt, die Agnes
bleibt. Ich ſehe ſo gern was Zierliches. Es is ein
reizendes Kind.“
„Ja, das is ſie. Aber ...“
„Ach, laß die ‚abers‘. Du ſagſt, ſie wird wie
die Karline. Möglich is es. Aber vielleicht wird ſie
auch 'ne Nonne. Man kann nie wiſſen.“
Agnes blieb alſo bei Dubslav. Sie ſaß am Fenſter
und ſtrickte. Mal in der Nacht, als ihm recht ſchlecht war,
hatte er nach dem Kinde rufen wollen. Aber er ſtand
wieder davon ab. „Das arme Kind, was ſoll ich ihm
den Schlaf ſtören? Und helfen kann es mir doch nicht.“
So verging eine Woche. Da ſagte der alte
Dubslav: „Engelke, das mit der Agnes, das kann ich
nich mehr mit anſehn. Sie ſitzt da jeden Morgen und
ſtrickt. Das arme Wurm muß ja hier umkommen.
Und alles bloß, weil ich alter Sünder ein freundliches
Geſicht ſehn will. Das geht ſo nich mehr weiter. Wir
müſſen ſehn, daß wir was für das Kind thun können.
Haben wir denn nicht ein Buch mit Bildern drin oder
ſo was?“
„Ja, gnäd'ger Herr, da ſind ja noch die vier
Bände, die wir letzte Weihnachten bei Buchbinder Zippel
[474] in Granſee haben einbinden laſſen. Eigentlich war es
bloß 'ne ‚Landwirtſchaftliche Zeitung‘, und alle, die mal
'nen Preis gewonnen haben, die waren drin. Und
Bismarck war auch drin un Kaiſer Wilhelm auch.“
„Ja, ja, das is gut; das gieb ihr. Und brauchſt
ihr auch nich zu ſagen, daß ſie keine Eſelsohren machen
ſoll; die macht keine.“
Wirklich, die „Landwirtſchaftliche Zeitung“ lag am
andern Morgen da, und Agnes war ſehr glücklich, mal
was andres zu haben als ihr Strickzeug und die ſchönen
Bilder anſehn zu können. Denn es waren auch Schlöſſer
drin und kleine Teiche, drauf Schwäne fuhren, und auf
einem Bilde, das eine Beilage war, waren ſogar Huſaren.
Engelke brachte jeden Morgen einen neuen Band, und
mal erſchien auch Elfriede, die Lorenzen, um nach
Dubslavs Befinden fragen zu laſſen, von der Pfarre
herübergeſchickt hatte. „Die kann ſich ja die Bilder
mit anſehen,“ ſagte Dubslav; „am Ende macht es ihr
ſelber auch Spaß, und vielleicht kann ſie dem kleinen
Ding, der Agnes, alles ſo nebenher erklären, und dann
is es ſo gut wie 'ne Schulſtunde.“
Elfriede war gleich dazu bereit. Und nun ſtanden
die beiden Kinder nebeneinander und blätterten in dem
Buch, und die Kleine ſog jedes Wort ein, was die
Große ſagte. Dubslav aber hörte zu und wußte nicht,
wem von beiden er ein größeres Intereſſe zuwenden
ſollte. Zuletzt aber war es doch wohl Elfriede, weil
ſie den wehmütigen Zauber all derer hatte, die früh
abberufen werden. Ihr zarter, beinahe körperloſer Leib
ſchien zu ſagen: „Ich ſterbe.“ Aber ihre Seele wußte
nichts davon; die leuchtete und ſagte: „ich lebe.“
Das mit den Bilderbüchern dauerte mehrere Tage.
Dann ſagte Dubslav: „Engelke, das Kind fängt heute
[475] ſchon wieder von vorn an; es iſt mit allen vier Bänden,
ſo dick ſie ſind, ſchon zweimal durch; ich ſehe, wir
müſſen uns was Neues ausbaldowern. Das is nämlich
ein Wort aus der Diebsſprache; ſo weit ſind wir nu
ſchon. Übrigens iſt mir was Gutes eingefallen: hol
ihr eine von unſern Wetterfahnen herunter. Die ſtehn
ja da bloß ſo 'rum, un wenn ich tot bin und alles
abgeſchätzt wird — was ſie ‚ordnen‘ nennen —, dann
kommt Kupperſchmied Reuter aus Granſee und taxiert
es auf fünfundſiebzig Pfennig.“
„Aber, gnäd'ger Herr, unſ' Woldemar ...“
„Nu ja, Woldemar. Woldemar iſt gut, natürlich,
und die Comteſſe, ſeine junge Frau, is auch gut. Alles
is gut, und ich hab' es auch nicht ſo ſchlimm gemeint;
man red't bloß ſo. Nur ſo viel is richtig: meine
Sammlung oben is für Spinnweb und weiter nichts. Alles
Sammeln iſt überhaupt verrückt, und wenn Woldemar
ſich nich mehr drum kümmert, ſo is es eigentlich bloß
Wiederherſtellung von Sinn und Verſtand. Jeder hat
ſeinen Sparren, und ich habe meinen gehabt. Bring
aber nich gleich alles 'runter. Nur die Mühle bring
und den Dragoner.“
Engelke gehorchte.
Den erſten Tag, wie ſich denken läßt, war Agnes
ganz für den Dragoner, der, als man ihn vor Jahr
und Tag von ſeinem Zelliner Kirchturm heruntergeholt
hatte, friſch aufgepinſelt worden war: ſchwarzer Hut,
blauer Rock, gelbe Hoſen. Aber ſehr bald hatte ſich
das Kind an der Buntheit des Dragoners ſattgeſehen,
und nun kam ſtatt ſeiner die Mühle an die Reihe.
Die hielt länger vor. Meiſtens, — wenn ſie nur über¬
haupt erſt im Gange war, — brauchte das Kind bloß
zu puſten, um die Mühlflügel in ziemlich raſcher Be¬
wegung zu halten, und der ſchnarrende Ton der etwas
eingeroſteten Drehvorrichtung war dann jedesmal eine
[476] Luſt und ein Entzücken. Es waren glückliche Tage für
Agnes. Aber faſt noch glücklichere für den Alten.
Ja, der alte Dubslav freute ſich des Kindes. Aber
ſo wohlthuend ihm ſeine Gegenwart war, ſo war es
auf die Dauer doch nicht viel was andres, als ob ein
Goldlack am Fenſter geſtanden oder ein Zeiſig ge¬
zwitſchert hätte. Sein Auge richtete ſich gerne darauf,
als aber eine Woche und dann eine zweite vorüber
war, wurd' ihm eine gewiſſe Verarmung fühlbar, und
das ſo ſtark, daß er faſt mit Sehnſucht an die Tage
zurückdachte, wo Schweſter Adelheid ſich ihm bedrücklich
gemacht hatte. Das war ſehr unbequem geweſen, aber
ſie beſaß doch nebenher einen guten Verſtand, und in
allem, was ſie ſagte, war etwas, worüber ſich ſtreiten
und ein Feuerwerk von Anzüglichkeiten und kleinen
Witzen abbrennen ließ. Etwas, was ihm immer eine
Hauptſache war. Dubslav zählte zu den Friedliebendſten
von der Welt, aber er liebte doch andrerſeits auch
Friktionen, und ſelbſt ärgerliche Vorkommniſſe waren
ihm immer noch lieber als gar keine.
Kein Zweifel, der alte Schloßherr auf Stechlin
ſehnte ſich nach Menſchen, und da waren es denn wahre
Feſttage, wenn Beſucher aus Näh' oder Ferne ſich ein¬
ſtellten.
Eines Tages — es ſchummerte ſchon — erſchien
Krippenſtapel. Er hatte ſeinen beſten Rock angezogen
und hielt ein übermaltes Gefäß, mit einem Deckel darauf,
in ſeinem linken Arm.
„Nun, das iſt recht, Krippenſtapel. Ich freue mich,
daß Sie mal nachſehn, ob unſer Muſeum oben noch
ſeinen ‚Chef’ hat. Ich ſage ‚Chef‘. Der Direktor ſind
[477] Sie ja ſelber. Und nun kommen Sie auch gleich noch
mit 'ner Urne. Hat gewiß ihr Freund Tucheband irgend¬
wo ausgegraben. Oder is es bloß 'ne Terrine? Himmel¬
wetter, Krippenſtapel, Sie werden mir doch nich 'ne
Krankenſuppe gekocht haben?“
„Nein, Herr Major, keine Krankenſuppe. Gewiß
nicht. Und doch is es einigermaßen ſo was. Es iſt
nämlich 'ne Wabe. Habe da heute mittag einen von
meinen Stöcken ausgenommen und wollte mir erlaubt
haben, Ihnen die beſte Wabe zu bringen. Es iſt bei¬
nah' ſo was wie der mittelalterliche Zehnte. Der Zehnte,
wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, war eigent¬
lich was Feineres als Geld.“
„Find' ich auch. Aber die heutige Menſchheit hat
für ſo was Feines gar keinen Sinn mehr. Immer
alles bar und nochmal bar. O, das gemeine Geld!
Das heißt, wenn man keins hat; wenn man's hat, iſt
es ſo weit ganz gut. Und daß Sie gleich an Ihren
alten Patron — ein Wort, das übrigens vielleicht zu
hoch gegriffen iſt, und unſer Verhältnis nicht recht aus¬
drückt, — gedacht haben! Lorenzen wird es hoffent¬
lich nicht übel nehmen, daß ich Sie, wenn ich mich
Ihren „Patron“ nenne, ſo gleichſam avancieren laſſe.
Ja, das mit der Wabe. Freut mich aufrichtig. Aber
ich werde mich wohl nicht drüber her machen dürfen.
Immer heißt es: ‚das nicht‘. Erſt hat mir Sponholz
alles verboten und nu die Buſchen, und ſo leb' ich
eigentlich bloß noch von Bärlapp und Katzenpfötchen.“
„Am Ende geht es doch,“ ſagte Krippenſtapel. „Ich
weiß wohl, in eine richtige Kur darf der Laie nicht ein¬
greifen. Aber der Honig macht vielleicht 'ne Ausnahme.
Richtiger Honig iſt wie gute Medizin und hat die ganze
Heilkraft der Natur.“
„Is denn aber nicht auch was drin, was beſſer
fehlte?“
„Nein, Herr Major. Ich ſehe die Bienen oft
ſchwärmen und ſammeln, und ſeh’ auch, wie ſie ſammeln
und wo ſie ſammeln. Da ſind voran die Linden und
Akazien und das Heidekraut. Nu, die ſind die reine
Unſchuld; davon red’ ich gar nicht erſt. Aber nun
ſollten Sie die Biene ſehn, wenn ſie ſich auf eine giftige
Blume, ſagen wir zum Beiſpiel auf den Venuswagen
niederläßt. Und in jedem Venuswagen, beſonders in
dem roten (aber doch auch in dem blauen), ſitzt viel
Gift.“
„Venuswagen; kann ich mir denken. Und wie
ſammelt da die Biene?“
„Sie nimmt nie das Gift, ſie nimmt immer bloß
die Heilkraft.“
„Na, Sie müſſen es wiſſen, Krippenſtapel. Und
auf Ihre Verantwortung hin will ich mir den Honig
auch ſchmecken laſſen, und die Buſchen muß ſich drin
finden und ſich wohl oder übel zufrieden geben. Übrigens
fällt mir bei der Alten natürlich auch das Kind ein. Da
ſitzt es am Fenſter. Na, komm mal her, Agnes, und
ſage, daß du hier auch was lernſt. Ich hab’ ihr näm¬
lich Bücher gegeben, mit allerlei Bildern drin, und ſeit
vorgeſtern auch eine Götterlehre, das heißt aber noch
eine aus guter, anſtändiger Zeit und jeder Gott ordent¬
lich angezogen. Und da lernt ſie, glaub’ ich, ganz gut.
Nicht wahr, Agnes?“
Agnes knickſte und ging wieder auf ihren Platz.
„Und dann hab' ich dem Kind auch unſern Dra¬
goner und die Mühle gegeben. Alſo unſre beſten Stücke,
ſo viel iſt richtig. Ich denke mir aber, mein Muſeums¬
direktor wird über dieſen Eingriff nicht böſe ſein. Eigent¬
lich is es doch beſſer, das Kind hat was davon als
die Spinnen. Und was macht denn Ihr Oberlehrer in
Templin? Hat er wieder was gefunden?“
„Ja, Herr Major. Münzenfund.“
[479]„Na, das is immer das beſte. Vermutlich Georgs¬
thaler oder ſo was; Dreißigjähriger Krieg. Es war ja
'ne gräßliche Zeit. Aber daß ſie damals aus Angſt und
Not ſo viel verbuddelt haben, das is doch auch wieder
ein Segen. Is es denn viel?“
„Wie man's nehmen will, Herr Major; praktiſch
und profan angeſehen iſt es nicht viel, aber wiſſenſchaft¬
lich angeſehen iſt es allerdings viel. Nämlich drei
römiſche Münzen, zwei von Diokletian und eine von
Caracalla.“
„Na, die paſſen wenigſtens. Diokletian war ja
wohl der mit der Chriſtenverfolgung. Aber ich glaube,
es war am Ende nicht ſo ſchlimm. Verfolgt wird immer.
Und mitunter ſind die Verfolgten obenauf.“
Dabei lachte der Alte. Dann rief er Engelke, daß
er den Honig herausnehme. Krippenſtapel aber verab¬
ſchiedete ſich, ſeine leere Terrine vorſichtig im Arm.
Einundvierzigſtes Kapitel.
Dubslav hatte ſich über Krippenſtapels Beſuch und
ſein Geſchenk aufrichtig gefreut, weil es ja das Beſte
war, was ihm die alte treue Seele bringen konnte.
Er beſtand denn auch darauf (trotzdem Engelke, der ein
Vorurteil gegen alles Süße hatte, dagegen war), daß
ihm die Wabe jeden Morgen auf den Frühſtückstiſch
geſtellt werde.
„Siehſt du, Engelke,“ ſagte er nach einer Woche,
„daß ich mich wieder wohler fühle, das macht die Wabe.
Denn man muß jedes Fiſſelchen miteſſen, Wachs und
alles, das hat er mir eigens geſagt. Das is grad' ſo
wie beim Apfel die Schale; das hat die Natur ſo ge¬
wollt und is ein Fingerzeig und muß reſpektiert werden.“
„Ich bin aber doch für abſchälen,“ ſagte Engelke.
„Wenn man ſo ſieht, was mitunter alles dran iſt ...“
„Ja, Engelke, ich weiß nicht, du biſt jetzt ſo fein
geworden. Aber ich bin noch ganz altmodiſch. Und
dann glaub' ich nebenher wirklich, daß in dem Wachs
die richtige ‚geſamte Heilkraft der Natur‘ ſteckt, faſt noch
mehr als in dem Honig. Krippenſtapel übrigens is jetzt
auch ſo furchtbar gebildet und hat ſo viele feine Wendungen,
wie zum Beiſpiel die mit der ‚geſamten Heilkraft‘. Aber
ſo fein wie du is er doch noch lange nicht, darauf will
ich mich verſchwören. Und auch darauf, daß er ſich keine
Birne ſchält.“
In dieſer guten Laune verblieb Dubslav eine ganze
Weile, ſich mehr und mehr zurechtlegend, daß er ſich die
Quälerei mit all dem andern Zeug eigentlich hätte ſparen
können; „denn wenn alles drin iſt, ſo iſt doch auch
Bärlapp und Katzenpfötchen drin und natürlich auch
Fingerhut oder wie Sponholz ſagt: ‚Die Digitalis‘.“
Engelke freilich wollte von dieſen Sophiſtereien nichts
wiſſen, ſein Herr aber ließ ſich durch ſolche Zweifel nicht
ſtören und fuhr vielmehr fort: „[Und] dann, Engelke,
macht es doch auch einen Unterſchied, von wem eine
Sache kommt. Die Katzenpfötchen kommen von der
Buſchen, und die Wabe kommt von Krippenſtapel. Das
heißt alſo, hinter der Wabe ſteht ein guter Geiſt, und hinter
den Katzenpfötchen ſteht ein böſer Geiſt. Und das
kannſt du mir glauben, an ſolchen Rätſelhaftigkeiten
liegt ſehr viel im Leben, und wenn mir Lorenzen ſeine
Patſche giebt, ſo iſt das ganz was anders, wie wenn
mir Koſeleger ſeine Hand giebt. Koſeleger hat ſolche
weichen Finger und auf dem vierten einen großen Ring.“
„Aber er is doch ein Superintendent.“
„Ja, Superintendent is er. Und er kommt auch noch
höher. Und wenn es nach der Prinzeſſin geht, wird er
Papſt. Und dann wollen wir uns Ablaß bei ihm holen;
aber viel geb' ich nicht.“
Als Dubslav und Engelke dies Geſpräch führten,
ſaß Agnes wie gewöhnlich am Fenſter, mit halbem Ohre
hinhörend, und ſo wenig ſie davon verſtand, ſo verſtand
ſie doch gerade genug. Krippenſtapel war ein guter
Geiſt und ihre Großmutter war ein böſer Geiſt. Aber
das alles war ihr nicht mehr, als ob ihr ein Märchen
erzählt würde. Sie hatte ſchon ſo vieles in ihrem
Leben gehört und war wohl dazu beſtimmt, noch viel,
viel andres zu hören. Ihr Geſichtsausdruck blieb denn
Fontane, Der Stechlin. 31[482] auch derſelbe. Sie träumte bloß ſo hin, und daß ſie
dies Weſen hatte, das war es recht eigentlich, was den
alten Herrn ſo an ſie feſſelte. Das Auge, womit ſie die
Menſchen anſah, war anders als das der andern.
Engelke hatte ſich in die nebenan gelegene Dienſt¬
ſtube zurückgezogen; ein heller Schein fiel von der
Veranda her durch die Balkonthür und gab dem etwas
dunklen Zimmer mehr Licht, als es für gewöhnlich zu
haben pflegte. Dubslav hielt die Kreuzzeitung in Hän¬
den und ſchlug nach einem Brummer, der ihn immer
und immer wieder umſummte. „Verdammte Beſtie,“
und er holte von neuem aus. Aber ehe er zuſchlagen
konnte, kam Engelke und fragte, ob Uncke den gnädigen
Herrn ſprechen dürfe.
„Uncke, unſer alter Unke?“
„Ja, gnäd'ger Herr.“
„Na, natürlich. Kriegt man doch mal wieder 'nen
vernünftigen Menſchen zu ſehn. Was er nur bringen
mag? Vielleicht Verhaftung irgendwo: Demokratenneſt
ausgenommen.“
Agnes horchte. Verhaftung! Demokratenneſt aus¬
genommen! Das war doch noch beſſer als ein Märchen
„vom guten und böſen Geiſt.“
Inzwiſchen war Uncke eingetreten, Backenbart und
Schnurrbart, wie gewöhnlich, feſt angeklebt. In der
Nähe der Thür blieb er ſtehen und grüßte militäriſch.
Dubslaw aber rief ihm zu: „Nein, Uncke, nicht da.
So weit reicht mein Ohr nicht und meine Stimme
erſt recht nicht. Und ich denke doch, Sie bringen
was. Was Reguläres. Alſo 'ran hier. Und wenn
[483] es nicht was ganz Dienſtliches is, ſo nehmen Sie den
Stuhl da.“
Uncke trat auch näher, nahm aber keinen Stuhl
und ſagte: „Herr Major wollen entſchuldigen. Ich komme
ſo bloß ... Der alte Baruch Hirſchfeld hat mir erzählt,
und die alte Buſchen hat mir erzählt ...“
„Ach ſo, von wegen meiner Füße.“
„Zu Befehl, Herr Major.“
„Ja, Uncke, wollte Gott es ſtünde beſſer. Immer
denk' ich, wenn wieder ein Neuer kommt, ‚nu wird es‘.
Aber es will nicht mehr; es hilft immer bloß drei Tage.
Die Buſchen hilft nicht mehr, und Krippenſtapel hilft
nicht mehr, und Sponholz hilft ſchon lange nicht mehr;
der kutſchiert ſo in der Welt 'rum. Bleibt alſo bloß
noch der liebe Gott.“
Uncke begleitete dies Wort mit einer Kopfbewegung,
die ſeine reſpektvolle Stellung (aber doch auch nicht
mehr) zum lieben Gott ausdrücken ſollte. Dubslav ſah
es und erheiterte ſich. Dann fuhr er in raſch wachſender
guter Laune fort: „Ja, Uncke, mir haben ſo manchen
Tag miteinander gelebt. Denke gern daran zurück —
ſind noch einer von den alten. Und der Pyterke auch.
Was macht er denn?“
„Ah, Herr Major, immer noch tüchtig da; ſchneidig,“
und dabei rückte er ſich ſelbſt zurecht, wie wenn er die
überlegene Stattlichkeit ſeines Kollegen wenigſtens an¬
deuten wolle.
Dubslav verſtand es auch ſo und ſagte: „Ja, der
Pyterke; natürlich immer hoch zu Roß. Und Sie, Uncke
ja, Sie müſſen laufen wie 'n Landbriefträger. Es hat
aber auch ſein Gutes; zu Fuß macht geſchmeidig, zu
Pferde macht ſteif. Und macht auch faul. Und über¬
haupt, Gebrüder Beeneke is ſchon immer das Beſte. Da
kann man nicht zu Fall kommen. Aber jeder will
heutzutage hoch 'raus. Das is, was ſie jetzt die ‚Signa¬
31*[484] tur der Zeit‘ nennen. Haben Sie den Ausdruck ſchon
gehört, Uncke?“
„Zu Befehl, Herr Major.“
„Und die Sozialdemokratie will auch hoch 'raus
und ſo zu Pferde ſitzen wie Pyterke, bloß noch viel
höher. Aber das geht nicht gleich ſo. Gut Ding will
Weile haben. Und Torgelow, wenn er auch vielleicht
reden kann, reiten kann er noch lange nicht. Sagen
Sie, was macht er denn eigentlich? Ich meine Torge¬
low. Sind denn unſre kleinen Leute jetzt mehr zufrieden
mit ihm?“
„Nein, Herr Major, ſie ſind immer noch nicht
zufrieden mit ihm. Er wollte da neulich in Berlin
reden und hat auch wirklich was zu Graf Poſa¬
dowsky geſagt. Und das is ſo dumm geweſen, daß
es die andern geniert hat. Und da haben ſie ihn be¬
deutet: ‚Torgelow, nu biſt du ſtill; ſo geht das hier
nich'.“
„Ja,“ lachte Dubslav, „und wo der nu ſteht, da
ſollte ich eigentlich ſtehen. Aber es is doch beſſer ſo.
Nu kann Torgelow zeigen, daß er nichts kann. Und
die andern auch. Und wenn ſie's alle gezeigt haben,
na, dann ſind wir vielleicht wieder dran und kommen
noch mal oben auf, und jeder kriegt Zulage. Sie auch,
Uncke, und Pyterke natürlich auch.“
Uncke ſchmunzelte und legte ſeine zwei Dienſtfinger
an die Schläfe.
„... Vorläufig aber müſſen wir abwarten und
den ſogenannten ‚Ausbruch‘ verhüten und dafür ſorgen,
daß unſere Globſower zufrieden ſind. Und wenn wir
klug ſind, glückt es vielleicht auch. Glauben Sie nicht
auch, Uncke, daß es kleine Mittel giebt?“
„Zu Befehl, Herr Major, kleine Mittel giebt es.
Es hat's ſchon.“
„Und welche meinen Sie?“
[485]
„Muſik, Herr Major, und verlängerte Polizei¬
ſtunde.“
„Ja,“ lachte Dubslav, „ſo was hilft. Muſik und
'nen Schottſchen, dann ſind die Mädchen zufrieden.“
„Und,“ beſtätigte Uncke, „wenn die Mädchens zu¬
frieden ſind, Herr Major, dann ſind alle zufrieden.“
Uncke hatte zuſagen müſſen, mal wieder vorzuſprechen,
aber es kam nicht dazu, weil Dubslavs Zuſtand ſich
raſch verſchlimmerte. Von Beſuchern wurde keiner mehr
angenommen, und nur Lorenzen hatte Zutritt. Aber er
kam meiſt nur, wenn er gerufen wurde.
„Sonderbar,“ ſagte der Alte, während er in den
Frühlingstag hinausblickte, „dieſer Lorenzen is eigent¬
lich gar kein richtiger Paſtor. Er ſpricht nicht von Er¬
löſung und auch nicht von Unſterblichkeit, und is beinah',
als ob ihm ſo was für alltags wie zu ſchade ſei.
Vielleicht is es aber auch noch was andres, und er
weiß am Ende ſelber nicht viel davon. Anfangs hab'
ich mich darüber gewundert, weil ich mir immer ſagte:
Ja, ſolch Talar- und Bäffchenmann, der muß es doch
ſchließlich wiſſen; er hat ſo ſeine drei Jahre ſtudiert
und eine Probepredigt gehalten, und ein Konſiſtorialrat
oder wohl gar ein Generalſuperintendent hat ihn eingeſegnet
und ihm und noch ein paar andern geſagt: „Nun gehet
hin und lehret alle Heiden“. Und wenn man das ſo
hört, ja, da verlangt man denn auch, daß einer weiß,
wie's mit einem ſteht. Is gerade wie mit den Doktors.
Aber zuletzt begiebt man ſich und hat die Doktors am
liebſten, die einem ehrlich ſagen: ‚Hören Sie, wir wiſſen
es auch nicht, wir müſſen es abwarten.‘ Der gute
Sponholz, der nun wohl ſchon an der Brücke mit dem
Ichthyoſaurus vorbei iſt, war beinah' ſo einer, und
Lorenzen is nu ſchon ganz gewiß ſo. Seit beinah'
[486] zwanzig Jahren kenn' ich ihn, und noch hat er mich
nicht ein einziges Mal bemogelt. Und daß man das
von einem ſagen kann, das iſt eigentlich die Hauptſache.
Das andre ... ja, du lieber Himmel, wo ſoll es am
Ende herkommen? Auf dem Sinai hat nun ſchon lange
keiner mehr geſtanden, und wenn auch, was der liebe
Gott da oben geſagt hat, das ſchließt eigentlich auch
keine großen Rätſel auf. Es iſt alles ſehr diesſeitig
geblieben; du ſollſt, du ſollſt, und noch öfter ‚du ſollſt
nicht‘. Und klingt eigentlich alles, wie wenn ein Nürn¬
berger Schultheiß geſprochen hätte.“
Gleich danach kam Engelke und brachte die Mittags¬
poſt. „Engelke, du könnteſt mal wieder die Marie zu
Lorenzen 'rüberſchicken — ich ließ' ihn bitten.“
Lorenzen kam denn auch und rückte ſeinen Stuhl
an des Alten Seite.
„Das iſt recht, Paſtor, daß Sie gleich gekommen
ſind, und ich ſehe wieder, wie ſich alles Gute ſchon
gleich hier unten belohnt. Sie müſſen nämlich wiſſen,
daß ich mich heute ſchon ganz eingehend mit Ihnen
beſchäftigt und Ihr Charakterbild, das ja auch ſchwankt
wie ſo manch andres, nach Möglichkeit feſtgeſtellt habe.
Würde mir das Sprechen wegen meines Aſthmas nicht
einigermaßen ſchwer, ich wär' imſtande, gegen mich ſelber
in eine Art Indiskretion zu verfallen und Ihnen aus¬
zuplaudern, was ich über Sie gedacht habe. Habe ja,
wie Sie wiſſen, 'ne natürliche Neigung zum Ausplaudern,
zum Plaudern überhaupt, und Kortſchädel, der ſich im
übrigen durch franzöſiſche Vokabeln nicht auszeichnete,
hat mich ſogar einmal einen ‚Cauſeur‘ genannt. Aber
freilich ſchon lange her, und jetzt iſt es damit total
vorbei. Zuletzt ſtirbt ſelbſt die alte Kindermuhme in
einem aus.“
„Glaub' ich nicht. Wenigſtens Sie, Herr von
Stechlin, ſorgen für den Ausnahmefall.“
„Ich will es gelten laſſen und mich auch gleich
legitimieren. Haben Sie denn in Ihrer Zeitung geleſen,
wie ſie da neulich wieder dem armen Bennigſen zugeſetzt
haben? Mir mißfällt es, wiewohl Bennigſen nicht gerade
mein Mann iſt.“
„Auch meiner nicht. Aber, er ſei, wie er ſei, er
iſt doch ein Excelſior-Mann. Und wer hierlandes für
ein freudiges ‚excelsior’ iſt, der iſt bei den Oſtelbiern
(Pardon, Sie gehören ja ſelbſt mit dazu) von vornherein
verdächtig und ein Gegenſtand tiefen Mißtrauens. Jedes
höher geſteckte Ziel, jedes Wollen, das über den Kartoffel¬
ſack hinausgeht, findet kein Verſtändnis, ſicherlich keinen
Glauben. Und bringt einer irgend ein Opfer, ſo heißt
es bloß, daß er die Wurſt nach der Speckſeite werfe.“
Dubslav lachte. „Lorenzen, Sie ſitzen wieder auf
Ihrem Steckenpferd. Aber ich ſelber bin freilich ſchuld.
Warum kam ich auf Bennigſen! Da war das Thema
gegeben, und Ihr Ritt ins Bebelſche (denn weitab davon
ſind Sie nicht) konnte beginnen. Aber daß Sie's wiſſen,
ich hab' auch mein Steckenpferd und das heißt: König
und Kronprinz oder alte Zeit und neue Zeit. Und
darüber hab' ich ſeit lange mit Ihnen ſprechen wollen,
nicht akademiſch, ſondern märkiſch-praktiſch, ſo recht mit
Rückſicht auf meine nächſte Zukunft. Denn es heißt
nachgrade bei mir: ‚Was du thun willſt, thue bald.‘“
Lorenzen nahm des Alten Hand und ſagte: „Gewiß
kommen andre Zeiten. Aber man muß mit der Frage,
was kommt und was wird, nicht zu früh anfangen.
Ich ſeh' nicht ein, warum unſer alter König von Thule
hier nicht noch lange regieren ſollte. Seinen letzten
Trunk zu thun und den Becher dann in den Stechlin
zu werfen, damit hat es noch gute Wege.“
„Nein, Lorenzen, es dauert nicht mehr lange; die
Zeichen ſind da, mehr als zu viel. Und damit alles
klappt und paßt, geh' ich nun auch gerad' ins Sieben¬
[488] undſechzigſte, und wenn ein richtiger Stechlin ins Sieben¬
undſechzigſte geht, dann geht er auch in Tod und Grab.
Das is ſo Familientradition. Ich wollte, wir hätten
eine andre. Denn der Menſch is nun mal feige und
will dies ſchändliche Leben gern weiterleben.“
„Schändliches Leben! Herr von Stechlin, Sie
haben ein ſehr gutes Leben gehabt.“
„Na, wenn es nur wahr iſt! Ich weiß nicht, ob
alle Globſower ebenſo denken. Und die bringen mich
wieder auf mein Hauptthema.“
„Und das lautet?“
„Das lautet: ‚Teuerſter Paſtor, ſorgen Sie dafür,
daß die Globſower nicht zu ſehr obenauf kommen.‘“
„Aber, Herr von Stechlin, die armen Leute ...“
„Sagen Sie das nicht. Die armen Leute! Das
war mal richtig; [heutzutage] aber paßt es nicht mehr.
Und ſolch unſichere Paſſagiere wie mein Woldemar und
wie mein lieber Lorenzen (von dem der Junge, Par¬
don, all den Unſinn hat), ſolche unſichere Paſſagiere,
ſtatt den Riegel vorzuſchieben, kommen den Torgelow¬
ſchen auf halbem Wege entgegen und ſagen: ‚Ja, ja,
Töffel, du haſt auch eigentlich ganz recht,‘ oder, was
noch ſchlimmer iſt: ,Ja, ja, Jochem, wir wollen mal
nachſchlagen.‘“
„Aber, Herr von Stechlin.“
„Ja, Lorenzen, wenn Sie auch noch ſolch gutes
Geſicht machen, es iſt doch ſo. Die ganze Geſchichte
wird auf einen andern Leiſten gebracht, und wenn dann
wieder eine Wahl iſt, dann fährt der Woldemar 'rum
und erzählt überall, ‚Katzenſtein ſei der rechte Mann‘.
Oder irgend ein andrer. Aber das iſt Mus wie Mine;
— verzeihen Sie den etwas fortgeſchrittenen Ausdruck.
Und wenn dann die junge gnädige Frau Beſuch kriegt
oder wohl gar einen Ball giebt, da will ich Ihnen
[489] ganz genau ſagen, wer dann hier in dieſem alten
Kaſten, der dann aber renoviert ſein wird, antritt. Da
iſt in erſter Reihe der Miniſter von Ritzenberg geladen,
der, wegen Kaltſtellung unter Bismarck, von langer
Hand her eine wahre Wut auf den alten Sachſen¬
walder hat, und eröffnet die Polonaiſe mit Armgard.
Und dann iſt da ein Profeſſor, Kathederſozialiſt, von
dem kein Menſch weiß, ob er die Geſellſchaft einrenken
oder aus den Fugen bringen will, und führt eine Adelige,
mit kurzgeſchnittenem Haar (die natürlich ſchriftſtellert)
zur Quadrille. Und dann bewegen ſich da noch ein Afrika¬
reiſender, ein Architekt und ein Portraitmaler, und wenn
ſie nach den erſten Tänzen eine Pauſe machen, dann
ſtellen ſie ein lebendes Bild, wo ein Wilddieb von
einem Edelmann erſchoſſen wird, oder ſie führen ein
franzöſiſches Stück auf, das die Dame mit dem kurz¬
geſchnittenen Haar überſetzt hat, ein ſogenanntes Ehe¬
bruchsdrama, drin eine Advokatenfrau gefeiert wird, weil
ſie ihren Mann mit einem Taſchenrevolver über den
Haufen geſchoſſen hat. Und dann giebt es Muſikſtücke,
bei denen der Klavierſpieler mit ſeiner langen Mähne
über die Taſten hinfegt, und in einer Nebenſtube ſitzen
andere und blättern in einem Album mit lauter Be¬
rühmtheiten, obenan natürlich der alte Wilhelm und
Kaiſer Friedrich und Bismarck und Moltke, und ganz
gemütlich dazwiſchen Mazzini und Garibaldi, und
Marx und Laſſalle, die aber wenigſtens tot ſind, und
daneben Bebel und Liebknecht. Und dann ſagt Wol¬
demar: ‚Sehen Sie da den Bebel. Mein politiſcher
Gegner, aber ein Mann von Geſinnung und Intelligenz.‘
Und wenn dann ein Adeliger aus der Reſidenz an ihn
herantritt und ihm ſagt: ‚Ich bin überraſcht, Herr von
Stechlin, — ich glaubte den Grafen Schwerin hier zu
finden,‘ dann ſagt Woldemar: ‚Ich habe die Fühlung
mit dieſem Herrn verloren.‘“
Der Paſtor lachte. „Und Sie wollen ſterben. Wer
ſo lange ſprechen kann, der lebt noch zehn Jahr.“
„Nichts, nichts. Ich halte Sie feſt. Kommt es ſo,
oder kommt es nicht ſo?“
„Nun, es kommt ſicherlich nicht ſo.“
„Sind Sie deſſen ſicher?“
„Ganz ſicher.“
„Dann ſagen Sie mir, wie es kommt, aber ehrlich.“
„Nun, das kann ich leicht, und ſie haben mir
ſelber den Weg gewieſen, als Sie gleich anfangs von
‚König und Kronprinz‘ ſprachen. Dieſer Gegenſatz
exiſtiert natürlich überall und in allen Lebensverhält¬
niſſen. Es kommen eben immer Tage, wo die Leute
nach irgend einem ‚Kronprinzen‘ ausſehn. Aber ſo
gewiß das richtig iſt, noch richtiger iſt das andre: der
Kronprinz, nach dem ausgeſchaut wurde, hält nie das,
was man von ihm erwartete. Manchmal kippt er gleich
um und erklärt in plötzlich erwachter Pietät, im Sinne
des Hochſeligen weiterregieren zu wollen; in der Regel
aber macht er einen leidlich ehrlichen Verſuch, als Neu¬
geſtalter aufzutreten und holt ein Volksbeglückungs¬
programm auch wirklich aus der Taſche. Nur nicht auf
lange. ‚Leicht bei einander wohnen die Gedanken, doch
eng im Raume ſtoßen ſich die Sachen‘. Und nach einem
halben Jahre lenkt der Neuerer wieder in alte Bahnen
und Geleiſe ein.“
„Und ſo wird es Woldemar auch machen?“
„So wird es Woldemar auch machen. Wenigſtens
wird ihn die Luſt ſehr bald anwandeln, ſo halb und
halb ins Alte wieder einzulenken.“
„Und dieſe Luſt werden Sie natürlich bekämpfen.
Sie haben ihm in den Kopf geſetzt, daß etwas durch¬
aus Neues kommen müſſe. Sogar ein neues Chriſten¬
tum.“
„Ich weiß nicht, ob ich ſo geſprochen habe; aber
[491] wenn ich ſo ſprach, dies neue Chriſtentum iſt gerade
das alte.“
„Glauben Sie das?“
„Ich glaub' es. Und was beſſer iſt: ich fühl' es.“
„Nun gut, das mit dem neuen Chriſtentum iſt
Ihre Sache; da will ich Ihnen nicht hineinreden. Aber
das andre, da müſſen Sie mir was verſprechen. Be¬
ſinnt er ſich, und kommt er zu der Anſicht, daß das
alte Preußen mit König und Armee, trotz all ſeiner
Gebreſten und altmodiſchen Geſchichten, doch immer noch
beſſer iſt als das vom neueſten Datum, und daß wir
Alten vom Cremmer-Damm und von Fehrbellin her, auch
wenn es uns ſelber ſchlecht geht, immer noch mehr Herz
für die Torgelowſchen im Leibe haben als alle Torge¬
lows zuſammengenommen, kommt es zu ſolcher Rück¬
bekehrung, dann, Lorenzen, ſtören Sie dieſen Prozeß
nicht. Sonſt erſchein' ich Ihnen. Paſtoren glauben
zwar nicht an Geſpenſter, aber wenn welche kommen,
graulen ſie ſich auch.“
Lorenzen legte ſeine Hand auf die Hand Dubs¬
lavs und ſtreichelte ſie, wie wenn er des Alten Sohn
geweſen wäre. „Das alles, Herr von [Stechlin], kann
ich Ihnen gern verſprechen. Ich habe Woldemar er¬
zogen, als es mir oblag, und Sie haben in Ihrer
Klugheit und Güte mich gewähren laſſen. Jetzt iſt Ihr
Sohn ein vornehmer Herr und hat die Jahre. Sprechen
hat ſeine Zeit, und Schweigen hat ſeine Zeit. Aber
wenn Sie ihn und mich von oben her unter Kontrolle
nehmen und eventuell mir erſcheinen wollen, ſo ſchieben
Sie mir dabei nicht zu, was mir nicht zukommt. Nicht
ich werde ihn führen. Dafür iſt geſorgt. Die Zeit
wird ſprechen, und neben der Zeit das neue Haus, die
blaſſe junge Frau und vielleicht auch die ſchöne Melu¬
ſine.“
Der Alte lächelte. „Ja, ja.“
Zweiundvierzigſtes Kapitel.
So ging das Geſpräch. Und als Lorenzen auf¬
brach, fühlte ſich der Alte wie belebt und verſprach ſich
eine gute Nacht mit viel Schlaf und wenig Beängſtigung.
Aber es kam anders; die Nacht verlief ſchlecht, und
als der Morgen da war und Engelke das Frühſtück
brachte, ſagte Dubslav: „Engelke, ſchaff die Wabe weg;
ich kann das ſüße Zeug nicht mehr ſehn. Krippenſtapel
hat es gut gemeint. Aber es is nichts damit und über¬
haupt nichts mit der ganzen Heilkraft der Natur.“
„Ich glaube doch, gnäd'ger Herr. Bloß gegen die
Gegenkraft kann die Wabe nich an.“
„Du meinſt alſo: ‚für 'n Tod kein Kraut ge¬
wachſen iſt‘. Ja, das wird es wohl ſein; das mein'
ich auch.“
Engelke ſchwieg.
Eine Stunde ſpäter kam ein Brief, der, trotzdem
er aus nächſter Nähe ſtammte, doch durch die Poſt be¬
fördert worden war. Er war von Ermyntrud, behandelte
die durch Koſeleger und ſie ſelbſt geplante Gründung
eines Rettungshauſes für verwahrloſte Kinder und äußerte
ſich am Schluſſe dahin, daß, „wenn ſich — hoffentlich
binnen kurzem — ihre Wünſche für Dubslavs fort¬
ſchreitende Geſundheit erfüllt haben würden,“ Agnes, das
[493] Enkelkind der alten Buſchen, als erſte, wie ſie vertraue, ſitt¬
lich zu Heilende in das Aſyl aufgenommen werden möchte.
Dubslav drehte den Brief hin und her, las noch
einmal und ſagte dann: „O, dieſe Komödie ... ‚wenn
ſich meine Wünſche für Ihre fortſchreitende Geſundheit
erfüllt haben werden‘ ... das heißt doch einfach, ‚wenn
Sie ſich demnächſt den Raſen von unten anſehn‘. Alle
Menſchen ſind Egoiſten, Prinzeſſinnen auch, und ſind ſie
fromm, ſo haben ſie noch einen ganz beſonderen Jar¬
gon. Es mag ſo bleiben, es war immer ſo. Wenn
ſie nur ein bißchen mehr Vertrauen zu dem geſunden
Menſchenverſtand andrer hätten.“
Er ſteckte, während er ſo ſprach, den Brief wieder
in das Couvert und rief Agnes.
Das Kind kam auch.
„Agnes, gefällt es dir hier?“
„Ja, gnäd'ger Herr, es gefällt mir hier.“
„Und iſt dir auch nicht zu ſtill?“
„Nein, gnäd'ger Herr, es iſt mir auch nicht zu ſtill.
Ich möchte immer hier ſein.“
„Na, du ſollſt auch bleiben, Agnes, ſo lang es geht.
Und nachher. Ja, nachher ...“
Das Kind kniete vor ihm nieder und küßte ihm die
Hände.
Dubslavs Zuſtand verſchlechterte ſich ſchnell. Engelke
trat an ihn heran und ſagte: „Gnäd'ger Herr, ſoll ich
nicht in die Stadt ſchicken?“
„Nein.“
„Oder zu der Buſchen?“
„Ja, das thu'. So 'ne alte Hexe kann es immer
noch am beſten.“
In Engelkens Augen traten Thränen.
Dubslav, als er es ſah, ſchlug raſch einen andern
[494] Ton an. „Nein, Engelke, graule dich nicht vor deinem
alten Herrn. Ich habe es bloß ſo hingeſagt. Die
Buſchen ſoll nich kommen. Es würde mir wohl auch
nicht viel ſchaden, aber wenn man ſchon ſo in ſein Grab
ſieht, dann muß man doch anders ſprechen, ſonſt hat
man ſchlechte Nachrede bei den Leuten. Und das möcht'
ich nich, um meinetwegen nich und um Woldemars wegen
nich ... Und dabei fällt mir auch noch Adelheid ein ..
Die käme mir am Ende gleich nach, um mich zu retten.
Nein, Engelke nich die Buſchen. Aber gieb mir noch
mal von den Tropfen. Ein bißchen beſſer als der Thee
ſind ſie doch.“
Engelke ging, und Dubslav war wieder allein.
Er fühlte, daß es zu Ende gehe. „Das „Ich“ iſt nichts,
— damit muß man ſich durchdringen. Ein ewig Ge¬
ſetzliches vollzieht ſich, weiter nichts, und dieſer Vollzug,
auch wenn er „Tod“ heißt, darf uns nicht ſchrecken. In
das Geſetzliche ſich ruhig ſchicken, das macht den ſitt¬
lichen Menſchen und hebt ihn.“
Er hing dem noch ſo nach und freute ſich, alle
Furcht überwunden zu haben. Aber dann kamen doch
wieder Anfälle von Angſt, und er ſeufzte: „Das Leben
iſt kurz, aber die Stunde iſt lang.“
Es war eine ſchlimme Nacht. Alles blieb auf.
Engelke lief hin und her, und Agnes ſaß in ihrem Bett
und ſah mit großen Augen durch die halbgeöffnete
Thür in das Zimmer des Kranken. Erſt als ſchon der
Tag graute, wurde durch das ganze Haus hin alles
ruhiger; der Kranke nickte matt vor ſich hin, und auch
Agnes ſchlief ein.
[495]
Es war wohl ſchon ſieben, — die Parkbäume hinter
dem Vorgarten lagen bereits in einem hellen Schein —
als Engelke zu dem Kinde herantrat und es weckte.
„Steih upp, Agnes.“
„Is he dod?“
„Nei. He ſlöppt en beten. Un ick glöw, et ſitt
em nich mihr ſo upp de Boſt.“
„Ick grul' mi ſo.“
„Dat brukſt du nich. Un kann ook ſinn, he ſlöppt
ſich wedder geſunn . . . Un nu, ſteih upp un bind di
ook en Doog um ’n Kopp. Et is noch en beten küll
drut. Un denn geih in 'n Goaren un plück em (wenn
du wat finnſt) en beten Krokus oder wat et ſünſten is.“
Die Kleine trat auch leiſe durch die Balkonthür auf
die Veranda hinaus und ging auf das Rundell zu, um
nach ein paar Blumen zu ſuchen. Sie fand auch allerlei;
das beſte waren Schneeglöckchen. Und nun ging ſie,
mit den Blumen in der Hand, noch ein paar mal auf
und ab und ſah, wie die Sonne drüben aufſtieg. Sie
fröſtelte. Zugleich aber kam ihr ein Gefühl des Lebens.
Dann trat ſie wieder in das Zimmer und ging auf den
Stuhl zu, wo Dubslav ſaß. Engelke, die Hände ge¬
faltet, ſtand neben ſeinem Herrn.
Das Kind trat heran und legte die Blumen dem
Alten auf den Schoß.
„Dat ſinn de ihrſten,“ ſagte Engelke, „un wihren
ook woll de beſten ſinn.“
Dreiundvierzigſtes Kapitel.
Es war Mittwoch früh, daß Dubslav, ſtill und
ſchmerzlos, das Zeitliche geſegnet hatte. Lorenzen wurde
gerufen; auch Kluckhuhn kam, und eine Stunde ſpäter
war ein Gemeindediener unterwegs, der die Nachricht
von des Alten Tode den im Kreiſe Zunächſtwohnenden
überbringen ſollte, voran der Domina, dann Koſeleger,
dann Katzlers und zuletzt den beiden Gundermanns.
Den Tag drauf trafen zwei Briefe bei den Barbys
ein, der eine von Adelheid, der andre von Armgard.
Adelheid machte dem gräflichen Hauſe kurz und förmlich
die Anzeige von dem Ableben ihres Bruders, unter
gleichzeitiger Mitteilung, „daß das Begräbnis am Sonn¬
abend mittag ſtattfinden werde.“ Der Brief Armgards
aber lautete: „Liebe Meluſine! Wir bleiben noch bis
morgen hier, — noch einmal das Forum, noch ein¬
mal den Palatin. Ich werde heute noch aus der
Fontana Trevi trinken, dann kommt man wieder, und
das iſt für jeden, der Rom verläßt, bekanntlich der
größte Troſt. Wir gehen nun nach Capri, aber in
Etappen, und bleiben unter anderm einen halben Tag
in Monte Caſſino, wo (verzeih meine Weisheit) das
ganze Ordensweſen entſtanden ſein ſoll. Ich liebe
[497] Klöſter, wenn auch nicht für mich perſönlich. Neapel
berühren wir nur kurz und gehen gleich bis Amalfi,
wenn wir nicht das höher gelegene Ravello bevorzugen.
Dann erſt über Sorrent nach Capri, dem eigentlichen
Ziel unſrer Reiſe. Wir werden nicht bei Pagano
wohnen, wo, bei allem Reſpekt vor der Kunſt, zu viel
Künſtler ſind, ſondern weiter abwärts, etwa auf halber
Höhe. Wir haben von hier aus eine Empfehlung. In
acht Tagen ſind wir ſicher da. Sorge, daß wir dann
einen Brief von dir vorfinden. Vorher ſind wir ſo
gut wie unerreichbar, ein Zuſtand, den ich mir als
Kind immer gewünſcht und mir als etwas ganz be¬
ſonders Poetiſches vorgeſtellt habe. Küſſe meinen alten
Papa. Nach Stechlin hin tauſend Grüße, vor allem
aber bleibe, was du jederzeit warſt: die Schweſter, die
Mutter (nur nicht die Tante) deiner glücklichen, dich
immer und immer wieder zärtlich liebenden Armgard.“
Armgards Brief kam kaum zu ſeinem Recht, weil
ſowohl der alte Graf wie Meluſine ganz der Erwägung
lebten, ob es nicht, trotz Armgards gegenteiliger Vorweg¬
verſicherung, vielleicht doch noch möglich ſein würde, das
junge Paar irgendwo telegraphiſch zu erreichen; aber es
ging nicht, man mußt es aufgeben und ſich begnügen,
allerperſönlichſt Vorbereitungen für die Fahrt nach
Stechlin hin zu treffen. Des alten Grafen Befinden
war nicht das beſte, ſo daß ſeitens des Hausarztes ſein
Fernbleiben von dem Begräbnis dringend gewünſcht
wurde. Daran aber war gar nicht zu denken. Und
ſo brachen denn Vater und Tochter am Sonnabend früh
nach Stechlin hin auf. Jeſerich wurde mitgenommen,
um für alle Fälle zur Hand zu ſein. Es war Pracht¬
wetter, aber ſcharfe Luft, ſo daß man trotz Sonnen¬
ſchein fröſtelte.
Fontane, Der Stechlin. 32[498]
In dem alten Herrenhauſe zu Stechlin ſah es am
Begräbnistage ſehr verändert aus; ſonſt ſo ſtill und
abgeſchieden, war heute alles Andrang und Bewegung.
Zahlloſe Kutſchen erſchienen und ſtellten ſich auf dem
Dorfplatz auf, die meiſten ganz in Nähe der Kirche.
Dieſe lag in prallem Sonnenſchein da, ſo daß man
deutlich die hohen, in die Feldſteinwand eingemauerten
Grabſteine ſah, die früher, vor der Reſtaurierung, im
Kirchenſchiff gelegen hatten. Epheu fehlte; nur Holunder¬
büſche, die zu grünen anfingen, und dazwiſchen Eber¬
eſchenſträucher wuchſen um den Chor herum.
Der Tote war auf dem durch Palmen und Lorbeer
in eine grüne Halle umgewandelten Hausflur aufgebahrt.
Adelheid machte die Honneurs, und ihre hohen Jahre,
noch mehr aber ihr Selbſtbewußtſein, ließen ſie die ihr
zuſtändige Rolle mit einer gewiſſen Würde durchführen.
Außer den Barbys, Vater und Tochter, waren, von
Berlin her, noch Baron und Baronin Berchtesgaden
gekommen, ebenſo Rex und Hauptmann von Czako.
Rex ſah aus, als ob er am Grabe ſprechen wolle,
während ſich Czako darauf beſchränkte, das geſellſchaft¬
liche Durchſchnittstrauermaß zu zeigen.
Aber dieſe Berliner Gäſte verſchwanden natürlich
in dem Kontingent, das die Grafſchaft geſtellt hatte.
Dieſelben Herren, die ſich — kaum ein halbes Jahr
zurück — am Rheinsberger Wahltage zuſammengefunden
und ſich damals, von ein paar Ausnahmen abgeſehen,
über Torgelows Sieg eigentlich mehr erheitert als ge¬
ärgert hatten, waren auch heute wieder da: Baron Beetz,
Herr von Krangen, Jongherr van dem Peerenbom, von
Gnewkow, von Blechernhahn, von Storbeck, von Molchow,
von der Nonne, die meiſten, wie herkömmlich, mit ſehr
kritiſchen Geſichtern. Auch Direktor Thormeyer war
gekommen, in pontificalibus, angethan mit ſo vielen
Orden und Medaillen, daß er damit weit über den
[499] Landadel hinauswuchs. Einige ſtießen ſich denn auch
an, und Molchow ſagte mit halblauter Stimme zu von
der Nonne: „Sehn Sie, Nonne, das iſt die ‚Schmetter¬
lingsſchlacht‘, von der man jetzt jeden Tag in den
Zeitungen lieſt.“ Aber trotz dieſer ſpöttiſchen Bemerkung,
wäre Thormeyer doch Hauptgegenſtand aller Aufmerk¬
ſamkeit geblieben, wenn nicht der jeden Ordensſchmuck
verſchmähende, nur mit einem hochkragigen und uralten
Frack angethane Edle Herr von Alten-Friſack ihm ſieg¬
reiche Konkurrenz gemacht hätte. Das wendiſch Götzen¬
bildartige, das ſein Kopf zeigte, gab auch heute wieder
den Ausſchlag zu ſeinen Gunſten. Er nickte nur pagoden¬
haft hin und her und ſchien ſelbſt an die vom älteſten
Adel die Frage zu richten: „Was wollt ihr hier?“ Er
hielt ſich nämlich (worin er einer ererbten Geſchlechts¬
anſchauung folgte) für den einzig wirklich berechtigten
Bewohner und Vertreter der ganzen Grafſchaft.
Das waren ſo die Hauptanweſenden. Alles ſtand
dichtgedrängt, und von Blechernhahn, der in Bezug auf
„Schneid“ beinah' an von Molchow heranreichte, ſagte:
„Bin neugierig, was der Lorenzen heute loslaſſen wird.
Er gehört ja zur Richtung Göhre.“
„Ja, Göhre,“ ſagte von Molchow. „Merkwürdig,
wie der Zufall ſpielt. Das Leben macht doch immer
die beſten Witze.“
Weiter kam es mit dieſer ziemlich ungeniert ge¬
führten Unterhaltung nicht, weil ſich, als Molchow eben
ſeinen Pfeil abgeſchoſſen hatte, die Geſamtaufmerkſam¬
keit auf jene Flurſtelle richtete, wo der aufgebahrte
Sarg ſtand. Hier war nämlich und zwar in einem
brillant ſitzenden und mit Atlasaufſchlägen ausſtaffierten
Frack in eben dieſem Augenblicke der Rechtanwalt Katzen¬
ſtein erſchienen und ſchritt, nachdem er einen Granſee¬
ſchen Rieſenkranz am Fußende des Sarges niedergelegt
hatte, mit jener Ruhe, wie ſie nur das gute Gewiſſen
32*[500] giebt, auf Adelheid zu, vor der er ſich reſpektvollſt ver¬
neigte. Dieſe bewahrte gute Haltung und dankte. Von
verſchiedenen Seiten her aber hörte man leiſe das Wort
„Affront“, während ein in unmittelbarer Nähe des
Edlen Herrn von Alten-Friſack ſtehender, erſt ſeit kurzem
zu Chriſtentum und Konſervatismus übergetretener
Katzenſteinſcher Kollege lächelnd vor ſich hin murmelte:
„Schlauberger!“
Und nun war es Zeit.
Der Zug ordnete ſich, Militärmuſik aus der nächſten
Garniſon ſchritt vorauf; dann traten die Stechliner
Bauern heran, die darum gebeten hatten, den Sarg
tragen zu dürfen. Diener und Mädchen aus dem Hauſe
nahmen die Kränze. Dann kam Adelheid mit Paſtor
Lorenzen, an die ſich die Trauerverſammlung (viele
von ihnen in Landſtandsuniform) unmittelbar anſchloß.
Draußen ſah man, daß eine große Zahl kleiner Leute
Spalier gebildet hatte. Das waren die von Globſow.
Sie hatten bei der Rheinsberger Wahl alle für Torgelow
oder doch wenigſtens für Katzenſtein geſtimmt; jetzt aber,
wo der Alte tot war, waren ſie doch vorwiegend der
Meinung: „He wihr ſo wiet janz good.“
Die Muſik klang wundervoll; kleine Mädchen ſtreuten
Blumen, und ſo ging es den etwas anſteigenden Kirch¬
hof hinauf, zwiſchen den Gräbern hindurch und zuletzt
auf das uralte, niedrige Kirchenportal zu. Vor dem
Altar ſtellten ſie den Sarg auf einen mit einer Ver¬
ſenkungsvorrichtung verſehenen Stein, unter dem ſich
die Gruft der Stechline befand. Schiff und Emporen
waren überfüllt; bis auf den Kirchhof hinaus ſtand
alles Kopf an Kopf. Und nun trat Lorenzen an den
Sarg heran, um über den, den er trotz aller Ver¬
ſchiedenheit der Meinungen ſo ſehr geliebt und verehrt,
ein paar Worte zu ſagen.
,„Wer ſeinen Weg richtig wandelt, kommt zu ſeiner
[501] Ruhe in der Kammer.‘ Dieſen Weg zu wandeln, war
das Beſtreben deſſen, an deſſen Sarge wir hier ſtehn.
Ich gebe kein Bild ſeines Lebens, denn wie dies Leben
war, es wiſſen's alle, die hier erſchienen ſind. Sein
Leben lag aufgeſchlagen da, nichts verbarg ſich, weil
ſich nichts zu verbergen brauchte. Sah man ihn, ſo
ſchien er ein Alter, auch in dem, wie er Zeit und Leben
anſah; aber für die, die ſein wahres Weſen kannten,
war er kein Alter, freilich auch kein Neuer. Er hatte
vielmehr das, was über alles Zeitliche hinaus liegt,
was immer gilt und immer gelten wird: ein Herz.
Er war kein Programmedelmann, kein Edelmann nach
der Schablone, wohl aber ein Edelmann nach jenem
alles Beſte umſchließenden Etwas, das Geſinnung heißt.
Er war recht eigentlich frei. Wußt' es auch, wenn er's
auch oft beſtritt. Das goldene Kalb anbeten, war nicht
ſeine Sache. Daher kam es auch, daß er vor dem,
was das Leben ſo vieler andrer verdirbt und unglück¬
lich macht, bewahrt blieb, vor Neid und böſem Leumund.
Er hatte keine Feinde, weil er ſelber keines Menſchen
Feind war. Er war die Güte ſelbſt, die Verkörperung
des alten Weisheitsſatzes: ‚Was du nicht willſt, daß man
dir thu‘.
„Und das leitet mich denn auch hinüber auf die
Frage nach ſeinem Bekenntnis. Er hatte davon weniger
das Wort, als das Thun. Er hielt es mit den guten
Werken und war recht eigentlich das, was wir über¬
haupt einen Chriſten nennen ſollten. Denn er hatte
die Liebe. Nichts Menſchliches war ihm fremd, weil er
ſich ſelbſt als Menſch empfand und ſich eigner menſch¬
licher Schwäche jederzeit bewußt war. Alles, was einſt
unſer Herr und Heiland gepredigt und gerühmt, und
an das er die Segensverheißung geknüpft hat, — all
das war ſein: Friedfertigkeit, Barmherzigkeit und die
Lauterkeit des Herzens. Er war das Beſte, was wir
[502] ſein können, ein Mann und ein Kind. Er iſt nun ein¬
gegangen in ſeines Vaters Wohnungen und wird da
die Himmelsruhe haben, die der Segen aller Segen iſt.“
Einige der Anweſenden ſahen ſich bei dieſer Schlu߬
wendung an. Am meiſten bemerkt wurde Gundermann,
deſſen der Rede halb zuſtimmende, halb ablehnende Hal¬
tung bei den verſammelten „Alten und Echten“ (die wohl
ſich, aber nicht ihm ein Recht der Kritik zuſchrieben),
auch hier wieder ein Lächeln hervorrief. Dann folgte
mit erhobener Stimme Gebet und Einſegnung, und als
die Orgel intonierte, ſenkte ſich der auf dem Verſenkungs¬
ſtein ſtehende Sarg langſam in die Gruft. Einen Augen¬
blick ſpäter, als der wiederaufſteigende Stein die Gruft¬
öffnung mit einem eigentümlichen Klappton ſchloß, hörte
man von der Kirchenthür her erſt ein krampfhaftes
Schluchzen und dann die Worte: „Nu is allens ut; nu
möt ick ook weg.“ Es war Agnes. Man nahm das
Kind von dem Schemel herunter, auf dem es ſtand, um
es unter Zuſpruch der Nächſtſtehenden, auf den Kirch¬
hof hinauszuführen. Da ſchlich es noch eine Weile
weinend zwiſchen den Gräbern hin und her und ging
dann die Straße hinunter auf den Wald zu.
Die alte Buſchen ſelbſt hatte nicht gewagt, mit da¬
bei zu ſein.
Unter denen, die draußen auf dem Kirchhof ſtanden,
waren auch von Molchow und von der Nonne. Jeder
von ihnen wartete auf ſeine Kutſche, die, weil der An¬
drang ſo groß war, nicht gleich vorfahren konnte. Beide
froren bitterlich bei der ſcharfen Luft, die vom See her¬
wehte.
„Ich weiß nicht,“ ſagte von der Nonne, „warum
ſie die Feier nicht im Hauſe, wo ſie doch heizen konnten,
[503] abgehalten haben; es war ja da drin gar keine menſch¬
liche Temperatur mehr. Und nun erſt hier draußen.“
„Is leider ſo,“ ſagte Molchow, „und ich werde
wohl auch mit 'ner Kopfkolik abſchließen. Und mitunter
ſtirbt man dran. Aber wenn man in Berlin is (und
ich habe da neulich auch ſo was mitgemacht), is es doch
noch ſchlimmer. Da haben ſie was, was ſie 'ne Leichen¬
halle nennen, 'ne Art Kapelle mit Bibelſpruch und Lor¬
beerbäumen, und dahinter verſtecken ſich ein paar Ge¬
ſangsmenſchen. Wenn man ſie nachher aber ſieht, ſehen
ſie ſehr gefrühſtückt aus.“
„Kenn' ich, kenn' ich,“ ſagte Nonne.
„Nu, der Geſang,“ fuhr Molchow fort, „das ginge
noch, den kann man ſchließlich aushalten. Aber der
Fußboden und der Zug durch die offenſtehende Thür.
Und wenn man noch bloß den kriegte. Wer aber Pech
hat, der kommt, wenn's Winter is, dicht neben einen
Kanonenofen zu ſtehn, und wenn ich ſage, „der puſtet“,
ſo ſag' ich noch wenig. Und der Geiſtliche kann einem
auch leid thun. Er ſpricht ſo zu ſagen für niemanden.
Wer kann denn bei ſolchem Zug und ſolchem Ofenpuſten
ordentlich zuhören? Und bloß das weiß ich, daß ich
immer an die drei Männer im feurigen Ofen gedacht
habe. So halb Eisklumpen, halb Bratapfel is nich
mein Fall.“
„Ja, die Berliner,“ ſagte Nonne .... „Nich zu
glauben.“
„Nich zu glauben. Und dabei bilden ſie ſich ein,
ſie hätten eigentlich alles am beſten. Und mancher
von ihnen glaubt es auch wirklich. Aber die Hölle lacht.“
„Ich bitte Sie, Molchow, menagieren Sie ſich!
Das über Berlin, na, das ginge vielleicht noch. Aber
ſo gleich hier von Hölle, hier mitten auf 'nem chriſtlichen
Kirchhof ...“
[504]
Bald danach hatte ſich der Kirchhof geleert, und
alles, was in der Grafſchaft wohnte, war auf dem
Heimwege. Nur die von Berlin her erſchienenen Gäſte,
die den nächſten, an Granſee vorüberkommenden Roſtocker
Zug abzuwarten hatten, waren in das Herrenhaus zu¬
rückgekehrt, wo mittlerweile für einen Imbiß Sorge ge¬
tragen war. Rex und Czako, desgleichen auch die Berchtes¬
gadens, nahmen erſt ein Glas Wein und dann eine
Taſſe Kaffee. Zwiſchen dem alten Grafen und Adelheid
knüpfte ſich ein mäßig belebtes Geſpräch an, wobei der
Graf der Vorzüge des Verſtorbenen gedachte. Da
Schweſter Adelheid jedoch, wie ſo viele Schweſtern,
allerlei Zweifel und Bedenken hinſichtlich des Thuns
und Treibens ihres Bruders hegte, ſo ging man bald
zu den Kindern über und beklagte, daß ſie bei einer ſo
ſchönen Feier nicht hätten zugegen ſein können. Da¬
zwiſchen wurde dann freilich das faſt entgegengeſetzt
klingende Bedauern laut, daß das junge Paar ſeinen
Aufenthalt im Süden wohl werde abbrechen müſſen.
Der alte Graf in ſeiner Güte fand alles, was Adelheid
ſagte, ſehr verſtändig, während ſich Adelheids Gefühle
mit der Anerkennung begnügten, daß ſie ſich den Alten
eigentlich ſchlimmer gedacht habe.
Vierundvierzigſtes Kapitel.
Meluſine war aus der Kirche mit in das Herren¬
haus zurückgekehrt und widmete ſich hier auf eine kurze
Weile zunächſt ihren Freunden, den Berchtesgadens, dann
Rex und Czako. Danach ging ſie in die Pfarre hin¬
über, um Lorenzen zu danken und noch ein kurzes Ge¬
ſpräch mit ihm über Woldemar und Armgard zu haben,
im weſentlichen eine Wiederholung alles deſſen, was ſie
ſchon während ihres Weihnachtsbeſuches mit ihm durch¬
geſprochen hatte. Sie verplauderte ſich dabei wider
Wunſch und Willen, und als ſie ſchließlich nach dem
Herrenhauſe zurückkehrte, begegnete ſie bereits jener Auf¬
bruchsunruhe, die kein ernſtes Eingehen auf irgend ein
Thema mehr zuläßt. Sie beſchränkte ſich deshalb auf
ein paar Worte mit Tante Adelheid. Daß man ſich
gegenſeitig nicht mochte, war der einen ſo gewiß wie
der andern. Sie waren eben Antipoden: Stiftsdame
und Weltdame, Wutz und Windſor, vor allem enge und
weite Seele.
„Welch ein Mann, Ihr Paſtor Lorenzen,“ ſagte
Meluſine. „Und zum Glück auch noch unverheiratet.“
„Ich möchte das nicht ſo betonen und noch weniger
es beloben. Es widerſpricht dem Beiſpiele, das unſer
Gottesmann gegeben, und widerſpricht auch wohl der
Natur.“
„Ja, der Durchſchnittsnatur. Es giebt aber, Gott
[506] ſei Dank, Ausnahmen. Und das ſind die eigentlich
Berufenen. Eine Frau nehmen, iſt alltäglich ...“
„Und keine Frau nehmen, iſt ein Wagnis. Und
die Nachrede der Leute hat man noch obenein.“
„Dieſe Nachrede hat man immer. Es iſt das
erſte, wogegen man gleichgültig werden muß. Nicht in
Stolz, aber in Liebe.“
„Das will ich gelten laſſen. Aber die Liebe des
natürlichen Menſchen bezeigt ſich am beſten in der
Familie.“
„Ja, die des natürlichen Menſchen ...“
„Was ja ſo klingt, Frau Gräfin, als ob Sie dem
Unnatürlichen das Wort reden wollten.“
„In gewiſſem Sinne ‚ja‘ Frau Domina. Was
entſcheidet, iſt, ob man dabei nach oben oder nach unten
rechnet.“
„Das Leben rechnet nach unten.“
„Oder nach oben; je nachdem.“
Es klang alles ziemlich gereizt. Denn ſo leicht¬
lebig und heiter Meluſine war, einen Ton konnte ſie
nicht ertragen, den ſittlicher Überheblichkeit. Und ſo
war eine Gefahr da, ſich die Schraubereien fortſetzen
zu ſehen. Aber die Meldung, daß die Wagen vorge¬
fahren ſeien, machte dieſer Gefahr ein Ende. Meluſine
brach ab und teilte nur noch in Kürze mit, daß ſie
vorhabe, morgen mit dem früheſten von Berlin aus
einen Brief zu ſchreiben, der mutmaßlich gleichzeitig
mit dem jungen Paar in Capri eintreffen werde. Adel¬
heid war damit einverſtanden, und Meluſine nahm
Baron Berchtesgadens Arm, während der alte Graf die
Baronin führte.
Das Verdeck des vor dem Portal haltenden Wagens
war zurückgeſchlagen, und alsbald hatten die Baronin
und Meluſine im Fond, die beiden Herren aber auf
dem Rückſitz Platz genommen. So ging es eine ſchon
[507] in Kätzchen ſtehende Weidenallee hinunter, die beinahe
geradlinig auf Granſee zuführte. Das Wetter war
wunderſchön; von der Kälte, die noch am Vormittag
geherrſcht hatte, zeigte ſich nichts mehr; der Himmel
war gleichmäßig grau, nur hier und da eine blaue
Stelle. Der Rauch ſtand in der ſtillen Luft, die Spatzen
quirilierten auf den Telegraphendrähten und aus dem
Saatengrün ſtiegen die Lerchen auf. „Wie ſchön,“
ſagte Baron Berchtesgaden, „und dabei ſpricht man
immer von der Dürftigkeit und Proſa dieſer Gegenden.“
Alles ſtimmte zu, zumeiſt der alte Graf, der die Früh¬
lingsluft einſog und immer wieder ausſprach, wie
glücklich ihn dieſe Stunde mache. Sein Bewegtſein
fiel auf.
„Ich dachte, lieber Barby,“ ſagte der Baron, „in
meinen Huldigungen gegen Ihre märkiſche Frühlings¬
landſchaft ein Äußerſtes gethan zu haben. Aber ich ſehe,
ich bleibe doch weit zurück; Sie ſchlagen mich aus dem
Felde.“
„Ja,“ ſagte der alte Graf, „und mir kommt es wohl
auch zu. Denn ich bin der erſte dran, davon Abſchied
nehmen zu müſſen.“
Rex und Czako folgten in einem leichten Jagd¬
wagen. Die beiden Schecken, kleine Shetländer, warfen
ihre Mähnen. Daß man von einem Begräbnis kam,
war dem Gefährt nicht recht anzuſehen.
„Rex,“ ſagte Czako, „Sie könnten nun wieder
ein ander Geſicht aufſetzen. Oder wollen Sie mich
glauben machen, daß Sie wirklich betrübten Herzens
ſind?“
„Nein, Czako, ſo gröblich inſcenier' ich mich nicht.
Und käme mir ſo was in den Sinn, ſo jedenfalls nicht
vor einem Publikum, das Czako heißt. Übrigens wollen
[508] Sie bloß etwas von ſich auf mich abwälzen. Sie ſind
betrübt und wenn ich mir alles überlege, ſo ſteht es
ſo, daß Sie bei dem Chateau Lafitte nicht auf Ihre
Rechnung gekommen ſind. Er wirkte — denn des
Alten ‚Bocksbeutel‘ hab' ich von unſerem Oktoberbeſuch
her noch in dankbarer Erinnerung — wie wenn ihn
Tante Adelheid aus ihrem Kloſter mitgebracht hätte.“
„Rex, Sie ſind ja wie vertauſcht und reden beinah'
in meinem Stil. Es iſt doch merkwürdig, ſowie die
Menſchen dies Neſt, dies Berlin, erſt hinter ſich haben,
fängt Vernunft wieder an zu ſprechen.“
„Sehr verbunden. Aber eskamotieren Sie nicht
die Hauptſache. Meine Frage bleibt, ‚warum ſo be¬
legt, Czako?‘ Denn daß Sie das ſind, iſt außer
Zweifel. Wenn's alſo nicht von dem Lafitte ſtammt,
ſo kann es nur Meluſine ſein.“
Czako ſeufzte.
„Da haben wir's. Thatſache feſtgeſtellt, obwohl
ich Ihren Seufzer nicht recht verſtehe. Sie haben
nämlich nicht den geringſten Grund dazu. Geſamt¬
ſituation umgekehrt überaus günſtig.“
„Sie vergeſſen, Rex, die Gräfin iſt ſehr reich.“
„Das erſchwert nicht, das erleichtert bloß.“
„Und außerdem iſt ſie grundgeſcheit.“
„Das ſind Sie beinah' auch, wenigſtens mit¬
unter.“
„Und dann iſt die Gräfin eine Gräfin, ja, ſogar
eine Doppelgräfin, erſt durch Geburt und dann durch
Heirat noch mal. Und dazu dieſe verteufelt vornehmen
Namen: Barby, Ghiberti. Was ſoll da Czako? Teuerſter
Rex, man muß den Mut haben, den Thatſachen ins
Auge zu ſehn. Ich mache mir kein Hehl draus, Czako
hat was merkwürdig Kommißmäßiges, etwa wie Land¬
wehrmann Schultze. Kennen Sie das reizende Ballett
[509] ‚Uckermärker und Picarde‘? Da haben Sie die ganze
Geſchichte. Meluſine iſt die reine Picarde.“
„Zugegeben. Aber was ſchadet das? Italieniſieren
Sie ſich und ſchreiben Sie ſich von morgen ab Ciacco.
Dann ſind Sie dem Ghiberti trotz ſeiner Grafenſchaft
dicht auf den Hacken.“
„Sapriſti, Rex, c'est une idée.“
Fünfundvierzigſtes Kapitel.
Das junge Paar war, nach geplantem kurzen
Aufenthalt erſt in Amalfi und dann in Sorrent, in
Capri angekommen. Woldemar fragt nach Briefen, er¬
fuhr aber, daß nichts eingegangen.
Armgard ſchien verſtimmt. „Meluſine läßt ſonſt
nie warten.“
„Das hat dich verwöhnt. Sie verwöhnt dich
überhaupt.“
„Vielleicht. Aber, ſo dir's recht iſt, darüber erſt
ſpäter einmal, nicht heute; für ſolche Geſtändniſſe ſind
wir doch eigentlich noch nicht lange genug verheiratet.
Wir ſind ja noch in den Flitterwochen.“
Woldemar beſchwichtigte. „Morgen wird ein Brief
da ſein. Schließen wir alſo Frieden, und ſteigen wir,
wenn dir's paßt, nach Anacapri hinauf. Oder wenn
du nicht ſteigen magſt, bleiben wir, wo wir ſind, und
ſuchen uns hier eine gute Ausſichtsſtelle.“
Es war auf dem Frontbalkon ihres am mittleren
Abhang gelegenen Albergo, daß ſie dies Geſpräch führten,
und weil die Mühen und Anſtrengungen der letzten
Tage ziemlich groß geweſen waren, war Armgard
willens, für heute wenigſtens auf Anacapri zu ver¬
zichten. Sie begnügte ſich alſo, mit Woldemar auf das
Flachdach hinaufzuſteigen, und verlebte da, angeſichts
der vor ihnen ausgebreiteten Schönheit, eine glückliche
[511] Stunde. Von Sorrent kamen Fiſcherboote herüber, die
Fiſcher ſangen, und der Himmel war klar und blau;
nur drüben aus dem Kegel des Veſuv ſtieg ein dünner
Rauch auf und von Zeit zu Zeit war es, als vernähme
man ein dumpfes Rollen und Grollen.
„Hörſt du's?“ fragte Armgard.
„Gewiß. Und ich weiß auch, daß man einen
Ausbruch erwartet. Vielleicht erleben wir's noch.“
„Das wäre herrlich.“
„Und dabei“, fuhr Woldemar fort, „komm' ich
von der eiteln Vorſtellung nicht los, daß, wenn's da
drüben ernſtlich anfängt, unſer Stechlin mitthut, wenn
auch beſcheiden. Es iſt doch eine vornehme Verwandt¬
ſchaft.“
Armgard nickte, und von der Uferſtelle her, wo
die Sorrentiner Fiſcher eben anlegten, klang es herauf:
Am andern Tage, wie vorausgeſagt, kam ein Brief
von Meluſine, diesmal aber nicht an die Schweſter,
ſondern an Woldemar adreſſiert.
„Was iſt?“ fragte Armgard, der die Bewegung
nicht entging, die Woldemar, während er las, zu be¬
kämpfen ſuchte.
„Lies ſelbſt.“
Und dabei gab er ihr den Brief mit der Todes¬
anzeige des Alten.
An ein Eintreffen in Stechlin, um noch der Bei¬
ſetzung beiwohnen zu können, war längſt nicht mehr zu
denken; der Begräbnistag lag zurück. So kam man
denn überein, die Rückreiſe langſam, in Etappen über
Rom, Mailand und München machen, aber an jedem
Orte (denn beide ſehnten ſich heim) nicht länger als
[512] einen Tag verweilen zu wollen. Von Capri nahm
Woldemar ein einziges Andenken mit, einen Kranz von
Lorbeer und Oliven. „Den hat er ſich verdient.“ —
Die letzte Station war Dresden, und von hier aus
war es denn auch, daß Woldemar ein paar kurze Zeilen
an Lorenzen richtete.
Seit einer halben Stunde ſind wir in Dresden,
und ich ſchreibe dieſe Zeilen angeſichts des immer
wieder ſchönen Bildes von der Terraſſe aus, das auch
auf den Verwöhnteſten noch wirkt. Wir wollen morgen
in aller Frühe von hier fort, ſind um zehn in Berlin
und um zwölf in Granſee. Denn ich will zunächſt
unſer altes Stechlin wiederſehen und einen Kranz am
Sarge niederlegen. Bitte, ſorgen Sie, daß mich ein
Wagen auf der Station erwartet. Wenn ich auch Sie
perſönlich träfe, ſo wäre mir das das Erwünſchteſte.
Es plaudert ſich unterwegs ſo gut. Und von wem
könnt' ich mehr und zugleich Zuverläſſigeres erfahren,
als von Ihnen, der Sie die letzten Tage mit durch¬
lebt haben werden. Meine Frau grüßt herzlichſt.
Wie immer Ihr alter, treu und dankbar ergebenſter
Woldemar v. St.
Um zwölf hielt der Zug auf Bahnhof Granſee.
Woldemar ſah ſchon vom Coupé aus den Wagen; aber
ſtatt Lorenzen war Krippenſtapel da. Das war ihm
zunächſt nicht angenehm, aber er nahm es bald von
der guten Seite. „Krippenſtapel iſt am Ende noch beſſer,
weil er unbefangener iſt und mit manchem weniger zu¬
rückhält. Lorenzen, wenn er dies Wort auch belächeln
würde, hat einen diplomatiſchen Zug.“
In dieſem Augenblick erfolgte die Begrüßung mit
dem inzwiſchen herangetretenen „Bienenvater“, und alle
[513] drei beſtiegen den Wagen, deſſen Verdeck zurückgeſchlagen
war. Krippenſtapel entſchuldigte Lorenzen, „der wegen
einer Trauung behindert ſei“, und ſo wäre denn alles
in beſter Ordnung geweſen, wenn unſer trefflicher alter
Muſeumsdirektor nur vor Antritt ſeiner Fahrt nach
Granſee von einer Herausbeſſerung ſeines äußeren
Menſchen Abſtand genommen hätte. Das war ihm aber
unzuläſſig erſchienen, und ſo ſaß er denn jetzt dem jungen
Paare gegenüber, angethan mit einem Schlipsſtreifen
und einem großen Chemiſettevorbau. Der Schlips war
ſo ſchmal, daß nicht bloß der zur Befeſtigung der Vater¬
mörder dienende Hemdkragenrand in halber Höhe ſicht¬
bar wurde, ſondern leider auch der aus einem keilartigen
Ausſchnitt hervorlugende Adamsapfel, der ſich nun, wie
ein Ding für ſich, beſtändig hin und her bewegte. Die
Verlegenheit Armgards, deren Auge ſich — natürlich ganz
gegen ihren Willen — unausgeſetzt auf dies Naturſpiel
richten mußte, wäre denn auch von Moment zu Moment
immer größer geworden, wenn nicht Krippenſtapels un¬
befangene Haltung ſchließlich über alles wieder hinweg
geholfen hätte.
Dazu kam noch, daß ſeiner Unbefangenheit ſeine
Mitteilſamkeit entſprach. Er erzählte von dem Begräb¬
nis und wer vom Grafſchaftsadel alles dageweſen ſei.
Dann kam Thormeyer an die Reihe, dann Katzenſtein
und die Domina und zuletzt auch „lütt Agnes“.
„Des Kindes müſſen wir uns annehmen,“ ſagte
Armgard.
„Wenn du darauf dringſt, gewiß. Aber es liegt
ſchwieriger damit, als du denkſt. Solche Kinder, ganz
im Gegenſatz zur Pädagogenſchablone, muß man ſich
ſelbſt überlaſſen. Der gefährlichere Weg, wenn über¬
haupt was Gutes in ihnen ſteckt, iſt jedesmal der
beſſere. Dann bekehren ſie ſich aus ſich ſelbſt heraus.
Wenn aber irgend ein Zwang dieſe Bekehrung
Fontane, Der Stechlin. 33[514] ſchaffen will, ſo wird meiſt nichts draus. Da werden
nur Heuchelei und Ziererei geboren. Eigner freier Ent¬
ſchluß wiegt hundert Erziehungsmaximen auf.“
Armgard ſtimmte zu. Krippenſtapel aber fuhr in
ſeinem Berichte fort und erzählte von Kluckhuhn, von
Uncke, von Elfriede; Sponholz werde in der nächſten
Woche zurückerwartet, und Koſeleger und die Prinzeſſin
ſeien ein Herz und eine Seele, ganz beſonders — und das
ſei das allerneueſte — ſeit man für ein Rettungshaus
ſammle. Seitens des Adels werde fleißig dazu bei¬
geſteuert; nur Molchow habe ſich geweigert: „ſo was
ſchaffe bloß Konfuſion“.
Um zwei traf man in Schloß Stechlin ein. Wolde¬
mar durchſchritt die verödeten Räume, verweilte kurze
Zeit in dem Sterbezimmer und ging dann in die Kirchen¬
gruft, um da den Kranz an des Vaters Sarge nieder¬
zulegen.
Am ſpäten Nachmittag erſchien auch Lorenzen und
ſprach zunächſt ſein Bedauern aus, daß er einer Amts¬
handlung halber (Koſſäth Zſchocke habe ſich wieder
verheiratet) nicht habe kommen können. Er blieb dann
noch den Abend über und erzählte vielerlei, zuletzt auch
von dem, was er dem Alten feierlich habe verſprechen
müſſen.
Woldemar lächelte dabei. „Die Zukunft liegt alſo
bei dir.“
Und unter dieſen Worten reichte er Armgard die
Hand.
Sechsundvierzigſtes Kapitel.
Armgard hatte ſich von der im Stechliner Hauſe
herrſchenden Weltabgewandtheit angeheimelt gefühlt. Aber
der Gedanke, hier ihre Tage zu verbringen, lag ihr
doch vorderhand noch fern, und ſo kehrte ſie denn, kurz
nach Ablauf einer Woche, nach Berlin zurück, wo mittler¬
weile Meluſine für alles geſorgt und eine ganz in der
Nähe von Woldemars Kaſerne gelegene Wohnung ge¬
mietet und eingerichtet hatte.
Das war am Belle-Allianceplatz. Als das junge
Paar dieſe Wohnung bezog, ging die Saiſon bereits
auf die Neige. Die Frühjahrsparaden nahmen ihren
Anfang und gleich danach auch die Wettrennen, an denen
Armgard voller Intereſſe teilnahm. Aber ihre Freude
daran war doch geringer als ſie geglaubt hatte. Weder
das Großſtädtiſche noch das Militäriſche, weder Sport
noch Kunſt behaupteten dauernd den Reiz, den ſie ſich
anfänglich davon verſprochen, und ehe der Hochſommer
heran war, ſagte ſie: „Laß mich's dir geſtehn, Wolde¬
mar, ich ſehne mich einigermaßen nach Schloß Stechlin.“
Er hätte nichts Lieberes hören können. Was Arm¬
gard da ſagte, war ihm aus der eignen Seele geſprochen.
Liebenswürdig und beſcheiden wie er war, ſtand ihm
längſt feſt, daß er nicht berufen ſei, jemals eine Gene¬
ralſtabsgröße zu werden, während das alte märkiſche
Junkertum, von dem frei zu ſein er ſich eingebildet
33*[516] hatte, ſich allmälig in ihm zu regen begann. Jeder
neue Tag rief ihm zu: „Die Scholle daheim, die
dir Freiheit giebt, iſt doch das beſte.“ So reichte er
denn ſeine Demiſſion ein. Man ſah ihn ungern ſcheiden,
denn er war nicht bloß wohlgelitten an der Stelle, wo
er ſtand, ſondern überhaupt beliebt. Man gab ihm,
als ſein Scheiden unmittelbar bevorſtand, ein Abſchieds¬
feſt, und der ihm beſonders wohlwollende Kommandeur
des Regiments ſprach in ſeiner Rede von den „ſchönen,
gemeinſchaftlich durchlebten Tagen in London und Wind¬
ſor“. —
All die Zeit über waren natürlich auch die von
einer Überſiedlung auf's Land unzertrennlichen kleinen
Mühen und Sorgen an das junge Paar herangetreten.
Unter dieſen Sorgen — Lizzi hatte abgelehnt, weil ſie
die große Stadt und die „Bildung“ nicht miſſen mochte —
war in erſter Reihe das Ausfindigmachen einer geeigneten
Kammerjungfer geweſen. Es traf ſich aber ſo glücklich,
daß Portier Hartwigs hübſche Nichte mal wieder außer
Stellung war, und ſo wurde dieſe denn engagiert.
Meluſine leitete die Verhandlungen mit ihr. „Ich weiß
freilich nicht, Hedwig, ob es Ihnen da draußen gefallen
wird. Ich hoff' es aber. Und Sie werden jedenfalls
zweierlei nicht haben: keinen Hängeboden und keinen
‚Ankratz‛, wie die Leute hier ſagen. Oder wenigſtens nicht
mehr davon, als Ihnen ſchließlich doch vielleicht lieb iſt.“
„Ach, das iſt nicht viel,“ verſicherte Hedwig halb
ſcham-, halb ſchalkhaft. —
Am 21. September wollte das junge Paar in Stech¬
lin einziehen und alle Vorbereitungen dazu waren ge¬
troffen: Schulze Kluckhuhn trommelte ſämtliche Krieger¬
vereine zuſammen (die Düppelſtürmer natürlich am rechten
Flügel), während Krippenſtapel ſich mit Tucheband über
ein Begrüßungsgedicht einigte, das von Rolf Krakes
älteſter Tochter geſprochen werden ſollte. Die Globſower
[517] gingen noch einen Schritt weiter und bereiteten eine
Rede vor, darin der neue junge Herr als einer der
„ihrigen“ begrüßt werden ſollte.
Das alles galt dem Einundzwanzigſten.
Am Tage vorher aber traf ein Brief Meluſinens
bei Lorenzen ein, an deſſen Schluß es hieß:
„Und nun, lieber Paſtor, noch einmal das eine.
Morgen früh zieht das junge Paar in das alte Herren¬
haus ein, meine Schweſter und mein Schwager. Er¬
innern Sie ſich bei der Gelegenheit unſres in den Weih¬
nachtstagen geſchloſſenen Paktes: es iſt nicht nötig, daß
die Stechline weiterleben, aber es lebe
der Stechlin.“
Appendix A
A. W. Hayn's Erben, Potsdam
Appendix B Verlag von Wilhelm Hertz in Berlin W. 9.
Werke von Theodor Fontane.
Gedichte. Grete Minde.
fünfte vermehrte Auflage. Nach einer altmärkiſchen Chronik.
Zweite Auflage.
Mit einem Bildniß.
kl. 8° 154 Seiten.
8° 462 Seiten. pr. broſch. 3 M., geb. in Leinw. 4 M.
pr. broſch. 5 M., geb. in Leinw. 6 M.
Vor dem Sturm. Unwiederbringlich.
Roman
Roman aus dem Winter 1812 Zweite Auflage.
auf 1813. 8° 343 Seiten.
pr broſch. 6 M., geb. in Leinw. 7 M
Wohlfeile Volks-Ausgabe in einem
Bande.
8° 773
Seiten Chriſtian Friedrich
pr. broſch. 4 M., geb in Leinw. 5. M Scherenberg
Quitt. und das literariſche Berlin
Roman. von 1840 bis 1860.
8° 260 Seiten.
80 338 Seiten. pr. broſch. 5 M., geb. in Leinwand
pr. bioſch. 5 M., geb. in Leinw. 6 M. 6 M. 20 pfg.
Wanderungen durch die Mark Brandenburg.
4 Bände.
Wohlfeile Ausgabe. Jeder Band broſch. 5 M., geb. in Leinw. 6 M.
I.Die Grafſchaft Ruppin. (559 S.)
II.Das Oderland. Barnim-Lebus. (506 Seiten).
III. Havelland. Die Landſchaft um Spandau, Potsdam,
Brandenburg. (485 S.)
IV.Spreeland. Beeskow-Storkow und Barnim-Teltow.
(459 S.)
Fünf Schlöſſer.
Altes und Neues aus Mark Brandenburg.
80 468 Seiten.
pr. broſch. 7 M, geb. in Leinw. 8 M. 20 pf.
Inhalt: Quitzöwel. — Plaue a. H. — Hoppenrade. — Liebenberg. — Dreilinden.
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- Lizenz
-
CC-BY-4.0
Link zur Lizenz
- Zitationsvorschlag für diese Edition
- TextGrid Repository (2025). Fontane, Theodor. Der Stechlin. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bhrg.0