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Wilhelm Meiſters
Lehrjahre.

Ein Roman.

Vierter Band.

Frankfurt und Leipzig.
. 1796.
[]

Wilhelm Meiſters
Lehrjahre.

Siebentes Buch.

A 2[[6]][[7]]

Erſtes Capitel.

Der Frühling war in ſeiner völligen Herr¬
lichkeit erſchienen; ein frühzeitiges Gewitter,
das den ganzen Tag gedrohet hatte, ging
ſtürmiſch an den Bergen nieder, der Regen
zog nach dem Lande, die Sonne trat wieder
in ihrem Glanze hervor und auf dem grauen
Grunde erſchien der herrliche Bogen. Wil¬
helm ritt ihm entgegen und ſah ihn mit Weh¬
muth an. Ach! ſagte er zu ſich ſelbſt, er¬
ſcheinen uns denn eben die ſchönſten Farben
des Lebens nur auf dunklem Grunde? und
müſſen Tropfen fallen, wenn wir entzückt wer¬
den ſollen? Ein heiterer Tag iſt wie ein
[8] grauer, wenn wir ihn ungerührt anſehen und
was kann uns rühren, als die ſtille Hoffnung,
daß die angebohrne Neigung unſers Herzens
nicht ohne Gegenſtand bleiben werde? Uns
rührt die Erzählung jeder guten That, uns
rührt das Anſchauen jedes harmoniſchen Ge¬
genſtandes; wir fühlen dabey, daß wir nicht
ganz in der Fremde ſind, wir wähnen einer
Heimath näher zu ſeyn, nach der unſer Be¬
ſtes, Innerſtes ungedultig hinſtrebt.


Inzwiſchen hatte ihn ein Fußgänger ein¬
geholt, der ſich zu ihm geſellte, mit ſtarkem
Schritte neben dem Pferde blieb und, nach
einigen gleichgültigen Reden, zu dem Reuter
ſagte: wenn ich mich nicht irre, ſo muß ich
Sie irgendwo ſchon geſehen haben.


Ich erinnere mich Ihrer auch, verſetzte
Wilhelm, haben wir nicht zuſammen eine
luſtige Waſſerfahrt gemacht? — Ganz recht!
erwiederte der andere.


[9]

Wilhelm betrachtete ihn genauer und ſag¬
te nach einigem Stillſchweigen: ich weiß nicht
was für eine Veränderung mit Ihnen vor¬
gegangen ſeyn mag, damals hielt ich Sie
für einen lutheriſchen Landgeiſtlichen und jetzt
ſcheinen Sie mir eher einem katholiſchen ähn¬
lich zu ſehen.


Heute betrügen Sie ſich wenigſtens nicht,
ſagte der andere, indem er den Hut abnahm
und die Tonſur ſehen ließ. Wo iſt denn
Ihre Geſellſchaft hingekommen? ſind Sie
noch lange bey ihr geblieben?


Länger als billig, denn leider wenn ich
an jene Zeit zurück denke, die ich mit ihr
zugebracht habe, ſo glaube ich in ein unend¬
liches Leere zu ſehen, es iſt mir nichts davon
übrig geblieben?


Darinn irren Sie ſich, denn alles was
uns begegnet läßt Spuren zurück, alles trägt
unmerklich zu unſerer Bildung bey; doch es
[10] iſt gefährlich, ſich davon Rechenſchaft geben
zu wollen. Wir werden entweder dabey ſtolz
und läßig, oder niedergeſchlagen und klein¬
müthig, und eins iſt für die Folge ſo hin¬
derlich als das andere. Das ſicherſte bleibt
immer, nur das nächſte zu thun was vor uns
liegt, und das iſt jetzt, fuhr er mit einem
Lächeln fort, daß wir eilen ins Quartier zu
kommen.


Wilhelm fragte, wie weit noch der Weg
nach Lotharios Gut ſey, der andere verſetzte,
daß es hinter dem Berge liege; vielleicht
treffe ich Sie dort an, fuhr er fort, ich habe
nur in der Nachbarſchaft noch etwas zu be¬
ſorgen. Leben Sie ſo lange wohl; und mit
dieſen Worten ging er einen ſteilen Fußpfad,
der ſchneller über den Berg hinüber zu füh¬
ren ſchien.


Ja wohl hat er recht! ſagte Wilhelm vor
ſich, indem er weiter ritt, an das nächſte
[11] ſoll man denken und für mich iſt wohl jetzt
nichts näheres als der traurige Auftrag, den
ich ausrichten ſoll. Laß ſehen, ob ich die Re¬
de noch ganz im Gedächtniß habe, die den
grauſamen Freund beſchämen ſoll?


Er fing darauf an, ſich dieſes Kunſtwerk
vorzuſagen, es fehlte ihm auch nicht eine
Sylbe, und je mehr ihm ſein Gedächtniß zu
ſtatten kam, deſto mehr wuchs ſeine Leiden¬
ſchaft und ſein Muth. Aureliens Leiden und
Tod waren lebhaft vor ſeiner Seele gegen¬
wärtig.


Geiſt meiner Freundin! rief er aus, um¬
ſchwebe mich! und wenn es dir möglich iſt,
ſo gieb mir ein Zeichen, daß du beſänftigt,
daß du verſöhnt ſeyſt.


Unter dieſen Worten und Gedanken war
er auf die Höhe des Berges gekommen, und
ſah an deſſen Abhang, an der andern Seite,
ein wunderliches Gebäude liegen, das er ſo¬
[12] gleich für Lothario’s Wohnung hielt. Ein
altes unregelmäßiges Schloß, mit einigen
Thürmen und Giebeln, ſchien die erſte An¬
lage dazu geweſen zu ſeyn, allein noch un¬
regelmäßiger waren die neuen Angebäude,
die theils nah, theils in einiger Entfernung
davon errichtet, mit dem Hauptgebäude durch
Gallerien und bedeckte Gänge zuſammenhin¬
gen. Alle äußere Symmetrie, jedes archi¬
tectoniſche Anſehn, ſchien dem Bedürfniß
der innern Bequemlichkeit aufgeopfert zu
ſeyn. Weder eine Spur von Wall und
Graben war zu ſehen, eben ſo wenig als
von künſtlichen Gärten und großen Alleen.
Ein Gemüſe– und Baumgarten drang bis
an die Häuſer hinan und kleine nutzbare
Gärten waren ſelbſt in den Zwiſchenräumen
angelegt. Ein heiteres Dörfchen lag in ei¬
niger Entfernung, Gärten und Felder ſchie¬
nen durchaus in dem beſten Zuſtande.


[13]

In ſeine eignen leidenſchaftlichen Betrach¬
tungen vertieft, ritt Wilhelm weiter, ohne
viel über das was er ſah’ nachzudenken,
ſtellte ſein Pferd in einem Gaſthofe ein
und eilte nicht ohne Bewegung nach dem
Schloſſe zu.


Ein alter Bedienter empfing ihn an der
Thüre, und berichtete ihm mit vieler Gutmü¬
thigkeit, daß er heute wohl ſchwerlich vor
den Herren kommen werde; der Herr habe
viel Briefe zu ſchreiben und ſchon einige ſei¬
ner Geſchäftsleute abweiſen laſſen. Wilhelm
ward dringender, und endlich mußte der Alte
nachgeben und ihn melden. Er kam zurück,
und führte Wilhelmen in einen großen alten
Saal. Dort erſuchte er ihn ſich zu gedulden,
weil der Herr vielleicht noch eine Zeit lang
ausbleiben werde. Wilhelm ging unruhig
auf und ab, und warf einige Blicke auf die
Ritter und Frauen, deren alte Abbildungen
[14] an der Wand umher hingen, er wiederholte
den Anfang ſeiner Rede, und ſie ſchien ihm
in Gegenwart dieſer Harniſche und Kragen
erſt recht am Platz. So oft er etwas rauſchen
hörte, ſetzte er ſich in Poſitur, um ſeinen
Gegner mit Würde zu empfangen, ihm erſt
den Brief zu überreichen, und ihn dann mit
den Waffen des Vorwurfs anzufallen.


Mehrmals war er ſchon getäuſcht wor¬
den, und fing wirklich an verdrießlich und
verſtimmt zu werden, als endlich aus einer
Seitenthür ein wohlgebildeter Mann, in
Stiefeln und einem ſchlichten Überrocke, her¬
austrat. Was bringen Sie mir Gutes? ſag¬
te er mit freundlicher Stimme zu Wilhel¬
men; verzeihen Sie, daß ich Sie habe war¬
ten laſſen.


Er faltete, indem er dieſes ſprach, einen
Brief, den er in der Hand hielt. Wilhelm,
nicht ohne Verlegenheit, überreichte ihm das
[15] Blatt Aureliens, und ſagte: Ich bringe die
letzten Worte einer Freundinn, die Sie nicht
ohne Rührung leſen werden.


Lothario nahm den Brief und ging ſo¬
gleich in das Zimmer zurück, wo er, wie
Wilhelm recht gut durch die offne Thüre ſe¬
hen konnte, erſt noch einige Briefe ſiegelte
und überſchrieb, dann Aureliens Brief eröff¬
nete und las. Er ſchien das Blatt einigemal
durchgeleſen zu haben, und Wilhelm, ob¬
gleich ſeinem Gefühl nach die pathetiſche Re¬
de zu dem natürlichen Empfang nicht recht
paſſen wollte, nahm ſich doch zuſammen, ging
auf die Schwelle loß und wollte ſeinen Spruch
beginnen, als eine Tapetenthüre des Kabinets
ſich öffnete, und der Geiſtliche hereintrat.


Ich erhalte die wunderlichſte Depeſche von
der Welt, rief Lothario ihm entgegen; ver¬
zeihn Sie mir, fuhr er fort, indem er ſich
gegen Wilhelmen wandte, wenn ich in die¬
[16] ſem Augenblicke nicht geſtimmt bin, mich mit
Ihnen weiter zu unterhalten. Sie bleiben
heute Nacht bey uns! und Sie ſorgen für
unſern Gaſt, Abbé, daß ihm nichts abgeht.


Mit dieſen Worten machte er eine Ver¬
beugung gegen Wilhelmen, der Geiſtliche
nahm unſern Freund bey der Hand, der
nicht ohne Widerſtreben folgte.


Stillſchweigend gingen ſie durch wunder¬
liche Gänge, und kamen in ein gar artiges
Zimmer. Der Geiſtliche führte ihn ein, und
verließ ihn ohne weitere Entſchuldigung.
Bald darauf erſchien ein munterer Knabe,
der ſich bey Wilhelmen als ſeine Bedienung
ankündigte und das Abendeſſen brachte, bey
der Aufwartung von der Ordnung des Hau¬
ſes, wie man zu frühſtücken, zu ſpeiſen, zu
arbeiten und ſich zu vergnügen pflegte, man¬
ches erzählte, und beſonders zu Lotharios
Ruhm gar vieles vorbrachte.


So[17]

So angenehm der Knabe war, ſo bald
ſuchte ihn Wilhelm doch los zu werden. Er
wünſchte allein zu ſeyn, denn er fühlte ſich
in ſeiner Lage äußerſt gedrückt und beklom¬
men. Er machte ſich Vorwürfe, ſeinen Vor¬
ſatz ſo ſchlecht vollführt, ſeinen Auftrag nur
halb ausgerichtet zu haben. Bald nahm er
ſich vor, den andern Morgen das Verſäumte
nachzuholen, bald fühlte er daß Lothario’s
Gegenwart ihn zu ganz andern Gefühlen
ſtimmte. Das Haus, worin er ſich befand,
kam ihm auch ſo wunderbar vor, er wußte
ſich in ſeine Lage nicht zu finden. Er wollte
ſich ausziehen und öfnete ſeinen Mantelſack;
mit ſeinen Nachtſachen brachte er zugleich
den Schleyer des Geiſtes hervor, den Mi¬
gnon eingepackt hatte. Der Anblick vermehrte
ſeine traurige Stimmung. Flieh, Jüngling,
flieh! rief er aus, was ſoll das myſtiſche
Wort heißen? was fliehen? wohin fliehen?
B[18] Weit beſſer hätte der Geiſt mir zugerufen:
kehre in dich ſelbſt zurück! Er betrachtete
die Engliſchen Kupfer, die an der Wand
in Rahmen hingen; gleichgültig ſah er über
die meiſten hinweg, endlich fand er auf dem
einen ein unglücklich ſtrandendes Schiff vor¬
geſtellt, ein Vater mit ſeinen ſchönen Töch¬
tern erwartete den Tod von den hereindrin¬
genden Wellen. Das eine Frauenzimmer
ſchien Ähnlichkeit mit jener Amazone zu ha¬
ben, ein unausſprechliches Mitleiden ergriff
unſern Freund, er fühlte ein unwiderſteh¬
liches Bedürfniß ſeinem Herzen Luft zu ma¬
chen, Thränen drangen aus ſeinem Auge,
und er konnte ſich nicht wieder erholen, bis
ihn der Schlaf überwältigte.


Sonderbare Traumbilder erſchienen ihm
gegen Morgen. Er fand ſich in einem Gar¬
ten, den er als Knabe öfters beſucht hatte,
und ſah mit Vergnügen die bekannten Al¬
[19]
leen, Hecken und Blumenbeete wieder, Ma¬
riane begegnete ihm, er ſprach liebevoll mit
ihr und ohne Erinnerung irgend eines ver¬
gangenen Mißverhältniſſes. Gleich darauf
trat ſein Vater zu ihnen, im Hauskleide;
und mit vertraulicher Mine, die ihm ſelten
war, hieß er den Sohn zwey Stühle aus
dem Gartenhauſe holen, nahm Marianen
bey der Hand und führte ſie nach einer Laube.


Wilhelm eilte nach dem Gartenſaale, fand
ihn aber ganz leer, nur ſah er Aurelien an
dem entgegengeſetzten Fenſter ſtehen, er ging
ſie anzureden, allein ſie blieb unverwandt,
und ob er ſich gleich neben ſie ſtellte, konnte
er doch ihr Geſicht nicht ſehen. Er blickte
zum Fenſter hinaus und ſah, in einem frem¬
den Garten, viele Menſchen beyſammen, von
denen er einige ſogleich erkannte. Frau Me¬
lina ſaß unter einem Baum und ſpielte mit
einer Roſe, die ſie in der Hand hielt; Laer¬
B 2[20] tes ſtand neben ihr und zählte Gold aus ei¬
ner Hand in die andere. Mignon und Felix
lagen im Graſe, jener ausgeſtreckt auf dem
Rücken, dieſer auf dem Geſichte. Philine
trat hervor, und klatſchte über den Kindern
in die Hände, Mignon blieb unbeweglich,
Felix ſprang auf und floh vor Philinen. Erſt
lachte er im Laufen, als Philine ihn verfolg¬
te, dann ſchrie er ängſtlich, als der Harfen¬
ſpieler mit großen, langſamen Schritten ihm
nachging. Das Kind lief grade auf einen
Teich loß; Wilhelm eilte ihm nach, aber zu
ſpät, das Kind lag im Waſſer! Wilhelm
ſtand wie eingewurzelt. Nun ſah er die
ſchöne Amazone an der andern Seite des
Teichs, ſie ſtreckte ihre rechte Hand gegen das
Kind aus und ging am Ufer hin, das Kind
durchſtrich das Waſſer in gerader Richtung
auf den Finger zu, und folgte ihr nach, wie
ſie ging, endlich reichte ſie ihm ihre Hand
[21] und zog es aus dem Teiche. Wilhelm war
indeſſen näher gekommen, das Kind brannte
über und über, und es fielen feurige Tro¬
pfen von ihm herab. Wilhelm war noch be¬
ſorgter, doch die Amazone nahm ſchnell einen
weißen Schleyer vom Haupte und bedeckte
das Kind damit. Das Feuer war ſogleich
gelöſcht. Als ſie den Schleyer aufhob, ſpran¬
gen zwey Knaben hervor, die zuſammen
muthwillig hin und her ſpielten, als Wil¬
helm mit der Amazone Hand in Hand durch
den Garten ging, und in der Entfernung
ſeinen Vater und Marianen in einer Allee
ſpatziren ſah, die mit hohen Bäumen den
ganzen Garten zu umgeben ſchien; er richtete
ſeinen Weg auf beyde los, und machte mit
ſeiner ſchönen Begleiterinn den Durchſchnitt
des Gartens, als auf einmal der blonde
Friedrich ihnen in den Weg trat und ſie mit
großem Gelächter und allerley Poſſen auf¬
[22] hielt. Sie wollten demungeachtet ihren
Weg weiter fortſetzen; da eilte er weg und
lief auf jenes entfernte Paar zu, der Vater
und Mariane ſchienen vor ihm zu fliehen,
er lief nur deſto ſchneller, und Wilhelm ſah
jene faſt im Fluge durch die Allee hinſchwe¬
ben; Natur und Neigung forderten ihn auf,
jenen zu Hülfe zu kommen, aber die Hand
der Amazone hielt ihn zurück. Wie gern
ließ er ſich halten! Mit dieſer gemiſchten
Empfindung wachte er auf und fand ſein
Zimmer ſchon von der hellen Sonne er¬
leuchtet.


[23]

Zweytes Capitel.

Der Knabe lud Wilhelmen zum Frühſtück ein,
dieſer fand den Abbé ſchon im Saale; Lo¬
thario, hieß es, ſey ausgeritten, der Abbé
war nicht ſehr geſprächig und ſchien eher
nachdenklich zu ſeyn, er fragte nach Aure¬
liens Tode und hörte mit Theilnahme der
Erzählung Wilhelms zu. Ach! rief er aus,
wem es lebhaft und gegenwärtig iſt, welche
unendliche Operationen Natur und Kunſt
machen müſſen, bis ein gebildeter Menſch
daſteht, wer ſelbſt ſo viel als möglich an der
Bildung ſeiner Mitbrüder Theil nimmt, der
möchte verzweifeln, wenn er ſieht, wie fre¬
ventlich ſich oft der Menſch zerſtöhrt und ſo
oft in den Fall kommt, mit oder ohne
Schuld, zerſtöhrt zu werden. Wenn ich das
bedenke, ſo ſcheint mir das Leben ſelbſt eine
[24] ſo zufällige Gabe, daß ich jeden loben möch¬
te, der ſie nicht höher als billig ſchätzt.


Er hatte kaum ausgeſprochen, als die
Thüre mit Heftigkeit ſich aufriß, ein junges
Frauenzimmer hereinſtürzte, und den alten
Bedienten, der ſich ihr in den Weg ſtellte,
zurückſtieß. Sie eilte grade auf den Abbé
zu, und konnte, indem ſie ihn beym Arm
faßte, für Weinen und Schluchzen kaum die
wenigen Worte hervorbringen: wo iſt er?
wo habt ihr ihn? es iſt eine entſetzliche Ver¬
rätherey! geſteht nur! ich weiß was vor¬
geht! ich will ihm nach! ich will wiſſen wo
er iſt.


Beruhigen Sie ſich mein Kind, ſagte der
Abbé mit angenommener Gelaſſenheit, kom¬
men Sie auf Ihr Zimmer, Sie ſollen alles
erfahren, nur müſſen Sie hören können,
wenn ich Ihnen erzählen ſoll. Er bot ihr
die Hand an, im Sinne ſie wegzuführen.
[25] Ich werde nicht auf mein Zimmer gehen,
rief ſie aus, ich haſſe die Wände, zwiſchen
denen ihr mich ſchon ſo lange gefangen hal¬
tet! und doch habe ich alles erfahren, der
Obriſt hat ihn herausgefordert, er iſt hinaus¬
geritten, ſeinen Gegner aufzuſuchen und viel¬
leicht jetzt eben in dieſem Augenblicke! Es
war mir etlichemal, als hörte ich ſchießen.
Laſſen Sie anſpannen und fahren Sie mit
mir, oder ich fülle das Haus, das ganze
Dorf mit meinem Geſchrey.


Sie eilte unter den heftigſten Thränen
nach dem Fenſter, der Abbé hielt ſie zurück,
und ſuchte vergebens ſie zu beſänftigen.


Man hörte einen Wagen fahren, ſie riß
das Fenſter auf, er iſt todt! rief ſie, da
bringen ſie ihn — er ſteigt aus! ſagte der
Abbé. Sie ſehen er lebt — er iſt verwun¬
det, verſetzte ſie heftig, ſonſt käm’ er zu
Pferde! ſie führen ihn! er iſt gefährlich ver¬
[26] wundet! Sie rannte zur Thüre hinaus und
die Treppe hinunter, der Abbé eilte ihr
nach und [Wilhelm] folgte ihnen, er ſah wie
die Schöne ihrem heraufkommenden Gelieb¬
ten begegnete.


Lothario lehnte ſich auf ſeinen Begleiter,
welchen Wilhelm ſogleich für ſeinen alten
Gönner Jarno erkannte, ſprach dem troſtlo¬
ſen Frauenzimmer gar liebreich und freund¬
lich zu, und indem er ſich auch auf ſie ſtütz¬
te, kam er die Treppe langſam herauf, er
grüßte Wilhelmen und ward in ſein Cabinet
geführt.


Nicht lange darauf kam Jarno wieder
heraus und trat zu Wilhelmen: Sie ſind
wie es ſcheint, ſagte er, prädeſtinirt, überall
Schauſpieler und Theater zu finden; wir
ſind eben in einem Drama begriffen, das
nicht ganz luſtig iſt.


Ich freue mich, verſetzte Wilhelm, Sie
[27] in dieſem ſonderbaren Augenblicke wieder zu
finden, ich bin verwundert, erſchrocken und
ihre Gegenwart macht mich gleich ruhig und
gefaßt. Sagen Sie mir, hat es Gefahr?
iſt der Baron ſchwer verwundet? — Ich
glaube nicht, verſetzte Jarno.


Nach einiger Zeit trat der junge Wund¬
arzt aus dem Zimmer. Nun was ſagen
Sie? rief ihm Jarno entgegen — daß es
ſehr gefährlich ſteht, verſetzte dieſer, und
ſteckte einige Inſtrumente in ſeine lederne
Taſche zuſammen.


Wilhelm betrachtete das Band, das von
der Taſche herunter hing, er glaubte es zu
kennen. Lebhafte, widerſprechende Farben,
ein ſeltſames Muſter, Gold und Silber in
wunderlichen Figuren, zeichneten dieſes Band
vor allen Bändern der Welt aus. Wilhelm
war überzeugt, die Inſtrumententaſche des
alten Chirurgus vor ſich zu ſehen, der ihn
[28] in jenem Walde verbunden hatte, und die
Hoffnung, nach ſo langer Zeit, wieder eine
Spur ſeiner Amazone zu finden, ſchlug wie
eine Flamme durch ſein ganzes Weſen.


Wo haben Sie die Taſche her? rief er
aus. Wem gehörte ſie vor Ihnen? ich bitte,
ſagen Sie mir's. — Ich habe ſie in einer
Auction gekauft, verſetzte jener, was küm¬
mert mich, wem ſie angehörte? Mit dieſen
Worten entfernte er ſich, und Jarno ſagte:
wenn dieſem jungen Menſchen nur ein wah¬
res Wort aus dem Munde ginge. — So
hat er alſo dieſe Taſche nicht erſtanden? ver¬
ſetzte Wilhelm. — So wenig als es Gefahr
mit Lothario hat, antwortete Jarno.


Wilhelm ſtand in ein vielfaches Nachden¬
ken verſenkt, als Jarno ihn fragte, wie es
ihm zeither gegangen ſey? Wilhelm erzählte
ſeine Geſchichte im allgemeinen, und als er
zuletzt von Aureliens Tod und ſeiner Both¬
[29] ſchaft geſprochen hatte, rief jener aus: es iſt
doch ſonderbar, ſehr ſonderbar!


Der Abbé trat aus dem Zimmer, winkte
Jarno zu, an ſeiner Statt hinein zu gehen,
und ſagte zu Wilhelmen: der Baron läßt
Sie erſuchen hier zu bleiben, einige Tage die
Geſellſchaft zu vermehren und zu ſeiner Un¬
terhaltung unter dieſen Umſtänden beyzutra¬
gen. Haben Sie nöthig etwas an die Ihri¬
gen zu beſtellen, ſo ſoll Ihr Brief gleich be¬
ſorgt werden, und damit ſie dieſe wunder¬
bare Begebenheit verſtehen, von der Sie
Augenzeuge ſind, muß ich Ihnen erzählen,
was eigentlich kein Geheimniß iſt. Der Ba¬
ron hatte ein kleines Abentheuer mit einer
Dame, das mehr Aufſehen machte als billig
war, weil ſie den Triumph, ihn einer Ne¬
benbuhlerinn entriſſen zu haben, allzu leb¬
haft genießen wollte. Leider fand er nach
einiger Zeit bey ihr nicht die nämliche Un¬
[30] terhaltung, er vermied ſie, allein bey ihrer
heftigen Gemüthsart war es ihr unmöglich
ihr Schickſal mit geſetztem Muthe zu tra¬
gen. Bey einem Balle gab es einen öffent¬
lichen Bruch, ſie glaubte ſich äußerſt belei¬
digt, und wünſchte gerächet zu werden, kein
Ritter fand ſich, der ſich ihrer angenommen
hätte, bis endlich ihr Mann, von dem ſie
ſich lange getrennt hatte, die Sache erfuhr
und ſich ihrer annahm, den Baron heraus¬
forderte und heute verwundete, doch iſt der
Obriſt, wie ich höre, noch ſchlimmer dabey
gefahren.


Von dieſem Augenblicke an ward unſer
Freund im Hauſe, als gehöre er zur Familie,
behandelt.


[31]

Drittes Capitel.

Man hatte einigemal dem Kranken vorge¬
leſen, Wilhelm leiſtete dieſen kleinen Dienſt
mit Freuden. Lydie kam nicht vom Bette
hinweg, ihre Sorgfalt für den Verwundeten
verſchlang alle ihre übrige Aufmerkſamkeit,
aber heute ſchien auch Lothario zerſtreut, ja
er bat, daß man nicht weiter leſen möchte.


Ich fühle heute ſo lebhaft, ſagte er, wie
thöricht der Menſch ſeine Zeit verſtreichen
läßt! Wie manches habe ich mir vorgenom¬
men, wie manches durchgedacht, und wie
zaudert man nicht bey ſeinen beſten Vor¬
ſätzen! Ich habe die Vorſchläge über die
Veränderungen geleſen, die ich auf meinen
Gütern machen will, und ich kann ſagen,
ich freue mich vorzüglich deshalb, daß die
[32] Kugel keinen gefährlichern Weg genommen
hat.


Lydie ſah ihn zärtlich, ja mit Thränen in
den Augen an, als ob ſie fragen wollte, ob
denn ſie, ob ſeine Freunde nicht auch An¬
theil an der Lebensfreude fordern könnten.
Jarno dagegen verſetzte: Veränderungen, wie
Sie vorhaben, werden billig erſt von allen
Seiten überlegt, bis man ſich dazu ent¬
ſchließt.


Lange Überlegungen, verſetzte Lothario,
zeigen gewöhnlich, daß man den Punct nicht
im Auge hat, von dem die Rede iſt, über¬
eilte Handlungen, daß man ihn gar nicht
kennt. Ich überſehe ſehr deutlich, daß ich
in vielen Stücken, bey der Wirthſchaft mei¬
ner Güter, die Dienſte meiner Landleute
nicht entbehren kann, und daß ich auf ge¬
wiſſen Rechten ſtrack und ſtreng halten muß;
ich ſehe aber auch, daß andere Befugniſſe
mir[33] mir zwar vortheilhaft, aber nicht ſo unent¬
behrlich ſind, daß ich davon meinen Leuten
auch was gönnen kann, und daß man nicht
immer verliert, wenn man entbehrt. Nutze
ich nicht meine Güter weit beſſer als mein
Vater? werde ich meine Einkünfte nicht noch
höher treiben? und ſoll ich dieſen wachſen¬
den Vortheil allein genießen? ſoll ich dem,
der mit und für mich arbeitet, nicht auch in
dem Seinigen Vortheile gönnen, die uns er¬
weiterte Kenntniſſe, die uns eine vorrückende
Zeit darbietet?


Der Menſch iſt nun einmal ſo! rief Jar¬
no, und ich tadle mich nicht, wenn ich mich
auch auf dieſer Eigenheit ertappe, der Menſch
begehrt alles an ſich zu reißen, um nur nach
Belieben damit ſchalten und walten zu kön¬
nen; das Geld, das er nicht ſelbſt ausgiebt,
ſcheint ihm ſelten wohl angewendet.


O ja! verſetzte Lothario, wir könnten
C[34] manches vom Capital entbehren, wenn wir
mit den Intereſſen weniger willkührlich um¬
gingen.


Das einzige, was ich zu erinnern habe,
ſagte Jarno, und warum ich nicht rathen
kann, daß Sie eben jetzt dieſe Veränderun¬
gen machen, wodurch Sie wenigſtens im
Augenblicke verlieren, iſt, daß Sie ſelbſt noch
Schulden haben, deren Abzahlung Sie ein¬
engt. Ich würde rathen Ihren Plan aufzu¬
ſchieben, bis Sie völlig im Reinen wären.


Und indeſſen einer Kugel, oder einem
Dachziegel zu überlaſſen, ob er die Reſul¬
tate meines Lebens und meiner Thätigkeit
auf immer vernichten wollte! o! mein Freund,
fuhr Lothario fort, das iſt ein Hauptfehler
gebildeter Menſchen, daß ſie alles an eine
Idee, wenig oder nichts an einen Gegen¬
ſtand wenden mögen. Wozu habe ich Schul¬
den gemacht? warum habe ich mich mit mei¬
[35] nem Oheim entzweyt? meine Geſchwiſter ſo
lange ſich ſelbſt überlaſſen? als um einer
Idee willen. In Amerika glaubte ich zu
wirken, über dem Meere glaubte ich nützlich
und nothwendig zu ſeyn; war eine Hand¬
lung nicht mit tauſend Gefahren umgeben,
ſo ſchien ſie mir nicht bedeutend, nicht wür¬
dig. Wie anders ſeh ich jetzt die Dinge,
und wie iſt mir das nächſte ſo werth, ſo
theuer geworden.


Ich erinnere mich wohl des Briefes, ver¬
ſetzte Jarno, den ich noch über das Meer
erhielt. Sie ſchrieben mir: ich werde zurück
kehren, und in meinem Hauſe, in meinem
Baumgarten, mitten unter den Meinigen
ſagen: hier, oder nirgends iſt Ame¬
rika
!


Ja, mein Freund, und ich wiederhole
noch immer daſſelbe, und doch ſchelte ich
mich zugleich, daß ich hier nicht ſo thätig
C 2[36] wie dort bin. Zu einer gewiſſen gleichen,
fortdauernden Gegenwart brauchen wir nur
Verſtand, und wir werden auch nur zu Ver¬
ſtand, ſo daß wir das außerordentliche, was
jeder gleichgültige Tag von uns fordert, nicht
mehr ſehen, und wenn wir es erkennen,
doch tauſend Entſchuldigungen finden es nicht
zu thun. Ein verſtändiger Menſch iſt viel
für ſich, aber fürs Ganze iſt er wenig.


Wir wollen, ſagte Jarno, dem Verſtan¬
de nicht zu nahe treten, und bekennen, daß
das außerordentliche, was geſchieht, meiſtens
thöricht iſt.


Ja, und zwar eben deswegen, weil die
Menſchen das außerordentliche außer der
Ordnung thun; ſo giebt mein Schwager ſein
Vermögen, in ſo fern er es veräußern kann,
der Brüdergemeinde, und glaubt ſeiner Seele
Heil dadurch zu befördern; hätte er einen
geringen Theil ſeiner Einkünfte aufgeopfert,
[37] ſo hätte er viel glückliche Menſchen machen,
und ſich und ihnen einen Himmel auf Er¬
den ſchaffen können. Selten ſind unſere Auf¬
opferungen thätig, wir thun gleich Verzicht
auf das, was wir weggeben. Nicht ent¬
ſchloſſen, ſondern verzweifelt entſagen wir
dem, was wir beſitzen. Dieſe Tage, ich ge¬
ſteh es, ſchwebt mir der Graf immer vor
Augen, und ich bin feſt entſchloſſen, das aus
Überzeugung zu thun, wozu ihn ein ängſt¬
licher Wahn treibt, ich will meine Geneſung
nicht abwarten. Hier ſind die Papiere, ſie
dürfen nur ins reine gebracht werden, neh¬
men Sie den Gerichtshalter dazu, unſer Gaſt
hilft Ihnen auch, Sie wiſſen ſo gut als ich,
worauf es ankommt, und ich will hier gene¬
ſend oder ſterbend dabey bleiben und ausru¬
fen : hier! oder nirgends iſt Herrnhut.


Als Lydie ihren Freund von ſterben reden
hörte, ſtürzte ſie vor ſeinem Bette nieder,
[38] hing an ſeinen Armen und weinte bitterlich,
der Wundarzt kam herein, Jarno gab Wil¬
helmen die Papiere und nöthigte Lydien ſich
zu entfernen.


Ums Himmels willen! rief Wilhelm, als
ſie in dem Saal allein waren, was iſt das
mit dem Grafen? welch ein Graf iſt das,
der ſich unter die Brüdergemeinde begiebt?


Den Sie ſehr wohl kennen, verſetzte
Jarno. Sie ſind das Geſpenſt, das ihn in
die Arme der Frömmigkeit jagt, Sie ſind
der Böſewicht, der ſein artiges Weib in ei¬
nen Zuſtand verſetzt, in dem ſie erträglich
findet, ihrem Manne zu folgen.


Und ſie iſt Lothario's Schweſter? rief
Wilhelm.


Nicht anders.


Und Lothario weiß —?


Alles.


O laſſen Sie mich fliehen! rief Wilhelm
[39] aus, wie kann ich vor ihm ſtehen? was kann
er ſagen?


Daß Niemand einen Stein gegen den
andern aufheben ſoll, und daß niemand lan¬
ge Reden componiren ſoll, um die Leute zu
beſchämen, er müßte ſie denn vor dem Spie¬
gel halten wollen.


Auch das wiſſen Sie?


Wie manches andere, verſetzte Jarno lä¬
chelnd; doch diesmal, fuhr er fort, werde ich
Sie ſo leicht nicht wie das vorigemal los
laſſen, und vor meinem Werbeſold haben
Sie ſich auch nicht mehr zu fürchten. Ich
bin kein Soldat mehr, und auch als Soldat
hätte ich Ihnen dieſen Argwohn nicht ein¬
flößen ſollen. Seit der Zeit, daß ich Sie
nicht geſehen habe, hat ſich vieles geändert.
Nach dem Tode meines Fürſten, meines ein¬
zigen Freundes und Wohlthäters, habe ich
mich aus der Welt und aus allen weltlichen
[40] Verhältniſſen herausgeriſſen. Ich beförderte
gern was vernünftig war, verſchwieg nicht
wenn ich etwas abgeſchmackt fand, und man
hatte immer von meinem unruhigen Kopf
und von meinem böſen Maule zu reden.
Das Menſchenpack fürchtet ſich vor nichts
mehr, als vor dem Verſtande; vor der
Dummheit ſollten ſie ſich fürchten, wenn ſie
begriffen, was fürchterlich iſt; aber jener iſt
unbequem, und man muß ihn bey Seite
ſchaffen, dieſe iſt nur verderblich, und das
kann man abwarten. Doch es mag hinge¬
hen, ich habe zu leben, und von meinem
Plane ſollen Sie weiter hören. Sie ſollen
Theil daran nehmen, wenn Sie mögen; aber
ſagen Sie mir, wie iſt es Ihnen ergangen?
ich ſehe, ich fühle Ihnen an, auch Sie ha¬
ben ſich verändert. Wie ſtehts mit Ihrer al¬
ten Grille, etwas Schönes und Gutes in
Geſellſchaft von Zigeunern hervorzubringen?


[41]

Ich bin geſtraft genug! rief Wilhelm aus,
erinnern Sie mich nicht, woher ich komme
und wohin ich gehe. Man ſpricht viel vom
Theater, aber wer nicht ſelbſt darauf war,
kann ſich keine Vorſtellung davon machen.
Wie völlig dieſe Menſchen mit ſich ſelbſt un¬
bekannt ſind, wie ſie ihr Geſchäft ohne Nach¬
denken treiben, wie ihre Anforderungen ohne
Grenzen ſind, davon hat man keinen Be¬
griff. Nicht allein will jeder der erſte, ſon¬
dern auch der einzige ſeyn, jeder möchte
gerne alle übrigen ausſchließen, und ſieht
nicht, daß er mit ihnen, zuſammen kaum et¬
was leiſtet; jeder dünkt ſich wunder Origi¬
nal zu ſeyn, und iſt unfähig ſich in etwas
zu finden, was außer dem Schlendrian iſt;
dabey eine immerwährende Unruhe nach et¬
was neuem. Mit welcher Heftigkeit wirken
ſie gegen einander! und nur die kleinlichſte
Eigenliebe, der beſchränkteſte Eigennutz macht,
[42] daß ſie ſich mit einander verbinden. Vom
wechſelſeitigen Betragen iſt gar die Rede
nicht, ein ewiges Mißtrauen wird durch
heimliche Tücke und ſchändliche Reden unter¬
halten; wer nicht liederlich lebt, lebt albern.
Jeder macht Anſpruch auf die unbedingteſte
Achtung, jeder iſt empfindlich gegen den
mindeſten Tadel. Das hat er alles ſchon
ſelbſt beſſer gewußt! und warum hat er denn
immer das Gegentheil gethan? Immer be¬
dürftig und immer ohne Zutrauen, ſcheint
es, als wenn ſie ſich vor nichts ſo ſehr fürch¬
teten als vor Vernunft und gutem Geſchmack,
und nichts ſo ſehr zu erhalten ſuchten, als
daß Majeſtätsrecht ihrer perſönlichen Will¬
kühr.


Wilhelm holte Athem, um ſeine Litaney
noch weiter forzuſetzen, als ein unmäßiges
Gelächter Jarno’s ihn unterbrach. Die ar¬
men Schauſpieler! rief er aus, warf ſich in
[43] einen Seſſel und lachte fort; die armen gu¬
ten Schauſpieler! Wiſſen Sie denn, mein
Freund, fuhr er fort, nachdem er ſich eini¬
germaßen wieder erholt hatte, daß Sie nicht
das Theater, ſondern die Welt beſchrieben
haben, und daß ich Ihnen aus allen Stän¬
den genug Figuren und Handlungen zu Ih¬
ren harten Pinſelſtrichen finden wollte? Ver¬
zeihen Sie mir, ich muß wieder lachen, daß
Sie glaubten, dieſe ſchönen Qualitäten ſeyen
nur auf die Breter gebannt.


Wilhelm faßte ſich, denn wirklich hatte
ihn das unbändige und unzeitige Gelächter
Jarno’s verdroſſen. Sie können, ſagte er,
Ihren Menſchenhaß nicht ganz verbergen,
wenn Sie behaupten, daß dieſe Fehler all¬
gemein ſeyen.


Und es zeigt von Ihrer Unbekanntſchaft
mit der Welt, wenn Sie dieſe Erſcheinun¬
gen dem Theater ſo hoch anrechnen. Wahr¬
[44] haftig, ich verzeihe dem Schauſpieler jeden
Fehler, der aus dem Selbſtbetrug und aus
der Begierde, zu gefallen, entſpringt; denn
wenn er ſich und andern nicht etwas ſcheint,
ſo iſt er nichts. Zum Schein iſt er berufen,
er muß den augenblicklichen Beyfall hoch
ſchätzen, denn er erhält keinen andern Lohn;
er muß zu glänzen ſuchen, denn deswegen
ſteht er da.


Sie erlauben, verſetzte Wilhelm, daß ich
wenigſtens von meiner Seite lächele. Nie
hätte ich geglaubt, daß Sie ſo billig, ſo
nachſichtig ſeyn könnten.


Nein bey Gott! dies iſt mein völliger,
wohlbedachter Ernſt. Alle Fehler des Men¬
ſchen verzeih ich dem Schauſpieler, keine
Fehler des Schauſpielers verzeih ich dem
Menſchen. Laſſen Sie mich meine Klaglie¬
der hierüber nicht anſtimmen, ſie würden
heftiger klingen als die Ihrigen.


[45]

Der Chirurgus kam aus dem Cabinet,
und auf Befragen, wie ſich der Kranke be¬
finde? ſagte er mit lebhafter Freundlichkeit:
recht ſehr wohl, ich hoffe ihn bald völlig
wieder hergeſtellt zu ſehen; ſogleich eilte er
zum Saal hinaus, und erwartete Wilhelms
Frage nicht, der ſchon den Mund eröfnete,
ſich nochmals und dringender nach der Brief¬
taſche zu erkundigen. Das Verlangen, von
ſeiner Amazone etwas zu erfahren, gab ihm
Vertrauen zu Jarno, er entdeckte ihm ſeinen
Fall, und bat ihn um ſeine Beyhülfe. Sie
wiſſen ſo viel, ſagte er, ſollten Sie nicht
auch das erfahren können?


Jarno war einen Augenblick nachdenkend,
dann ſagte er zu ſeinem jungen Freunde:
ſeyn Sie ruhig, und laſſen Sie ſich weiter
nichts merken, wir wollen der Schönen ſchon
auf die Spur kommen. Jetzt beunruhigt
mich nur Lothario’s Zuſtand, die Sache ſteht
[46] gefährlich, das ſagt mir die Freundlichkeit
und der gute Troſt des Wundarztes. Ich
hätte Lydien ſchon gerne weggeſchaft, denn
ſie nutzt hier gar nichts, aber ich weiß nicht,
wie ich es anfangen ſoll. Heute Abend hoff
ich ſoll unſer alter Medikus kommen, und
dann wollen wir weiter rathſchlagen.


[47]

Viertes Capitel.

Der Medikus kam; es war der gute, alte,
kleine Arzt, den wir ſchon kennen, und dem
wir die Mittheilung des intereſſanten Ma¬
nuſcripts verdanken. Er beſuchte vor allen
Dingen den Verwundeten, und ſchien mit
deſſen Befinden keinesweges zufrieden. Dann
hatte er mit Jarno eine lange Unterredung,
doch ließen ſie nichts merken, als ſie Abends
zu Tiſche kamen.


Wilhelm begrüßte ihn aufs freundlichſte,
und erkundigte ſich nach ſeinem Harfenſpie¬
ler. — Wir haben noch Hoffnung, den Un¬
glücklichen zurechte zu bringen, verſetzte der
Arzt. — Dieſer Menſch war eine traurige
Zugabe zu Ihrem eingeſchränkten und wun¬
derlichen Leben, ſagte Jarno, wie iſt es ihm
weiter ergangen? laſſen Sie mich es wiſſen.


[48]

Nachdem man Jarno’s Neugierde befrie¬
diget hatte, fuhr der Arzt fort: nie habe
ich ein Gemüth in einer ſo ſonderbaren Lage
geſehen. Seit vielen Jahren hat er an
nichts, was außer ihm war, den mindeſten
Antheil genommen, ja faſt auf nichts ge¬
merkt, blos in ſich gekehrt, betrachtete er
ſein hohles leeres Ich, das ihm als ein un¬
ermeßlicher Abgrund erſchien. Wie rührend
war es, wenn er von dieſem traurigen Zu¬
ſtande ſprach! ich ſehe nichts vor mir, nichts
hinter mir, rief er aus, als eine unendliche
Nacht, in der ich mich in der ſchrecklichſten
Einſamkeit befinde, kein Gefühl bleibt mir
als das Gefühl einer Schuld, die doch auch
nur wie ein entferntes unförmliches Geſpenſt
ſich rückwärts ſehen läßt. Doch da iſt keine
Höhe, keine Tiefe, kein Vor noch Zurück,
kein Wort drückt dieſen immer gleichen Zu¬
ſtand aus, manchmal ruf ich in der Noth
dieſer[49] dieſer Gleichgültigkeit: Ewig! ewig! mit Hef¬
tigkeit aus, und dieſes ſeltſame unbegreifliche
Wort iſt hell und klar gegen die Finſterniß
meines Zuſtandes. Kein Strahl einer Gott¬
heit erſcheint mir in dieſer Nacht, ich weine
meine Thränen alle mir ſelbſt und um mich
ſelbſt. Nichts iſt mir grauſamer als Freund¬
ſchaft und Liebe, denn ſie allein locken mir
den Wunſch ab, daß die Erſcheinungen, die
mich umgeben, wirklich ſeyn möchten. Aber
auch dieſe beyden Geſpenſter ſind nur aus
dem Abgrunde geſtiegen, um mich zu äng¬
ſtigen, und um mir zuletzt auch das theure
Bewußtſeyn dieſes ungeheuren Daſeyns zu
rauben.


Sie ſollten ihn hören, fuhr der Arzt fort,
wenn er in vertraulichen Stunden auf dieſe
Weiſe ſein Herz erleichtert; mit der größten
Rührung habe ich ihm einigemal zugehört.
Wenn ſich ihm etwas aufdringt, das ihn
D[50] nöthigt, einen Augenblick zu geſtehen, eine
Zeit ſey vergangen, ſo ſcheint er wie er¬
ſtaunt, und dann verwirft er wieder die
Veränderung an den Dingen als eine Er¬
ſcheinung der Erſcheinungen. Eines Abends
ſang er ein Lied über ſeine grauen Haare,
wir ſaßen alle um ihn her und weinten.


O! ſchaffen Sie es mir! rief [Wilhelm]
aus.


Haben Sie denn aber, fragte Jarno,
nichts entdeckt, von dem, was er ſein Ver¬
brechen nennt, nicht die Urſache ſeiner ſon¬
derbaren Tracht, ſein Betragen beym Brande,
ſeine Wuth gegen das Kind?


Nur durch Muthmaßungen können wir
ſeinem Schickſale näher kommen; ihn unmit¬
telbar zu fragen, würde gegen unſere Grund¬
ſätze ſeyn. Da wir wohl merken, daß er
katholiſch erzogen iſt, haben wir geglaubt,
ihm durch eine Beichte Linderung zu ver¬
[51] ſchaffen; aber er entfernt ſich auf eine ſon¬
derbare Weiſe jedesmal, wenn wir ihm den
Geiſtlichen näher zu bringen ſuchen. Daß
ich aber Ihren Wunſch etwas von ihm zu
wiſſen nicht ganz unbefriedigt laſſe, will ich
Ihnen wenigſtens unſere Vermuthungen ent¬
decken. Er hat ſeine Jugend in dem geiſt¬
lichen Stande zugebracht, daher ſcheint er
ſein langes Gewand und ſeinen Bart erhal¬
ten zu wollen. Die Freuden der Liebe blie¬
ben ihm die größte Zeit ſeines Lebens unbe¬
kannt. Erſt ſpät mag eine Verirrung mit ei¬
nem ſehr nahe verwandten Frauenzimmer,
es mag ihr Tod, der einem unglücklichen Ge¬
ſchöpfe das Daſeyn gab, ſein Gehirn völlig
zerrüttet haben.


Sein größter Wahn iſt, daß er überall
Unglück bringe, [und] daß ihm der Tod durch
einen unſchuldigen Knaben bevorſtehe; erſt
fürchtete er ſich vor Mignon, eh’ er wußte
D 2[52] daß es ein Mädchen war; nun ängſtigte ihn
Felix, und da er das Leben bey allem ſei¬
nen Elend unendlich liebt, ſcheint ſeine Ab¬
neigung gegen das Kind daher entſtanden
zu ſeyn.


Was haben Sie denn zu ſeiner Beſſerung
für Hoffnung? fragte Wilhelm.


Es geht langſam vorwärts, verſetzte der
Arzt, aber doch nicht zurück. Seine beſtimm¬
ten Beſchäftigungen treibt er fort, und wir
haben ihn gewöhnt die Zeitungen zu leſen,
die er jetzt immer mit großer Begierde er¬
wartet.


Ich bin auf ſeine Lieder neugierig, ſagte
Jarno.


Davon werde ich Ihnen verſchiedene ge¬
ben können, ſagte der Arzt. Der älteſte Sohn
des Geiſtlichen, der ſeinem Vater die Pre¬
digten nachzuſchreiben gewohnt iſt, hat manche
Strophen, ohne von dem Alten bemerkt zu
[53] werden, aufgezeichnet, und mehrere Lieder
nach und nach zuſammengeſetzt.


Den andern Morgen kam Jarno zu Wil¬
helmen, und ſagte zu ihm: Sie müſſen uns
einen Gefallen thun; Lydie muß einige Zeit
entfernt werden, ihre heftige, und, ich darf
wohl ſagen, unbequeme Liebe und Leiden¬
ſchaft hindert des Barons Geneſung. Seine
Wunde verlangt Ruhe und Gelaſſenheit, ob
ſie gleich bey ſeiner guten Natur nicht ge¬
fährlich iſt. Sie haben geſehen, wie ihn Ly¬
die mit ſtürmiſcher Sorgfalt, unbezwinglicher
Angſt und nie verſiegenden Thränen quält,
und — genug, ſetzte er nach einer Pauſe,
mit einem Lächeln, hinzu, der Medikus ver¬
langt ausdrücklich, daß ſie das Haus auf ei¬
nige Zeit verlaſſen ſolle. Wir haben ihr ein¬
gebildet, eine ſehr gute Freundin halte ſich
in der Nähe auf, verlange ſie zu ſehen und
erwarte ſie jeden Augenblick. Sie hat ſich
[54] bereden laſſen, zu dem Gerichtshalter zu fah¬
ren, der nur zwey Stunden von hier wohnt.
Dieſer iſt unterrichtet, und wird herzlich be¬
dauern, daß Fräulein Thereſe ſo eben weg¬
gefahren ſey; er wird wahrſcheinlich machen,
daß man ſie noch einholen könne, Lydie wird
ihr nacheilen, und, wenn das Glück gut iſt,
wird ſie von einem Orte zum andern geführt
werden. Zuletzt, wenn ſie drauf beſteht,
wieder umzukehren, darf man ihr nicht wi¬
derſprechen; man muß die Nacht zu Hülfe
nehmen, der Kutſcher iſt ein geſcheiter Kerl,
mit dem man noch Abrede nehmen muß.
Sie ſetzen ſich zu ihr in den Wagen, unter¬
halten ſie und dirigiren das Abentheuer.


Sie geben mir einen ſonderbaren und be¬
denklichen Auftrag, verſetzte Wilhelm, wie
ängſtlich iſt die Gegenwart einer gekränkten,
treuen Liebe! und ich ſoll ſelbſt dazu das
Werkzeug ſeyn? Es iſt das erſtemal in mei¬
[55] nem Leben, daß ich jemanden auf dieſe Weiſe
hintergehe. Denn ich habe immer geglaubt,
daß es uns zu weit führen könne, wenn wir
einmal um des Guten und Nützlichen willen
zu betrügen anfangen.


Können wir doch Kinder nicht anders er¬
ziehen, als auf dieſe Weiſe, verſetzte Jarno.


Bey Kindern möchte es noch hingehen,
ſagte Wilhelm, indem wir ſie ſo zärtlich lie¬
ben und offenbar überſehen; aber bey unſers
Gleichen, für die uns nicht immer das Herz
ſo laut um Schonung anruft, möchte es oft
gefährlich werden. Doch glauben Sie nicht,
fuhr er nach einem kurzen Nachdenken fort,
daß ich deswegen dieſen Auftrag ablehne.
Bey der Ehrfurcht, die mir Ihr Verſtand
einflößt, bey der Neigung, die ich für Ihren
trefflichen Freund fühle, bey dem lebhaften
Wunſch, ſeine Geneſung, durch welche Mit¬
tel ſie auch möglich ſey, zu befördern, mag
[56] ich mich gerne ſelbſt vergeſſen. Es iſt nicht
genug, daß man ſein Leben für einen Freund
wagen könne, man muß auch im Nothfall
ſeine Überzeugung für ihn verleugnen. Un¬
ſere liebſte Leidenſchaft, unſere beſten Wün¬
ſche ſind wir für ihn aufzuopfern ſchuldig.
Ich übernehme den Auftrag, ob ich gleich
ſchon die Qual vorausſehe, die ich von Ly¬
diens Thränen, von ihrer Verzweiflung werde
zu erdulden haben.


Dagegen erwartet ſie auch keine geringe
Belohnung, verſetzte Jarno, indem Sie Fräu¬
lein Thereſen kennen lernen, ein Frauenzim¬
mer, wie es ihrer wenige giebt; ſie beſchämt
hundert Männer, und ich möchte ſie eine
wahre Amazone nennen, wenn andere nur
als artige Hermaphroditen in dieſer zwey¬
deutigen Kleidung herum gehen.


Wilhelm war betroffen, er hoffte in The¬
reſen ſeine Amazone wieder zu finden, um
[57] ſo mehr, als Jarno, von dem er einige Aus¬
kunft verlangte, kurz abbrach, und ſich ent¬
fernte.


Die neue nahe Hofnung, jene verehrte
und geliebte Geſtalt wieder zu ſehen, brachte
in ihm die ſonderbarſten Bewegungen her¬
vor. Er hielt nunmehr den Auftrag, der
ihm gegeben worden war, für ein Werk ei¬
ner ausdrücklichen Schickung, und der Ge¬
danke, daß er ein armes Mädchen von dem
Gegenſtande ihrer aufrichtigſten und heftig¬
ſten Liebe hinterliſtig zu entfernen im Be¬
griff war, erſchien ihm nur im Vorüber¬
gehen, wie der Schatten eines Vogels über
die erleuchtete Erde wegfliegt.


Der Wagen ſtand vor der Thüre, Lydie
zauderte einen Augenblick hinein zu ſteigen;
grüßt euren Herren nochmals, ſagte ſie zu
dem alten Bedienten, vor Abends bin ich
wieder zurück. Thränen ſtanden ihr im
[58] Auge, als ſie im Fortfahren ſich nochmals
umwendete. Sie kehrte ſich darauf zu Wil¬
helmen, nahm ſich zuſammen, und ſagte:
Sie werden an Fräulein Thereſen eine ſehr
intereſſante Perſon finden. Mich wundert,
wie ſie in dieſe Gegend kommt; denn Sie
werden wohl wiſſen, daß ſie und der Baron
ſich heftig liebten. Ohngeachtet der Entfer¬
nung war Lothario oft bey ihr, ich war da¬
mals um ſie, es ſchien als ob ſie nur für
einander leben würden. Auf einmal aber zer¬
ſchlug ſichs, ohne daß ein Menſch begreifen
konnte, warum; er hatte mich kennen lernen,
und ich leugne nicht, daß ich Thereſen herz¬
lich beneidete, daß ich meine Neigung zu
ihm kaum verbarg, und daß ich ihn nicht
zurück ſtieß, als er auf einmal mich ſtatt The¬
reſen zu wählen ſchien. Sie betrug ſich ge¬
gen mich, wie ich es nicht beſſer wünſchen
konnte, ob es gleich beynahe ſcheinen mußte,
[59] als hätte ich ihr einen ſo werthen Liebhaber
geraubt. Aber auch wie viele tauſend Thrä¬
nen und Schmerzen hat mich dieſe Liebe
ſchon gekoſtet; erſt ſahen wir uns nur zu¬
weilen am dritten Orte verſtohlen, aber lange
konnte ich das Leben nicht ertragen, nur in
ſeiner Gegenwart war ich glücklich, ganz
glücklich! fern von ihm hatte ich kein trock¬
nes Auge, keinen ruhigen Pulsſchlag. Einſt
verzog er mehrere Tage, ich war in Ver¬
zweiflung, machte mich auf den Weg, und
überraſchte ihn hier. Er nahm mich liebevoll
auf, und wäre nicht dieſer unglückſeelige
Handel dazwiſchen gekommen, ſo hätte ich
ein himmliſches Leben geführt; und was ich
ausgeſtanden habe, ſeitdem er in Gefahr iſt,
ſeitdem er leidet, ſag ich nicht, und noch in
dieſem Augenblicke mache ich mir lebhafte
Vorwürfe, daß ich mich nur einen Tag von
ihm habe entfernen können.


[60]

Wilhelm wollte ſich eben näher nach The¬
reſen erkundigen, als ſie bey dem Gerichts¬
halter vorfuhren, der an den Wagen kam,
und von Herzen bedauerte, daß Fräulein
Thereſe ſchon abgefahren ſey. Er bot den
Reiſenden ein Frühſtück an, ſagte aber zu¬
gleich: der Wagen würde noch im nächſten
Dorfe einzuholen ſeyn. Man entſchloß ſich
nachzufahren, und der Kutſcher ſäumte nicht;
man hatte ſchon einige Dörfer zurückgelegt
und niemand angetroffen. Lydie beſtand nun
darauf, man ſolle umkehren, der Kutſcher
fuhr zu als verſtünde er es nicht. Endlich
verlangte ſie es mit größter Heftigkeit; Wil¬
helm rief ihm zu und gab das abgeredete
Zeichen. Der Kutſcher erwiederte: wir ha¬
ben nicht nöthig denſelben Weg zurück zu
fahren; ich weiß einen nähern, der zugleich
viel bequemer iſt. Er fuhr nun ſeitwärts
durch einen Wald und über lange Triſten
[61] weg. Endlich da kein bekannter Gegenſtand
zum Vorſchein kam, geſtand der Kutſcher,
er ſey unglücklicher Weiſe irre gefahren,
wolle ſich aber bald wieder zurechte finden,
indem er dort ein Dorf ſehe. Die Nacht
kam herbey, und der Kutſcher machte ſeine
Sache ſo geſchickt, daß er überall fragte
und nirgends die Antwort abwartete. So
fuhr man die ganze Nacht, Lydie ſchloß kein
Auge; bey Mondenſchein fand ſie überall
Ähnlichkeiten, und immer verſchwanden ſie
wieder. Morgens ſchienen ihr die Gegen¬
ſtände bekannt, aber deſto unerwarteter. Der
Wagen hielt vor einem kleinen artig gebau¬
ten Landhauſe ſtille, ein Frauenzimmer trat
aus der Thüre und öfnete den Schlag. Ly¬
die ſah ſie ſtarr an, ſah ſich um, ſah ſie
wieder an und lag ohnmächtig in Wilhelms
Armen.


[62]

Fünftes Capitel.

Wilhelm ward in ein Manſardzimmerchen
geführt, das Haus war neu, und ſo klein,
als es beynah nur möglich war, äußerſt
reinlich und ordentlich. In Thereſen, die ihn
und Lydien an der Kutſche empfangen hatte,
fand er ſeine Amazone nicht, es war ein
anderes, ein himmelweit von ihr unterſchie¬
denes Weſen. Wohlgebaut, ohne groß zu
ſeyn, bewegte ſie ſich mit viel Lebhaftigkeit,
und ihren hellen, blauen, offnen Augen ſchien
nichts verborgen zu bleiben was vorging.


Sie trat in Wilhelms Stube, und fragte,
ob er etwas bedürfe? verzeihen Sie, ſagte
ſie, daß ich Sie in ein Zimmer logire, das
der Oelgeruch noch unangenehm macht, mein
kleines Haus iſt eben fertig geworden, und
[63] Sie weihen dieſes Stübchen ein, das meinen
Gäſten beſtimmt iſt. Wären Sie nur bey ei¬
nem angenehmern Anlaß hier! die arme Ly¬
die! wird uns keine guten Tage machen,
und überhaupt müſſen Sie vorlieb nehmen,
meine Köchin iſt mir eben zur ganz unrech¬
ten Zeit aus dem Dienſte gelaufen, und ein
Knecht hat ſich die Hand zerquetſcht. Es
thäte Noth, ich verrichtete alles ſelbſt, und
am Ende, wenn man ſich darauf einrichtete,
müßte es auch gehen. Man iſt mit niemand
mehr geplagt als mit den Dienſtboten; es
will niemand dienen, nicht einmal ſich ſelbſt.


Sie ſagte noch manches über verſchiedene
Gegenſtände, überhaupt ſchien ſie gern zu
ſprechen. Wilhelm fragte nach Lydien, ob er
das gute Mädchen nicht ſehen und ſich bey
ihr entſchuldigen könnte?


Das wird jetzt nicht bey ihr wirken, ver¬
ſetzte Thereſe, die Zeit entſchuldigt wie ſie
[64] tröſtet, Worte ſind in beyden Fällen von
wenig Kraft, Lydie will Sie nicht ſehen. —
Laſſen Sie mir ihn ja nicht vor die Augen
kommen, rief ſie als ich ſie verließ, ich
möchte an der Menſchheit verzweifeln! ſo
ein ehrlich Geſicht, ſo ein offnes Betragen
und dieſe heimliche Tücke! Lothario iſt ganz
bey ihr entſchuldigt, auch ſagt er in einem
Briefe an das gute Mädchen: »meine Freun¬
de beredeten mich, meine Freunde nöthigten
mich!« Zu dieſen rechnet Lidie Sie auch,
und verdammt Sie mit den übrigen.


Sie erzeigt mir zu viel Ehre, indem ſie
mich ſchilt, verſetzte Wilhelm, ich darf an
die Freundſchaft dieſes trefflichen Mannes
noch keinen Anſpruch machen, und bin dies¬
mal nur ein unſchuldiges Werkzeug, ich will
meine Handlung nicht loben, genug ich
konnte ſie thun! Es war von der Geſund¬
heit, es war von dem Leben eines Mannes
die[65] die Rede, den ich höher ſchätzen muß als
irgend jemand, den ich vorher kannte. O
welch ein Mann iſt das! Fräulein, und
welche Menſchen umgeben ihn! in dieſer
Geſellſchaft hab ich, ſo darf ich wohl ſagen,
zum erſtenmal ein Geſpräch geführt, zum
erſtenmal kam mir der eigenſte Sinn meiner
Worte aus dem Munde eines andern reich¬
haltiger, voller und in einem größern Um¬
fang wieder entgegen, was ich ahndete ward
mir klar, und was ich meynte lernte ich an¬
ſchauen. Leider ward dieſer Genuß erſt durch
allerley Sorgen und Grillen, dann durch
den unangenehmen Auftrag unterbrochen. Ich
übernahm ihn mit Ergebung, denn ich hielt
für Schuldigkeit, ſelbſt mit Aufopferung mei¬
nes Gefühls, dieſem trefflichen Kreiſe von
Menſchen meinen Einſtand abzutragen.


Thereſe hatte unter dieſen Worten ihren
Gaſt ſehr freundlich angeſehen. O! wie ſüß
E[66] iſt es! rief ſie aus, ſeine eigne Überzeugung
aus einem fremden Munde zu hören! Wie
werden wir erſt recht wir ſelbſt, wenn uns
ein anderer vollkommen Recht giebt! Auch
ich denke über Lothario vollkommen wie Sie,
nicht jedermann läßt ihm Gerechtigkeit wie¬
derfahren, dafür ſchwärmen aber auch alle
die für ihn, die ihn näher kennen, und das
ſchmerzliche Gefühl, das ſich in meinen Her¬
zen zu ſeinem Andenken miſcht, kann mich
nicht abhalten täglich an ihn zu denken. Ein
Seufzer erweiterte ihre Bruſt, indem ſie die¬
ſes ſagte, und in ihrem rechten Auge blinkte
eine ſchöne Thräne. Glauben Sie nicht,
fuhr ſie fort, daß ich ſo weich, ſo leicht zu
rühren bin! Es iſt nur das Auge, das weint.
Ich hatte eine kleine Warze am untern Au¬
genlied, man hat mir ſie glücklich abgebun¬
den, aber das Auge iſt ſeit der Zeit immer
ſchwach geblieben, der geringſte Anlaß drängt
[[67]] mir eine Thräne hervor. Hier ſaß das
Wärzchen, Sie ſehen keine Spur mehr
davon.


Er ſah keine Spur, aber er ſah ihr ins
Auge, es war klar wie Criſtall, er glaubte
bis auf den Grund ihrer Seele zu ſehen.


Wir haben, ſagte ſie, nun das Loſungs¬
wort unſerer Verbindung ausgeſprochen, laſ¬
ſen Sie uns ſobald als möglich mit einander
völlig bekannt werden. Die Geſchichte des
Menſchen iſt ſein Character. Ich will Ih¬
nen erzählen, wie es mir ergangen iſt, ſchen¬
ken Sie mir ein kleines Vertrauen, und laſ¬
ſen Sie uns auch in der Ferne verbunden
bleiben. Die Welt iſt ſo leer, wenn man
nur Berge, Flüſſe und Städte darin denkt,
aber hie und da jemand zu wiſſen, der mit
uns übereinſtimmt, mit dem wir auch ſtill¬
ſchweigend fortleben, das macht uns dieſes
Erdenrund erſt zu einem bewohnten Garten.


E 2[68]

Sie eilte fort, und verſprach ihn bald
zum Spatziergange abzuholen. Ihre Gegen¬
wart hatte ſehr angenehm auf ihn gewirkt,
er wünſchte ihr Verhältniß zu Lothario zu
erfahren. Er ward gerufen, ſie kam ihm
aus ihrem Zimmer entgegen.


Als ſie die enge und beynahe ſteile Treppe
einzeln hinuntergehen mußten, ſagte ſie: das
könnte alles weiter und breiter ſeyn, wenn
ich das Anerbieten Ihres großmüthigen Freun¬
des hätte hören wollen; doch um ſeiner werth
zu bleiben, muß ich das an mir erhalten,
was mich ihm ſo werth machte. Wo iſt der
Verwalter? fragte ſie, indem ſie die Treppe
völlig herunter kam. Sie müſſen nicht den¬
ken, fuhr ſie fort, daß ich ſo reich bin, um
einen Verwalter zu brauchen, die wenigen
Äcker meines Freygüthchens kann ich wohl
ſelbſt beſtellen. Der Verwalter gehört mei¬
nem neuen Nachbar, der das ſchöne Gut
[69] gekauft hat, das ich in- und auswendig
kenne; der gute alte Mann liegt krank am
Podagra, ſeine Leute ſind in dieſer Gegend
neu, und ich helfe ihnen gerne ſich einrichten.


Sie machten einen Spatziergang durch
Äcker, Wieſen und einige Baumgärten. The¬
reſe bedeutete den Verwalter in allem, ſie
konnte ihm von jeder Kleinigkeit Rechen¬
ſchaft geben, und Wilhelm hatte Urſache ge¬
nug ſich über ihre Kenntniß, ihre Beſtimmt¬
heit und über die Gewandtheit, wie ſie in
jedem Falle Mittel anzugeben wußte, zu
verwundern. Sie hielt ſich nirgends auf,
eilte immer zu den bedeutenden Puncten,
und ſo war die Sache bald abgethan. Grüßt
euren Herrn, ſagte ſie, als ſie den Mann
verabſchiedete, ich werde ihn ſobald als mög¬
lich beſuchen, und wünſche vollkommene Beſ¬
ſerung. Da könnte ich nun auch, ſagte [ſie]
mit Lächeln, als er weg war, bald reich und
[70] vielhabend werden, denn mein guter Nach¬
bar wäre nicht abgeneigt mir ſeine Hand zu
geben.


Der Alte mit dem Podagra? rief Wil¬
helm, ich wüßte nicht, wie Sie in Ihren
Jahren zu ſo einem verzweifelten Entſchluß
kommen könnten? — Ich bin auch gar nicht
verſucht! verſetzte Thereſe. Wohlhabend iſt
jeder, der dem, was er beſitzt, vorzuſtehen
weiß; vielhabend zu ſeyn iſt eine läſtige
Sache, wenn man es nicht verſteht.


Wilhelm zeigte ſeine Verwunderung über
ihre Wirthſchaftskenntniſſe. — Entſchiedene
Neigung, frühe Gelegenheit, äußerer Antrieb
und eine fortgeſetzte Beſchäftigung in einer
nützlichen Sache, machen in der Welt noch
viel mehr möglich, verſetzte Thereſe, und
wenn Sie erſt erfahren werden, was mich
dazu belebt hat, ſo werden Sie ſich über
das ſonderbar ſcheinende Talent nicht mehr

[71]

Sie ließ ihn, als ſie zu Hauſe anlangten,
in ihrem kleinen Garten, in welchem er ſich
kaum herumdrehen konnte; ſo eng waren die
Wege, und ſo reichlich war alles bepflanzt.
Er mußte lächeln, als er über den Hof zu¬
rückkehrte, denn da lag das Brennholz ſo
akkurat geſägt, geſpalten und geſchränkt, als
wenn es ein Theil des Gebäudes wäre, und
immer ſo liegen bleiben ſollte. Rein ſtanden
alle Gefäße an ihren Plätzen, das Häuschen
war weiß und roth angeſtrichen und luſtig
anzuſehen. Was das Handwerk hervorbrin¬
gen kann, das keine ſchönen Verhältniſſe kennt,
aber für Bedürfniß, Dauer und Heiterkeit
arbeitet, ſchien auf dem Platze vereinigt zu
ſeyn. Man brachte ihm das Eſſen auf ſein
Zimmer, und er hatte Zeit genug Betrach¬
tungen anzuſtellen. Beſonders fiel ihm auf:
daß er nun wieder eine ſo intereſſante Per¬
ſon kennen lernte, die mit [Lothario] in einem
[72] nahen Verhältniſſe geſtanden hatte. Billig
iſt es, ſagte er zu ſich ſelbſt, daß ſo ein
trefflicher Mann auch treffliche Weiberſeelen
an ſich ziehe! Wie weit verbreitet ſich die
Wirkung der Männlichkeit und Würde.
Wenn nur andere nicht ſo ſehr dabey zu
kurz kämen! Ja, geſtehe dir nur deine
Furcht. Wenn du dereinſt deine Amazone
wieder antriffſt, dieſe Geſtalt aller Geſtal¬
ten, du findeſt ſie, trotz aller deiner Hoff¬
nungen und Träume, zu deiner Beſchämung
und Demüthigung doch noch am Ende —
als ſeine Braut.


[73]

Sechstes Capitel.

Wilhelm hatte einen unruhigen Nachmittag
nicht ganz ohne lange Weile zugebracht, als
ſich gegen Abend ſeine Thüre öffnete, und
ein junger artiger Jägerburſche mit einem
Gruße hereintrat. Wollen wir nun ſpatzie¬
ren gehen? ſagte der junge Menſch, und in
dem Augenblicke erkannte Wilhelm Thereſen
an ihren ſchönen Augen.


Verzeihn Sie mir dieſe Maskerade, fing
ſie an, denn leider iſt es jetzt nur Maske¬
rade. Doch da ich Ihnen einmal von der
Zeit erzählen ſoll, in der ich mich ſo gerne
in dieſer Weſte ſah, will ich mir auch jene
Tage auf alle Weiſe vergegenwärtigen.
Kommen Sie! ſelbſt der Platz, an dem wir
[74] ſo oft von unſern Jagden und Spatziergän¬
gen ausruhten, ſoll dazu beytragen.


Sie gingen, und auf dem Wege ſagte
Thereſe zu ihrem Begleiter: es iſt nicht bil¬
lig, daß Sie mich allein reden laſſen, ſchon
wiſſen Sie genug von mir, und ich weiß
noch nicht das mindeſte von Ihnen; erzäh¬
len Sie mir indeſſen etwas von ſich, damit
ich Muth bekomme Ihnen auch meine Ge¬
ſchichte und meine Verhältniſſe vorzulegen.
Leider hab ich, verſetzte Wilhelm, nichts zu
erzählen als Irrthümer auf Irrthümer, Ver¬
irrungen auf Verirrungen, und ich wüßte
nicht, wem ich die Verworrenheiten, in de¬
nen ich mich befand und befinde, lieber ver¬
bergen möchte als Ihnen; Ihr Blick und
alles was Sie umgiebt, Ihr ganzes Weſen
und Ihr Betragen zeigt mir, daß Sie ſich
Ihres vergangenen Lebens freuen können,
daß Sie auf einem ſchönen reinen Wege in
[75] einer ſichern Folge gegangen ſind, daß Sie
keine Zeit verlohren, daß Sie ſich nichts
vorzuwerfen haben.


Thereſe lächelte und verſetzte: wir müſſen
abwarten, ob Sie auch noch ſo denken,
wenn Sie meine Geſchichte hören. Sie gin¬
gen weiter, und unter einigen allgemeinen
Geſprächen fragte ihn Thereſe: ſind Sie
frey? ich glaube es zu ſeyn, verſetzte er, aber
ich wünſche es nicht. Gut! ſagte ſie, das
deutet auf einen complicirten Roman, und
zeigt mir, daß Sie auch etwas zu erzählen
haben.


Unter dieſen Worten ſtiegen ſie den Hü¬
gel hinan und lagerten ſich bey einer großen
Eiche, die ihren Schatten weit umher ver¬
breitete. Hier, ſagte Thereſe, unter dieſem
deutſchen Baume will ich Ihnen die Ge¬
ſchichte eines deutſchen Mädchens erzählen,
hören Sie mich geduldig an: Mein Vater
[76] war ein wohlhabender Edelmann dieſer Pro¬
vinz, ein heiterer, klarer, thätiger, wackrer
Mann, ein zärtlicher Vater, ein redlicher
Freund, ein trefflicher Wirth, an dem ich
nur den einzigen Fehler kannte, daß er ge¬
gen eine Frau zu nachſichtig war, die ihn
nicht zu ſchätzen wußte. Leider muß ich das
von meiner eigenen Mutter ſagen! Ihr
Weſen war dem ſeinigen ganz entgegenge¬
ſetzt. Sie war raſch, unbeſtändig, ohne Nei¬
gung weder für ihr Haus, noch für mich ihr
einziges Kind, verſchwenderiſch, aber ſchön,
geiſtreich, voller Talente, das Entzücken ei¬
nes Zirkels, den ſie um ſich zu verſammeln
wußte. Freylich war ihre Geſellſchaft nie¬
mals groß, oder blieb es nicht lange. Die¬
ſer Zirkel beſtand meiſt aus Männern, denn
keine Frau befand ſich wohl neben ihr, und
noch weniger konnte ſie das Verdienſt ir¬
gend eines Weibes dulden. Ich glich mei¬
[77] nem Vater an Geſtalt und Geſinnungen.
Wie eine junge Ente gleich das Waſſer ſucht,
ſo war von der erſten Jugend an die Küche,
die Vorrathskammer, die Scheunen und Bö¬
den mein Element. Die Ordnung und Rein¬
lichkeit des Hauſes ſchien, ſelbſt da ich noch
ſpielte, mein einziger Inſtinkt, mein einziges
Augenmerk zu ſeyn. Mein Vater freute ſich
darüber, und gab meinem kindiſchen Beſtre¬
ben ſtufenweiſe die zweckmäßigſten Beſchäf¬
tigungen, meine Mutter dagegen liebte mich
nicht, und verheelte es keinen Augenblick.


Ich wuchs heran, mit den Jahren ver¬
mehrte ſich meine Thätigkeit und die Liebe
meines Vaters zu mir. Wenn wir allein
waren, auf die Felder gingen, wenn ich ihm
die Rechnungen durchſehen half, dann konnte
ich ihm recht anfühlen wie glücklich er war.
Wenn ich ihm in die Augen ſah, ſo war es
als wenn ich in mich ſelbſt hinein ſähe, denn
[78] eben die Augen waren es, die mich ihm voll¬
kommen ähnlich machten. Aber nicht eben
den Muth, nicht eben den Ausdruck behielt
er in der Gegenwart meiner Mutter, er ent¬
ſchuldigte mich gelind, wenn ſie mich heftig
und ungerecht tadelte; er nahm ſich meiner
an, nicht als wenn er mich beſchützen, ſon¬
dern als wenn er meine guten Eigenſchaften
nur entſchuldigen könnte. So ſetzte er auch
keiner ihrer Neigungen Hinderniſſe entgegen;
ſie fing an mit größter Leidenſchaft ſich auf
das Schauſpiel zu werfen, ein Theater ward
erbauet, an Männern fehlte es nicht von
allen Altern und Geſtalten, die ſich mit ihr
auf der Bühne darſtellten, an Frauen hin¬
gegen mangelte es oft. [Lydie], ein artiges
Mädchen, das mit mir erzogen worden war,
und das gleich in ihrer erſten Jugend reizend
zu werden verſprach, mußte die zweyten
Rollen übernehmen, und eine alte Kammer¬
[79] frau die Mütter und Tanten vorſtellen, in¬
deß meine Mutter ſich die erſten Liebha¬
berinnen, Heldinnen und Schäferinnen aller
Art vorbehielt. Ich kann Ihnen gar nicht
ſagen, wie lächerlich mir es vorkam, wenn
die Menſchen, die ich alle recht gut kannte,
ſich verkleidet hatten, da droben ſtanden, und
für etwas anders als ſie waren gehalten
ſeyn wollten. Ich ſah immer nur meine
Mutter und Lydien, dieſen Baron und jenen
Secretair, ſie mochten nun als Fürſten und
Grafen, oder als Bauern erſcheinen, und ich
konnte nicht begreifen, wie ſie mir zumuthen
wollten zu glauben, daß es ihnen wohl oder
wehe ſey, daß ſie verliebt oder gleichgültig,
geizig oder freygebig ſeyen, da ich doch meiſt
von dem Gegentheile genau unterrichtet war.
Deswegen blieb ich auch ſehr ſelten unter den
Zuſchauern, ich putzte ihnen immer die Lich¬
ter, damit ich nur etwas zu thun hatte, be¬
[80] ſorgte das Abendeſſen, und hatte des andern
Morgens, wenn ſie noch lange ſchliefen,
ſchon ihre Garderobe in Ordnung gebracht,
die ſie des Abends gewöhnlich übereinander
geworfen zurückließen.


Meiner Mutter ſchien dieſe Thätigkeit
ganz recht zu ſeyn, aber ihre Neigung konnte
ich nicht erwerben, ſie verachtete mich, und
ich weiß noch recht gut, daß ſie mehr als
einmal mit Bitterkeit wiederholte: wenn die
Mutter ſo ungewis ſeyn könnte als der Va¬
ter, ſo würde man wohl ſchwerlich dieſe
Magd für meine Tochter halten. Ich leug¬
nete nicht, daß ihr Betragen mich nach und
nach ganz von ihr entfernte, ich betrachtete
ihre Handlungen wie die Handlungen einer
fremden Perſon, und da ich gewohnt war
wie ein Falke das Geſinde zu beobachten,
denn, im Vorbeygehen geſagt, darauf be¬
ruht eigentlich der Grund aller Haushaltung;
ſo[81] ſo fielen mir natürlich auch die Verhältniſſe
meiner Mutter und ihrer Geſellſchaft auf.
Es ließ ſich wohl bemerken, daß ſie nicht
alle Männer mit ebendenſelben Augen an¬
ſah, ich gab ſchärfer acht, und bemerkte
bald, daß Lydie Vertraute war, und bey die¬
ſer Gelegenheit ſelbſt mit einer Leidenſchaft
bekannter wurde, die ſie von ihrer erſten
Jugend an ſo oft vorgeſtellt hatte. Ich
wußte alle ihre Zuſammenkünfte, aber ich
ſchwieg, und ſagte meinem Vater nichts,
den ich zu betrüben fürchtete, endlich aber
ward ich dazu genöthigt. Manches konnten
ſie nicht unternehmen, ohne das Geſinde zu
beſtechen. Dieſes fing an mir zu trotzen, die
Anordnungen meines Vaters zu vernachläſ¬
ſigen und meine Befehle nicht zu vollziehen;
die Unordnungen, die daraus entſtanden,
waren mir unerträglich, ich entdeckte, ich
klagte alles meinem Vater.


F[82]

Er hörte mich gelaſſen an; gutes Kind!
ſagte er zuletzt mit Lächeln, ich weiß alles,
ſey ruhig, ertrag es mit Geduld, denn es
iſt nur um deinetwillen, daß ich es leide.


Ich war nicht ruhig, ich hatte keine Ge¬
duld. Ich ſchalt meinen Vater im Stillen,
denn ich glaubte nicht, daß er um irgend
einer Urſache willen ſo etwas zu dulden
brauche, ich beſtand auf der Ordnung, und
ich war entſchloſſen, die Sache aufs äußerſte
kommen zu laſſen.


Meine Mutter war reich von ſich, ver¬
zehrte aber doch mehr als ſie ſollte, und
dies gab, wie ich wohl merkte, manche Er¬
klärung zwiſchen meinen Eltern. Lange war
der Sache nicht geholfen, bis die Leiden¬
ſchaften meiner Mutter ſelbſt eine Art von
Entwickelung hervorbrachten.


Der erſte Liebhaber ward auf eine ekla¬
tante Weiſe ungetreu; das Haus, die Ge¬
[83] gend, ihre Verhältniſſe waren ihr zuwider.
Sie wollte auf ein anderes Gut ziehen, da
war es ihr zu einſam; ſie wollte nach der
Stadt, da galt ſie nicht genug. Ich weiß
nicht, was alles zwiſchen ihr und meinem
Vater vorging, genug er entſchloß ſich end¬
lich unter Bedingungen, die ich nicht erfuhr,
in eine Reiſe, die ſie nach dem ſüdlichen
Frankreich thun wollte, einzuwilligen.


Wir waren nun frey und lebten wie im
Himmel; ja ich glaube, daß mein Vater nichts
verlohren hat, wenn er ihre Gegenwart auch
ſchon mit einer anſehnlichen Summe ab¬
kaufte. Alles unnütze Geſinde ward abge¬
ſchaft, und das Glück ſchien unſere Ordnung
zu begünſtigen; wir hatten einige ſehr gute
Jahre, alles gelang nach Wunſch. Aber
leider dieſer frohe Zuſtand dauerte nicht
lange, ganz unvermuthet ward mein Vater
von einem Schlagfluſſe befallen, der ihm
F 2[84] die rechte Seite lähmte, und den reinen Ge¬
brauch der Sprache benahm. Man mußte
alles errathen, was er verlangte, denn er
brachte nie das Wort hervor, das er im
Sinne hatte. Sehr ängſtlich waren mir da¬
her manche Augenblicke, in denen er mit mir
ausdrücklich allein ſeyn wollte; er deutete
mit heftiger Gebärde, daß jedermann ſich
entfernen ſollte, und wenn wir uns allein
ſahen, war er nicht im Stande das rechte
Wort hervor zu bringen; ſeine Ungeduld ſtieg
aufs äußerſte und ſein Zuſtand betrübte mich
im innerſten Herzen. So viel ſchien mir
gewiß, daß er mir etwas zu vertrauen hatte,
das mich beſonders anging. Welches Ver¬
langen fühlt’ ich nicht es zu erfahren! Sonſt
konnt ich ihm alles an den Augen anſehen;
aber jetzt war es vergebens, ſelbſt ſeine Au¬
gen ſprachen nicht mehr! nur ſo viel war
mir deutlich: er wollte nichts, er begehrte
[85] nichts, er ſtrebte nur mir etwas zu entdecken,
das ich leider nicht erfuhr. Sein Übel wieder¬
holte ſich, er ward bald darauf ganz unthä¬
tig und unfähig; und nicht lange, ſo war er
todt.


Ich weiß nicht, wie ſich bey mir der Ge¬
danke feſtgeſetzt hatte, daß er irgendwo ei¬
nen Schatz niedergelegt habe, den er mir
nach ſeinem Tode lieber als meiner Mutter
gönnen wollte; ich ſuchte ſchon bey ſeinen
Lebzeiten nach, allein ich fand nichts, nach
ſeinem Tode ward alles verſiegelt. Ich ſchrieb
meiner Mutter und bot ihr an als Verwal¬
ter im Hauſe zu bleiben, ſie ſchlug es aus
und ich mußte das Gut räumen. Es kam
ein wechſelſeitiges Teſtament zum Vorſchein,
wodurch ſie im Beſitz und Genuß von allem,
und ich, wenigſtens ihre ganze Lebenszeit
über, von ihr abhängig blieb. Nun glaubte
ich erſt recht die Winke meines Vaters zu
[86] verſtehn; ich bedauerte ihn, daß er ſo ſchwach
geweſen war, auch nach ſeinem Tode unge¬
recht gegen mich zu ſeyn. Denn einige mei¬
ner Freunde wollten ſogar behaupten, es
ſey beynah nicht beſſer, als ob er mich ent¬
erbt hätte, und verlangten ich ſollte das
Teſtament angreifen, wozu ich mich aber
nicht entſchließen konnte. Ich verehrte das
Andenken meines Vaters zu ſehr, ich ver¬
traute dem Schickſal, ich vertraute mir
ſelbſt.


Ich hatte mit einer Dame in der Nach¬
barſchaft, die große Güther beſaß, immer in
gutem Verhältniſſe geſtanden, ſie nahm mich
mit Vergnügen auf, und es ward mir leicht,
bald ihrer Haushaltung vorzuſtehn. Sie
lebte ſehr regelmäßig und liebte die Ordnung
in allem, und ich half ihr treulich in dem
Kampf mit Verwalter und Geſinde. Ich
bin weder geizig noch mißgünſtig, aber wir
[87] Weiber beſtehn überhaupt viel ernſthafter
als ſelbſt ein Mann darauf, daß nichts ver¬
ſchleudert werde. Jeder Unterſchleif iſt uns
unerträglich, wir wollen daß jeder nur ge¬
nieße, in ſo fern er dazu berechtigt iſt.


Nun war ich wieder in meinem Elemente,
und trauerte ſtill über den Tod meines Va¬
ters. Meine Beſchützerin war mit mir zu¬
frieden, nur ein kleiner Umſtand ſtörte meine
Ruhe. Lydie kam zurück, meine Mutter
war grauſam genug das arme Mädchen ab¬
zuſtoßen, nachdem ſie aus dem Grunde ver¬
dorben war. Sie hatte bey meiner Mutter
gelernt Leidenſchaften als Beſtimmung anzu¬
ſehen, ſie war gewöhnt ſich in nichts zu
mäßigen. Als ſie unvermuthet wieder er¬
ſchien, nahm meine Wohlthäterin auch ſie
auf; ſie wollte mir an Handen gehn und
konnte ſich in nichts ſchicken.


Um dieſe Zeit kamen die Verwandten
[88] und künftigen Erben meiner Dame oft ins
Haus, und beluſtigten ſich mit der Jagd. Auch
Lothario war manchmal mit ihnen, ich be¬
merkte gar bald, wie ſehr er ſich vor allen
andern auszeichnete, jedoch ohne die mindeſte
Beziehung auf mich ſelbſt. Er war gegen alle
höflich, und bald ſchien Lydie ſeine Aufmerk¬
ſamkeit auf ſich zu ziehen. Ich hatte immer
zu thun und war ſelten bey der Geſellſchaft;
in ſeiner Gegenwart ſprach ich weniger als
gewöhnlich, denn ich will nicht läugnen, daß
eine lebhafte Unterhaltung von jeher mir die
Würze des Lebens war. Ich ſprach mit
meinem Vater gern viel über alles was be¬
gegnete. Was man nicht beſpricht, bedenkt
man nicht recht. Keinem Menſchen hatte
ich jemals lieber zugehört als Lothario, wenn
er von ſeinen Reiſen, von ſeinen Feldzügen
erzählte. Die Welt lag ihm ſo klar, ſo of¬
fen da, wie mir die Gegend, in der ich ge¬
[89] wirthſchaftet hatte. Ich hörte nicht etwa die
wunderlichen Schickſale des Abentheurers,
die übertriebenen Halbwahrheiten eines be¬
ſchränkten Reiſenden, der immer nur ſeine
Perſon an die Stelle des Landes ſetzt, wo¬
von er uns ein Bild zu geben verſpricht; er
erzählte nicht, er führte uns an die Orte
ſelbſt, ich habe nicht leicht ein ſo reines Ver¬
gnügen empfunden.


Aber unausſprechlich war meine Zufrie¬
denheit, als ich ihn eines Abends über die
Frauen reden hörte. Das Geſpräch machte
ſich ganz natürlich; einige Damen aus der
Nachbarſchaft hatten uns beſucht und über
die Bildung der Frauen die gewöhnlichen
Geſpräche geführt. Man ſey ungerecht ge¬
gen [unſer] Geſchlecht, hieß es, die Männer
wollten alle höhere Kultur für ſich behalten,
man wolle uns zu keinen Wiſſenſchaften zu¬
laſſen, man verlange, daß wir nur Tändel¬
[90] puppen oder Haushälterinnen ſeyn ſollten.
Lothario ſprach wenig zu allem dieſem; als
aber die Geſellſchaft kleiner ward, ſagte er
auch hierüber offen ſeine Meynung. Es iſt
ſonderbar, rief er aus, daß man es dem
Manne verargt, der eine Frau an die höchſte
Stelle ſetzen will, die ſie einzunehmen fähig
iſt: und welche iſt höher als das Regiment
des Hauſes? Wenn der Mann ſich mit
äußern Verhältniſſen quält, wenn er die
Beſitzthümer herbey ſchaffen und beſchützen
muß, wenn er ſogar an der Staatsverwal¬
tung Antheil nimmt, überall von Umſtän¬
den abhängt, und, ich möchte ſagen, nichts
regiert, indem er zu regieren glaubt, immer
nur politiſch ſeyn muß, wo er gern vernünf¬
tig wäre, verſteckt, wo er offen, falſch, wo
er redlich zu ſeyn wünſchte, wenn er um des
Zieles willen, das er nie erreicht, das ſchönſte
Ziel, die Harmonie mit ſich ſelbſt, in jedem
[91] Augenblicke aufgeben muß, indeſſen herrſcht
eine vernünftige Hausfrau im Innern wirk¬
lich, und macht einer ganzen Familie jede
Thätigkeit, jede Zufriedenheit möglich. Was
iſt das höchſte Glück des Menſchen, als daß
wir das ausführen, was wir als recht und
gut einſehen? daß wir wirklich Herren über
die Mittel zu unſern Zwecken ſind. Und
wo ſollen, wo können unſere nächſten Zwecke
liegen, als innerhalb des Hauſes? alle im¬
mer wiederkehrenden, unentbehrlichen Be¬
dürfniſſe, wo erwarten wir, wo fordern wir
ſie, als da, wo wir aufſtehn und uns nie¬
derlegen, wo Küche und Keller und jede Art
von Vorrath für uns und die unſrigen im¬
mer bereit ſeyn ſoll? Welche regelmäßige
Thätigkeit wird erfordert, um dieſe immer
wiederkehrende Ordnung in einer unverrück¬
ten lebendigen Folge durchzuführen? wie we¬
nig Männern iſt es gegeben, gleichſam als
[92] ein Geſtirn regelmäßig wiederzukehren, und
dem Tage, ſo wie der Nacht vorzuſtehn?
ſich ihre häuslichen Werkzeuge zu bilden, zu
pflanzen und zu erndten, zu verwahren und
auszuſpenden, und den Kreis immer mit
Ruhe, Liebe und Zweckmäßigkeit zu durch¬
wandlen. Hat ein Weib einmal dieſe innere
Herrſchaft ergriffen, ſo macht ſie den Mann,
den ſie liebt, erſt allein dadurch zum Herrn;
ihre Aufmerkſamkeit erwirbt alle Kenntniſſe
und ihre Thätigkeit weiß ſie alle zu benutzen.
So iſt ſie von niemand abhängig und ver¬
ſchafft ihrem Manne die wahre Unabhängig¬
keit, die häusliche, die innere; das was er
beſitzt, ſieht er geſichert, das was er erwirbt
gut benutzt, und ſo kann er ſein Gemüth
nach großen Gegenſtänden wenden, und,
wenn das Glück gut iſt, das dem Staate
ſeyn, was ſeiner Gattin zu Hauſe ſo wohl
anſteht.


[93]

Er machte darauf eine Beſchreibung, wie
er ſich eine Frau wünſche. Ich ward roth,
denn er beſchrieb mich, wie ich leibte und
lebte. Ich genoß im Stillen meinen Triumph,
um ſo mehr, da ich aus allen Umſtänden
ſah, daß er mich perſönlich nicht gemeint
hatte, daß er mich eigentlich nicht kannte,
Ich erinnere mich keiner angenehmern Em¬
pfindung in meinem ganzen Leben, als daß
ein Mann, den ich ſo ſehr ſchätzte, nicht
meiner Perſon, ſondern meiner innerſten Na¬
tur den Vorzug gab. Welche Belohnung
fühlte ich! welche Aufmunterung war mir
geworden!


Als ſie weg waren, ſagte meine würdige
Freundin lächelnd zu mir: Schade daß die
Männer oft denken und reden, was ſie doch
nicht zur Ausführung kommen laſſen, ſonſt
wäre eine treffliche Partie für meine liebe
Thereſe geradezu gefunden. Ich ſcherzte über
[94] ihre Äußerung, und fügte hinzu, daß zwar
der Verſtand der Männer ſich nach Haus¬
hälterinnen umſehe, daß aber ihr Herz und
ihre Einbildungskraft ſich nach andern Ei¬
genſchaften ſehne, und daß wir Haushälte¬
rinnen eigentlich gegen die liebenswürdigen
und reizenden Mädchen keinen Wettſtreit
aushalten können. Dieſe Worte ſagte ich
Lydien zum Gehör, denn ſie verbarg nicht,
daß Lothario großen Eindruck auf ſie ge¬
macht habe, und auch er ſchien bey jedem
neuen Beſuch immer aufmerkſamer auf ſie
zu werden. Sie war arm, ſie war nicht
von Stande, ſie konnte an keine Heirath
mit ihm denken, aber ſie konnte der Wonne
nicht widerſtehen, zu reizen und gereizt zu
werden. Ich hatte nie geliebt und liebte
auch jetzt nicht; ob es mir ſchon unendlich
angenehm war, zu ſehen, wohin meine Na¬
tur von einem ſo verehrten Manne geſtellt
[95] und gerechnet werde, will ich doch nicht
läugnen, daß ich damit nicht ganz zufrieden
war Ich wünſchte nun auch, daß er mich
kennen, daß er perſönlich Antheil an mir
nehmen möchte. Es entſtand bey mir dieſer
Wunſch ohne irgend einen beſtimmten Ge¬
danken, was daraus folgen könnte.


Der größte Dienſt, den ich meiner Wohl¬
thäterin leiſtete, war, daß ich die ſchönen
Waldungen ihrer Güter in Ordnung zu brin¬
gen ſuchte. In dieſen köſtlichen Beſitzungen,
deren großen Werth Zeit und Umſtände im¬
mer vermehren, ging es leider nur immer
nach dem alten Schlendrian fort, nirgends
war Plan und Ordnung, und des Stehlens
und des Unterſchleifs kein Ende, manche
Berge ſtanden öde, und einen gleichen Wuchs
hatten nur noch die älteſten Schläge. Ich
beging alles ſelbſt mit einem geſchickten Forſt¬
mann, ich ließ die Waldungen meſſen, ich
[96] ließ ſchlagen, ſäen, pflanzen, und in kurzer
Zeit war alles im Gange. Ich hatte mir,
um leichter zu Pferde fort zu kommen und
auch zu Fuße nirgends gehindert zu ſeyn,
Mannskleider machen laſſen, ich war an vie¬
len Orten, und man fürchtete mich überall.


Ich hörte daß die Geſellſchaft junger
Freunde mit Lothario wieder ein Jagen an¬
geſtellt hatte, zum erſtenmal in meinem Le¬
ben fiel mirs ein zu ſcheinen, oder daß
ich mir nicht unrecht thue, in den Augen
des trefflichen Mannes für das zu gelten,
was ich war. Ich zog meine Mannskleider
an, nahm die Flinte auf den Rücken und
ging mit unſerm Jäger hinaus, um die Ge¬
ſellſchaft an der Grenze zu erwarten. Sie
kam, Lothario kannte mich nicht gleich, einer
von den Neffen meiner Wohlthäterinn ſtellte
mich ihm als einen geſchickten Forſtmann
vor, ſcherzte über meine Jugend und trieb
ſein[97] ſein Spiel zu meinem Lobe ſo lange, bis
endlich Lothario mich erkannte. Der Neffe
ſecundirte meine Abſicht, als wenn wir es
abgeredet hätten, umſtändlich erzählte er,
und dankbar, was ich für die Güter der
Tante und alſo auch für ihn gethan hatte.


Lothario hörte mit Aufmerkſamkeit zu,
unterhielt ſich mit mir, fragte nach allen
Verhältniſſen der Güter und der Gegend,
und ich war froh, meine Kenntniſſe vor ihm
ausbreiten zu können; ich beſtand in meinem
Examen ſehr gut, ich legte ihm einige Vor¬
ſchläge zu gewiſſen Verbeſſerungen zur Prü¬
fung vor, er billigte ſie, erzählte mir ähn¬
liche Beyſpiele, und verſtärkte meine Gründe
durch den Zuſammenhang, den er ihnen gab;
meine Zufriedenheit wuchs mit jedem Augen¬
blick. Aber glücklicher Weiſe wollte ich nur
gekannt, wollte nicht geliebt ſeyn, denn —
wir kamen nach Hauſe, und ich bemerkte
G[98] mehr als ſonſt, daß die Aufmerkſamkeit, die
er Lydien bezeigte, eine heimliche Neigung
zu verrathen ſchien. Ich hatte meinen End¬
zweck erreicht, und war doch nicht ruhig;
er zeigte von dem Tage an eine wahre Ach¬
tung und ein ſchönes Vertrauen gegen mich,
er redete mich in Geſellſchaft gewöhnlich an,
fragte mich um meine Meinung und ſchien
beſonders in Haushaltungsſachen das Zu¬
trauen zu mir zu haben, als wenn ich alles
wiſſe. Seine Theilnahme munterte mich
außerordentlich auf; ſogar wenn von allge¬
meiner Landesökonomie und von Finanzen
die Rede war, zog er mich ins Geſpräch,
und ich ſuchte in ſeiner Abweſenheit mehr
Kenntniſſe von der Provinz, ja von dem
ganzen Lande zu erlangen; es ward mir
leicht, denn es wiederholte ſich nur im
Großen was ich im Kleinen ſo genau wußte
und kannte.


[99]

Er kam von dieſer Zeit an öfter in unſer
Haus. Es ward, ich kann wohl ſagen, von
allem geſprochen, aber gewiſſermaßen ward
unſer Geſpräch zuletzt immer ökonomiſch,
wenn auch nur im uneigentlichen Sinne.
Was der Menſch durch konſequente Anwen¬
dung ſeiner Kräfte, ſeiner Zeit, ſeines Gel¬
des, ſelbſt durch geringſcheinende Mittel für
ungeheure Wirkungen hervorbringen könne,
darüber ward viel geſprochen.


Ich widerſtand der Neigung nicht, die
mich zu ihm zog, und ich fühlte leider nur
zu bald, wie ſehr, wie herzlich, wie rein
und aufrichtig meine Liebe war, da ich im¬
mer mehr zu bemerken glaubte, daß ſeine
öftern Beſuche Lydien und nicht mir galten.
Sie wenigſtens war auf das lebhafteſte, da¬
von überzeugt, ſie machte mich zu ihrer Ver¬
trauten, und dadurch fand ich mich noch ei¬
nigermaßen getröſtet. Das, was ſie ſo ſehr
G 2[100] zu ihrem Vortheile auslegte, fand ich kei¬
nesweges bedeutend; von der Abſicht einer
ernſthaften, dauernden Verbindung zeigte
ſich keine Spur, um ſo deutlicher ſah ich
den Hang des leidenſchaftlichen Mädchens
um jeden Preis die ſeinige zu werden.


So ſtanden die Sachen, als mich die
Frau vom Hauſe mit einem unvermutheten
Antrag überraſchte; Lothario, ſagte ſie, bie¬
tet Ihnen ſeine Hand an, und wünſcht Sie
in ſeinem Leben immer zur Seite zu haben.
Sie verbreitete ſich über meine Eigenſchaf¬
ten, und ſagte mir, was ich ſo gerne an¬
hörte: daß Lothario überzeugt ſey, in mir
die Perſon gefunden zu haben, die er ſo
lange gewünſcht hatte.


Das höchſte Glück war nun für mich er¬
reicht, ein Mann verlangte mich, den ich
ſo ſehr ſchätzte, bey dem und mit dem ich
eine völlige freye, ausgebreitete, nützliche
[101] Wirkung meiner angebohrnen Neigung, mei¬
nes durch Übung erworbenen Talents vor
mir ſah; die Summe meines ganzen Daſeyns
ſchien ſich ins Unendliche vermehrt zu haben.
Ich gab meine Einwilligung, er kam ſelbſt,
er ſprach mit mir allein, er reichte mir ſeine
Hand, er ſah mir in die Augen, er umarmte
mich und drückte einen Kuß auf meine Lip¬
pen. Es war der erſte und letzte. Er ver¬
traute mir ſeine ganze Lage, was ihn ſein
Amerikaniſcher Feldzug gekoſtet, welche Schul¬
den er auf ſeine Güter geladen, wie er ſich
mit ſeinem Großoheim einigermaßen darüber
entzweyt habe, wie dieſer würdige Mann
für ihn zu ſorgen denke, aber freylich auf
ſeine eigene Art, er wolle ihm eine reiche
Frau geben, da einem wohldenkenden Mann
doch nur mit einer haushältiſchen gedient
ſey; er hoffe durch ſeine Schweſter den Al¬
ten zu bereden. Er legte mir den Zuſtand
[102] ſeines Vermögens, ſeine Plane, ſeine Aus¬
ſichten vor, und erbat ſich meine Mitwir¬
kung. Nur bis zur Einwilligung ſeines
Oheims ſollte es ein Geheimniß bleiben.


Kaum hatte er ſich entfernt, ſo fragte
mich Lydie: ob er etwa von ihr geſprochen
habe? Ich ſagte nein, und machte ihr lange
Weile mit Erzählung von ökonomiſchen Ge¬
genſtänden. Sie war unruhig, mißlaunig,
und ſein Betragen, als er wieder kam, ver¬
beſſerte ihren Zuſtand nicht.


Doch ich ſehe, daß die Sonne ſich zu ih¬
rem Untergange neigt! Es iſt Ihr Glück,
mein Freund, Sie hätten ſonſt die Geſchich¬
te, die ich mir ſo gerne ſelbſt erzähle, mit
allen ihren kleinen Umſtänden durchhören
müſſen. Laſſen Sie mich eilen, wir nahen
einer Epoche, bey der nicht gut zu verwei¬
len iſt.


Lothario machte mich mit ſeiner trefflichen
[103] Schweſter bekannt, und dieſe wußte mich
auf eine ſchickliche Weiſe beym Oheim einzu¬
führen; ich gewann den Alten, er willigte
in unſere Wünſche, und ich kehrte, mit einer
glücklichen Nachricht, zu meiner Wohlthä¬
terin zurück. Die Sache war im Hauſe nun
kein Geheimnis mehr, Lydie erfuhr ſie, ſie
glaubte etwas Unmögliches zu vernehmen.
Als ſie endlich daran nicht mehr zweifeln
konnte, verſchwand ſie auf einmal, und man
wußte nicht, wohin ſie ſich verlohren hatte.


Der Tag unſerer Verbindung nahte her¬
an, ich hatte ihn ſchon oft um ſein Bildniß
gebeten, und ich erinnerte ihn, eben als er
wegreiten wollte, nochmals an ſein Ver¬
ſprechen; Sie haben vergeſſen, ſagte er, mir
das Gehäuſe zu geben, wohinein Sie es ge¬
paßt wünſchen. Es war ſo: ich hatte ein
Geſchenk von einer Freundin, das ich ſehr
werth hielt. Von ihren Haaren war ein
[104] verzogener Nahme unter dem äußern Glaſe
befeſtigt, inwendig blieb ein leeres Elfenbein,
worauf eben ihr Bild gemahlt werden ſollte,
als ſie mir unglücklicher Weiſe durch den
Tod entriſſen wurde. Lothario’s Neigung
beglückte mich in dem Augenblicke, da mir
ihr Verluſt noch ſehr ſchmerzhaft war, und
ich wünſchte die Lücke, die ſie mir in ihrem
Geſchenk zurückgelaſſen hatte, durch das Bild
meines Freundes auszufüllen.


Ich eile nach meinem Zimmer, hole mein
Schmuckkäſtchen, und eröfne es in ſeiner Ge¬
genwart; kaum ſieht er hinein, ſo erblickt er
ein Medaillon mit dem Bilde eines Frauen¬
zimmers, er nimmt es in die Hand, betrach¬
tet es mit Aufmerkſamkeit, und fragt haſtig:
wen ſoll dies Portrait vorſtellen? — Meine
Mutter, verſetzte ich — hätt’ ich doch ge¬
ſchworen, rief er aus, es ſey das Portrait
einer Frau von Saint Alban, die ich vor
[105] einigen Jahren in der Schweitz antraf — es
iſt einerley Perſon, verſetzte ich lächelnd,
und Sie haben alſo Ihre Schwiegermutter,
ohne es zu wiſſen, kennen gelernt. Saint
Alban iſt der romantiſche Nahme, unter
dem meine Mutter reiſt, ſie befindet ſich
unter denſelben noch gegenwärtig in Frank¬
reich.


Ich bin der unglücklichſte aller Menſchen!
rief er aus, indem er das Bild in das Käſt¬
chen zurück warf, ſeine Augen mit der Hand
bedeckte und ſogleich das Zimmer verließ.
Er warf ſich auf ſein Pferd, ich lief auf den
Balkon und rief ihm nach, er kehrte ſich um
warf mir eine Hand zu, entfernte ſich ei¬
lig — und ich habe ihn nicht wieder geſehen.


Die Sonne ging unter, Thereſe ſah mit
unverwandtem Blick in die Gluth, und
ihre beyden ſchönen Augen füllten ſich mit
Thränen.


[106]

Thereſe ſchwieg, und legte auf ihres
neuen Freundes Hände ihre Hand, er küßte
ſie mit Theilnehmung, ſie trocknete ihre Thrä¬
nen, und ſtand auf. Laſſen Sie uns zurück ge¬
hen, ſagte ſie, und für die Unſrigen ſorgen!


Das Geſpräch auf dem Wege war nicht
lebhaft; ſie kamen zur Gartenthüre herein,
und ſahen Lydien auf einer Bank ſitzen, ſie
ſtand auf, wich ihnen aus, und begab ſich
ins Haus zurück, ſie hatte ein Papier in der
Hand, und zwey kleine Mädchen waren bey
ihr. Ich ſehe, ſagte Thereſe, ſie trägt ihren
einzigen Troſt, den Brief Lothario’s, noch
immer bey ſich, ihr Freund verſpricht ihr,
daß ſie gleich, ſobald er ſich wohl befindet,
wieder an ſeiner Seite leben ſoll, er bittet
ſie, ſo lange ruhig bey mir zu verweilen. An
dieſen Worten hängt ſie, mit dieſen Zeilen
tröſtet ſie ſich, aber ſeine Freunde ſind übel
bey ihr angeſchrieben.


[107]

Indeſſen waren die beyden Kinder heran¬
gekommen, begrüßten Thereſen, und gaben
ihr Rechenſchaft von allem, was in ihrer
Abweſenheit im Hauſe vorgegangen war.
Sie ſehen hier noch einen Theil meiner Be¬
ſchäftigung, ſagte Thereſe, ich habe mit Lo¬
thario’s trefflicher Schweſter einen Bund ge¬
macht, wir erziehen eine Anzahl Kinder ge¬
meinſchaftlich, ich bilde die lebhaften und
dienſtfertigen Haushälterinnen, und ſie über¬
nimmt diejenigen, an denen ſich ein ruhige¬
res und feineres Talent zeigt, denn es iſt
billig, daß man auf jede Weiſe für das
Glück der Männer und der Haushaltung
ſorge. Wenn Sie meine edle Freundin ken¬
nen lernen, ſo werden Sie ein neues Leben
anfangen, ihre Schönheit, ihre Güte macht
ſie der Anbetung einer ganzen Welt würdig.
Wilhelm getraute ſich nicht zu ſagen, daß
er leider die ſchöne Gräfin ſchon kenne, und
[108] daß ihn ſein vorübergehendes Verhältnis zu
ihr auf ewig ſchmerzen werde; er war ſehr
zufrieden, daß Thereſe das Geſpräch nicht
fortſetzte, und daß ihre Geſchäfte ſie in das
Haus zurück zu gehen nöthigten. Er befand
ſich nun allein, und die letzte Nachricht, daß
die junge, ſchöne Gräfin auch ſchon genö¬
thigt ſey durch Wohlthätigkeit den Mangel
an eignem Glück zu erſetzen, machte ihn
äußerſt traurig, er fühlte, daß es bey ihr
nur eine Nothwendigkeit war ſich zu zer¬
ſtreuen, und an die Stelle eines frohen Le¬
bensgenuſſes die Hoffnung fremder Glückſe¬
ligkeit zu ſetzen. Er pries Thereſen glücklich,
daß ſelbſt bey jener unerwarteten traurigen
Veränderung keine Veränderung in ihr ſelbſt
vorzugehen brauchte. Wie glücklich iſt der
über alles! rief er aus, der, um ſich mit
dem Schickſal in Einigkeit zu ſetzen, nicht
[109] ſein ganzes vorhergehendes Leben wegzuwer¬
fen braucht.


Thereſe kam auf ſein Zimmer, und bat
um Verzeihung, daß ſie ihn ſtöre, hier in
dem Wandſchrank, ſagte ſie, ſteht meine
ganze Bibliothek, es ſind eher Bücher, die
ich nicht wegwerfe, als die ich aufhebe. Ly¬
die verlangt ein geiſtliches Buch, es findet
ſich wohl auch eins und das andere darun¬
ter. Die Menſchen, die das ganze Jahr
weltlich ſind, bilden ſich ein, ſie müßten zur
Zeit der Noth geiſtlich ſeyn, ſie ſehen alles
Gute und Sittliche wie eine Arzeney an, die
man mit Widerwillen zu ſich nimmt, wenn
man ſich ſchlecht befindet, ſie ſehen in einem
Geiſtlichen, einem Sittenlehrer nur einen
Arzt, den man nicht geſchwind genug aus
dem Hauſe los werden kann; ich aber ge¬
ſtehe gern, ich habe vom Sittlichen den Be¬
griff als von einer Diät, die eben dadurch
[110] nur Diät iſt, wenn ich ſie zur Lebensregel
mache, wenn ich ſie das ganze Jahr nicht
außer Augen laſſe.


Sie ſuchten unter den Büchern, und fan¬
den einige ſogenannte Erbauungsſchriften.
Die Zuflucht zu dieſen Büchern, ſagte The¬
reſe, hat Lydie von meiner Mutter gelernt;
Schauſpiel und Roman waren ihr Leben, ſo
lang der Liebhaber treu blieb, ſeine Entfer¬
nung brachte ſogleich dieſe Bücher wieder in
Credit. Ich kann überhaupt nicht begreifen,
fuhr ſie fort, wie man hat glauben können,
daß Gott durch Bücher und Geſchichten zu
uns ſpreche. Wem die Welt nicht unmittel¬
bar eröffnet, was ſie für ein Verhältnis zu
ihm hat, wem ſein Herz nicht ſagt, was er
ſich und andern ſchuldig iſt, der wird es
wohl ſchwerlich aus Büchern erfahren, die
eigentlich nur geſchickt ſind unſern Irrthü¬
mern Nahmen zu geben.


[111]

Sie ließ Wilhelmen allein, und er brachte
ſeinen Abend mit Reviſion der kleinen Bi¬
bliothek zu, ſie war wirklich bloß durch Zu¬
fall zuſammen gekommen.


Thereſe blieb die wenigen Tage, die Wil¬
helm bey ihr verweilte, ſich immer gleich, ſie
erzählte ihm die Folgen ihrer Begebenheit
in verſchiedenen Abſätzen ſehr umſtändlich,
ihrem Gedächtniß war Tag und Stunde,
Platz und Nahme gegenwärtig, und wir
ziehen, was unſern Leſern zu wiſſen nöthig
iſt, hier ins kurze zuſammen.


Die Urſache von Lothario’s raſcher Ent¬
fernung ließ ſich leider leicht erklären, er
war Thereſens Mutter auf ihrer Reiſe be¬
gegnet, ihre Reize zogen ihn an, ſie war
nicht karg gegen ihn, und nun entfernte ihn
dieſes unglückliche, ſchnell vorübergegangene
Abentheuer, von der Verbindung mit einem
Frauenzimmer, das die Natur ſelbſt für ihn
[112] gebildet zu haben ſchien. Thereſe blieb in
dem reinen Kreiſe ihrer Beſchäftigung und
ihrer Pflicht, man erfuhr, daß Lydie ſich
heimlich in der Nachbarſchaft aufgehalten
habe, ſie war glücklich, als die Heirath, ob¬
gleich aus unbekannten Urſachen, nicht voll¬
zogen wurde, ſie ſuchte ſich Lothario zu nä¬
hern, und es ſchien, daß er mehr aus Ver¬
zweiflung, als aus Neigung, mehr überraſcht,
als mit Überlegung, mehr aus langer Wei¬
le, als aus Vorſatz ihren Wünſchen begeg¬
net ſey.


Thereſe war ruhig darüber, ſie machte
keine weitern Anſprüche auf ihn, und ſelbſt
wenn er ihr Gatte geweſen wäre, hätte ſie
vielleicht Muth genug gehabt, ein ſolches
Verhältnis zu ertragen, wenn es nur ihre
häusliche Ordnung nicht geſtört hätte; we¬
nigſtens äußerte ſie oft, daß eine Frau, die
das Hausweſen recht zuſammenhalte, ihrem
Manne[113] Manne jede kleine Phantaſie nachſehen, und
von ſeiner Rückkehr jederzeit gewis ſeyn
könne.


Thereſens Mutter hatte bald die Angele¬
genheiten ihres Vermögens in Unordnung
gebracht, ihre Tochter mußte es entgelten,
denn ſie erhielt wenig von ihr; die alte Da¬
me, Thereſens Beſchützerinn, ſtarb, hinter¬
ließ ihr das kleine Freygut und ein artiges
Capital zum Vermächtniß. Thereſe wußte
ſich ſogleich in den engen Kreiß zu finden,
Lothario bot ihr ein beſſeres Beſitzthum an,
Jarno machte den Unterhändler, ſie ſchlug
es aus; ich will, ſagte ſie, im Kleinen zei¬
gen, daß ich werth war, das Große mit ihm
zu theilen, aber das behalte ich mir vor,
daß, wenn der Zufall mich um mein oder
anderer Willen in Verlegenheit ſetzt, ich zu¬
erſt zu meinem werthen Freund, ohne Be¬
denken, die Zuflucht nehmen könne.


H[114]

Nichts bleibt weniger verborgen und un¬
genutzt, als zweckmäßige Thätigkeit. Kaum
hatte ſie ſich auf ihrem kleinen Gute einge¬
richtet, ſo ſuchten die Nachbarn ſchon ihre
nähere Bekanntſchaft und ihren Rath, und
der neue Beſitzer der angrenzenden Güter
gab nicht undeutlich zu verſtehen, daß es
nur auf ſie ankomme, ob ſie ſeine Hand an¬
nehmen und Erbe des größten Theils ſeines
Vermögens werden wolle. Sie hatte ſchon
gegen Wilhelmen dieſes Verhältniſſes er¬
wähnt, und ſcherzte gelegentlich über Heira¬
then und Mißheirathen mit ihm.


Es giebt, ſagte ſie, den Menſchen nichts
mehr zu reden, als wenn einmal eine Hei¬
rath geſchieht, die ſie nach ihrer Art eine
Mißheirath nennen können, und doch ſind
die Mißheirathen viel gewöhnlicher als die
Heirathen; denn es ſieht leider nach einer
kurzen Zeit mit den meiſten Verbindungen
[115] gar mißlich aus. Die Vermiſchung der Stän¬
de durch Heirathen verdienen nur in ſo fern
Mißheirathen genannt zu werden, als Ein
Theil an der angebohrnen, angewohnten und
gleichſam nothwendig gewordenen Exiſtenz
des andern keinen Theil nehmen kann. Die
verſchiedenen Klaſſen haben verſchiedene Le¬
bensweiſen, die ſie nicht mit einander thei¬
len noch verwechſeln können, und das iſts,
warum Heirathen dieſer Art beſſer nicht ge¬
ſchloſſen werden; aber Ausnahmen und recht
glückliche Ausnahmen ſind möglich. So iſt
die Heirath eines jungen Mädchens mit ei¬
nem bejahrten Manne immer mißlich, und
doch habe ich ſie recht gut ausſchlagen ſehen.
Für mich kenne ich nur Eine Mißheirath,
wenn ich feyern und repräſentiren müßte;
ich wollte lieber jeden ehrbaren Pächtersſohn
aus der Nachbarſchaft heirathen.


Wilhelm gedachte nunmehr zurück zu keh¬
H 2[116] ren, und bat ſeine neue Freundin ihm noch
ein Abſchiedswort von Lydien zu verſchaffen.
Das leidenſchaftliche Mädchen ließ ſich bewe¬
gen, er ſagte ihr einige freundliche Worte,
ſie verſetzte: den erſten Schmerz hab ich über¬
wunden, Lothario wird mir ewig theuer ſeyn;
aber ſeine Freunde kenne ich, es iſt mir leid,
daß er ſo umgeben iſt. Der Abbé wäre fä¬
hig, wegen einer Grille die Menſchen in
Noth zu laſſen, oder ſie gar hinein zu ſtür¬
zen, der Arzt möchte gern alles ins Gleiche
bringen, Jarno hat kein Gemüth, und Sie —
wenigſtens keinen Character! fahren Sie nur
ſo fort, und laſſen Sie ſich als Werkzeug
dieſer drey Menſchen brauchen, man wird
Ihnen noch manche Execution auftragen.
Lange, mir iſt es recht wohl bekannt, war
ihnen meine Gegenwart zuwider, ich hatte
ihr Geheimniß nicht entdeckt, aber ich hatte
beobachtet, daß ſie ein Geheimniß verbar¬
[117] gen. Wozu dieſe verſchloſſenen Zimmer?
dieſe wunderlichen Gänge? warum kann nie¬
mand zu dem großen Thurm gelangen?
Warum verbannten ſie mich, ſo oft Sie
nur konnten, in meine Stube? Ich will ge¬
ſtehen, daß Eiferſucht zuerſt mich auf dieſe
Entdeckung brachte, ich fürchtete eine glück¬
liche Nebenbuhlerin ſey irgendwo verſteckt.
Nun glaube ich das nicht mehr, ich bin über¬
zeugt, daß Lothario mich liebt, daß er es
redlich mit mir meint, aber eben ſo gewis
bin ich überzeugt, daß er von ſeinen künſt¬
lichen und falſchen Freunden betrogen wird.
Wenn Sie ſich um ihn verdient machen wol¬
len, wenn Ihnen verziehen werden ſoll, was
Sie an mir verbrochen haben, ſo befreien
Sie ihn aus den Händen dieſer Menſchen.
Doch was hoffe ich! ȟberreichen Sie ihm
dieſen Brief, wiederholen Sie, was er ent¬
hält: daß ich ihn ewig lieben werde, daß ich
[118] mich auf ſein Wort verlaſſe. Ach! rief ſie
aus, indem ſie aufſtand und am Halſe The¬
reſens weinte; er iſt von meinen Feinden
umgeben, ſie werden ihn zu bereden ſuchen,
daß ich ihm nichts aufgeopfert habe; o! der
beſte Mann mag gerne hören, daß er jedes
Opfer werth iſt, ohne dafür dankbar ſeyn zu
dürfen.


Wilhelms Abſchied von Thereſen war
heiterer, ſie wünſchte ihn bald wieder zu
ſehen. Sie kennen mich ganz! ſagte ſie,
Sie haben mich immer reden laſſen, es iſt
das nächſtemal Ihre Pflicht meine Aufrich¬
tigkeit zu erwiedern.


Auf ſeiner Rückreiſe hatte er Zeit genug,
dieſe neue, helle Erſcheinung lebhaft in der
Erinnerung zu betrachten. Welch ein Zu¬
trauen hatte ſie ihm eingeflößt! Er dachte
an Mignon und Felix, wie glücklich die Kin¬
der unter einer ſolchen Aufſicht werden könn¬
[119] ten, dann dachte er an ſich ſelbſt, und fühlte,
welche Wonne es ſeyn müſſe, in der Nähe
eines ſo ganz klaren menſchlichen Weſens zu
leben. Als er ſich dem Schloß näherte, fiel
ihm der Thurm mit den vielen Gängen und
Seitengebäuden mehr als ſonſt auf, er nahm
ſich vor, bey der nächſten Gelegenheit Jarno
oder den Abbé darüber zur Rede zu ſtellen.


[120]

Siebentes Capitel.

Als Wilhelm nach dem Schloſſe kam, fand
er den edlen Lothario auf dem völligen Wege
der Beſſerung, der Arzt und der Abbé wa¬
ren nicht zugegen, Jarno allein war geblie¬
ben. In kurzer Zeit ritt der Geneſende ſchon
wieder aus, bald allein, bald mit ſeinen
Freunden. Sein Geſpräch war ernſthaft und
gefällig, ſeine Unterhaltung belehrend und
erquickend, oft bemerkte man Spuren einer
zarten Fühlbarkeit, ob er ſie gleich zu ver¬
bergen ſuchte, und, wenn ſie ſich wider ſei¬
nen Willen zeigte, beynah zu mißbilligen
ſchien.


So war er eines Abends ſtill bey Tiſche,
ob er gleich heiter ausſah.


Sie haben heute gewis ein Abentheuer
[121] gehabt? ſagte endlich Jarno, und zwar ein
angenehmes.


Wie Sie ſich auf Ihre Leute verſtehen!
verſetzte Lothario: Ja, es iſt mir ein ſehr
angenehmes Abentheuer begegnet. Zu einer
andern Zeit hätte ich es vielleicht nicht ſo
reizend gefunden, als diesmal, da es mich
ſo empfänglich antraf. Ich ritt gegen Abend
jenſeit des Waſſers durch die Dörfer, einen
Weg, den ich oft genug in frühern Jahren
beſucht hatte. Mein körperliches Leiden muß
mich mürber gemacht haben, als ich ſelbſt
glaubte. Ich fühlte mich weich, und, bey
wieder auflebenden Kräften, wie neugeboh¬
ren. Alle Gegenſtände erſchienen mir in
eben dem Lichte, wie ich ſie in frühern Jah¬
ren geſehen hatte; alle ſo lieblich, ſo anmu¬
thig, ſo reizend, wie ſie mir lange nicht er¬
ſchienen ſind. Ich merkte wohl, daß es
Schwachheit war, ich ließ mir ſie aber ganz
[122] wohlgefallen, ritt ſachte hin, und es wurde
mir ganz begreiflich, wie Menſchen eine
Krankheit lieb gewinnen können, welche uns
zu ſüßen Empfindungen ſtimmt. Sie wiſſen
vielleicht, was mich ehmals ſo oft dieſen
Weg führte?


Wenn ich mich recht erinnere, verſetzte
Jarno, ſo war es ein kleiner Liebeshandel,
der ſich mit der Tochter eines Pachters ent¬
ſponnen hatte.


Man dürfte es wohl einen großen nen¬
nen, verſetzte Lothario, denn wir hatten uns
beyde ſehr lieb, recht im Ernſte, und auch
ziemlich lange. Zufälligerweiſe traf heute al¬
les zuſammen, mir die erſten Zeiten unſerer
Liebe recht lebhaft darzuſtellen. Die Knaben
ſchüttelten eben wieder Maykäfer von den
Bäumen, und das Laub der Eſchen war
nicht weiter als eben an dem Tage, da ich
ſie zum erſtenmale ſah. Nun war es lange,
[123] daß ich Margarethen nicht geſehen habe;
denn ſie iſt weit weg verheirathet, nur hörte
ich zufällig, ſie ſey mit ihren Kindern vor
wenigen Wochen gekommen, ihren Vater zu
beſuchen.


So war ja wohl dieſer Spatzierritt nicht
ſo ganz zufällig?


Ich leugne nicht, ſagte Lothario, daß ich
ſie anzutreffen wünſchte. Als ich nicht weit
von dem Wohnhaus war, ſah ich ihren Va¬
ter vor der Thüre ſitzen, ein Kind von ohn¬
gefähr Einem Jahre ſtand bey ihm. Als ich
mich näherte, ſah eine Frauensperſon ſchnell
oben zum Fenſter heraus, und als ich gegen
die Thüre kam, hörte ich jemand die Treppe
herunter ſpringen. Ich dachte gewiß, ſie ſey
es, und, ich wills nur geſtehen, ich ſchmei¬
chelte mir, ſie habe mich erkannt, und ſie
komme mir eilig entgegen. Aber wie be¬
ſchämt war ich, als ſie zur Thüre heraus
[124] ſprang, das Kind, dem die Pferde näher ka¬
men, anfaßte, und in das Haus hineintrug.
Es war mir eine unangenehme Empfindung,
und nur wurde meine Eitelkeit ein wenig
getröſtet, als ich, wie ſie hinweg eilte, an
ihrem Nacken und an dem freyſtehenden Ohr
eine merkliche Röthe zu ſehen glaubte.


Ich hielt ſtill und ſprach mit dem Vater,
und ſchielte indeſſen an den Fenſtern herum,
ob ſie ſich nicht hier oder da blicken ließe;
allein ich bemerkte keine Spur von ihr. Fra¬
gen wollt ich auch nicht, und ſo ritt ich vor¬
bey. Mein Verdruß wurde durch Verwun¬
derung einigermaßen gemildert, denn ob ich
gleich kaum das Geſicht geſehen hatte, ſo
ſchien ſie mir faſt gar nicht verändert, und
zehn Jahre ſind doch eine Zeit! ja ſie ſchien
mir jünger, eben ſo ſchlank, eben ſo leicht
auf den Füßen, der Hals wo möglich noch
zierlicher als vorher, ihre Wange eben ſo
[125] leicht der liebenswürdigen Röthe empfäng¬
lich, dabey Mutter von ſechs Kindern, viel¬
leicht noch von mehrern; es paßte dieſe Er¬
ſcheinung ſo gut in die übrige Zauberwelt,
die mich umgab, daß ich nur um ſo mehr
mit einem verjüngten Gefühl weiter ritt,
und an dem nächſten Walde erſt umkehrte,
als die Sonne im Untergehen war. So ſehr
mich auch der fallende Thau an die Vor¬
ſchrift des Arztes erinnerte, und es wohl
räthlicher geweſen wäre gerade nach Hauſe
zu kehren, ſo nahm ich doch wieder meinen
Weg nach der Seite des Pachthofs zurück.
Ich bemerkte, daß ein weibliches Geſchöpf
in dem Garten auf und nieder ging, der
mit einer leichten Hecke umzogen iſt. Ich
ritt auf dem Fußpfade nach der Hecke zu,
und ich fand mich eben nicht weit von der
Perſon, nach der ich verlangte.


Ob mir gleich die Abendſonne in den Au¬
[126] gen lag, ſah ich doch, daß ſie ſich am Zaune
beſchäftigte, der ſie nur leicht bedeckte. Ich
glaubte meine alte Geliebte zu erkennen.
Da ich an ſie kam, hielt ich ſtill, nicht ohne
Regung des Herzens. Einige hohe Zweige
wilder Roſen, die eine leiſe Luft hin und
her wehte, machten mir ihre Geſtalt undeut¬
lich. Ich redete ſie an, und fragte wie ſie
lebe? Sie antwortete mir mit halber Stim¬
me: ganz wohl. Indeß bemerkte ich, daß
ein Kind hinter dem Zaune beſchäftigt war
Blumen auszureiſſen, und nahm die Gele¬
genheit ſie zu fragen: wo denn ihre übrigen
Kinder ſeyen? Es iſt nicht mein Kind, ſagte
ſie, das wäre früh! und in dieſem Augen¬
blick ſchickte ſichs, daß ich durch die Zweige
ihr Geſicht genau ſehen konnte, und ich
wußte nicht, was ich zu der Erſcheinung ſa¬
gen ſollte. Es war meine Geliebte und war
es nicht. Faſt jünger, faſt ſchöner als ich
[127] ſie vor zehen Jahren gekannt hatte. Sind
Sie denn nicht die Tochter des Pachters?
fragte ich halb verwirrt. Nein, ſagte ſie,
ich bin ihre Muhme.


Aber Sie gleichen einander ſo außeror¬
dentlich, verſetzte ich.


Das ſagt jedermann, der ſie vor zehen
Jahren gekannt hat.


Ich fuhr fort ſie verſchiedenes zu fragen,
mein Irrthum war mir angenehm, ob ich
ihn gleich ſchon entdeckt hatte. Ich konnte
mich von dem lebendigen Bilde voriger Glück¬
ſeeligkeit, das vor mir ſtand, nicht los reiſſen.
Das Kind hatte ſich indeſſen von ihr ent¬
fernt, und war Blumen zu ſuchen nach dem
Teiche gegangen. Sie nahm Abſchied, und
eilte dem Kinde nach.


Indeſſen hatte ich doch erfahren, daß
meine alte Geliebte noch wirklich in dem
Hauſe ihres Vaters ſey, und indem ich ritt,
[128] beſchäftigte ich mich mit Muthmaßungen, ob
ſie ſelbſt, oder die Muhme das Kind vor
den Pferden geſichert habe? Ich wiederholte
mir die ganze Geſchichte mehrmals im Sinne,
und ich wüßte nicht leicht, daß irgend etwas
angenehmer auf mich gewirkt hätte. Aber
ich fühle wohl, ich bin noch krank, und wir
wollen den Doctor bitten, daß er uns von
dem Überreſte dieſer Stimmung erlöſe.


Es pflegt in vertraulichen Bekenntniſſen
anmuthiger Liebesbegebenheiten wie mit Ge¬
ſpenſtergeſchichten zu gehen, iſt nur erſt eine
erzählt, ſo fließen die übrigen von ſelbſt zu.


Unſere kleine Geſellſchaft fand in der
Rückerinnerung vergangener Zeiten manchen
Stoff dieſer Art. Lothario hatte am meiſten
zu erzählen. Jarno’s Geſchichten trugen alle
einen eignen Character, und was Wilhelm
zu geſtehen hatte, wiſſen wir ſchon. Indeſ¬
ſen war ihm bange, daß man ihn an die
Ge¬[129] Geſchichte mit der Gräfin erinnern möchte,
allein niemand dachte derſelben auch nur auf
die entfernteſte Weiſe.


Es iſt wahr, ſagte Lothario, angenehmer
kann keine Empfindung in der Welt ſeyn,
als wenn das Herz nach einer gleichgültigen
Pauſe ſich der Liebe zu einem neuen Gegen¬
ſtande wieder eröfnet, und doch wollt ich
dieſem Glück für mein Leben entſagt haben,
wenn mich das Schickſal mit Thereſen hätte
verbinden wollen. Man iſt nicht immer
Jüngling, und man ſollte nicht immer Kind
ſeyn. Dem Manne, der die Welt kennt,
der weiß, was er darin zu thun, was er
von ihr zu hoffen hat, was kann ihm er¬
wünſchter ſeyn, als eine Gattin zu finden,
die überall mit ihm wirkt, und die ihm alles
vorzubereiten weiß, deren Thätigkeit dasje¬
nige aufnimmt, was die ſeinige liegen laſſen
muß, deren Geſchäftigkeit ſich nach allen
J[130] Seiten verbreitet, wenn die ſeinige nur ei¬
nen geraden Weg fortgehen darf; welchen
Himmel hatte ich mir mit Thereſen geträumt,
nicht den Himmel eines ſchwärmeriſchen
Glücks, ſondern eines ſichern Lebens auf der
Erde. Ordnung im Glück, Muth im Un¬
glück, Sorge für das Geringſte, und eine
Seele, fähig das Größte zu faſſen und wie¬
der fahren zu laſſen. O! ich ſah in ihr gar
wohl di[e] Anlagen, deren Entwickelung wir
bewundern, wenn wir in der Geſchichte Frauen
ſehen, die uns weit vorzüglicher als alle
Männer erſcheinen; dieſe Klarheit über die
Umſtände; dieſe Gewandtheit in allen Fällen;
dieſe Sicherheit im einzelnen, wodurch das
Ganze ſich immer ſo gut befindet, ohne daß
ſie jemals daran zu denken ſcheinen. Sie
können wohl, fuhr er fort, indem er ſich
lächelnd gegen Wilhelmen wendete, mir ver¬
zeihen, wenn Thereſe mich Aurelien entführte,
[131] mit jener konnte ich ein heitres Leben hof¬
fen, da bey dieſer auch nicht an eine glück¬
liche Stunde zu denken war.


Ich leugne nicht, verſetzte Wilhelm, daß
ich mit großer Bitterkeit im Herzen gegen
Sie hierher gekommen bin, und daß ich mir
vorgenommen hatte, Ihr Betragen gegen
Aurelien ſehr ſtreng zu tadeln.


Auch verdient es Tadel, verſetzte Lotha¬
rio, ich hätte meine Freundſchaft zu ihr nicht
mit dem Gefühl der Liebe verwechſeln ſollen,
ich hätte nicht an die Stelle der Achtung,
die ſie verdiente, eine Neigung eindrängen
ſollen, die ſie weder erregen, noch erhalten
konnte. Ach! ſie war nicht liebenswürdig,
wenn ſie liebte, und das iſt das größte Un¬
glück, das einem Weibe begegnen kann.


Es ſey drum, verſetzte Wilhelm, wir kön¬
nen nicht immer das Tadelnswerthe vermei¬
den, nicht vermeiden, daß unſere Geſinnun¬
J 2[132] gen und Handlungen auf eine ſonderbare
Weiſe von ihrer natürlichen und guten Rich¬
tung abgelenkt werden; aber gewiſſe Pflich¬
ten ſollten wir niemals aus den Augen ſetzen.
Die Aſche der Freundin ruhe ſanft, wir wol¬
len, ohne uns zu ſchelten und ſie zu tadeln,
mitleidig Blumen auf ihr Grab ſtreuen. Aber
bey dem Grabe, in welchem die unglückliche
Mutter ruht, laſſen Sie mich fragen, war¬
um ſie ſich des Kindes nicht annehmen? ei¬
nes Sohnes, deſſen ſich jedermann erfreuen
würde, und den ſie ganz und gar zu ver¬
nachläßigen ſcheinen. Wie können Sie, bey
Ihren reinen und zarten Gefühlen, das Herz
eines Vaters gänzlich verleugnen? Sie ha¬
ben dieſe ganze Zeit noch mit keiner Sylbe
an das köſtliche Geſchöpf gedacht, von deſ¬
ſen Anmuth ſo viel zu erzählen wäre.


Von wem reden Sie? verſetzte Lothario,
ich verſtehe Sie nicht.


[133]

Von wem anders, als von Ihrem Sohne,
dem Sohne Aureliens, dem ſchönen Kinde,
dem zu ſeinem Glücke nichts fehlt, als daß
ein zärtlicher Vater ſich ſeiner annimmt?


Sie irren ſehr, mein Freund, verſetzte
Lothario, Aurelie hatte keinen Sohn, am we¬
nigſten von mir, ich weiß von keinem Kinde,
ſonſt würde ich mich deſſen mit Freuden an¬
nehmen, aber auch im gegenwärtigen Falle
will ich gern das kleine Geſchöpf als eine
Verlaſſenſchaft von ihr anſehen, und für
ſeine Erziehung ſorgen; hat ſie ſich denn ir¬
gend etwas merken laſſen, daß der Knabe
ihr, daß er mir zugehöre?


Nicht daß ich mich erinnere, ein ausdrück¬
liches Wort von ihr gehört zu haben, es
war aber einmal ſo angenommen, und ich
habe nicht einen Augenblick daran gezweifelt.


Ich kann, fiel Jarno ein, einigen Auf¬
ſchluß hierüber geben; ein altes Weib, das
[134] Sie oft müſſen geſehen haben, brachte das
Kind zu Aurelien, ſie nahm es mit Leiden¬
ſchaft auf, und hoffte ihre Leiden durch ſeine
Gegenwart zu lindern: auch hat es ihr man¬
chen vergnügten Augenblick gemacht.


Wilhelm war durch dieſe Entdeckung ſehr
unruhig geworden, er gedachte des guten
Mignons neben dem ſchönen Felix auf das
lebhafteſte, er zeigte ſeinen Wunſch, die bey¬
den Kinder aus der Lage, in der ſie ſich be¬
fanden, heraus zu ziehen.


Wir wollen damit bald fertig ſeyn, ver¬
ſetzte Lothario, das wunderliche Mädchen
übergeben wir Thereſen, ſie kann unmöglich
in beſſere Hände gerathen, und was den
Knaben betrifft, den, dächt’ ich, nähmen Sie
ſelbſt zu ſich; denn was ſelbſt die Frauen
an uns ungebildet zurück laſſen, das bilden
die Kinder aus, wenn wir uns mit ihnen
abgeben.


[135]

Überhaupt dächte ich, verſetzte Jarno,
Sie entſagten kurz und gut dem Theater,
zu dem Sie doch einmal kein Talent haben.


Wilhelm war betroffen, er mußte ſich zu¬
ſammen nehmen, denn Jarno’s harte Worte
hatten ſeine Eigenliebe nicht wenig verletzt.
Wenn Sie mich davon überzeugen, verſetzte
er mit gezwungenen Lächeln, ſo werden Sie
mir einen [Dienſt] erweiſen, ob es gleich nur
ein trauriger Dienſt iſt, wenn man uns aus
einem Lieblingstraume aufſchüttelt.


Ohne viel weiter darüber zu reden, ver¬
ſetzte Jarno, möchte ich Sie nur antreiben,
erſt die Kinder zu holen, das übrige wird
ſich ſchon geben.


Ich bin bereit dazu, verſetzte Wilhelm,
ich bin unruhig und neugierig, ob ich nicht
von dem Schickſal des Knaben etwas nähe¬
res entdecken kann; ich verlange das Mäd¬
[136] chen wieder zu ſehen, das ſich mit ſo vieler
Eigenheit an mich angeſchloſſen hat.


Man ward einig, daß er bald abreiſen
ſollte.


Den andern Tag hatte er ſich dazu vor¬
bereitet, das Pferd war geſattelt, nur wollte
er noch von Lothario Abſchied nehmen. Als
die Eſſenzeit herbey kam, ſetzte man ſich wie
gewöhnlich zu Tiſche, ohne auf ihn zu war¬
ten, er kam erſt ſpät, und ſetzte ſich zu
ihnen.


Ich wollte wetten, ſagte Jarno, Sie ha¬
ben heute Ihr zärtliches Herz wieder auf die
Probe geſtellt, Sie haben der Begierde nicht
widerſtehen können, Ihre ehemalige Geliebte
wieder zu ſehen.


Errathen! verſetzte Lothario.


Laſſen Sie uns hören, ſagte Jarno, wie
iſt es abgelaufen? ich bin äußerſt neugierig.


Ich leugne nicht, verſetzte Lothario, daß
[137] mir das Abentheuer mehr als billig auf dem
Herzen lag, ich faßte daher den Entſchluß
nochmals hinzureiten, und die Perſon wirk¬
lich zu ſehen, deren verjüngtes Bild mir eine
ſo angenehme Illuſion gemacht hatte. Ich
ſtieg ſchon in einiger Entfernung vom Hauſe
ab, und ließ die Pferde bey Seite führen,
um die Kinder nicht zu ſtöhren, die vor dem
Thore ſpielten. Ich ging in das Haus, und
von ohngefähr kam ſie mir entgegen, denn
ſie war es ſelbſt, und ich erkannte ſie ohn¬
geachtet der großen Veränderung wieder.
Sie war ſtärker geworden, und ſchien größer
zu ſeyn; ihre Anmuth blickte durch ein ge¬
ſetztes Weſen hindurch, und ihre Munterkeit
war in ein ſtilles Nachdenken übergegangen.
Ihr Kopf, den ſie ſonſt ſo leicht und frey
trug, hing ein wenig geſenkt, und leiſe Fal¬
ten waren über ihre Stirne gezogen.


Sie ſchlug die Augen nieder, als ſie mich
[138] ſah, aber keine Röthe verkündigte eine in¬
nere Bewegung des Herzens. Ich reichte
ihr die Hand, ſie gab mir die ihrige; ich
fragte nach ihrem Manne, er war abweſend,
nach ihren Kindern, ſie trat an die Thüre
und rief ſie herbey, alle kamen und verſam¬
melten ſich um ſie. Es iſt nichts reizender,
als eine Mutter zu ſehen mit einem Kinde
auf dem Arme, und nichts ehrwürdiger, als
eine Mutter unter vielen Kindern. Ich
fragte nach den Nahmen der Kleinen, um
doch nur etwas zu ſagen, ſie bat mich hin¬
ein zu treten und auf ihren Vater zu war¬
ten. Ich nahm es an; ſie führte mich in
die Stube, wo ich beynahe noch alles auf
dem alten Platze fand, und — ſonderbar!
die ſchöne Muhme, ihr Ebenbild, ſaß auf
eben dem Schemmel hinter dem Spinnrocken,
wo ich meine Geliebte in eben der Geſtalt
ſo oft gefunden hatte. Ein kleines Mäd¬
[139] chen, das ſeiner Mutter vollkommen glich,
war uns nachgefolgt, und ſo ſtand ich in
der ſonderbarſten Gegenwart, zwiſchen der
Vergangenheit und Zukunft, wie in einem
Orangenwalde, wo in einem kleinen Bezirk
Blüthen und Früchte ſtufenweis neben ein¬
ander leben. Die Muhme ging hinaus, ei¬
nige Erfriſchung zu holen, ich gab dem ehe¬
mals ſo geliebten Geſchöpfe die Hand, und
ſagte zu ihr: ich habe eine rechte Freude,
Sie wieder zu ſehen. — Sie ſind ſehr gut,
mir das zu ſagen, verſetzte ſie; aber auch
ich kann Ihnen verſichern, daß ich eine un¬
ausſprechliche Freude habe. Wie oft habe
ich mir gewünſcht, Sie nur noch Einmal in
meinem Leben wieder zu ſehen, ich habe es
in Augenblicken gewünſcht, die ich für meine
letzten hielt; ſie ſagte das mit einer geſetzten
Stimme, ohne Rührung, mit jener Natür¬
lichkeit, die mich ehemals ſo ſehr an ihr ent¬
[140] zückte. Die Muhme kam wieder, ihr Vater
dazu — und ich überlaſſe euch zu denken,
mit welchem Herzen ich blieb, und mit wel¬
chem ich mich entfernte.


[141]

Achtes Capitel.

Wilhelm hatte auf ſeinem Wege nach der
Stadt die edlen weiblichen Geſchöpfe, die er
kannte und von denen er gehört hatte, im
Sinne, ihre ſonderbaren Schickſale, die we¬
nig erfreuliches enthielten, waren ihm ſchmerz¬
lich gegenwärtig. Ach! rief er aus, arme
Mariane! was werde ich noch von dir er¬
fahren müſſen? und dich, herrliche Amazone,
edler Schutzgeiſt, dem ich ſo viel ſchuldig
bin, dem ich überall zu begegnen hoffe, und
den ich leider nirgends finde, in welchen
traurigen Umſtänden treff ich dich vielleicht,
wenn du mir einſt wieder begegneſt.


In der Stadt war niemand von ſeinen
Bekannten zu Hauſe; er eilte auf das Thea¬
ter; er glaubte, ſie in der Probe zu finden,
[142] alles war ſtill, das Haus ſchien leer, doch
ſah er einen Laden offen. Als er auf die
Bühne kam, fand er Aureliens alte Diene¬
rinn beſchäftigt Leinwand zu einer neuen De¬
coration zuſammen zu nähen, es fiel nur ſo
viel Licht herein, als nöthig war ihre Arbeit
zu erhellen; Felix und Mignon ſaßen neben
ihr auf der Erde, beyde hielten ein Buch,
und indem Mignon laut las, ſagte ihr Fe¬
lix alle Worte nach, als wenn er die Buch¬
ſtaben kennte, als wenn er auch zu leſen
verſtünde.


Die Kinder ſprangen auf und begrüßten
den Ankommenden; er umarmte ſie aufs zärt¬
lichſte, und führte ſie näher zu der Alten.
Biſt Du es? ſagte er zu ihr mit Ernſt, die
dieſes Kind Aurelien zugeführt hatte; ſie ſah
von ihrer Arbeit auf, und wendete ihr Ge¬
ſicht zu ihm, er ſah ſie in vollem Lichte, er¬
ſchrack, trat einige Schritte zurück, es war
die alte Barbara.


[143]

Wo iſt Mariane? rief er aus, — weit
von hier, verſetzte die Alte.


Und Felix?


Iſt der Sohn dieſes unglücklichen nur all¬
zuzärtlich liebenden Mädchens? Möchten Sie
niemals empfinden, was Sie uns gekoſtet
haben, möchte der Schatz, den ich Ihnen
überliefere, Sie ſo glücklich machen, als er
uns unglücklich gemacht hat.


Sie ſtand auf, um wegzugehen, Wilhelm
hielt ſie feſt; ich denke Ihnen nicht zu ent¬
laufen, ſagte Sie, laſſen Sie mich ein Do¬
cument holen, das Sie erfreuen und ſchmer¬
zen wird. Sie entfernte ſich, und Wilhelm
ſah den Knaben mit einer ängſtlichen Freude
an, er durfte ſich das Kind noch nicht zu¬
eignen. Er iſt Dein, rief Mignon, er iſt
Dein! und drückte das Kind an Wilhelms
Knie.


Die Alte kam, und überreichte ihm einen
[144] Brief. Hier ſind Marianens letzte Worte,
ſagte ſie.


Sie iſt todt! rief er aus.


Todt! ſagte die Alte; möchte ich Ihnen
doch alle Vorwürfe erſparen können.


Überraſcht und verwirrt erbrach Wilhelm
den Brief; er hatte aber kaum die erſten
Worte geleſen, als ihn ein bittrer Schmerz
ergriff, er ließ den Brief fallen, ſtürzte auf
eine Raſenbank, und blieb eine Zeit lang
liegen. Mignon bemühte ſich um ihn. In¬
deſſen hatte Felix den Brief aufgehoben, und
zerrte ſeine Geſpielinn ſo lange, bis dieſe
nachgab, und zu ihm kniete und ihm vorlas.
Felix wiederholte die Worte, und Wilhelm
war genöthigt ſie zweymal zu hören. »Wenn
dieſes Blatt jemals zu Dir kommt, ſo be¬
daure Deine unglückliche Geliebte, Deine
Liebe hat ihr den Tod gegeben, der Knabe,
deſſen Geburt ich nur wenige Tage überlebe,
iſt[145] iſt Dein, ich ſterbe Dir treu, ſo ſehr der
Schein auch gegen mich ſprechen mag; mit
Dir verlohr ich alles, was mich an das Le¬
ben feſſelte. Ich ſterbe zufrieden, da man
mir verſichert, das Kind ſey geſund und
werde leben. Höre die alte Barbara, verzeih
ihr, leb wohl und vergiß mich nicht.«


Welch ein ſchmerzlicher und noch zu ſei¬
nem Troſte halb räzelhafter Brief! deſſen
Inhalt ihm erſt recht fühlbar ward, da ihn
die Kinder ſtockend und ſtammelnd vortru¬
gen und wiederholten.


Da haben Sie es nun! rief die Alte,
ohne abzuwarten, bis er ſich erholt hatte;
danken Sie dem Himmel, daß, nach dem
Verluſte eines ſo guten Mädchens, Ihnen
noch ein ſo vortreffliches Kind übrig bleibt.
Nichts wird Ihrem Schmerze gleichen, wenn
Sie vernehmen, wie das gute Mädchen Ih¬
nen bis ans Ende treu geblieben, wie un¬
K[146] glücklich ſie geworden iſt, und was ſie Ih¬
nen alles aufgeopfert hat.


Laß mich den Becher des Jammers und
der Freuden, rief Wilhelm aus, auf einmal
trinken! überzeuge mich, ja überrede mich
nur, daß ſie ein gutes Mädchen war, daß
ſie meine Achtung wie meine Liebe verdiente,
und überlaß mich dann meinen Schmerzen
über ihren unerſetzlichen Verluſt.


Es iſt jetzt nicht Zeit, verſetzte die Alte,
ich habe zu thun, und wünſchte nicht, daß
man uns beyſammen fände. Laſſen Sie es
ein Geheimniß ſeyn, daß Felix Ihnen ange¬
hört; ich hätte über meine bisherige Verſtel¬
lung zu viel Vorwürfe von der Geſellſchaft
zu erwarten; Mignon verräth uns nicht, ſie
iſt gut und verſchwiegen.


Ich wußte es lange und ſagte nichts, ver¬
ſetzte Mignon, — Wie iſt es möglich, rief
die Alte — woher? fiel Wilhelm ein.


[147]

Der Geiſt hat mir’s geſagt.


Wie? wo?


Im Gewölbe, da der Alte das Meſſer
zog, rief mirs zu: Rufe ſeinen Vater, und
da fielſt Du mir ein.


Wer rief denn?


Ich weiß nicht, im Herzen, im Kopfe,
ich war ſo Angſt, ich zitterte, ich betete, da
riefs, und ich verſtands.


Wilhelm druckte ſie an ſein Herz, em¬
pfahl ihr Felix, und entfernte ſich. Er be¬
merkte erſt zuletzt, daß ſie viel bläſſer und
magerer geworden war, als er ſie verlaſſen
hatte. Madame Melina fand er von ſeinen
Bekannten zuerſt, ſie begrüßte ihn aufs
freundlichſte. O! daß Sie doch alles, rief
ſie aus, bey uns finden möchten, wie Sie
wünſchen!


Ich zweifle daran, ſagte Wilhelm, und
erwartete es nicht. Geſtehen Sie nur, man
K 2[148] hat alle Anſtalten gemacht mich entbehren
zu können.


Warum ſind Sie auch weggegangen! ver¬
ſetzte die Freundin.


Man kann die Erfahrung nicht früh ge¬
nug machen, wie entbehrlich man in der
Welt iſt. Welche wichtige Perſonen glau¬
ben wir zu ſeyn! Wir denken allein den
Kreis zu beleben, in welchem wir wirken;
in unſerer Abweſenheit muß, bilden wir uns
ein, Leben, Nahrung und Athem ſtocken,
und die Lücke, die entſteht, wird kaum be¬
merkt, ſie füllt ſich ſo geſchwind wieder aus,
ja ſie wird oft nur der Platz, wo nicht für
etwas beſſeres, doch für etwas angeneh¬
meres.


Und die Leiden unſerer Freunde bringen
wir nicht in Anſchlag?


Auch unſere Freunde thun wohl, wenn
ſie ſich bald finden, wenn ſie ſich ſagen: da
[149] wo du biſt, da wo du bleibſt, wirke was du
kannſt, ſey thätig und gefällig, und laß dir
die Gegenwart heiter ſeyn.


Bey näherer Erkundigung fand Wilhelm,
was er vermuthet hatte: die Oper war ein¬
gerichtet, und zog die ganze Aufmerkſamkeit
des Publikums an ſich. Seine Rollen waren
inzwiſchen durch Laertes und Horatio beſetzt
worden, und beyde lockten den Zuſchauern
einen weit lebhaftern Beyfall ab, als er je¬
mals hatte erlangen können.


Laertes trat herein, und Madame Me¬
lina rief aus! ſehn Sie hier dieſen glücklichen
Menſchen, der bald ein Capitaliſt, oder Gott
weiß was werden wird. Wilhelm umarmte
ihn, und fühlte ein vortrefflich feines Tuch
an ſeinem Rocke, ſeine übrige Kleidung war
einfach, aber alles vom beſten Zeuge.


Löſen Sie mir das Räthſel! rief Wil¬
helm aus.


[150]

Es iſt noch Zeit genug, verſetzte Laertes,
um zu erfahren, daß mir mein Hin– und her¬
laufen nunmehr bezahlt wird, daß ein Pa¬
tron eines großen Handelshauſes von mei¬
ner Unruhe, meinen Kenntniſſen und Be¬
kanntſchaften Vortheil zieht, und mir einen
Theil davon abläßt; ich wollte viel drum
geben, wenn ich mir dabey auch Zutrauen
gegen die Weiber ermäkeln könnte, denn es
iſt eine hübſche Nichte im Hauſe, und ich
merke wohl, wenn ich wollte, könnte ich
bald ein gemachter Mann ſeyn.


Sie wiſſen wohl noch nicht, ſagte Ma¬
dame Melina, daß ſich indeſſen auch unter
uns eine Heirath gemacht hat? Serlo iſt
wirklich mit der ſchönen Otilie öffentlich ge¬
traut, da der Vater ihre heimliche Vertrau¬
lichkeit nicht gut heißen wollte.


So unterhielten ſie ſich über manches,
was ſich in ſeiner Abweſenheit zugetragen
[151] hatte, und er konnte gar wohl bemerken,
daß er, dem Geiſt und dem Sinne der Ge¬
ſellſchaft nach, wirklich längſt verabſchiedet
war.


Mit Ungedult erwartete er die Alte, die
ihm tief in der Nacht ihren ſonderbaren Be¬
ſuch angekündigt hatte. Sie wollte kommen,
wenn alles ſchlief, und verlangte ſolche Vor¬
bereitungen und Vorſichten, eben als wenn
das jüngſte Mädchen ſich zu einem Gelieb¬
ten ſchleichen wollte. Er las indeß Maria¬
nens Brief wohl hundertmal durch, las mit
unausſprechlichem Entzücken das Wort Treue
von ihrer geliebten Hand, und mit Entſetzen
die Ankündigung ihres Todes, deſſen An¬
näherung ſie nicht zu fürchten ſchien.


Mitternacht war vorbey, als etwas an
der halboffnen Thüre rauſchte, und die Alte
mit einem Körbchen hereintrat: ich ſoll Euch,
ſagte ſie, die Geſchichte unſerer Leiden er¬
[152] zählen, und ich muß erwarten, daß Ihr un¬
gerührt dabey ſitzt, daß Ihr nur, um Eure
Neugierde zu befriedigen, mich ſo ſorgſam
erwartet, und daß Ihr Euch jetzt, wie da¬
mals, in Eure kalte Eigenliebe hüllet, wenn
uns das Herz bricht. Aber ſeht her! ſo
brachte ich an jenem glücklichen Abend die
Champagnerflaſche hervor, ſo ſtellte ich die
drey Gläſer auf den Tiſch, und ſo fingt Ihr
an, uns mit gutmüthigen Kindergeſchichten
zu täuſchen und einzuſchläfern, wie ich Euch
jetzt mit traurigen Wahrheiten aufklären und
wach erhalten muß.


Wilhelm wußte nicht, was er ſagen ſollte,
als die Alte wirklich den Stöpſel ſpringen
ließ, und die drey Gläſer vollſchenkte.


Trinkt! rief ſie, nachdem ſie ihr ſchäu¬
mendes Glas ſchnell ausgeleert hatte, trinkt!
eh’ der Geiſt verraucht! dieſes dritte Glas
ſoll zum Andenken meiner unglücklichen Freun¬
[153] din ungenoſſen verſchäumen. Wie roth wa¬
ren ihre Lippen, als ſie Euch damals Be¬
ſcheid that! Ach! und nun auf ewig ver¬
blaßt und erſtarrt!


Sibylle! Furie! rief Wilhelm aus, indem
er aufſprang und mit der Fauſt auf den
Tiſch ſchlug, welch ein böſer Geiſt beſitzt und
treibt Dich? für wen hältſt Du mich, daß
Du denkſt, die einfachſte Geſchichte von Ma¬
rianens Tod und Leiden werde mich nicht
empfindlich genug kränken, daß Du noch
ſolche hölliſche Kunſtgriffe brauchſt, um meine
Marter zu ſchärfen. Geht Deine unerſätt¬
liche Völlerey ſo weit, daß Du beym Tod¬
tenmahle ſchwelgen mußt, ſo trink und rede!
Ich habe Dich von je her verabſcheut, und
noch kann ich mir Marianen nicht unſchul¬
dig denken, wenn ich Dich, ihre Geſellſchaf¬
terin, nur anſehe.


Gemach, mein Herr! verſetzte die Alte:
[154] Sie werden mich nicht aus meiner Faſſung
bringen. Sie ſind uns noch ſehr verſchul¬
det, und von einem Schuldner läßt man
ſich nicht übel begegnen. Aber Sie haben
recht, auch meine einfachſte Erzählung iſt
Strafe genug für Sie. So hören Sie denn
den Kampf und den Sieg Marianens, um
die Ihrige zu bleiben.


Die Meinige! rief Wilhelm aus, welch
ein Mährchen willſt Du beginnen?


Unterbrechen Sie mich nicht, fiel ſie ein,
hören Sie mich, und dann glauben Sie,
was Sie wollen, es iſt ohnedem jetzt ganz
einerley. Haben Sie nicht am letzten Abend,
als Sie bey uns waren, ein Billet gefun¬
den und mitgenommen?


Ich fand das Blatt erſt, als ich es mit¬
genommen hatte, es war in das Halstuch
verwickelt, das ich aus inbrünſtiger Liebe in
den Buſen ſteckte.


[155]

Was enthielt das Papier?


Die Ausſichten eines verdrießlichen Lieb¬
habers, in der nächſten Nacht beſſer, als
geſtern aufgenommen zu werden. Und daß
man ihm Wort gehalten hat, habe ich mit
eignen Augen geſehen, denn er ſchlich früh
vor Tage aus Eurem Hauſe hinweg.


Sie können ihn geſehen haben; aber was
bey uns vorging, wie traurig Mariane dieſe
Nacht, wie verdrießlich ich ſie zubrachte, das
werden Sie erſt jetzt erfahren. Ich will ganz
aufrichtig ſeyn, weder leugnen noch beſchöni¬
gen, daß ich Marianen beredete, ſich einem
gewiſſen Norberg zu ergeben, ſie folgte, ja
ich kann ſagen ſie gehorchte mir mit Wider¬
willen; er war reich, er ſchien verliebt, und
ich hoffte er werde beſtändig ſeyn. Gleich
darauf mußte er eine Reiſe machen, und
Mariane lernte Sie kennen, was hatte ich
da nicht auszuſtehen! was zu hindern! was
[156] zu erdulden! o! rief ſie manchmal, hätteſt
du meiner Jugend, meiner Unſchuld nur noch
vier Wochen geſchont, ſo hätte ich einen
würdigen Gegenſtand meiner Liebe gefunden,
ich wäre ſeiner würdig geweſen, und die
Liebe hätte das mit einem ruhigen Bewußt¬
ſeyn geben dürfen, was ich jetzt wider Wil¬
len verkauft habe. Sie überließ ſich ganz
ihrer Neigung, und ich darf nicht fragen,
ob ſie glücklich waren? Ich hatte eine un¬
eingeſchränkte Gewalt über ihren Verſtand,
denn ich kannte alle Mittel ihre kleinen Nei¬
gungen zu befriedigen; ich hatte keine Macht
über ihr Herz, denn niemals billigte ſie, was
ich für ſie that, wozu ich ſie bewegte, wenn
ihr Herz widerſprach, nur der unbezwing¬
lichen Noth gab ſie nach, und die Noth er¬
ſchien ihr bald ſehr drückend. In den erſten
Zeiten ihrer Jugend hatte es ihr an nichts
gemangelt, ihre Familie verlohr durch eine
[157] Verwickelung von Umſtänden ihr Vermögen,
das arme Mädchen war an mancherley Be¬
dürfniſſe gewöhnt, und ihrem kleinen Ge¬
müth waren gewiſſe gute Grundſätze einge¬
prägt, die ſie unruhig machten, ohne ihr
viel zu helfen. Sie hatte nicht die mindeſte
Gewandtheit in weltlichen Dingen, ſie war
unſchuldig im eigentlichen Sinne; ſie hatte
keinen Begriff, daß man kaufen könne, ohne
zu bezahlen, für nichts war ihr mehr bange,
als wenn ſie ſchuldig war, ſie hätte immer
lieber gegeben als genommen, und nur eine
ſolche Lage machte es möglich, daß ſie ge¬
nöthigt ward, ſich ſelbſt hinzugeben, um eine
Menge kleiner Schulden los zu werden.


Und hätteſt Du, fuhr Wilhelm auf, ſie
nicht retten können?


O ja, verſetzte die Alte, mit Hunger und
Noth, mit Kummer und Entbehrung, und
darauf war ich niemals eingerichtet.


[158]

Abſcheuliche, niederträchtige Kupplerinn!
ſo haſt Du das unglückliche Geſchöpf ge¬
opfert? ſo haſt Du ſie Deiner Kehle, Dei¬
nem unerſättlichen Heißhunger hingegeben?


Ihr thätet beſſer Euch zu mäßigen, und
mit Schimpfreden inne zu halten, verſetzte
die Alte. Wenn Ihr ſchimpfen wollt, ſo geht
in Eure großen vornehmen Häuſer, da wer¬
det Ihr Mütter finden, die recht ängſtlich
beſorgt ſind, wie ſie für ein liebenswürdiges,
himmliſches Mädchen den allerabſcheulich¬
ſten Menſchen auffinden wollen, wenn er
nur zugleich der reichſte iſt. Seht das arme
Geſchöpf vor ſeinem Schickſale zittern und
beben, und nirgends Troſt finden, als bis
ihr irgend eine erfahrne Freundin begreiflich
macht, daß ſie durch den Eheſtand das Recht
erwerbe, über ihr Herz und ihre Perſon
künftig nach Gefallen diſponiren zu können.


Schweig! rief Wilhelm, glaubſt Du denn,
[159] daß ein Verbrechen durch das andere ent¬
ſchuldigt werden könne? erzähle! ohne wei¬
tere Anmerkungen zu machen.


So hören Sie, ohne mich zu tadeln!
Mariane ward wider meinen Willen die
Ihre. Bey dieſem Abentheuer habe ich mir
wenigſtens nichts vorzuwerfen. Norberg kam
zurück, er eilte Marianen zu ſehen, die ihn
kalt und verdrießlich aufnahm, und ihm nicht
einen Kuß erlaubte. Ich brauchte meine
ganze Kunſt, um ihr Betragen zu entſchul¬
digen, ich ließ ihn merken, daß ein Beicht¬
vater ihr das Gewiſſen geſchärft habe, und
daß man ein Gewiſſen, ſo lange es ſpricht,
reſpectiren. müſſe. Ich brachte ihn dahin,
daß er ging, und ich verſprach ihm mein
Beſtes zu thun. Er war reich und roh, aber
er hatte einen Grund von Gutmüthigkeit,
und liebte Marianen auf das äußerſte. Er
verſprach mir Geduld, und ich arbeitete deſto
[160] lebhafter, um ihn nicht zu ſehr zu prüfen.
Ich hatte mit Marianen einen harten Stand,
ich überredete ſie, ja ich kann ſagen, ich
zwang ſie endlich, durch die Drohung daß
ich ſie verlaſſen würde, an ihren Liebhaber
zu ſchreiben, und ihn auf die Nacht einzu¬
laden. Sie kamen und rafften zufälliger
Weiſe ſeine Antwort in dem Halstuch auf.
Ihre unvermuthete Gegenwart hatte mir ein
böſes Spiel gemacht. Kaum waren Sie weg,
ſo ging die Qual von neuem an, ſie ſchwur,
daß ſie Ihnen nicht untreu werden könne,
und war ſo leidenſchaftlich, ſo außer ſich,
daß ſie mir ein herzliches Mitleid ablockte;
ich verſprach ihr endlich, daß ich auch dieſe
Nacht Norbergen beruhigen, und ihn unter
allerley [Vorwänden] entfernen wollte; ich
bat ſie zu Bette zu gehen, allein ſie ſchien
mir nicht zu trauen: ſie blieb angezogen,
und[161] und ſchlief zuletzt, bewegt und ausgeweint,
wie ſie war, in ihren Kleidern ein.


Norberg kam, ich ſuchte ihn abzuhalten,
ich ſtellte ihm ihre Gewiſſensbiſſe, ihre Reue
mit den ſchwärzeſten Farben vor, er wünſchte
ſie nur zu ſehen, und ich ging in das Zim¬
mer, um ſie vorzubereiten, er ſchritt mir
nach, und wir traten beyde zu gleicher Zeit
vor ihr Bette. Sie erwachte, ſprang mit
Wuth auf und entriß ſich unſern Armen; ſie
beſchwur und bat, ſie flehte, drohte und ver¬
ſicherte, daß ſie nicht nachgeben würde. Sie
war unvorſichtig genug, über ihre wahre Lei¬
denſchaft einige Worte fallen zu laſſen, die
der arme Norberg im geiſtlichen Sinne deu¬
ten mußte. Endlich verließ er ſie, und ſie
ſchloß ſich ein. Ich behielt ihn noch lange
bey mir, und ſprach mit ihm über ihren Zu¬
ſtand, daß ſie guter Hoffnung ſey, und daß
man das arme Mädchen ſchonen müſſe. Er
L[162] fühlte ſich ſo ſtolz auf ſeine Vaterſchaft, er
freute ſich ſo ſehr auf einen Knaben, daß er
alles einging, was ſie von ihm verlangte,
und daß er verſprach lieber einige Zeit zu
verreiſen, als ſeine Geliebte zu ängſtigen,
und ihr durch dieſe Gemüthsbewegungen zu
ſchaden. Mit dieſen Geſinnungen ſchlich er
Morgens früh von mir weg, und Sie, mein
Herr, wenn Sie Schildwache geſtanden ha¬
ben, ſo hätte es zu ihrer Glückſeeligkeit
nichts weiter bedurft, als in den Buſen ih¬
res Nebenbuhlers zu ſehen, den Sie ſo be¬
günſtigt, ſo glücklich hielten, und deſſen Er¬
ſcheinung Sie zur Verzweiflung brachte.


Redeſt Du wahr? ſagte Wilhelm.


So wahr, ſagte die Alte, als ich noch
hoffe Sie zur Verzweiflung zu bringen.


Ja gewis Sie würden verzweifeln, wenn
ich Ihnen das Bild unſers nächſten Morgens
recht lebhaft darſtellen könnte. Wie heiter
[163] wachte ſie auf! wie freundlich rief ſie mich
herein! wie lebhaft dankte ſie mir! wie herz¬
lich drückte ſie mich an ihren Buſen! Nun,
ſagte ſie, indem ſie lächelnd vor den Spie¬
gel trat, darf ich mich wieder an mir ſelbſt,
mich an meiner Geſtalt freuen, da ich wie¬
der mir, da ich meinem einzig geliebten
Freund angehöre. Wie iſt es ſo ſüß über¬
wunden zu haben! welch eine himmliſche Em¬
pfindung iſt es ſeinem Herzen zu folgen!
Wie dank ich dir, daß du dich meiner ange¬
nommen, daß du deine Klugheit, deinen
Verſtand auch einmal zu meinem Vortheil
angewendet haſt! ſteh mir bey, und erſinne,
was mich ganz glücklich machen kann.


Ich gab ihr nach, ich wollte ſie nicht rei¬
zen, ich ſchmeichelte ihrer Hoffnung, und ſie
liebkoßte mich auf das anmuthigſte. Ent¬
fernte ſie ſich einen Augenblick vom Fenſter,
ſo mußte ich Wache ſtehen, denn Sie ſoll¬
L 2[164] ten nun ein für allemal vorbey gehen, man
wollte Sie wenigſtens ſehen, ſo ging der
ganze Tag unruhig hin. Nachts, zur ge¬
wöhnlichen Stunde, erwarteten wir Sie ganz
gewis, ich paßte ſchon an der Treppe, die
Zeit ward mir lang, ich ging wieder zu ihr
hinein. Ich fand ſie zu meiner Verwunde¬
rung in ihrer Officierstracht, ſie ſah unglaub¬
lich heiter und reizend aus. Verdien’ ich
nicht, ſagte ſie, heute in Mannstracht zu
erſcheinen? habe ich mich nicht brav gehal¬
ten. Mein Geliebter ſoll mich heute wie
das erſtemal ſehen, ich will ihn ſo zärtlich
und mit mehr Freiheit an mein Herz drücken,
als damals; denn bin ich jetzt nicht vielmehr
die ſeine als damals, da mich ein edler Ent¬
ſchluß noch nicht frey gemacht hatte? Aber,
fügte ſie nach einigem Nachdenken hinzu,
noch hab ich nicht ganz gewonnen, noch muß
ich erſt das Äußerſte wagen, um ſeiner werth,
[165] um ſeines Beſitzes gewis zu ſeyn; ich muß
ihm alles entdecken, meinen ganzen Zuſtand
offenbaren, und ihm alsdann überlaſſen, ob
er mich behalten oder verſtoßen will, dieſe
Scene bereite ich ihm, bereite ich mir zu,
und wäre ſein Gefühl mich zu verſtoßen fä¬
hig; ſo würde ich alsdann ganz wieder mir
ſelbſt angehören, ich würde in meiner Strafe
meinen Troſt finden, und alles erdulden,
was das Schickſal mir auferlegen wollte.


Mit dieſen Geſinnungen, mit dieſen Hoff¬
nungen, mein Herr, erwartete Sie das lie¬
benswürdige Mädchen, Sie kamen nicht; o!
wie ſoll ich den Zuſtand des Wartens und
Hoffens beſchreiben? Ich ſehe dich noch vor
mir, mit welcher Liebe, mit welcher Inbrunſt
du von dem Manne ſprachſt, deſſen Grau¬
ſamkeit du noch nicht erfahren hatteſt.


Gute liebe Barbara, rief Wilhelm, in¬
dem er aufſprang und die Alte bey der Hand
[166] faßte: es iſt nun genug der Verſtellung, ge¬
nug der Vorbereitung! Dein gleichgültiger,
Dein ruhiger, Dein zufriedner Ton hat Dich
verrathen. Gieb mir Marianen wieder, ſie
lebt, ſie iſt in der Nähe. Nicht umſonſt
haſt Du dieſe ſpäte einſame Stunde zu Dei¬
nem Beſuche gewählt, nicht umſonſt haſt Du
mich durch dieſe entzückende Erzählung vor¬
bereitet. Wo haſt Du ſie? wo verbirgſt Du
ſie? ich glaube Dir alles, ich verſpreche Dir
alles zu glauben, wenn Du mir ſie zeigſt,
wenn Du ſie meinen Armen wieder giebſt.
Ihren Schatten habe ich ſchon im Fluge ge¬
ſehen, laß mich ſie wieder in meine Arme
faſſen! Ich will vor ihr auf den Knien lie¬
gen, ich will ſie um Vergebung bitten, ich
will ihr zu ihrem Kampfe, zu ihrem Siege
über ſich und dich Glück wünſchen, ich will
ihr meinen Felix zuführen. Komm! wo haſt
Du ſie verſteckt? laß ſie, laß mich nicht län¬
[167] ger in Ungewisheit, Dein Endzweck iſt er¬
reicht, wo haſt Du ſie verborgen? Komm,
daß ich ſie mit dieſem Licht beleuchte! daß
ich wieder ihr holdes Angeſicht ſehe!


Er hatte die Alte vom Stuhl aufgezo¬
gen, ſie ſah ihn ſtarr an, die Thränen ſtürz¬
ten ihr aus den Augen, und ein ungeheurer
Schmerz ergriff ſie. Welch ein unglücklicher
Irrthum, rief ſie aus, läßt Sie noch einen
Augenblick hoffen! — Ja, ich habe ſie ver¬
borgen, aber unter die Erde, weder das Licht
der Sonne noch eine vertrauliche Kerze wird
ihr holdes Angeſicht jemals wieder erleuch¬
ten. Führen Sie den guten Felix an ihr
Grab, und ſagen Sie ihm, da liegt deine
Mutter, die dein Vater ungehört verdammt
hat. Das liebe Herz ſchlägt nicht mehr vor
Ungeduld Sie zu ſehen, nicht etwa in einer
benachbarten Kammer wartet ſie auf den
Ausgang meiner Erzählung, oder meines
[168] Mährchens, die dunkle Kammer hat ſie auf¬
genommen, wohin kein Bräutigam folgt,
woraus man keinem Geliebten entgegen geht.


Sie warf ſich auf die Erde an einem
Stuhle nieder, und weinte bitterlich; Wil¬
helm war zum erſtenmale völlig überzeugt,
daß Mariane todt ſey, er befand ſich in ei¬
nem traurigen Zuſtande. Die Alte hub ſich
auf. Ich habe Ihnen weiter nichts zu ſa¬
gen, rief ſie, und warf ein Packet auf den
Tiſch, hier dieſe Briefſchaften mögen völlig
Ihre Grauſamkeit beſchämen, leſen Sie dieſe
Blätter mit trocknen Augen durch, wenn es
Ihnen möglich iſt. Sie ſchlich leiſe fort, und
Wilhelm hatte dieſe Nacht das Herz nicht,
die Brieftaſche zu öffnen, er hatte ſie ſelbſt
Marianen geſchenkt, er wußte, daß ſie jedes
Blättchen, das ſie von ihm erhalten hatte,
ſorgfältig darinn aufhob. Den andern Mor¬
gen vermochte er es über ſich, er lößte das
[169] Band, und es fielen ihm kleine Zettelchen
mit Bleyſtift von ſeiner eigenen Hand ge¬
ſchrieben entgegen, und riefen ihm jede Si¬
tuation von dem Erſten Tage ihrer anmu¬
thigen Bekanntſchaft, bis zu dem letzten ih¬
rer grauſamen Trennung, wieder herbey. Al¬
lein nicht ohne die lebhafteſten Schmerzen
durchlas er eine kleine Sammlung von Bil¬
leten, die an ihn geſchrieben waren, und
die, wie er aus dem Inhalt ſah, von Wer¬
nern waren zurückgewieſen worden.


Keines meiner Blätter hat bis zu Dir
durchdringen können, mein Bitten und Fle¬
hen hat Dich nicht erreicht; haſt Du ſelbſt
dieſe grauſamen Befehle gegeben? ſoll ich
Dich nie wieder ſehen? noch einmal verſuch
ich es, ich bitte Dich: komm, o komm! ich
verlange Dich nicht zu behalten, wenn ich
[170] Dich nur noch einmal an mein Herz drücken
kann.


Wenn ich ſonſt bey Dir ſaß, Deine
Hände hielt, Dir in die Augen ſah, und
mit vollem Herzen der Liebe und des Zu¬
trauens zu Dir ſagte: lieber, lieber guter
Mann! das hörteſt Du ſo gern, ich mußt’
es Dir ſo oft wiederholen, ich wiederhole es
noch einmal; lieber, lieber guter Mann! ſey
gut, wie Du warſt, komm und laß mich
nicht in meinem Elende verderben.


Du hältſt mich für ſchuldig, ich bin es
auch, aber nicht wie Du denkſt. Komm, da¬
mit ich nur den einzigen Troſt habe, von
Dir ganz gekannt zu ſeyn, es gehe mir nach¬
her wie es wolle.


Nicht um meinet willen, allein auch um
[171] Dein ſelbſt willen fleh ich Dich an, zu kom¬
men. Ich fühle die unerträglichen Schmer¬
zen, die Du leideſt, indem Du mich fliehſt;
komm, daß unſere Trennung weniger grau¬
ſam werde! Ich war vielleicht nie Deiner
würdig, als eben in dem Augenblick, da Du
mich in ein grenzenloſes Elend zurück ſtößeſt.


Bey allem, was heilig iſt, bey allem, was
ein menſchliches Herz rühren kann, ruf ich
Dich an! es iſt um eine Seele, es iſt um
ein Leben zu thun, um zwey Leben, von
denen Dir eins ewig theuer ſeyn muß. Dein
Argwohn wird auch das nicht glauben, und
doch werde ich es in der Stunde des Todes
ausſprechen: das Kind, das ich unter dem
Herzen trage, iſt Dein. Seitdem ich Dich
liebe, hat kein anderer mir auch nur die
Hand gedrückt; o daß Deine Liebe, daß
[172] Deine Rechtſchaffenheit die Gefährten mei¬
ner Jugend geweſen wären!


Du willſt mich nicht hören? ſo muß ich
denn zuletzt wohl verſtummen, aber dieſe
Blätter ſollen nicht untergehen, vielleicht
können ſie noch zu Dir ſprechen, wenn das
Leichentuch ſchon meine Lippe bedeckt, und
wenn die Stimme Deiner Reue nicht mehr
zu meinem Ohr reichen kann. Durch mein
trauriges Leben bis an den letzten Augen¬
blick wird das mein einziger Troſt ſeyn: daß
ich ohne Schuld gegen Dich war, wenn ich
mich auch nicht unſchuldig nennen durfte.


Wilhelm konnte nicht weiter, er überließ
ſich ganz ſeinem Schmerz, aber noch mehr
war er bedrängt, als Laertes herein trat,
dem er ſeine Empfindungen zu verbergen
ſuchte. Dieſer brachte einen Beutel mit Du¬
[173] caten hervor, zählte und rechnete, und ver¬
ſicherte Wilhelmen: es ſey nichts ſchöneres
in der Welt, als wenn man eben auf dem
Wege ſey reich zu werden, es könne uns
auch alsdenn nichts ſtören oder abhalten.
Wilhelm erinnerte ſich ſeines Traums und
lächelte; aber zugleich gedachte er auch mit
Schaudern: daß in jenem Traumgeſichte Ma¬
riane ihn verlaſſen, um ſeinem verſtorbenen
Vater zu folgen, und daß beyde zuletzt wie
Geiſter ſchwebend ſich um den Garten be¬
wegt hatten.


Laertes riß ihn aus ſeinem Nachdenken,
und führte ihn auf ein Kaffeehaus, wo ſich
ſogleich mehrere Perſonen um ihn verſam¬
melten, die ihn ſonſt gern auf dem Theater
geſehen hatten, ſie freuten ſich ſeiner Ge¬
genwart, bedauerten aber, daß er, wie ſie
hörten, die Bühne verlaſſen wolle; ſie ſpra¬
chen ſo beſtimmt und vernünftig von ihm
[174] und ſeinem Spiele, von dem Grade ſeines
Talentes, von ihren Hoffnungen, daß Wil¬
helm nicht ohne Rührung zuletzt ausrief: o
wie unendlich werth wäre mir dieſe Theil¬
nahme vor wenig Monaten geweſen! wie
belehrend und wie erfreuend! niemals hätte
ich mein Gemüth ſo ganz von der Bühne
abgewendet, und niemals wäre ich ſo weit
gekommen, am Publiko zu verzweifeln.


Dazu ſollte es überhaupt nicht kommen,
ſagte ein ältlicher Mann, der hervortrat, das
Publikum iſt groß, wahrer Verſtand und
wahres Gefühl ſind nicht ſo ſelten als man
glaubt, nur muß der Künſtler niemals einen
unbedingten Beyfall für das, was er her¬
vorbringt, verlangen, denn eben der unbe¬
dingte iſt am wenigſten werth, und den be¬
dingten wollen die Herren nicht gerne. Ich
weiß wohl, im Leben wie in der Kunſt muß
man mit ſich zu Rathe gehen, wenn man
[175] etwas thun und hervorbringen ſoll; wenn es
aber gethan oder vollendet iſt, ſo darf man
mit Aufmerkſamkeit nur viele hören, und
man kann ſich mit einiger Übung aus dieſen
vielen Stimmen gar bald ein ganzes Urtheil
zuſammen ſetzen, denn diejenigen, die uns
dieſe Mühe erſparen könnten, halten ſich
meiſt ſtille genug.


Das ſollten ſie eben nicht, ſagte Wil¬
helm, ich habe ſo oft gehört, daß Menſchen,
die ſelbſt über gute Werke ſchwiegen, doch
beklagten und bedauerten, daß geſchwiegen
wird.


So wollen wir heute laut werden, rief
ein junger Mann, Sie müſſen mit uns ſpei¬
ſen, und wir wollen alles einholen, was wir
Ihnen und manchmal der guten Aurelie ſchul¬
dig geblieben ſind.


Wilhelm lehnte die Einladung ab, und
begab ſich zu Madame Melina, die er we¬
[176] gen der Kinder ſprechen wollte, indem er ſie
von ihr wegzunehmen gedachte.


Das Geheimnis der Alten war nicht zum
beſten bey ihm verwahrt. Er verrieth ſich,
als er den ſchönen Felix wieder anſichtig
ward. O! mein Kind ! rief er aus, mein lie¬
bes Kind! er hub ihn auf, und drückte ihn
an ſein Herz. Vater! was haſt Du mir mit¬
gebracht, rief das Kind. Mignon ſah beyde
an, als wenn es ſie warnen wollte, ſich nicht
zu verrathen.


Was iſt das für eine neue Erſcheinung?
ſagte Madame Melina. Man ſuchte die
Kinder bey Seite zu bringen, und Wilhelm,
der der Alten das ſtrengſte Geheimnis nicht
ſchuldig zu ſeyn glaubte, entdeckte ſeiner
Freundin das ganze Verhältnis. Madame
Melina ſah ihn lächelnd an. O! über die
leichtglaubigen Männer! rief ſie aus, wenn
nur etwas auf ihrem Wege iſt; ſo kann
man[177] man es ihnen ſehr leicht aufbürden, aber
dafür ſehen ſie ſich auch ein andermal weder
rechts noch links um, und wiſſen nichts zu
ſchätzen, als was ſie vorher mit dem Stem¬
pel einer willkührlichen Leidenſchaft bezeich¬
net haben. Sie konnte einen Seufzer nicht
unterdrücken, und wenn Wilhelm nicht ganz
blind geweſen wäre, ſo hätte er eine nie
ganz beſiegte Neigung in ihrem Betragen
erkennen müſſen.


Er ſprach nun mehr mit ihr von den Kin¬
dern, wie er Felix bey ſich zu behalten und
Mignon auf das Land zu thun gedächte.
Frau Melina, ob ſie ſich gleich ungerne von
beyden zugleich trennte, fand doch den Vor¬
ſchlag gut, ja nothwendig; Felix verwilderte
bey ihr, und Mignon ſchien einer freyen
Luft und anderer Verhältniſſe zu bedürfen,
das gute Kind war kränklich und konnte ſich
nicht erholen.


M[178]

Laſſen Sie ſich nicht irren, fuhr Madame
Melina fort, daß ich einige Zweifel, ob Ih¬
nen der Knabe wirklich zugehöre, leichtſinnig
geäußert habe. Der Alten iſt freylich wenig
zu trauen, doch kann eins, das Unwahrheit
zu ſeinem Nutzen erſinnt, auch einmal wahr
reden, wenn es die Wahrheiten nützlich fin¬
det. Aurelien hatte die Alte vorgeſpiegelt,
Felix ſey ein Sohn Lothario’s, und die Ei¬
genheit haben wir Weiber, daß wir die Kin¬
der unſerer Liebhaber recht herzlich lieben,
wenn wir ſchon die Mutter nicht kennen,
oder ſie von Herzen haſſen. Felix kam her¬
ein geſprungen, ſie drückte ihn an ſich, mit
einer Lebhaftigkeit, die ihr ſonst nicht ge¬
wöhnlich war.


Wilhelm eilte nach Hauſe, und beſtellte
die Alte, die ihn, jedoch nicht eher als in
der Dämmerung, zu beſuchen verſprach; er em¬
pfing ſie verdrießlich, und ſagte zu ihr: Es
[179] iſt nichts ſchändlichers in der Welt, als ſich
auf Lügen und Mährchen einzurichten! ſchon
haſt Du viel Böſes damit geſtiftet, und jetzt,
da Dein Wort das Glück meines Lebens ent¬
ſcheiden könnte, jetzt ſteh ich zweifelhaft, und
wage nicht das Kind in meine Arme zu
ſchließen, deſſen ungetrübter Beſitz mich
äußerſt glücklich machen würde. Ich kann
Dich, ſchändliche Kreatur, nicht ohne Haß
und Verachtung anſehen.


Euer Betragen kommt mir, wenn ich auf¬
richtig reden ſoll, verſetzte die Alte, ganz
unerträglich vor. Und wenns nun Euer
Sohn nicht wäre, ſo iſt es das ſchönſte, an¬
genehmſte Kind von der Welt, das man
gern für jeden Preis kaufen möchte, um es
nur immer um ſich zu haben. Iſt es nicht
werth, daß Ihr Euch ſeiner annehmt? ver¬
diene ich für meine Sorgfalt, für meine
Mühe mit ihm, nicht einen kleinen Unter¬
M 2[180] halt für mein künftiges Leben? O! ihr Her¬
ren, denen nichts abgeht, ihr habt gut von
Wahrheit und Gradheit reden; aber wie eine
arme Kreatur, deren geringſtem Bedürfniß
nichts entgegen kommt, die in ihren Verle¬
genheiten keinen Freund, keinen Rath, keine
Hülfe ſieht, wie die ſich durch die ſelbſtiſchen
Menſchen durchdrücken, und im Stillen dar¬
ben muß — davon würde manches zu ſagen
ſeyn, wenn ihr hören wolltet und könntet.
Haben Sie Marianens Briefe geleſen? es
ſind dieſelbigen, die ſie zu jener unglücklichen
Zeit ſchrieb. Vergebens ſuchte ich mich Ih¬
nen zu nähern, vergebens Ihnen dieſe Blät¬
ter zuzuſtellen, Ihr grauſamer Schwager
hatte Sie ſo umlagert, daß alle Liſt und
Klugheit vergebens war, und zuletzt, als er
mir und Marianen mit dem Gefängniß droh¬
te, mußte ich wohl alle Hoffnung aufgeben.
Trifft nicht alles mit dem überein, was ich
[181] erzählt habe? und ſetzt nicht Norbergs Brief
die ganze Geſchichte außer allem Zweifel?


Was für ein Brief? fragte Wilhelm.


Haben Sie ihn nicht in der Brieftaſche
gefunden? verſetzte die Alte.


Ich habe noch nicht alles durchleſen.


Geben Sie nur die Brieftaſche her, auf
dieſes Document kömmt alles an. Norbergs
unglückliches Billet hat die traurige Verwir¬
rung gemacht, ein anderes von ſeiner Hand
mag auch den Knoten löſen, in ſo fern am
Faden noch etwas gelegen iſt. Sie nahm
ein Blatt aus der Brieftaſche, Wilhelm er¬
kannte jene verhaßte Hand, er nahm ſich
zuſammen und las.


»Sag mir nur, Mädchen, wie vermagſt
Du das über mich? hätt’ ich doch nicht ge¬
glaubt, daß eine Göttinn ſelbſt mich zum
ſeufzenden Liebhaber umſchaffen könnte. An
ſtatt mir mit offenen Armen entgegen zu ei¬
[182] len, ziehſt Du Dich zurück; man hätte es
wahrhaftig für Abſcheu nehmen können, wie
Du Dich betrugſt. Iſts erlaubt, daß ich die
Nacht mit der alten Barbara auf einem Kof¬
fer in einer Kammer zubringen mußte? und
mein geliebtes Mädchen war nur zwey Thü¬
ren davon. Es iſt zu toll, ſag ich Dir! Ich
habe verſprochen Dir einige Bedenkzeit zu
laſſen, nicht gleich in Dich zu dringen, und
ich möchte raſend werden über jede verlohrne
Viertelſtunde. Habe ich Dir nicht geſchenkt,
was ich wußte und konnte? zweifelſt Du
noch an meiner Liebe? was willſt Du haben,
ſag es nur? es ſoll Dir an nichts fehlen.
Ich wollte der Pfaffe müßte verſtummen und
verblinden, der Dir ſolches Zeug in den
Kopf geſetzt hat. Mußteſt Du auch grade
an ſo einen kommen! Es giebt ſo viele, die
jungen Leuten etwas nachzuſehen wiſſen. Ge¬
nug ich ſage Dir, es muß anders werden,
[183] in ein paar Tagen muß ich Antwort wiſſen,
denn ich gehe bald wieder weg, und wenn
Du nicht wieder freundlich und gefällig biſt,
ſo ſollſt Du mich nicht wieder ſehen.« —


In dieſer Art ging der Brief noch lange
fort, drehte ſich zu Wilhelms ſchmerzlicher
Zufriedenheit immer um denſelben Punct
herum, und zeugte für die Wahrheit der
Geſchichte, die er von Barbara vernommen
hatte. Ein zweytes Blatt bewies deutlich,
daß Mariane auch in der Folge nicht nach¬
gegeben hatte, und Wilhelm vernahm aus
dieſen und mehreren Papieren nicht ohne tie¬
fen Schmerz die Geſchichte des unglücklichen
Mädchens bis zur Stunde ihres Todes.


Die Alte hatte den rohen Menſchen nach
und nach zahm gemacht, indem ſie ihm den
Tod Marianens meldete, und ihm den Glau¬
ben ließ, als wenn Felix ſein Sohn ſey; er
hatte ihr einigemal Geld geſchickt, das ſie
[184] aber für ſich behielt, da ſie Aurelien die
Sorge für des Kindes Erziehung aufgeſchwatzt
hatte. Aber leider dauerte dieſer heimliche
Erwerb nicht lange. Norberg hatte durch
ein wildes Leben den größten Theil ſeines
Vermögens verzehrt, und wiederholte Lie¬
besgeſchichten ſein Herz gegen ſeinen erſten,
eingebildeten Sohn verhärtet.


So wahrſcheinlich das alles lautete, und
ſo ſchön es zuſammentraf, traute Wilhelm
doch noch nicht, ſich der Freude zu überlaſ¬
ſen, er ſchien ſich vor einem Geſchenke zu
fürchten, das ihm ein böſer Genius dar¬
reichte.


Ihre Zweifelſucht, ſagte die Alte, die
ſeine Gemüthsſtimmung errieth, kann nur
die Zeit heilen. Sehen Sie das Kind als ein
fremdes an, und geben Sie deſto genauer
auf ihn acht, bemerken Sie ſeine Gaben,
ſeine Natur, ſeine Fähigkeiten, und wenn
[185] Sie nicht nach und nach ſich ſelbſt wieder
erkennen, ſo müſſen Sie ſchlechte Augen ha¬
ben. Denn das verſichre ich Sie, wenn ich
ein Mann wäre, mir ſollte niemand ein
Kind unterſchieben, aber es iſt ein Glück für
die Weiber, daß die Männer in dieſen Fäl¬
len nicht ſo ſcharfſichtig ſind.


Nach allem dieſen ſetzte ſich Wilhelm mit
der Alten aus einander, er wollte den Felix
mit ſich nehmen, ſie ſollte Mignon zu The¬
reſen bringen, und hernach eine kleine Pen¬
ſion, die er ihr verſprach, wo ſie wollte, ver¬
zehren.


Er ließ Mignon rufen, um ſie auf dieſe
Veränderung vorzubereiten. — Meiſter!
ſagte ſie, behalte mich bey Dir, es wird
mir wohl thun und weh.


Er ſtellte ihr vor, daß ſie nun heran ge¬
wachſen ſey, und daß doch etwas für ihre
weitere Bildung gethan werden müſſe; — ich
[186] bin gebildet genug, verſetzte ſie, um zu lie¬
ben und zu trauern.


Er machte ſie auf ihre Geſundheit auf¬
merkſam, daß ſie eine anhaltende Sorgfalt
und die Leitung eines geſchickten Arztes be¬
dürfe. — Warum ſoll man für mich ſor¬
gen, ſagte ſie, da ſo viel zu ſorgen iſt.


Nachdem er ſich viele Mühe gegeben,
ſie zu überzeugen, daß er ſie jetzt nicht mit
ſich nehmen könne, daß er ſie zu Perſonen
bringen wolle, wo er ſie öfters ſehen werde,
ſchien ſie von allem dem nichts gehört zu
haben. Du willſt mich nicht bey Dir? ſagte
ſie, vielleicht iſt es beſſer, ſchicke mich zum
alten Harfenſpieler, der arme Mann iſt ſo
allein.


Wilhelm ſuchte ihr begreiflich zu machen,
daß der Alte gut aufgehoben ſey; — ich
ſehne mich jede Stunde nach ihm, verſetzte
das Kind.


[187]

Ich habe aber nicht bemerkt, ſagte Wil¬
helm, daß Du ihm ſo geneigt ſeyſt, als er
noch mit uns lebte — ich fürchtete mich vor
ihm, wenn er wachte, ich konnte nur ſeine
Augen nicht ſehen, aber wenn er ſchlief,
ſetzte ich mich gern zu ihm, ich wehrte ihm
die Fliegen, und konnte mich nicht ſatt an
ihm ſehen. O! er hat mir in ſchrecklichen
Augenblicken beygeſtanden, es weiß niemand,
was ich ihm ſchuldig bin. Hätt’ ich nur den
Weg gewußt, ich wäre ſchon zu ihm ge¬
laufen.


Wilhelm ſtellte ihr die Umſtände weit¬
läuftig vor, und ſagte: ſie ſey ſo ein ver¬
nünftiges Kind, ſie mögte doch auch diesmal
ſeinen Wünſchen folgen. — Die Vernunft
iſt grauſam, verſetzte ſie, das Herz iſt beſſer,
ich will hingehen, wohin Du willſt, aber
laß mir Deinen Felix.


Nach vielem Hin- [und] Wiederreden war
[188] ſie immer auf ihrem Sinne geblieben, und
Wilhelm mußte ſich zuletzt entſchlieſſen die
beyden Kinder der Alten zu übergeben, und
ſie zuſammen an Fräulein Thereſe zu ſchicken.
Es ward ihm das um ſo leichter, als er ſich
noch immer fürchtete, den ſchönen Felix ſich
als ſeinen Sohn zuzueignen, er nahm ihn
auf den Arm und trug ihn herum, das Kind
mochte gern vor den Spiegel gehoben ſeyn,
und, ohne ſich es zu geſtehen, trug Wilhelm
ihn gern vor den Spiegel, und ſuchte dort
Ähnlichkeiten zwiſchen ſich und dem Kinde
auszuſpähen. Ward es ihm denn einen Au¬
genblick recht wahrſcheinlich, ſo drückte er
den Knaben an ſeine Bruſt, aber auf ein¬
mal, erſchreckt durch den Gedanken, daß er
ſich betrügen könne, ſetzte er das Kind nie¬
der, und ließ es hinlaufen. O! rief er aus,
wenn ich mir dieſes unſchätzbare Gut zueig¬
nen könnte, und es würde mir dann ent¬
[189] riſſen, ſo wäre ich der Unglücklichſte aller
Menſchen.


Die Kinder waren weggefahren, und
Wilhelm wollte nun ſeinen förmlichen Ab¬
ſchied vom Theater nehmen, als er fühlte
daß er ſchon abgeſchieden ſey, und nur zu
gehen brauchte. Mariane war nicht mehr,
ſeine zwey Schutzgeiſter hatten ſich entfernt,
und ſeine Gedanken eilten ihnen nach. Der
ſchöne Knabe ſchwebte wie eine reizende un¬
gewiſſe Erſcheinung vor ſeiner Einbildungs¬
kraft, er ſah ihn, an Thereſens Hand, durch
Felder und Wälder laufen, in der freyen
Luft und neben einer freyen und heitern Be¬
gleiterinn ſich bilden; Thereſe war ihm noch
viel werther geworden, ſeitdem er das Kind
in ihrer Geſellſchaft dachte. Selbſt als Zu¬
ſchauer im Theater erinnerte er ſich ihrer mit
Lächeln, beynahe war er in ihrem Falle, die
Vorſtellungen machten ihm keine Illuſion
mehr.


[190]

Serlo und Melina waren äußerſt höflich
gegen ihn, ſobald ſie merkten, daß er an
ſeinen vorigen Platz keinen weitern Anſpruch
machte; ein Theil des Publikums wünſchte
ihn nochmals auftreten zu ſehen, es wäre
ihm unmöglich geweſen, und bey der Geſell¬
ſchaft wünſchte es niemand, als allenfalls
Frau Melina.


Er nahm nun wirklich Abſchied von die¬
ſer Freundin, er war gerührt, und ſagte:
Wenn doch der Menſch ſich nicht vermeſſen
wollte irgend etwas für die Zukunft zu ver¬
ſprechen! das geringſte vermag er nicht zu
halten, geſchweige wenn ſein Vorſatz von
Bedeutung iſt. Wie ſchäme ich mich, wenn
ich denke, was ich Ihnen allen zuſammen
in jener unglücklichen Nacht verſprach, da
wir beraubt, krank, verletzt und verwundet
in eine elende [Schenke] zuſammen gedrängt
waren. Wie erhöhte damals das Unglück
[191] meinen Muth, und welchen Schatz glaubte
ich in meinem guten Willen zu finden; nun
iſt aus allem dem nichts, gar nichts ge¬
worden! Ich verlaſſe Sie als Ihr Schuld¬
ner, und mein Glück iſt, daß man mein
Verſprechen nicht mehr achtete, als es werth
war, und daß niemand mich jemals deshalb
gemahnt hat.


Seyn Sie nicht ungerecht gegen ſich ſelbſt,
verſetzte Frau Melina; wenn niemand er¬
kennt, was Sie für uns gethan hatten, ſo
werde ich es nicht verkennen; denn unſer
ganzer Zuſtand wäre völlig anders, wenn
wir Sie nicht beſeſſen hätten. Geht es doch
unſern Vorſätzen, wie unſern Wünſchen. Sie
ſehen ſich gar nicht mehr ähnlich, wenn ſie
ausgeführt, wenn ſie erfüllt ſind, und wir
glauben nichts gethan, nichts erlangt zu
haben.


Sie werden, verſetzte Wilhelm, durch
[192] Ihre freundſchaftliche Auslegung mein Ge¬
wiſſen nicht beruhigen, und ich werde mir
immer als Ihr Schuldner vorkommen.


Es iſt auch wohl möglich, daß Sie es
ſind, verſetzte Madame Melina, nur nicht
auf die Art, wie Sie es denken. Wir rech¬
nen uns zur Schande ein Verſprechen nicht
zu erfüllen, das wir mit dem Munde ge¬
than haben. O, mein Freund, ein guter
Menſch verſpricht durch ſeine Gegenwart
nur immer zu viel! Das Vertrauen, das
er hervor lockt, die Neigung, die er ein¬
flößt, die Hoffnungen, die er erregt, ſind
unendlich, er wird und bleibt ein Schuldner,
ohne es zu wiſſen. Leben Sie wohl. Wenn
unſere äußeren Umſtände ſich unter Ihrer
Leitung recht glücklich hergeſtellt haben; ſo
entſteht in meinen Innern durch Ihren Ab¬
ſchied eine Lücke, die ſich ſo leicht nicht wie¬
der ausfüllen wird.


Wilhelm[193]

Wilhelm ſchrieb vor ſeiner Abreiſe aus
der Stadt noch einen weitläuftigen Brief an
Wernern. Sie hatten zwar einige Briefe
gewechſelt, aber weil ſie nicht einig werden
konnten, hörten ſie zuletzt auf zu ſchreiben.
Nun hatte ſich Wilhelm wieder genähert, er
war im Begriff dasjenige zu thun, was je¬
ner ſo ſehr wünſchte, er konnte ſagen: ich
verlaſſe das Theater, und verbinde mich mit
Männern, deren Umgang mich, in jedem
Sinne, zu einer reinen und ſichern Thätig¬
keit führen muß. Er erkundigte ſich nach
ſeinem Vermögen, und es ſchien ihm nun¬
mehr ſonderbar, daß er ſo lange ſich nicht
darum bekümmert hatte. Er wußte nicht,
daß es die Art aller der Menſchen ſey, de¬
nen an ihrer innern Bildung viel gelegen
iſt, daß ſie die äußeren Verhältniſſe ganz
und gar vernachläſſigen. Wilhelm hatte ſich
in dieſem Falle befunden, er ſchien nunmehr
N[194] zum erſtenmal zu merken, daß er äußerer
Hülfsmittel bedürfe, um nachhaltig zu wir¬
ken. Er reiſte fort mit einem ganz andern
Sinn, als das erſtemal; die Ausſichten, die
ſich ihm zeigten, waren reizend, und er
hoffte auf ſeinem Wege etwas frohes zu
erleben.


[195]

Neuntes Capitel.

Als er nach Lothario’s Gut zurückkam,
fand er eine große Veränderung. Jarno kam
ihm entgegen mit der Nachricht, daß der
Oheim geſtorben, daß Lothario hingegangen
ſey, die hinterlaſſenen Güter in Beſitz zu
nehmen. Sie kommen eben zur rechten Zeit,
ſagte er, um mir und dem Abbé beyzuſtehn.
Lothario hat uns den Handel um wichtige
Güter in unſerer Nachbarſchaft aufgetragen;
es war ſchon lange vorbereitet, und nun
finden wir Geld und Credit eben zur rechten
Stunde; das einzige war dabey bedenklich,
daß ein auswärtiges Handelshaus auch ſchon
auf dieſelben Güter Abſicht hatte, nun ſind
wir kurz und gut entſchloſſen mit jenen ge¬
meine Sache zu machen, denn ſonſt hätten
N 2[196] wir uns ohne Noth und Vernunft hinaufge¬
trieben. Wir haben, ſo ſcheint es, mit ei¬
nem klugen Manne zu thun. Nun machen
wir Calkuls und Anſchläge, auch muß öko¬
nomiſch überlegt werden, wie wir die Güter
theilen können, ſo daß jeder ein ſchönes Be¬
ſitzthum erhält. Es wurden Wilhelmen die
Papiere vorgelegt, man beſah die Felder,
Wieſen, Schlöſſer, und obgleich Jarno und
der Abbé die Sache ſehr gut zu verſtehen
ſchienen, ſo wünſchte Wilhelm doch, daß
Fräulein Thereſe von der Geſellſchaft ſeyn
möchte.


Sie brachten mehrere Tage mit dieſen
Arbeiten zu, und Wilhelm hatte kaum Zeit,
ſeine Abentheuer und ſeine zweifelhafte Va¬
terſchaft den Freunden zu erzählen, die eine
ihm ſo wichtige Begebenheit gleichgültig und
leichtſinnig behandelten.


Er hatte bemerkt, daß ſie manchmal in
[197] vertrauten Geſprächen, bey Tiſche und auf
Spatziergängen, auf einmal inne hielten, ih¬
ren Worten eine andere Wendung gaben,
und dadurch wenigſtens anzeigten, daß ſie
unter ſich manches abzuthun hatten, das
ihm verborgen ſey. Er erinnerte ſich an das,
was Lydie geſagt hatte, und glaubte um ſo
mehr daran, als eine ganze Seite des Schloſ¬
ſes vor ihm immer unzugänglich geweſen
war. Zu gewiſſen Gallerien und beſonders
zu dem alten Thurm, den er von außen
recht gut kannte, hatte er bisher vergebens
Weg und Eingang geſucht.


Eines Abends ſagte Jarno zu ihm: wir
können Sie nun ſo ſicher als den unſern
anſehen, daß es unbillig wäre, wenn wir
Sie nicht tiefer in unſere Geheimniſſe ein¬
führten. Es iſt gut, daß der Menſch, der
erſt in die Welt tritt, viel von ſich halte,
daß er ſich viele Vorzüge zu erwerben denke,
[198] daß er alles möglich zu machen ſuche; aber
wenn ſeine Bildung auf einem gewiſſen Gra¬
de ſteht, dann iſt es vortheilhaft, wenn er
ſich in einer größern Maſſe verliehren lernt,
wenn er lernt um anderer willen zu leben,
und ſeiner ſelbſt in einer pflichtmäßigen Thä¬
tigkeit zu vergeſſen. Da lernt er ſich erſt
ſelbſt kennen, denn das Handeln eigentlich
vergleicht uns mit andern. Sie ſollen bald
erfahren, welch eine kleine Welt ſich in Ih¬
rer Nähe befindet, und wie gut Sie in die¬
ſer kleinen Welt gekannt ſind; morgen früh,
vor Sonnenaufgang, ſeyn Sie angezogen
und bereit.


Jarno kam zur beſtimmten Stunde, und
führte ihn durch bekannte und unbekannte
Zimmer des Schloſſes, dann durch einige
Gallerien, und ſie gelangten endlich vor eine
große alte Thüre, die ſtark mit Eiſen be¬
ſchlagen war. Jarno pochte, die Thüre that
[199] ſich ein wenig auf, ſo daß eben ein Menſch
hineinſchlüpfen konnte. Jarno ſchob Wilhel¬
men hinein, ohne ihm zu folgen. Dieſer
fand ſich in einem dunkeln und engen Be¬
hältniſſe, es war finſter um ihn, und als er
einen Schritt vorwärts gehen wollte, ſtieß
er ſchon wieder. Eine nicht ganz unbekannte
Stimme rief ihm zu: tritt herein! und nun
bemerkte er erſt, daß die Seiten des Raums,
in dem er ſich befand, nur mit Teppichen
behangen waren, durch welche ein ſchwaches
Licht hindurch ſchimmerte. Tritt herein! rief
es nochmals, er hob den Teppich auf, und
trat hinein.


Der Saal, in dem er ſich nunmehr be¬
fand, ſchien ehemals eine Capelle geweſen
zu ſeyn, an ſtatt des Altars ſtand ein großer
Tiſch, auf einigen Stufen mit einem grünen
Teppich behangen, darüber ſchien ein zuge¬
zogener Vorhang ein Gemälde zu bedecken;
[200] an den Seiten waren ſchön gearbeitete
Schränke mit feinen Drathgittern verſchloſ¬
ſen, wie man ſie in Bibliotheken zu ſehen
pflegt, nur ſah er an ſtatt der Bücher viele
Rollen aufgeſtellt. Niemand befand ſich in
dem Saal; die aufgehende Sonne fiel,
durch die farbigen Fenſter Wilhelmen grade
entgegen, und begrüßte ihn freundlich.


Setze Dich! rief eine Stimme, die von
dem Altare her zu tönen ſchien. Wilhelm
ſetzte ſich auf einen kleinen Armſtuhl, der wi¬
der den Vorſchlag des Eingangs ſtand, es
war kein anderer Sitz im ganzen Zimmer,
er mußte ſich darein ergeben, ob ihn ſchon
die Morgenſonne blendete, der Seſſel ſtand
feſt, er konnte nur die Hand vor die Augen
halten.


Indem eröfnete ſich, mit einem kleinen
Geräuſche, der Vorhang über dem Altar,
und zeigte, innerhalb eines Rahmens, eine
[201] leere, dunkle Öfnung. Es trat ein Mann
hervor in gewöhnlicher Kleidung, der ihn
begrüßte, und zu ihm ſagte: ſollten Sie
mich nicht wieder erkennen? ſollten Sie, un¬
ter andern Dingen, die Sie wiſſen möchten,
nicht auch zu erfahren wünſchen, wo die
Kunſtſammlung Ihres Großvaters ſich gegen¬
wärtig befindet? Erinnern Sie ſich des Ge¬
mäldes nicht mehr, das Ihnen ſo reizend
war? Wo mag der kranke Königsſohn wohl
jetzo ſchmachten? Wilhelm erkannte leicht
den Fremden, der, in jener bedeutenden
Nacht, ſich mit ihm im Gaſthauſe unterhal¬
ten hatte. Vielleicht, fuhr dieſer fort, kön¬
nen wir jetzt über Schickſal und Charakter
eher einig werden?


Wilhelm wollte eben antworten, als der
Vorhang ſich wieder raſch zuſammen zog.
Sonderbar! ſagte er bey ſich ſelbſt, ſollten
zufällige Ereigniſſe einen Zuſammenhang ha¬
[202] ben? und das, was wir Schickſal nennen,
ſollte es blos Zufall ſeyn? wo mag ſich mei¬
nes Großvaters Sammlung befinden? und
warum erinnert man mich in dieſen feyer¬
lichen Augenblicken daran?


Er hatte nicht Zeit weiter zu denken,
denn der Vorhang eröfnete ſich wieder, und
es ſtand ein Mann vor ſeinen Augen, den
er ſogleich für den Landgeiſtlichen erkannte,
der mit ihm und der luſtigen Geſellſchaft
jene Waſſerfahrt gemacht hatte; er glich
dem Abbé, ob er gleich nicht dieſelbe Per¬
ſon ſchien. Mit einem heitern Geſichte und
einem würdigen Ausdruck fing der Mann
an: nicht vor Irrthum zu bewahren, iſt die
Pflicht des Menſchenerziehers, ſondern den
irrenden leiten, ja ihn ſeinen Irrthum aus
vollen Bechern ausſchlurfen zu laſſen, das
iſt Weisheit der Lehrer. Wer ſeinen Irr¬
thum nur koſtet, hält lange damit Haus, er
[203] freuet ſich deſſen als eines ſeltenen Glücks,
aber wer ihn ganz erſchöpft, der muß ihn
kennen lernen, wenn er nicht wahnſinnig iſt.
Der Vorhang ſchloß ſich abermals, und Wil¬
helm hatte Zeit nachzudenken. Von welchem
Irrthum kann der Mann ſprechen? ſagte er
zu ſich ſelbſt, als von dem, der mich mein
ganzes Leben verfolgt hat, daß ich da Bil¬
dung ſuchte, wo keine zu finden war, daß
ich mir einbildete ein Talent erwerben zu
können, zu dem ich nicht die geringſte An¬
lage hatte.


Der Vorhang riß ſich ſchneller auf, ein
Officier trat hervor, und ſagte nur im Vor¬
beygehen: lernen Sie die Menſchen kennen,
zu denen man Zutrauen haben kann! Der
Vorhang ſchloß ſich, und Wilhelm brauchte
ſich nicht lange zu beſinnen, um dieſen Offi¬
cier für denjenigen zu erkennen, der ihn in
des Grafen Park umarmt hatte, und Schuld
[204] geweſen war, daß er Jarno für einen Wer¬
ber hielt. Wie dieſer hierher gekommen? und
wer er ſey, war Wilhelmen völlig ein Rätzel. —
Wenn ſo viele Menſchen an dir Theil nah¬
men, deinen Lebensweg kannten und wu߬
ten, was darauf zu thun ſey, warum führ¬
ten ſie dich nicht ſtrenger? warum nicht ern¬
ſter? warum begünſtigten ſie deine Spiele,
an ſtatt dich davon wegzuführen.


Rechte nicht mit uns! rief eine Stimme;
Du biſt gerettet, und auf dem Wege zum
Ziel; Du wirſt keine Deiner Thorheiten be¬
reuen und keine zurück wünſchen, kein glück¬
licheres Schickſal kann einem Menſchen wer¬
den. Der Vorhang riß ſich von einander,
und, in voller Rüſtung, ſtand der alte Kö¬
nig von Dännemark in dem Raume. Ich
bin der Geiſt Deines Vaters, ſagte das
Bildnis, und ſcheide getroſt, da meine Wün¬
ſche für Dich, mehr als ich ſie ſelbſt begriff,
[205] erfüllt ſind. Steile Gegenden laſſen ſich nur
durch Umwege erklimmen, auf der Ebene
führen gerade Wege von einem Ort zum
andern. Lebe wohl, und gedenke mein,
wenn Du genießeſt, was ich Dir vorbereitet
habe.


Wilhelm war äußerſt betroffen, er glaubte
die Stimme ſeines Vaters zu hören, und
doch war ſie es auch nicht, er befand ſich
durch die Gegenwart und die Erinnerung in
der verworrenſten Lage.


Nicht lange konnte er nachdenken, als
der Abbé hervortrat, und ſich hinter den
grünen Tiſch ſtellte. Treten Sie herbey!
rief er ſeinem verwunderten Freunde zu. Er
trat herbey, und ſtieg die Stufen hinan.
Auf dem Teppiche lag eine kleine Rolle. Hier
iſt Ihr Lehrbrief, ſagte der Abbé, beherzigen
Sie ihn, er iſt von wichtigem Inhalt. Wil¬
helm nahm ihn auf, eröfnete ihn und las:
[206]Lehrbrief.


Die Kunſt iſt lang, das Leben kurz, das
Urtheil ſchwierig, die Gelegenheit flüchtig.
Handeln iſt leicht, denken ſchwer; nach dem
Gedachten handeln unbequem. Aller Anfang
iſt heiter, die Schwelle iſt der Platz der Er¬
wartung. Der Knabe ſtaunt, der Eindruck
beſtimmt ihn, er lernt ſpielend, der Ernſt
überraſcht ihn. Die Nachahmung iſt uns
angebohren, das Nachahmende wird nicht
leicht erkannt. Selten wird das Treffliche
gefunden, ſeltner geſchätzt. Die Höhe reizt
uns, nicht die Stufen; den Gipfel im Auge
wandeln wir gerne auf der Ebene. Nur Ein
Theil der Kunſt kann gelehrt werden, der
Künſtler braucht ſie ganz. Wer ſie halb
kennt, iſt immer irre und redet viel, wer
ſie ganz beſitzt, mag nur thun und redet
ſelten oder ſpät. Jene haben keine Geheim¬
niſſe und keine Kraft, ihre Lehre iſt wie ge¬
[207] backenes Brod ſchmackhaft und ſättigend für
Einen Tag; aber Mehl kann man nicht
ſäen, und die Saatfrüchte ſollen nicht ver¬
mahlen werden. Die Worte ſind gut, ſie
ſind aber nicht das Beſte. Das Beſte wird
nicht deutlich durch Worte. Der Geiſt, aus
dem wir handeln, iſt das Höchſte. Die Hand¬
lung wird nur vom Geiſte begriffen und
wieder dargeſtellt. Niemand weiß was er
thut, wenn er recht handelt, aber des Un¬
rechten ſind wir uns immer bewußt. Wer
bloß mit Zeichen wirkt, iſt ein Pedant, ein
Heuchler oder ein Pfuſcher. Es ſind ihrer
viel, und es wird ihnen wohl zuſammen.
Ihr Geſchwätz hält den Schüler zurück, und
ihre beharrliche Mittelmäßigkeit ängſtigt die
Beſten. Des ächten Künſtlers Lehre ſchließt
den Sinn auf, denn wo die Worte fehlen,
ſpricht die That. Der ächte Schüler lernt
[208] aus dem Bekannten das Unbekannte ent¬
wickeln, und nähert ſich dem Meiſter.


Genug! rief der Abbé, das übrige zu
ſeiner Zeit. Jetzt ſehen Sie ſich in jenen
Schränken um.


Wilhelm ging hin, und las die Aufſchrif¬
ten der Rollen. Er fand mit Verwunde¬
rung: Lothario’s Lehrjahre, Jarno’s
Lehrjahre
und ſeine eignen Lehrjahre
daſelbſt aufgeſtellt, unter vielen andern, de¬
ren Nahmen ihm unbekannt waren.


Darf ich hoffen, in dieſe Rollen einen
Blick zu werfen?


Es iſt für Sie nunmehr in dieſem Zim¬
mer nichts verſchloſſen.


Darf ich eine Frage thun?


Ohne Bedenken! und Sie können ent¬
ſcheidende Antwort erwarten, wenn es eine
Angelegenheit betrifft, die Ihnen zunächſt
am[209] am Herzen liegt, und am Herzen liegen
ſoll.


Gut denn, ihr ſonderbaren und weiſen
Menſchen, deren Blick in ſo viele Geheim¬
niſſe dringt, könnt Ihr mir ſagen, ob Felix
wirklich mein Sohn ſey? —


Heil Ihnen über dieſe Frage! rief der
Abbé, indem er vor Freuden die Hände zu¬
ſammenſchlug, Felix iſt Ihr Sohn! bey dem
Heiligſten, was unter uns verborgen liegt,
ſchwör ich Ihnen, Felix iſt Ihr Sohn, und
der Geſinnung nach war ſeine abgeſchiedne
Mutter Ihrer nicht unwerth; empfangen Sie
das liebliche Kind aus unſerer Hand, kehren
Sie ſich um, und wagen Sie es, glücklich zu
ſeyn.


Wilhelm hörte ein Geräuſch hinter ſich,
er kehrte ſich um, und ſah ein Kindergeſicht
ſchalkhaft durch die Teppiche des Eingangs
hervor gucken. Es war Felix! Der Knabe
W. Meiſters Lehrj. 4. O[210] verſteckte ſich ſogleich ſcherzend, als er ge¬
ſehen wurde. Komm hervor! rief der Abbé.
Er kam gelaufen, ſein Vater ſtürzte ihm
entgegen, nahm ihn in die Arme, und drückte
ihn an ſein Herz. Ja ich fühl’s, rief er aus,
Du biſt mein! welche Gabe des Himmels
habe ich meinen Freunden zu verdanken!
Wo kommſt Du her, mein Kind, gerade in
dieſem Augenblick?


Fragen Sie nicht! ſagte der Abbé. Heil
Dir junger Mann! Deine Lehrjahre ſind
vorüber, die Natur hat Dich losgeſprochen.

[[211]]

Wilhelm Meiſters
Lehrjahre.

Achtes Buch.

O 2[[212]][[213]]

Erſtes Capitel.

Felix war in den Garten geſprungen, Wil¬
helm folgte ihm mit Entzücken, der ſchönſte
Morgen zeigte jeden Gegenſtand mit neuen
Reizen, und Wilhelm genoß den heiterſten
Augenblick. Felix war neu in der freyen und
herrlichen Welt, und ſein Vater nicht viel
bekannter mit den Gegenſtänden, nach de¬
nen der Kleine wiederholt und unermüdet
fragte. Sie geſellten ſich endlich zum Gärt¬
ner, der die Nahmen und den Gebrauch
mancher Pflanzen hererzählen mußte; Wil¬
helm ſah die Natur durch ein neues Organ,
und die Neugierde, die Wißbegierde des
[214] Kindes ließen ihn erſt fühlen, welch ein
ſchwaches Intereſſe er an den Dingen außer
ſich genommen hatte, wie wenig er kannte
und wußte. An dieſem Tage, dem vergnüg¬
teſten ſeines Lebens ſchien auch ſeine eigne
Bildung erſt anzufangen, er fühlte die Noth¬
wendigkeit ſich zu belehren, indem er zu leh¬
ren aufgefordert ward.


Jarno und der Abbé hatten ſich nicht
wieder ſehen laſſen; Abends kamen ſie, und
brachten einen Fremden mit, Wilhelm ging
ihm mit Erſtaunen entgegen, er traute ſei¬
nen Augen nicht, es war Werner, der gleich¬
falls einen Augenblick anſtand, ihn anzuer¬
kennen. Beyde umarmten ſich aufs zärtlichſte,
und beyde konnten nicht verbergen, daß ſie
ſich wechſelsweiſe verändert fanden. Werner
behauptete, ſein Freund ſey größer, ſtärker,
gerader, in ſeinen Weſen gebildeter und in
ſeinem Betragen angenehmer geworden, —
[215] etwas von ſeiner alten Treuherzigkeit ver¬
miß ich, ſetzte er hinzu. — Sie wird ſich
auch ſchon wieder zeigen, wenn wir uns nur
von der erſten Verwunderung erholt haben,
ſagte Wilhelm.


Es fehlte viel, daß Werner einen gleich
vortheilhaften Eindruck auf Wilhelmen ge¬
macht haben ſollte. Der gute Mann ſchien
eher zurück als vorwärts gegangen zu ſeyn.
Er war viel magerer, als ehemals, ſein ſpitzes
Geſicht ſchien feiner, ſeine Naſe länger zu
ſeyn, ſeine Stirn und ſein Scheitel wa¬
ren von Haren entblößt, ſeine Stimme hell,
heftig und ſchreyend, und ſeine eingedruckte
Bruſt, ſeine vorfallenden Schultern, ſeine
farbloſen Wangen ließen keinen Zweifel übrig,
daß ein arbeitſamer Hypochondriſte gegen¬
wärtig ſey.


Wilhelm war beſcheiden genug, um ſich
über dieſe große Veränderung ſehr mäßig
[216] zu erklären, da der andere hingegen ſeiner
freundſchaftlichen Freude völlig den Lauf ließ.
Wahrhaftig! rief er aus, wenn Du Deine
Zeit ſchlecht angewendet, und, wie ich ver¬
muthe, nichts gewonnen haſt, ſo biſt Du
doch indeſſen ein Perſönchen geworden, das
ſein Glück machen kann und muß, verſchlen¬
dere und verſchleudere nur auch das nicht
wieder; Du ſollſt mir mit dieſer Figur eine
reiche und ſchöne Erbin erkaufen. — Du
wirſt doch, verſetzte Wilhelm lächelnd, Dei¬
nen Character nicht verleugnen! kaum fin¬
deſt Du nach langer Zeit Deinen Freund
wieder, ſo ſiehſt Du ihn ſchon als eine
Waare, als einen Gegenſtand Deiner Spe¬
culation an, mit dem ſich etwas gewinnen
läßt.


Jarno und der Abbé ſchienen über dieſe
Erkennung feinesweges verwundert, und
ließen beyde Freunde ſich nach Belieben über
[217] das Vergangene und Gegenwärtige ausbrei¬
ten. Werner ging um ſeinen Freund her¬
um, drehte ihn hin und her, ſo, daß er ihn
faſt verlegen machte. Nein! nein! rief er
aus, ſo was iſt mir noch nicht vorgekom¬
men! und doch weiß ich wohl, daß ich mich
nicht betrüge. Deine Augen ſind tiefer,
Deine Stirn iſt breiter, Deine Naſe feiner
und Dein Mund liebreicher geworden. Seht
nur einmal, wie er ſteht! wie das alles paßt
und zuſammenhängt! wie doch das Faullen¬
zen gedeihet! ich armer Teufel dagegen —
er beſah ſich im Spiegel — wenn ich dieſe
Zeit her nicht recht viel Geld gewonnen
hätte, ſo wäre doch auch gar nichts an mir.


Werner hatte Wilhelms letzten Brief nicht
empfangen, ihre Handlung war das fremde
Haus, mit welchem Lothario die Güter in
Gemeinſchaft zu kaufen die Abſicht hatte.
Dieſes Geſchäft führte Wernern hierher, er
[218] hatte keine Gedanken, Wilhelmen auf ſei¬
nem Wege zu finden. Der Gerichtshalter
kam, die Papiere wurden vorgelegt, und
Werner fand die Vorſchläge billig. Wenn
Sie es mit dieſem jungen Manne, wie es
ſcheint, gut meynen, ſagte er, ſo ſorgen Sie
ſelbſt dafür, daß unſer Theil nicht verkürzt
werde; es ſoll von meinem Freunde abhän¬
gen, ob er das Gut annehmen und einen
Theil ſeines Vermögens daran wenden will.
Jarno und der Abbé verſicherten, daß es
dieſer Erinnerung nicht bedürfe. Man hatte
die Sache kaum im allgemeinen verhandelt,
als Werner ſich nach einer Parthie Lombre
ſehnte, wozu ſich denn auch gleich der Abbé
und Jarno mit hinſetzten; er war es nun
einmal ſo gewohnt, er konnte des Abends
ohne Spiel nicht leben.


Als die beyden Freunde nach Tiſche al¬
lein waren, befragten und beſprachen ſie ſich
[219] ſehr lebhaft über alles, was ſie ſich mitzu¬
theilen wünſchten. Wilhelm rühmte ſeine
Lage und das Glück ſeiner Aufnahme unter
ſo trefflichen Menſchen. Werner ſchüttelte
dagegen den Kopf, und ſagte: man ſollte
doch auch nichts glauben, als was man mit
Augen ſieht! Mehr als Ein dienſtfertiger
Freund hat mir verſichert, Du lebteſt mit
einem liederlichen jungen Edelmann, führteſt
ihm Schauſpielerinnen zu, helfeſt ihm ſein
Geld durchbringen, und ſeyeſt ſchuld, daß
er mit ſeinen ſämmtlichen Anverwandten ge¬
ſpannt ſey. — Es würde mich um meinet-
und um der guten Menſchen willen ver¬
drießen, daß wir ſo verkannt werden, ver¬
ſetzte Wilhelm, wenn mich nicht meine thea¬
traliſche Laufbahn mit jeder übeln Nachrede
verſöhnt hätte. Wie ſollten die Menſchen
unſere Handlungen beurtheilen, die ihnen
nur einzeln und abgeriſſen erſcheinen, wovon
[220] ſie das wenigſte ſehen, weil Gutes und Bö¬
ſes im Verborgenen geſchieht, und eine gleich¬
gültige Erſcheinung meiſtens nur an den Tag
kommt. Bringt man ihnen doch Schauſpie¬
ler und Schauſpielerinnen auf erhöhte Bre¬
ter, zündet von allen Seiten Licht an, das
ganze Werk iſt in wenig Stunden abge¬
ſchloſſen, und doch weiß ſelten jemand ei¬
gentlich, was er daraus machen ſoll.


Nun ging es an ein Fragen nach der
Familie, nach den Jugendfreunden und der
Vaterſtadt. Werner erzählte, mit großer
Haſt, alles was ſich verändert hatte, und
was noch beſtand und geſchah. Die Frauen
im Hauſe, ſagte er, ſind vergnügt und glück¬
lich, es fehlt nie an Geld, die eine Hälfte
der Zeit bringen ſie zu ſich zu putzen, und
die andere Hälfte ſich geputzt ſehen zu laſ¬
ſen. Haushältiſch ſind ſie ſo viel als billig
iſt, meine Kinder laſſen ſich zu geſcheuten
[221] Jungen an. Ich ſehe ſie im Geiſte ſchon
ſitzen und ſchreiben, und rechnen, laufen, han¬
deln und trödeln, einem jeden ſoll ſobald
als möglich ein eignes Gewerbe eingerichtet
werden! und was unſer Vermögen betrifft,
daran ſollſt Du Deine Luſt ſehen. Wenn
wir mit den Gütern in Ordnung ſind, mußt
Du gleich mit nach Hauſe; denn es ſieht
doch aus, als wenn Du, mit einiger Ver¬
nunft, in die menſchlichen Unternehmungen
eingreifen könnteſt. Deine neuen Freunde
ſollen geprieſen ſeyn, daß ſie Dich auf den
rechten Weg gebracht haben. Ich bin ein
närriſcher Teufel, und merke erſt, wie lieb
ich Dich habe, da ich mich nicht ſatt an Dir
ſehen kann, daß Du ſo wohl und ſo gut
ausſiehſt. Das iſt doch noch eine andere
Geſtalt, als das Portrait, das Du einmal
an die Schweſter ſchickteſt, und worüber im
Hauſe großer Streit war. Mutter und Toch¬
[222] ter fanden den jungen Herrn allerliebſt, mit
offnem Halſe, halbfreyer Bruſt, großer Krau¬
ſe, herumhängendem Haar, rundem Hut,
kurzem Weſtchen und ſchlotternden langen
Hoſen, indeſſen ich behauptete, das Koſtum
ſey nur noch zwey Finger breit vom Hans¬
wurſt. Nun ſiehſt Du doch aus wie ein
Menſch, nur fehlt der Zopf, in den ich
Deine Haare einzubinden bitte, ſonſt hält
man Dich denn doch einmal unterweges als
Juden an, und fordert Zoll und Geleite
von Dir.


Felix war indeſſen in die Stube gekom¬
men, und hatte ſich, als man auf ihn nicht
achtete, aufs Kanapee gelegt, und war ein¬
geſchlafen. Was iſt das für ein Wurm?
fragte Werner. Wilhelm hatte in dem Au¬
genblicke den Muth nicht, die Wahrheit zu
ſagen, noch Luſt eine doch immer zweydeu¬
tige Geſchichte einem Manne zu erzählen,
[223] der von Natur nichts weniger als gläu¬
big war.


Die ganze Geſellſchaft begab ſich nun¬
mehr auf die Güter, um ſie zu beſehen und
den Handel abzuſchließen. Wilhelm ließ ſei¬
nen Felix nicht von der Seite, und freute
ſich, um des Knaben willen, recht lebhaft
des Beſitzes, dem man entgegen ſah. Die
Lüſternheit des Kindes nach den Kirſchen
und Beeren, die bald reif werden ſollten,
erinnerten ihn an die Zeit ſeiner Jugend und
an die vielfache Pflicht des Vaters, den ſei¬
nigen den Genuß vorzubereiten, zu verſchaf¬
fen und zu erhalten. Mit welchem Inter¬
eſſe betrachtete er die Baumſchulen und die
Gebäude, wie lebhaft ſann er darauf, das
Vernachläſſigte wieder herzuſtellen und das
Verfallne zu erneuern. Er ſah die Welt
nicht mehr wie ein Zugvogel an, ein Ge¬
bäude nicht mehr für eine geſchwind zuſam¬
[224] mengeſtellte Laube, die vertrocknet, ehe man
ſie verläßt. Alles, was er anzulegen ge¬
dachte, ſollte dem Knaben entgegen wachſen,
und alles, was er herſtellte, ſollte eine Dauer
auf einige Geſchlechter haben. In dieſem
Sinne waren ſeine Lehrjahre geendigt, und
mit dem Gefühl des Vaters hatte er auch
alle Tugenden eines Bürgers erworben. Er
fühlte es, und ſeiner Freude konnte nichts
gleichen. O! der unnöthigen Strenge der
Moral! rief er aus, da die Natur uns auf
ihre liebliche Weiſe zu allem bildet, was wir
ſeyn ſollen. O! der ſeltſamen Anforderun¬
gen der bürgerlichen Geſellſchaft, die uns
erſt verwirrt und mißleitet, und dann mehr
als die Natur ſelbſt von uns fordert. Wehe
jeder Art von Bildung, welche die wirkſam¬
ſten Mittel wahrer Bildung zerſtöhrt, und
uns auf das Ende hinweißt, an ſtatt uns
auf dem Wege ſelbſt zu beglücken.


So[225]

So manches er auch in ſeinem Leben
ſchon geſehen hatte, ſo ſchien ihm doch die
menſchliche Natur erſt durch die Beobach¬
tung des Kindes deutlich zu werden. Das
Theater war ihm, wie die Welt, nur als
eine Menge ausgeſchütteter Würfel vorge¬
kommen, deren jeder einzeln auf ſeiner Ober¬
fläche bald mehr, bald weniger bedeutet,
und die allenfalls, zuſammengezählt, eine
Summe machen. Hier im Kinde lag ihm,
konnte man ſagen, ein einzelner Würfel vor,
auf deſſen vielfachen Seiten der Werth und
der Unwerth der menſchlichen Natur ſo deut¬
lich eingegraben war.


Das Verlangen des Kindes nach Unter¬
ſcheidung wuchs mit jedem Tage. Da es
einmal erfahren hatte, daß die Dinge Nah¬
men haben, ſo wollte es auch den Nahmen
von allem hören, es glaubte nicht anders
ſein Vater müſſe alles wiſſen, quälte ihn oft
W. Meiſters Lehrj. 4. P[226] mit Fragen, und gab ihm Anlaß ſich nach
Gegenſtänden zu erkundigen, denen er ſonſt
wenig Aufmerkſamkeit gewidmet hatte. Auch
der eingebohrne Trieb, die Herkunft und
das Ende der Dinge zu erfahren, zeigte ſich
früh bey dem Knaben. Wenn er fragte,
wo der Wind herkomme und wo die Flamme
hinkomme? war dem Vater ſeine eigene Be¬
ſchränkung erſt recht lebendig, er wünſchte
zu erfahren, wie weit ſich der Menſch mit
ſeinen Gedanken wagen, und wovon er hof¬
fen dürfe ſich und andern jemals Rechen¬
ſchaft zu geben. Die Heftigkeit des Kindes,
wenn es irgend einem lebendigen Weſen Un¬
recht geſchehen ſah, erfreute den Vater höch¬
lich, als das Zeichen eines trefflichen Ge¬
müths. Das Kind ſchlug heftig nach dem
Küchenmädchen, das einige Tauben abge¬
ſchnitten hatte; dieſer ſchöne Begriff wurde
denn freylich bald wieder zerſtöhrt, als er
[227] den Knaben fand, der ohne Barmherzigkeit
Fröſche todt ſchlug und Schmetterlinge zer¬
rupfte. Es erinnerte ihn dieſer Zug an ſo
viele Menſchen, die höchſt gerecht erſcheinen,
wenn ſie ohne Leidenſchaft ſind, und die
Handlungen anderer beobachten.


Dieſes angenehme Gefühl, daß der Knabe
ſo einen ſchönen und wahren Einfluß auf
ſein Daſeyn habe, ward einen Augenblick
geſtöhrt, als Wilhelm im Kurzen bemerkte,
daß wirklich der Knabe mehr ihn als er den
Knaben erziehe; er hatte an dem Kinde nichts
auszuſetzen, er war nicht im Stande ihm
eine Richtung zu geben, die es nicht ſelbſt
nahm, und ſogar die Unarten, gegen die
Aurelie ſo viel gearbeitet hatte, waren, ſo
ſchien es, nach dem Tode dieſer Freundin
alle wieder in ihre alten Rechte getreten;
noch machte das Kind die Thüre niemals
hinter ſich zu, noch wollte er ſeinen Teller
P 2[228] nicht abeſſen, und ſein Behagen war nie¬
mals größer, als wenn man ihm nachſah,
daß er den Biſſen unmittelbar aus der Schüſ¬
ſel nehmen, das volle Glas ſtehen laſſen
und aus der Flaſche trinken konnte; ſo war
er auch ganz allerliebſt, wenn er ſich mit
einem Buche in die Ecke ſetzte, und ſehr
ernſthaft ſagte: ich muß das gelehrte Zeug
ſtudiren! ob er gleich die Buchſtaben noch
lange weder unterſcheiden konnte noch wollte.


Bedachte nun Wilhelm, wie wenig er
bisher für das Kind gethan hatte, wie we¬
nig er zu thun fähig ſey, ſo entſtand eine
Unruhe in ihm, die ſein ganzes Glück auf¬
zuwiegen im Stande war. Sind wir Män¬
ner denn, ſagte er zu ſich, ſo ſelbſtiſch ge¬
bohren, daß wir unmöglich für ein Weſen
außer uns Sorge tragen können? Bin ich
mit dem Knaben nicht eben auf dem Wege,
auf dem ich mit Mignon war? ich zog das
[229] liebe Kind an, ſeine Gegenwart ergötzte mich,
und dabey habe ich es aufs grauſamſte ver¬
nachläſſigt. Was that ich zu ſeiner Bildung,
nach der es ſo ſehr ſtrebte? nichts! Ich über¬
ließ es ſich ſelbſt und allen Zufälligkeiten,
denen es, in einer ungebildeten Geſellſchaft,
nur ausgeſetzt ſeyn konnte; und dann für
dieſen Knaben, der dir ſo merkwürdig war,
ehe er dir ſo werth ſeyn konnte, hat dich
denn dein Herz geheißen auch nur jemals
das geringſte für ihn zu thun? Es iſt nicht
mehr Zeit, daß du deine eigenen Jahre und
die Jahre anderer vergeudeſt; nimm dich zu¬
ſammen, und denke was du für dich und
die guten Geſchöpfe zu thun haſt, welche
Natur und Neigung ſo feſt an dich knüpfte.


Eigentlich war dieſes Selbſtgeſpräch nur
eine Einleitung, ſich zu bekennen, daß er
ſchon gedacht, geſorgt, geſucht und gewählt
hatte, er konnte nicht länger anſtehen, ſich
[230] es ſelbſt zu geſtehen. Nach oft vergebens
wiederholtem Schmerz über den Verluſt Ma¬
rianens, fühlte er nur zu deutlich, daß er
eine Mutter für den Knaben ſuchen müſſe,
und daß er ſie nicht ſichrer als in Thereſen
finden werde. Er kannte dieſes vortreffliche
Frauenzimmer ganz. Eine ſolche Gattin und
Gehülfin ſchien die einzige zu ſeyn, der man
ſich und die ſeinen anvertrauen könnte. Ihre
edle Neigung zu Lothario machte ihm keine
Bedenklichkeit. Sie waren durch ein ſonder¬
bares Schickſal auf ewig getrennt, Thereſe
hielt ſich für frey, und hatte von einer Hei¬
rath zwar mit Gleichgültigkeit, doch als von
einer Sache geſprochen, die ſich von ſelbſt
verſteht.


Nachdem er lange mit ſich zu Rathe ge¬
gangen war, nahm er ſich vor, ihr von ſich
zu ſagen, ſo viel er nur wußte. Sie ſollte
ihn kennen lernen, wie er ſie kannte, und
[231] er fing nun an, ſeine eigene Geſchichte durch¬
zudenken, ſie ſchien ihm an Begebenheiten
ſo leer und im Ganzen jedes Bekänntniß ſo
wenig zu ſeinem Vortheil, daß er mehr als
Einmal von dem Vorſatz abzuſtehn im Be¬
griff war. Endlich entſchloß er ſich die Rolle
ſeiner Lehrjahre aus dem Thurme von Jarno
zu verlangen; dieſer ſagte: es iſt eben zur
rechten Zeit, und Wilhelm erhielt ſie.


Es iſt eine ſchauderhafte Empfindung,
wenn ein edler Menſch, mit Bewußtſeyn,
auf dem Puncte ſteht, wo er über ſich ſelbſt
aufgeklärt werden ſoll. Alle Übergänge ſind
Criſen, und iſt eine Criſe nicht Krankheit?
Wie ungern tritt man nach einer Krankheit
vor den Spiegel! Die Beſſerung fühlt man,
und man ſieht nur die Wirkung des vergan¬
genen Übels. Wilhelm war indeſſen vorbe¬
reitet genug, die Umſtände hatten ſchon leb¬
haft zu ihm geſprochen, ſeine Freunde hat¬
[232] ten ihn eben nicht geſchont, und wenn er
gleich das Pergament mit einiger Haſt auf¬
rollte, ſo ward er doch immer ruhiger, je
weiter er las. Er fand die umſtändliche Ge¬
ſchichte ſeines Lebens in großen ſcharfen Zü¬
gen geſchildert, weder einzelne Begebenhei¬
ten, noch beſchränkte Empfindungen verwirr¬
ten ſeinen Blick, allgemeine liebevolle Be¬
trachtungen gaben ihm Fingerzeige, ohne
ihn zu beſchämen, und er ſah zum erſten¬
mal ſein Bild außer ſich, zwar nicht, wie im
Spiegel, ein zweytes Selbſt, ſondern wie im
Portrait, ein anderes Selbſt; man bekennt
ſich zwar nicht zu allen Zügen, aber man
freut ſich, daß ein denkender Geiſt uns ſo
hat faſſen, ein großes Talent uns ſo hat
darſtellen wollen, daß ein Bild von dem,
was wir waren, noch beſteht, und daß es
länger als wir ſelbſt dauren kann.


Wilhelm beſchäftigte ſich nunmehr, indem
[233] alle Umſtände durch dieß Manuſcript in ſein
Gedächtniß zurück kamen, die Geſchichte ſei¬
nes Lebens für Thereſen aufzuſetzen, und er
ſchämte ſich faſt, daß er gegen ihre große
Tugenden nichts aufzuſtellen hatte, was eine
zweckmäßige Thätigkeit beweiſen konnte. So
umſtändlich er in dem Aufſatze war, ſo kurz
faßte er ſich in dem Briefe, den er an ſie
ſchrieb; er bat ſie um ihre Freundſchaft, um
ihre Liebe, wenns möglich wäre, er bot ihr
ſeine Hand an, und bat ſie um baldige Ent¬
ſcheidung.


Nach einigem innerlichen Streit, ob er
dieſe wichtige Sache noch erſt mit ſeinen
Freunden, mit Jarno und dem Abbé bera¬
then ſolle? entſchied er ſich zu ſchweigen.
Er war zu feſt entſchloſſen, die Sache war
für ihn zu wichtig, als daß er ſie noch hätte
dem Urtheil des vernünftigſten und beſten
Mannes unterwerfen mögen; ja ſogar brauchte
[234] er die Vorſicht, ſeinen Brief auf der näch¬
ſten Poſt ſelbſt zu beſtellen. Vielleicht hatte
ihm der Gedanke, daß er in ſo vielen Um¬
ſtänden ſeines Lebens, in denen er frey und
im Verborgnen zu handeln glaubte, beobach¬
tet, ja ſogar geleitet worden war, wie ihm
aus der geſchriebenen Rolle nicht undeutlich
erſchien, eine Art von unangenehmer Em¬
pfindung gegeben, und nun wollte er, we¬
nigſtens zu Thereſens Herzen, rein vom Her¬
zen reden, und ihrer Entſchließung und Ent¬
ſcheidung ſein Schickſal ſchuldig ſeyn, und
ſo machte er ſich kein Gewiſſen, ſeine Wäch¬
ter und Aufſeher in dieſem wichtigen Puncte
wenigſtens zu umgehen.


[235]

Zweytes Capitel.

Kaum war der Brief abgeſendet, als Lo¬
thario zurück kam Jedermann freuete ſich
die vorbereiteten wichtigen Geſchäfte abge¬
ſchloſſen und bald geendigt zu ſehen, und
Wilhelm erwartete mit Verlangen, wie ſo
viele Fäden theils neu geknüpft, theils auf¬
gelöſt, und nun ſein eignes Verhältniß auf
die Zukunft beſtimmt werden ſollte. Lotha¬
rio begrüßte ſie alle aufs beſte, er war völ¬
lig wieder hergeſtellt und heiter, er hatte
das Anſehen eines Mannes, der weiß was
er thun ſoll, und dem in allem, was er
thun will, nichts im Wege ſteht.


Wilhelm konnte ihm ſeinen herzlichen
Gruß nicht zurück geben. Dies iſt, mußte
er zu ſich ſelbſt ſagen, der Freund, der Ge¬
[236] liebte, der Bräutigam Thereſens, an deſſen
Statt du dich einzudrängen denkſt. Glaubſt
du denn jemals einen ſolchen Eindruck aus¬
zulöſchen oder zu verbannen? — Wäre der
Brief noch nicht fort geweſen, er hätte viel¬
leicht nicht gewagt ihn abzulaſſen. Glück¬
licher Weiſe war der Wurf ſchon gethan,
vielleicht war Thereſe ſchon entſchieden, nur
die Entfernung deckte noch eine glückliche
Vollendung mit ihrem Schleyer. Gewinn
und Verluſt mußten ſich bald entſcheiden.
Er ſuchte ſich durch alle dieſe Betrachtungen
zu beruhigen, und doch waren die Bewe¬
gungen ſeines Herzens beynahe fieberhaft.
Nur wenig Aufmerkſamkeit konnte er auf
das wichtige Geſchäft wenden, woran ge¬
wiſſermaßen das Schickſal ſeines ganzen Ver¬
mögens hing. Ach! wie unbedeutend erſcheint
dem Menſchen in leidenſchaftlichen Augen¬
blicken alles was ihn umgiebt, alles was
ihm angehört.


[237]

Glücklicher Weiſe für ihn behandelte Lo¬
thario die Sache groß und Werner mit Leich¬
tigkeit. Dieſer hatte bey ſeiner heftigen Be¬
gierde zum Erwerb eine lebhafte Freude über
den ſchönen Beſitz, der ihm oder vielmehr
ſeinem Freunde werden ſollte. Lothario von
ſeiner Seite ſchien ganz andere Betrachtun¬
gen zu machen. Ich kann mich nicht ſowohl
über einen Beſitz freuen, ſagte er, als über
die Rechtmäßigkeit deſſelben.


Nun, beym Himmel! rief Werner, wird
denn dieſer unſer Beſitz nicht rechtmäßig
genug?


Nicht ganz! verſetzte Lothario.


Geben wir denn nicht unſer baares Geld
dafür?


Recht gut! ſagte Lothario, auch werden
Sie dasjenige, was ich zu erinnern habe,
vielleicht für einen leeren Scrupel halten.
Mir kommt kein Beſitz ganz rechtmäßig,
[238] ganz rein vor, als der dem Staate ſeinen
ſchuldigen Theil abträgt.


Wie? ſagte Werner, ſo wollten Sie alſo
lieber, daß unſere freygekauften Güter ſteuer¬
bar wären?


Ja! verſetzte Lothario, bis auf einen ge¬
wiſſen Grad, denn durch dieſe Gleichheit
mit allen übrigen Beſitzungen, entſteht ganz
allein die Sicherheit des Beſitzes. Was hat
der Bauer in den neuern Zeiten, wo ſo
viele Begriffe ſchwankend werden, für einen
Hauptanlaß, den Beſitz des Edelmanns für
weniger gegründet anzuſehen, als den ſeini¬
gen? nur den, daß jener nicht belaſtet iſt,
und auf ihn laſtet.


Wie wird es aber mit den Zinſen unſeres
Capitals ausſehen, verſetzte Werner.


Um nichts ſchlimmer! ſagte Lothario, wenn
uns der Staat gegen eine billige regelmäßige
Abgabe das Lehns-Hokus-Pokus erlaſſen,
[239] und uns mit unſern Gütern nach Belieben
zu ſchalten erlauben wollte, daß wir ſie
nicht in ſo großen Maſſen zuſammenhalten
müßten, daß wir ſie unter unſere Kinder
gleicher vertheilen könnten, um alle in eine
lebhafte freye Thätigkeit zu verſetzen, ſtatt
ihnen nur die beſchränkten und beſchränken¬
den Vorrechte zu hinterlaſſen, welche zu ge¬
nießen wir immer die Geiſter unſerer Vor¬
fahren hervorrufen müſſen. Wie viel glück¬
licher wären Männer und Frauen, wenn ſie
mit freyen Augen umher ſehen, und bald
ein würdiges Mädchen, bald einen trefflichen
Jüngling, ohne andere Rückſichten, durch ihre
Wahl erheben könnten. Der Staat würde
mehr, vielleicht beſſere Bürger haben, und
nicht ſo oft um Köpfe und Hände verlegen
ſeyn.


Ich kann Sie verſichern, ſagte Werner,
daß ich in meinem Leben nie an den Staat
[240] gedacht habe, meine Abgaben, Zölle und
Geleite habe ich nur ſo bezahlt, weil es ein¬
mal hergebracht iſt.


Nun ſagte Lothario, ich hoffe Sie noch
zum guten Patrioten zu machen; denn wie
der nur ein guter Vater iſt, der bey Tiſche
erſt ſeinen Kindern vorlegt, ſo iſt der nur
ein guter Bürger, der vor allen andern Aus¬
gaben das, was er dem Staate zu entrich¬
ten hat, zurücklegt.


Durch ſolche allgemeine Betrachtungen
wurden ihre beſondern Geſchäfte nicht auf¬
gehalten, vielmehr beſchleunigt. Als ſie ziem¬
lich damit zu Stande waren, ſagte Lothario
zu Wilhelmen: ich muß Sie nun an einen
Ort ſchicken, wo Sie nöthiger ſind als hier,
meine Schweſter läßt Sie erſuchen ſobald
als möglich zu ihr zu kommen, der arme
Mignon ſcheint ſich zu verzehren, und man
glaubt Ihre Gegenwart könnte vielleicht noch
dem[241] dem Übel Einhalt thun. Meine Schweſter
ſchickte mir dieſes Billet noch nach, wor¬
aus Sie ſehen können, wie viel ihr daran
gelegen iſt. Lothario überreichte ihm ein
Blättchen. Wilhelm, der ſchon in der grö߬
ten Verlegenheit zugehört hatte, erkannte
ſogleich an dieſen flüchtigen Bleiſtiftzügen
die Hand der Gräfin, und wußte nicht, was
er antworten ſollte.


Nehmen Sie Felix mit, ſagte Lothario,
damit die Kinder ſich unter einander aufhei¬
tern. Sie müßten morgen früh bey Zeiten
weg, der Wagen meiner Schweſter, in wel¬
chem meine Leute hergefahren ſind, iſt noch
hier, ich gebe Ihnen Pferde bis auf halben
Weg, dann nehmen Sie Poſt. Leben Sie
recht wohl, und richten viele Grüße von
mir aus. Sagen Sie dabey meiner Schwe¬
ſter, ich werde ſie bald wieder ſehen, und
ſie ſoll ſich überhaupt auf einige Gäſte vor¬
W. Meiſters Lehrj. 4. Q[242] bereiten. Der Freund unſeres Großoheims,
der Markeſe Cipriani, iſt auf dem Wege
hierher zu kommen, er hoffte den alten
Mann noch am Leben anzutreffen, und ſie
wollten ſich zuſammen an der Erinnerung
früherer Verhältniſſe ergötzen, und ſich ihrer
gemeinſamen Kunſtliebhaberey erfreuen. Der
Markeſe war viel jünger als mein Oheim,
und verdankte ihm den beſten Theil ſeiner
Bildung, wir müſſen alles aufbieten, um
einigermaßen die Lücke auszufüllen, die er
finden wird, und das wird am beſten durch
eine größere Geſellſchaft geſchehen.


Lothario ging darauf mit dem Abbé in
ſein Zimmer, Jarno war vorher weggerit¬
ten, Wilhelm eilte auf ſeine Stube, er hatte
niemand, dem er ſich vertrauen, niemand
durch den er einen Schritt, vor dem er ſich
ſo ſehr fürchtete, hätte abwenden können.
Der kleine Diener kam, und erſuchte ihn
[243] einzupacken, weil ſie noch dieſe Nacht auf¬
binden wollten, um mit Anbruch des Tages
wegzufahren. Wilhelm wußte nicht, was
er thun ſollte, endlich rief er aus: Du willſt
nur machen, daß Du aus dieſem Hauſe
kommſt, unterweges überlegſt Du, was zu
thun iſt, und bleibſt allenfalls auf der Hälfte
des Weges liegen, ſchickſt einen Bothen zu¬
rück, ſchreibſt was Du Dir nicht zu ſagen
getrauſt, und dann mag werden was will.
Ohngeachtet dieſes Entſchluſſes brachte er
eine ſchlafloſe Nacht zu, nur ein Blick auf
den ſo ſchön ruhenden Felix gab ihm einige
Erquickung. O! rief er aus, wer weiß, was
noch für Prüfungen auf mich warten, wer
weiß wie ſehr mich begangene Fehler noch
quälen, wie oft mir gute und vernünftige
Plane für die Zukunft mißlingen ſollen, aber
dieſen Schatz, den ich einmal beſitze, erhalte
mir, du erbittliches, oder unerbittliches Schick¬
Q 2[244] ſal! wäre es möglich, daß dieſer beſte Theil
von mir ſelbſt vor mir zerſtöhrt, daß dieſes
Herz von meinem Herzen geriſſen werden
könnte, ſo lebe wohl Verſtand und Ver¬
nunft, lebe wohl jede Sorgfalt und Vorſicht,
verſchwinde du Trieb zur Erhaltung! alles,
was uns vom Thier unterſcheidet, verliehre
ſich! und wenn es nicht erlaubt iſt, ſeine
traurigen Tage freywillig zu endigen, ſo
hebe ein frühzeitiger Wahnſinn das Bewußt¬
ſeyn auf, ehe der Tod, der es auf immer
zerſtöhrt, die lange Nacht herbeyführt.


Er faßte den Knaben in ſeine Arme,
küßte ihn, drückte ihn an ſich und benetzte
ihn mit reichlichen Thränen. Das Kind
wachte auf; ſein helles Auge, ſein freund¬
licher Blick rührten den Vater aufs innigſte.
Welche Scene ſteht mir bevor, rief er aus,
wenn ich Dich der ſchönen unglücklichen Grä¬
fin vorſtellen ſoll, wenn ſie Dich an ihren
[245] Buſen drückt, den Dein Vater ſo tief ver¬
letzt hat. Muß ich nicht fürchten, ſie ſtößt
Dich wieder von ſich mit einem Schrey, ſo¬
bald Deine Berührung ihren wahren oder
eingebildeten Schmerz erneuert.


Der Kutſcher ließ ihm nicht Zeit weiter
zu denken oder zu wählen, er nöthigte ihn
vor Tage in den Wagen; nun wickelte er
ſeinen Felix wohl ein, der Morgen war kalt
aber heiter, das Kind ſah zum erſtenmal in
ſeinem Leben die Sonne aufgehn. Sein Er¬
ſtaunen über den erſten feurigen Blick, über
die wachſende Gewalt des Lichts, ſeine Freude
und ſeine wunderlichen Bemerkungen erfreu¬
ten den Vater, und ließen ihn einen Blick
in das Herz thun, vor welchem die Sonne
wie über einem reinen ſtillen See empor¬
ſteigt und ſchwebt.


In einer kleinen Stadt ſpannte der Kut¬
ſcher aus und ritt zurück. Wilhelm nahm
[246] ſogleich ein Zimmer in Beſitz, und fragte
ſich nun, ob er bleiben oder vorwärts ge¬
hen ſolle? In dieſer Unentſchloſſenheit wagte
er das Blättchen wieder hervor zu nehmen,
das er bisher nochmals anzuſehen nicht ge¬
traut hatte, es enthielt folgende Worte:
Schicke mir Deinen jungen Freund ja bald;
Mignon hat ſich dieſe beyden letzten Tage
eher verſchlimmert. So traurig dieſe Gele¬
genheit iſt, ſo ſoll michs doch freuen ihn
kennen zu lernen.


Die letzten Worte hatte Wilhelm beym
erſten Blick nicht bemerkt. Er erſchrack dar¬
über, und war ſogleich entſchieden, daß er
nicht gehen wollte. Wie, rief er aus, Lo¬
thario, der das Verhältniß weiß, hat ihr
nicht eröfnet wer ich bin. Sie erwartet nicht
mit geſetztem Gemüth einen Bekannten, den
ſie lieber nicht wieder ſähe, ſie erwartet ei¬
nen Fremden, und ich trete hinein! Ich ſehe
[247] ſie zurückſchaudern, ich ſehe ſie erröthen!
Nein es iſt mir unmöglich dieſer Scene ent¬
gegen zu gehen. So eben wurden die
Pferde herausgeführt und eingeſpannt; Wil¬
helm war entſchloſſen abzuhacken und hier
zu bleiben. Er war in der größten Bewe¬
gung. Als er ein Mädchen zur Treppe her¬
auf kommen hörte, die ihm anzeigen wollte,
daß alles fertig ſey, ſann er geſchwind auf
eine Urſache, die ihn hier zu bleiben nö¬
thigte, und ſeine Augen ruhten ohne Auf¬
merkſamkeit auf dem Billet, das er in der
Hand hielt. Um Gottes Willen! rief er
aus, was iſt das? das iſt nicht die Hand
der Gräfin, es iſt die Hand der Amazone!


Das Mädchen trat herein, bat ihn her¬
unter zu kommen, und führte Felix mit ſich
fort. Iſt es möglich? rief er aus, iſt es
wahr? was ſoll ich thun? bleiben und ab¬
warten und aufklären? oder eilen? eilen!


[248]

und mich einer Entwicklung entgegenſtürzen?
Du biſt auf dem Wege zu ihr, und kannſt
zaudern? Dieſen Abend ſollſt du ſie ſehen,
und willſt dich freywillig ins Gefängniß ein¬
ſperren? Es iſt ihre Hand, ja ſie iſts! dieſe
Hand beruft dich, ihr Wagen iſt angeſpannt,
dich zu ihr zu führen, nun lößt ſich das
Rätzel: Lothario hat zwey Schweſtern. Er
weiß mein Verhältniß zu der einen; wie
viel ich der andern ſchuldig bin, iſt ihm un¬
bekannt. Auch ſie weiß nicht, daß der ver¬
wundete Vagabund, der ihr, wo nicht ſein
Leben, doch ſeine Geſundheit verdankt, in
dem Hauſe ihres Bruders ſo unverdient gü¬
tig aufgenommen worden iſt.


Felix, der ſich unten im Wagen ſchau¬
kelte, rief: Vater komm! o komm! ſieh die
ſchönen Wolken, die ſchönen Farben! ja ich
komme, rief Wilhelm, indem er die Treppe
hinunter ſprang, und alle Erſcheinungen des
[249] Himmels, die Du gutes Kind noch ſehr be¬
wunderſt, ſind nichts gegen den Anblick, den
ich erwarte.


Im Wagen ſitzend rief er nun alle Ver¬
hältniſſe in ſein Gedächtniß zurück. So iſt
alſo auch dieſe Natalie die Freundin There¬
ſens! welch’ eine Entdeckung, welche Hoff¬
nung und welche Ausſichten. Wie ſeltſam,
daß die Furcht, von der einen Schweſter re¬
den zu hören, mir das Daſeyn der andern
ganz und gar verbergen konnte! Mit welcher
Freude ſahe er ſeinen Felix an, er hoffte
für den Knaben wie für ſich die beſte Auf¬
nahme.


Der Abend kam heran, die Sonne war
untergegangen, der Weg nicht der beſte, der
Poſtillon fuhr langſam, Felix war einge¬
ſchlafen, und neue Sorgen und Zweifel ſtie¬
gen in dem Buſen unſeres Freundes auf.
Von welchem Wahn, von welchen Einfällen
[250] wirſt du beherrſcht? ſagte er zu ſich ſelbſt,
eine ungewiſſe Ähnlichkeit der Handſchrift
macht dich auf einmal ſicher, und giebt dir
Gelegenheit das wunderbarſte Mährchen aus¬
zudenken. Er nahm das Billet wieder vor,
und bey dem abgehenden Tageslichte glaubte
er wieder die Handſchrift der Gräfin zu er¬
kennen, ſeine Augen wollten im Einzelnen
nicht wieder finden, was ihm ſein Herz im
Ganzen auf einmal geſagt hatte. — So
ziehen dich denn doch dieſe Pferde zu einer
ſchrecklichen Scene! wer weiß ob ſie dich
nicht in wenig Stunden ſchon wieder zurück
führen werden? und wenn du ſie nur noch
allein anträfeſt; aber vielleicht iſt ihr Ge¬
mahl gegenwärtig, vielleicht die Baroneſſe?
wie verändert werde ich ſie finden! werde
ich vor ihr auf den Füßen ſtehen können?


Nur eine ſchwache Hoffnung, daß er ſei¬
ner Amazone entgegen gehe, konnte manch¬
[251] mal durch die trüben Vorſtellungen durch¬
blicken. Es war Nacht geworden, der Wa¬
gen raſſelte in einen Hof hinein, und hielt
ſtill; ein Bedienter, mit einer Wachsfackel,
trat aus einem prächtigen Portal hervor,
und kam die breiten Stufen herunter, bis
an den Wagen. Sie werden ſchon lange
erwartet, ſagte er, indem er das Leder auf¬
ſchlug. Wilhelm, nachdem er ausgeſtiegen
war, nahm den ſchlafenden Felix auf den
Arm, und der erſte Bediente rief zu einem
zweyten, der mit einem Lichte in der Thüre
ſtand: führe den Herrn gleich zur Baroneſſe.


Blitzſchnell fuhr Wilhelmen durch die
Seele: welch ein Glück! es ſey vorſätzlich
oder zufällig, die Baroneſſe iſt hier! ich ſoll
ſie zuerſt ſehen! wahrſcheinlich ſchläft die
Gräfin ſchon! ihr guten Geiſter helft, daß
der Augenblick der größten Verlegenheit leid¬
lich vorübergehe.


[252]

Er trat in das Haus, und fand ſich an
dem ernſthafteſten, ſeinem Gefühle nach,
dem heiligſten Orte, den er je betreten hatte.
Eine herabhängende blendende Laterne er¬
leuchtete eine breite ſanfte Treppe, die ihm
entgegenſtand, und ſich oben beym Umwen¬
den in zwey Theile teilte. Marmorne Sta¬
tuen und Büſten ſtanden auf Piedeſtalen und
in Niſchen geordnet. Einige ſchienen ihm
bekannt. Jugendeindrücke verlöſchen nicht
auch in ihren kleinſten Theilen. Er erkannte
eine Muſe, die ſeinem Großvater gehört
hatte, zwar nicht an ihrer Geſtalt und an
ihrem Werth, doch an einem reſtaurirten
Arme und an den neueingeſetzten Stücken
des Gewandes. Es war, als wenn er ein
Mährchen erlebte. Das Kind ward ihm
ſchwer, er zauderte auf den Stufen, und
kniete nieder, als ob er es bequemer faſſen
wollte. Eigentlich aber bedurfte er einer au¬
[253] genblicklichen Erholung. Er konnte kaum
ſich wieder aufheben. Der vorleuchtende Be¬
diente wollte ihm das Kind abnehmen, er
konnte es nicht von ſich laſſen. Darauf trat
er in den Vorſaal, und zu ſeinem noch
größern Erſtaunen erblickte er das wohlbe¬
kannte Bild vom kranken Königsſohn an
der Wand. Er hatte kaum Zeit einen Blick
darauf zu werfen, der Bediente nöthigte ihn
durch ein paar Zimmer in ein Kabinet.
Dort, hinter einem Lichtſchirme, der ſie be¬
ſchattete, ſaß ein Frauenzimmer und las.
O daß ſie es wäre! ſagte er zu ſich ſelbſt
in dieſem entſcheidenden Augenblick. Er ſetzte
das Kind nieder, das aufzuwachen ſchien,
und dachte ſich der Dame zu nähern, aber
das Kind ſank ſchlaftrunken zuſammen, das
Frauenzimmer ſtand auf und kam ihm ent¬
gegen. Die Amazone war’s! er konnte ſich
nicht halten, ſtürzte auf ſeine Knie, und rief
[254] aus: ſie iſt’s! er faßte ihre Hand, und küßte
ſie mit unendlichem Entzücken. Das Kind
lag zwiſchen ihnen beyden auf dem Teppich
und ſchlief ſanft.


Felix ward auf das Kanapee gebracht,
Natalie ſetzte ſich zu ihm, ſie hieß Wilhel¬
men auf den Seſſel ſitzen, der zunächſt da¬
bey ſtand. Sie bot ihm einige Erfriſchun¬
gen an, die er ausſchlug, indem er nur be¬
ſchäftigt war, ſich zu verſichern, daß ſie es
ſey, und ihre, durch den Lichtſchirm beſchat¬
teten Züge, genau wieder zu ſehen, und
ſicher wieder zu erkennen. Sie erzählte ihm
von Mignons Krankheit im allgemeinen, daß
das Kind von wenigen tiefen Empfindungen
nach und nach aufgezehrt werde, daß es bey
ſeiner großen Reizbarkeit, die es verberge,
von einem Krampf an ſeinem armen Herzen
oft heftig und gefährlich leide, daß dieſes
erſte Organ des Lebens, bey unvermutheten
[255] Gemüthsbewegungen, manchmal plötzlich ſtille
ſtehe, und keine Spur der heilſamen Lebens¬
regung in dem Buſen des guten Kindes ge¬
fühlt werden könne; ſey dieſer ängſtliche
Krampf vorbey, ſo äußere ſich die Kraft der
Natur wieder in gewaltſamen Pulſen, und
ängſtige das Kind nunmehr durch Übermaß,
wie es vorher durch Mangel gelitten habe.


Wilhelm erinnerte ſich einer ſolchen krampf¬
haften Scene, und Natalie bezog ſich auf
den Arzt, der weiter mit ihm über die Sache
ſprechen, und die Urſache, warum man den
Freund und Wohlthäter des Kindes gegen¬
wärtig herbeygerufen, umſtändlicher vorle¬
gen würde. Eine ſonderbare Veränderung,
fuhr Natalie fort, werden Sie an ihr fin¬
den, ſie geht nunmehr in Frauenkleidern,
vor denen ſie ſonſt einen ſo großen Abſcheu
zu haben ſchien.


Wie haben Sie das erreicht? fragte
Wilhelm.


[256]

Wenn es wünſchenswerth war, ſo ſind
wir es nur dem Zufall ſchuldig. Hören Sie,
wie es zugegangen iſt. Sie wiſſen vielleicht,
daß ich immer eine Anzahl junger Mädchen
um mich habe, deren Geſinnungen ich, in¬
dem ſie neben mir aufwachſen, zum Guten
und Rechten zu bilden wünſchte. Aus mei¬
nem Munde hören ſie nichts, als was ich
ſelber für wahr halte, doch kann ich und
will ich nicht hindern, daß ſie nicht auch
von andern manches vernehmen, was als
Irrthum, als Vorurtheil in der Welt gäng
und gäbe iſt. Fragen ſie mich darüber, ſo
ſuche ich, ſo viel nur möglich iſt, jene frem¬
den ungehörigen Begriffe irgendwo an ei¬
nem richtigen anzuknüpfen, um ſie dadurch,
wo nicht nützlich doch unſchädlich zu machen.
Schon ſeit einiger Zeit hatten meine Mäd¬
chen, aus dem Munde der Bauerkinder, gar
manches von Engeln, vom Knechte Ruprecht,
vom[257] vom Heiligen Chriſte vernommen, die zu ge¬
wiſſen Zeiten in Perſon erſcheinen, gute Kin¬
der beſchenken und unartige beſtrafen ſollten.
Sie hatten eine Vermuthung, daß es ver¬
kleidete Perſonen ſeyn müßten, worin ich ſie
denn auch beſtärkte, und, ohne mich viel
auf Deutungen einzulaſſen, mir vornahm,
ihnen bey der erſten Gelegenheit ein ſolches
Schauſpiel zu geben. Es fand ſich eben,
daß der Geburtstag von Zwillingſchweſtern,
die ſich immer ſehr gut betragen hatten,
nahe war; ich verſprach, daß ihnen diesmal
ein Engel die kleinen Geſchenke bringen
ſollte, die ſie ſowohl verdient hätten. Sie
waren äußerſt geſpannt auf dieſe Erſchei¬
nung. Ich hatte mir Mignon zu dieſer
Rolle ausgeſucht, und ſie ward an dem be¬
ſtimmten Tage in ein langes, leichtes, weißes
Gewand anſtändig gekleidet. Es fehlte nicht
an einem goldenen Gürtel um die Bruſt,
W. Meiſters Lehrj. 4. R[258] und an einem gleichen Diadem in den Haa¬
ren. Anfangs wollte ich die Flügel weglaſ¬
ſen, doch beſtanden die Frauenzimmer, die
ſie anputzten, auf ein Paar große goldene
Schwingen, an denen ſie recht ihre Kunſt
zeigen wollten. So trat, mit einer Lilie in
der einen Hand, und mit einem Körbchen
in der andern, die wunderſame Erſcheinung
in die Mitte der Mädchen, und überraſchte
mich ſelbſt. Da kommt der Engel, ſagte
ich. Die Kinder traten gleichſam alle zurück!
Endlich riefen ſie aus: es iſt Mignon, und
getrauten ſich doch nicht, dem wunderſamen
Bilde näher zu treten.


Hier ſind eure Gaben, ſagte ſie, und
reichte das Körbchen hin. Man verſammelte
ſich um ſie, man betrachtete, man befühlte,
man befragte ſie.


Biſt Du ein Engel? fragte das eine
Kind.


[259]

Ich wollte ich wär’ es, verſetzte Mignon.


Warum trägſt Du eine Lilie?


So rein und offen ſollte mein Herz ſeyn,
dann wär’ ich glücklich.


Wie iſt’s mit den Flügeln? laß ſie ſehen!


Sie ſtellen ſchönere vor, die noch nicht
entfaltet ſind.


Und ſo antwortete ſie bedeutend auf jede
unſchuldige, leichte Frage. Als die Neu¬
gierde der kleinen Geſellſchaft befriedigt war,
und der Eindruck dieſer Erſcheinung ſtumpf
zu werden anfing, wollte man ſie wieder
auskleiden. Sie verwehrte es, nahm ihre Zit¬
ter, ſetzte ſich hier auf dieſen hohen Schreib¬
tiſch hinauf, und ſang ein Lied mit unglaub¬
licher Anmuth.


So laßt mich ſcheinen bis ich werde,

Zieht mir das weiße Kleid nicht aus!

Ich eile, von der ſchönen Erde

Hinab in jenes feſte Haus.
R 2[260]
Dort ruh ich eine kleine Stille,

Dann öffnet ſich der friſche Blick,

Ich laſſe dann die reine Hülle,

Den Gürtel und den Kranz zurück.
Und jene himmliſche Geſtalten

Sie fragen nicht nach Mann und Weib,

Und keine Kleider, keine Falten

Umgeben den verklärten Leib.
Zwar lebt’ ich ohne Sorg und Mühe

Doch fühlt’ ich tiefen Schmerz genung.

Vor Kummer altert ich zu frühe,

Macht mich auf ewig wieder jung.

Ich entſchloß mich ſogleich, fuhr Natalie
fort, ihr das Kleid zu laſſen, und ihr noch
einige der Art anzuſchaffen, in denen ſie nun
auch geht, und in denen, wie es mir ſcheint,
ihr Weſen einen ganz andern Ausdruck hat.


Da es ſchon ſpät war, entließ Natalie
den Ankömmling, der nicht ohne einige Ban¬
gigkeit ſich von ihr trennte. Iſt ſie verhei¬
[261] rathet oder nicht? dachte er bey ſich ſelbſt.
Er hatte gefürchtet, ſo oft ſich etwas regte,
eine Thüre möchte ſich aufthun, und der
Gemahl hereintreten. Der Bediente, der
ihn in ſein Zimmer einließ, entfernte ſich
ſchneller, als er Muth gefaßt hatte, nach
dieſem Verhältniß zu fragen. Die Unruhe
hielt ihn noch eine Zeit lang wach, und er
beſchäftigte ſich das Bild der Amazone mit
dem Bilde ſeiner neuen gegenwärtigen Freun¬
din zu vergleichen. Sie wollten noch nicht
mit einander zuſammenfließen; jenes hatte er
ſich gleichſam geſchaffen, und dieſes ſchien
faſt ihn umſchaffen zu wollen.


[262]

Drittes Capitel.

Den andern Morgen, da noch alles ſtille
und ruhig war, ging er ſich im Hauſe um¬
zuſehen. Es war die reinſte, ſchönſte, wür¬
digſte Baukunſt, die er geſehen hatte. Iſt
doch wahre Kunſt, rief er aus, wie gute
Geſellſchaft; ſie nöthigt uns auf die ange¬
nehmſte Weiſe das Maaß zu erkennen, nach
dem und zu dem unſer Innerſtes gebildet
iſt. Unglaublich angenehm war der Eindruck,
den die Statuen und Büſten ſeines Großva¬
ters auf ihn machten. Mit Verlangen eilte
er dem Bilde vom kranken Königsſohn
entgegen, und noch immer fand er es reizend
und rührend. Der Bediente öffnete ihm ver¬
ſchiedene andere Zimmer, er fand eine Bi¬
bliothek, eine Naturalienſammlung, ein phy¬
[263] ſikaliſches Kabinet. Er fühlte ſich ſo fremd
vor allen dieſen Gegenſtänden. Felix war
indeſſen erwacht und ihm nachgeſprungen;
der Gedanke, wie und wann er Thereſens
Brief erhalten werde, machte ihm Sorge,
er fürchtete ſich vor dem Anblick Mignons,
gewiſſermaßen vor dem Anblick Nataliens.
Wie ungleich war ſein gegenwärtiger Zuſtand
mit jenen Augenblicken, als er den Brief an
Thereſen geſiegelt hatte, und mit frohem
Muth ſich ganz einem ſo edlen Weſen hingab.


Natalie ließ ihn zum Frühſtück einladen.
Er trat in ein Zimmer, in welchem verſchie¬
dene reinlich gekleidete Mädchen, alle, wie
es ſchien, unter zehen Jahren, einen Tiſch
zu rechte machten, indem eine ältliche Per¬
ſon verſchiedene Arten von Getränken her¬
einbrachte.


Wilhelm beſchaute ein Bild, das über
dem Kanapee hing, mit Aufmerkſamkeit, er
[264] mußte es für das Bild Nataliens erkennen,
ſo wenig es ihm genug thun wollte. Nata¬
lie trat herein, und die Ähnlichkeit ſchien
ganz zu verſchwinden. Zu ſeinem Troſte
hatte es ein Ordenskreuz an der Bruſt, und
er ſah ein gleiches an der Bruſt Nataliens.


Ich habe das Portrait hier angeſehen,
ſagte er zu ihr, und mich verwundert, wie
ein Mahler zugleich ſo wahr und ſo falſch
ſeyn kann. Das Bild gleicht Ihnen, im All¬
gemeinen, recht ſehr gut, und doch ſind es
weder Ihre Züge noch ihr Character.


Es iſt zu verwundern, verſetzte Natalie,
daß es noch ſo viel Ähnlichkeit hat; denn es
iſt gar mein Bild nicht, es iſt das Bild ei¬
ner Tante, die mir noch in ihrem Alter glich,
da ich erſt ein Kind war. Es iſt gemahlt,
als ſie ohngefähr meine Jahre hatte, und
beym erſten Anblick glaubt jedermann mich
zu ſehen. Sie hätten dieſe treffliche Perſon
[265] kennen ſollen. Ich bin ihr ſo viel ſchuldig.
Eine ſehr ſchwache Geſundheit, vielleicht zu
viel Beſchäftigung mit ſich ſelbſt, und dabey
eine ſittliche und religiöſe Ängſtlichkeit ließen
ſie das der Welt nicht ſeyn, was ſie unter
andern Umſtänden hätte werden können. Sie
war ein Licht, das nur wenigen Freunden
und mir beſonders leuchtete.


Wäre es möglich, verſetzte Wilhelm, der
ſich einen Augenblick beſonnen hatte, indem
nun auf einmal ſo vielerley Umſtände ihm
zuſammentreffend erſchienen, wäre es mög¬
lich, daß jene ſchöne herrliche Seele, deren
ſtille Bekenntniſſe auch mir mitgetheilt wor¬
den ſind, Ihre Tante ſey?


Sie haben das Heft geleſen? fragte
Natalie.


Ja! verſetzte Wilhelm, mit der größten
Theilnahme und nicht ohne Wirkung auf
mein ganzes Leben. Was mir am meiſten
[266] aus dieſer Schrift entgegen leuchtete, war,
ich möchte ſo ſagen, die Reinlichkeit des
Daſeyns, nicht allein ihrer ſelbſt, ſondern
auch alles deſſen, was ſie umgab. Dieſe
Selbſtſtändigkeit ihrer Natur und die Un¬
möglichkeit, etwas in ſich aufzunehmen, was
mit der edlen, liebevollen Stimmung nicht
harmoniſch war.


So ſind Sie, verſetzte Natalie, billiger,
ja ich darf wohl ſagen, gerechter gegen dieſe
ſchöne Natur, als manche andere, denen
man auch dieſes Manuſcript mitgetheilt hat.
Jeder gebildete Menſch weiß, wie ſehr er
an ſich und andern mit einer gewiſſen Ro¬
heit zu kämpfen hat, wie viel ihn ſeine Bil¬
dung koſtet, und wie ſehr er doch in gewiſ¬
ſen Fällen nur an ſich ſelbſt denkt und ver¬
gißt, was er andern ſchuldig iſt. Wie oft
macht der gute Menſch ſich Vorwürfe, daß
er nicht zart genug gehandelt habe, und
[267] doch wenn nun eine ſchöne Natur ſich allzu
zart, ſich allzu gewiſſenhaft bildet, ja, wenn
man will ſich überbildet, für dieſe ſcheint
keine Duldung, keine Nachſicht in der Welt
zu ſeyn. Und doch ſind die Menſchen dieſer
Art, außer uns, was die Ideale im Innern
ſind, Vorbilder, nicht zum Nachahmen, ſon¬
dern zum Nachſtreben. Man lacht über die
Reinlichkeit der Holländerinnen, und doch
wäre Freundin Thereſe nicht was ſie iſt,
wenn ihr nicht eine ähnliche Idee in ihrem
Hausweſen immer vorſchwebte.


So finde ich alſo, rief Wilhelm aus, in
Thereſens Freundin jene Natalie vor mir,
an welcher das Herz jener köſtlichen Ver¬
wandten hing, jene Natalie, die von Ju¬
gend an ſo theilnehmend, ſo liebevoll und
hülfreich war. Nur aus einem ſolchen Ge¬
ſchlecht konnte eine ſolche Natur entſtehen!
Welch eine Ausſicht eröfnet ſich vor mir, da
[268] ich auf einmal Ihre Voreltern und den gan¬
zen Kreis, dem Sie angehören, überſchaue.


Ja! verſetzte Natalie, Sie könnten in ei¬
nem gewiſſen Sinne nicht beſſer von uns
unterrichtet ſeyn, als durch den Aufſatz un¬
ſerer Tante; freylich hat ihre Neigung zu
mir ſie zu viel Gutes von dem Kinde ſagen
laſſen. Wenn man von einem Kinde redet,
ſpricht man niemals den Gegenſtand, immer
nur ſeine Hoffnungen aus.


Wilhelm hatte indeſſen ſchnell überdacht,
daß er nun auch von Lothario’s Herkunft
und früher Jugend unterrichtet ſey; die ſchöne
Gräfin erſchien ihm als Kind mit den Per¬
len ihrer Tante um den Hals; auch er war
dieſen Perlen ſo nahe geweſen, als ihre zar¬
ten liebevollen Lippen ſich zu den ſeinigen
herunter neigten; er ſuchte dieſe ſchönen Er¬
innerungen durch andere Gedanken zu ent¬
fernen. Er lief die Bekanntſchaften durch‚
[269] die ihm jene Schrift verſchafft hatte. So
bin ich denn, rief er aus, in dem Hauſe des
würdigen Oheims! Es iſt kein Haus, es iſt
ein Tempel, und Sie ſind die würdige Prie¬
ſterinn, ja der Genius ſelbſt; ich werde mich
des Eindrucks von geſtern Abend zeitlebens
erinnern, als ich hereintrat, und die alten
Kunſtbilder der frühſten Jugend wieder vor
mir ſtanden. Ich erinnerte mich der mitlei¬
digen Marmorbilder in Mignons Lied; aber
dieſe Bilder hatten über mich nicht zu trauern,
ſie ſahen mich mit hohem Ernſt an, und
ſchloſſen meine früheſte Zeit unmittelbar an
dieſen Augenblick. Dieſen unſern alten Fa¬
milienſchatz, dieſe Lebensfreude meines Gro߬
vaters finde ich hier, zwiſchen ſo vielen an¬
dern würdigen Kunſtwerken aufgeſtellt, und
mich, den die Natur zum Liebling dieſes
guten alten Mannes gemacht hatte, mich
Unwürdigen, finde ich nun auch hier! o
[270] Gott! in welchen Verbindungen, in welcher
Geſellſchaft.


Die weibliche Jugend hatte nach und
nach das Zimmer verlaſſen, um ihren klei¬
nen Beſchäftigungen nachzugehn. Wilhelm,
der mit Natalien allein geblieben war, mußte
ihr ſeine letzten Worte deutlicher erklären.
Die Entdeckung, daß ein ſchätzbarer Theil
der aufgeſtellten Kunſtwerke ſeinem Gro߬
vater angehört hatte, gab eine ſehr heitere
geſellige Stimmung. So wie er durch jenes
Manuſcript mit dem Hauſe [bekannt] wor¬
den war, ſo fand er ſich nun auch gleichſam
in ſeinem Erbtheile wieder, wünſchte Mignon
zu ſehen, die Freundinn bat ihn ſich noch ſo
lange zu gedulden, bis der Arzt, der in die
Nachbarſchaft gerufen worden, wieder zurück
käme. Man kann leicht denken, daß es der¬
ſelbe kleine thätige Mann ſey, den wir
ſchon kennen, und deſſen auch die Bekennt¬
niſſe einer ſchönen Seele erwähnten.


[271]

Da ich mich, fuhr Wilhelm fort, mitten
in jenem Familienkreis befinde, ſo iſt ja wohl
der Abbé, deſſen jene Schrift erwähnt, auch
der wunderbare, unerklärliche Mann, den
ich in dem Hauſe Ihres Bruders, nach den
ſeltſamſten Ereigniſſen, wiedergefunden habe.
Vielleicht geben Sie mir einige nähere Auf¬
ſchlüſſe über ihn?


Natalie verſetzte: über ihn wäre vieles
zu ſagen; wovon ich am genaueſten unter¬
richtet bin, iſt der Einfluß, den er auf un¬
ſere Erziehung gehabt hat. Er war, wenig¬
ſtens eine Zeit lang, überzeugt, daß die Er¬
ziehung ſich nur an die Neigung anſchließen
müſſe; wie er jetzt denkt, kann ich nicht ſa¬
gen. Er behauptete: das erſte und letzte
am Menſchen ſey Thätigkeit, und man könne
nichts thun, ohne die Anlage dazu zu haben,
ohne den Inſtinkt, der uns dazu treibe. Man
giebt zu, pflegte er zu ſagen, daß Poeten
[272] gebohren werden, man giebt es bey allen
Künſten zu, weil man muß, und weil jene
Wirkungen der menſchlichen Natur kaum
ſcheinbar nachgeäfft werden können; aber,
wenn man es genau betrachtet, ſo wird jede
auch nur die geringſte Fähigkeit uns ange¬
bohren, und es giebt keine unbeſtimmte Fä¬
higkeit. Nur unſere zweydeutige, zerſtreute
Erziehung macht die Menſchen ungewis, ſie
erregt Wünſche ſtatt Triebe zu beleben, und,
anſtatt den wirklichen Anlagen aufzuhelfen,
richtet ſie das Streben nach Gegenſtänden,
die ſo oft mit der Natur, die ſich nach ih¬
nen bemüht, nicht übereinſtimmen. Ein Kind,
ein junger Menſch, die auf ihrem eigenen
Wege irre gehen, ſind mir lieber als manche,
die auf fremdem Wege recht wandeln. Fin¬
den jene, entweder durch ſich ſelbſt, oder
durch Anleitung, den rechten Weg, das iſt
den, der ihrer Natur gemäß iſt, ſo werden
ſie[273] ſie ihn nie verlaſſen, an ſtatt daß dieſe je¬
den Augenblick in Gefahr ſind, ein fremdes
Joch abzuſchütteln, und ſich einer unbeding¬
ten Freyheit zu übergeben.


Es iſt ſonderbar, ſagte Wilhelm, daß
dieſer merkwürdige Mann auch an mir Theil
genommen, und mich, wie es ſcheint, nach
ſeiner Weiſe, wo nicht geleitet, doch wenig¬
ſtens eine Zeit lang in meinen Irrthümern
geſtärkt hat. Wie er es künftig verantwor¬
ten will, daß er, und wie es ſcheint meh¬
rere, mich gleichſam zum beſten hatten, muß
ich wohl mit Geduld erwarten.


Ich habe mich nicht über dieſe Grille,
wenn ſie eine iſt, zu beklagen, ſagte Nata¬
lie; denn ich bin freylich unter meinen Ge¬
ſchwiſtern am beſten dabey gefahren. Auch
ſeh’ ich nicht, wie mein Bruder Lothario
hätte ſchöner ausgebildet werden können, nur
hätte vielleicht meine gute Schweſter, die
W. Meiſters Lehrj. 4. S[274] Gräfin, anders behandelt werden ſollen, viel¬
leicht hätte man ihrer Natur etwas mehr
Ernſt und Stärke einflößen können. Was
aus Bruder Friedrich werden ſoll, läßt ſich
gar nicht denken; ich fürchte, er wird das
Opfer dieſer pädagogiſchen Verſuche werden.


Sie haben noch einen Bruder? rief
Wilhelm.


Ja! verſetzte Natalie, und zwar eine ſehr
luſtige, leichtfertige Natur, und da man ihn
nicht abgehalten hatte in der Welt herum¬
zufahren, ſo weiß ich nicht, was aus dieſem
loſen, lockern Weſen werden ſoll. Ich habe
ihn ſeit langer Zeit nicht geſehen. Das ein¬
zige beruhigt mich, daß der Abbé, und über¬
haupt die Geſellſchaft meines Bruders, je¬
derzeit unterrichtet ſind, wo er ſich aufhält
und was er treibt.


Wilhelm war eben im Begriff über die
ſonderbaren Meinungen ſowohl Nataliens
[275] Gedanken zu erforſchen, als auch über die
geheimnißvolle Geſellſchaft von ihr Auf¬
ſchlüſſe zu begehren, als der Medikus her¬
eintrat, und nach dem erſten Willkommen
ſogleich von Mignons Zuſtande zu ſprechen
anfing.


Natalie, die darauf den Felix bey der
Hand nahm, ſagte, ſie wolle ihn zu Mignon
führen, und das Kind auf die Erſcheinung
ſeines Freundes vorbereiten.


Der Arzt war nunmehr mit Wilhelm al¬
lein, und fuhr fort: Ich habe Ihnen wun¬
derbare Dinge zu erzählen, die Sie kaum
vermuthen. Natalie läßt uns Raum, damit
wir freyer von Dingen ſprechen können, die,
ob ich ſie gleich nur durch ſie ſelbſt erfahren
konnte, doch in ihrer Gegenwart ſo frey
nicht abgehandelt werden dürften. Die ſon¬
derbare Natur des guten Kindes, von dem
jetzt die Rede iſt, beſteht beynah nur aus
S 2[276] einer tiefen Sehnſucht; das Verlangen, ihr
Vaterland wieder zu ſehen, und das Ver¬
langen nach Ihnen, mein Freund, iſt, möchte
ich faſt ſagen, das einzige Irrdiſche an ihr,
beydes greift nur in eine unendliche Ferne,
beyde Gegenſtände liegen unerreichbar vor
dieſem einzigen Gemüth. Sie mag in der
Gegend von Mailand zu Hauſe ſeyn, und
iſt in ſehr früher Jugend, durch eine Geſell¬
ſchaft Seiltänzer, ihren Eltern entführt wor¬
den. Näheres kann man von ihr nicht er¬
fahren, theils weil ſie zu jung war, um Ort
und Nahmen genau angeben zu können, be¬
ſonders aber, weil ſie einen Schwur gethan
hat, keinem lebendigen Menſchen ihre Woh¬
nung und Herkunft näher zu bezeichnen.
Denn eben jene Leute, die ſie in der Irre
fanden, und denen ſie ihre Wohnung ſo ge¬
nau beſchrieb, mit ſo dringenden Bitten ſie
nach Hauſe zu führen, nahmen ſie nur deſto
[277] eiliger mit ſich fort, und ſcherzten Nachts
in der Herberge, da ſie glaubten das Kind
ſchlafe ſchon, über den guten Fang, und be¬
theuerten, daß es den Weg zurück nicht wie¬
der finden ſollte. Da überfiel das arme Ge¬
ſchöpf eine gräßliche Verzweiflung, in der
ihm zuletzt die Mutter Gottes erſchien, und
ihm verſicherte, daß ſie ſich ſeiner annehmen
wolle. Es ſchwur darauf bey ſich ſelbſt ei¬
nen heiligen Eid, daß ſie künftig niemand
mehr vertrauen, niemand ihre Geſchichte er¬
zählen und in der Hoffnung einer unmittel¬
baren göttlichen Hülfe leben und ſterben
wolle. Selbſt dieſes, was ich Ihnen hier
erzähle, hat ſie Natalien nicht ausdrücklich
vertraut; unſere werthe Freundin hat es aus
einzelnen Äuſſerungen, aus Liedern und kind¬
lichen Unbeſonnenheiten, die gerade das ver¬
rathen, was ſie verſchweigen wollen, zuſam¬
men gebaut.


[278]

Wilhelm konnte ſich nunmehr manches
Lied, manches Wort dieſes guten Kindes er¬
klären. Er bat ſeinen Freund aufs drin¬
gendſte, ihm ja nichts vorzuenthalten, was
ihm von den ſonderbaren Geſängen und Be¬
kenntniſſen des einzigen Weſens bekannt
worden ſey.


O! ſagte der Arzt, bereiten Sie ſich auf
ein ſonderbares Bekenntniß, auf eine Ge¬
ſchichte, an der Sie, ohne ſich zu erinnern,
viel Antheil haben, die, wie ich fürchte, für
Tod und Leben dieſes guten Geſchöpfs ent¬
ſcheidend iſt.


Laſſen Sie mich hören, verſetzte Wilhelm,
ich bin äußerſt ungeduldig.


Erinnern Sie ſich, ſagte der Arzt eines
geheimen, nächtlichen, weiblichen Beſuchs
nach der Aufführung des Hamlets?


Ja ich erinnere mich deſſen wohl! rief
Wilhelm beſchämt, aber ich glaubte nicht
[279] in dieſem Augenblick daran erinnert zu
werden.


Wiſſen Sie, wer es war?


Nein! Sie erſchrecken mich! ums Him¬
mels willen doch nicht Mignon? wer war’s?
ſagen Sie mir’s.


Ich weiß es ſelbſt nicht.


Alſo nicht Mignon?


Nein, gewiß nicht, aber Mignon war
im Begriff ſich zu Ihnen zu ſchleichen, und
mußte, aus einem Winkel, mit Entſetzen
ſehen, daß eine Nebenbuhlerinn ihr zuvor
kam.


Eine Nebenbuhlerinn! rief Wilhelm aus,
reden Sie weiter, Sie verwirren mich ganz
und gar.


Seyn Sie froh, ſagte der Arzt, daß Sie
dieſe Reſultate ſo ſchnell von mir erfahren
können. Natalie und ich, die wir doch nur
einen entferntern Antheil nehmen, wir wa¬
[280] ren genug gequält, bis wir den verworre¬
nen Zuſtand dieſes guten Weſens, dem wir
zu helfen wünſchten, nur ſo deutlich einſehen
konnten. Durch leichtſinnige Reden Phili¬
nens und der andern Mädchen, durch ein
gewiſſes Liedchen aufmerkſam gemacht, war
ihr der Gedanke ſo reizend geworden, eine
Nacht bey dem Geliebten zuzubringen, ohne
daß ſie dabey etwas weiter als eine ver¬
trauliche, glückliche Ruhe zu denken wußte.
Die Neigung für Sie, mein Freund, war
in dem guten Herzen ſchon lebhaft und ge¬
waltſam, in ihren Armen hatte das gute
Kind ſchon von manchem Schmerzen ausge¬
ruht, ſie wünſchte ſich nun dieſes Glück in
ſeiner ganzen Fülle. Bald nahm ſie ſich vor,
ſie freundlich darum zu bitten, bald hielt ſie
ein heimlicher Schauder wieder davon zu¬
rück. Endlich gab ihr der luſtige Abend und
die Stimmung des häufig genoſſenen Weins,
[281] den Muth das Wageſtück zu verſuchen, und
ſich jene Nacht bey Ihnen einzuſchleichen.
Schon war ſie vorausgelaufen, um ſich in
der unverſchloſſenen Stube zu verbergen, al¬
lein als ſie eben die Treppe hinaufgekom¬
men war, hörte ſie ein Geräuſch, ſie ver¬
barg ſich, und ſah ein weißes, weibliches
Weſen in ihr Zimmer ſchleichen. Sie kamen
ſelbſt bald darauf, und ſie hörte den großen
Riegel zuſchieben.


Mignon empfand unerhörte Qual, alle
die heftigen Empfindungen einer leidenſchaft¬
lichen Eiferſucht miſchten ſich zu dem uner¬
kannten Verlangen einer dunkeln Begierde,
und griffen die halb entwickelte Natur ge¬
waltſam an. Ihr Herz, das bisher vor Sehn¬
ſucht und Erwartung lebhaft geſchlagen hatte,
fing auf einmal an zu ſtocken, und drückte,
wie eine bleyerne Laſt, ihren Buſen, ſie
konnte nicht zu Athem kommen, ſie wußte
[282] ſich nicht zu helfen, ſie hörte die Harfe des
Alten, eilte zu ihm unter das Dach, und
brachte die Nacht zu ſeinen Füßen unter
entſetzlichen Zuckungen hin.


Der Arzt hielt einen Augenblick inne,
und da Wilhelm ſtille ſchwieg, fuhr er fort:
Natalie hat mir verſichert, es habe ſie in
ihrem Leben nichts ſo erſchreckt und ange¬
griffen, als der Zuſtand des Kindes bey die¬
ſer Erzählung; ja unſere edle Freundin
machte ſich Vorwürfe, daß ſie durch ihre
Fragen und Anleitungen dieſe Bekenntniſſe
hervorgelockt, und durch die Erinnerung die
lebhaften Schmerzen des guten Mädchens
ſo grauſam erneuert habe.


Das gute Geſchöpf, ſo erzählte mir Na¬
talie, war kaum auf dieſem Punkte ſeiner
Erzählung, oder vielmehr ſeiner Antworten
auf meine ſteigenden Fragen, als es auf
einmal vor mir niederſtürzte, und, mit der
[283] Hand am Buſen, über den wiederkehrenden
Schmerz jener ſchrecklichen Nacht ſich be¬
klagte. Es wand ſich wie ein Wurm an
der Erde, und ich mußte alle meine Faſſung
zuſammen nehmen, um die Mittel, die mir
für Geiſt und Körper unter dieſen Umſtän¬
den bekannt waren, zu denken und anzu¬
wenden.


Sie ſetzen mich in eine bängliche Lage,
verſetzte Wilhelm, indem Sie mich, in dem
Augenblicke, da ich das liebe Geſchöpf wie¬
der ſehen ſoll, mein vielfaches Unrecht ge¬
gen daſſelbe ſo lebhaft fühlen laſſen. Soll
ich ſie ſehen, warum nehmen Sie mir den
Muth ihr mit Freyheit entgegen zu treten;
und ſoll ich Ihnen geſtehen, da Ihr Ge¬
müth ſo geſtimmt iſt, ſo ſeh ich nicht ein,
was meine Gegenwart helfen ſoll? ſind Sie
als Arzt überzeugt, daß jene doppelte Sehn¬
ſucht ihre Natur ſo weit untergraben hat,
[284] daß ſie ſich vom Leben abzuſcheiden droht,
warum ſoll ich durch meine Gegenwart ihre
Schmerzen erneuern, und vielleicht ihr Ende
beſchleunigen?


Mein Freund! verſetzte der Arzt, wo
wir nicht helfen können, ſind wir doch ſchul¬
dig zu lindern, und wie ſehr die Gegenwart
eines geliebten Gegenſtandes der Einbildungs¬
kraft ihre zerſtöhrende Gewalt nimmt, und
die Sehnſucht in ein ruhiges Schauen ver¬
wandelt, davon habe ich die wichtigſten
Beyſpiele. Alles mit Maaß und Ziel! Denn
eben ſo kann die Gegenwart eine verlö¬
ſchende Leidenſchaft wieder anfachen. Sehen
Sie das gute Kind, betragen Sie ſich freund¬
lich, und laſſen Sie uns abwarten, was
daraus entſteht.


Natalie kam eben zurück, und verlangte,
daß Wilhelm ihr zu Mignon folgen ſollte.
Sie ſcheint mit Felix ganz glücklich zu ſeyn,
[285] und wird den Freund, hoffe ich, gut em¬
pfangen. Wilhelm folgte nicht ohne einiges
Widerſtreben, er war tief gerührt von dem,
was er vernommen hatte, und fürchtete eine
leidenſchaftliche Scene. Als er hineintrat,
ergab ſich gerade das Gegentheil.


Mignon im langen weißen Frauenge¬
wande, theils mit lockigen, theils aufgebun¬
denen, reichen, braunen Haaren, ſaß, hatte
Felix auf dem Schoße und drückte ihn an
ihr Herz, ſie ſah völlig aus wie ein abge¬
ſchiedner Geiſt, und der Knabe wie das Le¬
ben ſelbſt, es ſchien als wenn Himmel und
Erde ſich umarmten. Sie reichte Wilhelmen
lächelnd die Hand, und ſagte: ich danke
Dir, daß Du mir das Kind wieder bringſt,
ſie hatten ihn Gott weiß wie entführt, und
ich konnte nicht leben zeither. So lange
mein Herz auf der Erde noch was bedarf,
ſoll dieſer die Lücke ausfüllen.


[286]

Die Ruhe, womit Mignon ihren Freund
empfangen hatte, verſetzte die Geſellſchaft
in große Zufriedenheit. Der Arzt verlangte,
daß Wilhelm ſie öfters ſehen, und daß man
ſie ſowohl körperlich als geiſtig im Gleichge¬
wicht erhalten ſollte. Er ſelbſt entfernte
ſich, und verſprach in kurzer Zeit wieder zu
kommen.


Wilhelm konnte nun Natalien in ihrem
Kreiſe beobachten, man hätte ſich nichts beſ¬
ſeres gewünſcht, als neben ihr zu leben, ihre
Gegenwart hatte den reinſten Einfluß auf
junge Mädchen und Frauenzimmer von ver¬
ſchiedenem Alter, die theils in ihrem Hauſe
wohnten, theils aus der Nachbarſchaft ſie
mehr oder weniger zu beſuchen kamen.


Der Gang Ihres Lebens, ſagte Wilhelm
einmal zu ihr, iſt wohl immer ſehr gleich
geweſen? denn die Schilderung, die Ihre
Tante von Ihnen als Kind macht, ſcheint,
[287] wenn ich nicht irre, noch immer zu paſſen.
Sie haben ſich, man fühlt es Ihnen wohl
an, nie verwirrt. Sie waren nie genöthigt
einen Schritt zurück zu thun.


Das bin ich meinem Oheim und dem
Abbé ſchuldig, verſetzte Natalie, die meine
Eigenheiten ſo gut zu beurteilen wußten.
Ich erinnere mich von Jugend an kaum ei¬
nes Eindrucks als des lebhafteſten, daß ich
überall die Bedürfniſſe der Menſchen ſah,
und ein unüberwindliches Verlangen em¬
pfand ſie auszugleichen. Das Kind, das
noch nicht auf ſeinen Füßen ſtehen konnte,
der Alte, der ſich nicht mehr auf den ſeini¬
gen erhielt, das Verlangen einer reichen Fa¬
milie nach Kindern, die Unfähigkeit einer ar¬
men die ihrigen zu erhalten, jedes ſtille Ver¬
langen nach einem Gewerbe, den Trieb zu
einem Talente, die Anlagen zu hundert klei¬
nen nothwendigen Fähigkeiten, dieſe überall
[288] zu entdecken, ſchien mein Auge von der Na¬
tur beſtimmt. Ich ſah, worauf mich nie¬
mand aufmerkſam gemacht hatte, ich ſchien
aber auch nur gebohren, um das zu ſehen.
Die Reize der lebloſen Natur, für die ſo
viele Menſchen äußerſt empfänglich ſind,
hatten keine Wirkung auf mich, beynah noch
weniger die Reize der Kunſt, meine ange¬
nehmſte Empfindung war und iſt es noch,
wenn ſich mir ein Mangel, ein Bedürfniß
in der Welt darſtellte, ſogleich im Geiſte
einen Erſatz, ein Mittel, eine Hülfe auf¬
zufinden.


Sah ich einen Armen in Lumpen, ſo fie¬
len mir die überflüſſigen Kleider ein, die ich
in den Schränken der Meinigen hatte hän¬
gen ſehen; ſah ich Kinder, die ſich ohne
Sorgfalt und ohne Pflege verzehrten, ſo
erinnerte ich mich dieſer oder jener Frau,
der ich, bey Reichthum und Bequemlichkeit,
Lange¬[289] Langeweile abgemerkt hatte; ſah ich viele
Menſchen in einem engen Raum eingeſperrt,
ſo dachte ich ſie müßten in die großen Zim¬
mer mancher Häuſer und Paläſte einquartirt
werden. Dieſe Art zu ſehen war bey mir
ganz natürlich, ohne die mindeſte Reflexion,
ſo daß ich darüber, als Kind, das wunder¬
lichſte Zeug von der Welt machte, und mehr
als einmal, durch die ſonderbarſten Anträge,
die Menſchen in Verlegenheit ſetzte. Noch
eine Eigenheit war es, daß ich das Geld
nur mit Mühe, und ſpät, als ein Mittel
die Bedürfniſſe zu befriedigen, anſehen konnte,
alle meine Wohlthaten beſtanden in Natu¬
ralien, und ich weiß daß oft genug über
mich gelacht worden iſt. Nur der Abbé
ſchien mich zu verſtehen, er kam mir überall
entgegen, er machte mich mit mir ſelbſt,
mit dieſen Wünſchen und Neigungen bekannt,
und lehrte mich, ſie zweckmäßig befriedigen.


W. Meiſters Lehrj. 4. T[290]

Haben Sie denn, fragte Wilhelm, bey
der Erziehung Ihrer kleinen weiblichen Welt,
auch die Grundſätze jener ſonderbaren Män¬
ner angenommen? laſſen Sie denn auch jede
Natur ſich ſelbſt ausbilden? laſſen Sie denn
auch die Ihrigen ſuchen und irren, Mißgriffe
thun, ſich glücklich am Ziel finden, oder un¬
glücklich in die Irre verliehren?


Nein! ſagte Natalie, dieſe Art mit Men¬
ſchen zu handeln würde ganz gegen meine
Geſinnungen ſeyn. Wer nicht im Augen¬
blick hilft, ſcheint mir nie zu helfen, wer
nicht im Augenblicke Rath giebt, nie zu ra¬
then. Eben ſo nöthig ſcheint es mir gewiſſe
Geſetze auszuſprechen, und den Kindern ein¬
zuſchärfen, die dem Leben einen gewiſſen
Halt geben. Ja, ich möchte beynah behaup¬
ten: es ſey beſſer nach Regeln zu irren, als
zu irren, wenn uns die Willkühr unſerer
Natur hin und her treibt, und wie ich die
[291] Menſchen ſehe, ſcheint mir in ihrer Natur
immer eine Lücke zu bleiben, die nur durch
ein entſchieden ausgeſprochenes Geſetz aus¬
gefüllt werden kann.


So iſt alſo Ihre Handelsweiſe, ſagte
Wilhelm, völlig von jener verſchieden, welche
unſere Freunde beobachten.


Ja! verſetzte Natalie, Sie können aber
hieraus die unglaubliche Toleranz jener Män¬
ner ſehen, daß ſie eben auch mich, auf mei¬
nem Wege, gerade deswegen, weil es mein
Weg iſt, keinesweges ſtören, ſondern mir in
allem, was ich nur wünſchen kann, entge¬
genkommen.


Einen umſtändlichern Bericht, wie Nata¬
lie mit ihren Kindern verfuhr, verſparen
wir auf eine andere Gelegenheit.


Mignon verlangte oft in der Geſellſchaft
zu ſeyn, und man vergönnte es ihr um ſo
lieber, als ſie ſich nach und nach wieder an
T 2[292] Wilhelmen zu gewöhnen, ihr Herz gegen
ihn aufzuſchließen und überhaupt heiterer
und lebensluſtiger zu werden ſchien. Sie
hing ſich, beym Spazierengehen, da ſie leicht
müde ward, gern an ſeinen Arm. Nun,
ſagte ſie, Mignon klettert und ſpringt nicht
mehr, und doch fühlt er noch immer die Be¬
gierde über die Gipfel der Berge wegzuſpa¬
zieren, von einem Hauſe aufs andere, von
einem Baume auf den andern zu ſchreiten.
Wie beneidenswerth ſind die Vögel, beſon¬
ders wenn ſie ſo artig und vertraulich ihre
Neſter bauen.


Es ward nun bald zur Gewohnheit, daß
Mignon ſeinen Freund mehr als einmal in
den Garten lud. War dieſer beſchäftigt oder
nicht zu finden, ſo mußte Felix die Stelle
vertreten, und wenn das gute Mädchen in
manchen Augenblicken ganz von der Erde
los ſchien, ſo hielt ſie ſich in andern gleich¬
[293] ſam wieder feſt an Vater und Sohn, und
ſchien eine Trennung von dieſen mehr als
alles zu fürchten.


Natalie ſchien nachdenklich. Wir haben
gewünſcht durch Ihre Gegenwart, ſagte ſie,
das arme gute Herz wieder aufzuſchließen;
ob wir wohl gethan haben, weiß ich nicht.
Sie ſchwieg und ſchien zu erwarten, daß
Wilhelm etwas ſagen ſollte. Auch ihm fiel
ein, daß durch ſeine Verbindung mit There¬
ſen, Mignon, unter den gegenwärtigen Um¬
ſtänden, aufs äußerſte gekränkt werden
müſſe; allein er getraute ſich in ſeiner Un¬
gewißheit nichts von dieſem Vorhaben zu
ſprechen, er vermuthete nicht, daß Natalie
davon unterrichtet ſey.


Eben ſo wenig konnte er mit Freyheit
des Geiſtes die Unterredung verfolgen, wenn
ſeine edle Freundin von ihrer Schweſter
ſprach, ihre guten Eigenſchaften rühmte und
ihren Zuſtand bedauerte. Er war nicht we¬
[294] nig verlegen, als Natalie ihm ankündigte,
daß er die Gräfin bald hier ſehen werde.
Ihr Gemahl, ſagte ſie, hat nun keinen an¬
dern Sinn, als den abgeſchiedenen Grafen
in der Gemeinde zu erſetzen, durch Einſicht
und Thätigkeit dieſe große Anſtalt zu unter¬
ſtützen und weiter aufzubauen, er kommt
mit ihr zu uns, um eine Art von Abſchied
zu nehmen, er wird nachher die verſchiede¬
nen Orte beſuchen, wo die Gemeinde ſich
niedergelaſſen hat, man ſcheint ihn nach ſei¬
nen Wünſchen zu behandeln, und faſt glaub
ich, er wagt mit meiner armen Schweſter
eine Reiſe nach Amerika, um ja ſeinem Vor¬
gänger recht ähnlich zu werden, und da er
einmal ſchon beynah überzeugt iſt, daß ihm
nicht viel fehle ein Heiliger zu ſeyn, ſo mag
ihm der Wunſch manchmal vor der Seele
ſchweben, wo möglich zuletzt auch noch als
Märtyrer zu glänzen.


[295]

Viertes Capitel.

Oft genug hatte man bisher von Fräulein
Thereſe geſprochen, oft genug ihrer im Vor¬
beygehen erwähnt, und faſt jedesmal war
Wilhelm im Begriff ſeiner neuen Freundinn
zu bekennen, daß er jenem trefflichen Frauen¬
zimmer ſein Herz und ſeine Hand angeboten
habe. Ein gewiſſes Gefühl, das er ſich nicht
erklären konnte, hielt ihn zurück, er zau¬
derte ſo lange, bis endlich Natalie ſelbſt,
mit dem himmliſchen, beſcheidnen, heitern
Lächeln, das man an ihr zu ſehen gewohnt
war, zu ihm ſagte: ſo muß ich denn doch
zuletzt das Stillſchweigen brechen, und mich
in Ihr Vertrauen gewaltſam eindrängen!
Warum machen Sie mir ein Geheimnis,
mein Freund, aus einer Angelegenheit, die
[296] Ihnen ſo wichtig iſt, und die mich ſelbſt ſo
nahe angeht? Sie haben meiner Freundin
Ihre Hand angeboten, ich miſche mich nicht
ohne Beruf in dieſe Sache, hier iſt meine
Legitimation, hier iſt der Brief, den ſie
Ihnen ſchreibt, den ſie durch mich Ihnen
ſendet.


Einen Brief von Thereſen! rief er aus.


Ja, mein Herr, und Ihr Schickſal iſt
entſchieden, Sie ſind glücklich. Laſſen Sie
mich Ihnen und meiner Freundin Glück
wünſchen.


Wilhelm verſtummte, und ſah vor ſich
hin. Natalie ſah ihn an, ſie bemerkte, daß
er blaß ward. Ihre Freude iſt ſtark, fuhr
ſie fort, ſie nimmt die Geſtalt des Schreckens
an, ſie raubt Ihnen die Sprache. Mein
Antheil iſt darum nicht weniger herzlich, weil
er mich noch zum Worte kommen läßt. Ich
hoffe Sie werden dankbar ſeyn, denn ich
[297] darf Ihnen ſagen: mein Einfluß auf There¬
ſens Entſchließung war nicht gering, ſie
fragte mich um Rath, und, ſonderbarer
Weiſe, waren Sie eben hier, ich konnte die
wenigen Zweifel, die meine Freundin noch
hegte, glücklich beſiegen, die Bothen gingen
lebhaft hin und wieder, hier iſt ihr Ent¬
ſchluß! hier iſt die Entwicklung! und nun
ſollen Sie alle ihre Briefe leſen, Sie ſollen
in das ſchöne Herz Ihrer Braut einen freyen,
reinen Blick thun.


Wilhelm entfaltete das Blatt, das ſie
ihm unverſiegelt überreichte, es enthielt die
freundlichen Worte:


Ich bin die Ihre, wie ich bin und wie
Sie mich kennen. Ich nenne Sie den mei¬
nen, wie Sie ſind und wie ich Sie kenne.
Was an uns ſelbſt, was an unſern Verhält¬
niſſen der Eheſtand verändert, werden wir
durch Vernunft, frohen Muth und guten
[298] Willen zu übertragen wiſſen. Da uns keine
Leidenſchaft, ſondern Neigung und Zutrauen
zuſammen führt, ſo wagen wir weniger als
tauſend andere. Sie verzeihen mir gewis,
wenn ich mich manchmal meines alten Freun¬
des herzlich erinnere, dafür will ich Ihren
Sohn als Mutter an meinen Buſen drücken.
Wollen Sie mein kleines Haus ſogleich mit
mir theilen, ſo ſind Sie Herr und Meiſter,
indeſſen wird der Gutskauf abgeſchloſſen. Ich
wünſchte, daß dort keine neue Einrichtung
ohne mich gemacht würde, um ſogleich zu
zeigen, daß ich das Zutrauen verdiene, das
Sie mir ſchenken. Leben Sie wohl, lieber,
lieber Freund! Geliebter Bräutigam, ver¬
ehrter Gatte! Thereſe drückt Sie an ihre
Bruſt mit Hoffnung und Lebensfreude. Meine
Freundin wird Ihnen mehr, wird Ihnen
alles ſagen.


Wilhelm, dem dieſes Blatt ſeine Thereſe
[299] wieder völlig vergegenwärtigt hatte, war
auch wieder völlig zu ſich ſelbſt gekommen.
Unter dem Leſen wechſelten die ſchnellſten
Gedanken in ſeiner Seele. Mit Entſetzen
fand er lebhafte Spuren einer Neigung ge¬
gen Natalien in ſeinem Herzen, er ſchalt
ſich, er erklärte jeden Gedanken der Art für
Unſinn, er ſtellte ſich Thereſen in ihrer gan¬
zen Vollkommenheit vor, er las den Brief
wieder, er ward heiter, oder vielmehr er
erholte ſich ſo weit, daß er erſcheinen konnte.
Natalie legte ihm die gewechſelten Briefe
vor, aus denen wir einige Stellen ausziehen
wollen.


Nachdem Thereſe ihren Bräutigam nach
ihrer Art geſchildert hatte, fuhr ſie fort:


So ſtelle ich mir den Mann vor, der
mir jetzt ſeine Hand anbietet. Wie er von
ſich ſelbſt denkt, wirſt Du künftig aus den
Papieren ſehen, in welchen er ſich mir ganz
[300] offen beſchreibt; ich bin überzeugt, daß ich
mit ihm glücklich ſeyn werde.


Was den Stand betrifft, ſo weißt Du,
wie ich von je her drüber gedacht habe. Ei¬
nige Menſchen fühlen die Mißverhältniſſe
der äußern Zuſtände fürchterlich, und kön¬
nen ſie nicht übertragen. Ich will nieman¬
den überzeugen, ſo wie ich nach meiner Über¬
zeugung handeln will. Ich denke kein Bey¬
ſpiel zu geben, wie ich doch nicht ohne Bey¬
ſpiel handle. Mich ängſtigen nur die innern
Mißverhältniſſe, ein Gefäß, das ſich zu dem,
was es enthalten ſoll, nicht ſchickt; viel
Prunk und wenig Genuß, Reichthum und
Geiz, Adel und Roheit, Jugend und Pe¬
danterei, Bedürfnis und Ceremonien, dieſe
Verhältniſſe wärens, die mich vernichten könn¬
ten, die Welt mag ſie ſtempeln und ſchätzen
wie ſie will.


[301]

Wenn ich hoffe, daß wir zuſammen paſ¬
ſen werden, ſo gründe ich meinen Ausſpruch
vorzüglich darauf, daß er Dir, liebe Nata¬
lie, die ich ſo unendlich ſchätze und verehre,
daß er Dir ähnlich iſt. Ja er hat von Dir
das edle Suchen und Streben nach dem
Beſſern, wodurch wir das Gute, das wir
zu finden glauben, ſelbſt hervorbringen. Wie
oft habe ich Dich nicht im Stillen getadelt,
daß Du dieſen oder jenen Menſchen anders
behandelteſt, daß Du in dieſem oder jenen
Fall Dich anders betrugſt, als ich würde ge¬
than haben, und doch zeigte der Ausgang
meiſt, daß Du Recht hatteſt. Wenn wir,
ſagteſt Du, die Menſchen nur nehmen wie
ſie ſind, ſo machen wir ſie ſchlechter; wenn
wir ſie behandeln, als wären ſie was ſie
ſeyn ſollten, ſo bringen wir ſie dahin, wo¬
hin ſie zu bringen ſind. Ich kann weder ſo
ſehen noch handeln, das weiß ich recht gut.


[302]

Einſicht, Ordnung, Zucht, Befehl, das iſt
meine Sache. Ich erinnere mich noch wohl,
was Jarno ſagte: Thereſe dreſſirt ihre Zög¬
linge, Natalie bildet ſie. Ja er ging ſo
weit, daß er mir einſt die drey ſchönen Ei¬
genſchaften Glaube, Liebe und Hoffnung völ¬
lig abſprach. Statt des Glaubens, ſagte er,
hat ſie die Einſicht, ſtatt der Liebe, die Be¬
harrlichkeit und ſtatt der Hoffnung das Zu¬
trauen. Auch will ich Dir gerne geſtehen,
ehe ich Dich kannte, kannte ich nichts Hö¬
heres in der Welt als Klarheit und Klug¬
heit, nur Deine Gegenwart hat mich über¬
zeugt, belebt, überwunden, und Deiner ſchö¬
nen hohen Seele tret ich gerne den Rang
ab. Auch meinen Freund verehre ich in
eben demſelben Sinn, ſeine Lebensbeſchrei¬
bung iſt ein ewiges Suchen und nicht fin¬
den; aber nicht das leere Suchen, ſondern
das wunderbare, gutmüthige Suchen begabt
[303] ihn, er wähnt man könne ihm das geben,
was nur von ihm kommen kann. So meine
Liebe ſchadet mir auch diesmal meine Klar¬
heit nichts, ich kenne meinen Gatten beſſer,
als er ſich ſelbſt kennt, und ich achte ihn
nur um deſto mehr. Ich ſehe ihn, aber ich
überſehe ihn nicht, und alle meine Einſicht
reicht nicht hin zu ahnen, was er wirken
kann. Wenn ich an ihn denke, vermiſcht ſich
ſein Bild immer mit dem Deinigen, und ich
weiß nicht wie ich es werth bin zwey ſolchen
Menſchen anzugehören. Aber ich will es
werth ſeyn, dadurch daß ich meine Pflicht
thue, dadurch daß ich erfülle, was man von
mir erwarten und hoffen kann.


Ob ich Lothario’s gedenke? Lebhaft und
täglich, ihn kann ich in der Geſellſchaft, die
mich im Geiſte umgiebt, nicht einen Augen¬
blick miſſen. O wie bedaure ich den treff¬
[304] lichen Mann, der durch einen Jugendfehler
mit mir verwandt iſt, daß die Natur ihn
Dir ſo nahe gewollt hat. Warlich ein We¬
ſen wie Du, wäre ſeiner mehr werth als
ich, Dir könnt ich, Dir müßt ich ihn abtre¬
ten, laß uns ihm ſeyn, was nur möglich iſt,
bis er eine würdige Gattin findet, und auch
dann laß uns zuſammen ſeyn und zuſam¬
men bleiben.


Was werden nun aber unſre Freunde ſa¬
gen? begann Natalie. — Ihr Bruder weiß
nichts davon? — Nein! ſo wenig als die
Ihrigen, die Sache iſt diesmal nur unter
uns Weibern verhandelt worden. Ich weiß
nicht, was Lydie Thereſen für Grillen in
den Kopf geſetzt hat, ſie ſcheint dem Abbé
und Jarno zu mißtrauen. Lydie hat ihr
gegen gewiſſe geheime Verbindungen und
Plane, von denen ich wohl im Allgemeinen
weiß,[305] weiß, in die ich aber niemals einzudringen
gedachte, wenigſtens einigen Argwohn ein¬
geflößt, und bey dieſem entſcheidenden Schritt
ihres Lebens wollte ſie niemand als mir ei¬
nigen Einfluß verſtatten. Mit meinem Bru¬
der war ſie ſchon früher überein gekommen,
daß ſie ſich wechſelsweiſe ihre Heirath nur
melden, ſich darüber nicht zu Rathe ziehen
wollten.


Natalie ſchrieb nun einen Brief an ihren
Bruder, ſie lud Wilhelmen ein einige Worte
dazu zu ſetzen, Thereſe hatte ſie darum ge¬
beten. Man wollte eben ſiegeln, als Jarno
ſich unvermuthet anmelden ließ. Aufs freund¬
lichſte ward er empfangen, auch ſchien er
ſehr munter und ſcherzhaft, und konnte end¬
lich nicht unterlaſſen zu ſagen: eigentlich
komme ich hieher, um Ihnen eine ſehr wun¬
derbare, doch angenehme Nachricht zu brin¬
gen; ſie betrifft unſere Thereſe. Sie haben
W. Meiſters Lehrj. 4. U[306] uns manchmal getadelt, ſchöne Natalie! daß
wir uns um ſo vieles bekümmern, nun aber
ſehen Sie wie gut es iſt überall ſeine Spione
zu haben. Rathen Sie, und laſſen Sie uns
einmal Ihre Sagacität ſehen!


Die Selbſtgefälligkeit, womit er dieſe
Worte ausſprach, die ſchalkhafte Mine, wo¬
mit er Wilhelmen und Natalien anſah, über¬
zeugten beyde, daß ihr Geheimniß entdeckt
ſey. Natalie antwortete lächelnd: wir ſind
viel künſtlicher als Sie denken, wir haben
die Auflöſung des Rätzels, noch ehe es uns
aufgegeben wurde, ſchon zu Papiere gebracht.


Sie überreichte ihm, mit dieſen Worten,
den Brief an Lothario, und war zufrieden
der kleinen Überraſchung und Beſchämung,
die man ihnen zugedacht hatte, auf dieſe
Weiſe zu begegnen. Jarno nahm das Blatt,
mit einiger Verwunderung, überlief es nur,
ſtaunte, ließ es aus der Hand ſinken, und
[307] ſah ſie beyde mit großen Augen, mit einen
Ausdruck der Überraſchung, ja des Entſetzens
an, den man auf ſeinem Geſichte nicht ge¬
wohnt war. Er ſagte kein Wort.


Wilhelm und Natalie waren nicht wenig
betroffen, Jarno ging in der Stube auf und
ab. Was ſoll ich ſagen? rief er aus, oder
ſoll ich’s ſagen? Es kann kein Geheimniß
bleiben, die Verwirrung iſt nicht zu vermei¬
den. Alſo denn Geheimniß gegen Geheim¬
niß! Überraſchung gegen Überraſchung! The¬
reſe iſt nicht die Tochter ihrer Mutter! das
Hinderniß iſt gehoben, ich komme hierher ſie
zu bitten, das edle Mädchen zu einer Ver¬
bindung mit Lothario vorzubereiten.


Jarno ſah die Beſtürzung der beyden
Freunde, welche die Augen zur Erde nieder¬
ſchlugen. Dieſer Fall iſt einer von denen,
ſagte er, die ſich in Geſellſchaft am ſchlech¬
teſten ertragen laſſen. Was jedes dabey zu
U 2[308] denken hat, denkt es am beſten in der Ein¬
ſamkeit, ich wenigſtens erbitte mir auf eine
Stunde Urlaub. Er eilte in den Garten,
Wilhelm folgte ihm mechaniſch, aber in
der Ferne.


Nach Verlauf einer Stunde fanden ſie
ſich wieder zuſammen. Wilhelm nahm das
Wort und ſagte: da ich ohne Zweck und
Plan leicht, ja leichtfertig lebte, kamen mir
Freundſchaft, Liebe, Neigung, Zutrauen mit
offenen Armen entgegen, ja ſie drängten ſich
zu mir; jetzt, da es Ernſt wird, ſcheint das
Schickſal mit mir einen andern Weg zu neh¬
men: der Entſchluß, Thereſen meine Hand
anzubieten, iſt vielleicht der erſte, der ganz
rein aus mir ſelbſt kommt. Mit Überlegung
machte ich meinen Plan, meine Vernunft
war völlig damit einig, und durch die Zu¬
ſage des trefflichen Mädchens wurden alle
meine Hoffnungen erfüllt. Nun drückt das
[309] ſonderbarſte Geſchick meine ausgeſtreckte Hand
nieder, Thereſe reicht mir die ihrige von
ferne, wie im Traume, ich kann ſie nicht
faſſen, und das ſchöne Bild verläßt mich
auf ewig. So lebe denn wohl du ſchönes
Bild! und ihr Bilder der reichſten Glück¬
ſeligkeit, die ihr euch darum her verſam¬
meltet!


Er ſchwieg einen Augenblick ſtill, ſah vor
ſich hin, und Jarno wollte reden. Laſſen
Sie mich noch etwas ſagen, fiel Wilhelm
ihm ein, denn um mein ganzes Geſchick wird
ja doch diesmal das Loos geworfen. In die¬
ſem Augenblick kommt mir der Eindruck zu
Hülfe, den Lothario’s Gegenwart, beym er¬
ſten Anblick, mir einprägte, und der mir
beſtändig geblieben iſt. Dieſer Mann ver¬
dient jede Art von Neigung und Freund¬
ſchaft, und ohne Aufopferung läßt ſich keine
Freundſchaft denken. Um ſeinetwillen war
[310] es mir leicht ein unglückliches Mädchen zu
bethören, um ſeinetwillen ſoll mir möglich
werden der würdigſten Braut zu entſagen.
Gehen Sie hin, erzählen Sie ihm die ſon¬
derbare Geſchichte, und ſagen Sie ihm wozu
ich bereit bin.


Jarno verſetzte hierauf: in ſolchen Fällen,
halte ich dafür, iſt ſchon alles gethan, wenn
man ſich nur nicht übereilt. Laſſen Sie uns
keinen Schritt ohne Lothario’s Einwilligung
thun! Ich will zu ihm, erwarten Sie meine
Zurückkunft oder ſeine Briefe ruhig.


Er ritt weg, und hinterließ die beyden
Freunde in der größten Wehmuth. Sie hat¬
ten Zeit ſich dieſe Begebenheit auf mehr als
Eine Weiſe zu wiederholen, und ihre Be¬
merkungen darüber zu machen. Nun fiel es
ihnen erſt auf, daß ſie dieſe wunderbare Er¬
klärung ſo gerade von Jarno angenommen,
und ſich nicht um die nähern Umſtände er¬
[311] kundigt hatten. Ja Wilhelm wollte ſogar
einigen Zweifel hegen; aber aufs höchſte
ſtieg ihr Erſtaunen, ja ihre Verwirrung, als
den andern Tag ein Bothe von Thereſen
ankam, der folgenden ſonderbaren Brief an
Natalien mitbrachte:


»So ſeltſam es auch ſcheinen mag, ſo
muß ich doch meinem vorigen Briefe ſogleich
noch einen nachſenden, und Dich erſuchen
mir meinen Bräutigam eilig zu ſchicken. Er
ſoll mein Gatte werden, was man auch für
Plane macht mir ihn zu rauben. Gieb ihm
inliegenden Brief! Nur vor keinem Zeugen,
es mag gegenwärtig ſeyn wer will.«


Der Brief an Wilhelmen enthielt folgen¬
des: »Was werden Sie von Ihrer Thereſe
denken? wenn ſie auf einmal, leidenſchaft¬
lich, auf eine Verbindung dringt, die der
ruhigſte Verſtand nur eingeleitet zu haben
ſchien. Laſſen Sie ſich durch nichts abhal¬
[312] ten, gleich nach dem Empfang des Brie¬
fes abzureiſen. Kommen Sie, lieber, lieber
Freund, nun dreyfach Geliebter, da man
mir Ihren Beſitz rauben oder wenigſtens er¬
ſchweren will.«


Was iſt zu thun? rief Wilhelm aus, als
er dieſen Brief geleſen hatte.


Noch in keinem Fall, verſetzte Natalie,
nach einigem Nachdenken, hat mein Herz
und mein Verſtand ſo geſchwiegen, als in
dieſem, ich wüßte nichts zu thun, ſo wie ich
nichts zu rathen weiß.


Wäre es möglich? rief Wilhelm mit Hef¬
tigkeit aus, daß Lothario ſelbſt nichts davon
wüßte, oder wenn er davon weiß, daß er
mit uns das Spiel verſteckter Plane wäre?
Hat Jarno, indem er unſern Brief geſehen,
das Mährchen aus dem Stegreife erfunden?
Würde er uns was anders geſagt haben,
wenn wir nicht zu voreilig geweſen wären?
[313] Was kann man wollen? was für Abſichten
kann man haben? Was kann Thereſe für
einen Plan meynen? Ja es läßt ſich nicht
läugnen, Lothario iſt von geheimen Wir¬
kungen und Verbindungen umgeben, ich habe
ſelbſt erfahren, daß man thätig iſt, daß
man ſich, in einem gewiſſen Sinne, um die
Handlungen, um die Schickſale mehrerer
Menſchen bekümmert, und ſie zu leiten weiß.
Von den Endzwecken dieſer Geheimniſſe ver¬
ſtehe ich nichts, aber dieſe neuſte Abſicht,
mir Thereſen zu entreißen, ſehe ich nur allzu
deutlich. Auf einer Seite mahlt man mir
das mögliche Glück Lothario’s, vielleicht nur
zum Scheine, vor, auf der andern ſehe ich
meine Geliebte, meine verehrte Braut, die
mich an ihr Herz ruft. Was ſoll ich thun?
Was ſoll ich unterlaſſen?


Nur ein wenig Geduld! ſagte Natalie,
nur eine kurze Bedenkzeit. In dieſer ſon¬
[314] derbaren Verknüpfung weiß ich nur ſo viel:
daß wir das, was unwiederbringlich iſt, nicht
übereilen ſollen. Gegen ein Mährchen, ge¬
gen einen künſtlichen Plan ſtehen Beharr¬
lichkeit und Klugheit uns bey, es muß ſich
bald aufklären, ob die Sache wahr oder ob
ſie erfunden iſt. Hat mein Bruder wirklich
Hoffnung ſich mit Thereſen zu verbinden, ſo
wäre es grauſam, ſie ihm auf ewig zu ent¬
reißen, da ſie ihm ſo freundlich erſcheint.
Laſſen Sie uns nur abwarten, ob er etwas
davon weiß, ob er ſelbſt glaubt, ob er
ſelbſt hofft.


Dieſen Gründen ihres Raths kam glück¬
licherweiſe ein Brief von Lothario zu Hülfe:
Ich ſchicke Jarno nicht wieder zurück, ſchrieb
er, von meiner Hand eine Zeile, iſt Dir
mehr als die umſtändlichſten Worte eines
Bothen. Ich bin gewiß, daß Thereſe nicht
die Tochter ihrer Mutter iſt, und ich kann
[315] die Hoffnung, ſie zu beſitzen, nicht aufgeben,
bis ſie auch überzeugt iſt, und alsdann zwi¬
ſchen mir und dem Freunde mit ruhiger
Überlegung entſcheidet. Laß ihn, ich bitte
Dich, nicht von Deiner Seite! das Glück,
das Leben eines Bruders hängt davon ab.
Ich verſpreche Dir, dieſe Ungewißheit ſoll
nicht lange dauern.


Sie ſehen, wie die Sache ſteht, ſagte ſie
freundlich zu Wilhelmen, geben Sie mir
Ihr Ehrenwort nicht aus dem Hauſe zu gehn.


Ich gebe es! rief er aus, indem er ihr
die Hand reichte, ich will dieſes Haus wider
Ihren Willen nicht verlaſſen. Ich danke
Gott und meinem guten Geiſt, daß ich dies¬
mal geleitet werde und zwar von Ihnen.


Natalie ſchrieb Thereſen den ganzen Ver¬
lauf, und erklärte: daß ſie ihren Freund
nicht von ſich laſſen werde, ſie ſchickte zu¬
gleich Lothario’s Brief mit.


[316]

Thereſe antwortete: »Ich bin nicht we¬
nig verwundert, daß Lothario ſelbſt über¬
zeugt iſt, denn gegen ſeine Schweſter wird
er ſich nicht auf dieſen Grad verſtellen. Ich
bin verdrießlich, ſehr verdrießlich. Es iſt
beſſer, ich ſage nichts weiter. Am beſten
iſts, ich komme zu Dir, wenn ich nur erſt
die arme Lydie untergebracht habe, mit der
man grauſam umgeht. Ich fürchte, wir ſind
alle betrogen, und werden ſo betrogen, um
nie ins Klare zu kommen. Wenn der Freund
meinen Sinn hätte, ſo entſchlüpfte er Dir
doch, und würfe ſich an das Herz ſeiner
Thereſe, die ihm dann niemand entreißen
ſollte; aber ich fürchte ich ſoll ihn verlieren
und Lohario nicht wieder gewinnen. Dieſem
entreißt man Lydien, indem man ihm die
Hoffnung, mich beſitzen zu können, von Wei¬
ten zeigt. Ich will nichts weiter ſagen, die
Verwirrung wird noch größer werden. Ob
[317] nicht indeſſen die ſchönſten Verhältniſſe ſo
verſchoben, ſo untergraben und ſo zerrüttet
werden, daß auch dann, wenn alles im Kla¬
ren ſeyn wird, doch nicht wieder zu helfen
iſt, mag die Zeit lehren. Reißt ſich mein
Freund nicht los, ſo komme ich in wenigen
Tagen, um ihn bey Dir aufzuſuchen und
feſt zu halten. Du wunderſt Dich, wie dieſe
Leidenſchaft ſich Deiner Thereſe bemächtiget
hat. Es iſt keine Leidenſchaft, es iſt Über¬
zeugung, daß, da Lothario nicht mein wer¬
den konnte, dieſer neue Freund das Glück
meines Lebens machen wird. Sag ihm das!
im Nahmen des kleinen Knaben, der mit
ihm unter der Eiche ſaß und ſich ſeiner Theil¬
nahme freute. Sag ihm das im Nahmen
Thereſens, die ſeinem Antrage mit einer
herzlichen Offenheit entgegen kam. Mein
erſter Traum, wie ich mit Lothario leben
würde, iſt weit von meiner Seele wegge¬
[318] rückt, der Traum, wie ich mit meinem neuen
Freund zu leben gedachte, ſteht noch ganz
gegenwärtig vor mir. Achtet man mich ſo
wenig, daß man glaubt, es ſey ſo was
leichtes dieſen mit jenem aus dem Stegreife
wieder umzutauſchen.


Ich verlaſſe mich auf Sie, ſagte Natalie
zu Wilhelmen, indem ſie ihm den Brief
Thereſens gab, Sie entfliehen mir nicht.
Bedenken Sie, daß Sie das Glück meines
Lebens in Ihrer Hand haben! Mein Da¬
ſeyn iſt mit dem Daſeyn meines Bruders ſo
innig verbunden und verwurzelt, daß er
keine Schmerzen fühlen kann, die ich nicht
empfinde, keine Freude, die nicht auch mein
Glück macht. Ja ich kann wohl ſagen, daß
ich allein durch ihn empfunden habe, daß
das Herz gerührt und erhoben, daß auf der
Welt Freude, Liebe und ein Gefühl ſeyn
kann, das über alles Bedürfniß hinaus
befriedigt.


[319]

Sie hielt inne, Wilhelm nahm ihre Hand
und rief: O fahren Sie fort, es iſt die
rechte Zeit zu einem wahren wechſelſeitigen
Vertrauen, wir haben nie nöthiger gehabt
uns genauer zu kennen.


Ja, mein Freund! ſagte ſie lächelnd, mit
ihrer ruhigen, ſanften, unbeſchreiblichen Ho¬
heit, es iſt vielleicht nicht außer der Zeit,
wenn ich Ihnen ſage, daß alles, was uns
ſo manches Buch, was uns die Welt als
Liebe nennt und zeigt, mir immer nur als
ein Mährchen erſchienen ſey.


Sie haben nicht geliebt? rief Wilhelm
aus.


Nie oder immer! verſetzte Natalie.


[320]

Fünftes Capitel.

Sie waren unter dieſem Geſpräch im Gar¬
ten auf- und abgegangen, Natalie hatte
verſchiedene Blumen, von ſeltſamer Geſtalt,
gebrochen, die Wilhelmen völlig unbekannt
waren, und nach deren Nahmen er fragte.


Sie vermuthen wohl nicht, ſagte Nata¬
lie, für wen ich dieſen Strauß pflücke? er
iſt für meinen Oheim beſtimmt, dem wir ei¬
nen Beſuch machen wollen. Die Sonne
ſcheint eben ſo lebhaft nach dem Saale der
Vergangenheit, ich muß ſie dieſen Augen¬
blick hineinführen, und ich gehe niemals hin,
ohne einige von denen Blumen, die mein
Oheim beſonders begünſtigte, mitzubringen.
Es war ein ſonderbarer Mann und der ei¬
genſten Eindrücke fähig. Für gewiſſe Pflanzen
und[321] und Thiere, für gewiſſe Menſchen und Ge¬
genden, ja ſogar zu einigen Steinarten hatte
er eine entſchiedene Neigung, die ſelten er¬
klärlich war. Wenn ich nicht, pflegte er oft
zu ſagen, mir von Jugend auf ſo ſehr wi¬
derſtanden hätte, wenn ich nicht geſtrebt
hätte, meinen Verſtand ins Weite und All¬
gemeine auszubilden, ſo wäre ich der be¬
ſchränkteſte und unerträglichſte Menſch ge¬
worden, denn nichts iſt unerträglicher als
abgeſchnittene Eigenheit an demjenigen, von
dem man eine reine, gehörige Thätigkeit
fordern kann. Und doch mußte er ſelbſt ge¬
ſtehen, daß ihm gleichſam Leben und Athem
ausgehen würde, wenn er ſich nicht von
Zeit zu Zeit nachſähe, und ſich erlaubte,
das mit Leidenſchaft zu genießen, was er
eben nicht immer loben und entſchuldigen
konnte. Es iſt meine Schuld nicht, ſagte
er, wenn ich meine Triebe und meine Ver¬
W. Meiſters Lehrj. 4. X[322] nunft nicht völlig habe in Einſtimmung brin¬
gen können. Bey ſolchen Gelegenheiten
pflegte er meiſt über mich zu ſcherzen und
zu ſagen: Natalien kann man bey Leibes¬
leben ſelig preiſen, da ihre Natur nichts
fordert, als was die Welt wünſcht und
braucht.


Unter dieſen Worten waren ſie wieder
in das Hauptgebäude gelangt. Sie führte
ihn durch einen geräumigen Gang auf eine
Thüre zu, vor der zwey Sphinxe von Gra¬
nit lagen. Die Thüre ſelbſt war, auf Ägyp¬
tiſche Weiſe, oben ein wenig enger als un¬
ten, und ihre ehernen Flügel bereiteten zu
einem ernſthaften, ja zu einem ſchauerlichen
Anblick vor; wie angenehm ward man da¬
her überraſcht, als dieſe Erwartung ſich in
die reinſte Heiterkeit auflöſte, indem man
in einen Saal trat, in welchem Kunſt und
Leben jede Erinnerung an Tod und Grab
[323] aufhoben. In die Wände waren verhältni߬
mäßige Bogen vertieft, in denen größere
Sarkophagen ſtanden, in den Pfeilern da¬
zwiſchen ſah man kleinere Öfnungen, mit
Aſchenkäſtchen und Gefäßen geſchmückt; die
übrigen Flächen der Wände und des Ge¬
wölbes ſah man in regelmäßige Felder ab¬
getheilt und zwiſchen heitern und mannig¬
faltigen Einfaſſungen, Kränzen und Zierra¬
then heitere und bedeutende Geſtalten, in
Feldern von verſchiedener Größe, gemahlt.
Die architectoniſchen Glieder waren mit dem
ſchönen gelben Marmor, der ins röthliche
hinüberblickt, bekleidet, hellblaue Streifen
von einer glücklichen chemiſchen Compoſition
ahmten den Laſurſtein nach, und gaben, in¬
dem ſie gleichſam in einem Gegenſatz das Auge
befriedigten, dem Ganzen Einheit und Ver¬
bindung. Alle dieſe Pracht und Zierde ſtellte
ſich in reinen architectoniſchen Verhältniſſen
X 2[324] dar, und ſo ſchien jeder, der hineintrat,
über ſich ſelbſt erhoben zu ſeyn, indem er
durch die zuſammentreffende Kunſt, erſt er¬
fuhr, was der Menſch ſey und was er ſeyn
könne.


Der Thüre gegenüber ſahe man auf einem
prächtigen Sarkophagen das Marmorbild ei¬
nes würdigen Mannes, an ein Polſter ge¬
lehnt. Er hielt eine Rolle vor ſich, und
ſchien mit ſtiller Aufmerkſamkeit darauf zu
blicken. Sie war ſo gerichtet, daß man die
Worte, die ſie enthielt, bequem leſen konnte.
Es ſtand darauf: Gedenke zu leben.


Natalie, indem ſie einen verwelkten Straus
wegnahm, legte den friſchen vor das Bild
des Oheims. Denn er ſelbſt war in der Fi¬
gur vorgeſtellt, und Wilhelm glaubte ſich
noch der Züge des alten Herrn zu erinnern,
den er damals im Walde geſehen hatte.
Hier brachten wir manche Stunde zu, ſagte
[325] Natalie, bis dieſer Saal fertig war. In
ſeinen letzten Jahren hatte er einige geſchickte
Künſtler an ſich gezogen, und ſeine beſte
Unterhaltung war die Zeichnungen und Car¬
tone zu dieſen Gemählden ausſinnen und be¬
ſtimmen zu helfen.


Wilhelm konnte ſich nicht genug der Ge¬
genſtände freuen, die ihn umgaben. Welch
ein Leben, rief er aus, in dieſem Saale der
Vergangenheit! man könnte ihn eben ſo gut
den Saal der Gegenwart und der Zukunft
nennen. So war alles und ſo wird alles
ſeyn! Nichts iſt vergänglich, als der Eine
der genießt und zuſchaut. Hier dieſes Bild
der Mutter, die ihr Kind ans Herz drückt,
wird viele Generationen glücklicher Mütter
überleben, nach Jahrhunderten vielleicht er¬
freut ſich ein Vater dieſes bärtigen Mannes,
der ſeinen Ernſt ablegt, und ſich mit ſeinem
Sohne neckt. So verſchämt wird durch alle
[326] Zeiten die Braut ſitzen, und bey ihren ſtil¬
len Wünſchen noch bedürfen, daß man ſie
tröſte, daß man ihr zurede; ſo ungeduldig
wird der Bräutigam auf der Schwelle hor¬
chen, ob er hereintreten darf.


Wilhelms Augen ſchweiften auf unzäh¬
lige Bilder umher. Vom erſten frohen
Triebe der Kindheit jedes Glied im Spiele
nur zu brauchen und zu üben, bis zum ru¬
higen abgeſchiedenen Ernſte des Weiſen,
konnte man, in ſchöner lebendigen Folge,
ſehen wie der Menſch keine angebohrne Nei¬
gung und Fähigkeit beſitzt, ohne ſie zu brau¬
chen und zu nutzen. Von dem erſten zarten
Selbſtgefühl, wenn das Mädchen verweilt
den Krug aus dem klaren Waſſer wieder
herauf zu heben, und indeſſen ihr Bild ge¬
fällig betrachtet, bis zu jenen hohen Feyer¬
lichkeiten, wenn Könige und Völker zu Zeu¬
gen ihrer Verbindungen die Götter am Al¬
tare anrufen.


[327]

Es war eine Welt, es war ein Himmel,
der den Beſchauenden an dieſer Stätte um¬
gab, und außer den Gedanken, welche jene
gebildeten Geſtalten erregten, außer den
Empfindungen, welche ſie einflößten, ſchien
noch etwas anders gegenwärtig zu ſeyn, wo¬
von der ganze Menſch ſich angegriffen fühlte.
Auch Wilhelm bemerkte es, ohne ſich davon
Rechenſchaft geben zu können. Was iſt
das? rief er aus, das, unabhängig von aller
Bedeutung, frey von allem Mitgefühl, das
uns menſchliche Begebenheiten und Schick¬
ſale einflößen, ſo ſtark und zugleich ſo an¬
muthig auf mich zu wirken vermag? Es
ſpricht aus dem Ganzen, es ſpricht aus je¬
dem Theile mich an, ohne daß ich jenes be¬
greifen, ohne daß ich dieſe mir beſonders
zueignen könnte! Welchen Zauber ahnd’ ich
in dieſen Flächen, dieſen Linien, dieſen Hö¬
hen und Breiten, dieſen Maſſen und Far¬
[328] ben! Was iſt es, das dieſe Figuren, auch
nur obenhin betrachtet, ſchon als Zierrath
ſo erfreulich macht! Ja ich fühle, man
könnte hier verweilen, ruhen, alles mit den
Augen faſſen, ſich glücklich finden und ganz
etwas anders fühlen und denken, als das,
was vor Augen ſteht.


Und gewis! könnten wir beſchreiben wie
glücklich alles eingetheilt war, wie an Ort
und Stelle durch Verbindung oder Gegen¬
ſatz, durch Einfärbigkeit oder Buntheit alles
beſtimmt, ſo und nicht anders erſchien, als
es erſcheinen ſollte, und eine ſo vollkommne
als deutliche Wirkung hervorbrachte; ſo wür¬
den wir den Leſer an einen Ort verſetzen,
von dem er ſich ſobald nicht zu entfernen
wünſchte.


Vier große marmorne Candelaber ſtan¬
den in den Ecken des Saals, vier kleinere
in der Mitte, um einen ſehr ſchön gearbei¬
[329] teten Sarkophag, der ſeiner Größe nach
eine junge Perſon von mittlererer Geſtalt
enthalten haben ſollte.


Natalie blieb bey dieſem Monumente ſte¬
hen, und indem ſie die Hand darauf legte,
ſagte ſie: mein guter Oheim hatte große
Vorliebe zu dieſem Werke des Alterthums.
Er ſagte manchmal: nicht allein die erſten
Blüthen fallen ab, die ihr da oben in jenen
kleinen Räumen verwahren könnt, ſondern
auch Früchte, die uns, am Zweige hängend,
noch lange die ſchönſte Hoffnung geben, in¬
dem ein heimlicher Wurm ihre frühere Reife
und ihre Zerſtöhrung vorbereitet. Ich fürchte,
fuhr ſie fort, er hat auf das liebe Mädchen
geweiſſagt, das ſich unſerer Pflege nach und
nach zu entziehen und zu dieſer ruhigen
Wohnung zu neigen ſcheint.


Als ſie im Begriff waren wegzugehn,
ſagte Natalie: ich muß Sie noch auf etwas
[330] aufmerkſam machen. Bemerken Sie dieſe
halbrunden Öfnungen in der Höhe auf bey¬
den Seiten! hier können die Chöre der Sän¬
ger verborgen ſtehen, und dieſe ehrenen Zier¬
rathen unter dem Geſimſe dienen die Tep¬
piche zu befeſtigen, die nach der Verordnung
meines Oheims bey jeder Beſtattung aufge¬
hängt werden ſollen. Er konnte nicht ohne
Muſik, beſonders nicht ohne Geſang leben,
und hatte dabey die Eigenheit, daß er die
Sänger nicht ſehen wollte. Er pflegte zu
ſagen: das Theater verwöhnt uns gar zu
ſehr, die Muſik dient dort nur gleichſam
dem Auge, ſie begleitet die Bewegungen,
nicht die Empfindungen, bey Oratorien und
Conzerten ſtöhrt uns immer die Geſtalt des
Muſikus, die wahre Muſik iſt allein fürs
Ohr, eine ſchöne Stimme iſt das Allgemeinſte
was ſich denken laßt, und indem das einge¬
ſchränkte Individuum, das ſie hervorbringt,
[351[331]] ſich vors Auge ſtellt, zerſtöhrt es den reinen
Effect jener Allgemeinheit. Ich will jeden
ſehen, mit dem ich reden ſoll, denn es iſt
ein einzelner Menſch, deſſen Geſtalt und
Character die Rede werth oder unwerth
macht, hingegen wer mir ſingt, ſoll unſicht¬
bar ſeyn, ſeine Geſtalt ſoll mich nicht be¬
ſtechen oder irre machen. Hier ſpricht nur
ein Organ zum Organe, nicht der Geiſt
zum Geiſte, nicht eine tauſendfältige Welt
zum Auge, nicht ein Himmel zum Menſchen.
Eben ſo wollte er auch bey Inſtrumentalmu¬
ſiken die Orcheſter ſo viel als möglich ver¬
ſteckt haben, weil man durch die mechani¬
ſchen Bemühungen und durch die nothdürf¬
tigen, immer ſeltſamen Gebärden der In¬
ſtrumentenſpieler ſo ſehr zerſtreut und ver¬
wirrt werde. Er pflegte daher eine Muſik
nicht anders als mit zugeſchloſſenen Augen
anzuhören, um ſein ganzes Daſeyn auf den
[332] einzigen, reinen Genuß des Ohrs zu con¬
centriren.


Sie wollten eben den Saal verlaſſen,
als ſie die Kinder in dem Gange heftig lau¬
fen und den Felix rufen hörten: nein ich!
nein ich!


Mignon warf ſich zuerſt zur geöffneten
Thüre herein, ſie war außer Athem, und
konnte kein Wort ſagen, Felix, noch in ei¬
niger Entfernung, rief: Mutter Thereſe iſt
da! Die Kinder hatten, ſo ſchien es, die Nach¬
richt zu überbringen, einen Wettlauf ange¬
ſtellt. Mignon lag in Nataliens Armen,
ihr Herz pochte gewaltſam.


Böſes Kind! ſagte Natalie, iſt Dir nicht
alle heftige Bewegung unterſagt? ſieh, wie
Dein Herz ſchlägt?


Laß es brechen! ſagte Mignon, mit ei¬
nem tiefen Seufzer, es ſchlägt ſchon zu
lange.


[333]

Man hatte ſich von dieſer Verwirrung,
von dieſer Art von Beſtürzung kaum erholt,
als Thereſe hereintrat. Sie flog auf Nata¬
lien zu, umarmte ſie und das gute Kind.
Dann wendete ſie ſich zu Wilhelmen, ſah
ihn mit ihren klaren Augen an, und ſagte:
nun, mein Freund, wie ſteht es, Sie haben
ſich doch nicht irre machen laſſen? Er that
einen Schritt gegen ſie, ſie ſprang auf ihn
loß und hing an ſeinem Halſe. O meine
Thereſe! rief er aus.


Mein Freund! mein Geliebter! mein
Gatte! ja auf ewig die Deine, rief ſie unter
den lebhafteſten Küſſen.


Felix zog ſie am Rocke und rief: Mutter
Thereſe, ich bin auch da! Natalie ſtand
und ſah vor ſich hin, Mignon fuhr auf ein¬
mal mit der linken Hand nach dem Herzen,
und indem ſie den rechten Arm heftig aus¬
ſtreckte, fiel ſie mit einem Schrey zu Nata¬
liens Füßen für todt nieder.


[334]

Der Schrecken war groß, keine Bewe¬
gung des Herzens noch des Pulſes war zu
ſpüren. Wilhelm nahm ſie auf ſeinen Arm
und trug ſie eilig hinauf, der ſchlotternde
Körper hing über ſeine Schultern. Die Ge¬
genwart des Arztes gab wenig Troſt, er und
der junge Wundarzt, den wir ſchon kennen,
bemühten ſich vergebens. Das liebe Ge¬
ſchöpf war nicht ins Leben zurück zu rufen.


Natalie winkte Thereſen. Dieſe nahm ih¬
ren Freund bey der Hand und führte ihn
aus dem Zimmer. Er war ſtumm und ohne
Sprache, und hatte den Muth nicht ihren
Augen zu begegnen. So ſaß er neben ihr
auf dem Kanapee, auf dem er Natalien zu¬
erſt angetroffen hatte. Er dachte mit großer
Schnelle eine Reihe von Schickſalen durch,
oder vielmehr er dachte nicht, er ließ das
auf ſeine Seele wirken, was er nicht ent¬
fernen konnte. Es giebt Augenblicke des Le¬
[335] bens, in welchen die Begebenheiten, gleich
geflügelten Weberſchiffchen, vor uns ſich hin
und wieder bewegen, und unaufhaltſam ein
Gewebe vollenden, das wir mehr oder we¬
niger ſelbſt geſponnen und angelegt haben.
Mein Freund, ſagte Thereſe! mein Gelieb¬
ter, indem ſie das Stillſchweigen unterbrach,
und ihn bey der Hand nahm, laß uns die¬
ſen Augenblick feſt zuſammenhalten, wie wir
noch öfters, vielleicht in ähnlichen Fällen,
werden zu thun haben. Dieß ſind die Er¬
eigniſſe, welche zu ertragen man zu zwey in
der Welt ſeyn muß. Bedenke, mein Freund,
fühle! daß Du nicht allein biſt, zeige, daß
Du Deine Thereſe liebſt zuerſt dadurch, daß
Du Deine Schmerzen ihr mittheilſt. Sie
umarmte ihn und ſchloß ihn ſanft an ihren
Buſen, er faßte ſie in ſeine Arme, und
drückte ſie mit Heftigkeit an ſich. Das arme
Kind, rief er aus, ſuchte in traurigen Au¬
[336] genblicken Schutz und Zuflucht an meinem
unſichern Buſen, laß die Sicherheit des Dei¬
nigen mir in dieſer ſchrecklichen Stunde zu
gute kommen. Sie hielten ſich feſt umſchloſ¬
ſen, er fühlte ihr Herz an ſeinem Buſen
ſchlagen, aber in ſeinem Geiſte war es öde
und leer, nur die Bilder Mignons und Na¬
taliens ſchwebten wie Schatten vor ſeiner
Einbildungskraft.


Natalie trat herein. Gieb uns Deinen
Seegen! rief Thereſe, laß uns in dieſem
traurigen Augenblicke vor Dir verbunden
ſeyn. Wilhelm hatte ſein Geſicht an There¬
ſens Halſe verborgen, er war glücklich ge¬
nug weinen zu können. Er hörte Natalien
nicht kommen, er ſah ſie nicht, nur bey dem
Klang ihrer Stimme verdoppelten ſich ſeine
Thränen. Was Gott zuſammenfügt, will
ich nicht ſcheiden, ſagte Natalie lächelnd,
aber verbinden kann ich euch nicht, und
kann[337] kann nicht loben, daß Schmerz und Nei¬
gung die Erinnerung an meinen Bruder völ¬
lig aus euren Herzen zu verbannen ſcheint.
Wilhelm riß ſich bey dieſen Worten aus
den Armen Thereſens. Wo wollen Sie hin,
riefen beyde Frauen. Laſſen Sie mich das
Kind ſehen, rief er aus, das ich getödtet
habe. Das Unglück, das wir mit Augen
ſehen, iſt geringer, als wenn unſere Einbil¬
dungskraft das Übel gewaltſam in unſer Ge¬
müth einſenkt, laſſen Sie uns den abgeſchie¬
denen Engel ſehen! ſeine heitere Mine wird
uns ſagen, daß ihm wohl iſt! Da die Freun¬
dinnen den bewegten Jüngling nicht abhal¬
ten konnten, folgten ſie ihm, aber der gute
Arzt, der mit dem Chirurgus ihnen entge¬
gen kam, hielt ſie ab ſich der Verblichenen
zu nähern, und ſagte: Halten Sie Sich
von dieſem traurigen Gegenſtande entfernt,
und erlauben Sie mir, daß ich den Reſten
W. Meiſters Lehrj. 4. Y[338] dieſes ſonderbaren Weſens, ſo viel meine
Kunſt vermag, einige Dauer gebe. Ich will
die ſchöne Kunſt, einen Körper nicht allein
zu balſamiren, ſondern ihm auch ein leben¬
diges Anſehn zu erhalten, bey dieſem gelieb¬
ten Geſchöpfe ſogleich anwenden. Da ich
ihren Tod voraus ſahe, habe ich alle Anſtal¬
ten gemacht, und mit dieſem Gehülfen hier
ſoll mir’s gewiß gelingen. Erlauben Sie mir
nur noch einige Tage Zeit, und verlangen
Sie das liebe Kind nicht wieder zu ſehen,
bis wir es in den Saal der Vergangenheit
gebracht haben.


Der junge Chirurgus hatte jene merk¬
würdige Inſtrumententaſche wieder in Hän¬
den. Von wem kann er ſie wohl haben,
fragte Wilhelm den Arzt. Ich kenne ſie
ſehr gut, verſetzte Natalie, er hat ſie von
ſeinem Vater, der Sie damals im Walde
verband.


[339]

O ſo habe ich mich nicht geirrt, rief Wil¬
helm, ich erkannte das Band ſogleich. Tre¬
ten Sie mir es ab! es brachte mich zuerſt
wieder auf die Spur von meiner Wohlthä¬
terinn. Wie viel Wohl und Wehe über¬
dauert nicht ein ſolches lebloſes Weſen! bey
wie viel Schmerzen war dies Band nicht
ſchon gegenwärtig, und ſeine Fäden halten
noch immer. Wie vieler Menſchen letzten
Augenblick hat es ſchon begleitet, und ſeine
Farben ſind noch nicht verblichen. Es war
gegenwärtig in einem der ſchönſten Augen¬
blicke meines Lebens, da ich verwundet auf
der Erde lag, und Ihre hülfreiche Geſtalt
vor mir erſchien, als das Kind mit blutigen
Haren, mit der zärtlichſten Sorgfalt für
mein Leben beſorgt war, deſſen frühzeitigen
Tod wir nun beweinen.


Die Freunde hatten nicht lange Zeit, ſich
über dieſe traurige Begebenheit zu unterhal¬
Y 2[340] ten, und Fräulein Thereſen über das Kind
und über die wahrſcheinliche Urſache ſeines
unerwarteten Todes aufzuklären; denn es
wurden Fremde gemeldet, die, als ſie ſich
zeigten, keinesweges fremd waren. Lothario,
Jarno, der Abbé traten herein. Natalie
ging ihrem Bruder entgegen, unter den übri¬
gen entſtand ein augenblickliches Stillſchwei¬
gen. Thereſe ſagte lächelnd zu Lothario:
Sie glaubten wohl kaum mich hier zu fin¬
den, wenigſtens iſt es eben nicht räthlich, daß
wir uns in dieſem Augenblick aufſuchen, in¬
deſſen ſeyn Sie mir, nach einer ſo langen
Abweſenheit, herzlich gegrüßt.


Lothario reichte ihr die Hand, und ver¬
ſetzte: wenn wir einmal leiden und entbeh¬
ren ſollen, ſo mag es immerhin auch in der
Gegenwart des geliebten, wünſchenswerthen
Gutes geſchehen, ich verlange keinen Ein¬
fluß auf Ihre Entſchließung, und mein Ver¬
[341] trauen auf Ihr Herz, auf Ihren Verſtand
und reinen Sinn iſt noch immer ſo groß,
daß ich Ihnen mein Schickſal und das Schick¬
ſal meines Freundes gerne in die Hand lege.


Das Geſpräch wendete ſich ſogleich zu
allgemeinen, ja, man darf ſagen, zu unbe¬
deutenden Gegenſtänden. Die Geſellſchaft
trennte ſich bald, zum Spaziren gehen, in
einzelne Paare. Natalie war mit Lothario,
Thereſe mit dem Abbé gegangen und Wil¬
helm war mit Jarno auf dem Schloſſe
geblieben.


Die Erſcheinung der drey Freunde, in
dem Augenblick da Wilhelmen ein ſchwerer
Schmerz auf der Bruſt lag, hatte ihn, ſtatt
ihn zu zerſtreuen, in äußerſt ſchlimme Laune
verſetzt, er war verdrießlich und argwöh¬
niſch, und konnte und wollte es nicht ver¬
helen, als Jarno ihn über ſein mürriſches
Stillſchweigen zur Rede ſetzte. Was braucht's
[342] da weiter? rief Wilhelm aus. Lothario kommt
mit ſeinen Beyſtänden, und es wäre wun¬
derbar, wenn jene geheimnißvollen Mächte
des Thurms, die immer ſo geſchäftig ſind,
jetzt nicht auf uns wirken, und ich weiß
nicht was für einen ſeltſamen Zweck mit
und an uns ausführen ſollten. So viel ich
dieſe heiligen Männer kenne, ſcheint es je¬
derzeit ihre löbliche Abſicht das Verbundene
zu trennen und das Getrennte zu verbinden.
Was daraus für ein Gewebe entſtehen kann,
mag wohl unſern unheiligen Augen ewig
ein Rätzel bleiben.


Sie ſind verdrießlich und bitter, ſagte
Jarno, das iſt recht ſchön und gut. Wenn
Sie nur erſt einmal recht böſe werden, wird
es noch beſſer ſeyn.


Dazu kann auch Rath werden, verſetzte
Wilhelm, und ich fürchte ſehr, daß man Luſt
hat meine angebohrne und angebildete Ge¬
duld diesmal aufs Äußerſte zu reizen.


[343]

So möchte ich Ihnen denn doch, ſagte
Jarno, indeſſen, bis wir ſehen wo unſere
Geſchichten hinaus wollen, etwas von dem
Thurme erzählen, gegen den Sie ein ſo
großes Mißtrauen zu hegen ſcheinen.


Es ſteht bey Ihnen, verſetzte Wilhelm,
wenn Sie es auf meine Zerſtreuung hin wa¬
gen wollen. Mein Gemüth iſt ſo vielfach
beſchäftigt, daß ich nicht weiß, ob es an
dieſen würdigen Abentheuern den ſchuldigen
Theil nehmen kann.


Ich laſſe mich, ſagte Jarno, durch Ihre
angenehme Stimmung nicht abſchrecken, Sie
über dieſen Punct aufzuklären. Sie halten
mich für einen geſcheuten Kerl, und Sie ſol¬
len mich auch noch für einen ehrlichen hal¬
ten, und, was mehr iſt, diesmal hab’ ich
Auftrag. — Ich wünſchte, verſetzte Wil¬
helm, Sie ſprächen aus eigner Bewegung
und aus gutem Willen mich aufzuklären;
[344] da ich Sie nicht ohne Mißtrauen hören
kann, warum ſoll ich Sie anhören? — Wenn
ich jetzt nichts beſſeres zu thun habe, ſagte
Jarno, als Mährchen zu erzählen, ſo ha¬
ben Sie ja auch wohl Zeit ihnen einige Auf¬
merkſamkeit zu widmen, vielleicht ſind Sie
dazu geneigter, wenn ich Ihnen gleich an¬
fangs ſage: alles was Sie im Thurme ge¬
ſehen haben, ſind eigentlich nur noch Reli¬
quien von einem jugendlichen Unternehmen,
bey dem es anfangs den meiſten Eingeweih¬
ten großer Ernſt war, und über das nun
alle gelegentlich nur lächeln.


Alſo mit dieſen würdigen Zeichen und
Worten ſpielt man nur, rief Wilhelm aus,
man führt uns mit Feyerlichkeit an einen
Ort, der uns Ehrfurcht einflößt, man läßt
uns die wunderlichſten Erſcheinungen ſehen,
man giebt uns Rollen voller herrlichen, ge¬
heimnißreichen Sprüche, davon wir freylich
[345] das wenigſte verſtehn, man eröfnet uns:
daß wir bisher Lehrlinge waren, man ſpricht
uns los, und wir ſind ſo klug wie vorher. —
Haben Sie das Pergament nicht bey der
Hand? fragte Jarno, es enthält viel Gu¬
tes; denn jene allgemeinen Sprüche ſind
nicht aus der Luft gegriffen, freylich ſcheinen
ſie demjenigen leer und dunkel, der ſich kei¬
ner Erfahrung dabey erinnert. Geben Sie
mir den ſogenannten Lehrbrief doch, wenn
er in der Nähe iſt. — Gewiß ganz nah,
verſetzte Wilhelm, ſo ein Amulet ſollte man
immer auf der Bruſt tragen. — Nun, ſagte
Jarno lächelnd: wer weiß ob der Inhalt
nicht einmal in Ihrem Kopf und Herzen
Platz findet.


Jarno blickte hinein, und überlief die
erſte Hälfte mit den Augen. Dieſe, ſagte
er, bezieht ſich auf die Ausbildung des
Kunſtſinnes, wovon andere ſprechen mögen;
[346] der zweyte handelt vom Leben, und da bin
ich beſſer zu Hauſe.


Er fing darauf an Stellen zu leſen, ſprach
dazwiſchen und knüpfte Anmerkungen und
Erzählungen mit ein: Die Neigung der Ju¬
gend zum Geheimnis, zu Ceremonien und
großen Worten iſt außerordentlich, und oft
ein Zeichen einer gewiſſen Tiefe des Charak¬
ters. Man will in dieſen Jahren ſein ganzes
Weſen, wenn auch nur dunkel und unbe¬
ſtimmt, ergriffen und berührt fühlen. Der
Jüngling, der vieles ahnet, glaubt in ei¬
nem Geheimniſſe viel zu finden, in ein Ge¬
heimniß viel legen und durch daſſelbe wirken
zu müſſen. In dieſen Geſinnungen beſtärkte
der Abbé eine junge Geſellſchaft, theils nach
ſeinen Grundſätzen, theils aus Neigung und
Gewohnheit, da er wohl ehemals mit einer
Geſellſchaft in Verbindung ſtand, die ſelbſt
viel im Verborgenen gewirkt haben mochte.
[347] Ich konnte mich am wenigſten in dieſes We¬
ſen finden. Ich war älter als die andern,
ich hatte von Jugend auf klar geſehen, und
wünſchte in allen Dingen nichts als Klar¬
heit, ich hatte kein ander Intereſſe, als die
Welt zu kennen wie ſie war; und ſteckte mit
dieſer Liebhaberey die übrigen beſten Gefähr¬
ten an, und faſt hätte darüber unſere gan¬
ze Bildung eine falſche Richtung genommen;
denn wir fingen an nur die Fehler der an¬
dern und ihre Beſchränkung zu ſehen, und
uns ſelbſt für treffliche Weſen zu halten.
Der Abbé kam uns zu Hülfe und lehrte
uns: daß man die Menſchen nicht beobach¬
ten müſſe, ohne ſich für ihre [Bildung] zu in¬
tereſſiren, und daß man ſich ſelbſt eigentlich nur
in der Thätigkeit zu beobachten und zu erlau¬
ſchen im Stande ſey. Er rieth uns jene erſte
Formen der Geſellſchaft beyzubehalten, es blieb
daher etwas geſetzliches in unſern Zuſammen¬
[348] künften, man ſah wohl die erſten myſtiſchen
Eindrücke auf die Einrichtung des Ganzen,
nachher nahm es, wie durch ein Gleichniß,
die Geſtalt eines Handwerks, das ſich bis
zur Kunſt erhob, an. Daher kamen die Be¬
nennungen von Lehrlingen, Gehülfen und
Meiſtern. Wir wollten mit eignen Augen
ſehen, und uns ein eigenes Archiv unſerer
Weltkenntnis bilden, daher entſtanden die
vielen Confeſſionen, die wir theils ſelbſt
ſchrieben, theils wozu wir andere veranla߬
ten, und aus denen nachher die Lehrjahre
zuſammengeſetzt wurden: Nicht allen Men¬
ſchen iſt es eigentlich um ihre Bildung zu
thun, viele wünſchen nur ſo ein Hausmittel
zum Wohlbefinden, Recepte zum Reichthum
und zu jeder Art von Glückſeligkeit. Alle
dieſe, die nicht auf ihre Füße geſtellt ſeyn
wollten, wurden mit Myſtificationen und
anderm Hokus Pokus theils aufgehalten,
[349] theils bey Seite gebracht. Wir ſprachen
nur nach unſerer Art diejenigen los, die leb¬
haft fühlten und deutlich bekannten, wozu
ſie gebohren ſeyen, und die ſich genug geübt
hatten, um, mit einer gewiſſen Fröhlichkeit
und Leichtigkeit, ihren Weg zu verfolgen.


So haben Sie ſich mit mir ſehr übereilt,
verſetzte Wilhelm, denn was ich kann, will
oder ſoll, weiß ich, grade ſeit jenem Augen¬
blick, am allerwenigſten. — Wir ſind ohne
Schuld in dieſe Verwirrung gerathen, das
gute Glück mag uns wieder heraushelfen;
indeſſen hören Sie nur: Derjenige, an dem
viel zu entwickeln iſt, wird ſpäter über ſich
und die Welt aufgeklärt. Es ſind nur we¬
nige, die den Sinn haben und zugleich zur
That fähig ſind. Der Sinn erweitert, aber
lähmt, die That belebt, aber beſchränkt.


Ich bitte Sie, fiel Wilhelm ein, leſen
Sie mir von dieſen wunderlichen Worten
[350] nichts mehr! Dieſe Phraſen haben mich ſchon
verwirrt genug gemacht. — So will ich bey
der Erzählung bleiben, ſagte Jarno, indem
er die Rolle halb zuwickelte, und nur manch¬
mal einen Blick hinein that. Ich ſelbſt habe
der Geſellſchaft und den Menſchen am we¬
nigſten genutzt, ich bin ein ſehr ſchlechter
Lehrmeiſter, es iſt mir unerträglich zu ſehen,
wenn jemand ungeſchickte Verſuche macht,
einem Irrenden muß ich gleich zurufen, und
wenn es ein Nachtwandler wäre, den ich in
Gefahr ſähe auf dem rechten Wege den
Hals zu brechen. Darüber hatte ich nun
immer meine Noth mit dem Abbé, der be¬
hauptet, der Irrthum könne nur durch das
Irren geheilt werden. Auch über Sie haben
wir uns oft geſtritten, er hatte Sie beſon¬
ders in Gunſt genommen, und es will ſchon
etwas heißen in dem hohen Grade ſeine
Aufmerkſamkeit auf ſich zu ziehen; Sie müſ¬
[351] ſen mir nachſagen, daß ich Ihnen, wo ich
Sie antraf, die reine Wahrheit ſagte. —
Sie haben mich wenig geſchont, ſagte Wil¬
helm, und Sie ſcheinen Ihren Grundſätzen
treu zu bleiben. Was iſt denn da zu ſcho¬
nen, verſetzte Jarno, wenn ein junger Menſch,
von mancherley guten Anlagen, eine ganz
falſche Richtung nimmt? — Verzeihen Sie,
ſagte Wilhelm, Sie haben mir ſtreng genug
alle Fähigkeit zum Schauſpieler abgeſprochen;
ich geſtehe Ihnen, daß, ob ich gleich dieſer
Kunſt ganz entſagt habe, ſo kann ich mich
bey mir ſelbſt doch dazu nicht für ganz un¬
fähig erklären. — Und bey mir, ſagte Jarno,
iſt es doch ſo rein entſchieden: daß wer ſich
nur ſelbſt ſpielen kann, kein Schauſpieler iſt.
Wer ſich nicht dem Sinn und der Geſtalt
nach in viele Geſtalten verwandeln kann,
verdient nicht dieſen Nahmen. So haben Sie,
zum Beyſpiel, den Hamlet und einige an¬
[352] dere Rollen recht gut geſpielt, bey denen
Ihnen Ihr Charakter, Ihre Geſtalt und die
Stimmung des Augenblicks zu gute kamen.
Das wäre nun für ein Liebhabertheater und
für einen jeden gut genug, der keinen an¬
dern Weg vor ſich ſähe. Man ſoll ſich,
fuhr Jarno fort, indem er auf die Rolle
ſah, vor einem Talente hüten, das man in
Vollkommenheit auszuüben nicht Hoffnung
hat. Man mag es darin ſo weit bringen,
als man will, ſo wird man doch immer zu¬
letzt, wenn uns einmal das Verdienſt des
Meiſters klar wird, den Verluſt von Zeit
und Kräften, die man auf eine ſolche Pfu¬
ſcherey gewendet hat, ſchmerzlich bedauren.


Leſen Sie nichts! ſagte Wilhelm, ich bitte
Sie inſtändig, ſprechen Sie fort, erzählen
Sie mir, klären Sie mich auf! Und ſo hat
alſo der Abbé mir zum Hamlet geholfen, in¬
dem er einen Geiſt herbeyſchaffte? — Ja,
denn[353] denn er verſicherte, daß es der einzige Weg
ſey Sie zu heilen, wenn Sie heilbar wä¬
ren. — Und darum ließ er mir den Schleyer
zurück, und hieß mich fliehen? — Ja, er
hoffte ſogar mit der Vorſtellung des Ham¬
lets ſollte ihre ganze Luſt gebüßt ſeyn, Sie
würden nachher das Theater nicht wieder be¬
treten, behauptete er; ich glaubte das Ge¬
gentheil und behielt Recht. Wir ſtritten noch
ſelbigen Abend nach der Vorſtellung darü¬
ber. — Und Sie haben mich alſo ſpielen
ſehen? — O gewis! — Und wer ſtellte denn
den Geiſt vor? — Das kann ich ſelbſt nicht
ſagen, entweder der Abbé oder ſein Zwil¬
lingsbruder, doch glaub ich dieſer, denn er
iſt um ein weniges größer; — Sie haben
alſo auch Geheimniſſe unter einander? —
Freunde können und müſſen Geheimniſſe vor
einander haben, ſie ſind einander doch kein
Geheimnis.


W. Meiſters Lehrj. 4. Z[354]

Es verwirrt mich ſchon das Andenken
dieſer Verworrenheit. Klären Sie mich über
den Mann auf, dem ich ſo viel ſchuldig
bin, und dem ich ſo viel Vorwürfe zu
machen habe.


Was ihn uns ſo ſchätzbar macht, ver¬
ſetzte Jarno, was ihm gewiſſermaßen die
Herrſchaft über uns alle erhält, iſt der freye
und ſcharfe Blick, den ihm die Natur über
alle Kräfte, die im Menſchen nur wohnen,
und wovon ſich jede in ihrer Art ausbilden
läßt, gegeben hat. Die meiſten Menſchen,
ſelbſt die vorzüglichen, ſind nur beſchränkt,
jeder ſchätzt gewiſſe Eigenſchaften an ſich und
andern, nur die begünſtigt er, nur die will
er ausgebildet wiſſen: Ganz entgegengeſetzt
wirkt der Abbé, er hat Sinn für alles, Luſt
an allem, es zu erkennen und zu befördern.
Da muß ich doch wieder in die Rolle ſehen!
fuhr Jarno fort: Nur alle Menſchen machen
[355] die Menſchheit aus, nur alle Kräfte zuſam¬
mengenommen die Welt. Dieſe ſind unter
ſich oft im Widerſtreit, und indem ſie ſich
zu zerſtören ſuchen, hält ſie die Natur zu¬
ſammen, und bringt ſie wieder hervor. Von
dem geringſten thieriſchen Handwerkstriebe,
bis zur höchſten Ausübung der geiſtigſten
Kunſt, vom Lallen und Jauchzen des Kindes,
bis zur treffiichſten Äuſſerung des Redners
und Sängers, vom erſten Balgen der Kna¬
ben bis zu den ungeheuren Anſtalten, wo¬
durch Länder erhalten und erobert werden,
vom leichteſten Wohlwollen und der flüch¬
tigſten Liebe, bis zur heftigſten Leidenſchaft
und zum ernſteſten Bunde, von dem reinſten
Gefühl der ſinnlichen Gegenwart bis zu den
leiſeſten Ahndungen und Hoffnungen der ent¬
fernteſten geiſtigen Zukunft, alles das und
weit mehr liegt im Menſchen, und muß aus¬
gebildet werden; aber nicht in Einem, ſon¬
Z 2[356] dern in vielen. Jede Anlage iſt wichtig, und
ſie muß entwickelt werden. Wenn einer nur
das Schöne, der andere nur das Nützliche be¬
fördert, ſo machen beyde zuſammen erſt einen
Menſchen aus. Das Nützliche befördert ſich
ſelbſt, denn die Menge bringt es hervor,
und alle könnens nicht entbehren; das Schöne
muß befördert werden, denn wenige ſtellens
dar, und viele bedürfens.


Halten Sie inne, rief Wilhelm, ich habe
das alles geleſen. — Nur noch einige Zei¬
len, verſetzte Jarno, hier find ich den Abbé
ganz wieder: Eine Kraft beherrſcht die an¬
dere, aber keine kann die andere bilden; in
jeder Anlage liegt auch allein die Kraft ſich
zu vollenden; das verſtehen ſo wenig Men¬
ſchen, die doch lehren und wirken wollen. —
Und ich verſtehe es auch nicht, verſetzte Wil¬
helm: — Sie werden über dieſen Text den
Abbé noch oft genug hören, und ſo laſſen
[357] Sie uns nur immer recht deutlich ſehen und
feſt halten, was an uns iſt, und was wir
an uns ausbilden können; laſſen Sie uns
gegen die andern gerecht ſeyn, denn wir
ſind nur in ſo fern zu achten, als wir zu
ſchätzen wiſſen. — Um Gottes willen! keine
Sentenzen weiter! ich fühle ſie ſind ein
ſchlechtes Heilmittel für ein verwundetes
Herz. Sagen Sie mir lieber mit Ihrer
grauſamen Beſtimmtheit, was Sie von mir
erwarten, und wie und auf welche Weiſe
Sie mich aufopfern wollen. — Jeden Ver¬
dacht, ich verſichere Sie, werden Sie uns
künftig abbitten. Es iſt Ihre Sache zu prü¬
fen und zu wählen, und die unſere Ihnen
beyzuſtehn. — Der Menſch iſt nicht glück¬
lich, als bis ſein unbedingtes Streben ſich
ſelbſt ſeine Begränzung beſtimmt. Nicht an
mich halten Sie ſich, ſondern an den Abbé,
nicht an ſich denken Sie, ſondern an das,
[358] was Sie umgiebt. Lernen Sie zum Bey¬
ſpiel Lothario’s Trefflichkeit einſehen, wie
ſein Überblick und ſeine Thätigkeit unzer¬
trennlich mit einander verbunden ſind, wie
er immer im Fortſchreiten iſt, wie er ſich
ausbreitet und jeden mit fortreißt. Er führt,
wo er auch ſey, eine Welt mit ſich, ſeine
Gegenwart belebt und feuert an. Sehen
Sie unſern guten Medikus dagegen! es ſcheint
gerade die entgegengeſetzte Natur zu ſeyn.
Wenn jener nur ins Ganze und auch in die
Ferne wirkt, ſo richtet dieſer ſeinen hellen
Blick nur auf die nächſten Dinge, er ver¬
ſchafft mehr die Mittel zur Thätigkeit, als
daß er die Thätigkeit hervorbrächte und be¬
lebte, ſein Handeln ſieht einem guten Wirth¬
ſchaften vollkommen ähnlich, ſeine Wirkſam¬
keit iſt ſtill, indem er einen jeden in ſeinem
Kreis befördert; ſein Wiſſen iſt ein beſtän¬
diges Sammlen und Ausſpenden, ein Neh¬
[359] men und Mittheilen im Kleinen. Vielleicht
könnte Lothario in Einem Tage zerſtöhren,
woran dieſer Jahre lang gebaut hat; aber
vielleicht theilt auch Lothario, in einem Au¬
genblick, andern die Kraft mit, das Zer¬
ſtöhrte hundertfältig wieder herzuſtellen. —
Es iſt ein trauriges Geſchäft, ſagte Wilhelm,
wenn man über die reinen Vorzüge der an¬
dern in einem Augenblicke denken ſoll, da
man mit ſich ſelbſt uneins iſt; ſolche Betrach¬
tungen ſtehen dem ruhigen Manne wohl an,
nicht dem, der von Leidenſchaft und Unge¬
wisheit bewegt iſt. — Ruhig und vernünf¬
tig zu betrachten iſt zu keiner Zeit ſchädlich,
und indem wir uns gewöhnen über die Vor¬
züge anderer zu denken, ſtellen ſich die un¬
ſern unvermerkt ſelbſt an ihren Platz, und
jede falſche Thätigkeit, wozu uns die Phan¬
taſie lockt, wird alsdann gern von uns auf¬
gegeben. Befreyen Sie wo möglich Ihren
[360] Geiſt von allem Argwohn und aller Ängſt¬
lichkeit! Dort kommt der Abbé, ſeyn Sie
ja freundlich gegen ihn, bis Sie noch mehr
erfahren, wie viel Dank Sie ihm ſchuldig
ſind. Der Schalk! da geht er zwiſchen Na¬
talien und Thereſen, ich wollte wetten, er
denkt ſich was aus. So wie er überhaupt
gern ein wenig das Schickſal ſpielt, ſo läßt
er auch nicht von der Liebhaberey, manch¬
mal eine Heirath zu ſtiften.


Wilhelm, deſſen leidenſchaftliche und ver¬
drießliche Stimmung durch alle die klugen
und guten Worte Jarno’s nicht verbeſſert
worden war, fand höchſt undelikat, daß ſein
Freund, gerade in dieſem Augenblick, eines
ſolchen Verhältniſſes erwähnte, und ſagte
zwar lächelnd, doch nicht ohne Bitterkeit:
ich dächte man überließe die Liebhaberey,
Heirathen zu ſtiften, Perſonen die ſich lieb
haben.


[361]

Sechstes Capitel.

Die Geſellſchaft hatte ſich eben wieder be¬
gegnet, und unſere Freunde ſahen ſich genö¬
thigt, das Geſpräch abzubrechen. Nicht lange,
ſo ward ein Curier gemeldet, der einen Brief
in Lothario’s eigene Hände übergeben wollte;
der Mann ward vorgeführt, er ſah rüſtig
und tüchtig aus, ſeine Livree war ſehr reich
und geſchmackvoll. Wilhelm glaubte ihn zu
kennen, und er irrte ſich nicht, es war der¬
ſelbe Mann, den er damals Philinen und
der vermeinten Mariane nachgeſchickt hatte,
und der nicht wieder zurück gekommen war.
Eben wollte er ihn anreden, als Lothario,
der den Brief geleſen hatte, ernſthaft und
faſt verdrießlich fragte: wie heißt ſein Herr?
Das iſt unter allen Fragen, verſetzte der
[362] Curier mit Beſcheidenheit, auf die ich am
wenigſten zu antworten weiß, ich hoffe der
Brief wird das nöthige vermelden; mündlich
iſt mir nichts aufgetragen.


Es ſey wie ihm ſey, verſetzte Lothario
mit Lächeln, da ſein Herr das Zutrauen zu
mir hat, mir ſo haſenfüßig zu ſchreiben, ſo
ſoll er uns willkommen ſeyn. Er wird nicht
lange auf ſich warten laſſen, verſetzte der
Curier mit einer Verbeugung, und ent¬
fernte ſich.


Vernehmet nur, ſagte Lothario, die tolle
abgeſchmackte Bothſchaft. Da unter allen
Gäſten, ſo ſchreibt der Unbekannte, ein gu¬
ter Humor der angenehmſte Gaſt ſeyn ſoll,
wenn er ſich einſtellt, und ich denſelben als
Reiſegefährten beſtändig mit mir herum führe,
ſo hoffe ich, der Beſuch, den ich Ew. Gna¬
den und Liebden zugedacht habe, wird nicht
übel vermerkt werden, vielmehr hoffe ich
[363] mit der ſämmtlichen hohen Familie vollkom¬
mener Zufriedenheit anzulangen, und gele¬
gentlich mich wieder zu entfernen, der ich
mich, und ſo weiter, Graf von Schneckenfuß.


Das iſt eine neue Familie, ſagte der
Abbé.


Es mag ein Vikariatsgraf ſeyn, verſetzte
Jarno.


Das Geheimnis iſt leicht zu errathen,
ſagte Natalie, ich wette es iſt Bruder Frie¬
drich, der uns ſchon ſeit dem Tode des
Oheims mit einem Beſuche droht.


Getroffen! ſchöne und weiſe Schweſter,
rief jemand aus einem nahen Buſche, und
zugleich trat ein angenehmer, heiterer, jun¬
ger Mann hervor, Wilhelm konnte ſich
kaum eines Schreyes enthalten. Wie? rief
er, unſer blonder Schelm, der ſoll mir auch
hier noch erſcheinen? Friedrich ward auf¬
merkſam, ſah Wilhelmen an und rief: wahr¬
[364] lich, weniger erſtaunt wär ich geweſen, die
berühmten Pyramiden, die doch in Ägypten
ſo feſt ſtehen, oder das Grab des Königs
Mauſolus, das, wie man mir verſichert hat,
gar nicht mehr exiſtirt, hier in dem Garten
meines Oheims zu finden, als Euch meinen
alten Freund und vielfachen Wohlthäter.
Seyd mir beſonders und ſchönſtens gegrüßt.


Nachdem er rings herum alles bewill¬
kommt und geküßt hatte, ſprang er wieder
auf Wilhelmen los, und rief: Haltet mir
ihn ja warm dieſen Helden, Heerführer und
dramatiſchen Philoſophen. Ich habe ihn bey
unſrer erſten Bekanntſchaft ſchlecht, ja, ich
darf wohl ſagen, mit der Hechel friſirt, und
er hat mir doch nachher eine tüchtige Tracht
Schläge erſpart. Er iſt großmüthig wie
Scipio, freygebig wie Alexander, gelegent¬
lich auch verliebt, doch ohne ſeine Neben¬
buhler zu haſſen. Nicht etwa, daß er ſeinen
[365] Feinden Kohlen aufs Haupt ſammelte, wel¬
ches, wie man ſagt, ein ſchlechter Dienſt
ſeyn ſoll, den man jemanden erzeigen kann,
nein, er ſchickt vielmehr den Freunden, die
ihm ſein Mädchen entführen, gute und treue
Diener nach, damit ihr Fuß an keinen
Stein ſtoße.


In dieſem Geſchmack fuhr er unaufhalt¬
ſam fort, ohne daß jemand ihm Einhalt zu
thun im Stande geweſen wäre, und da nie¬
mand in dieſer Art ihm erwiedern konnte,
ſo behielt er das Wort ziemlich allein. Ver¬
wundert euch nicht, rief er aus, über meine
große Beleſenheit in heiligen und profan
Scribenten, ihr ſollt erfahren, wie ich zu
dieſen Kenntniſſen gelangt bin. Man wollte
von ihm wiſſen, wie es ihm gehe? wo er
herkomme? allein er konnte vor lauter Sit¬
tenſprüchen und alten Geſchichten nicht zur
deutlichen Erklärung gelangen.


[366]

Natalie ſagte leiſe zu Thereſen: ſeine Art
von Luſtigkeit thut mir wehe, ich wollte
wetten, daß ihm dabey nicht wohl iſt.


Da Friedrich, außer einigen Späßen, die
ihm Jarno erwiederte, keinen Anklang für
ſeine Poſſen in der Geſellſchaft fand, ſagte
er: es bleibt mir nichts übrig, als mit der
ernſthaften Familie auch ernſthaft zu wer¬
den, und weil mir, unter ſolchen bedenk¬
lichen Umſtänden, ſogleich meine ſämmtliche
Sündenlaſt ſchwer auf die Seele fällt, ſo
will ich mich kurz und gut zu einer Gene¬
ralbeichte entſchließen, wovon Ihr aber, meine
werthen Herren und Damen, nichts verneh¬
men ſollt. Dieſer edle Freund hier, dem
ſchon einiges von meinem Leben und Thun
bekannt iſt, ſoll es allein erfahren, um ſo
mehr als er darnach allein zu fragen einige
Urſache hat. Wäret Ihr nicht neugierig zu
wiſſen, fuhr er gegen Wilhelmen fort, wie
[367] und wo? wer? wann und warum? wie ſiehts
mit der Conjugation des griechiſchen Verbi
Phileo, Philoo? und mit den Derivativis
dieſes allerliebſten Zeitwortes aus?


Somit nahm er Wilhelmen beym Arme,
führte ihn fort, indem er ihn auf alle Weiſe
drückte und küßte.


Kaum war Friedrich auf Wilhelms Zim¬
mer gekommen, als er im Fenſter ein Pu¬
dermeſſer liegen fand, mit der Inſchrift: ge¬
denket mein. Ihr hebt Eure werthen Sa¬
chen gut auf, ſagte er, wahrlich das iſt Phi¬
linens Pudermeſſer, das ſie Euch jenen Tag
ſchenkte, als ich Euch ſo gerauft hatte. Ich
hoffe Ihr habt des ſchönen Mädchens fleißig
dabey gedacht, und ich verſichere Euch, ſie
hat Euch auch nicht vergeſſen, und wenn
ich nicht jede Spur von Eiferſucht ſchon
lange aus meinem Herzen [verbannt] hätte,
ſo würde ich Euch nicht ohne Neid anſehen.


[368]

Reden Sie nichts mehr von dieſem Ge¬
ſchöpfe, verſetzte Wilhelm. Ich leugne nicht,
daß ich den Eindruck ihrer angenehmen Ge¬
genwart lange nicht los werden konnte, aber
das war auch alles.


Pfui! ſchämt Euch, rief Friedrich, wer
wird eine Geliebte verläugnen? und Ihr
habt ſie ſo complet geliebt, als man es nur
wünſchen konnte. Es verging kein Tag, daß
Ihr ihr nicht etwas ſchenktet, und wenn der
Deutſche ſchenkt, liebt er gewiß. Es blieb
mir nichts übrig, als ſie Euch zuletzt wegzu¬
putzen, und dem rothen Officierchen iſt es
denn auch endlich geglückt.


Wie? Sie waren der Officier, den wir
bey Philinen antrafen, und mit dem ſie
wegreiſte?


Ja, verſetzte Friedrich, den Sie für Ma¬
rianen hielten. Wir haben genug über den
Irrthum gelacht.


Welche[369]

Welche Grauſamkeit! rief Wilhelm, mich
in einer ſolchen Ungewisheit zu laſſen.


Und noch dazu den Curier, den Sie uns
nachſchickten, gleich in Dienſte zu nehmen!
verſetzte Friedrich. Es iſt ein tüchtiger Kerl,
und iſt dieſe Zeit nicht von unſerer Seite
gekommen. Und das Mädchen lieb ich noch
immer ſo raſend wie jemals. Mir hat ſie’s
ganz eigens angethan, daß ich mich ganz
nahe zu in einem mythologiſchen Falle be¬
finde, und alle Tage fürchte verwandelt zu
werden.


Sagen Sie mir nur, fragte Wilhelm,
wo haben Sie Ihre ausgebreitete Gelehr¬
ſamkeit her? Ich höre mit Verwunderung
der ſeltſamen Manier zu, die Sie angenom¬
men haben, immer mit Beziehung auf alte
Geſchichten und Fabeln zu ſprechen.


Auf die luſtigſte Weiſe, ſagte Friedrich,
bin ich gelehrt und zwar ſehr gelehrt gewor¬
W. Meiſters Lehrj. 4. A a[370] den. Philine iſt nun bey mir, wir haben
einem Pachter das alte Schloß eines Ritter¬
gutes abgemiethet, worin wir, wie die Ko¬
bolde, aufs luſtigſte leben. Dort haben wir
eine zwar compendiöſe, aber doch ausge¬
ſuchte Bibliothek gefunden, enthaltend eine
Bibel in Folio, Gottfrieds Chronik, zwey
Bände Theatrum Europaeum, die Acerra
Philologica
, Gryphii Schriften und noch ei¬
nige minder wichtige Bücher. Nun hatten
wir denn doch, wenn wir ausgetobt hatten,
manchmal lange Weile, wir wollten leſen,
und ehe wir’s uns verſahen, ward unſere
lange Weile noch länger. Endlich hatte Phi¬
line den herrlichen Einfall, die ſämmtlichen
Bücher auf einem großen Tiſch aufzuſchla¬
gen, wir ſetzten uns gegeneinander und la¬
ſen gegeneinander, und immer nur ſtellen¬
weiſe, aus einem Buch wie aus dem andern.
Das war nun eine rechte Luſt! wir glaub¬
[371] ten wirklich in guter Geſellſchaft zu ſeyn,
wo man für unſchicklich hält irgend eine
Materie zu lange fortſetzen, oder wohl gar
gründlich erörtern zu wollen. Wir glaubten
in lebhafter Geſellſchaft zu ſeyn, wo keins
das andere zum Wort kommen läßt. Dieſe
Unterhaltung geben wir uns regelmäßig alle
Tage, und werden dadurch nach und nach
ſo gelehrt, daß wir uns ſelbſt darüber ver¬
wunderten. Schon finden wir nichts neues
mehr unter der Sonne, zu allem bietet uns
unſere Wiſſenſchaft einen Beleg an. Wir
variiren, dieſe Art uns zu unterrichten, auf
gar vielerley Weiſe. Manchmal leſen wir
nach einer alten verdorbenen Sanduhr, die
in einigen Minuten ausgelaufen iſt. Schnell
dreht ſie das andere herum, und fängt aus
einem Buche zu leſen an, und kaum iſt wie¬
der der Sand im untern Glaſe, ſo beginnt
das andere ſchon wieder ſeinen Spruch, und
A a 2[372] ſo ſtudiren wir wirklich auf wahrhaft acade¬
miſche Weiſe, nur daß wir kürzere Stun¬
den haben, und unſere Studien äußerſt man¬
nigfaltig ſind.


Dieſe Tollheit begreife ich wohl, ſagte
Wilhelm, wenn einmal ſo ein luſtiges Paar
beyſammen iſt; wie aber das lockere Paar ſo
lange beyſammen bleiben kann, das iſt mir
nicht ſobald begreiflich.


Das iſt, rief Friedrich, eben das Glück
und das Unglück, Philine darf ſich nicht ſe¬
hen laſſen, ſie mag ſich ſelbſt nicht ſehen,
ſie iſt guter Hoffnung. Unförmlicher und
lächerlicher iſt nichts in der Welt als ſie.
Noch kurz ehe ich weg ging, kam ſie zufäl¬
liger Weiſe vor den Spiegel. Pfui Teufel,
ſagte ſie, und wendete das Geſicht ab, die
leibhaftige Frau Melina! das garſtige Bild!
Man ſieht doch ganz niederträchtig aus.


Ich muß geſtehen, verſetzte Wilhelm lä¬
[373] chelnd, daß es ziemlich komiſch ſeyn mag,
Euch als Vater und Mutter beyſammen zu
ſehen.


Es iſt ein recht närriſcher Streich, ſagte
Friedrich, daß ich noch zuletzt als Vater gel¬
ten ſoll. Sie behauptets, und die Zeit trifft
auch. Anfangs machte mich der verwünſchte
Beſuch, den ſie Euch nach dem Hamlet ab¬
geſtattet hatte, ein wenig irre.


Was für ein Beſuch?


Ihr werdet das Andenken daran doch
nicht ganz und gar verſchlafen haben? das
allerliebſte, fühlbare Geſpenſt jener Nacht,
wenn Ihrs noch nicht wißt, war Philine.
Die Geſchichte war mir freylich eine harte
Mitgift, doch wenn man ſich ſo etwas nicht
gefallen laſſen kann, ſo muß man gar nicht
lieben. Die Vaterſchaft beruht überhaupt
nur auf der Überzeugung, ich bin überzeugt
und alſo bin ich Vater. Da ſeht Ihr, daß
[374] ich die Logik auch am rechten Orte zu brau¬
chen weiß. Und wenn das Kind ſich nicht
gleich nach der Geburt auf der Stelle zu
Tode lacht; ſo kann es wo nicht ein nütz¬
licher doch angenehmer Weltbürger werden.


Indeſſen die Freunde ſich auf dieſe luſtige
Weiſe von leichtfertigen Gegenſtänden un¬
terhielten, hatte die übrige Geſellſchaft ein
ernſthaftes Geſpräch begonnen. Kaum hat¬
ten Friedrich und Wilhelm ſich entfernt, als
der Abbé die Freunde unvermerkt in einen
Gartenſaal führte, und, als ſie Platz ge¬
nommen hatten, ſeinen Vortrag begann.


Wir haben, ſagte er, im Allgemeinen be¬
hauptet, daß Fräulein Thereſe nicht die
Tochter ihrer Mutter ſey; es iſt nöthig, daß
wir uns hierüber auch nun im Einzelnen er¬
klären. Hier iſt die Geſchichte, die ich ſo¬
dann auf alle Weiſe zu belegen und zu be¬
weiſen mich erbiete.


[375]

Frau von *** lebte die erſten Jahre ih¬
res Eheſtandes mit ihrem Gemahl in dem
beſten Vernehmen, nur hatten ſie das Un¬
glück, daß die Kinder, zu denen einigemal
Hoffnung war, todt zur Welt kamen, und
bey dem dritten die Ärzte ſchon beynahe der
Mutter den Tod verkündigten, und ihn bey
einem folgenden als ganz unvermeidlich weiſ¬
ſagten. Man war genöthigt ſich zu ent¬
ſchließen, man wollte das Eheband nicht
aufheben, man befand ſich, bürgerlich ge¬
nommen, zu wohl. Frau von *** ſuchte
in der Ausbildung ihres Geiſtes, in einer
gewiſſen Repräſentation, in den Freuden der
Eitelkeit, eine Art von Entſchädigung für
das Mutterglück, das ihr verſagt war. Sie
ſah ihrem Gemahl mit ſehr viel Heiterkeit
nach, als er Neigung zu einem Frauenzim¬
mer faßte, welche die ganze Haushaltung
verſah, eine ſchöne Geſtalt und einen ſehr
[376] ſoliden Charakter hatte. Frau von *** bot
nach kurzer Zeit einer Einrichtung ſelbſt die
Hände, nach welcher das gute Mädchen ſich
Thereſens Vater überließ, in der Beſorgung
des Hausweſens fortfuhr und gegen die
Frau vom Hauſe faſt noch mehr Dienſtfer¬
tigkeit und Ergebung als vorher bezeigte.


Nach einiger Zeit erklärte ſie ſich guter
Hoffnung, und die beyden Eheleute kamen
bey dieſer Gelegenheit, ob wohl aus ganz
verſchiedenen Anläſſen, auf einerley Gedan¬
ken. Herr von *** wünſchte das Kind ſei¬
ner Geliebten als ſein rechtmäßiges im Hauſe
einzuführen, und Frau von ***, verdrie߬
lich, daß durch die Indiſcretion ihres Arztes
ihr Zuſtand in der Nachbarſchaft hatte ver¬
lauten wollen, dachte durch ein untergeſcho¬
benes Kind ſich wieder in Anſehn zu ſetzen,
und durch eine ſolche Nachgiebigkeit ein Über¬
gewicht im Hauſe zu erhalten, das ſie unter
[377] den übrigen Umſtänden zu verliehren fürch¬
tete. Sie war zurückhaltender als ihr Ge¬
mahl, ſie merkte ihm ſeinen Wunſch ab,
und wußte, ohne ihm entgegen zu gehn,
eine Erklärung zu erleichtern. Sie machte
ihre Bedingungen, und erhielt faſt alles,
was ſie verlangte, und ſo entſtand das Te¬
ſtament, worin ſo wenig für das Kind ge¬
ſorgt zu ſeyn ſchien. Der alte Arzt war ge¬
ſtorben, man wendete ſich an einen jungen,
thätigen, geſcheuten Mann, er ward gut
belohnt, und er konnte ſelbſt eine Ehre darin
ſuchen, die Unſchicklichkeit und Übereilung
ſeines abgeſchiedenen Collegen herauszuſetzen
und zu verbeſſern. Die wahre Mutter wil¬
ligte nicht ungern ein, man ſpielte die Ver¬
ſtellung ſehr gut, Thereſe kam zur Welt,
und wurde einer Stiefmutter zugeeignet, in¬
deß ihre wahre Mutter ein Opfer dieſer
Verſtellung ward, indem ſie ſich zu früh
[378] wieder heraus wagte, ſtarb, und den guten
Mann troſtlos hinterließ.


Frau von *** hatte indeſſen ganz ihre
Abſicht erreicht, ſie hatte vor den Augen
der Welt ein liebenswürdiges Kind, mit dem
ſie übertrieben paradirte, ſie war zugleich
eine Nebenbuhlerinn los geworden, deren
Verhältniß ſie denn doch mit neidiſchen Au¬
gen anſah, und deren Einfluß ſie, für die
Zukunft wenigſtens, heimlich fürchtete, ſie
überhäufte das Kind mit Zärtlichkeit, und
wußte ihren Gemahl, in vertraulichen Stun¬
den, durch eine ſo lebhafte Theilnahme an
ſeinem Verluſt dergeſtalt an ſich zu ziehen,
daß er ſich ihr, man kann wohl ſagen, ganz
ergab, ſein Glück und das Glück ihres Kin¬
des in ihre Hände legte, und kaum kurze
Zeit vor ſeinem Tode, und noch gewiſſer¬
maßen nur durch ſeine erwachſene Tochter,
wieder Herr im Hauſe ward. Das war,
[379] ſchöne Thereſe, das Geheimniß, daß Ihnen
Ihr kranker Vater wahrſcheinlich ſo gern
entdeckt hätte, das iſts, was ich Ihnen jetzt,
eben da der junge Freund, der durch die
ſonderbarſte Verknüpfung von der Welt Ihr
Bräutigam geworden iſt, in der Geſellſchaft
fehlt, umſtändlich vorlegen wollte. Hier
ſind die Papiere, die aufs ſtrengſte bewei¬
ſen, was ich behauptet habe. Sie werden
daraus zugleich erfahren, wie lange ich ſchon
dieſer Entdeckung auf der Spur war, und
wie ich doch erſt jetzt zur Gewißheit kom¬
men konnte, wie ich nicht wagte, meinem
Freund etwas von der Möglichkeit des Glücks
zu ſagen, da es ihn zu tief gekränkt haben
würde, wenn dieſe Hoffnung zum zweyten¬
male verſchwunden wäre. Sie werden Ly¬
diens Argwohn begreifen; denn ich geſtehe
gern, daß ich die Neigung unſeres Freun¬
des zu dieſem guten Mädchen keinesweges
[380] begünſtigte, ſeitdem ich ſeiner Verbindung
mit Thereſen wieder entgegen ſah.


Niemand erwiederte etwas auf dieſe Ge¬
ſchichte. Die Frauenzimmer gaben die Pa¬
piere nach einigen Tagen zurück, ohne der¬
ſelben weiter zu erwähnen.


Man hatte Mittel genug in der Nähe,
die Geſellſchaft, wenn ſie beyſammen war,
zu beſchäftigen, auch bot die Gegend ſo
manche Reize dar, daß man ſich gern darin
theils einzeln, theils zuſammen, zu Pferde,
zu Wagen oder zu Fuße umſah. Jarno
richtete, bey einer ſolchen Gelegenheit, ſei¬
nen Auftrag an Wilhelmen aus, legte ihm
die Papiere vor, ſchien aber weiter keine
Entſchließung von ihm zu verlangen.


In dieſem höchſt ſonderbaren Zuſtand, in
dem ich mich befinde, ſagte Wilhelm darauf,
brauche ich Ihnen nur das zu wiederholen,
was ich gleich Anfangs, in Gegenwart Na¬
[381] taliens, und gewis mit einem reinen Herzen,
geſagt habe: Lothario und ſeine Freunde
können jede Art von Entſagung von mir
fordern, ich lege Ihnen hiermit alle meine
Anſprüche an Thereſen in die Hand, ver¬
ſchaffen Sie mir dagegen meine förmliche
Entlaſſung. O! es bedarf, mein Freund,
keines großen Bedenkens mich zu entſchließen.
Schon dieſe Tage hab ich gefühlt, daß The¬
reſe Mühe hat nur einen Schein der Leb¬
haftigkeit, mit der ſie mich zuerſt hier be¬
grüßte, zu erhalten. Ihre Neigung iſt mir
entwendet, oder vielmehr ich habe ſie nie
beſeſſen.


Solche Fälle möchten ſich wohl beſſer,
nach und nach, unter Schweigen und Er¬
warten aufklären, verſetzte Jarno, als durch
vieles Reden, wodurch immer eine Art von
Verlegenheit und Gährung entſteht.


Ich dächte vielmehr, ſagte Wilhelm, daß
[382] gerade dieſer Fall der ruhigſten und der
reinſten Entſcheidung fähig ſey. Man hat
mir ſo oft den Vorwurf des Zauderns und
der Ungewisheit gemacht; warum will man
jetzt, da ich entſchloſſen bin, geradezu einen
Fehler, den man an mir tadelte, gegen mich
ſelbſt begehn? giebt ſich die Welt nur darum
ſo viel Mühe uns zu bilden, um uns füh¬
len zu laſſen, daß ſie ſich nicht bilden mag?
Ja, gönnen Sie mir recht bald das heitere
Gefühl, ein Mißverhältniß los zu werden,
in das ich mit den reinſten Geſinnungen von
der Welt gerathen bin.


Ohngeachtet dieſer Bitte vergingen einige
Tage, in denen er nichts von dieſer Sache
hörte, noch auch eine weitere Veränderung
an ſeinen Freunden bemerkte, die Unter¬
haltung war vielmehr bloß allgemein und
gleichgültig.


[383]

Siebentes Capitel.

Einſt ſaßen Natalie, Jarno und Wilhelm
zuſammen, und Natalie begann: Sie ſind
nachdenklich Jarno, ich kann es Ihnen ſchon
einige Zeit abmerken.


Ich bin es, verſetzte der Freund, und
ich ſehe ein wichtiges Geſchäft vor mir, das
bey uns ſchon lange vorbereitet iſt, und jetzt
wohl angegriffen werden muß. Sie wiſſen
ſchon etwas im Allgemeinen davon, und ich
darf wohl vor unſerm jungen Freunde davon
reden, weil es auf ihm ankommen ſoll, ob
er Theil daran zu nehmen Luſt hat. Sie
werden mich nicht lange mehr ſehen, denn
ich bin im Begriff nach Amerika überzu¬
ſchiffen.


Nach Amerika? verſetzte Wilhelm lächelnd;
[384] ein ſolches Abentheuer hätte ich nicht von
Ihnen erwartet, noch weniger daß Sie mich
zum Gefährten ausſehen würden.


Wenn Sie unſern Plan ganz kennen,
verſetzte Jarno, ſo werden Sie ihm einen
beſſern Nahmen geben, und vielleicht für
ihn eingenommen werden. Hören Sie mich
an. Man darf nur ein wenig mit den Welt¬
händeln bekannt ſeyn, um zu bemerken, daß
uns große Veränderungen bevorſtehn, und
daß die Beſitzthümer beynah nirgends mehr
recht ſ[i]cher ſind.


Ich habe keinen deutlichen Begriff von
den Welthändeln, fiel Willhelm ein, und
habe mich erſt vor kurzen um meine Beſitz¬
thümer bekümmert. Vielleicht hätte ich wohl
gethan, ſie mir noch länger aus dem Sinne
zu ſchlagen, da ich bemerken muß, daß die
Sorge für ihre Erhaltung ſo hypochondriſch
macht.


Hören[385]

Hören Sie mich aus, ſagte Jarno, die
Sorge geziemt dem Alter, damit die Jugend
eine Zeit lang ſorglos ſeyn könne. Das
Gleichgewicht in den menſchlichen Handlun¬
gen kann leider nur durch Gegenſätze herge¬
ſtellt werden. Es iſt gegenwärtig nichts we¬
niger als räthlich, nur an Einem Ort zu be¬
ſitzen, nur Einem Platze ſein Geld anzuver¬
trauen, und es iſt wieder ſchwer an vielen
Orten Aufſicht darüber zu führen; wir haben
uns deswegen etwas anders ausgedacht, aus
unſerm alten Thurm ſoll eine Societät aus¬
gehen, die ſich in alle Theile der Welt aus¬
breiten, in die man aus jedem Theile der
Welt eintreten kann. Wir aſſecuriren uns
unter einander unſere Exiſtenz, auf den ein¬
zigen Fall, daß eine Staatsrevolution den
einen oder den andern von ſeinen Beſitzthü¬
mern völlig vertriebe. Ich gehe nun hin¬
über nach Amerika, um die guten Verhält¬
W. Meiſters Lehrj. 4. B b[286[386]] niſſe zu benutzen, die ſich unſer Freund bey
ſeinem dortigen Aufenthalt gemacht hat.
Der Abbé will nach Rußland gehn, und Sie
ſollen die Wahl haben, wenn Sie ſich an
uns anſchließen wollen, ob Sie Lothario in
Deutſchland beyſtehn, oder mit mir gehen
wollen. Ich dächte Sie wählten das letzte.
Denn eine große Reiſe zu thun iſt für einen
jungen Mann äußerſt nützlich.


Wilhelm nahm ſich zuſammen und ant¬
wortete: Der Antrag iſt aller Überlegung
werth, denn mein Wahlſpruch wird doch
nächſtens ſeyn; je weiter weg, je beſſer! Sie
werden mich, hoffe ich, mit Ihrem Plane
näher bekannt machen. Es kann von meiner
Unbekanntſchaft mit der Welt herrühren;
mir ſcheinen aber einer ſolchen Verbindung
ſich unüberwindliche Schwierigkeiten entge¬
gen zu ſetzen.


Davon ſich die meiſten nur dadurch he¬
[387] ben werden, verſetzte Jarno, daß unſerer
bis jetzt nur wenig ſind, redliche, geſcheute
und entſchloſſene Leute, die einen gewiſſen,
allgemeinen Sinn haben, aus dem allein
der geſellige Sinn entſtehen kann.


Friedrich, der bisher nur zugehört hatte,
verſetzte darauf: und wenn Ihr mir ein gu¬
tes Wort gebt, gehe ich auch mit.


Jarno ſchüttelte den Kopf.


Nun, was habt Ihr an mir auszuſetzen?
fuhr Friedrich fort. Bey einer neuen Colonie
werden auch junge Coloniſten erfordert, und
die bring ich gleich mit; auch luſtige Colo¬
niſten, das verſichre ich Euch. Und dann
wüßte ich noch ein gutes junges Mädchen,
das hierüber nicht mehr am Platz iſt, die
ſüße reizende Lydie. Wo ſoll das arme Kind
mit ſeinem Schmerz und Jammer hin, wenn
ſie ihn nicht gelegentlich in die Tiefe des
Meeres werfen kann, und wenn ſich nicht
B b 2[388] ein braver Mann ihrer annimmt? Ich dächte
mein Jugendfreund, da Ihr doch im Gange
ſeyd, Verlaſſene zu tröſten, Ihr entſchlößt
Euch! jeder nähme ſein Mädchen unter den
Arm, und wir folgten dem alten Herrn.


Dieſer Antrag verdroß Wilhelmen. Er
antwortete mit verſtellter Ruhe: weiß ich
doch nicht einmal ob ſie frey iſt, und da ich
überhaupt im Werben nicht glücklich zu ſeyn
ſcheine, ſo möchte ich einen ſolchen Verſuch
nicht machen.


Natalie ſagte darauf: Bruder Friedrich
Du glaubſt, weil Du für Dich ſo leichtſinnig
handelſt, auch für andere gelte Deine Ge¬
ſinnung. Unſer Freund verdient ein weib¬
liches Herz, das ihm ganz angehöre, das
nicht an ſeiner Seite von fremden Erinne¬
rungen bewegt werde; nur mit einem höchſt
vernünftigen und reinen Charakter, wie The¬
reſens, war ein Wageſtück dieſer Art zu
rathen.


[389]

Was Wageſtück! rief Friedrich. In der
Liebe iſt alles Wageſtück. Unter der Laube,
oder vor dem Altar, mit Umarmungen, oder
goldenen Ringen, beym Geſange der Heim¬
chen oder bey Trompeten und Pauken; es
iſt alles nur ein Wageſtück, und der Zufall
thut alles.


Ich habe immer geſehen, verſetzte Nata¬
lie, daß unſere Grundſätze nur ein Supple¬
ment zu unſern Exiſtenzen ſind. Wir hän¬
gen unſern Fehlern gar zu gern das Gewand
eines gültigen Geſetzes um. Gieb nur Acht,
welchen Weg Dich die Schöne noch führen
wird, die Dich auf eine ſo gewaltſame Weiſe
angezogen hat und feſt hält.


Sie iſt ſelbſt auf einem ſehr guten Wege,
verſetzte Friedrich, auf dem Wege zur Hei¬
ligkeit. Es iſt freylich ein Umweg, aber
deſto luſtiger und ſichrer; Maria von Mag¬
dala iſt ihn auch gegangen, und wer weiß
[390] wie viel andere. Überhaupt, Schweſter,
wenn von Liebe die Rede iſt, ſollteſt Du
Dich gar nicht drein miſchen. Ich glaube
Du heiratheſt nicht eher, als bis einmal ir¬
gendwo eine Braut fehlt, und Du giebſt
Dich alsdann, nach Deiner gewohnten Gut¬
herzigkeit, auch als Supplement irgend ei¬
ner Exiſtenz hin. Alſo laß uns nur jetzt,
mit dieſem Seelenverkäufer da, unſern Han¬
del ſchließen, und über unſere Reiſegeſell¬
ſchaft einig werden.


Sie kommen mit Ihren Vorſchlägen zu
ſpät, ſagte Jarno, für Lydien iſt geſorgt.


Und wie? fragte Friedrich.


Ich habe ihr ſelbſt meine Hand angebo¬
ten, verſetzte Jarno.


Alter Herr, ſagte Friedrich, da macht
Ihr einen Streich, zu dem man, wenn man
ihn als ein Subſtantivum betrachtet, ver¬
ſchiedene Adjectiva, und folglich, wenn man
[391] ihn als Subject betrachtet, verſchiedene Prä¬
dicate finden könnte.


Ich muß aufrichtig geſtehen, verſetzte Na¬
talie, es iſt ein gefährlicher Verſuch, ſich ein
Mädchen zuzueignen, in dem Augenblicke,
da ſie aus Liebe zu einem andern verzweifelt.


Ich habe es gewagt, verſetzte Jarno, ſie
wird unter einer gewiſſen Bedingung mein.
Und, glauben Sie mir, es iſt in der Welt
nichts ſchätzbarer als ein Herz, das der Liebe
und der Leidenſchaft fähig iſt. Ob es ge¬
liebt habe? ob es noch liebe? Darauf kommt
es nicht an. Die Liebe, mit der ein anderer
geliebt wird, iſt mir beynah reizender als
die, mit der ich geliebt werden könnte; ich
ſehe die Kraft, die Gewalt eines ſchönen
Herzens, ohne daß die Eigenliebe mir den
reinen Anblick trübt.


Haben Sie Lydien in dieſen Tagen ſchon
geſprochen? verſetzte Natalie.


[392]

Jarno nickte lächelnd, Natalie ſchüttelte
den Kopf und ſagte, indem ſie aufſtand: ich
weiß bald nicht mehr, was ich aus Euch
machen ſoll, aber mich ſollt Ihr gewiß nicht
irre machen.


Sie wollte ſich eben entfernen, als der
Abbé mit einem Brief in der Hand herein¬
trat, und zu ihr ſagte: bleiben Sie! ich
habe hier einen Vorſchlag, bey dem Ihr
Rath willkommen ſeyn wird. Der Markeſe,
der Freund Ihres verſtorbenen Oheims, den
wir ſeit einiger Zeit erwarten, muß in die¬
ſen Tagen hier ſeyn. Er ſchreibt mir, daß
ihm doch die deutſche Sprache nicht ſo ge¬
läufig ſey, als er geglaubt, daß er eines
Geſellſchafters bedürfe, der ſie vollkommen
nebſt einigen andern beſitze; da er mehr
wünſche in wiſſenſchaftliche als politiſche Ver¬
bindungen zu treten, ſo ſey ihm ein ſolcher
Dolmetſcher unentbehrlich. Ich wüßte nie¬
[393] mand geſchickter dazu als unſern jungen
Freund. Er kennt die Sprache, iſt ſonſt in
vielem unterrichtet, und es wird für ihn
ſelbſt ein großer Vortheil ſeyn, in ſo guter
Geſellſchaft und unter ſo vortheilhaften Um¬
ſtänden Deutſchland zu ſehen. Wer ſein
Vaterland nicht kennt, hat keinen Maaßſtab
für fremde Länder. Was ſagen Sie, meine
Freunde? was ſagen Sie, Natalie?


Niemand wußte gegen den Antrag etwas
einzuwenden. Jarno ſchien ſeinen Vorſchlag,
nach Amerika zu reiſen, ſelbſt als kein Hin¬
derniß anzuſehn, indem er ohnehin nicht ſo¬
gleich aufbrechen würde. Natalie ſchwieg,
und Friedrich führte verſchiedene Sprüchwör¬
ter über den Nutzen des Reiſens an.


Wilhelm war über dieſen neuen Vor¬
ſchlag im Herzen ſo entrüſtet, daß er es
kaum verbergen konnte. Er ſah eine Ver¬
abredung, ihn bald möglichſt los ſeyn zu
[394] wollen, nur gar zu deutlich, und was das
ſchlimmſte war, man ließ ſie ſo offenbar, ſo
ganz ohne Schonung ſehen. Auch der Ver¬
dacht, den Lydie bey ihm erregt, alles, was
er ſelbſt erfahren hatte, wurde wieder aufs
neue vor ſeiner Seele lebendig, und die na¬
türliche Art, wie Jarno ihm alles ausgelegt
hatte, ſchien ihm auch nur eine künſtliche
Darſtellung zu ſeyn


Er nahm ſich zuſammen und antwortete:
Dieſer Antrag verdient allerdings eine reif¬
liche Überlegung.


Eine geſchwinde Entſchließung möchte nö¬
thig ſeyn, verſetzte der Abbé.


Dazu bin ich jetzt nicht gefaßt, antwor¬
tete Wilhelm. Wir können die Ankunft des
Mannes abwarten, und dann ſehen, ob wir
zuſammen paſſen. Eine Hauptbedingung aber
muß man zum voraus eingehen, daß ich
meinen Felix mitnehmen, und ihn überall
mit hinführen darf.


[395]

Dieſe Bedingung wird ſchwerlich zuge¬
ſtanden werden, verſetzte der Abbé.


Und ich ſehe nicht, rief Wilhelm aus,
warum ich mir von irgend einem Menſchen
ſollte Bedingungen vorſchreiben laſſen? und
warum ich, wenn ich einmal mein Vater¬
land ſehen will, einen Italiener zur Geſell¬
ſchaft brauche?


Weil ein junger Menſch, verſetzte der
Abbé, mit einem gewiſſen imponirenden
Ernſte, immer Urſache hat ſich anzuſchließen.


Wilhelm, der wohl merkte, daß er län¬
ger an ſich zu halten nicht im Stande ſey,
da ſein Zuſtand nur durch die Gegenwart
Nataliens noch einigermaßen gelindert ward,
ließ ſich hierauf mit einiger Haſt verneh¬
men: man vergönne mir nur noch kurze Be¬
denkzeit, und ich vermuthe es wird ſich ge¬
ſchwinde entſcheiden, ob ich Urſache habe
mich weiter anzuſchließen, oder ob nicht viel¬
[396] mehr Herz und Klugheit mir unwiderſtehlich
gebieten, mich von ſo mancherley Banden
loszureißen, die mir eine ewige, elende Ge¬
fangenſchaft drohen.


So ſprach er, mit einem lebhaft beweg¬
ten Gemüth. Ein Blick auf Natalien beru¬
higte ihn einigermaßen, indem ſich in die¬
ſem leidenſchaftlichen Augenblick, ihre Geſtalt
und ihr Werth nur deſto tiefer bey ihm ein¬
drückten.


Ja, ſagte er zu ſich ſelbſt, indem er ſich
allein fand, geſtehe dir nur, du liebſt ſie,
und du fühlſt wieder, was es heiße, wenn
der Menſch mit allen Kräften lieben kann.
So liebte ich Marianen, und ward ſo ſchreck¬
lich an ihr irre; ich liebte Philinen und
mußte ſie verachten. Aurelien achtete ich,
und konnte ſie nicht lieben; ich verehrte The¬
reſen, und die väterliche Liebe nahm die
Geſtalt einer Neigung zu ihr an, und jetzt
[397] da in deinem Herzen alle Empfindungen zu¬
ſammentreffen, die den Menſchen glücklich
machen ſollten, jetzt biſt du genöthigt zu
fliehen! Ach! warum muß ſich zu dieſen
Empfindungen, zu dieſen Erkenntniſſen das
unüberwindliche Verlangen des Beſitzes ge¬
ſellen? und warum richten, ohne Beſitz, eben
dieſe Empfindungen, dieſe Überzeugungen
jede andere Art von Glückſeligkeit völlig zu
Grunde? Werde ich künftig der Sonne und
der Welt, der Geſellſchaft oder irgend eines
Glücksgutes genießen? wirſt du nicht immer
zu dir ſagen: Natalie iſt nicht da! und doch
wird leider Natalie dir immer gegenwärtig
ſeyn. Schließeſt du die Augen, ſo wird ſie
ſich dir darſtellen; öfneſt du ſie, ſo wird ſie
vor allen Gegenſtänden hinſchweben, wie
die Erſcheinung, die ein blendendes Bild im
Auge zurück läßt. War nicht ſchon früher
die ſchnell vorübergegangene Geſtalt der
[398] Amazone deiner Einbildungskraft immer ge¬
genwärtig? und du hatteſt ſie nur geſehen,
du kannteſt ſie nicht. Nun da du ſie kennſt,
da du ihr ſo nahe warſt, da ſie ſo vielen
Antheil an dir gezeigt hat, nun ſind ihre
Eigenſchaften ſo tief in dein Gemüth ge¬
prägt, als ihr Bild jemals in deine Sinne.
Ängſtlich iſt es immer zu ſuchen, aber viel
ängſtlicher gefunden zu haben und verlaſſen
zu müſſen. Wornach ſoll ich in der Welt
nun weiter fragen? wornach ſoll ich mich
weiter umſehen? welche Gegend, welche
Stadt verwahrt einen Schatz, der dieſem
gleich iſt? und ich ſoll reiſen, um nur immer
das Geringere zu finden? Iſt denn das Le¬
ben blos wie eine Rennbahn, wo man ſo¬
gleich ſchnell wieder umkehren muß, wenn
man das äußerſte Ende erreicht hat? Uns
ſteht das Gute, das Vortreffliche nur wie
ein feſtes, unverrücktes Ziel da, von dem
[399] man ſich eben ſo ſchnell mit raſchen Pferden
wieder entfernen muß, als man es erreicht
zu haben glaubt, an ſtatt daß jeder andere,
der nach irdiſchen Waaren ſtrebt, ſie in den
verſchiedenen Himmelsgegenden, oder wohl
gar auf der Meſſe und dem Jahrmarkt an¬
ſchaffen kann.


Komm, lieber Knabe! rief er ſeinem Sohn
entgegen, der eben daher geſprungen kam,
ſey und bleibe Du mir alles! Du warſt mir
zum Erſatz Deiner geliebten Mutter gegeben,
Du ſollteſt mir die zweyte Mutter erſetzen,
die ich Dir beſtimmt hatte, und nun haſt
Du noch die größere Lücke auszufüllen. Be¬
ſchäftige mein Herz, beſchäftige meinen Geiſt
mit Deiner Schönheit, Deiner Liebenswür¬
digkeit, Deiner Wißbegierde und Deinen
Fähigkeiten.


Der Knabe war mit einem neuen Spiel¬
werke beſchäftigt, der Vater ſuchte es ihm
[400] beſſer, ordentlicher, zweckmäßiger einzurich¬
ten; aber auch in dem Augenblicke verlohr
das Kind die Luſt daran. Du biſt ein wah¬
rer Menſch! rief Wilhelm aus, komm mein
Sohn! komm mein Bruder, laß uns in der
Welt zwecklos hinſpielen, ſo gut wir können.


Sein Entſchluß ſich zu entfernen, das
Kind mit ſich zu nehmen, und ſich an den
Gegenſtänden der Welt zu zerſtreuen, war
nun ſein feſter Vorſatz. Er ſchrieb an Wer¬
nern, erſuchte ihn um Geld und Creditbriefe,
und ſchickte Friedrichs Curier mit dem ge¬
ſchärften Auftrage weg, bald wieder zu kom¬
men. So ſehr er gegen die übrigen Freunde
auch verſtimmt war, ſo rein blieb ſein Ver¬
hältniß zu Natalien. Er vertraute ihr ſeine


Abſicht; auch ſie nahm für bekannt an, daß
er gehen könne und müſſe, und wenn ihn
auch gleich dieſe ſcheinbare Gleichgültigkeit
an ihr ſchmerzte, ſo beruhigte ihn doch ihre
gute[401] gute Art und ihre Gegenwart vollkommen.
Sie rieth ihm verſchiedene Städte zu be¬
ſuchen, um dort einige ihrer Freunde und
Freundinnen kennen zu lernen. Der Curier
kam zurück, brachte was Wilhelm verlangt
hatte, obgleich Werner mit dieſem neuen
Ausflug nicht zufrieden zu ſeyn ſchien. Meine
Hoffnung, daß Du vernünftig werden wür¬
deſt, ſchrieb dieſer, iſt nun wieder eine gute
Weile hinaus geſchoben. Wo ſchweift Ihr
nun alle zuſammen herum? und wo bleibt
denn das Frauenzimmer, zu deſſen wirth¬
ſchaftlichem Beyſtande Du mir Hoffnung
machteſt? Auch die übrigen Freunde ſind
nicht gegenwärtig; dem Gerichtshalter und
mir iſt das ganze Geſchäft aufgewälzt. Ein
Glück, daß er eben ein ſo guter Rechtsmann
iſt, als ich ein Finanzman bin, und daß wir
beyde etwas zu ſchleppen gewohnt ſind.
Lebe wohl. Deine Ausſchweifungen ſollen
W. Meiſters Lehrj. 4. C c[402] Dir verziehen ſeyn, da doch ohne ſie unſer
Verhältnis in dieſer Gegend nicht hätte ſo
gut werden können.


Was das Äußere betraf, hätte er nun
immer abreiſen können, allein ſein Gemüth
war noch durch zwey Hinderniſſe gebunden.
Man wollte ihm ein für allemal Mignons
Körper nicht zeigen, als bey den Exequien,
welche der Abbé zu halten gedachte, zu wel¬
cher Feyerlichkeit noch nicht alles bereit war.
Auch war der Arzt, durch einen ſonderbaren
Brief des Landgeiſtlichen, abgerufen worden.
Es betraf den Harfenſpieler, von deſſen
Schickſalen Wilhelm näher unterrichtet ſeyn
wollte.


In dieſem Zuſtande fand er weder bey
Tag noch bey Nacht Ruhe der Seele oder
des Körpers. Wenn alles ſchlief, ging er in
dem Hauſe hin und her. Die Gegenwart
der alten bekannten Kunſtwerke zog ihn an,
[403] und ſtieß ihn ab. Er konnte nichts, was ihn
umgab, weder ergreifen noch laſſen, alles
erinnerte ihn an alles, er überſah den gan¬
zen Ring ſeines Lebens, nur lag er leider
zerbrochen vor ihm, und ſchien ſich auf ewig
nich[t] ſchließen zu wollen. Dieſe Kunſtwerke,
die ſein Vater verkauft hatte, ſchienen ihm
ein Symbol, daß auch er von einem ruhi¬
gen und gründlichen Beſitz des wünſchens¬
werthen in der Welt theils ausgeſchloſſen,
theils deſſelben durch eigne oder fremde
Schuld beraubt werden ſollte. Er verlohr
ſich ſo weit in dieſen ſonderbaren und trau¬
rigen Betrachtungen, daß er ſich ſelbſt manch¬
mal wie ein Geiſt vorkam, und ſelbſt, wenn
er die Dinge außer ſich befühlte und be¬
taſtete, ſich kaum des Zweifels erwehren
konnte, ob er denn auch wirklich lebe und
da ſey.


Nur der lebhafte Schmerz, der ihn manch¬
C c 2[404] mal ergriff, daß er alles das Gefundene
und Wiedergefundene ſo freventlich und doch
ſo nothwendig verlaſſen müſſe, nur ſeine
Thränen gaben ihm das Gefühl ſeines Da¬
ſeyns wieder, vergebens rief er ſich den
glücklichen Zuſtand, in dem er ſich doch ei¬
gentlich befand, vors Gedächtniß. So iſt
denn alles nichts! rief er aus, wenn das
Eine fehlt, das dem Menſchen alles übrige
werth iſt.


Der Abbé verkündigte der Geſellſchaft
die Ankunft des Markeſe. Sie ſind zwar,
wie es ſcheint, ſagte er zu Wilhelmen, mit
Ihrem Knaben allein abzureiſen entſchloſſen,
lernen Sie jedoch wenigſtens dieſen Mann
kennen, der Ihnen, wo Sie ihn auch unter¬
weges antreffen, auf alle Fälle nützlich ſeyn
kann. Der Markeſe erſchien, es war ein
Mann noch nicht hoch in Jahren, eine von
den wohlgeſtalteten, gefälligen lombardiſchen
[405] Figuren. Er hatte als Jüngling mit dem
Oheim, der ſchon um vieles älter war, bey
der Armee, dann in Geſchäften Bekannt¬
ſchaft gemacht, ſie hatten nachher einen
großen Theil von Italien zuſammen durch¬
reiſt, und die Kunſtwerke, die der Markeſe
hier wieder fand, waren, zum großen Theil,
in ſeiner Gegenwart, und unter manchen
glücklichen Umſtänden, deren er ſich noch
wohl erinnerte, gekauft und angeſchafft
worden.


Der Italiener hat überhaupt ein tieferes
Gefühl für die hohe Würde der Kunſt als
andere Nationen; jeder, der nur irgend et¬
was treibt, will Künſtler, Meiſter und Pro¬
feſſor heißen, und bekennt wenigſtens durch
dieſe Titelſucht, daß es nicht genug ſey nur
etwas durch Überlieferung zu erhaſchen, oder
durch Übung irgend eine Gewandheit zu er¬
langen; er geſteht, daß jeder vielmehr über
[406] das, was er thut, auch fähig ſeyn ſolle zu
denken, Grundſätze aufzuſtellen, und die Ur¬
ſachen, warum dieſes oder jenes zu thun ſey,
ſich ſelbſt und andern deutlich zu machen.


Der Fremde ward gerührt, ſo ſchöne Be¬
ſitzthümer ohne den Beſitzer wieder zu fin¬
den, und erfreut den Geiſt ſeines Freundes
aus den vortrefflichen Hinterlaſſenen ſprechen
zu hören. Sie gingen die verſchiedenen
Werke durch, und fanden eine große Be¬
haglichkeit ſich einander verſtändlich machen
zu können. Der Markeſe und der Abbé
führten das Wort, Natalie, die ſich wieder
in die Gegenwart ihres Oheims verſetzt fühlte,
wußte ſich ſehr gut in ihre Meinungen und
Geſinnungen zu finden. Wilhelm mußte ſichs
in theatraliſche Terminologie überſetzen, wenn
er etwas davon verſtehen ſollte. Man hatte
Noth Friedrichs Scherze in Schranken zu
halten. Jarno war ſelten zugegen.


[407]

Bey der Betrachtung, daß vortreffliche
Kunſtwerke in der neuern Zeit ſo ſelten ſeyen,
ſagte der Markeſe: es läßt ſich nicht leicht
denken und überſehen, was die Umſtände
für den Künſtler thun müſſen, und dann
ſind bey dem größten Genie, bey dem ent¬
ſcheidenſten Talente noch immer die Forde¬
rungen unendlich, die er an ſich ſelbſt zu
machen hat, unſäglich der Fleiß, der zu ſei¬
ner Ausbildung nöthig iſt. Wenn nun die
Umſtände wenig für ihn thun, wenn er be¬
merkt, daß die Welt ſehr leicht zu befriedi¬
gen iſt, und ſelbſt nur einen leichten, gefäl¬
ligen, behaglichen Schein begehrt; ſo wäre
es zu verwundern, wenn nicht Bequemlich¬
keit und Eigenliebe ihn bey dem Mittelmäßi¬
gen feſt hielten, es wäre ſeltſam, wenn er
nicht lieber für Modewaaren Geld und Lob
eintauſchen, als den rechten Weg wählen
ſollte, der ihn mehr oder weniger zu einem
[408] kümmerlichen Märtyrerthum führt. Deswe¬
gen bieten die Künſtler unſerer Zeit nur im¬
mer an, um niemals zu geben. Sie wollen
immer reizen, um niemals zu befriedigen;
alles iſt nur angedeutet, und man findet
nirgends Grund noch Ausführung. Man
darf aber auch nur eine Zeit lang ruhig in
einer Gallerie verweilen, und beobachten,
nach welchen Kunſtwerken ſich die Menge
zieht, welche geprieſen und welche vernach¬
läßigt werden, ſo hat man wenig Luſt an
der Gegenwart, und für die Zukunft wenig
Hoffnung.


Ja, verſetzte der Abbé, und ſo bilden
ſich Liebhaber und Künſtler wechſelsweiſe; der
Liebhaber ſucht nur einen allgemeinen unbe¬
ſtimmten Genuß, das Kunſtwerk ſoll ihm
ohngefähr wie ein Naturwerk behagen, und
die Menſchen glauben, die Organe, ein
Kunſtwerk zu genießen, bildeten ſich eben
[409] ſo von ſelbſt aus, wie die Zunge und der
Gaum, man urtheile über ein Kunſtwerk,
wie über eine Speiſe, und man begreift
nicht, was für einer andern Kultur es be¬
darf, um ſich zum wahren Kunſtgenuſſe zu
erheben. Das ſchwerſte finde ich die Art
von Abſonderung, die der Menſch in ſich
ſelbſt bewirken muß, wenn er ſich überhaupt
bilden will, deswegen finden wir ſo viel ein¬
ſeitige Kulturen, wovon doch jede ſich an¬
maßt über das Ganze abzuſprechen.


Was Sie da ſagen, iſt mir nicht ganz
deutlich, ſagte Jarno, der eben hinzutrat.


Auch iſt es ſchwer, verſetzte der Abbé,
ſich in der Kürze beſtimmt hierüber zu er¬
klären. Ich ſage nur ſo viel: ſobald der
Menſch an mannigfaltige Thätigkeit oder
mannigfaltigen Genuß Anſpruch macht, ſo
muß er auch fähig ſeyn mannigfaltige Or¬
gane an ſich gleichſam unabhängig von ein¬
[410] ander auszubilden. Wer alles und jedes in
ſeiner ganzen Menſchheit thun oder genießen
will, wer alles außer ſich zu einer ſolchen
Art von Genuß verknüpfen will, der wird
ſeine Zeit nur mit einem ewig unbefriedig¬
ten Streben hinbringen. Wie ſchwer iſt es,
was ſo natürlich ſcheint, eine gute Natur,
ein treffliches Gemählde an und für ſich zu
beſchauen, den Geſang um des Geſangs wil¬
len zu vernehmen, den Schauſpieler im
Schauſpieler zu bewundern, ſich eines Ge¬
bäudes um ſeiner eigenen Harmonie und
ſeiner Dauer willen zu erfreuen. Nun ſieht
man aber meiſt nur die Menſchen die ent¬
ſcheidendſten Werke der Kunſt gerade zu be¬
handeln, als wenn es ein weicher Thon
wäre. Nach ihren Neigungen, Meinungen
und Grillen ſoll ſich der gebildete Marmor
ſogleich wieder ummodeln, das feſtgemauerte
Gebäude ſich ausdehnen oder zuſammenzie¬
[411] hen, ein Gemählde ſoll lehren, ein Schau¬
ſpieler beſſern und alles ſoll alles werden.
Eigentlich aber weil die meiſten Menſchen
ſelbſt formlos ſind, weil ſie ſich und ihrem
Weſen ſelbſt keine Geſtalt geben können, ſo
arbeiten ſie den Gegenſtänden ihre Geſtalt
zu nehmen, damit ja alles loſer und lockrer
Stoff werde, wozu ſie auch gehören. Alles
reduciren ſie zuletzt auf den ſogenannten Ef¬
fect, alles iſt relativ, und ſo wird auch alles
relativ, außer dem Unſinn und der Abge¬
ſchmacktheit, die denn auch ganz abſolut
regiert.


Ich verſtehe Sie, verſetzte Jarno, oder
vielmehr ich ſehe wohl ein, wie das, was
Sie ſagen, mit den Grundſätzen zuſammen¬
hängt, an denen Sie ſo feſt halten; ich kann
es aber mit den armen Teufeln von Men¬
ſchen unmöglich ſo genau nehmen. Ich kenne
freylich ihrer genug, die ſich bey den grö߬
[412] ten Werken der Kunſt und der Natur ſo¬
gleich ihres armſeligſten Bedürfniſſes erin¬
nern, ihr Gewiſſen und ihre Moral mit in
die Oper nehmen, ihre Liebe und Haß vor
einem Säulengange nicht ablegen, und das
Beſte und Größte, was ihnen von außen
gebracht werden kann, in ihrer Vorſtellungs¬
art erſt möglichſt verkleinern müſſen, um es
mit ihrem kümmerlichen Weſen nur einiger¬
maßen verbinden zu können.


[413]

Achtes Capitel.

Am Abend lud der Abbé zu den Exequien
Mignons ein. Die Geſellſchaft begab ſich
in den Saal der Vergangenheit, und fand
denſelben auf das ſonderbarſte erhellt und
ausgeſchmückt. Mit himmelblauen Teppichen
waren die Wände faſt von oben bis unten
bekleidet, ſo daß nur Sockel und Frieß her¬
vorſchienen. Auf den vier Candelabern in
den Ecken brannten große Wachsfackeln, und
ſo nach Verhältnis auf den vier kleinern,
die den mittlern Sarkophagen umgaben. Ne¬
ben dieſem ſtanden vier Knaben, himmelblau
mit Silber gekleidet, und ſchienen einer Fi¬
gur, die auf dem Sarkophagen lag, mit
breiten Fächern von Straußenfedern Luft
zuzuwehn. Die Geſellſchaft ſetzte ſich, und
[414] zwey unſichtbare Chöre fingen mit holdem
Geſang an zu fragen: Wen bringt ihr uns
zur ſtillen Geſellſchaft? Die vier Kinder ant¬
worteten mit lieblicher Stimme: Einen mü¬
den Geſpielen bringen wir euch, laßt ihn
unter euch ruhen, bis das Jauchzen himmli¬
ſcher Geſchwiſter ihn dereinſt wieder aufweckt.


Chor.


Erſtling der Jugend in unſerm Kreiſe, ſey
willkommen! mit Trauer willkommen! Dir
folge kein Knabe, kein Mädchen nach! Nur
das Alter nahe ſich willig und gelaſſen der
ſtillen Halle, und in ernſter Geſellſchaft ruhe
das liebe, liebe Kind.


Knaben.


Ach! wie ungern brachten wir ihn her!
Ach! und er ſoll hier bleiben! laßt uns auch
bleiben, laßt uns weinen, weinen an ſeinem
Sarge!


[415]

Chor.


Seht die mächtigen Flügel doch an! ſeht
das leichte reine Gewand! wie blinkt die
goldene Binde vom Haupt! ſeht die ſchöne,
die würdige Ruh!


Knaben.


Ach! die Flügel heben ſie nicht, im leich¬
ten Spiele flattert das Gewand nicht mehr:
als wir mit Roſen kränzten ihr Haupt, blickte
ſie hold und freundlich nach uns.


Chor.


Schaut mit den Augen des Geiſtes hinan!
in euch lebe die bildende Kraft, die das
Schönſte, das Höchſte hinauf über die Sterne
das Leben trägt.


Knaben.


Aber ach! wir vermiſſen ſie hier, in den
Gärten wandelt ſie nicht, ſammelt der Wieſe
[416] Blumen nicht mehr. Laßt uns weinen, wir
laſſen ſie hier! laßt uns weinen und bey ihr
bleiben.


Chor.


Kinder kehret ins Leben zurück! Eure
Thränen trockne die friſche Luft, die um
das ſchlängelnde Waſſer ſpielt. Entflieht der
Nacht! Tag und Luſt und Dauer iſt das
Loos der Lebendigen.


Knaben.


Auf, wir kehren ins Leben zurück. Gebe
der Tag uns Arbeit und Luſt, bis der Abend
uns Ruhe bringt, und der nächtliche Schlaf
uns erquickt.


Chor.


Kinder! eilet ins Leben hinan! In der
Schönheit reinem Gewande begegn’ euch die
Liebe[417] Liebe mit himmliſchem Blick und dem Kranz
der Unſterblichkeit.


Die Knaben waren ſchon fern, der Abbé
ſtand von ſeinem Seſſel auf, und trat hin¬
ter den Sarg. Es iſt die Verordnung, ſagte
er, des Mannes, der dieſe ſtille Wohnung
bereitet hat, daß jeder neue Ankömmling mit
Feyerlichkeit empfangen werden ſoll. Nach
ihm, dem Erbauer dieſes Hauſes, dem Er¬
richter dieſer Stätte, haben wir zuerſt einen
jungen Fremdling hierher gebracht, und ſo
faßt ſchon dieſer kleine Raum zwey ganz
verſchiedene Opfer der ſtrengen, willkühr¬
lichen und unerbittlichen Todesgöttinn. Nach
beſtimmten Geſetzen treten wir ins Leben
ein, die Tage ſind gezählt, die uns zum
Anblicke des Lichts reif machen, aber für die
Lebensdauer iſt kein Geſetz. Der ſchwächſte
Lebensfaden zieht ſich in unerwartete Länge,
und den ſtärkſten zerſchneidet gewaltſam die
W. Meiſters Lehrj. 4. D d[418] Schere einer Parze, die ſich in Widerſprüchen
zu gefallen ſcheint. Von dem Kinde, das
wir hier beſtatten, wiſſen wir wenig zu ſa¬
gen. Noch iſt uns unbekannt, woher es kam,
ſeine Eltern kennen wir nicht, und die Zahl
ſeiner Lebensjahre vermuthen wir nur. Sein
tiefes verſchloſſenes Herz ließ uns ſeine in¬
nerſten Angelegenheiten kaum errathen, nichts
war deutlich an ihm, nichts offenbar, als
die Liebe zu dem Mann, der es aus den
Händen eines Barbaren rettete. Dieſe zärt¬
liche Neigung, dieſe lebhafte Dankbarkeit
ſchien die Flamme zu ſeyn, die das Öl ihres
Lebens aufzehrte; die Geſchicklichkeit des Arz¬
tes konnte das ſchöne Leben nicht erhalten,
die ſorgfältigſte Freundſchaft vermochte nicht
es zu friſten. Aber wenn die Kunſt den ſchei¬
denden Geiſt nicht zu feſſeln vermochte; ſo
hat ſie alle ihre Mittel angewandt, den
Körper zu erhalten und ihn der Vergänglich¬
[419] keit zu entziehen. Eine balſamiſche Maſſe
iſt durch alle Adern gedrungen, und färbt
nun an der Stelle des Bluts die ſo früh
verblichenen Wangen. Treten Sie näher,
meine Freunde, und ſehen Sie das Wunder
der Kunſt und Sorgfalt!


Er hub den Schleyer auf, und das Kind
lag in ſeinen Engelkleidern, wie ſchlafend,
in der angenehmſten Stellung. Alle traten
herbey, und bewunderten dieſen Schein des
Lebens. Nur Wilhelm blieb in ſeinem Seſſel
ſitzen, er konnte ſich nicht faſſen; was er
empfand durfte er nicht denken, und jeder
Gedanke ſchien ſeine Empfindung zerſtöhren
zu wollen.


Die Rede war um des Markeſe willen
franzöſiſch geſprochen worden. Dieſer trat mit
den andern herbey, und betrachtete die Ge¬
ſtalt mit Aufmerkſamkeit. Der Abbé fuhr
fort: mit einem heiligen Vertrauen war auch
D d 2[420] dieſes gute, gegen die Menſchen ſo verſchloſ¬
ſene Herz, beſtändig zu ſeinem Gott gewen¬
det. Die Demuth, ja eine Neigung ſich äußer¬
lich zu erniedrigen, ſchien ihm angebohren.
Mit Eifer hing es an der katholiſchen Reli¬
gion, in der es gebohren und erzogen war.
Oft äußerte ſie den ſtillen Wunſch, auf ge¬
weihtem Boden zu ruhen, und wir haben
nach den Gebräuchen der Kirche dieſes mar¬
morne Behältniß und die wenige Erde ge¬
weihet, die in ihrem Kopfkiſſen verborgen
iſt. Mit welcher Inbrunſt küßte ſie in ih¬
ren letzten Augenblicken das Bild des Ge¬
kreuzigten, das auf ihren zarten Armen mit
vielen hundert Punkten ſehr zierlich abgebil¬
det ſteht. Er ſtreifte zugleich, indem er das
ſagte, ihren rechten Arm auf, und ein Cru¬
zifix, von verſchiedenen Buchſtaben und Zei¬
chen begleitet, ſah man blaulich auf der
weißen Haut.


[421]

Der Markeſe betrachtete dieſe neue Er¬
ſcheinung ganz in der Nähe. O Gott! rief
er aus, indem er ſich aufrichtete, und ſeine
Hände gen Himmel hob, armes Kind! un¬
glückliche Nichte! finde ich Dich hier wieder!
welche ſchmerzliche Freude, Dich, auf die wir
ſchon lange Verzicht gethan hatten, dieſen
guten lieben Körper, den wir lange im See
einen Raub der Fiſche glaubten, hier wieder
zu finden, zwar todt, aber erhalten. Ich
wohne Deiner Beſtattung bey, die ſo herr¬
lich durch ihr Äußeres, und noch herrlicher
durch die guten Menſchen wird, die Dich zu
Deiner Ruheſtätte begleiten. Und wenn ich
werde reden können, ſagte er mit gebrochner
Stimme, werde ich ihnen danken.


Die Thränen verhinderten ihn, etwas
weiter hervorzubringen. Durch den Druck
einer Feder verſenkte der Abbé den Körper
in die Tiefe des Marmors. Vier Jünglinge,
[402[422]] bekleidet wie jene Knaben, traten hinter den
Teppichen hervor, hoben den ſchweren, ſchön
verzierten Deckel auf den Sarg, und fingen
zugleich ihren Geſang an.


Die Jünglinge.

Wohl verwahrt iſt nun der Schatz! das
ſchöne Gebild der Vergangenheit! hier im
Marmor ruht es unverzehrt, auch in euren
Herzen lebt es, wirkt es fort. Schreitet,
ſchreitet ins Leben zurück! nehmet den heili¬
gen Ernſt mit hinaus, denn der Ernſt, der
heilige, macht allein das Leben zur Ewigkeit.


Das unſichtbare Chor fiel in die letzten
Worte mit ein, aber niemand von der Ge¬
ſellſchaft vernahm die ſtärkenden Worte, je¬
des war zu ſehr mit den wunderbaren Ent¬
deckungen und ſeinen eignen Empfindungen
beſchäftigt. Der Abbé und Natalie führten
den Markeſe, Thereſe und Lothario Wilhel¬
[423] men hinaus, und erſt als der Geſang ihnen
völlig verhallte, fielen die Schmerzen, die
Betrachtungen, die Gedanken, die Neugierde
ſie mit aller Gewalt wieder an, und ſehn¬
lich wünſchten ſie ſich in jenes Element wie¬
der zurück.


[424]

Neuntes Capitel.

Der Markeſe vermied von der Sache zu
reden, hatte aber heimliche und lange Ge¬
ſpräche mit dem Abbé. Er erbat ſich, wenn
die Geſellſchaft beyſammen war, öfters Mu¬
ſik, man ſorgte gern dafür, weil jedermann
zufrieden war des Geſprächs überhoben zu
ſeyn. So lebte man einige Zeit fort, als
man bemerkte, daß er Anſtalt zur Abreiſe
mache. Eines Tages ſagte er zu Wilhelmen:
ich verlange nicht die Reſte des guten Kin¬
des zu beunruhigen, es bleibe an dem Orte
zurück, wo es geliebt und gelitten hat, aber
ſeine Freunde müſſen mir verſprechen, mich
in ſeinem Vaterlande, an dem Platze zu be¬
ſuchen, wo das arme Geſchöpf gebohren und
erzogen wurde, ſie müſſen die Säulen und
[425] Statuen ſehen, von denen ihm noch eine
dunkle Idee übrig geblieben iſt.


Ich will Sie in die Buchten führen, wo
ſie ſo gern die Steinchen zuſammenlas. Sie
werden ſich, lieber junger Mann, der Dank¬
barkeit einer Familie nicht entziehen, die
Ihnen ſo viel ſchuldig iſt. Morgen reiſe ich
weg. Ich habe dem Abbé die ganze Geſchichte
vertraut, er wird ſie Ihnen wieder erzäh¬
len, er konnte mir verzeihen, wenn mein
Schmerz mich unterbrach, und er wird als
ein Dritter die Begebenheiten mit mehr Zu¬
ſammenhang vortragen. Wollen Sie mir
noch, wie der Abbé vorſchlug, auf meiner
Reiſe durch Deutſchland folgen, ſo ſind Sie
willkommen. Laſſen Sie Ihren Knaben nicht
zurück, bey jeder kleinen Unbequemlichkeit,
die er uns macht, wollen wir uns Ihrer
Vorſorge für meine arme Nichte wieder
erinnern.


[426]

Noch ſelbigen Abend ward man durch
die Ankunft der Gräfin überraſcht. Wilhelm
bebte an allen Gliedern, als ſie hereintrat,
und ſie, ob ſie gleich vorbereitet war, hielt
ſich an ihrer Schweſter, die ihr bald einen
Stuhl reichte. Wie ſonderbar einfach war
ihr Anzug, und wie verändert ihre Geſtalt!
Wilhelm durfte kaum auf ſie hinblicken, ſie
begrüßte ihn mit Freundlichkeit, und einige
allgemeine Worte konnten ihre Geſinnung
und Empfindungen nicht verbergen. Der
Markeſe war bey Zeiten zu Bette gegangen,
und die Geſellſchaft hatte noch keine Luſt
ſich zu trennen; der Abbé brachte ein Ma¬
nuſcript hervor. Ich habe, ſagte er, ſogleich
die ſonderbare Geſchichte, wie ſie mir anver¬
traut wurde, zu Papiere gebracht. Wo man
am wenigſten Tinte und Feder ſparen ſoll,
das iſt beym Aufzeichnen einzelner Umſtände
merkwürdiger Begebenheiten. Man unter¬
[427] richtete die Gräfin, wovon die Rede ſey,
und der Abbé las:


Meinen Vater, ſagte der Markeſe, muß
ich, ſo viel Welt ich auch geſehen habe, im¬
mer für einen der wunderbarſten Menſchen
halten. Sein Charakter war edel und gerad,
ſeine Ideen weit, und man darf ſagen groß;
er war ſtreng gegen ſich ſelbſt, in allen ſei¬
nen Planen fand man eine unbeſtechliche
Folge, an allen ſeinen Handlungen eine un¬
unterbrochene Schrittmäßigkeit. So gut ſich
daher von einer Seite mit ihm umgehen,
und ein Geſchäft verhandeln ließ, ſo wenig
konnte er, um eben dieſer Eigenſchaften wil¬
len, ſich in die Welt finden, da er vom
Staate, von ſeinen Nachbarn, von Kindern
und Geſinde die Beobachtung aller der Ge¬
ſetze forderte, die er ſich ſelbſt auferlegt hatte.
Seine mäßigſten Forderungen wurden über¬
trieben durch ſeine Strenge, und er konnte
[428] nie zum Genuß gelangen, weil nichts auf
die Weiſe entſtand, wie er ſichs gedacht
hatte. Ich habe ihn in dem Augenblick, da
er einem Palaſt bauete, einen Garten an¬
legte, ein großes neues Gut in der ſchön¬
ſten Lage erwarb, innerlich, mit dem ernſte¬
ſten Ingrimm überzeugt, geſehen, das Schick¬
ſal habe ihn verdammt, enthaltſam zu ſeyn
und zu dulden. In ſeinem Äußerlichen be¬
obachtete er die größte Würde; wenn er
ſcherzte, zeigte er nur die Überlegenheit ſei¬
nes Verſtandes, es war ihm unerträglich ge¬
tadelt zu werden, und ich habe ihn nur ein¬
mal in meinem Leben ganz außer aller Faſ¬
ſung geſehen, da er hörte, daß man von
einer ſeiner Anſtalten wie von etwas Lächer¬
lichem ſprach. In eben dieſem Geiſte hatte
er über ſeine Kinder und ſein Vermögen
diſponirt. Mein älteſter Bruder ward als ein
Mann erzogen, der künftig große Güter zu
[429] hoffen hatte. Ich ſollte den geiſtlichen Stand
ergreifen, und der jüngſte Soldat werden.
Ich war lebhaft, feurig, thätig, ſchnell, zu
allen körperlichen Übungen geſchickt. Der
jüngſte ſchien zu einer Art von ſchwärmeri¬
ſcher Ruhe geneigter, den Wiſſenſchaften,
der Muſik und der Dichtkunſt ergeben. Nur
nach dem härtſten Kampf, nach der völlig¬
ſten Überzeugung der Unmöglichkeit gab der
Vater, wiewohl mit Widerwillen, nach, daß
wir unſern Beruf umtauſchen dürften, und
ob er gleich jeden von uns beyden zufrieden
ſah, ſo konnte er ſich doch nicht drein fin¬
den, und verſicherte, daß nichts gutes dar¬
aus entſtehen werde. Je älter er ward, deſto
abgeſchnittener fühlte er ſich von aller Ge¬
ſellſchaft. Er lebte zuletzt faſt ganz allein.
Nur ein alter Freund, der unter den Deut¬
ſchen gedient, im Feldzuge ſeine Frau ver¬
lohren hatte, und eine Tochter mitbrachte,
[430] die ohngefähr zehn Jahr alt war, blieb ſein
einziger Umgang. Dieſer kaufte ſich ein ar¬
tiges Gut in der Nachbarſchaft, ſah meinen
Vater zu beſtimmten Tagen und Stunden
der Woche, in denen er auch manchmal ſeine
Tochter mitbrachte. Er widerſprach meinem
Vater niemals, der ſich zuletzt völlig an ihn
gewöhnte, und ihn als den einzigen erträg¬
lichen Geſellſchafter duldete. Nach dem Tode
unſeres Vaters merkten wir wohl, daß die¬
ſer Mann von unſerm Alten trefflich ausge¬
ſtattet worden war, und ſeine Zeit nicht um¬
ſonſt zugebracht hatte; er erweiterte ſeine
Güter, ſeine Tochter konnte eine ſchöne Mit¬
gift erwarten. Das Mädchen wuchs heran,
und war von ſonderbarer Schönheit, mein
älterer Bruder ſcherzte oft mit mir, daß ich
mich um ſie bewerben ſollte.


Indeſſen hatte Bruder Auguſtin im Klo¬
ſter ſeine Jahre in dem ſonderbarſten Zu¬
[431] ſtande zugebracht, er überließ ſich ganz dem
Genuß einer heiligen Schwärmerey, jenen
halb geiſtigen, halb phyſiſchen Empfindun¬
gen, die, wie ſie ihn eine Zeit lang in den
dritten Himmel erhuben, bald darauf in
einen Abgrund von Ohnmacht und leeres
Elend verſinken ließen. Bey meines Vaters
Lebzeiten war an keine Veränderung zu den¬
ken, und was hätte man wünſchen oder vor¬
ſchlagen ſollen? Nach dem Tode unſers Va¬
ters beſuchte er uns fleißig; ſein Zuſtand,
der uns im Anfang jammerte, ward nach
und nach um vieles erträglicher, denn die
Vernunft hatte geſiegt. Allein je ſichrer ſie
ihm völlige Zufriedenheit und Heilung auf
dem reinen Wege der Natur verſprach, deſto
lebhafter verlangte er von uns, daß wir ihn
von ſeinen Gelübden befreyen ſollten; er
gab zu verſtehen, daß ſeine Abſicht auf Spe¬
rata, unſere Nachbarin, gerichtet ſey.


[432]

Mein älterer Bruder hatte zu viel durch
die Härte unſeres Vaters gelitten, als daß
er hätte bey dem Zuſtande des jüngſten un¬
gerührt bleiben können. Wir ſprachen mit
dem Beichtvater unſerer Familie, einem al¬
ten würdigen Manne, entdeckten ihm die
doppelte Abſicht unſeres Bruders, und baten
ihn die Sache einzuleiten und zu befördern.
Wider ſeine Gewohnheit zögerte er, und als
endlich unſer Bruder in uns drang, und wir
die Angelegenheit dem Geiſtlichen lebhafter
empfahlen, mußte er ſich entſchließen uns die
ſonderbare Geſchichte zu entdecken.


Sperata war unſre Schweſter, und zwar
ſowohl von Vater als Mutter; Neigung
und Sinnlichkeit hatten den Mann in ſpä¬
teren Jahren nochmals überwältigt, in wel¬
chen das Recht der Ehegatten ſchon verlo¬
ſchen zu ſeyn ſcheint; über einen ähnlichen
Fall hatte man ſich kurz vorher in der Ge¬
gend[433] gend luſtig gemacht, und mein Vater, um
ſich nicht gleichfalls dem Lächerlichen auszu¬
ſetzen, beſchloß dieſe ſpäte, geſetzmäßige Frucht
der Liebe mit eben der Sorgfalt zu verheim¬
lichen, als man ſonſt die frühern zufälligen
Früchte der Neigung zu verbergen pflegt.
Unſere Mutter kam heimlich nieder, das
Kind wurde aufs Land gebracht, und der
alte Hausfreund, der nebſt dem Beichtvater
allein um das Geheimniß wußte, ließ ſich
leicht bereden, ſie für ſeine Tochter auszu¬
geben. Der Beichtvater hatte ſich nur aus¬
bedungen, im äuſterſten Fall das Geheimniß
entdecken zu dürfen. Der Vater war geſtor¬
ben, das zarte Mädchen lebte unter der
Aufſicht einer alten Frau, wir wußten daß
Geſang und Muſik unſern Bruder ſchon bey
ihr eingeführt hatten, und da er uns wie¬
derholt aufforderte, ſeine alten Bande zu
trennen, um das neue zu knüpfen, ſo war
W. Meiſters Lehrj. 4. E e[434] es nöthig, ihn, ſobald als möglich, von der
Gefahr zu unterrichten, in der er ſchwebte.


Er ſah uns mit wilden, verachtenden
Blicken an. Spart eure unwahrſcheinlichen
Mährchen! rief er aus, für Kinder und leicht¬
glaubige Thoren; mir werdet ihr Speraten
nicht vom Herzen reiſſen, ſie iſt mein. Ver¬
leugnet ſogleich euer ſchreckliches Geſpenſt,
das mich nur vergebens ängſtigen würde.
Sperata iſt nicht meine Schweſter, ſie iſt
mein Weib. Er beſchrieb uns mit Entzücken,
wie ihn das himmliſche Mädchen aus dem
Zuſtande der unnatürlichen Abſonderung von
den Menſchen in das wahre Leben geführt,
wie beyde Gemüther gleich beyden Kehlen
zuſammen ſtimmten, und wie er alle ſeine
Leiden und Verirrungen ſegnete, weil ſie
ihn von allen Frauen bis dahin entfernt ge¬
halten, und weil er nun ganz und gar
ſich dem liebenswürdigſten Mädchen ergeben
[435] könne. Wir entſetzten uns über die Ent¬
deckung, uns jammerte ſein Zuſtand, wir
wußten uns nicht zu helfen, er verſicherte
uns mit Heftigkeit, daß Sperata ein Kind
von ihm im Buſen trage. Unſer Beichtva¬
ter that alles, was ihm ſeine Pflicht eingab,
aber das Übel ward dadurch nur ſchlimmer.
Die Verhältniſſe der Natur und der Reli¬
gion, der ſittlichen Rechte und der bürger¬
lichen Geſetze wurden von meinem Bruder
aufs heftigſte durchgefochten. Nichts ſchien
ihm heilig als das Verhältnis zu Sperata,
nichts ſchien ihm würdig als der Nahme
Vater und Gattin. Dieſe allein, rief er
aus, ſind der Natur gemäß, alles andere
ſind Grillen und Meinungen. Gab es nicht
edle Völker, die eine Heirath mit der Schwe¬
ſter billigten? Nennt eure Götter nicht,
rief er aus, ihr braucht die Nahmen nie,
als wenn ihr uns bethören, uns von dem
E e 2[436] Wege der Natur abführen, und die edelſten
Triebe, durch ſchändlichen Zwang, zu Ver¬
brechen entſtellen wollt. Zur größten Ver¬
wirrung des Geiſtes, zum ſchändlichſten Mi߬
brauche des Körpers nöthigt ihr die [Schlacht¬
opfer]
, die ihr lebendig begrabt.


Ich darf reden, denn ich habe gelitten
wie keiner, von der höchſten ſüßeſten Fülle
der Schwärmerey bis zu den fürchterlichen
Wüſten der Ohnmacht, der Leerheit, der
Vernichtung und Verzweiflung, von den
höchſten Ahndungen überirdiſcher Weſen, bis
zu dem völligſten Unglauben, dem Unglau¬
ben an mir ſelbſt. Allen dieſen entſetzlichen
Bodenſatz des am Rande ſchmeichelnden Kelchs
habe ich ausgetrunken, und mein ganzes We¬
ſen war bis in ihr Innerſtes vergiftet; nun
da mich die gütige Natur durch ihre größten
Gaben, durch die Liebe, wieder geheilt hat,
da ich an dem Buſen eines himmliſchen Mäd¬
[437] chens wieder fühle, daß ich bin, daß ſie iſt,
daß wir eins ſind, daß aus dieſer lebendi¬
gen Verbindung ein drittes entſtehen und
uns entgegenlächeln ſoll, nun eröfnet ihr
die Flammen eurer Höllen, eurer Fegefeuer,
die nur eine kranke Einbildungskraft verſen¬
gen können, und ſtellt ſie dem lebhaften,
wahren, unzerſtöhrlichen Genuß der reinen
Liebe entgegen. Begegnet uns unter jenen
Cypreſſen, die ihre ernſthaften Gipfel gen
Himmel wenden, beſucht uns an jenen Spa¬
lieren, wo die Citronen und Pomeranzen
neben uns blühn, wo die zierliche Myrthe
uns ihre zarten Blumen darreicht, und dann
wagt es, uns mit euren trüben, grauen von
Menſchen geſponnenen Netzen zu ängſtigen.


So beſtand er lange Zeit auf einem hart¬
näckigen Unglauben unſerer Erzählung, und
zuletzt, da wir ihm die Wahrheit derſelben
betheuerten, da ſie ihm der Beichtvater ſelbſt
[438] verſicherte, ließ er ſich doch dadurch nicht
irre machen, vielmehr rief er aus: Fragt
nicht den Wiederhall eurer Kreuzgänge, nicht
euer vermodertes Pergament, nicht eure ver¬
ſchränkten Grillen und Verordnungen, fragt
die Natur und euer Herz, ſie wird euch leh¬
ren, vor was ihr zu ſchaudern habt, ſie wird
euch mit dem ſtrengſten Finger zeigen, wor¬
über ſie ewig und unwiederruflich ihren Fluch
ausſpricht. Seht die Lilien an, entſpringt
nicht Gatte und Gattin auf Einem Stengel?
verbindet beyde nicht die Blume, die beyde
gebahr, und iſt die Lilie nicht das Bild der
Unſchuld, und iſt ihre geſchwiſterliche Verei¬
nigung nicht fruchtbar? Wenn die Natur
verabſcheut, ſo ſpricht ſie es laut aus; das
Geſchöpf, das nicht ſeyn ſoll, kann nicht
werden, das Geſchöpf, das falſch lebt, wird
früh zerſtöhrt. Unfruchtbarkeit, kümmerliches
Daſeyn, frühzeitiges Zerfallen, das ſind ihre
[439] Flüche, die Kenzeichen ihrer Strenge. Nur
durch unmittelbare Folgen ſtraft ſie. Da!
ſeht um euch her, und was verboten, was
verflucht iſt, wird euch in die Augen fallen.
In der Stille des Kloſters und im Geräu¬
ſche der Welt ſind tauſend Handlungen ge¬
heiligt und geehrt, auf denen ihr Fluch ruht.
Auf bequemem Müſſiggang ſo gut, als über¬
ſtrengte Arbeit, auf Willkühr und Überfluß,
wie auf Noth und Mangel ſieht ſie mit
traurigen Augen nieder, zur Mäßigkeit ruft
ſie, wahr ſind alle ihre Verhältniſſe, und
ruhig alle ihre Wirkungen. Wer gelitten
hat, wie ich, hat das Recht frey zu ſeyn.
Sperata iſt mein, nur der Tod ſoll mir ſie
nehmen. Wie ich ſie behalten kann? wie ich
glücklich werden kann? das iſt eure Sorge!
Gleich jetzt geh ich zu ihr, um mich nicht
wieder von ihr zu trennen.


Er wollte nach dem Schiffe, um zu ihr
[440] überzuſetzen, wir hielten ihn ab, und baten
ihn, daß er keinen Schritt thun möchte, der
die ſchrecklichſten Folgen haben könnte. Er
ſolle überlegen, daß er nicht in der freyen
Welt ſeiner Gedanken und Vorſtellungen,
ſondern in einer Verfaſſung lebe, deren Ge¬
ſetze und Verhältniſſe die Unbezwinglichkeit
eines Naturgeſetzes angenommen haben. Wir
mußten dem Beichtvater verſprechen, daß
wir den Bruder nicht aus den Augen, noch
weniger aus dem Schloſſe laſſen wollten,
darauf ging er weg, und verſprach in eini¬
gen Tagen wieder zu kommen. Was wir
vorausgeſehen hatten, traf ein, der Verſtand
hatte unſern Bruder ſtark gemacht, aber
ſein Herz war weich; die frühern Eindrücke
der Religion wurden lebhaft, und die ent¬
ſetzlichſten Zweifel bemächtigten ſich ſeiner.
Er brachte zwey fürchterliche Tage und
Nächte zu, der Beichtvater kam ihm wieder
[441] zu Hülfe, umſonſt! Der ungebundene freye
Verſtand ſprach ihn los, ſein Gefühl, ſeine
Religion, alle gewohnten Begriffe erklärten
ihn für einen Verbrecher.


Eines Morgens fanden wir ſein Zimmer
leer, ein Blatt lag auf dem Tiſche, worinn
er uns erklärte, daß er, da wir ihn mit Ge¬
walt gefangen hielten, berechtigt ſey, ſeine
Freyheit zu ſuchen; er entfliehe, er gehe zu
Sperata, er hoffe mit ihr zu entkommen,
er ſey auf alles gefaßt, wenn man ſie tren¬
nen wollte.


Wir erſchracken nicht wenig, allein der
Beichtvater bat uns ruhig zu ſeyn. Unſer
armer Bruder war nahe genug beobachtet
worden; die Schiffer, an ſtatt ihn überzu¬
ſetzen, führten ihn in ſein Kloſter. Ermüdet
von einem vierzigſtündigen Wachen ſchlief
er ein, ſobald ihn der Kahn im Monden¬
ſchein ſchaukelte, und erwachte nicht früher,
[442] als bis er ſich in den Händen ſeiner Brüder
ſahe, er erholte ſich nicht eher, als bis er
die Kloſterpforte hinter ſich zuſchlagen hörte.


Schmerzlich gerührt von dem Schickſal
unſeres Bruders machten wir unſerm Beicht¬
vater die lebhafteſten Vorwürfe, allein dieſer
ehrwürdige Mann wußte uns bald mit den
Gründen des Wundarztes zu überreden, daß
unſer Mitleid für den armen Kranken tödt¬
lich ſey. Er handle nicht aus eigner Will¬
kühr, ſondern auf Befehl des Biſchoffs und
des hohen Rathes. Die Abſicht war: alles
öffentliche Ärgerniß zu vermeiden, und den
traurigen Fall mit dem Schleyer einer ge¬
heimen Kirchenzucht zu verdecken. Sperata
ſollte geſchont werden, ſie ſollte nicht erfah¬
ren, daß ihr Geliebter zugleich ihr Bruder
ſey. Sie ward einem Geiſtlichen anempfoh¬
len, dem ſie vorher ſchon ihren Zuſtand ver¬
traut hatte. Man wußte ihre Schwanger¬
[443] ſchaft und Niederkunft zu verbergen. Sie war
als Mutter in dem kleinen Geſchöpfe ganz
glücklich. So wie die meiſten unſerer Mäd¬
chen konnte ſie weder ſchreiben, noch Ge¬
ſchriebenes leſen, ſie gab daher dem Pater
Aufträge, was er ihrem Geliebten ſagen
ſollte. Dieſer glaubte den frommen Betrug
einer ſäugenden Mutter ſchuldig zu ſeyn, er
brachte ihr Nachrichten von unſerm Bruder,
den er niemals ſah, ermahnte ſie in ſeinem
Nahmen zur Ruhe, bat ſie für ſich und das
Kind zu ſorgen, und wegen der Zukunft
Gott zu vertrauen.


Sperata war von Natur zur Religioſität
geneigt. Ihr Zuſtand, ihre Einſamkeit ver¬
mehrten dieſen Zug, der Geiſtliche unter¬
hielt ihn, um ſie nach und nach auf eine
ewige Trennung vorzubereiten. Kaum war
das Kind entwöhnt, kaum glaubte er ihren
Körper ſtark genug, die ängſtlichſten See¬
[444] lenleiden zu ertragen, ſo fing er an das
Vergehen ihr mit ſchrecklichen Farben vorzu¬
mahlen, das Vergehen ſich einem Geiſtlichen
ergeben zu haben, das er als eine Art von
Sünde gegen die Natur, als einen Inceſt
behandelte. Denn er hatte den ſonderbaren
Gedanken, ihre Reue jener Reue gleich zu
machen, die ſie empfunden haben würde,
wenn ſie das wahre Verhältnis ihres Fehl¬
trittes erfahren hätte. Er brachte dadurch
ſo viel Jammer und Kummer in ihr Ge¬
müth, er erhöhte die Idee der Kirche und
ihres Oberhauptes ſo ſehr vor ihr, er zeigte
ihr die ſchrecklichen Folgen für das Heil aller
Seelen, wenn man in ſolchen Fällen nach¬
geben, und die Straffälligen durch eine recht¬
mäßige Verbindung noch gar belohnen wolle;
er zeigte ihr, wie heilſam es ſey, einen ſol¬
chen Fehler in der Zeit abzubüßen, und da¬
für dereinſt die Krone der Herrlichkeit zu er¬
[445] werben, daß ſie endlich wie eine arme Sün¬
derinn ihren Nacken dem Beil willig dar¬
reichte, und inſtändig bat, daß man ſie auf
ewig von unſerm Bruder entfernen möchte.
Als man ſo viel von ihr erlangt hatte, ließ
man ihr, doch unter einer gewiſſen Aufſicht,
die Freiheit, bald in ihrer Wohnung, bald
in dem Kloſter zu ſeyn, je nachdem ſie es
für gut hielte.


Ihr Kind wuchs heran, und zeigte bald
eine ſonderbare Natur. Es konnte ſehr früh
laufen, und ſich mit aller Geſchicklichkeit be¬
wegen, es ſang bald ſehr artig, und lernte
die Zither gleichſam von ſich ſelbſt. Nur
mit Worten konnte es ſich nicht ausdrücken,
und es ſchien das Hindernis mehr in ſeiner
Denkungsart als in den Sprachwerkzeugen
zu liegen. Die arme Mutter fühlte indeſſen
ein trauriges Verhältnis zu dem Kinde, die
Behandlung des Geiſtlichen hatte ihre Vor¬
[446] ſtellungsart ſo verwirrt, daß ſie, ohne wahn¬
ſinnig zu ſeyn, ſich in den ſeltſamſten Zu¬
ſtänden befand. Ihr Vergehen ſchien ihr im¬
mer ſchrecklicher und ſtraffälliger zu werden,
das oft wiederholte Gleichniß des Geiſtlichen
vom Inceſte hatte ſich ſo tief bey ihr einge¬
prägt, daß ſie einen ſolchen Abſcheu em¬
pfand, als wenn ihr das Verhältniß ſelbſt
bekannt geweſen wäre. Der Beichtvater
dünkte ſich nicht wenig über das Kunſtſtück,
wodurch er das Herz eines unglücklichen Ge¬
ſchöpfes zerriß. Jämmerlich war es anzu¬
ſehen, wie die Mutterliebe, die über das
Daſeyn des Kindes ſich ſo herzlich zu er¬
freuen geneigt war, mit dem ſchrecklichen
Gedanken ſtritt, daß dieſes Kind nicht da
ſeyn ſollte. Bald ſtritten dieſe beyden Ge¬
fühle zuſammen, bald war der Abſcheu über
die Liebe gewaltig.


Man hatte das Kind ſchon lange von
[447] ihr weggenommen, und zu guten Leuten
unten am See gegeben, und in der mehrern
Freiheit, die es hatte, zeigte ſich bald ſeine
beſondre Luſt zum klettern. Die höchſten
Gipfel zu erſteigen, auf den Rändern der
Schiffe wegzulaufen und den Seiltänzern,
die ſich manchmal in dem Orte ſehen ließen,
die wunderlichſten Kunſtſtücke nachzumachen,
war ein natürlicher Trieb.


Um das alles leichter zu üben, liebte ſie
mit den Knaben die Kleider zu wechſeln,
und ob es gleich von ihren Pflegeeltern höchſt
unanſtändig und unzuläßig gehalten wurde,
ſo ließen wir ihr doch ſo viel als möglich
nachſehen. Ihre wunderlichen Wege und
Sprünge führten ſie manchmal weit, ſie ver¬
irrte ſich, ſie blieb aus, und kam immer
wieder. Meiſtentheils wenn ſie zurückkehrte,
ſetzte ſie ſich unter die Säulen des Portals
vor einem Landhauſe in der Nachbarſchaft;
[448] man ſuchte ſie nicht mehr, man erwartete
ſie. Dort ſchien ſie auf den Stufen auszu¬
ruhen, dann lief ſie in den großen Saal,
beſahe die Statuen, und wenn man ſie
nicht beſonders aufhielt, eilte ſie nach Hauſe.


Zuletzt ward denn doch unſer Hoffen ge¬
täuſcht, und unſere Nachſicht beſtraft. Das
Kind blieb aus, man fand ſeinen Hut auf
dem Waſſer ſchwimmen, nicht weit von dem
Orte, wo ein Gießbach ſich in den See
ſtürzt. Man vermuthete, daß es bey ſei¬
nem Klettern zwiſchen den Felſen verun¬
glückt ſey, bey allem Nachforſchen konnte
man den Körper nicht finden.


Durch das unvorſichtige Geſchwätz ihrer
Geſellſchafterinnen erfuhr Sperata bald den
Tod ihres Kindes, ſie ſchien ruhig und hei¬
ter, und gab nicht undeutlich zu verſtehen,
ſie freue ſich, daß Gott das arme Geſchöpf
zu[449] zu ſich genommen und ſo bewahrt habe, ein
größeres Unglück zu erdulden oder zu ſtiften.


Bey dieſer Gelegenheit kamen alle Mähr¬
chen zur Sprache, die man von unſern Waſ¬
ſern zu erzählen pflegt. Es hieß: der See
müſſe alle Jahre ein unſchuldiges Kind ha¬
ben, er leide keinen todten Körper, und
werfe ihn früh oder ſpät ans Ufer, ja ſogar
das letzte Knöchelchen, wenn es zu Grunde
geſunken ſey, müſſe wieder heraus. Man
erzählte die Geſchichte einer untröſtlichen
Mutter, deren Kind im See ertrunken ſey,
und die Gott und ſeine Heiligen angerufen
habe, nur wenigſtens ihr die Gebeine zum
Begräbniß zu gönnen; der nächſte Sturm
habe den Schädel, der folgende den Rumpf
ans Ufer gebracht, und nachdem alles bey¬
ſammen geweſen, habe ſie ſämmtliche Ge¬
beine in einem Tuch zur Kirche getragen,
aber, o Wunder! als ſie in den Tempel ge¬
W. Meiſters Lehrj. 4. F f[450] treten, ſey das Paket immer ſchwerer gewor¬
den, und endlich als ſie es auf die Stufen
des Altars gelegt, habe das Kind zu ſchreyen
angefangen, und habe ſich zu jedermanns
Erſtaunen aus dem Tuche losgemacht, nur
ein Knöchelchen des kleinen Fingers, an der
rechten Hand habe gefehlt, welches denn die
Mutter nachher noch ſorgfältig aufgeſucht
und gefunden, das denn auch noch zum Ge¬
dächtniß unter andern Reliquien in der Kirche
aufgehoben werde.


Auf die arme Mutter machten dieſe Ge¬
ſchichten großen Eindruck, ihre Einbildungs¬
kraft fühlte einen neuen Schwung, und be¬
günſtigte die Empfindung ihres Herzens. Sie
nahm an, daß das Kind nunmehr für ſich
und ſeine Eltern abgebüßt habe, daß Fluch
und Strafe, die bisher auf ihnen geruht,
nunmehr gänzlich gehoben ſey, daß es nur
darauf ankomme, die Gebeine des Kindes
[451] wieder zu finden, um ſie nach Rom zu brin¬
gen, ſo würde das Kind auf den Stufen
des großen Altars der Peterskirche wieder,
mit ſeiner ſchönen friſchen Haut umgeben,
vor dem Volke daſtehn. Es werde mit ſei¬
nen eignen Augen wieder Vater und Mut¬
ter ſchauen, und der Papſt, von der Ein¬
ſtimmung Gottes und ſeiner Heiligen über¬
zeugt, werde unter dem lauten Zuruf des
Volks, den Eltern die Sünde vergeben, ſie
losſprechen und ſie verbinden.


Nun waren ihre Augen und ihre Sorg¬
falt immer nach dem See und dem Ufer ge¬
richtet. Wenn Nachts im Mondſchein ſich
die Wellen umſchlugen, glaubte ſie jeder
blinkende Saum treibe ihr Kind hervor, es
mußte jemand zum Scheine hinablaufen, um
es am Ufer aufzufangen.


So war ſie auch des Tages unermüdet
an den Stellen, wo das kießichte Ufer flach
F f 2[452] in die See ging, ſie ſammelte in ein Körb¬
chen alle Knochen, die ſie fand. Niemand
durfte ihr ſagen, daß es Thierknochen ſeyen;
die großen begrub ſie, die kleinen hub ſie
auf. In dieſer Beſchäftigung lebte ſie un¬
abläſſig fort. Der Geiſtliche, der durch die
unerläßliche Ausübung ſeiner Pflicht ihren
Zuſtand verurſacht hatte, nahm ſich auch ih¬
rer nun aus allen Kräften an. Durch ſei¬
nen Einfluß ward ſie in der Gegend für
eine Entzückte, nicht für eine Verrückte, ge¬
halten, man ſtand mit gefalteten Händen,
wenn ſie vorbeyging, und die Kinder küßten
ihr die Hand.


Ihrer alten Freundin und Begleiterin
war von dem Beichtvater die Schuld, die
ſie bey der unglücklichen Verbindung beyder
Perſonen gehabt haben mochte, nur unter
der Bedingung erlaſſen, daß ſie, unabläſſig
treu, ihr ganzes künftiges Leben die Un¬
[453] glückliche begleiten ſolle, und ſie hat mit
einer bewundernswürdigen Geduld und Ge¬
wiſſenhaftigkeit ihre Pflichten bis zuletzt
ausgeübt.


Wir hatten unterdeſſen unſern Bruder
nicht aus den Augen verlohren, weder die
Ärzte noch die Geiſtlichkeit ſeines Kloſters
wollten uns erlauben, vor ihm zu erſchei¬
nen; allein um uns zu überzeugen, daß es
ihm nach ſeiner Art wohl gehe, konnten wir
ihn, ſo oft wir wollten, in dem Garten, in
den Kreuzgängen, ja durch ein Fenſter an
der Decke ſeines Zimmers belauſchen.


Nach vielen ſchrecklichen und ſonderbaren
Epochen, die ich übergehe, war er in einen
ſeltſamen Zuſtand der Ruhe des Geiſtes und
der Unruhe des Körpers gerathen. Er ſaß
faſt niemals, als wenn er ſeine Harfe nahm
und darauf ſpielte, da er ſie denn meiſtens
mit Geſang begleitete. Übrigens war er im¬
[454] mer in Bewegung, und in allem äußerſt
lenkſam und folgſam, denn alle ſeine Lei¬
denſchaften ſchienen ſich in der einzigen Furcht
des Todes aufgelöſt zu haben. Man konnte
ihn zu allem in der Welt bewegen, wenn
man ihm mit einer gefährlichen Krankheit
oder mit dem Tode drohte.


Außer dieſer Sonderbarkeit, daß er un¬
ermüdet im Kloſter hin und her ging, und
nicht undeutlich zu verſtehen gab: daß es
noch beſſer ſeyn würde, über Berg und Thä¬
ler ſo zu wandeln, ſprach er auch von einer
Erſcheinung, die ihn gewöhnlich ängſtigte.
Er behauptete nämlich, daß bey ſeinem Er¬
wachen, zu jeder Stunde der Nacht, ein
ſchöner Knabe unten an ſeinem Bette ſtehe,
und ihm mit einem blanken Meſſer drohe.
Man verſetzte ihn in ein anderes Zimmer,
allein er behauptete, auch da und zuletzt ſo¬
gar an andern Stellen des Kloſters ſtehe
[455] der Knabe im Hinterhalt. Sein Auf– und
Abwandeln ward unruhiger, ja man erin¬
nerte ſich nachher, daß er in der Zeit öfters
als ſonſt an dem Fenſter geſtanden und über
den See hinüber geſehen habe.


Unſere arme Schweſter indeſſen ſchien von
dem einzigen Gedanken, von der beſchränk¬
ten Beſchäftigung nach und nach aufgerieben
zu werden, und unſer Arzt ſchlug vor, man
ſollte ihr, nach und nach, unter ihre übrigen
Gebeine die Knochen eines Kinderſkelets mi¬
ſchen, um dadurch ihre Hoffnung zu vermeh¬
ren. Der Verſuch war zweifelhaft, doch
ſchien wenigſtens ſo viel dabey gewonnen,
daß man ſie, wenn alle Theile beyſammen
wären, von dem ewigen Suchen abbringen,
und ihr zu einer Reiſe nach Rom Hoffnung
machen könnte.


Es geſchah, und ihre Begleiterin ver¬
tauſchte unmerklich die ihr anvertrauten klei¬
[456] nen Reſte mit den gefundenen, und eine un¬
glaubliche Wonne verbreitete ſich über die
arme Kranke, als die Theile ſich nach und
nach zuſammen fanden, und man diejenigen
bezeichnen konnte, die noch fehlten. Sie
hatte mit großer Sorgfalt jeden Theil, wo
er hingehörte, mit Fäden und Bändern be¬
feſtigt, ſie hatte, wie man die Körper der
Heiligen zu ehren pflegt, mit Seide und
Stickerey die Zwiſchenräume ausgefüllt.


So hatte man die Glieder zuſammen
kommen laſſen, es fehlten nur wenige der
äußeren Enden. Eines Morgens, als ſie
noch ſchlief, und der Medikus gekommen
war, nach ihrem Befinden zu fragen, nahm
die Alte die verehrten Reſte aus dem Käſt¬
chen weg, das in der Schlafkammer ſtand,
um dem Arzte zu zeigen, wie ſich die gute
Kranke beſchäftige. Kurz darauf hörte man
ſie aus dem Bette ſpringen, ſie hob das
[457] Tuch auf, und fand das Käſtchen leer. Sie
warf ſich auf ihre Knie, man kam und hörte
ihr freudiges, inbrünſtiges Gebet. Ja! es
iſt wahr, rief ſie aus, es war kein Traum,
es iſt wirklich! freuet euch meine Freunde
mit mir, ich habe das gute, ſchöne Geſchöpf
wieder lebendig geſehen. Es ſtand auf, und
warf den Schleyer von ſich, ſein Glanz er¬
leuchtete das Zimmer, ſeine Schönheit war
verklärt, es konnte den Boden nicht betre¬
ten, ob es gleich wollte. Leicht ward es
empor gehoben, und konnte mir nicht ein¬
mal ſeine Hand reichen. Da rief es mich
zu ſich, und zeigte mir den Weg, den ich
gehen ſoll. Ich werde ihm folgen und bald
folgen, ich fühl es, und es wird mir ſo leicht
ums Herz. Mein Kummer iſt verſchwun¬
den, und ſchon das Anſchauen meines wieder
Auferſtandenen hat mir einen Vorſchmack
der himmliſchen Freude gegeben.


[458]

Von der Zeit an war ihr ganzes Gemüth
mit den heiterſten Ausſichten beſchäftigt, auf
keinen irrdiſchen Gegenſtand richtete ſie ihre
Aufmerkſamkeit mehr, ſie genoß nur wenige
Speiſen, und ihr Geiſt machte ſich nach und
nach von den Banden des Körpers los. Auch
fand man ſie zuletzt unvermuthet erblaßt
und ohne Empfindung, ſie öfnete die Augen
nicht wieder, ſie war, was wir todt nennen.


Der Ruf ihrer Viſion hatte ſich bald un¬
ter das Volk verbreitet, und das ehrwürdige
Anſehn, das ſie in ihrem Leben genoß, ver¬
wandelte ſich nach ihrem Tode ſchnell in den
Gedanken, daß man ſie ſogleich für ſeelig,
ja für heilig halten müſſe.


Als man ſie zu Grabe beſtatten wollte,
drängten ſich viele Menſchen mit unglaub¬
licher Heftigkeit hinzu, man wollte ihre Hand,
man wollte wenigſtens ihr Kleid berühren.
In dieſer leidenſchaftlichen Erhöhung fühlten
[459] verſchiedene Kranke die Übel nicht, von de¬
nen ſie ſonſt gequält wurden, ſie hielten ſich
für geheilt, ſie bekannten’s, ſie prieſen Gott
und ſeine neue Heilige. Die Geiſtlichkeit
war genöthigt, den Körper in eine Capelle
zu ſtellen, das Volk verlangte Gelegenheit
ſeine Andacht zu verrichten, der Zudrang
war unglaublich; die Bergbewohner, die oh¬
nedies zu lebhaften, religiöſen Gefühlen ge¬
ſtimmt ſind, drangen aus ihren Thälern her¬
bey; die Andacht, die Wunder, die Anbe¬
tung vermehrten ſich mit jedem Tage. Die
biſchöfflichen Verordnungen, die einen ſolchen
neuen Dienſt einſchränken und nach und nach
niederſchlagen ſollten, konnten nicht zur Aus¬
führung gebracht werden; bey jedem Wi¬
derſtand war das Volk heftig, und gegen
jeden Ungläubigen bereit in Thätlichkeiten
auszubrechen. Wandelte nicht auch, riefen
ſie, der heilige Borromäus unter unſern Vor¬
[460] fahren? erlebte ſeine Mutter nicht die Wonne
ſeiner Seligſprechung? hat man nicht durch
jenes große Bildniß auf dem Felſen bey
Arona uns ſeine geiſtige Größe ſinnlich ver¬
gegenwärtigen wollen? leben die ſeinigen
nicht noch unter uns? und hat Gott nicht
zugeſagt unter einem gläubigen Volke ſeine
Wunder ſtets zu erneuern?


Als der Körper nach einigen Tagen keine
Zeichen der Fäulnis von ſich gab, und eher
weißer und gleichſam durchſichtig ward, er¬
höhte ſich das Zutrauen der Menſchen im¬
mer mehr, und es zeigten ſich unter der
Menge verſchiedene Kuren, die der aufmerk¬
ſame Beobachter ſelbſt nicht erklären, und
auch nicht geradezu als Betrug anſprechen
konnte. Die ganze Gegend war in Bewe¬
gung, und wer nicht ſelbſt kam, hörte we¬
nigſtens eine Zeit lang von nichts anderm
reden.


[461]

Das Kloſter, worin mein Bruder ſich be¬
fand, erſcholl ſo gut als die übrige Gegend
von dieſen Wundern, und man nahm ſich
um ſo weniger in Acht, in ſeiner Gegenwart
davon zu ſprechen, als er ſonſt auf nichts
aufzumerken pflegte, und ſein Verhältnis
niemanden bekannt war. Diesmal ſchien er
aber mit großer Genauigkeit gehört zu ha¬
ben, er führte ſeine Flucht mit ſolcher Schlau¬
heit aus, daß niemals jemand hat begreifen
können, wie er aus dem Kloſter herausge¬
kommen ſey. Man erfuhr nachher, daß er
ſich mit einer Anzahl Wallfahrer überſetzen
laſſen, und daß er die Schiffer, die nichts
weiter Verkehrtes an ihm wahrnahmen, nur
um die größte Sorgfalt gebeten, daß das
Schiff nicht umſchlagen möchte. Tief in der
Nacht kam er in jene Capelle, wo ſeine un¬
glückliche Geliebte von ihrem Leiden aus¬
ruhte, nur wenige Andächtige knieten in den
[462] Winkeln, ihre alte Freundin ſaß zu ihren
Häupten, er trat hinzu und grüßte ſie, und
fragte: wie ſich ihre Gebieterin befände?
Ihr ſeht es, verſetzte dieſe nicht ohne Ver¬
legenheit. Er blickte den Leichnam nur von
der Seite an. Nach einigem Zaudern nahm
er ihre Hand. Erſchreckt von der Kälte, ließ
er ſie ſogleich wieder fahren, er ſah ſich un¬
ruhig um, und ſagte zu der Alten: ich kann
jetzt nicht bey ihr bleiben, ich habe noch ei¬
nen ſehr weiten Weg zu machen, ich will
aber zur rechten Zeit ſchon wieder da ſeyn,
ſag ihr das, wenn ſie aufwacht.


So ging er hinweg, wir wurden nur
ſpät von dieſem Vorgange benachrichtigt,
man forſchte nach, wo er hingekommen ſey,
aber vergebens! Wie er ſich durch Berge
und Thäler durchgearbeitet haben mag, iſt
unbegreiflich. Endlich nach langer Zeit fan¬
den wir in Graubünden eine Spur von
[463] ihm wieder, allein zu ſpät, und ſie verlohr
ſich bald. Wir vermutheten, daß er nach
Deutſchland ſey, allein der Krieg hatte
ſolche ſchwache Fußtapfen gänzlich verwiſcht.


[464]

Zehntes Capitel.

Der Abbé hörte zu leſen auf, und niemand
hatte ohne Thränen zugehört. Die Gräfin
brachte ihr Tuch nicht von den Augen, zu¬
letzt ſtand ſie auf und verließ mit Natalien
das Zimmer. Die übrigen ſchwiegen, und der
Abbé ſprach: Es entſteht nun die Frage,
ob man den guten Markeſe ſoll abreiſen laſ¬
ſen, ohne ihm unſer Geheimnis zu entdecken.
Denn wer zweifelt wohl einen Augenblick
daran, daß Auguſtin und unſer Harfenſpieler
Eine Perſon ſey. Es iſt zu überlegen, was
wir thun, ſowohl um des unglücklichen Man¬
nes als der Familie willen. Mein Rath
wäre nichts zu übereilen, abzuwarten, was
uns der Arzt, den wir eben von dort zurück¬
erwarten, für Nachrichten bringt.


Jeder¬[465]

Jedermann war derſelben Meynung, und
der Abbé fuhr fort: eine andere Frage, die
vielleicht ſchneller abzuthun iſt, entſteht zu
gleicher Zeit, der Markeſe iſt unglaublich
gerührt über die Gaſtfreundſchaft, die ſeine
arme Nichte bey uns, beſonders bey unſerm
jungen Freunde gefunden hat. Ich habe ihm
die ganze Geſchichte umſtändlich, ja wieder¬
holt erzählen müſſen, und er zeigte ſeine
lebhafteſte Dankbarkeit. Der junge Mann,
ſagte er, hat ausgeſchlagen mit mir zu rei¬
ſen, ehe er das Verhältniß kannte, das un¬
ter uns beſteht. Ich bin ihm nun kein Frem¬
der mehr, von deſſen Art zu ſeyn, und von
deſſen Laune er etwa nicht gewis wäre; ich
bin ſein Verbundener, wenn Sie wollen ſein
Verwandter, und da ſein Knabe, den er
nicht zurück laſſen wollte, erſt das Hinder¬
nis war, das ihn abhielt ſich zu mir zu ge¬
ſellen, ſo laſſen Sie jetzt dieſes Kind zum
W. Meiſters Lehrj. 4 G g[466] ſchönern Bande werden, das uns nur deſto
feſter aneinander knüpft. Über die Verbind¬
lichkeit, die ich nun ſchon habe, ſey er mir
noch auf der Reiſe nützlich, er kehre mit mir
zurück, mein älterer Bruder wird ihn mit
Freuden empfangen, er verſchmähe die Erb¬
ſchaft ſeines Pflegekindes nicht, denn nach
einer geheimen Abrede unſeres Vaters mit
ſeinem Freunde iſt das Vermögen, das er
ſeiner Tochter zugewendet hatte, wieder an
uns zurückgefallen, und wir wollen dem
Wohlthäter unſerer Nichte gewiß das nicht
vorenthalten, was er verdient hat.


Thereſe nahm Wilhelmen bey der Hand,
und ſagte: wir erleben abermals hier ſo ei¬
nen ſchönen Fall, daß uneigennütziges Wohl¬
thun die höchſten und ſchönſten Zinſen bringt.
Folgen Sie dieſem ſonderbaren Ruf, und in¬
dem Sie ſich um den Markeſe doppelt ver¬
dient machen, eilen Sie einem ſchönen Lande
[467] entgegen, das Ihre Einbildungskraft und
Ihr Herz mehr als Einmal an ſich gezo¬
gen hat.


Ich überlaſſe mich ganz meinen Freunden
und Ihrer Führung, ſagte Wilhelm; es iſt
vergebens in dieſer Welt nach eigenem Wil¬
len zu ſtreben. Was ich feſt zu halten
wünſchte, muß ich fahren laſſen, und eine
unverdiente Wohlthat drängt ſich mir auf.


Mit einen Druck auf Thereſens Hand
machte Wilhelm die ſeinige los. Ich über¬
laſſe Ihnen ganz, ſagte er zu dem Abbé,
was Sie über mich beſchließen, wenn ich
meinen Felix nicht von mir zu laſſen brauche,
ſo bin ich zufrieden überall hinzugehn, und
alles, was man für recht hält, zu unter¬
nehmen.


Auf dieſe Erklärung entwarf der Abbé
ſogleich ſeinen Plan. Man ſolle, ſagte er,
den Markeſe abreiſen laſſen, Wilhelm ſolle
G g 2[468] die Nachricht des Arztes abwarten, und als¬
dann, wenn man überlegt hätte, was zu
thun ſey, könne Wilhelm mit Felix nachrei¬
ſen. So bedeutete er auch den Markeſe, un¬
ter einem Vorwand, daß die Einrichtungen
des jungen Freundes zur Reiſe ihn nicht ab¬
halten müßten, die Merkwürdigkeiten der
Stadt indeſſen zu beſehn. Der Markeſe
ging ab, nicht ohne wiederholte lebhafte
Verſicherung ſeiner Dankbarkeit, wovon die
Geſchenke, die er zurückließ, und die aus
Juwelen, geſchnittenen Steinen und geſtick¬
ten Stoffen beſtunden, einen genugſamen
Beweis gaben.


Wilhelm war nun auch völlig reiſefertig,
und man war um ſo mehr verlegen, daß
keine Nachrichten von dem Arzt kommen
wollten, man befürchtete dem armen Har¬
fenſpieler möchte ein Unglück begegnet ſeyn,
zu eben der Zeit als man hoffen konnte, ihn
[469] durchaus in einen beſſern Zuſtand zu ver¬
ſetzen. Man ſchickte den Curier fort, der
kaum weggeritten war, als am [Abend] der
Arzt mit einem Fremden hereintrat, deſſen
Geſtalt und Weſen bedeutend, ernſthaft und
auffallend war, und den niemand kannte.
Beyde Ankömmlinge ſchwiegen eine Zeit lang
ſtille, endlich ging der Fremde auf Wilhel¬
men los, reichte ihm die Hand und ſagte:
Kennen Sie Ihren alten Freund nicht mehr?
Es war die Stimme des Harfenſpielers, aber
von ſeiner Geſtalt ſchien keine Spur übrig
geblieben zu ſeyn. Er war in der gewöhn¬
lichen Tracht eines Reiſenden, reinlich und
anſtändig gekleidet, ſein Bart war verſchwun¬
den, ſeinen Locken ſah man einige Kunſt an,
und was ihn eigentlich ganz unkenntlich
machte, war, daß an ſeinem bedeutenden
Geſichte die Züge des Alters nicht mehr er¬
ſchienen. Wilhelm umarmte ihn mit der leb¬
[470] hafteſten Freude, er ward den andern vor¬
geſtellt, und betrug ſich ſehr vernünftig, und
wußte nicht, wie bekannt er der Geſellſchaft
noch vor kurzem geworden war. Sie wer¬
den Geduld mit einem Menſchen haben,
fuhr er mit großer Gelaſſenheit fort, der, ſo
erwachſen er auch ausſieht, nach einem lan¬
gen Leiden erſt wie ein unerfahrnes Kind in
die Welt tritt. Dieſem wackren Mann bin
ich ſchuldig, daß ich wieder in einer menſch¬
lichen Geſellſchaft erſcheinen kann.


Man hieß ihn willkommen, und der Arzt
veranlaßte ſogleich einen Spaziergang, um
das Geſpräch abzubrechen, und ins Gleich¬
gültige zu lenken.


Als man allein war, gab der Arzt fol¬
gende Erklärung: Die Geneſung dieſes Man¬
nes iſt uns durch den ſonderbarſten Zufall
geglückt. Wir hatten ihn lange nach unſe¬
rer Überzeugung moraliſch und phyſiſch be¬
[471] handelt, es ging auch bis auf einen gewiſſen
Grad ganz gut, allein die Todesfurcht war
noch immer groß bey ihm, und ſeinen Bart
und ſein langes Kleid wollte er uns nicht
aufopfern; übrigens nahm er mehr Theil an
den weltlichen Dingen, und ſeine Geſänge
ſchienen, wie ſeine Vorſtellungsart, wieder
dem Leben ſich zu nähern. Sie wiſſen, welch
ein ſonderbarer Brief des Geiſtlichen mich
von hier abrief, ich kam, ich fand unſern
Mann ganz verändert, er hatte freywillig
ſeinen Bart hergegeben, er hatte erlaubt
ſeine Locken in eine hergebrachte Form zu¬
zuſchneiden; er verlangte gewöhnliche Klei¬
der, und ſchien auf einmal ein anderer
Menſch geworden zu ſeyn. Wir waren neu¬
gierig die Urſache dieſer Verwandlung zu er¬
gründen, und wagten doch nicht uns mit
ihm ſelbſt darüber einzulaſſen; endlich ent¬
deckten wir zufällig das ſonderbare Verhält¬
[472] nis. Ein Glas flüſſiges Opium fehlte in der
Hausapotheke des Geiſtlichen, man hielt für
nöthig die ſtrengſte Unterſuchung anzuſtellen,
jedermann ſuchte ſich des Verdachtes zu er¬
wehren, es gab unter den Hausgenoſſen hef¬
tige Scenen. Endlich trat dieſer Mann auf,
und geſtand, daß er es beſitze; man fragte
ihn, ob er davon genommen habe? er ſagte
nein! fuhr aber fort: Ich danke dieſem Be¬
ſitz, die Wiederkehr meiner Vernunft, es
hängt von euch ab mir dieſes Fläſchchen zu
nehmen, und ihr werdet mich ohne Hoff¬
nung in meinen alten Zuſtand wieder zurück¬
fallen ſehen. Das Gefühl, daß es wün¬
ſchenswerth ſey die Leiden dieſer Erde durch
den Tod geendigt zu ſehen, brachte mich zu¬
erſt auf den Weg der Geneſung; bald darauf
entſtand der Gedanke, ſie durch einen frey¬
willigen Tod zu endigen, und ich nahm in
dieſer Abſicht das Glas hinweg; die Mög¬
[473] lichkeit, ſogleich die großen Schmerzen auf
ewig aufzuheben, gab mir Kraft die Schmer¬
zen zu ertragen, und ſo habe ich, ſeitdem ich
den Talismann beſitze, mich durch die Nähe
des Todes wieder in das Leben zurückge¬
drängt? Sorgt nicht, ſagte er, daß ich Ge¬
brauch davon mache, ſondern entſchließt
Euch, als Kenner des menſchlichen Herzens,
mich, indem Ihr mir die Unabhängigkeit
vom Leben zugeſteht, erſt vom Leben recht
abhängig zu machen. Nach reiflicher Über¬
legung drangen wir nicht weiter in ihn, und
er führt nun in einem feſten, geſchliffnen
Glasfläſchchen dieſes Gift als das ſonder¬
barſte Gegengift bey ſich.


Man unterrichtete den Arzt von allem,
was indeſſen entdeckt worden war, und man
beſchloß gegen Auguſtin das tiefſte Still¬
ſchweigen zu beobachten. Der Abbé nahm
ſich vor, ihn nicht von ſeiner Seite zu laſ¬
[474] ſen, und ihn auf dem guten Wege, den er
betreten hatte, fortzuführen.


Indeſſen ſollte Wilhelm die Reiſe durch
Deutſchland mit dem Markeſe vollenden.
Schien es möglich Auguſtinen eine Neigung
zu ſeinem Vaterlande wieder einzuflößen, ſo
wollte man ſeinen Verwandten den Zuſtand
entdecken, und Wilhelm ſollte ihn den Sei¬
nigen wieder zuführen.


Dieſer hatte nun alle Anſtalten zu ſeiner
Reiſe gemacht, und wenn es im Anfang
wunderbar ſchien, daß Auguſtin ſich freute,
als er vernahm, wie ſein alter Freund und
Wohlthäter ſich ſogleich wieder entfernen
ſollte, ſo entdeckte doch der Abbé bald den
Grund dieſer ſeltſamen Gemüthsbewegung.
Auguſtin konnte ſeine alte Furcht, die er
vor Felix hatte, nicht überwinden, und
wünſchte den Knaben je eher, je lieber ent¬
fernt zu ſehen.


[475]

Nun waren nach und nach ſo viele Men¬
ſchen angekommen, ſo daß man ſie im Schloß
und in den Seitengebäuden kaum alle un¬
terbringen konnte, um ſo mehr als man
nicht gleich Anfangs auf den Empfang ſo
vieler Gäſte die Einrichtung gemacht hatte.
Man frühſtückte, man ſpeiſte zuſammen, und
hätte ſich gern beredet, man lebe in einer
vergnüglichen Übereinſtimmung, wenn ſchon
in der Stille die Gemüther ſich gewiſſer¬
maßen auseinander ſehnten. Thereſe war
manchmal mit Lothario, noch öfters aber al¬
lein ausgeritten, ſie hatte in der Nachbar¬
ſchaft ſchon alle Landwirthe und Landwir¬
thinnen kennen lernen; es war ihr Haushal¬
tungsprinzip, und ſie mochte nicht unrecht
haben, daß man mit Nachbarn und Nach¬
barinnen im beſten Vernehmen und immer
in einem ewigen Gefälligkeitswechſel ſtehen
müſſe. Von einer Verbindung zwiſchen ihr
[476] und Lothario ſchien gar die Rede nicht zu
ſeyn, die beyden Schweſtern hatten ſich viel
zu ſagen, der Abbé ſchien den Umgang des
Harfenſpielers zu ſuchen. Jarno hatte mit
dem Arzt öftere Conferenzen, Friedrich hielt
ſich an Wilhelmen, und Felix war überall,
wo es ihm gut ging. So vereinigten ſich
auch meiſtentheils die Paare auf dem Spa¬
ziergang, indem die Geſellſchaft ſich trennte,
und wenn ſie zuſammen ſeyn mußten, ſo
nahm man geſchwind ſeine Zuflucht zur Mu¬
ſik, um alle zu verbinden, indem man jeden
ſich ſelbſt wieder gab.


Unverſehens vermehrte der Graf die Ge¬
ſellſchaft, ſeine Gemahlin abzuholen, und,
wie es ſchien, einen feyerlichen Abſchied von
ſeinen weltlichen Verwandten zu nehmen.
Jarno eilte ihm bis an den Wagen entge¬
gen, und als der Ankommende fragte, was
er für Geſellſchaft finde? ſo ſagte jener in
[477] einem Anfall von toller Laune, die ihn im¬
mer ergriff, ſobald er den Grafen gewahr
ward. Sie finden den ganzen Adel der
Welt beyſammen, Markeſen, Marqui’s, Mi¬
lord’s und Baronen, es hat nur noch an ei¬
nen Grafen gefehlt. So ging man die Treppe
hinauf, und Wilhelm war die erſte Perſon,
die ihnen im Vorſaal entgegen kam. Mi¬
lord! ſagte der Graf zu ihm auf franzöſiſch,
nachdem er ihn einen Augenblick betrachtet
hatte, ich freue mich ſehr, Ihre Bekannt¬
ſchaft unvermuthet zu erneuern; denn ich
müßte mich ſehr irren, wenn ich Sie nicht
im Gefolge des Prinzen ſollte in meinem
Schloſſe geſehen haben. — Ich hatte das
Glück Ew. Exzellenz damals aufzuwarten,
verſetzte Wilhelm, nur erzeigen Sie mir zu
viel Ehre, wenn Sie mich für einen Eng¬
länder und zwar vom erſten Range halten,
ich bin ein Deutſcher, und— zwar ein ſehr
[478] braver junger Mann, fiel Jarno ſogleich ein.
Der Graf ſah Wilhelmen lächelnd an, und
wollte eben etwas erwiedern, als die übrige
Geſellſchaft herbey kam, und ihn aufs freund¬
lichſte begrüßte. Man entſchuldigte ſich, daß
man ihm nicht ſogleich ein anſtändiges Zim¬
mer anweiſen könne, und verſprach den nö¬
thigen Raum ungeſäumt zu verſchaffen.


Ey ey! ſagte er lächelnd, ich ſehe wohl,
daß man dem Zufalle überlaſſen hat, den
Fourierzettel zu machen; mit Vorſicht und
Einrichtung, wie viel iſt da nicht möglich!
Jetzt bitte ich Euch, rührt mir keinen Pan¬
toffel vom Platze, denn ſonſt, ſeh ich wohl,
giebt es eine große Unordnung, jedermann
wird unbequem wohnen, und das ſoll nie¬
mand um meinetwillen wo möglich auch
nur eine Stunde. Sie waren Zeuge, ſagte
er zu Jarno, und auch Sie Miſter, indem
er ſich zu Wilhelmen wandte, wie viele
[479] Menſchen ich damals auf meinem Schloſſe
bequem untergebracht habe. Man gebe mir
die Liſte der Perſonen und Bedienten, man
zeige mir an, wie jedermann gegenwärtig
einquartirt iſt, ich will einen Dislokations¬
plan machen, daß mit der wenigſten Bemü¬
hung jedermann eine geräumliche Wohnung
finde, und daß noch Platz für einen Gaſt
bleiben ſoll, der ſich zufälligerweiſe bey uns
einſtellen könnte.


Jarno machte ſogleich den Adjutanten
des Grafen, verſchaffte ihm alle nöthigen
Notizen, und hatte nach ſeiner Art den
größten Spaß, wenn er den alten Herrn
mitunter irre machen konnte. Dieſer gewann
aber bald einen großen Triumph. Die Ein¬
richtung war fertig, er ließ in ſeiner Gegen¬
wart die Nahmen über alle Thüren ſchrei¬
ben, und man konnte nicht leugnen, daß
mit wenig Umſtänden und Veränderungen
[480] der Zweck völlig erreicht war. Auch hatte
es Jarno unter andern ſo geleitet, daß die
Perſonen, die in dem gegenwärtigen Augen¬
blick ein Intereſſe an einander nahmen, zu¬
ſammen wohnten.


Nachdem alles eingerichtet war, ſagte der
Graf zu Jarno: Helfen Sie mir auf die
Spur wegen des jungen Mannes, den Sie
da Meiſter nennen, und der ein Deutſcher
ſeyn ſoll. Jarno ſchwieg ſtill, denn er wußte
recht gut, daß der Graf einer von denen
Leuten war, die, wenn ſie fragen, eigentlich
belehren wollen, auch fuhr dieſer, ohne Ant¬
wort abzuwarten, in ſeiner Rede fort: Sie
hatten mir ihn damals vorgeſtellt, und im
Nahmen des Prinzen beſtens empfohlen.
Wenn ſeine Mutter auch eine Deutſche war,
ſo hafte ich dafür, daß ſein Vater ein Eng¬
länder iſt, und zwar von Stande; wer wollte
das engliſche Blut alles berechnen, das ſeit
dreyßig[481] dreyßig Jahren in deutſchen Adern herum
fließt; ich will weiter nicht darauf dringen,
Ihr habt immer ſolche Familiengeheimniſſe,
doch mir wird man in ſolchen Fällen nichts
aufbinden. Darauf erzählte er noch ver¬
ſchiedenes, was damals mit Wilhelmen auf
ſeinem Schloß vorgegangen ſeyn ſollte, wozu
Jarno gleichfalls ſchwieg, obgleich der Graf
ganz irrig war, und Wilhelmen mit einem
jungen Engländer in des Prinzen Gefolge
mehr als einmal verwechſelte. Der gute
Herr hatte in frühern Zeiten ein vortreff¬
liches Gedächtniß gehabt, und war noch im¬
mer ſtolz darauf, ſich der geringſten Um¬
ſtände ſeiner Jugend erinnern zu können;
nun beſtimmte er aber mit eben der Gewi߬
heit wunderbare Combinationen und Fabeln
als wahr, die ihm bey zunehmender Schwäche
ſeines Gedächtniſſes ſeine Einbildungskraft
einmal vorgeſpiegelt hatte. Übrigens war er
W. Meiſters Lehrj. 4. H h[482] ſehr mild und gefällig geworden, und ſeine
Gegenwart wirkte recht günſtig auf die Ge¬
ſellſchaft. Er verlangte, daß man etwas
Nützliches zuſammen leſen ſollte, ja ſogar
gab er manchmal kleine Spiele an, die er,
wo nicht mitſpielte, doch mit großer Sorg¬
falt dirigirte, und da man ſich über ſeine
Herablaſſung verwunderte, ſagte er: es ſey
die Pflicht eines jeden, der ſich in Haupt¬
ſachen von der Welt entferne, daß er in
gleichgültigen Dingen ſich ihr deſtomehr
gleich ſtelle.


Wilhelm hatte unter dieſen Spielen mehr
als Einen bänglichen und verdrießlichen Au¬
genblick, der leichtſinnige Friedrich ergriff
manche Gelegenheit, um auf eine Neigung
Wilhelms gegen Natalien zu deuten. Wie
konnte er darauf fallen? wodurch war er
dazu berechtigt? und mußte nicht die Geſell¬
ſchaft glauben, daß, weil beyde viel mit
[483] einander umgingen, Wilhelm ihm eine ſo
unvorſichtige und unglückliche Confidenz ge¬
macht habe.


Eines Tages waren ſie bey einem ſolchen
Scherze heiterer als gewöhnlich, als Au¬
guſtin auf einmal zur Thüre, die er aufriß,
mit gräßlicher Gebärde herein ſtürzte; ſein
Angeſicht war blaß, ſein Auge wild, er
ſchien reden zu wollen, die Sprache ver¬
ſagte ihm. Die Geſellſchaft entſetzte ſich,
Lothario und Jarno, die eine Rückkehr des
Wahnſinns vermutheten, ſprangen auf ihn
los, und hielten ihn feſt. Stotternd und
dumpf, dann heftig und gewaltſam ſprach
und rief er: nicht mich haltet, eilt! helft!
rettet das Kind! Felix iſt vergiftet!


Sie ließen ihn los, er eilte zur Thüre
hinaus, und voll Entſetzen drängte ſich die
Geſellſchaft ihm nach. Man rief nach dem
Arzte, Auguſtin richtete ſeine Schritte nach
H h 2[484] dem Zimmer des Abbés, man fand das Kind,
das erſchrocken und verlegen ſchien, als man
ihm ſchon von weitem zurief: was haſt Du
angefangen?


Lieber Vater! rief Felix, ich habe nicht
aus der Flaſche, ich habe aus dem Glaſe
getrunken, ich war ſo durſtig.


Auguſtin ſchlug die Hände zuſammen, rief:
er iſt verlohren! drängte ſich durch die Um¬
ſtehenden, und eilte davon.


Sie fanden ein Glas Mandelmilch auf
dem Tiſche ſtehen, und eine Karavine dar¬
neben, die über die Hälfte leer war, der
Arzt kam, er erfuhr, was man wußte, und
ſah mit Entſetzen das wohlbekannte Fläſch¬
chen, worin ſich das flüſſige Opium befun¬
den hatte, leer auf dem Tiſche liegen, er
ließ Eſſig herbey ſchaffen, und rief alle Mit¬
tel ſeiner Kunſt zu Hülfe.


Natalie ließ den Knaben in ein Zimmer
[485] bringen, ſie bemühte ſich ängſtlich um ihn
Der Abbé war fortgerannt, Auguſtinen auf¬
zuſuchen, und einige Aufklärungen von ihm
zu erdringen. Eben ſo hatte ſich der un¬
glückliche Vater vergebens bemüht, und fand,
als er zurückkam, auf allen Geſichtern Ban¬
gigkeit und Sorge. Der Arzt hatte indeſſen
die Mandelmilch im Glaſe unterſucht, es
entdeckte ſich die ſtärkſte Beymiſchung von
Opium, das Kind lag auf dem Ruhebette
und ſchien ſehr krank, es bat den Vater, daß
man ihm nur nichts mehr einſchütten, daß
man es nur nicht mehr quälen möchte. Lo¬
thar hatte ſeine Leute ausgeſchickt und war
ſelbſt weggeritten, um der Flucht Auguſtins
auf die Spur zu kommen. Natalie ſaß bey
dem Kinde, es flüchtete auf ihren Schooß,
und bat ſie flehentlich um Schutz, flehentlich
um ein Stückchen Zucker, der Eſſig ſey gar
zu ſauer! Der Arzt gab es zu; man müſſe
[486] das Kind, das in der entſetzlichſten Bewe¬
gung war, ſagte er, einen Augenblick ruhen
laſſen, es ſey alles räthliche geſchehen, er
wolle das mögliche thun. Der Graf trat
mit einigem Unwillen, wie es ſchien, herbey,
er ſah ernſt, ja feyerlich aus, legte die Hände
auf das Kind, blickte gen Himmel, und blieb
einige Augenblicke in dieſer Stellung. Wil¬
helm, der troſtlos in einem Seſſel lag, ſprang
auf, warf einen Blick voll Verzweiflung auf
Natalien und ging zur Thüre hinaus.


Kurz darauf verließ auch der Graf das
Zimmer.


Ich begreife nicht, ſagte der Arzt nach
einiger Pauſe, daß ſich auch nicht die geringſte
Spur eines gefährlichen Zuſtandes am Kinde
zeigt. Auch nur mit einem Schluck muß es
eine ungeheure Doſe Opium zu ſich genom¬
men haben, und nun finde ich an ſeinem
Pulſe keine weitere Bewegung, als ich mei¬
[487] nen Mitteln und der Furcht zuſchreiben
kann, in die wir das Kind verſetzt haben.


Bald darauf trat Jarno mit der Nach¬
richt herein, daß man Auguſtin auf dem
Oberboden in ſeinem Blute gefunden habe,
ein Schermeſſer habe neben ihm gelegen,
wahrſcheinlich habe er ſich die Kehle abge¬
ſchnitten. Der Arzt eilte fort und begegnete
den Leuten, welche den Körper zur Treppe
herunterbrachten. Er ward auf ein Bett
gelegt und genau unterſucht, der Schnitt war
in die Luftröhre gegangen, auf einen ſtarken
Blutverluſt war eine Ohnmacht gefolgt, doch
ließ ſich bald bemerken, daß noch Leben, daß
noch Hoffnung übrig ſey. Der Arzt brachte
den Körper in die rechte Lage, fügte die ge¬
trennten Theile zuſammen, und legte den
Verband auf. Die Nacht ging allen ſchlaf¬
los und ſorgenvoll vorüber. Das Kind
wollte ſich nicht von Natalien trennen laſſen.


[488]

Wilhelm ſaß vor ihr auf einem Schemel; er
hatte die Füße des Knaben auf ſeinem
Schoße, Kopf und Bruſt lagen auf dem ih¬
rigen, ſo theilten ſie die angenehme Laſt und
die ſchmerzlichen Sorgen, und verharrten bis
der Tag anbrach, in der unbequemen und
traurigen Lage. Natalie hatte Wilhelmen
ihre Hand gegeben, ſie ſprachen kein Wort,
ſahen auf das Kind, und ſahen einander an.
Lothario und Jarno ſaßen am andern Ende
des Zimmers, und führten ein ſehr bedeuten¬
des Geſpräch, das wir gern, wenn uns die
Begebenheiten nicht zu ſehr drängten, unſern
Leſern hier mittheilten. Der Knabe ſchlief
ſanft, erwachte am frühen Morgen ganz hei¬
ter, ſprang auf und verlangte ein Butter¬
brodt.


Sobald Auguſtin ſich einigermaßen erholt
hatte, ſuchte man einige Aufklärung von
ihm zu erhalten, man erfuhr nicht ohne
[489] Mühe, und nur nach und nach: daß, als er
bey der unglücklichen Dislocation des Gra¬
fen in Ein Zimmer mit dem Abbé verſetzt
worden, er das Manuſcript gefunden habe,
worin er ſeine Geſchichte las, ſein Entſetzen
ſey ohne gleichen geweſen, und er habe ſich nun
überzeugt, daß er nicht länger leben dürfe,
ſogleich habe er ſeine gewöhnliche Zuflucht
zum Opium genommen, habe es in ein Glas
Mandelmilch geſchüttet, und habe doch, als
er es an den Mund geſetzt, geſchaudert;
darauf habe er es ſtehen laſſen, um nochmals
durch den Garten zu laufen und die Welt
zu ſehen, bey ſeiner Zurückkunft habe er das
Kind gefunden, eben beſchäftigt, das Glas,
woraus es getrunken, wieder voll zu gießen.


Man bat den Unglücklichen, ruhig zu
ſeyn, er faßte Wilhelmen krampfhaft bey
der Hand; ach! ſagte er, warum habe ich
dich nicht längſt verlaſſen, ich wußte wohl,
[490] daß ich den Knaben tödten würde, und er
mich. Der Knabe lebt! ſagte Wilhelm. Der
Arzt, der aufmerkſam zugehört hatte, fragte
Auguſtinen, ob alles Getränke vergiftet ge¬
weſen? Er verſetzte, nein! nur das Glas.
So hat durch den glücklichſten Zufall, rief
der Arzt, das Kind aus der Flaſche getrun¬
ken! Ein guter Genius hat ſeine Hand ge¬
führt, daß es nicht nach den Tode griff, der
ſo nahe zubereitet ſtand! Nein! nein! rief
Wilhelm mit einem Schrey, indem er die
Hände vor die Augen hielt, wie fürchterlich
iſt dieſe Ausſage! ausdrücklich ſagte das
Kind: daß es nicht aus der Flaſche, ſondern
aus dem Glaſe getrunken habe. Seine Ge¬
ſundheit iſt nur ein Schein, es wi[rd] uns un¬
ter den Händen wegſterben. Er eilte fort,
der Arzt ging hinunter und fragte, indem er
das Kind liebkoſte, nicht wahr, Felix, du haſt
aus der Flaſche getrunken und nicht aus dem
[491] Glaſe? das Kind fing an zu weinen. Der
Arzt erzählte Natalien im ſtillen, wie ſich
die Sache verhalte, auch ſie bemühte ſich
vergebens, die Wahrheit von dem Kinde zu
erfahren, es weinte nur heftiger, und ſo lange
bis es einſchlief.


Wilhelm wachte bey ihm, die Nacht ver¬
ging ruhig. Den andern Morgen fand man
Auguſtinen todt in ſeinem Bette, er hatte
die Aufmerkſamkeit ſeiner Wärter durch eine
ſcheinbare Ruhe betrogen, den Verband ſtill
aufgelöſt, und ſich verblutet. Natalie ging
mit dem Kinde ſpatzieren, es war munter wie
in ſeinen glücklichſten Tagen. Du biſt doch
gut, ſagte Felix zu ihr, du zankſt nicht, du
ſchlägſt mich nicht, ich will dirs nur ſagen,
ich habe aus der Flaſche getrunken; Mutter
Aurelie ſchlug mich immer auf die Finger,
wenn ich nach der Karavine griff, der Vater
ſah ſo bös aus, ich dachte, er würde mich
ſchlagen.


[492]

Mit beflügelten Schritten eilte Natalie
zu dem Schloſſe, Wilhelm kam ihr, noch vol¬
ler Sorgen, entgegen. Glücklicher Vater!
rief ſie laut, indem ſie das Kind aufhob und
es ihm in die Arme warf, da haſt du deinen
Sohn! er hat aus der Flaſche getrunken,
ſeine Unart hat ihn gerettet.


Man erzählte den glücklichen Ausgang
dem Grafen, der aber nur mit lächelnder,
ſtillen, beſcheidnen Gewißheit zuhörte, mit
der man den Irrthum guter Menſchen er¬
tragen mag. Jarno, aufmerkſam auf alles,
konnte diesmal eine ſolche hohe Selbſtgenüg¬
ſamkeit nicht erklären, bis er endlich nach
manchen Umſchweifen erfuhr: der Graf ſey
überzeugt, das Kind habe wirklich Gift ge¬
nommen, er habe es aber durch ſein Gebet
und durch das Auflegen ſeiner Hände, wun¬
derbar am Leben erhalten. Nun beſchloß er
auch ſogleich wegzugehn, gepackt war bey
[493] ihm alles wie gewöhnlich in Einem Augen¬
blicke, und beym Abſchied faßte die ſchöne
Gräfin Wilhelms Hand, ehe ſie noch die
Hand der Schweſter los ließ, drückte alle
vier Hände zuſammen, kehrte ſich ſchnell um,
und ſtieg in den Wagen.


So viel ſchreckliche und wunderbare Be¬
gebenheiten, die ſich eine über die andere
drängten, zu einer ungewohnten Lebensart
nöthigten, und alles in Unordnung und Ver¬
wirrung ſetzten, hatten eine Art von fieber¬
hafter Schwingung in das Haus gebracht.
Die Stunden des Schlafens und Wachens,
des Eſſens, Trinkens und geſelligen Zuſam¬
menſeyns waren verrückt und umgekehrt.
Außer Thereſen war niemand in ſeinem
Geleiſe geblieben, die Männer ſuchten durch
geiſtige Getränke ihre gute Laune wieder
herzuſtellen, und, indem ſie ſich eine künſtliche
Stimmung gaben, entfernten ſie die natür¬
[494] liche, die uns allein wahre Heiterkeit und
Thätigkeit gewährt.


Wilhelm war durch die heftigſten Leiden¬
ſchaften bewegt und zerrüttet, die unvermu¬
theten und ſchreckhaften Anfälle hatten ſein
Innerſtes ganz aus aller Faſſung gebracht,
einer Leidenſchaft zu wiederſtehn, die ſich
des Herzens ſo gewaltſam bemächtigt hatte.
Felix war ihm wiedergegeben, und doch ſchien
ihm alles zu fehlen, die Briefe von Wer¬
nern mit den Anweiſungen waren da, ihm
mangelte nichts zu ſeiner Reiſe, als der Muth
ſich zu entfernen. Alles drängte ihn zu die¬
ſer Reiſe. Er konnte vermuthen, daß Lo¬
thario und Thereſe nur auf ſeine Entfernung
warteten, um ſich trauen zu laſſen. Jarno
war wieder ſeine Gewohnheit ſtill, und man
hätte beynahe ſagen können, es habe ſich
etwas von ſeiner gewöhnlichen Heiterkeit
verlohren. Glücklicherweiſe half der Arzt
[495] unſerm Freunde einigermaßen aus der Ver¬
legenheit, indem er ihn für krank erklärte,
und ihm Arzney gab.


Die Geſellſchaft kam immer Abends zu¬
ſammen, und Friedrich, der ausgelaſſene
Menſch, der gewöhnlich mehr Wein als bil¬
lig trank, bemächtigte ſich des Geſprächs,
und brachte nach ſeiner Art, mit hundert Zi¬
taten und eulenſpiegelhaften Anſpielungen,
die Geſellſchaft zum Lachen, und ſetzte ſie
auch nicht ſelten in Verlegenheit, indem er
laut zu denken ſich erlaubte.


An die Krankheit ſeines Freundes ſchien
er gar nicht zu glauben. Einſt, als ſie alle
beyſammen waren, rief er aus: Wie nennt
ihr das Übel, Doktor, das unſern Freund
angefallen hat? paßt hier keiner von den
dreytauſend Nahmen, mit denen ihr eure
Unwiſſenheit ausputzt? An ähnlichen Bey¬
ſpielen wenigſtens hat es nicht gefehlt. Es
[496] kommt, fuhr er mit einem emphathiſchen
Tone fort, ein ſolcher Kaſus in der ägypti¬
ſchen oder babyloniſchen Geſchichte vor.


Die Geſellſchaft ſah einander an und
lächelte.


Wie hieß der König? rief er aus, und
hielt einen Augenblick inne. Wenn ihr mir
nicht einhelfen wollt, fuhr er fort, ſo werde
ich mir ſelbſt zu helfen wiſſen. Er riß die
Thürflügel auf, und wies nach dem großen
Bilde im Vorſaal. Wie heißt der Ziegenbart
mit der Krone dort, der ſich am Fuße des
Bettes um ſeinen kranken Sohn abhärmt?
Wie heißt die Schöne, die herein tritt, und
in ihren ſittſamen Schelmenaugen Gift und
Gegengift zugleich führt? Wie heißt der
Pfuſcher von Arzt, dem erſt in dieſem Au¬
genblicke ein Licht aufgeht, der das erſtemal
in ſeinem Leben Gelegenheit findet, ein ver¬
nünftiges Recept zu verordnen, eine Arzney
zu[497] zu reichen, die aus dem Grunde curirt, und
die eben ſo wohlſchmeckend als heilſam iſt?


In dieſem Tone fuhr er fort zu ſchwa¬
droniren. Die Geſellſchaft nahm ſich ſo gut
als möglich zuſammen, und verbarg ihre
Verlegenheit hinter einem gezwungenen Lä¬
cheln. Eine leichte Röthe überzog Nataliens
Wangen, und verrieth die Bewegungen ih¬
res Herzens. Glücklicherweiſe ging ſie mit
Jarno auf und nieder; als ſie an die Thüre
kam, ſchritt ſie mit einer klugen Bewegung
hinaus, einigemal in dem Vorſaale hin und
wieder, und ging ſodann auf ihr Zimmer.


Die Geſellſchaft war ſtill. Friedrich fing
an zu tanzen und zu ſingen:


O Ihr werdet Wunder ſehn!

Was geſchehn iſt, iſt geſchehn,

Was geſagt iſt, iſt geſagt.

Eh es tagt,

Sollt Ihr Wunder ſehn.
W. Meiſters Lehrj. 4. I i[498]

Thereſe war Natalien nachgegangen, Frie¬
drich zog den Arzt vor das große Gemälde,
hielt eine lächerliche Lobrede auf die Medi¬
cin, und ſchlich davon.


Lothario hatte bisher in einer Fenſterver¬
tiefung geſtanden, und ſah, ohne ſich zu
rühren, in den Garten hinunter. Wilhelm
war in der ſchrecklichſten Lage. Selbſt, da
er ſich nun mit ſeinem Freunde allein ſah,
blieb er eine Zeit lang ſtill, er überlief mit
flüchtigem Blick ſeine Geſchichte, und ſah
zuletzt mit Schaudern auf ſeinen gegenwär¬
tigen Zuſtand, endlich ſprang er auf und
rief: bin ich Schuld an dem, was vorgeht,
an dem, was mir und Ihnen begegnet, ſo
ſtrafen Sie mich! Zu meinen übrigen Lei¬
den entziehen Sie mir Ihre Freundſchaft,
und laſſen Sie mich ohne Troſt in die weite
Welt hinaus gehen, in der ich mich lange
hätte verlieren ſollen. Sehen Sie aber in mir
[499] das Opfer einer grauſamen zufälligen Ver¬
wicklung, aus der ich mich heraus zu winden
unfähig war, ſo geben Sie mir die Verſiche¬
rung Ihrer Liebe, Ihrer Freundſchaft auf
eine Reiſe mit, die ich nicht länger verſchie¬
ben darf. Es wird eine Zeit kommen, wo
ich Ihnen werde ſagen können, was dieſe
Tage in mir vorgegangen iſt, vielleicht leide
ich eben jetzt dieſe Strafe, weil ich mich Ih¬
nen nicht früh genug entdeckte, weil ich ge¬
zaudert habe, mich Ihnen ganz zu zeigen,
wie ich bin; Sie hätten mir beygeſtanden,
Sie hätten mir zur rechten Zeit los geholfen.
Aber und abermal gehen mir die Augen
über mich ſelbſt auf, immer zu ſpät und im¬
mer umſonſt. Wie ſehr verdiente ich die
Strafrede Jarno’s! Wie glaubte ich ſie ge¬
faßt zu haben, wie hoffte ich ſie zu nutzen,
ein neues Leben zu gewinnen! Konnte ichs?
Sollte ichs? Vergebens klagen wir Menſchen
I i 2[500] uns ſelbſt, vergebens das Schickſal an! Wir
ſind elend und zum Elend beſtimmt, und iſt
es nicht völlig einerley, ob eigene Schuld,
höherer Einfluß oder Zufall, Tugend oder
Laſter, Weisheit oder Wahnſinn uns ins
Verderben ſtürzen. Leben Sie wohl, ich
werde keinen Augenblick länger in dem Hauſe
verweilen, in welchem ich das Gaſtrecht, wi¬
der meinen Willen, ſo ſchrecklich verletzt ha¬
be, die Indiskretion Ihres Bruders iſt un¬
verzeihlich, ſie treibt mein Unglück auf den
höchſten Grad, ſie macht mich verzweifeln.


Und wenn nun, verſetzte Lothario, indem
er ihn bey der Hand nahm, Ihre Verbin¬
dung mit meiner Schweſter die geheime Be¬
dingung wäre, unter welcher ſich Thereſe
entſchloſſen hat, mir ihre Hand zu geben?
Eine ſolche Entſchädigung hat Ihnen das
edle Mädchen zugedacht; ſie ſchwur, daß
dieſes doppelte Paar an Einem Tage zum
[501] Altare gehen ſollte. Sein Verſtand hat mich
gewählt, ſagte ſie, ſein Herz fordert Nata¬
lien, und mein Verſtand wird ſeinem Herzen
zu Hülfe kommen. Wir wurden einig, Na¬
talien und ſie zu beobachten, wir machten
den Abbé zu unſerm Vertrauten, dem wir
verſprechen mußten, keinen Schritt zu dieſer
Verbindung zu thun, ſondern alles ſeinen
Gang gehen zu laſſen. Wir haben es ge¬
than. Die Natur hat gewirkt, und der tolle
Bruder hat nur die reife Frucht abgeſchüt¬
telt. Laſſen Sie uns, da wir einmal ſo
wunderbar zuſammen kommen, nicht ein ge¬
meines Leben führen, laſſen Sie uns zuſam¬
men auf eine würdige Weiſe thätig ſeyn!
Unglaublich iſt es, was ein gebildeter Menſch
für ſich und andere thun kann, wenn er,
ohne herrſchen zu wollen, das Gemüth hat
Vormund von Vielen zu ſeyn, ſie leitet das¬
jenige zur rechten Zeit zu thun, was ſie
[502] doch alle gerne thun möchten, und ſie zu ih¬
ren Zwecken führt, die ſie meiſtentheils recht
gut im Auge haben, und nur meiſt die Wege
dazu verfehlen. Laſſen Sie uns hierauf einen
Bund ſchließen, es iſt keine Schwärmerey,
es iſt eine Idee, die recht gut ausführbar
iſt, und die öfters, nur nicht immer mit kla¬
rem Bewuſtſeyn, von guten Menſchen aus¬
geführt wird. Meine Schweſter Natalie iſt
hiervon ein lebhaftes Beyſpiel. Unerreichbar
wird immer die Handelsweiſe bleiben, welche
die Natur dieſer ſchönen Seele vorgeſchrie¬
ben hat. Ja ſie verdient dieſen Ehrennah¬
men vor vielen andern, mehr, wenn ich ſa¬
gen darf, als unſre edle Tante ſelbſt, die
zu der Zeit, als unſer guter Arzt jenes Ma¬
nuſcript ſo rubricirte, die ſchönſte Natur war,
die wir in unſerm Kreiſe kannten. Indeß
hat Natalie ſich entwickelt, und die Menſch¬
heit freut ſich einer ſolchen Erſcheinung.


[503]

Er wollte weiter reden, aber Friedrich
ſprang mit großem Geſchrey herein. Welch
einen Kranz verdien ich? rief er aus, und
wie werdet Ihr mich belohnen? Myrthen,
Lorbeer, Epheu, Eichenlaub, das friſcheſte,
das Ihr finden könnt, windet zuſammen! ſo
viel Verdienſte habt Ihr in mir zu krönen.
Natalie iſt Dein! ich bin der Zauberer, der
dieſen Schatz gehoben hat.


Er ſchwärmt, ſagte Wilhelm, und ich
gehe.


Haſt Du Auftrag? ſagte der Baron, in¬
dem er Wilhelmen feſt hielt.


Aus eigner Macht und Gewalt, verſetzte
Friedrich, auch von Gottes Gnaden, wenn
Ihr wollt; ſo war ich Freyersmann, ſo bin
ich jetzt Geſandter, ich habe an der Thüre
gehorcht, ſie hat ſich ganz dem Abbé entdeckt.
Unverſchämter! ſagte Lothario, wer heißt
Dich horchen.


[504]

Wer heißt ſie ſich einſchließen! verſetzte
Friedrich; ich hörte alles ganz genau, Na¬
talie war ſehr bewegt. In der Nacht, da
das Kind ſo krank ſchien, und halb auf ih¬
rem Schoße ruhte, als Du troſtlos vor ihr
ſaßeſt, und die geliebte Bürde mit ihr theil¬
teſt, that ſie das Gelübde, wenn das Kind
ſtürbe, Dir ihre Liebe zu bekennen, und Dir
ſelbſt die Hand anzubieten; jetzt da das Kind
lebt, warum ſoll ſie ihre Geſinnung verän¬
dern? Was man einmal ſo verſpricht, hält
man unter jeder Bedingung. Nun wird der
Pfaffe kommen, und wunder denken, was
er für Neuigkeiten bringt.


Der Abbé trat ins Zimmer. Wir wiſſen
alles, rief Friedrich ihm entgegen, macht es
kurz, denn ihr kommt bloß um der Formali¬
tät willen, zu weiter nichts werden die Her¬
ren verlangt.


[505]

Er hat gehorcht, ſagte der Baron. —
Wie ungezogen! rief der Abbé!


Nun geſchwind, verſetzte Friedrich, wie
ſieht’s mit den Ceremonien aus? die laſſen
ſich an den Fingern herzählen, ihr müßt rei¬
ſen, die Einladung des Markeſe kommt euch
herrlich zu ſtatten. Seyd ihr nur einmal
über die Alpen, ſo findet ſich zu Hauſe alles,
die Menſchen wiſſen’s euch Dank, wenn ihr
etwas wunderliches unternehmt, ihr verſchafft
ihnen eine Unterhaltung, die ſie nicht zu be¬
zahlen brauchen. Es iſt eben, als wenn ihr
eine Freyredoute gäbt, es können alle Stände
daran Theil nehmen.


Ihr habt euch freylich mit ſolchen Volks
feſten ſchon ſehr ums Publikum verdient ge¬
macht, verſetzte der Abbé, und ich komme,
ſo ſcheint es heute, nicht mehr zum Wort.


Iſt nicht alles wie ich’s ſage; verſetzte
Friedrich, ſo belehrt uns eines beſſern. Kommt
[506] herüber, kommt herüber! wir müſſen ſie ſe¬
hen und uns freuen.


Lothario umarmte ſeinen Freund und
führte ihn zu der Schweſter, ſie kam mit
Thereſen ihnen entgegen, alles ſchwieg.


Nicht gezaudert, rief Friedrich, in zwey
Tagen könnt ihr reiſefertig ſeyn. Wie meint
ihr Freund, fuhr er fort, indem er ſich zu
Wilhelmen wendete, als wir Bekanntſchaft
machten, als ich euch den ſchönen Strauß
abforderte, wer konnte denken, daß ihr je¬
mals eine ſolche Blume aus meiner Hand
empfangen würdet?


Erinnern Sie mich nicht in dieſem Augen¬
blicke des höchſten Glückes an jene Zeiten!


Deren ihr euch nicht ſchämen ſollet, ſo
wenig man ſich ſeiner Abkunft zu ſchämen
hat. Die Zeiten waren gut, und ich muß
lachen, wenn ich dich anſehe, du kommſt mir
vor wie Saul, der Sohn Kis, der ausging
[507] ſeines Vaters Eſelinnen zu ſuchen, und ein
Königreich fand.


Ich kenne den Werth eines Königreichs
nicht, verſetzte Wilhelm, aber ich weiß, daß
ich ein Glück erlangt habe, das ich nicht
verdiene, und das ich mit nichts in der Welt
vertauſchen möchte.


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CC-BY-4.0
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TextGrid Repository (2025). Goethe, Johann Wolfgang von. Wilhelm Meisters Lehrjahre. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bhqx.0