Barnim. Lebus.
Verlag von Wilhelm Hertz.
(Beſſerſche Buchhandlung.)
1863.
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Inhalt.
- Seite
- Von Frankfurt bis Schwedt 1
- Tamſel (Neumark) 15
- Hans Adam von Schöning 18
- Kronprinz Friedrich und Frau v. Wreech 43
- Zorndorf 60
- „Der Blumenthal“ 69
- Predikow 79
- Hans Albrecht von Barfus 85
- Schloß Coſſenblatt (Beeskow-Storkow) 101
- Königs-Wuſterhauſen (Teltow) 118
- Teupitz (Teltow) 131
- Mittenwalde (Teltow) 142
- Steinhoefel 157
- Valentin von Maſſow 161
- Buckow 174
- Der große und kleine Tornow-See 185
- Das Oderbruch 190
- Wie es in alten Zeiten war 190
- Die Verwallung 197
- Die alten Bewohner 205
- Die Coloniſirung und die Coloniſten 215
- Moeglin 224
- Albrecht Daniel Thaer 226
- Freienwalde 253
- Von Falkenberg nach Freienwalde. Die Stadt. Der Ruinenberg.
Monte Caprino 253 - Falkenberg 262
- Das Schloß 271
- Seite
- Der Geſundbrunnen 281
- Der Roſengarten. Der Baaſee 290
- Hans Sachs von Freienwalde 295
- Der Schloßberg bei Freienwalde und die Uchtenhagens 304
- Lichterfelde 325
- Am Werbellin 338
- Schloß Friedersdorf 347
- Friedrich Auguſt Ludwig von der Marwitz 360
- Alexander von der Marwitz 387
- Quilitz oder Neu-Hardenberg 415
- Quilitz von 1763—1814 416
- Neu-Hardenberg ſeit 1814 425
- Friedland 437
- Cunersdorff 451
- Hans Georg Sigismund v. Leſtwitz 453
- Frau v. Friedland 456
- Graf und Gräfin Itzenplitz 460
- Chamiſſo in Cunersdorff 469
- Das Pfulen-Land 479
- Schulzendorf 481
- Garzin 482
- Buckow 483
- Wilkendorf 485
- Gielsdorf 486
- Jahnsfelde 487
- Kienbaum 493
- Anmerkungen.
- Von Frankfurt bis Schwedt.
- Eine Correktur 501
- Tamſel.
- 1. Die Beſitzverhältniſſe Tamſels ſeit 1510 501
- 2. Der Tamſler Park 502
- 3. Die Kirche in Tamſel 506
- 4. Das Schloß 509
- 5. Briefe des Kronprinzen Friedrich an Frau v. Wreech. 1731
bis 1732. (Lettres et Vers de certain grand prince.) 512 - 6. Briefe König Friedrichs an Frau v. Wreech. 1758—61 520
- Zorndorf.
- Seite
- Blumenthal.
- Wüſtgewordene Flecken und Dörfer 522
- Predikow.
- Coſſenblatt.
- Friedrich Wilhelm I. und die Coſſenblatter Prediger 523
- Ein großes Gemälde in der Kirche 524
- Königs-Wuſterhauſen.
- Teupitz.
- Mittenwalde.
- Steinhoefel.
- Familien-Portraits 525
- Buckow.
- Ein Erdfall 526
- Der große und kleine Tornow-See.
- Der Schnitz-Altar in der Bollersdorfer Kirche 526
- Das Oderbruch.
- Die letzten Wenden-Reſte in Sachſen und Preußen 527
- „Die Unnererdſchken“ eine Sage aus Alt-Reetz. 530
- Moeglin.
- Freienwalde.
- Ein Hexen-Proceß in Freienwalde. (1644) 531
- Der Schloßberg bei Freienwalde und die Uchtenhagens.
- Drei Sagen von den Uchtenhagens 537
- Lichterfelde.
- Die Brüder Chriſtoph und Arendt v. Sparr 539
- Lichterfelde und die Groebens 540
- Am Werbellin.
- Friedersdorff.
- Eberhard v. d. Marwitz 541
- Quilitz oder Neu-Hardenberg.
- Joachim Bernhard v. Prittwitz und Gaffron 543
- Die Frauen und Kinder des Fürſten Hardenberg 545
- Friedland.
- Cunersdorff.
- Johann George v. Leſtwitz 546
- Portraits in Schloß Cunersdorff 546
- Das Pfulen-Land.
- Portraits im Herrenhauſe zu Jahnsfelde 547
- Kienbaum.
- Dorf und Kloſter Kagel 548
Von Frankfurt bis Schwedt.
Zwiſchen Frankfurt und Stettin iſt während der Sommermonate
ein ziemlich reger Dampfſchiff-Verkehr. Schleppſchiffe und Paſ-
ſagierboote gehen auf und ab und die Rauchſäulen der Schloote
ziehen ihren Schattenſtrich über die Segel der Oderkähne hin, die
oft in ganzen Geſchwadern dieſe Fahrt machen.
Von beſonderer Wichtigkeit ſind die Schleppdampfer. Handelt
es ſich darum, eine werthvolle Ladung in kürzeſter Friſt ſtromauf
zu ſchaffen, ſo wird ein Schleppſchiff als Vorſpann genommen
und in 24 Stunden iſt erreicht, was ſonſt vielleicht 14 Tage ge-
dauert hätte. Ihre eigentlichen Triumphe aber feiern dieſe Schlepp-
ſchiffe, wenn ſie, wie von ohngefähr, plötzlich inmitten einer kritiſch
gewordenen Situation erſcheinen und durch ihre bloße Erſcheinung
die Herzen der geängſtigten Schiffer wieder mit Hoffnung erfüllen.
Sie ſind dann was der Führer für den Verirrten, was der Zu-
zug für die Geſchlagenen iſt und beherrſchen natürlich die Situa-
tion. Dieſe Situation iſt faſt immer dieſelbe: entweder hat der
Rettung erwartende Kahn ſich feſtgefahren und müht umſonſt ſich
ab, wieder flott zu werden, oder aber er iſt in ein mit Flößen
verfahrenes Defilèe gerathen, ſo daß jeden Augenblick ein Zuſam-
menſtoß zu gewärtigen ſteht. Im erſteren Falle handelt es ſich um
1
[2]Kraft, im anderen Falle um Geſchick und Schnelligkeit, um
das Bedenkliche der Lage zu überwinden, und der Schleppdampfer
iſt in der glücklichen Verfaſſung, Beides, je nach Bedürfniß, bieten
zu können. Aber freilich — gegen Zahlung. Nun beginnen die
tragikomiſchſten Unterhaltungen, die man ſich denken kann. Sie
werden vom Kajütendach des Oderkahns einerſeits, andererſeits
vom Radkaſten des Dampfers aus geführt. Der geängſtigte Schif-
fer hebt zunächſt einfach ſeine Hand in die Höh’, alle fünf Finger
deutungsreich ausſpreizend. Der Mann auf dem Radkaſten ſchlägt
eine verächtliche Lache auf und donnert ſeinen Befehl zu größerer
Eile in den Maſchinenraum hinunter, bis das bittende „Halloh“
des Schiffers ihn wieder zu einem „stop“ beſtimmt. Der Schiffer
hebt jetzt ſeine Hand mit den geſpreizten Fingern zweimal in die
Luft. Daſſelbe Lachen als Antwort. So geht es weiter, bis der
Kahnführer, der namentlich, wenn er zwiſchen Holzflößen ſteckt,
ſeinen Ruin vor Augen ſieht, die Summe bewilligt, die der Ca-
pitain des Dampfers zu fordern für gut befindet. Dieſe Forde-
rungen wechſeln, da der letztere, mit ſcharfem Auge, je nach dem
Grad der Gefahr, auch die Taxe beſtimmt. Es kommt vor, daß
der geängſtigte Schiffer ſeine fünf Finger zehnmal erheben, d. h.
alſo ſeine Befreiung aus dem verfahrenen Defilée mit 50 Thalern
preußiſch bezahlen muß.
Die Schleppdampfer, wie hieraus genugſam erhellen wird,
ſpielen alſo auf der Oderſtrecke, die ſie befahren, die Doppelrolle
des Retters und des Tyrannen, und im Einklang mit dieſer
Doppelrolle iſt auch die Empfindung, mit der ſie Seitens der
Schiffer betrachtet werden. Man liebt ſie oder haßt ſie. Alles, je
nachdem die Gefahr im Anzuge oder glücklich überwunden iſt. Die
am Horizont heraufdämmernde ſchwarze Dampfſäule wird im einen
Fall als Hoffnungsbanner begrüßt, im andern Fall als abziehende
Piratenflagge verwünſcht. Dazwiſchen liegt die Rettung. Nichts iſt
kürzer als Dank. Die Capitäne wiſſen das; aber als praktiſche
Männer kennen ſie keine Empfindelei und halten ſich ſchadlos beim
[3] nächſten Fall. Sie haben zudem die ruhige Ueberlegenheit der herr-
ſchenden Kaſte.
Die Schiffer blicken, wie wir geſehen haben, mit getheil-
ter Empfindung auf den Schleppdampfer; — nicht ſo die Floß-
führer. Dieſe geben ſich ungeſchwächt einer einzigen Empfindung
und zwar ihrem polniſchen, oder böhmiſch-oberſchleſiſchen Haſſe hin.
Sie können es wagen. Das Floß, das an manchen Stellen die
halbe Breite der Oder deckt, kann wohl den Schleppſchiffen, aber
das Schleppſchiff kann nie und nimmer (wenigſtens nicht ernſtlich)
dem Floße gefährlich werden. Es liegt alſo kein Grund vor, wes-
halb ſie mit ihrer Abneigung hinter dem Berge halten ſollten.
Zu dieſer Abneigung liegen allerdings die triftigſten Gründe
vor. Die Schleppdampfer nämlich, da ſie, wie eben angedeutet,
den Flößen in Wahrheit weder nützen noch ſchaden können, be-
gnügen ſich damit, die reizbare ſlaviſche Natur zu nergeln und zu
ärgern. Wie Reiter, die luſtig durch einen Tümpel jagen, alles,
was in der Nähe iſt, nach rechts und links hin mit Waſſer und
Schlamm beſpritzen, ſo jagen hier die Dampfer an dem ſchwer-
fällig zur Seite liegenden Floß vorüber und unterhalten ſich damit,
das Floß unter Waſſer zu ſetzen. Die zur Seite gedrückte Welle
eilt, immer höher werdend, auf das Floß zu; jetzt trifft ſie den
erſten Balken und ſpritzt hoch auf. Aber nicht genug damit; die
Hälfte der Welle ſetzt ſich unter dem Floß hin fort und überall
da, wo eine Lücke ſich bietet, nach oben tretend, ſetzt ſie, an ſechs,
acht Stellen zugleich, das Floß unter Waſſer. Nun ſollte man
glauben, die Flößer müßten gleichgültig ſein gegen ein ſolches
Fußbad; aber, als wäre es Feuer, ſieht man jetzt die Beſatzung
des Floßes auf den Bäumen und Querbalken hin und her ſprin-
gen, als gält’ es vor ihrem bitterſten Feinde zu fliehen. Dieſe
Zickzackſprünge nehmen ſich wunderlich genug, dabei ebenſo komiſch
wie maleriſch aus. Mit vielem Geſchick wiſſen ſie immer eine Stelle
zu treffen, wo ein Querbalken, ein Holzblock, oder am liebſten
einer jener Erd- und Raſenhügel ſich vorfindet, deren viele (oft
ein Dutzend) ſich über das Floß hin ausbreiten und einen weſent-
1*
[4] lichen Theil der häuslichen Einrichtung deſſelben bilden. Bei dieſer
häuslichen oder wirthſchaftlichen Einrichtung des Floßes hab’ ich
noch einen Augenblick zu verweilen.
Die Geſammt-Oekonomie eines ſolchen Floßes beſteht aus
zwei gleich wichtigen Theilen, aus einem Kochplatz und einem Auf-
bewahrungsplatz, oder aus Küche und Kammer. Beide ſind von
gleich einfacher Conſtruction. Der Kochplatz, der Herd, beſteht aus
dem einen oder andern jener eben erwähnten Erdhügel, d. h. aus
ein paar Dutzend Raſenſtücken, die Morgens am Ufer friſch abge-
ſtochen und wie Mauerſteine neben und aufeinander gelegt werden.
An jedem Morgen entſteht ein neuer Herd. Den alten Herdſtellen
aber gönnt man ihren alten Platz, und benutzt ſie entweder als
Inſeln, wenn die Wellen kommen, oder nimmt ſie auch wohl, nach
einigen Tagen, als Herdſtelle wieder auf. Auf dieſem improviſirten
Herde wird nun gekocht, was ſich maleriſch genug ausnimmt, be-
ſonders um die Abendſtunde, wenn die Feuer wie Irrlichter auf
dem Waſſer zu tanzen ſcheinen. Ebenſo wichtig wie der Kochplatz
iſt der Aufbewahrungsplatz. Seine Conſtruction iſt von noch grö-
ßerer Einfachheit und beſteht aus einem halbausgebreiteten Bündel
Heu. Auf dieſer Heuſchicht liegen die Röcke, Jacken, Stiefel der
Floßleute, und ausgerüſtet mit dieſen primitivſten Formen einer
Küche und Kammer, machen die Flößer ihre oft wochenlange Reiſe.
Nach dieſer Beſchreibung wird es jedem klar ſein, was eine
ſolche Dampfſchiffs-Neckerei für die Floßleute zu bedeuten hat.
Jede aus den Lücken des Floßes hervorbrodelnde Welle ſpült nicht
blos über die Füße der Betroffenen hin, ſondern ſchädigt ſie auch
wirklich an ihrem Hab und Gut, als handele es ſich um eine
Ueberſchwemmung im Kleinen. Hier fährt das Waſſer ziſchend in
das Herdfeuer und löſcht es aus; dort hebt es das Heubündel,
mit ſammt ſeinen Garderobeſtücken, von unten her in die Höhe
und tränkt es entweder mit Waſſer oder ſchwemmt es gar hinweg.
Das weckt dann freilich Stimmungen, die der Vorſtellung von
einer wachſenden „Fraternität“ des Menſchengeſchlechts völlig Hohn
[5] ſprechen und zu Unterhaltungen führen, von denen es das Beſte
iſt, daß ſie im Winde verklingen.
Soviel von den Schleppſchiffen. Von geringerer Bedeutung
ſind die Paſſagierboote, die übrigens, wie ſich von ſelbſt verſteht,
gelegentlich die Rolle tauſchen und auch ihrerſeits als „Retter“ und
„Tyrannen“ (ganz in der oben geſchilderten Weiſe) debütiren.
Die Paſſagierboote gehen von Frankfurt aus 2mal wöchent-
lich (Mittwoch und Sonnabend) und machen die Fahrt nach
Küſtrin in 2, nach Schwedt in 8, nach Stettin in 10 Stunden.
Die Benutzung erfolgt mehr ſtationsweiſe und auf kleineren
Strecken, als für die ganze Tour. Der Grund mag darin liegen,
daß die Eiſenbahn (trotz des Umweges über Berlin) die Reiſenden
zwiſchen Frankfurt und Stettin, doch eher und ſicherer an’s Ziel
führt. Eher unter allen Umſtänden; ſicherer in ſoweit, als es
bei niedrigem Waſſerſtande vorkommt, daß die Fahrt auf Stunden
unterbrochen oder wohl gar ganz eingeſtellt werden muß. Die Re-
gulirung des Oderbetts, ein in den Zeitungen ſtehend gewordener
Artikel, würde dieſem Uebelſtande vielleicht abhelfen und eine Con-
currenz der Dampfſchiffe mit der Eiſenbahn möglich machen. Damit
hat es aber noch gute Wege (einige meinen, es ginge überhaupt
nicht) und ſo werden ſich die beiden Paſſagierboote, die jetzt das
Bedürfniß decken, noch längere Zeit mit dem Publikum behelfen
müſſen, das jetzt zu ihnen hält. Dies Publikum, wenn auch nicht
zahlreich, iſt immerhin mannigfach genug. Tagelöhner, die auf die
Güter, Handwerker, die zu Markte ziehen, dazu Kaufleute und
Gutsbeſitzer, auch gelegentlich Badereiſende, beſonders ſolche, die in
den ſchleſiſchen Bädern waren. Nur eine Klaſſe fehlt, der man
ſonſt wohl auf den Flußdampfern unſerer Heimath, beſonders im
Weſten und Süden, zu begegnen pflegt: der Touriſt von Fach,
der eigentliche Reiſende, der keinen andern Zweck verfolgt, als Land
und Leute kennen zu lernen.
Dieſer „Eigentliche“ fehlt noch, aber er wird nicht immer feh-
len; denn ohne das unfruchtbare und mißliche Gebiet der Ver-
gleiche betreten zu wollen, ſei doch das Eine hier verſichert, daß an
[6] den Ufern der Oder hin, allerlei Städte und reiche Dörfer liegen,
die wohl zum Beſuche einladen können, und daß, wenn Sage
und Legende auch ſchweigen, die Geſchichte um ſo lauter und ver-
nehmbarer an dieſer Stelle ſpricht.
Sehen wir ſelbſt.
Es iſt Sonnabend und 5 Uhr Morgens. An dem breiten
Quai der alten Stadt Frankfurt, hohe Häuſer und Kirchen zur
Seite (das Ganze ausnehmend an den Cölner Quai, zwiſchen der
Schiffbrücke und der Eiſenbahnbrücke, erinnernd) liegt der Dampfer
und huſtet und pruſtet. Es iſt höchſte Zeit. Kaum daß wir an
Bord, ſo wird auch das Brett ſchon eingezogen und der Dampfer,
ohne viel Commando und Schiffs-Halloh, löſt ſich leicht vom Ufer
ab und ſchaufelt ſtromabwärts. Zur Linken verſchwindet die Stadt
im Morgennebel; nach rechts hin, zwiſchen Pappeln und Weiden
hindurch, blicken wir in jenes Hügelterrain hinein, deſſen Name
hiſtoriſchen Klang hat trotz einem, — Kunersdorff. Wir werden
noch oft, während unſerer Fahrt, an dieſes Terrain und dieſen
Namen erinnert werden.
Der Morgen iſt friſch; der Wind, ein leiſer aber ſcharfer
Nordoſt, kommt uns entgegen und wir ſuchen den Platz am
Schornſtein auf, der Wärme gewährt und zugleich Deckung gegen
den Wind. Es iſt nicht leicht mehr einen guten Platz ausfindig
zu machen, denn bereits vor uns hat ein Gipsfigurenhändler, mit
ſeinem Brett voll Puppen, an eben dieſer Stelle Platz genommen.
Er iſt aber umgänglich, rückt ſein Brett bei Seite und wartet auf
Unterhaltung. Das Puppenbrett bietet den beſten Anknüpfungs-
punkt. König und Königin; Amor und Pſyche; Goethe, Schiller,
Leſſing; drei „betende Knaben“ und zwei Windhunde, außerdem
(alle andern überragend) eine Aurora und eine Flora bilden die
Beſatzung des Brettes. Der Aurora ſind ihre beiden Flügel, der
Flora das Bouquet genommen; beides, Bouquet und Flügel, lie-
gen, wie abgelegter Schmuck, zu Füßen der Figuren.
Was geht denn ſo am beſten? eröffne ich die Converſation.
„Ja das iſt ſchwer zu ſagen, mein Herr,“ erwiedert der
[7] Figurenmann (der ſich durch das hierlandes ſelten gebrauchte „mein
Herr“ ſofort als ein Mann von gewiſſen „Allüren“ einführt) „es
richtet ſich nach der Gegend.“
„Ich dachte König und Königin.“
„Verſteht ſich, verſteht ſich,“ unterbricht mich der Figuren-
mann, als ſei er mißverſtanden, „Königliches Haus und Goethe-
Schiller immer voran. Selbſtverſtändlich.“ —
„Aber außerdem?“
„Ja, das war es eben, mein Herr. Hier herüber (dabei deu-
tete er, nach rechts hin, in die Sandgegenden der Neumark hinein)
verkauf ich wenig oder nichts; dann und wann einen „betenden
Knaben“. Ich könnte von meinem Standpunkt aus ſagen — und
dabei überflog ein feines Lächeln ſein Geſicht — wo der gute
Boden aufhört, da fängt der „betende Knabe“ an.
„Nun da gehen dieſe wohl in’s Bruch,“ erwiederte ich lachend,
indem ich auf Flora und Aurora zeigte.
„Aurora und Flora gehen in’s Bruch,“ wiederholte er mit
humoriſtiſcher Würde. „Auch Amor und Pſyche.“ — Ich nickte
verſtändnißvoll.
Wir ſtanden nun auf und traten an die Schiffswandung.
Er ſah, daß ich einen Blick in die Landſchaft thun wollte und
wartete, bis ich die Unterhaltung wieder aufnehmen würde.
Das linke Oderufer iſt hüglig und maleriſch, das rechte flach
und reizlos. Der eigentliche Uferrand iſt aber auch hier ſteil und
abſchüſſig und die Wandung mit Weidengebüſch beſetzt. Das Waſ-
ſer iſt gelblich, flach, voll Inſeln und Untiefen und die Paſſage,
ſelbſt bei genauer Kenntniß des Fahrwaſſers, ſehr ſchwierig. We-
nigſtens um die Sommerzeit. Vorn am Bugſpriet ſtehen zwei
Schiffsknechte (ich weiß nicht, ob man bei Flußdampfern von
„Matroſen“ ſprechen darf) mit langen Stangen und nehmen be-
ſtändig Meſſungen vor, die um ſo unerläßlicher ſind, als die
Sandbänke ihre Stelle wechſeln und heute hier, morgen da zu
finden ſind.
Fluß, Ufer, Fahrt, alles hat den norddeutſchen Charakter.
[8] Inzwiſchen iſt es heller geworden, die Nebel haben der Sonne
Platz gemacht und mit dem Sonnenſchein zugleich dringen, von
rechts her, Glockenklänge zu uns herüber. Dorf und Kirche aber
ſind nicht ſichtbar. Ich horche eine Weile; dann wend’ ich mich zu
meinem Nachbar und frage: wo klingt das her?
Das iſt die 7centnerige von Groß-Rade; — mein beſonderer
Liebling.
Was tauſend, fahr’ ich fort, kennen Sie die Glocken hier herum
ſo genau? Ach, mein Herr, ich kenne ſie alle. Viele davon ſind
meine eignen Kinder, und hat man ſelber erſt Kinder, ſo kümmert
man ſich auch um die Kinder andrer Leute.
Wie das? haben Sie denn die Glocken gegoſſen? ſind ſie
Gürtler oder Glockengießer? Oder ſind Sie’s geweſen?
Ach, mein Herr, ich bin ſehr vieles geweſen: Tiſchler, Korb-
macher, dazwiſchen Soldat, dann Former, dann Glockengießer, nun
gieß ich Gips. Es hat mir alles nicht recht gefallen, aber das
Glockengießen iſt ſchön.
Da wundert’s mich doppelt, daß ſie vom Erz auf den Gips
gekommen ſind.
Mich wundert es nicht, aber es thut mir leid. Wenn der
„Zink“ nicht wäre, ſo göſſ’ ich noch Glocken bis dieſen Tag.
Wie ſo?
Seit der Zink da iſt, iſt es mit dem reellen Glockenguß vor-
bei. In alten Zeiten hieß es „Kupfer und Zinn“, und waren’s
die rechten Leute, gab’s auch wohl ein Stück Silber mit hinein.
Damit iſt’s vorbei. Jetzt wird abgezwackt; von Silber iſt keine
Rede mehr; wer’s billig macht, der hat’s. Der Zink regiert die
Welt und die Glocken dazu. Aber dafür klappern ſie auch wie
die Bunzlauer Töpfe. Ich kam bald zu kurz; die Elle wurde
länger als der Kram; wer noch für Zinn iſt, der kann nicht be-
ſtehen, denn Zinn iſt theuer und Zink iſt billig.
Wie viel Glocken haben Sie wohl gegoſſen?
Nicht viele, aber doch ſieben oder acht; die Groß-Radener iſt
meine beſte.
[9]
Und alle für die Gegend hier?
Alle hier herum. Und wenn ich mir mal einen Feierabend
machen will, da nehm’ ich ein Boot und rudere ſtromab, bis über
Lebus hinaus. Wenn dann die Sonne untergeht und rechts und
links die Glocken den Abend einläuten und meine Glocken da-
zwiſchen, dann vergeſſ’ ich vieles, was mir im Leben ſchief ge-
gangen iſt und vergeſſ’ auch den „Turban“ da. — Dabei zeigte er
auf die runde, kiſſenartige Mütze, die die Gipsfigurenhändler zu tra-
gen pflegen und die jetzt, in Ermangelung eines anderen Platzes,
der Goethe-Schiller-Statue über die Köpfe geſtülpt war.
So plaudernd waren wir, eine Viertelſtunde ſpäter, bis Le-
bus gekommen. Der Gipsfigurenmann verabſchiedete ſich hier und
während das Boot anlegte, hatt’ ich Gelegenheit, die „alte Bi-
ſchofsſtadt“ zu betrachten.
Freilich erinnert hier nichts mehr an die Tage alten Glanzes
und alten Ruhmes. Die alte Kathedrale, das noch ältere Schloß,
ſie ſind hin, und eines Lächelns kann man ſich nicht erwehren,
wenn man in alten Chroniken lieſt, daß um den Beſitz von Lebus
heiße Schlachten geſchlagen wurden, daß hier die ſlaviſche und die
germaniſche Welt, Polenkönige und thüringiſche Herzöge, in heißen
Kämpfen zuſammenſtießen und daß der Schlachtruf mehr als ein-
mal lautete: „Lebus oder der Tod“. Unter allen aber, denen dieſer
Schlachtruf jetzt ein Lächeln abnöthigen wird, ſtehen die Lebuſer
ſelbſt obenan. Ihr Stadtſiegel iſt ein „Wolf mit einem Lamm im
Rachen“; die neue Zeit iſt der Wolf und Lebus ſelbſt iſt das
Lamm. Mitleidslos wird es verſchlungen.
Lebus, die Kathedralenſtadt, iſt hin, aber Lebus, das vor
dreihundert Jahren einen fleißigen Weinbau trieb, das Lebus
exiſtirt noch. Wenigſtens landſchaftlich. Nicht daß es noch Wein an
ſeinen Berglehnen zöge, nur eben der maleriſche Charakter eines
Winzerſtädtchens (wie ſie in andern Theilen Deutſchlands ſo oft
ſich finden) iſt ihm erhalten geblieben.
Die Stadt, ſo klein ſie iſt, zerfällt in eine Ober- und Unter-
ſtadt. Jene ſtreckt ſich (wenigſtens vom Fluß aus gerechnet) in
[10] ihrem weſentlichen Theile am Firſt des Berges hin, dieſe zieht ſich
am Ufer entlang und folgt den Windungen von Fluß und Hügel.
Zwiſchen beiden, am Abhang, und wie es heißt an ſelber Stelle,
wo einſt die alte Kathedrale ſtand, erhebt ſich jetzt die Lebuſer
Kirche, ein Bau aus neuer Zeit. Die „Unterſtadt“ hat Höfe und
Treppen, die an das Waſſer führen; die „Oberſtadt“ hat Zickzack-
wege und Schluchtenſtraßen, die den Abhang bis an die Unterſtadt
hernieder ſteigen. Auf dieſen Zickzackwegen bewegt ſich ein Theil
des ſtädtiſchen Lebens und Verkehrs. Gänſe und Ziegen weiden
dort unter Gras und Geſtrüpp; Frauengeſtalten, zum Theil in die
maleriſche Tracht des Oderbruchs gekleidet, ſchreiten bergab; den
Zickzackweg hinauf aber ſteigt eben unſer Freund der Gipsfiguren-
mann und alle ſeine Puppen (nicht blos die „Aurora“, die wieder
ihre Flügel angelegt hat) ſchimmern im Morgenſtrahl.
Nun aber Commandowort vom Radkaſten aus und unſer
Dampfer ſchaufelt weiter.
Lebus liegt hinter uns und wir treten jetzt, auf etwa eine
Meile hin, in jenes Terrain ein, wo Stadt und Dorf, zu beiden
Seiten des Fluſſes, an die Tage mahnen, die jenem Kunersdorfer
12. Auguſt vorausgingen und ihm folgten. Es ſind drei
Namen vorzugsweiſe, denen wir hier, am Ufer hin, begegnen:
Reitwein, Goeritz und Oetſcher, alle drei mit der Geſchichte jener
Tage verwoben.
In Reitwein erſchien am 10. Auguſt die Avantgarde des
Königs, um eine Schiffbrücke vom linken auf’s rechte Oderufer zu
ſchlagen. Man wählte dazu die Schmälung des Fluſſes, wo die
alte Stadt Goeritz, maleriſch am Hügelabhang, dem Dorfe Reit-
wein gegenüberliegt. Am 10. Abends erſchien der König ſelbſt und
führte ſeine Bataillone (60 an der Zahl) hinüber; die Cavallerie
ging durch eine Furth. In Goeritz aber blieb General Flemming
mit 7 Bataillons zur Deckung der Schiffbrücke zurück. Zwei Tage
ſpäter, am Abend des 12., befanden ſich die Trümmer der geſchla-
genen Armee an derſelben Furth, an derſelben Schiffbrücke. Aber
das Spiel war vertauſcht; ſtatt von links nach rechts ging es jetzt
[11] von rechts nach links. Die Brücke, die am Abend des 10ten von
Reitwein nach Goeritz vorwärts geführt hatte, führte jetzt, am
Abend des 12., von Goeritz nach Reitwein zurück.
Der König verbrachte die Nacht, eine Viertelmeile ſüdlich von
der Schiffbrücke, im Dorfe Oetſcher; er ſchlief auf Stroh in
einer verödeten Bauernhütte. Auf dem Rücken Rittmeiſters von
Prittwitz (der ihn gerettet) ſchrieb er hier mit Bleiſtift die Worte
an den Miniſter Finkenſtein: „Alles iſt verloren, retten Sie die
Königliche Familie; Adieu für immer.“ Andern Tags nahm er
Quartier in Reitwein, damals noch den Burgsdorffs gehörig.
Hier war es, wo er die berühmte Inſtruction aufſetzte (ebenfalls
an Finkenſtein gerichtet), in der er den Prinzen Heinrich als Ge-
neraliſſimus der Armee bezeichnete und den Willen ausſprach, daß
die Armee ſeinem Neffen ſchwören ſollte.
An dieſen Plätzen führt uns jetzt unſere Fahrt vorüber.
Oetſcher (wiewohl nah gelegen) verbirgt ſich hinter Hügeln, deſto
maleriſcher treten Reitwein und Goeritz hervor. Schöner freilich
muß der Anblick dieſes Bildes geweſen ſein, als die alte Goeritzer
Kirche (ein berühmter Wallfahrtsort) auf der Höhe des Hügels
lag und ſich mit der Kirche von Reitwein drüben begrüßte. Aber
Goeritz und ſeine Kirche ſind in jedem Sinne von ihrer Höhe
herabgeſtiegen. Keine Wallfahrer kommen mehr und als ſei es
nicht länger nöthig, das berühmte Wallfahrtshaus, die Kirche,
ſchon weithin ſichtbar zu machen, hat man die neue Kirche (nach-
dem die alte, kurz vor der Zorndorfer Schlacht, von den Ruſſen
zerſtört worden war) in der Tiefe wieder aufgebaut.
Die Goeritzer Kirche hat uns zu guter Zeit an die Ruſſen
und die Zorndorfer Schlacht gemahnt; denn wir verlaſſen ſo
eben das Terrain — im weiteſten Sinne — der Kunersdorfer
Schlacht, um, in ähnlicher Weiſe, in den Schlachtengrund von
Zorndorf einzutreten.
Was wir zunächſt erblicken, iſt Küſtrin ſelbſt (thurmlos, grau,
in dünne Nebel gehüllt), die alte neumärkiſche Hauptſtadt, um
deren Rettung es ſich handelte, als am 21. Auguſt 1758 der
[12] König von Schleſien her am linken Oderufer erſchien. Alle Namen
hier, zu beiden Seiten des Fluſſes, erinnern an jene Tage bitterer
Bedrängniß, ſchwer erkauften Siegs.
Zuerſt Gorgaſt am linken Oderufer. In Gorgaſt war es,
wo der König ſeine chiffonirt ausſehenden Truppen mit den glatt
und wohlgenährt daſtehenden Regimentern Dohna’s vereinigte und
wo die berühmten Worte fielen: „meine ſehen aus wie Grasteufel,
aber ſie beißen.“
Weiter flußabwärts die Fähre von Güſtebieſe. Ein wenig
poetiſcher Name, aber doch voll guten Klangs. Hier führte der
König ſeine Bataillone über, als er von Küſtrin aus (wo der
Feind en front den Uebergang erwartete) jenen berühmten Bo-
genmarſch machte, der ihn, an derſelben Stelle, wo der Gegner
immer noch einen Front-Angriff erwartete, plötzlich in den Rücken
deſſelben führte.
Rechts hin, faſt am Ufer des Fluſſes entlang, dehnt ſich die
Drewitzer Haide, — ein grüner Schirm, der das eigentliche
Schlachtfeld dem Auge des Vorüberfahrenden entzieht. Dahinter
liegen die Dörfer und Stätten, deren Namen mit der Geſchichte
jenes blutigen Tages verwoben ſind: die Neu-Dammſche Mühle,
der Zaber- und Galgengrund, endlich Zorndorf ſelbſt.
Wir haben Küſtrin paſſirt — ein ſcheuer Blick nur traf jene
enge, halb verbaute Baſtion Brandenburg, wo am 6. Nov. 1730
Katt’s Haupt in den Sand rollte — auch das Schlachtfeld liegt
bereits hinter uns, das 28 Jahre ſpäter dieſe Ufer und Dörfer
zu hiſtoriſchem Anſehen erhob und wir fahren nun, als hätten
ſich dieſe Ufer vorgeſetzt durch Contraſte zu wirken, in jene fried-
lich-fruchtbaren Gegenden ein, die, vor hundert oder doch 150
Jahren noch ein ödes, werthloſes Sumpfland, ſeitdem ſo oftmals
(und mit Recht) die Kornkammern unſeres Landes genannt wor-
den ſind. Das Oderbruch dehnt ſich auf Meilen hin zu unſerer
Linken aus.
Der Anblick, den es, im Vorüberfahren, vom Fluß aus ge-
währt, iſt weder ſchön und maleriſch, noch verräth er eine beſondere
[13] Fruchtbarkeit; gegentheils, das Vorland, das ſich dem Auge bietet,
macht kaum den Eindruck eines gehegten Stück Wieſenlands, und
die Raps- und Gerſtenfelder, die ſich golden dahinter ausdehnen,
werden dem Auge durch endlos ſich hinziehende, proſaiſch ausſe-
hende Dämme und Deiche entzogen, die aber freilich, indem ſie die
Niederung gegen die früheren Ueberſchwemmungen ſicher ſtellten,
erſt den Reichthum ſchufen, der ſich jetzt hinter dieſen Deich-Linien
verbirgt.
Der Reichthum dieſer Gegenden ſpricht nicht in goldenen Fel-
dern zu uns, aber wir erkennen ihn doch an ſeinen erſten und
natürlichſten Folgen — an den Dörfern, die er geſchaffen. Da
giebt es kein Strohdach mehr, der rothe Ziegel lacht überall aus
dem Grün der Wieſen hervor, und ſtatt der dürftig hölzernen
Kirchthürme des vorigen Jahrhunderts, die kümmerlich wie ein
Schilderhaus auf dem Kirchendach zu ſitzen pflegten, wachſen jetzt
in ſolidem Backſteinbau, — die Campanellen Italiens heiter co-
pirend, — die Kirchthürme in die Luft. An dieſem Reichthum
nehmen die Dörfer des andern (rechten) Oderufers Theil, und an-
ſteigend an der Hügelkette gelegen, die ſich eine Meile unterhalb
Küſtrin, am rechten Oderufer hinzuziehen beginnt, geſellen ſich
Schönheit und maleriſche Lage (viel mehr als man in dieſen Ge-
genden erwartet) zu dem Eindruck des Reichthums und beinahe
holländiſcher Sauberkeit.
Nun ſind wir über Amt Kienitz (ein altes Dorf, vor zwei
Jahrhunderten dem General Goertzke, dem „Paladin des großen
Kurfürſten“ gehörig) und nun über Kloſter Zellin hinaus; der
Fluß wird ſchmäler aber tiefer und das Landſchaftsbild verändert
ſich. Der Barnim liegt hinter uns und wir fahren in die Uker-
mark hinein. Es ſind ſehr ähnliche Uferlandſchaften, wie ſie die
Umgegend Stettins dem Auge bietet. Andere Namen, in nichts
mehr an die triviale Komik von „Güſtebieſe“ oder „Lietzegörike“
erinnernd, tauchen auf, — Namen voll poetiſchem Klang und
Schimmer: Hohen-Saathen, Raduhn und Hohen-Krähnig.
Der Fluß bis dahin, im Weſentlichen, in einem Bette flie-
[14] ßend, fängt an, ein Netz von Kanälen durch die Landſchaft zu
ziehen; hierhin, dorthin windet ſich der Dampfer, aber eh es uns
noch gelungen iſt, uns in dem maleriſchen Wirrſal zurechtzufinden,
tauchen plötzlich weiße Giebelwände, von Thürmen und hohen Lin-
den überragt, aus dem Landſchaftsbilde auf. Noch eine Biegung
und das übliche Hoi und Hoh, wie es immer laut wird, wenn das
Schiff ſich einer Landungsſtelle nähert, beginnt auf’s Neue. Eine
alte Holzbrücke, mit hunderten von Menſchen beſetzt, ſperrt uns
den Weg; ein Fangſeil fliegt über unſre Köpfe weg, dem Brücken-
geländer zu; der Dampfer legt an. Ein Drängen, ein Grüßen,
dazwiſchen das Läuten der Glocke. Vom linken Ufer her aber wirft
ein weitläuftiger Bau, in Bäumen und Laubgängen halb verſteckt,
ſein Spiegelbild in den Fluß. Es iſt das alte Markgrafenſchloß.
Wir ſind in Schwedt.
[[15]]
Tamſel.
‘Hoch ragt aus ſchatt’gen Gehegen
Ein ſchimmerndes Schloß hervor.’
(Chamiſſo.)
Tamſel iſt ein reiches, ſchön gelegenes Dorf, etwa eine Wegſtunde
öſtlich von der alten Feſtung Küſtrin. Waldhügel, deren gewundene
Linien muthmaßlich das alte Bett der Warthe bezeichnen, ſchließen
das Dorf von Norden her ein, während nach Süden hin die
Landſchaft offen liegt und die Flußarme in allerlei Windungen
ſich durch das Bruchland ziehen.
Die Küſtriner hängen mit großer Liebe an Tamſel, und ſo
oft ſie ſeinen Namen nennen, überfliegt ein Lächeln ihre Züge,
nicht unähnlich der ſtillen Heiterkeit, mit der die Berliner den Namen
„Charlottenburg“ auszuſprechen pflegen. Hier wie dort miſcht ſich
kein Stolz über hiſtoriſche Erinnerungen in dieſes Lächeln; es iſt
der Ausdruck vielmehr eines plötzlich wiederbelebten Wohlgefallens,
einer freundlichen Rückerinnerung an Park und Schloß, an Waſſer-
partieen und Feuerwerke, an eine lange Reihe heiterer Land-
ſchaftsbilder, die bei bloßer Nennung des Namens noch einmal
leiſe an dem inneren Auge vorüberziehen.
Und doch iſt Tamſel ein hiſtoriſcher Name, wie Charlotten-
burg ein ſolcher iſt. Wir verweilen nicht bei ſeiner Vorgeſchichte;
wir verſuchen nicht feſtzuſtellen, wann die Templer in ſeinen Beſitz
kamen, und wann ſie dieſen ihren Beſitz an den Johanniter-Orden
abtraten; wir übergehen die Jahrhunderte, wo abwechſelnd der
[16] Küſtriner Markgraf und der Sonnenburger Heermeiſter hier Lan-
deshoheit übten. Wir beginnen mit Tamſels hiſtoriſcher Zeit, mit
Hans Adam v. Schöning, der, nach einem ruhmvollen Tür-
kenzuge, wenigſtens vorübergehend in die Stille ſeines väterlichen
Tamſel zurückkehrte und das bis dahin, aller Wahrſcheinlichkeit
nach, wenig werthvolle Gut in einen prächtigen Landſitz umzuſchaffen
begann.
Hans Adam v. Schöning, bei deſſen thatenreichem Leben
wir länger und eingehender zu verweilen haben werden, machte
Tamſel im Weſentlichen zu dem, was es jetzt iſt, und wenn Um-
und Neu-Bauten auch dem Schloß und Park von damals, nach
außen hin eine veränderte Geſtalt gegeben haben, ſo iſt im Innern,
in ſeiner Einrichtung und Ausſchmückung, immer noch genug vor-
handen, um uns ein Bild von dem Reichthum, von der Fülle
künſtleriſcher Details zu geben, die hier damals zuſammenſtrömten,
als ob es eigens darauf angekommen wäre, einen Sitz Märkiſcher
Schlichtheit, in einen Sitz voll fürſtlicher Pracht umzuwandeln.
Griechiſche Handwerker, die Hans Adam von ſeinem Siegeszuge
mit heimgebracht hatte, füllten das Schloß, das raſch emporwuchs,
mit Reliefbildern und Sculpturen, und alle Hallen und Säle tru-
gen Stuck-Ornamente, die bis in unſere Tage hinein, die Bewun-
derung der Fremden wachzurufen pflegten. Alle Zimmer waren
panellirt; die Wände der Bildergalerie aber glänzten bis hoch
hinauf im Schmuck einer koſtbaren Holzbekleidung, in deren Tafel-
werk die großen, goldumrahmten Bilder kunſtvoll eingelaſſen waren.
Unter dieſen Bildern befanden ſich vor Allem die lebensgroßen
Portraits Hans Adams und ſeiner Gemahlin — ſie unter Blu-
men, von ihren Kindern umſpielt, er zu Roß, den Feldmarſchalls-
ſtab in der Rechten und die Füße bis zum Knie hinauf in ſchar-
lachrothe Gamaſchen geſteckt. Vieles von der Pracht jener Tage, iſt
durch Krieg und Brand hindurch, dem Tamſeler Schloß bis dieſen
Tag erhalten geblieben. Jagd- und Blumenſtücke, von der Hand
Niederländiſcher Meiſter, hängen in halb erleuchteten Corridoren;
die Boiſerieen der Gemälde-Galerie blitzen wie in alter Zeit und
[17] die Scharlach-Gamaſchen des Feldmarſchalls mahnen noch immer
an den Sturm von Ofen, wo knietief im Blute gewatet wurde.
Nur die Stuck-Ornamente, die pausbackigen Engel, die in die
Tuba blaſen, und Mars und Minerva, die aufhorchen, als hätten
ſie ſolche Klänge nie vernommen, nur dieſe Decken-Reliefs erfreuen
das Auge nicht länger — wegen ihrer Fährlichkeit von Fries und
Decke losgelöſt und bei Seite gethan, theilen ſie das Schickſal des
großen Schöning’ſchen Wappenſteins, der früher die Front des
Schloſſes krönte und nun herabgenommen und in eine dunkle Ecke
des Parkes geſtellt, nur ſelten noch ein Auge findet, das ſich durch
ihn erinnern läßt an alte Zeit und alten Ruhm.
Uns aber erinnert er daran und ſo erzählen wir denn zunächſt
die Geſchichte Hans Adams, des Erbauers des Schloſſes.
2
[[18]]
Hans Adam von Schöning.
Gönn’ ich ihm die Ehre des Worts?
Oder gehorch’ ich dem zürnenden Muthe?
Schiller.’
Hans Adam von Schöning wurde am 1. October 1641 zu
Tamſel geboren. Sein Vater (ebenfalls ein Hans Adam) war
Rittmeiſter in brandenburgiſchen Dienſten und hatte ſich das Jahr
vorher (1640) mit Marianne von Schapelow aus Wulkow ver-
mählt. Die Schapelows waren damals ein reichbegütertes Geſchlecht
im Barnim und Lebuſiſchen (das ſpäter Derfflingerſche Guſow
gehörte mit zu ihrem Beſitz), und wenn einerſeits das Vermögen,
das durch dieſe Verbindung in die Schöningſche Familie kam, den
Ankauf verſchiedener Güter, darunter Tamſel, geſtattete, ſo erwies
es ſich in der Folge für unſern Hans Adam von kaum geringerer
Wichtigkeit, daß er durch die Schapelowſche Verwandtſchaft mit den
vornehmſten Familien des Landes verſchwägert war. Derfflingers
erſte Frau war eine von Schapelow, muthmaßlich eine Schweſter
von unſres Schönings Mutter.
Ueber die Art, wie Hans Adam ſeine erſten Jugendjahre
im elterlichen Hauſe zubrachte, wiſſen wir nichts. 1658 ging er nach
Wittenberg, um die Rechte zu ſtudiren, 1659 nach Straßburg,
1660 nach Paris. Er hatte damit das begonnen, was wir jetzt
als die „große Tour“ bezeichnen würden, den Beſuch der Höfe und
Hauptſtädte des weſtlichen Europa. Nach längerem Verweilen in
Paris, wo der Geſandte, Caspar von Blumenthal, ſeinen branden-
burgiſchen Landsmann am Hofe Ludwigs XIV. einführte, begab
er ſich zunächſt über Turin und Mailand nach Venedig, wo er
den Carneval von 1661 mitmachte, beſuchte im ſelben Jahre noch
[19] Rom, Neapel, Meſſina und Syracus, erſchien im September 1662
vor dem Großmeiſter des Malteſer Ordens auf Malta, bat um die
gern gewährte Ehre, einen Streifzug gegen die Ungläubigen mit-
machen zu dürfen, wandte ſich dann nach glücklicher Rückkehr von
Malta nach Spanien, von Spanien nach England und kehrte über
Amſterdam und Hamburg, nach einer fünfjährigen Abweſenheit, in
die märkiſche Heimath zurück. „Er betrat ſie wieder, nachdem er
— wie ſein Biograph ſich ausdrückt — alles geſehen hatte, was
es damals Großes und Ausgezeichnetes in Europa gab: den üppi-
gen Hof des prachtliebendſten Königs, die Kunſtſchätze Italiens,
den Glanz der Faſtnachtsſpiele in Venedig, das ritterliche Treiben
auf Malta, den Hof der Dorias, die Grandezza Spaniens und
die junge Freiheit der Niederlande.“ Gleich nach ſeiner Rückkehr
ſtarb ſein Vater (1665) und kaum 24 Jahr alt wurde Hans Adam
Beſitzer von Tamſel.
Ich habe bei Aufzählung der Höfe und Hauptſtädte, die er
während eines Zeitraums von fünf Jahren beſuchte, abſichtlich
länger verweilt, um daran einige Betrachtungen über die Erziehung
junger Edelleute von damals und von heute zu knüpfen. Wir ſind
nur allzuſehr geneigt, unſere jetzige Erziehungsmethode als etwas
vergleichsweiſe ungemein Vorgeſchrittenes und Zweckentſprechendes
anzuſehen, und doch möchte ſich die Frage aufwerfen laſſen: wie
viel Familien haben wir zur Zeit im Brandenburgiſchen, die ge-
neigt ſein möchten, einen derartigen „Curſus“, eine fünfjährige
Tour durch Europa, lediglich an die weltmänniſche Ausbildung
ihrer Söhne zu ſetzen? Damals war ein derartiges „die hohe
Schule Beziehen“ ſo allgemein, daß, um nur Ein Beiſpiel zu ge-
ben, unſer Hans Adam ſeinen Pariſer Aufenthalt mit einem
Aufenthalt in Orleans vertauſchen mußte, „weil“, wie er nach
Hauſe ſchrieb, „die Anweſenheit ſo vieler Deutſchen in Paris, ihm
an völliger Erlernung der franzöſiſchen Sprache hinderlich ſei“.
Seit hundert Jahren iſt bei uns „die Armee“ die hohe
Schule für die Söhne unſerer alten Familien geworden, und ſo
unleugbar der große politiſche und nationale Fortſchritt iſt, der in
2*
[20] dieſer Wandlung der Dinge liegt, ſo fraglich erſcheint es doch, ob
dem gegenwärtig Gültigen, auch nach der Seite der weltmänniſchen
Bildung hin, der Vorzug gebührt. Jene edelmänniſche Erziehung,
die Hans Adam von Schöning erhielt, erweiterte den Blick, wäh-
rend unſere jetzige Ausbildung nur allzuſehr geeignet iſt, den Blick
zu beſchränken. Wie vorzüglich auch das ſein mag, was daheim,
es ſei wo es ſei, gehegt und gepflegt wird, die Iſolirung hindert
an der Wahrnehmung, ob inzwiſchen draußen nicht doch noch ein
Vorzüglicheres entſtanden iſt. Wir haben dieſen Fehler einmal in
unſerer Geſchichte ſchwer gebüßt. Die Armee ſollte nur die eine
Hälfte unſerer adeligen Erziehung ſein, die andere Hälfte, nach
Vorbild deſſen, was früher Sitte war, ſollte folgen. Der Ein-
tritt aus des Vaters Edelhof in die Armee und der Rücktritt aus
der Armee in den Edelhof — das genügt nicht mehr. Es iſt dies
einer der Punkte, wo das Bürgerthum den Adel, wenigſtens den
unſrigen, vielfach überholt hat.
Aber wenden wir uns wieder unſerem Schöning zu. — Bald
nach ſeiner Rückkehr in die Heimath trat er in kurfürſtlichen Dienſt,
vermählte ſich (1670) mit einem Fräulein von Pöllnitz, avancirte
raſch, wurde Rittmeiſter, Oberſt, Gouverneur von Spandau und
mit kaum 36 Jahren (1677) Generalmajor. Dieſer ſeiner Ernen-
nung waren aber bereits kriegeriſche Ereigniſſe, eine Campagne am
Oberrhein gegen Turenne, wo ihm bei Erſtürmung eines feſten
Platzes die drei äußern Finger der rechten Hand zerſchmettert wur-
den, die Verjagung der Schweden aus der Mark (Fehrbellin) *)
und die Eroberung Stettins vorausgegangen.
Hans Adam von Schöning war nun Generalmajor. Die bei-
den erſten Akte des Krieges mit Schweden hatten ausgeſpielt. Die
Marken waren befreit, Stettin erobert. Das folgende Jahr brachte
gleiches Waffenglück. Rügen wurde beſetzt und das feſte Stralſund,
[21] das ſeit den Tagen Wallenſteins für uneinnehmbar gegolten hatte,
fiel, nach weniger als einer Woche, in die Hände des Kurfürſten.
An allen dieſen Waffenthaten nahm Hans Adam rühmlichen An-
theil; wir folgen ihm aber bei keiner derſelben, und begleiten ihn
vielmehr auf dem weniger durch ſeine Reſultate, als durch die glän-
zende Art der Ausführung berühmt gewordenen „Winterfeldzuge
in Preußen“.
Dieſer Winterfeldzug, wie er den Schlußakt des Schweden-
kriegs bildet, gab auch Schöning zum erſten Male Gelegenheit,
ſich in hervorragender Weiſe geltend zu machen. Die Veranlaſſung
zu dieſer „Januarcampagne zwiſchen Pregel und Düna“ iſt bekannt.
Der ſchwediſche General Horn war im November mit 16,000
Mann, von Curland her, in Oſtpreußen eingefallen, hatte die feſten
Plätze weggenommen und bedrohte Königsberg. Die Nachricht von
dieſem Vordringen Horn’s, das nichts anderes war als eine klug
berechnete Diverſion, um die Brandenburger von ihrer Eroberung
Pommerns abzuziehen, traf den Kurfürſten im December 1678.
Sofort war es beſchloſſene Sache bei ihm, durch „einen raſchen
Ritt“ die Schweden ebenſo aus Oſtpreußen hinauszuwerfen, wie
er, vier Jahre früher bei Fehrbellin, die Schweden aus der Mark
hinausgeſchlagen hatte. Wenn dieſes letztere Unternehmen ſchon, und
mit Recht, um ſeiner Kühnheit willen bewundert worden war, um wie
viel mehr mußte dieſes neue Kriegsabenteuer in Erſtaunen ſetzen,
das bei bitterer Kälte, in unwirthbare Gegenden hinein unternom-
men wurde. Am 30. December brach der Kurfürſt auf; am 10ten
Januar 1679 war er in Marienwerder und nahm Muſterung
über das kleine Heer ab, das er ſo raſch von der Oder aus bis
an die Weichſel geführt hatte. Die Schweden ſtanden am Pregel,
dicht vor Königsberg, das durch 3000 Brandenburger unter Ge-
neral Görtzke vertheidigt wurde.
Die Aufgabe, die ſich der Kurfürſt geſtellt hatte, war erſicht-
lich die: mit einer Hälfte ſeiner Truppen die Königsberger Be-
ſatzung unter Görtzke zu verſtärken, mit der andern Hälfte aber
die Schweden zu umgehen. Dann ſollte Görtzke von Königsberg
[22] aus angreifen, während der Kurfürſt ſelbſt dem Feinde den Rück-
zug abſchneiden und ihn auf einen Schlag vernichten wollte.
Was indeſſen auf dem berühmten Ritte „vom Rhein bis an
den Rhin“ möglich geweſen war, nämlich das Verſchwiegenbleiben
des Unternehmens, das erwies ſich als unmöglich auf dem Wege
von der Oder bis zur Weichſel: — es wurde nicht reiner Mund
gehalten und die Schweden ſchlüpften aus dem Garn. An dem-
ſelben Tage (10. Januar), an welchem der Kurfürſt in Marien-
werder muſterte, erhielt er auch die Nachricht, daß die Schweden
in vollem Rückzuge auf Tilſit ſeien. Die Falle hatte den Dienſt
verſagt, noch ehe ſie fertig war. Da es nicht mehr möglich war,
die Feinde zu fangen, ſo galt es nunmehr, ſie einzuholen.
In Geſchwindmärſchen ging es bis Braunsberg und Heiligenbeil,
dann — um Zeit zu ſparen — in Schlitten über das friſche
Haff. Schon am 16. war man in Königsberg (hier ſchloſſen ſich
Görtzke und die Seinen an) und nach eintägiger Raſt, am 17.,
ging es in drei Abtheilungen den Schweden nach, die inzwiſchen
in Tilſit Halt gemacht hatten. Die drei brandenburgiſchen Abthei-
lungen beſtanden aus einer äußerſten „Spitze“ von tauſend Mann,
aus einer eigentlichen Avantgarde von dreitauſend und aus einem
Gros von etwa fünftauſend Mann. Treffenfeld führte die Spitze,
Görtzke die Avantgarde, Derfflinger und der Kurfürſt ſelbſt das
Gros. Wie die Truppen zehn Tage früher das friſche Haff paſſirt
hatten, ſo jetzt das kuriſche zwiſchen Labiau und Gilge; aber die
Nähe des Feindes erlaubte kein Schlittenfahren, und kampffertig,
in Reih und Glied, ging es über das Eis. Die Schweden ſtanden
inzwiſchen nach wie vor bei Tilſit und ſchienen entſchloſſen, das
preußiſche Gebiet nicht ohne Schwertſtreich zu verlaſſen. So kam
es zweimal zu einem blutigen Rencontre: am 20. bei Splitter,
wo Treffenfeld, ähnlich wie bei Fehrbellin, der Held des Tages
war; dann Tags darauf, am 21. bei Heidekrug, wo Görtzke die
feindliche Arrièregarde angriff und halb vernichtete. Bis dahin war
alle Ehre des Kampfes den beiden Avantgardeführern zugefallen;
[23] erſt der weitere Verlauf des Kampfes führte auch Schöning auf
die Bühne.
Das Gefecht bei Heidekrug hatte über die Schweden entſchie-
den, und in ſchleunigem Rückzug ging es nördlich, durch die lit-
thauiſchen Schneefelder hin, auf Riga zu. Die Frage für den
Kurfürſten war, ob er den Rückzug ruhig geſtatten, oder die Flie-
henden verfolgend, einen gefährlichen Feind wo möglich vernichten
ſollte. Er entſchied ſich für das letztere. Die ſchwierige Aufgabe
der Verfolgung, des Nacheilens durch verſchneite Wüſteneien hin,
fiel Schöning zu. Mit 1600 Reitern brach er auf. Dieſe beſchei-
dene Anzahl würde der ſchwediſchen Armee gegenüber, die immer
noch nach Tauſenden zählte, ſicherlich in eine ſehr bedenkliche
Lage (wie ſpäter wirklich geſchah) gekommen ſein, wenn nicht
die verfolgenden Brandenburger in der litthauiſchen Bevölke-
rung, die wenigſtens damals aus geſchworenen Feinden der Schwe-
den beſtand, einen kaum erwarteten Bundesgenoſſen gefunden hät-
ten. Kälte und Bevölkerung ſchienen ſich zu einer völligen Ver-
nichtung der Schweden verſchworen zu haben. Oberſt Truchſeß, den
Schöning auf dieſem Zuge mit einer Meldung an den in Königs-
berg weilenden Kurfürſten zurückſchickte, traf mit den Worten im
Hauptquartier ein: „die Brandenburger hätten keine Wegweiſer
nöthig, um dem Feinde zu folgen, weil der ganze Weg mit todten
Schweden bedeckt ſei. Viele kommen vor Kälte um, aber die mei-
ſten fallen von den Händen der Landesbewohner; die litthauiſchen
Bauern ſchlagen die Schweden mit Keulen todt und legen die
Keulen alsdann auf den erſchlagenen Körper.“
So war die Lage des ſchwediſchen Heeres, dem Schöning folgte.
Aber wir würden irren, wenn wir daraus den Schluß ziehen woll-
ten, daß es ein Leichtes geweſen ſei, einem ſolchen Gegner nachzu-
ziehen. Das Nachziehen ſelbſt, ganz abgeſehen von Kampf und
Krieg, war ein Schreckniß. Die Kälte ſtieg oft auf 26 Grad, vie-
len erfroren ganze Gliedmaßen, niemand hatte Geld, und die we-
nigen, die noch eine Münze in der Taſche hatten, konnten meiſt
nichts dafür erſtehen. So näherte man ſich Telcze, einem Städt-
[24] chen etwa halbwegs zwiſchen Tilſit und Riga, und nur fünf Mei-
len noch von der kuriſchen Grenze (damals ſchwediſch) entfernt.
Hier beſchloß Horn, der ohnehin mit Beſchämung wahrgenommen
haben mochte, daß der verfolgende Gegner um vieles ſchwächer
war als er ſelbſt, das Glück der Waffen noch einmal zu verſuchen,
und ziemlich unvermuthet, wie es ſcheint, ſahen ſich Schöning und
ſeine Brandenburger plötzlich einem ſtandhaltenden Gegner gegen-
über, den man ſich gewöhnt hatte, auf dieſen Schneefeldern zu
verfolgen, nicht zu bekämpfen. Vom Augenblick ab, wo ſich Horn
zu dem Entſchluß eines Widerſtandes aufraffte, war die Lage
Schönings eine ſehr bedrohte. Nichtſiegen war gleichbedeutend mit
völligem Zugrundegehen. So kam es zum Gefecht bei Telcze.
Horn hatte von ſeinen 16,000 noch etwa 3000 Mann und
eine ziemliche Anzahl von Geſchützen; Schöning, da die bittere
Kälte viel Menſchenleben gekoſtet hatte, verfügte über wenig mehr
als 1200 Reiter und Dragoner. Die Aufſtellung, die er nahm,
war kurz folgende: die Reiterei in zwei Treffen, in Front des
Feindes; die Dragoner, nachdem ſie abgeſeſſen, in ein links und
rechts gelegenes Gehölz, um im entſcheidenden Moment die Schwe-
den in beiden Flanken nehmen zu können. Dieſe glückliche Terrain-
benutzung entſchied den Tag. Oberſt von Dewitz (ein Schwieger-
ſohn Derfflingers) eröffnete den Angriff und warf einige Com-
pagnien ſchwediſchen Fußvolks über den Haufen; aber er drang
nicht durch und die Gegner ihrerſeits machten jetzt Miene, zum
Angriff überzugehen. In dieſem Augenblick ließ Schöning die
Dragoner aufſitzen und brach von zwei Seiten her mit Ungeſtüm
in die vorrückenden Schweden ein. Ein Gemetzel begann, da jeder
inſtinktmäßig fühlte, daß fliehen verderblicher ſei als fechten, und
erſt die hereinbrechende Nacht machte dem Kampf ein Ende. Keiner
hatte ein Recht, ſich den Sieg zuzuſchreiben, aber die Schweden
zogen ſich in der Dunkelheit zurück und erklärten ſich dadurch für
geſchlagen. Die Verluſte waren auf beiden Seiten ungeheuer; die
feindlichen Offiziere hatten, während des ganzen Kampfes, immer
in langer Linie vor der Front ihrer eigenen Leute gefochten und
[25] vom ſchwediſchen Leibregiment war alles todt oder verwundet.
Auch Hans Adam war, an der Spitze ſeiner Dragoner, nur durch
die Geiſtesgegenwart eines Rittmeiſters gerettet worden, der einem
ſchwediſchen Reiter das Piſtol aus der Hand ſchlug, das dieſer
eben auf Schöning abfeuern wollte. An den zwei folgenden Tagen
ließ dieſer durch kleine Streifcorps die Verfolgung der Schweden
bis in die Nähe von Riga fortſetzen; dann trat er ſelbſt den
Rückzug an, um dem, wie ſchon erwähnt, in Königsberg zurück-
gebliebenen Kurfürſten, wenige Trophäen nur, aber die ſchwerer
wiegende Nachricht von der gänzlichen Auflöſung des ſchwediſchen
Heeres zu bringen.
Dieſer glänzende Zug bis an die kuriſche Grenze, das erſte
Unternehmen, das Schöning in voller Selbſtſtändigkeit ausgeführt
hatte, hob ſein Anſehen in den Augen des Kurfürſten, der ihm
bereits ſo mannigfache Beweiſe ſeiner beſondern Gunſt gegeben
hatte, und Hans Adam, der mit 36 Jahren zum Generalmajor
ernannt worden war, wurde mit 42 Jahren Generallieutenant.
Im ſelbigen Jahre (1684), nachdem er bis dahin das Amt eines
Gouverneurs von Spandau bekleidet hatte, wurde er Gouverneur
von Berlin, das damals, von fünf Ravelins und dreizehn Baſtio-
nen eingefaßt (nach Planen des alten Feldmarſchalls Sparr),
durchaus den Charakter einer Feſtung hatte.
Wir verweilen aber nicht bei den Friedensjahren unſeres
Generallieutenants, ſondern begleiten ihn nun auf ſeinem Tür-
kenzuge, bis zur Erſtürmung der Feſtung Ofen.
Zwiſchen Kaiſer und Kurfürſt war ein Vertrag zu gegen-
ſeitiger Hülfeleiſtung geſchloſſen worden, und in Gemäßheit dieſes
Vertrages ſah ſich der Kurfürſt gezwungen, zu einem bevorſtehen-
den „Zuge gegen die Ungläubigen“, deſſen Hauptzweck die Ein-
nahme Ofens war, ein Hülfscorps von 8000 Mann zu ſtellen.
Der Kurfürſt ſah ſich „gezwungen“, dieſe Auxiliarmacht zu ſtellen;
aber wir würden irren, wenn wir aus dieſer Bezeichnung ableiten
wollten, daß der Kurfürſt nur einem Zwange nachgegeben und
für die Beſiegung des Chriſtenfeindes kein Herz gehabt habe. Die
[26] Sache war einfach die, daß er ſeinem erſchöpften, durch immer
neue Kriege und neue Verwüſtungen hindurchgegangenen Lande,
vor allem den Frieden gönnte; jeder Krieg, auch der gebotenſte
und ruhmreichſte, hinderte ihn am Auferbauen. Das lähmte ſeinen
Eifer. Der proteſtantiſche Norden ſtand zu der Türkenfrage aller-
dings anders, als der katholiſche Süden; ein bedrohtes Oeſterreich
(bedroht gleichviel von wem) erſchien manchem lutheriſchen Herzen
als gleichbedeutend mit Sicherung und Kräftigung des Proteſtan-
tismus, aber weit über dieſes Abwägen Einzelner hinaus, ging
doch, als Grundſtimmung, durch die ganze europäiſche Chriſten-
heit das Doppelgefühl von Furcht und Haß gegen die Ungläubigen.
Das ſiegreiche Vordringen der Türken bis vor die Thore Wiens
(1683) war noch friſch im Gedächtniß und eine dunkle, im Volke
fortlebende Erinnerung an die Tartarenhorden, die einſt bis an
die Oder hin alles verwüſtet hatten, mochte, auch in den kurfürſt-
lichen Landen, wenigſtens die Vorſtellung einer möglichen Gefahr
und den guten Willen, ihr vorzubeugen, wachgerufen haben. *)
Wenn dieſes Gefühl ſchon im proteſtantiſchen Norden lebendig
war, ſo ſtieg es in den katholiſchen Ländern Südeuropas bis zu
einem Enthuſiasmus, ähnlich dem, wie ihn die Kreuzzüge geſehen
hatten. Von allen Seiten ſtrömten Freiwillige auf den Kampfplatz,
beſonders aus Spanien. In Wien fanden ſich dieſe Volontärs
zuſammen, darunter allein ſechzig Catalonier, und wurden dem
Stahrembergiſchen Regimente als eine eigene Truppe beigegeben.
Aſtorga, ein Spanier, führte dieſes Freiwilligencorps, das ſpäter vor
[27] Ofen mit höchſter Auszeichnung focht und beinahe vollſtändig aufgerie-
ben wurde. Gleich zu Anfang, bei einem der erſten Ausfälle der
Türken, fielen der Herzog de Vecha, ein Grand von Spanien, und
Karl Freiherr von Derfflinger, jüngſter Sohn des Feldmarſchalls,
der, von einer Reiſe in Italien eben zurückkehrend, in die Aſtorga-
ſche Volontärcompagnie eingetreten war. *)
Wir ſind aber, in der Abſicht den Geiſt zu ſchildern, der
damals das chriſtliche Europa durchwehte, Schöning weit voraus
geeilt, den wir zunächſt noch in Croſſen, an der märkiſch-ſchleſiſchen
Grenze wieder finden, wohin von Oſt und Weſt her, aus Königs-
berg und Cleve, die Truppen beordert waren, die nach dem Willen
des Kurfürſten das brandenburgiſche Hülfscorps bilden ſollten.
Der Kurfürſt ſelbſt nahm am 17. April die Muſterung ab. Ein
Augenzeuge beſchreibt die Truppen wie folgt: „Die Service war
überaus koſtbar und trachtete darinnen einer den andern zu über-
treffen, indem ſie etliche gar von Augsburg und andern Orten
hatten bringen laſſen. Die Infanterie war blau, die Artillerie
braun, die Cavallerie, ſowohl Reiter als Dragoner, in lederne
Collette gekleidet. Zwei Soldaten bekamen ein Zelt und einen
Strohſack (welch ein Train!), damit ſie, wenn ſie an einem Ort
anlangten, nicht nach Holz oder Stroh laufen dürften. Die Unter-
offiziere und Piquenire hatten Piſtolen im Gürtel und die Derff-
lingerſchen Bataillone Keſſel an der Seite; die Reiter und Dra-
goner führten dabei noch Dolche.“ So waren die achttauſend
[28] Brandenburger, die, durch Schleſien und den Jablunkapaß vor
die Türkenfeſtung Ofen zogen, Hans Adam von Schöning als
Oberſtcommandirender, General von Barfus und General von der
Marwitz als Nächſte im Commando.
Am 24. Juni trafen die Brandenburger vor Ofen ein, das
bereits ſeit mehreren Wochen von einer Reichsarmee von über
90,000 Mann unter Führung des Herzogs von Lothringen be-
lagert und durch 14,000 Janitſcharen und Spahis, unter Ober-
befehl von Abdurrahman Paſcha vertheidigt wurde. Zwölfhundert
Brandenburger, unter Befehl von General v. d. Marwitz, rückten
ſofort ohne allen Verzug in die Linie ein, avancirten unter dem
lauten Beifall der ganzen alliirten Armee bis auf fünfzig Schritt
an die Stadtmauer und ſtellten rechts und links ihre Verbindung
mit den Kaiſerlichen her. Die Feſtung war nun völlig cernirt;
aber noch über zwei Monate vergingen bis zum letzten ſiegreichen
Sturm, und während dieſer Monate wurden, wie die Belagernden
überhaupt, ſo auch namentlich die Brandenburger von immer
wachſenden Verluſten betroffen. Der Minenkrieg koſtete Opfer über
Opfer und die zahlreichen Ausfälle der Türken wurden immer
nur mit großem Verluſt von Menſchenleben zurückgeſchlagen. Von
den drei Grafen Dohna, die mit vor Ofen waren, fielen zwei,
während der dritte, Graf Chriſtoph, deſſen Memoiren für die Ge-
ſchichte jener Zeit und jener Belagerung ſo wichtig ſind, verwun-
det wurde. In Wahrheit traf das Sprüchwort zu, das damals in
Curs kam: „Je näher dem Ofen, je näher der Hitze.“ Thaten
größter perſönlicher Tapferkeit geſchahen von beiden Seiten. Lieute-
nant von Wobeſer, nachdem ſein älterer Bruder, ein Capitain im
Bataillon Prinz Philipp, von einem Spahi niedergeſäbelt war,
ging vor, um ſeinen Bruder zu rächen oder ſein Schickſal zu
theilen, und auf einen türkiſchen Anführer förmlich Jagd machend,
zerſchmetterte er ihm, im endlichen Zweikampf, mit einem Morgen-
ſtern den Kopf.
Der 17. Auguſt war der Tag, der über das Schickſal der
Feſtung entſchied. An dieſem Tag erſchien vor Ofen das große
[29] türkiſche Heer, 70,000 Mann ſtark, unter Führung des Groß-
veziers, das die Aufgabe hatte, die hart bedrängte Feſtung zu
entſetzen. Es kam zur Schlacht Angeſichts der Belagerten, und
das türkiſche Heer wurde geſchlagen. Von dieſem Augenblick an
war die Einnahme der Feſtung nur noch eine Frage der Zeit. Am
2. September ſchritten die Chriſten zum Sturme. Achttauſend
Mann, zur Hälfte Kaiſerliche, zur Hälfte Brandenburger, jene vom
Herzog von Croy, dieſe vom General von Barfus geführt, bilde-
ten die Sturmkolonne und drangen unwiderſtehlich vor. Nachdem
die Palliſaden erklettert waren, drang man in die Straßen der
Stadt ein. Nur Türken und Juden hausten darin und alles
wurde niedergemacht, leider auch Weiber und Kinder. Die Türken
ſteckten weiße Fahnen aus, zum Zeichen, daß ſie bereit ſeien ſich
zu ergeben, aber die Stürmenden riſſen die Fahnen nieder und
ließen alles über die Klinge ſpringen. Vergebens mühte ſich der
Herzog von Lothringen, dem Gemetzel ein Ende zu machen; neun-
tauſend wurden erſchlagen; ein Reſt von Janitſcharen, der ſich in
das feſte Schloß gerettet hatte, capitulirte am andern Tage. Unter
dieſen (da ſein Tod nicht gemeldet wird) befand ſich muthmaßlich
auch Abdurrhaman ſelbſt, ein geborner Schweizer mit Namen
Coigny. Schon während der Belagerung, war er von einem in die
Stadt geſchickten Parlamentäroffizier Namens Wattenwyl, als
Landsmann erkannt worden.
Auch die brandenburgiſchen Oberoffiziere waren, wie der
Herzog von Lothringen, bemüht geweſen, dem Blutvergießen Ein-
halt zu thun und hatten durch ihr Dazwiſchentreten gerettet, wo
noch zu retten war. Aber nur in einzelnen Fällen war es ihnen
geglückt. General von Barfus rief zwei Türken Pardon zu, welche
wie Verzweifelte ſich wehrten, und brachte ſie dem Kurfürſten als
die Tapferſten nach Berlin. Schöning dagegen hatte das Glück,
zwei ſchöne Türkinnen, noch Kinder, den Händen der alles nieder-
machenden Soldaten zu entreißen. Was aus dem älteren Mädchen
geworden, entzieht ſich unſerer Kenntniß; die jüngere aber wurde,
unter Beibehaltung ihres türkiſchen Namens, Fatime getauft
[30] und von Schöning, der ſie mit nach Tamſel nahm, ſorgfältig
erzogen.
Fatime kam ſpäter nach Warſchau, wo ſie eben ſo ſehr durch
ihre blendende Schönheit wie durch das romantiſche Intereſſe ihres
Geſchicks, aller Augen auf ſich zog und ein Glanzpunkt der Geſell-
ſchaft wurde. Unter ihren Bewerbern war auch König Auguſt, dem
ſie lange widerſtand, bis ſie endlich dem Grafen Rutowski das
Leben gab. Fatime vermählte ſich ſpäter in die Spiegelſche Familie;
ihr Sohn Rutowski aber ſtieg bis zum ſächſiſchen Feldmarſchall
und iſt, wenn wir nicht irren, derſelbe, der bei Ausbruch des
ſiebenjährigen Kriegs gezwungen war, bei Pirna zu kapituliren. *)
[31]
Doch wir kehren zu Schöning und dem Türkenkrieg zurück.
— Die Beute, welche in Ofen gemacht wurde, war überaus groß.
Namhafte Summen von Dukaten und Zechinen, ſo wie Edelſteine
und orientaliſche Perlen fielen den Siegern in die Hände. Unter
den fünfhundert großen Geſchützen, die man eroberte, befand ſich
auch eine vierundzwanzigpfündige Schlange mit dem brandenburgi-
ſchen Wappen, die nun dem Führer des brandenburgiſchen Hülfs-
corps als Trophäe zurückgegeben wurde. Außerdem überbrachte
Schöning dem Kurfürſten einen türkiſchen Roßſchweif und ein
paar tartariſche Pauken, Siegeszeichen, die ſich bis dieſe Stunde
im Berliner Zeughauſe vorfinden.
Der Rückmarſch ging wieder durch die Jablunka, und am
7. December trafen die Brandenburger wieder an der märkiſchen
Grenze ein. Sie hatten unzweifelhaft mit großer Tapferkeit gefoch-
ten (faſt die Hälfte war vor Ofen geblieben; 30 Offiziere todt und
61 verwundet) und die Türken gaben deßhalb den brandenburgi-
ſchen Soldaten nicht nur den Beinamen „Feuermänner“, ſondern
brachten auch das Sprüchwort in Umlauf: „der ſteht wie ein
Brandenburger.“ Schöning aber, von ſeinem Landesherrn reichlich
geehrt, empfing zugleich vom Kaiſer Leopold mannigfache Beweiſe
ſeiner Huld, darunter einen mit Diamanten beſetzten Degen von
großem Werth.
Wir nähern uns nun jener Epoche im Leben unſeres Hel-
den, die durch einen kleinen, ſcheinbar geringfügigen Vorfall den
Namen deſſelben ungleich bekannter gemacht hat, als aller Glanz
ſeiner Siege zuſammengenommen; ich meine ſeinen Streit mit
General Barfus. Das Perſönliche iſt immer das Siegreiche.
Die Schlachten und Belagerungen ſind vergeſſen, oder doch halb
vergeſſen, aber bis dieſen Tag lebt im Barnim- und Küſtrinſchen
*)
[32] das Sprüchwort fort: „Die haſſen ſich wie Schöning und Bar-
fus.“ Wir wollen erzählen, wie es zu dieſem Haſſe kam.
Schöning war ein Glückskind und hatte, freilich nicht ohne
großes perſönliches Verdienſt, ſeine Carrière über die Köpfe anderer
Leute hinweg gemacht. Er war ſechs Jahre jünger als Barfus
und doch ihm immer um ſechs Jahre voraus; das ergab eine
Differenz, oder, wenn man ſo will, eine Ungerechtigkeit von zwölf
Jahren. Der einundfünfzigjährige Barfus hatte vor Ofen unter
dem fünfundvierzigjährigen Schöning geſtanden, und zu der natür-
lichen Bitterkeit, die ſich einfach ſchon aus dieſen Zahlen ergeben
konnte, mochte ſich bei Barfus die Betrachtung geſellen, daß ihm
die grobe Arbeit des Belagerns und ſich Herumſchlagens, dem
Oberſtcommandirenden das Vergnügen des Repräſentirens, des
Dinirens im herzoglichen Zelt und ſchließlich die Entgegennahme
eines mit Diamanten beſetzten Degens zugefallen ſei. Jetzt, dritte-
halb Jahre ſpäter, im Sommer 1689, ſtanden beide Generale
ebenſo am Rhein, wie ſie damals an der Donau geſtanden hatten,
d. h. Schöning war abermals dem Barfus um einen Pas vor-
aus, und wiewohl ein vorliegender Bericht aus jener Zeit eigens
mit den Worten beginnt: „Es hat der Generallieutenant von
Barfus dem General-Feldmarſchall-Lieutenant von Schöning bis-
her jedesmal den gebührenden Reſpekt gegeben“, ſo wagen wir
doch, ohne das Gemeldete geradezu zu beſtreiten, die Vermuthung,
daß dem Barfus die „gebührenden Reſpektsbezeugungen“ in ſeinem
Herzen ſehr ſchwer geworden ſind.
Das Hauptkriegsereigniß im Sommer des genannten Jahres
war die Belagerung des von den Franzoſen beſetzten Bonn. Ehe
die Brandenburger unter des Kurfürſten und Schönings Führung
dazu ſchreiten konnten, war ein Zurückdrängen der Franzoſen aus
den kleineren Plätzen, die in der Nähe von Bonn lagen, nöthig.
Es kam dabei zum Gefecht bei Ordingen oder Uerdingen, das,
von Schöning trefflich entworfen und von Barfus, der den rech-
ten Flügel befehligte, mit vieler Bravour ausgeführt, dem Kur-
[33] fürſten Raum ſchaffte, Bonn enger und mit mehr Ausſicht auf
Erfolg zu umſchließen.
Die Belagerung hatte ſchon über zwei Monate gewährt (von
Ende Juni an), als von Mainz her, das vom Herzog Karl von
Lothringen belagert wurde, die Nachricht anlangte, daß ein fran-
zöſiſches Entſatzheer heranrücke und eine Verſtärkung des dortigen
deutſchen Belagerungsheeres dringend wünſchenswerth mache. Bar-
fus mit 6000 Brandenburgern wurde zu dieſem Zweck von Bonn
nach Mainz detachirt. Als er am 30. Auguſt vor dem Kurfürſten
Friedrich III. (ſpäter König Friedrich I.) erſchien, um ſich zu ver-
abſchieden, fand im Vorzimmer zwiſchen den beiden Generalen
folgende Scene ſtatt. *)
Barfus fand den Schöning auf einem Stuhle ſitzend, trat an
ihn heran und meldete: „daß er mit dem detachirten Corps nach
Mainz marſchire, was er hiemit dem Herrn Feldmarſchall-Lieutenant
zu wiſſen thue.“ Hierauf gab Schöning, wie es im Berichte heißt,
eine „choquante Antwort“ des Inhalts: „wie es ein Wunder
wäre, daß ihm der Barfus endlich einmal die Civilität thäte
und ihm die gebührende Meldung machte.“ Barfus, dieſer choquan-
ten Sprache begreiflicherweiſe choquant begegnend, antwortete ſchnell,
„daß er die Meldung nur auf Befehl des Kurfürſten gemacht
und ſie ſicher unterlaſſen haben würde, wenn er gewußt hätte, daß
er einer ſolchen Antwort zu begegnen habe.“ Darauf Schöning:
„auch ohne Befehl des Kurfürſten wäre die Meldung ſeine Schul-
digkeit geweſen.“ Darauf trennte man ſich.
Aber dieſe Scene im Vorzimmer war nur Vorſpiel. Barfus,
3
[34] als er eben das Haus verlaſſen hatte, hörte ſich von dem hinter
ihm her eilenden Schöning angerufen, der ihn jetzt aufforderte,
mit ihm auf die Seite zu treten. Barfus war dazu bereit;
Schöning aber, ſtatt bei Seite zu treten, ſtellte ſich etwa hundert
Schritte vor der Hauptwache auf und rief Barfus zu, er ſolle den
Degen ziehen. Barfus durchſchaute das Spiel, das offenbar darauf
aus war, ihn Angeſichts von Zeugen zu einer Inſubordination,
zu einem Angriff hinzureißen, und ließ bedächtig den Degen in
der Scheide. Schöning aber wiederholte ſein: „Zieht, Herr Gene-
rallieutenant!“ und rief ihm endlich zu: „Der Teufel ſoll mich
holen, wenn dieſer Barfus das Herz hat, den Degen zu ziehen!“
Dabei ſchlug er zu gleicher Zeit dem Barfus den Stock aus der
Hand, auf den ſich dieſer in vorgebogener Stellung während des
ganzen Zwiegeſprächs geſtützt hatte. Barfus bückte ſich, um den
Stock wieder aufzuheben, und ſtieß dann mit dem ſpaniſchen Rohr
nach Schöning, was dieſer durch einen Stoß gegen des Gegners
Hals erwiederte. Das war zu viel. Barfus fluchte: „Ei Sacra-
ment!“ und zog ſeinen Degen. Schöning ſah ihm lächelnd zu,
und ſeine beiden Arme in einander geſchlagen, rief er jetzt: „Haha,
Monſieur zieht ſeinen Degen zuerſt!“ und zog dann auch. Es
ſprangen aber andere Militärs dazwiſchen und die Streitenden
wurden getrennt. Arreſt folgte.
Dieſer Vorfall machte größeres Aufſehen als die ganze Be-
lagerung von Bonn (die beiläufig am 2. Oktober mit Uebergabe
der Feſtung endete) und führte neun Monate lang zu einem halb
juriſtiſchen, halb diplomatiſchen Kampf, in dem ſich die gegenüber-
ſtehenden Parteien, die Schöning’ſche und die Barfus’ſche, in un-
zähligen Briefen, Eingaben, Gutachten ꝛc. befehdeten. Aber die
Partei Barfus war ſtärker. Die einflußreichſten Leute des Hofes,
Danckelmann, Spanheim, Otto von Schwerin, alle nahmen, ent-
weder weil die Sachlage oder der hochfahrende Charakter Schönings
zu Gunſten Barfus ſprach, die Partie des letzteren, und am
17. Juni 1690 erſchien endlich folgendes kurfürſtliches Reſcript,
das Schöning, ohne einem Rechtsſpruch vorzugreifen, in ziemlich
[35] ungnädigen Worten aus dem brandenburgiſchen Dienſt entließ:
„Se. kurfürſtliche Durchlaucht haben Sich unterthänigſt referiren
und in Dero Geheimen Rath vortragen laſſen: was Dero würk-
lich Geheimer Kriegsrath und General-Feldmarſchall-Lieutenant, der
von Schöningen, sub. dato Weißen-See bei Berlin den 11. Juni
gehorſamſt ſupplicirt und gebeten. Wohin denn S. K. Durch-
laucht Sich dahin nochmalen in Gnaden erklären: daß Sie nicht
unterlaſſen werden, in den zwiſchen gemeldetem Feldmarſchall-
Lieutenant und dem General-Lieutenant von Barfus entſtandenen
Mißhelligkeiten gebührende Juſtiz adminiſtriren und ſolche rechtlich
unterſuchen, erörtern und dediciren zu laſſen. Daß aber S. K.
Durchlaucht Dero General-Lieutenant des von Barfuſen Perſon
zu Dero Dienſten bei Ihrer Armee indeſſen zu employiren reſol-
viret, deſſen haben Se. kurfürſtliche Durchlaucht ſowohl wegen
deren hohen Intereſſe und Dienſten, als auch in Conſideration
ſeiner, des von Barfuſen, bisher obſervirten unterthänigſten Con-
duite und ſonſten bewegende Urſachen gehabt und laſſen es auch
darbei nochmalen gnädigſt bewenden, können Sich auch darunter
von Niemanden Ziel noch Maaß ſetzen oder vorſchreiben laſſen.
Sie wollen aber auch dem Feldmarſchall von Schöning nicht
wehren, ſondern ihm vielmehr auch gnädigſt erlauben, in einiger
auswärtiger alliirter Potentaten Dienſte, welche Deroſelben und
der guten Sache nicht zuwider ſein, interimsweiſe zu treten,
wenn er vorher dieſelbe wird namhaft gemachet haben. — In-
deſſen wiederholen Sr. kurfürſtliche Durchlaucht Dero früher er-
gangene gnädigſte Verordnung hiemit und befehlen dem General-
Feldmarſchall-Lieutenant von Schöning nochmalen gnädigſt und
ernſtlichſt: ſich nicht allein dero hieſigen Reſidenzſtädte zu enthal-
ten, ſondern auch aus bewegenden Urſachen, die ſo nahe daran
gelegenen Oerter zu meiden und ſich daſelbſt nicht ferner aufhalten
oder finden zu laſſen.
Cölln a. d. Spree, den 17. Juni 1690.
Friedrich.
gegengez. Eberhardt v. Danckelmann.“
3*
[36]
Aus dieſem Reſcript (das wir dem nur als Manuſcript exi-
ſtirenden Werke: „Geſchichtliche Nachrichten über die Familie von
Schöning verdanken) geht unverkennbar hervor, daß, abgeſehen
vom Streite ſelbſt und von der ſchwebenden Frage: wer hat
Recht? General Barfus in allem, was folgte, klug genug war,
ſich nachgiebig gegen die kurfürſtliche Autorität zu zeigen, während
der bedeutendere, aber rechthaberiſche, überall anſtoßende Schöning,
den Kurfürſten und ſeine Umgebung durch die Art ſeiner Rechts-
forderung verletzte. Während der Streit ſchwebte, hatte er, muth-
maßlich bedeutet, die Reſidenz unter allen Umſtänden zu meiden,
abwechſelnd in Tamſel und Weißenſee gelebt; jetzt, nachdem das
oben mitgetheilte Reſcript die Streitfrage praktiſch zum Abſchluß
gebracht, verließ er die Heimath, die ſeinem Wirken und ſeinem
Ehrgeiz keinen Schauplatz mehr bot, und am 9. April 1691 trat
er als Feldmarſchall in kurſächſiſchen Dienſt.
Wir begleiten Hans Adam, der vom 2. September 1689
an bis zu ſeinem Eintritt in ſächſiſchen Dienſt, faſt ausſchließlich
in Tamſel lebte, nun durch ſeine letzten Lebensſchickſale. Mit
äußeren Ehren gingen wachſende Kränkungen Hand in Hand.
Schöning war nicht allein in ſächſiſchen Dienſt getreten; dreißig
brandenburgiſche Offiziere waren ihm gefolgt und innerhalb der
ſächſiſchen Armee wurden nun ähnliche Empfindungen rege, wie
vier Jahre zuvor im Brandenburgiſchen, als Feldmarſchall Schom-
berg, gefolgt von ſeinen Söhnen und andern franzöſiſchen Re-
fugiés, über die Köpfe der alten brandenburgiſchen Generale hin-
weg (z. B. Derfflingers, der es auch ſehr übel nahm) in die
brandenburgiſche Armee eintrat. Hier wie dort glaubte man Ein-
dringlinge vor ſich zu haben und bittere Empfindungen griffen
Platz. Neuerungen, die Schöning einzuführen Miene machte, mach-
ten ihn vollends nicht beliebt, und er mochte von Glück ſagen,
daß ein Feldzug am Rhein, zu dem auch ſächſiſche Truppen be-
[37] ordert wurden, die Gedanken der Unzufriedenen in andere Bah-
nen lenkte.
Aber von anderer Seite her kam größere und ernſtere Ge-
fahr. Die ſächſiſchen Truppen im kaiſerlichen Heere waren während
der Rheincampagne 1691 herzlich ſchlecht gehalten, ja bei Gelegen-
heit der Winterquartiere in einer Weiſe behandelt worden, daß es
einer Beleidigung oder Mißachtung des Kurfürſten von Seiten
des Wiener Hofes ziemlich nahe kam. Hiegegen lehnte ſich Schö-
ning, der ſeinem neuen Herrn in Ernſt und Treue diente, energiſch
auf und drang in ihn, bei der kaiſerlichen Armee nur das Reichs-
contingent (3000 Mann) zu belaſſen. „Schöning“ — ſo erzählt
Paul von Gundling in einem Manuſcript, das der Berliner Bi-
bliothek angehört — „handelte ſehr ſicher und war in ſeinen Re-
den wider des Kaiſers Majeſtät ſehr frei. Dadurch wurde indeſſen
ſeine Stellung gegen den Kaiſer ſelbſt ſehr gefährlich, um ſo ge-
fährlicher, als eben jetzt ein franzöſiſcher Abgeſandter, Namens
Bidal, in Dresden eingetroffen war, der häufig mit dem Kurfür-
ſten und Schöning verhandelte. Der Miniſter Clary (öſterreichiſcher
Geſandte) ermangelte nicht, über alles ſehr übertriebene Berichte
nach Wien zu erſtatten.“
Kurz, man glaubte alsbald in Wien an ein ſächſiſch-franzö-
ſiſches Bündniß, oder gab ſich wenigſtens das Anſehen, an ein ſol-
ches zu glauben, um, geſtützt darauf, einen Coup ausführen und
die unbequeme Geſtalt Schönings vom ſächſiſchen Hofe entfernen
zu können. Schöning ſelbſt hatte keine Ahnung von dem, was
ihm drohte. Er reiſte, ſeit längerer Zeit ernſtlich am Podagra lei-
dend, in die Bäder von Teplitz. Hier wurde er, auf den eben ge-
ſchilderten Verdacht hin, von den Oeſterreichern aufgehoben, ganz
unter ähnlichen Umſtänden, wie ſechszig Jahre früher Hans Georg
von Arnim (ebenfalls ein Brandenburger und ſächſiſcher Feldmar-
ſchall) von den Schweden aufgehoben und nach Stockholm trans-
portirt worden war.
Ueber die Art der Aufhebung Schönings liegt uns folgender
Bericht vor. — In der Nacht zum 23. Juni marſchirte ein Offi-
[38] zier mit zweihundert Mann von Prag aus nach Teplitz, umſtellte
Schönings Wohnung, ließ ohne weiteres eine Salve geben, brach
mit Gewalt in’s Haus ein und nahm den Feldmarſchall gefangen,
der, im bloßen Hemd aus dem Bett geſprungen, kaum Zeit ge-
funden hatte, einen Schlafrock überzuwerfen. So, mit bloßen Fü-
ßen, ſetzte man ihn in eine Kaleſche, der Offizier und zwei Mann
bei ihm, und fuhr im ſchnellſten Galopp der Feſtung Prag zu.
Der Adjutant des Feldmarſchalls, Major von Droſte, jagte ſofort
dem Wagen nach und griff die ſchwache Bedeckung an. Als aber
einer der Soldaten das Gewehr auf Schöning anlegte und dieſen
zu erſchießen drohte, überließ Droſte den Feldmarſchall den Händen
ſeiner Ueberwinder. Von Prag brachte man ihn nach dem Spiel-
berg bei Brünn und führte dort ſein Verhör. Man wollte einen
zweiten Wallenſtein aus ihm machen und hielt die Meinung auf-
recht, daß er nicht ohne Abſichten nach dem Reichscommando ge-
ſtrebt habe. Aber alle Bemühungen, ihn zu einem Hochverräther,
zu einem „Verbrecher gegen die Intereſſen des Reichs“ zu machen,
waren vergeblich.
Sachſen war durch dieſen eigenmächtigen Schritt auf’s ſchwerſte
beleidigt und zog zunächſt die 3000 Mann zurück, die es als
Reichscontingent geſtellt hatte; alle Schritte aber, die Freilaſſung
Schönings zu erwirken, blieben fruchtlos, bis endlich, nach zwei
Jahren ſchmählicher Gefangenſchaft, der Regierungsantritt Friedrich
Auguſts, (Auguſt der Starke, König von Polen) und die energi-
ſchen Proteſte deſſelben, Schöning die Freiheit wiedergaben. Um die
Ausſöhnung vollſtändiger zu machen, erſchien jetzt der bis dahin ge-
fangen Gehaltene vor Kaiſer und Kaiſerin zur Audienz, und da
er eben damals ſchwer vom Podagra geplagt wurde, ward er in
einem Seſſel vor die beiden Majeſtäten getragen, ein Um-
ſtand, der nicht ermangelte, in ganz Europa die größte Senſation
hervorzurufen.
Es war das viel Auszeichnung, auch namentlich wohl in den
Augen Schönings, deſſen Herz beſonders empfänglich war für der-
artige Huldigungen; aber die Süßigkeit ſolcher Stunden konnte
[39] doch nicht wiedergeben, was jahrelange Verbitterung dem Herzen
genommen hatte. Gefeiert, aber krank und im Innerſten gebrochen
(ſein Lieblingsſohn war kurz zuvor geſtorben), zog er in Dresden
ein und die Gnadenbezeugungen Friedrich Auguſts begleiteten nur
noch einen Hinſcheidenden. Er erkrankte; Podagra und Steinſchmer-
zen zehrten an ſeinem Leben, Carlsbad verſagte den Dienſt, und
am 28. Auguſt 1696 ſchied er, matt und müde, aus dieſer Welt
der Zeitlichkeit. Seine Leiche ward einbalſamirt und in der Kreuz-
kirche zu Dresden ausgeſtellt, dann aber am 25. November nach
der Neumark übergeführt und am 4. December in der Kirche zu
Tamſel beigeſetzt. Dort ruht er noch jetzt in einem kupfernen Sarg,
mit Gold reich verziert, ein Crucifix auf dem Deckel.
Wir verſuchen zum Schluß noch eine Schilderung Schönings,
ſowohl ſeiner äußern Erſcheinung wie ſeines Charakters. Er war,
namentlich dem Bruſtbilde nach zu ſchließen, deſſen Original ſich
auf der Feſtung Königſtein und, in Copie, in Händen der Schö-
ning’ſchen Familie befindet, ein ſchöner Mann, in deſſen Zügen ſich
Soldatiſches und Hofmänniſches, Strenge und Glätte, viel Selbſt-
bewußtſein und ein ironiſches Lächeln über die Eitelkeiten dieſer
Welt in intereſſanter Weiſe miſchten. In andern Porträts (z. B.
auf einer Denkmünze, die gleich nach ſeinem Tode geprägt wurde,
ſo wie ferner auf einem großen Reiterbilde im Tamſeler Schloß)
tritt das ſtreng Militäriſche beinahe ausſchließlich hervor; doch iſt
es fraglich, ob letzteren Bildniſſen die Bedeutung von Porträts
beigemeſſen werden darf, oder ob ſie nicht vielmehr jenen bloßen
Ruhmes- und Ehrenbildniſſen zuzurechnen ſind, die nach dem Tode
eines berühmten Mannes auf gut Glück hin angefertigt wurden,
viel mehr in der Abſicht, ihn durch bildliche Darſtellung, gleichviel
wie, überhaupt zu feiern, als durch correkte Wiedergabe ſeiner
Züge ſeinem äußern Menſchen gerecht zu werden.
Uns von Schönings Charakter ein Bild zu entwerfen, iſt
[40] nicht eben ſchwer, wenn wir den Berichten über ihn, die in ziem-
licher Anzahl auf uns gekommen ſind, unbedingten Glauben ſchen-
ken wollen. Es bleibt aber doch fraglich, ob dieſen Schilderungen,
trotz des Uebereinſtimmenden, das ſie haben, in allen Stücken zu
trauen iſt. Alle Mittheilungen über ihn rühren nämlich von ſeinen
Gegnern her, und man würde die Pflicht haben, mit Rückſicht auf
dieſen Umſtand die höchſte Vorſicht walten zu laſſen, wenn nicht
andererſeits die Erwägung, daß alle Berichte nur eben deßhalb
von lauter Gegnern herrühren, weil er nur Gegner hatte,
uns nothwendig darauf hin verwieſe, daß etwas entſchieden Un-
liebenswürdiges in ſeiner Natur gelebt haben und die Quelle aller
dieſer Gegnerſchaften geworden ſein muß. Barfus, die Schombergs
(Vater und Sohn), Danckelmann, Grumbkow (der Vater des be-
kannten), Otto von Schwerin, Graf Chriſtoph Dohna, alle waren
gegen ihn, und die Memoiren des letzteren, wenn wir Gutes und
Böſes, das ſie erzählen, zuſammenfaſſen, ſchildern ihn als einen
begabten Feldherrn voll Muth, Umblick und Geiſtesgegenwart,
aber zugleich auch als einen anmaßenden und habſüchtigen Mann,
von ſpöttiſchem und zweideutigem Weſen. Seiner geiſtigen Ueber-
legenheit ſich bewußt, behandelte er, was unter ihm ſtand, mit
Härte, und was neben ihm ſtand, mit Geringſchätzung.
Dieſe Schilderung wird im Weſentlichen richtig ſein. Sein
Streit mit General Barfus, den wir oben ausführlicher erzählt
haben, zeigt ihn uns ganz von dieſer Seite. Auch Barfus wird
ſeinerſeits, in den Pöllnitz’ſchen Memoiren, ebenfalls „auffahrend,
halsſtarrig und hochmüthig“ genannt; aber eine Reihenfolge von
Umſtänden ſpricht dafür, daß Schöning in allem, was Dünkel und
Hochmuth anging, wenigſtens ein potenzirter Barfus war. Schö-
ning war wie Barfus und Barfus war wie Schöning, aber der
letztere hatte von allem, vielleicht auch vom Guten, ſicherlich an
Talent, ein voller geſchüttelt und gerüttelt Maaß. Mit Barfus,
trotz ſeines auffahrenden Weſens und ſeiner Halsſtarrigkeit, war es
immerhin möglich, in Ruh und Frieden zu leben, wenigſtens fehlt
es an Berichten, die zu entgegengeſetzter Anſicht zwängen; mit
[41] Schöning aber erſchien überall der Unfriede und die Gekränkten
und Beeinträchtigten wichen ihm entweder aus, d. h. quittirten
den Dienſt, oder forderten ihn zum Duell. *) Auch dem Kurfürſten
(Friedrich III.) gegenüber verdarb er es, während der Barfusſtreit
noch ſchwebte, durch ſeinen anmaßenden Ton. Er mußte Recht
haben, er war ja Schöning; in dieſem Sinne ſtellte er ſeine An-
träge, und dies war es, was ihn endlich ſtürzte, nachdem er ſich
längſt um alle Sympathien gebracht hatte.
So weit nehmen wir nicht Anſtand, in die Angriffe ſeiner
Feinde (auch den Vorwurf der Habſucht abzuweiſen, möchte ſchwer
ſein) mit einzuſtimmen; aber wenn wir auch die Schatten, die
ſein Charakter aufweiſt, weder leugnen noch ſie verringern wollen,
ſo können wir ihm doch dadurch gerecht werden, daß wir ſeine
Lichtſeiten mehr hervortreten laſſen, als ſeine befangenen Zeitge-
noſſen es konnten oder wollten. Schöning hatte keine Freunde
unter denen, die ihm gleich ſtanden, aber diejenigen, die über ihm
ſtanden, und zwar je höher je mehr, dieſe zeichneten ihn aus und
gaben ihm die Beweiſe eines beſonderen Vertrauens. Kurfürſt
Friedrich III. war zu unſelbſtſtändig, zu unkriegeriſch, trotz ſeiner
Kriege, und perſönlich zu leicht verletzbar, um über die Vorzüge
Schönings die Schwächen deſſelben vergeſſen zu können; der große
Kurfürſt aber und Friedrich Auguſt der Starke bewieſen ihm
dauernd ihre Werthſchätzung und ihre Huld. Seine Stellung, zu-
mal zum großen Kurfürſten, erinnert an das Verhältniß, das Win-
terfeldt, ſiebzig Jahre ſpäter, zum großen König einnahm. Auch
Winterfeldt erkaufte die Liebe Eines durch den Haß Vieler. Die
Vorwürfe, die gegen ihn erhoben wurden, waren zum Theil die-
[42] ſelben: Hochmuth, Herrſchſucht, Zweideutigkeit; nur der Habſucht
wagte man ihn nicht zu bezüchtigen. Schöning wurde mit 37 Jah-
ren General, mit 48 Jahren Feldmarſchall; dieſe beiden Angaben
genügen, um zu zeigen, was er war. Zwei Höfe, der brandenbur-
giſche und der ſächſiſche, wetteiferten in Anerkennung ſeines militä-
riſchen Verdienſtes. Dieſes Verdienſt war unbeſtreitbar da, aber
freilich, der Stolz über ſeine Gaben verdunkelte dieſe, oder machte
die Welt unwillig, da anzuerkennen, wo die höchſte Selbſtſchätzung
nichts mehr zu ſchätzen übrig ließ.
Er war ſeiner Umgebung überlegen, namentlich weltmänniſch,
aber ſein ſpöttiſcher Mund verrieth zu viel davon und brachte ihn
um die beſte Frucht des Lebens, die Liebe der Menſchen. In
wenigen Herzen hat er ſich eine Stätte gebaut, nur die Tamſeler
Fiſcher haben ihm eine poetiſch-phantaſtiſche Erinnerung bewahrt
bis dieſen Tag. Wie Derfflinger in Guſow und der alte Sparr
in Prenden, ſo lebt Schöning in Tamſel als ein „Zauberer“ fort,
und ſie erzählen daſelbſt von ihm (ohne Fichten geht es nicht ab in
brandenburgiſcher Sage), er ſei an der Spitze eines märkiſchen
Fichtenwaldes vor die Türkenfeſtung Ofen gerückt, habe durch einen
Zauberſpruch all ſeine Fichten in baumhohe Pickeniere verwandelt
und dann, wie der Birnamwald vor Schloß Dunſinan, die Tür-
kenfeſtung geſtürmt. — In den zwanziger Jahren dieſes Jahrhun-
derts lebte das alles noch in einem Volkslied, das die Tamſeler
Fiſcher zu ſingen pflegten; nun iſt das Lied verklungen und nur
noch die Sage geht von Mund zu Mund.
[[43]]
Kronprinz Friedrich und Frau v. Wreech.
Beſchäme, ſtrafe den unwürdigen Zweifel.
Schiller.’
Nach des Feldmarſchalls Tode fiel Tamſel an den einzigen
Sohn deſſelben, der muthmaßlich ſchon bei Lebzeiten des Vaters, die
Verwaltung der Familiengüter übernommen hatte. Aber das ſchöne
Schloß, das die Hand Griechiſcher Künſtler geſchmückt hatte, ſchien
kein Glück, keine Fülle des Lebens für alle diejenigen zu beher-
bergen, die den Namen Schöning führten, und kaum anderthalb
Jahrzehnte nach dem Tode des berühmten Vaters, folgte ihm der
unberühmte Sohn in die Gruft.
Dieſer Sohn war der letzte Schöning der Linie Tamſel. Er
hinterließ nur eine einzige Tochter Louiſe Eleonore, die, damals
ein Kind noch, unter Vormundſchaft ihrer Mutter, die reiche Erb-
ſchaft antrat. Louiſe Eleonore war mit 4 Jahren die Erbin von
Tamſel und mit 14 Jahren die Gemahlin des Oberſten Adam
Friedrich v. Wreech. Sie war 7 Jahre mit dieſem vermählt, alſo
21 Jahre alt, als der damals neunzehnjährige Kronprinz
Friedrich, muthmaßlich in den letzten Tagen des Auguſt 1731
(bis dahin hatte er die Feſtung Küſtrin nicht verlaſſen dürfen)
ſeinen erſten Beſuch in Tamſel machte.
Es iſt bekannt, daß der Prinz dieſem erſten Beſuche weitere
Beſuche folgen ließ und alsbald ein intimes Verhältniß mit der
ſchönen Frau v. Wreech anknüpfte, das bis in die letzten Tage
ſeines Küſtriner Aufenthaltes hinein, alſo bis Ende Februar 1732,
fortgeſetzt wurde.
Die Frage drängt ſich auf, welcher Art waren dieſe Be-
ziehungen? War es ein intimes Freundſchaftsverhältniß, oder war
[44] es ein anderes? Die Anſchauungen, die bis jetzt darüber gegolten
haben, waren dem guten Rufe der ſchönen Frau nicht allzu gün-
ſtig; verſchiedene eigenhändige Briefe jedoch, die der Kronprinz
eben damals an Frau v. Wreech richtete und deren Inhalt, ja
deren Exiſtenz erſt in neueſter Zeit bekannt geworden iſt, werden
vielleicht im Stande ſein, die gäng und geben Anſichten über die-
ſen Punkt weſentlich zu modificiren. Dieſe an Frau v. Wreech
gerichteten Briefe, die ſich jetzt im Beſitz einer Urenkelin derſelben
befinden, wurden von der letzteren Dame, in ihrem von der Groß-
mutter auf ſie vererbten Berliner Hauſe, zufällig aufgefunden, als
ihr, beim Ordnen von Papieren, ein ziemlich vergilbtes Packet mit
der kurzen Bezeichnung: „Papiers concernant la famille de
Wreich“ in die Hände fiel. Ein zweiter Umſchlag führte die Auf-
ſchrift: „Lettres et vers de certain grand Prince,“ woran
ſich, wie zu beſtimmterer Bezeichnung des Inhalts, die Worte
reihten: „Lettres de Fréderic II. (comme Prince royal) à
Mad. de Schoening et à sa fille Mad. de Wreich.“
Dieſe Briefe ſind auf gewöhnlichem grobem Schreibpapier
und oft bis an den unterſten Rand hin voll geſchrieben; die Li-
nien ſind krumm, die Orthographie höchſt mangelhaft und die
meiſten leider nicht datirt; nur einer trägt das völlige Datum und
zwar den 5. September 1731. Doch ergiebt ſich aus dem Inhalt
der Briefe mit Beſtimmtheit, daß ſie zwiſchen Ende Auguſt 1731
und Ende Februar 1732 geſchrieben ſein müſſen.
Die Bedeutung dieſer Briefe iſt eine doppelte. Sie werfen,
wie ſchon angedeutet, nach meiner Meinung ein ganz beſtimm-
tes und ein ſehr vortheilhaftes Licht auf die Art des Verhält-
niſſes, das zwiſchen dem Kronprinzen und Frau v. Wreech be-
ſtand; ſollten aber die traditionell gewordenen Anſchauungen über
dies Verhältniß durch den Inhalt dieſer Briefe nicht erſchüttert
werden, ſo werden die letzteren doch unter allen Umſtänden das
Gute haben, an die Stelle bloßer Ueberſchriften, einen verhältniß-
mäßigen Reichthum von Details und an die Stelle des blaſſen
[45] Allgemeinen, beſtimmtere Farben und plaſtiſchere Geſtaltung geſetzt
zu haben.
Denn die „Frau v. Wreech-Literatur“ (wenn man dieſen
Ausdruck geſtatten will) war bisher eine ziemlich kümmerliche, und
die Zuſammenſtellung alles deſſen, was man wußte, hatte auf
einem Quartblatt Platz. Es waren eigentlich nur zwei Brief-Ci-
tate, von denen das eine Citat einem Briefe des Grafen Schu-
lenburg (wenn ich nicht irre, an Grumbkow), das andere Citat
einem Briefe Grumbkows an Seckendorf entnommen war. Beide
Citate unterſchieden ſich von einander dadurch, daß ſich das eine
mit der Perſönlichkeit der Frau v. Wreech, das andere mit der
Art ihres Verhältniſſes zum Kronprinzen beſchäftigte; aber beide
Briefſtellen waren äußerſt aphoriſtiſch, und während Schulenburg
meldete: „Frau v. Wreech ſei ſehr ſchön und habe einen Roſen-
und Lilien-Teint,“ ſprach Grumbkow von einer „ſtarken amour,“
in die der Prinz verfallen ſei, und fügte einige derbe Worte hin-
zu, die der König, gewiſſermaßen in Billigung und Gutheißung
des Verhältniſſes, geäußert haben ſollte. Dies iſt Alles. Wohl
ſprechen die diplomatiſchen Klatſch-Briefe, die damals mit wichtig-
ſter Miene hin- und hergeſchrieben wurden, von allerhand „De-
bauchen,“ in die der Prinz verfallen ſei, dieſer Ausdruck aber be-
zieht ſich erſichtlich nur auf ſein Küſtriner Leben und nicht auf
ſeine Tamſeler Beſuche. Ja, ich möchte weiter gehen und die Be-
hauptung wagen, daß Tamſel damals die Kehrſeite, der Gegen-
ſatz von dem Küſtriner Leben geweſen ſei, ganz geeignet, durch
Sitte, Feinheit und Anſtand ein Leben wieder zu reguliren, das
ſolcher Regulatoren allerdings dringend bedürftig war.
Auch wir heute, geſtützt auf die Briefe des Kronprinzen, be-
ſchäftigen uns zunächſt mit der Perſönlichkeit und dem Cha-
rakter der Frau v. Wreech. Haben wir dieſe beiden feſtgeſtellt, ſo
haben wir, anderer Aufklärungen zu geſchweigen, bereits viel ge-
wonnen; denn die Handlungen der Menſchen ſind im Einklang
mit ihrem Sein.
„Ein Teint wie Lilien und Roſen“ ſchreibt Schulenburg und
[46] ſtellt durch dieſe wenigen Worte, das Bild einer ſchönen Blondine
vor uns hin, jung, heiter, blendend, von gefälligen Formen. Aber
die Briefe des Kronprinzen geben uns mehr: ſie beleben, ſie durch-
geiſtigen die ſchöne Geſtalt. Frau v. Wreech ſcheint ſich Ausgangs
November 1731, während der Vermählungstage der Prinzeſſin
Wilhelmine in Berlin, mit bei Hofe befunden zu haben, und wäh-
rend dieſer Tage iſt es, daß der Kronprinz ſich niederſetzt, um an
Frau v. Schöning, die Mutter der Frau v. Wreech, zu ſchreiben.
„Madame, ſo heißt es in dieſem Briefe, ich habe das Vergnügen
gehabt Ihre Frau Tochter in Berlin zu ſehen. Ich ſah ſie, aber
ſo flüchtig, daß ich kaum Gelegenheit fand, ihr guten Tag und
guten Weg zu wünſchen. Dennoch, ſo kurze Zeit ich ſie ſah,
konnte mir es nicht entgehen, wie ſehr ſie ſich vor allen anderen
Damen des Hofes auszeichnete, und obſchon ein ganzer Haufe von
Prinzeſſinnen (une foule de princesses) zugegen war, die an
Glanz ſie übertrafen, ſo verdunkelte Ihre Frau Tochter doch alle
durch Schönheit und majeſtätiſche Miene, durch Haltung und feine
Sitte. Ich war wirklich in einer Tantalus-Lage, immer verſucht
zu einer ſo göttlichen Perſon (à une si divine personne) zu
ſprechen, und nichts deſto weniger zum Schweigen verpflichtet.
Ihre Schönheit feierte ſchließlich einen völligen Triumph und al-
les am Hofe kam überein, daß Frau v. Wreich den Preis der
Schönheit und feinen Sitte davontrage. Dieſe Worte müſſen Ih-
nen wohlthun, da Sie dieſer liebenswürdigſten aller Frauen ſo
nahe ſtehen. Aber ſeien Sie verſichert, Madame, daß Ihre Theil-
nahme an dieſem Allem nicht lebhafter ſein kann, als meine eigene,
der ich Alles liebe, was dieſer liebenswürdigen Familie zugehört,
und immer bin und ſein werde Ihr ergebenſter Freund, Neffe und
Diener Friedrich.“
Wenn uns dieſer Brief von der Feinheit und Grazie der
ſchönen Frau erzählt, ſo erzählt uns ein anderer Brief von dem
Reſpect, den ihre Gegenwart einzuflößen verſtand. Der Kron-
prinz ſchreibt unterm 5. September 1731 an Frau v. Wreech
ſelber:
[47]
„Ich würde die härteſte Strafe verdienen, in Ihrer Ge-
genwart eine betise wie die geſtrige begangen zu haben, wenn
ich nicht Entſchuldigungen hätte, die glaub ich (einigermaßen) ſtich-
haltig ſind. Der Graf ſagte wirklich Dinge, die mir ganz und
gar nicht gefielen, Dinge, deren raſche und ruhige Verdauung
über meine Kräfte ging. Dennoch hab’ ich nur allzu guten Grund,
Ihre Verzeihung für mein albernes Betragen nachzuſuchen. Sie
werden mir erlauben, meinen letzten Beſuch durch einen anderen
wieder gut zu machen, wo ich verſuchen will, wenn’s möglich iſt,
den Eindruck meiner geſtrigen Thorheit zu verwiſchen.“
So am 5. September. Aber die aufgefundenen Briefe fügen
dem Bilde weitere Züge hinzu und wir ſehen Frau v. Wreech
nicht nur im Beſitz von Jugend, Schönheit und einer Reſpect er-
zwingenden Haltung, — wir gewinnen auch einen leiſen Einblick
in ihre geiſtige Begabung und in die Liebenswürdigkeit ihres Cha-
rakters. Am 20. Februar 1732 ſchreibt der Kronprinz:
„Ich würde ſehr undankbar ſein, wenn ich Ihnen nicht mei-
nen Dank darüber ausſprechen wollte, einmal, daß Sie überhaupt
nach Tamſel kamen und dann, daß Sie mir die reizenden Verſe
überreichten, die Sie für mich gemacht hatten. Ich hätte mich
einer Sünde ſchuldig zu machen geglaubt, wenn ich die Verſe
gleich geleſen und dadurch, wenn auch nur auf einen Augenblick,
mich um den Zauber Ihrer Unterhaltung gebracht hätte. Geſtern,
in abendlicher Einſamkeit, fand ich Gelegenheit, Alles in ungeſtör-
teſter Muße zu leſen und zu bewundern. Da haben Sie meine
Kritik. Alles, was von Ihnen kommt, entzückt mich durch Geiſt
und Grazie. Doch genug, — ich breche ab, ſeh ich Sie im Geiſte
doch ohnehin erröthen. Ihrer Beſcheidenheit aber jedes wei-
tere Verlegenwerden zu erſparen und zugleich von dem Wunſche
geleitet, Ihnen einen neuen Beweis meines blinden Gehorſams zu
geben, ſchicke ich Ihnen, was Sie von mir gefordert haben.“
Das, was der Prinz ſchickt, was Frau v. Wreech von ihm
gefordert hat, iſt ſein Portrait, und er begleitet daſſelbe mit
einem Abſchieds-Sonett, deſſen Liebesgeſtändniß, eben weil es Ab-
[48] ſchiedszeilen ſind, vielleicht ein gut Theil ernſthafter zu nehmen iſt,
als alle die andern gereimten Huldigungen, auf die ich ſpäter zu-
rückkomme. Das Sonett lautet:
Ich habe die Ueberſetzung dieſes Sonetts mit gutem Vor-
bedacht hierher geſtellt, weil es mir, ganz abgeſehen von ſeinem
Inhalt oder ſeinem Werth oder Unwerth, ganz einfach in ſeiner
Eigenſchaft als etwas Gereimtes oder Gedichtetes, einen paſſenden
Uebergang zu dem zu machen ſcheint, was ich zunächſt noch zu
ſagen haben werde.
Nachdem ich nämlich bis hierher bemüht geweſen bin, das
Bild der Frau v. Wreech zu zeichnen, drängt ſich nun zweitens
wieder die bis hieher zurückgewieſene Frage auf: Wie ſtanden der
Kronprinz und die Beſitzerin von Schloß Tamſel zu einander?
Wie eng oder wie weit waren die Grenzen ihrer Intimität ge-
zogen?
Die Antwort, die ich auf dieſe Frage habe, weicht, wie ſchon
angedeutet, durchaus ab von der üblichen Anſchauung. Es ſtehen
die Grumbkow’ſchen Klatſchereien und die eigenhändigen Briefe des
Kronprinzen ziemlich diametral einander gegenüber, und die vor-
ſichtigſte Prüfung dieſer Briefe, ſelbſt ein argwöhniſches Suchen
und Leſen zwiſchen den Zeilen, hat mir ſchließlich nur um ſo fe-
[49] ſter die Ueberzeugung verſchafft, daß das Ganze die Huldigung
eines etwas verliebten, poetiſirenden jungen Prinzen war, —
eine Huldigung, die, mal leichter mal leidenſchaftlicher auftretend,
von Frau von Wreech halb als eine Zerſtreuung, eine Ehre, eine
Schmeichelei, aber halb auch als eine Laſt entgegen genommen wurde.
Dem entſprechend war denn auch wohl das Verhältniß, das
zwiſchen Frau von Wreech und Kronprinz Friedrich, dieſem glän-
zenden Typus eines jungen poetiſirenden Berliners, ins Leben
trat. Die blendende Schönheit, der ſinnliche Reiz der jungen Frau
gaben dieſen Beziehungen im Laufe der Wochen und Monate eine
andere Färbung; es kamen leidenſchaftliche Stunden, aber ſie
kamen doch nur wie Anfälle und ließen im Weſentlichen das auf
äſthetiſchen Intereſſen aufgeführte Verhältniß fortbeſtehen. Es war
das geiſtreiche Bedürfniß, das immer wieder nach Tamſel
hindrängte; der Eſprit der Küſtriner Garniſons-Offiziere reichte
nicht aus, ihr Verſtändniß für Verſe war vollends zweifelhaft,
und ſo ſehen wir denn die Correſpondenz nach Tamſel hin nicht
nur von zahlreichen Poetereien, wie Oden, Stanzen, Hymnen,
Sonetten ꝛc., beſtändig begleitet, ſondern auch die Briefe ſelbſt,
zumal den vorletzten, in jener halb ironiſchen, halb humoriſtiſchen
Weiſe abgefaßt, die ſich immer da einſtellt, wo junge Männer dem
Zuge nicht widerſtehen können, jeden Brief auch zugleich als eine
kleine literariſche That, als eine Anhäufung origineller Gedanken,
oder als eine witzig-geiſtvolle Beſchreibung in die Welt zu ſenden.
Den erſten Brief des Kronprinzen, der übrigens in eſprit-
voller Weiſe die Correſpondenz eröffnet, übergeh’ ich hier; ich be-
ginne mit dem zweiten, worin der junge Poet, dem nichts ſo ſehr am
Herzen liegt, als das Schickſal ſeiner Verſe, unverkennbar hervortritt.
„Madame, ſo ſchreibt er, die Heuſchrecken, die das Land ver-
wüſten, haben die Rückſicht genommen, Ihre Beſitzungen und Län-
dereien zu verſchonen. Ein zahlloſes Heer viel ſchlimmerer und ge-
fährlicherer Inſekten indeß ſteht auf dem Punkt, ſich bei Ihnen
niederzulaſſen, und nicht zufrieden damit, das Land zu zerſtören,
haben dieſe Geflügelten die Dreiſtigkeit, Sie perſönlich und in
4
[50] Ihrem eigenen Schloſſe zu überfallen. Dieſe Geflügelten führen
den Namen Verſe, ſind Sechsfüßler, haben ſcharfe Zähne und
einen langgeſtreckten Körper, dazu eine gewiſſe Kadenz, die genau
genommen ihr Grundprincip iſt und ihnen das Leben giebt. Es
iſt eine böſe Race, jüngſt vom Parnaß angekommen, wo ſie der
gute Geſchmack nicht länger dulden wollte. Ein gleiches Schickſal
wird ihrer in Tamſel harren. Wie immer dem ſein möge, ich
freue mich, daß Apollo ſich aufgerafft hat, um ſeinen Muſenberg
von der Spreu der unächten Poeten zu ſäubern. Sein Staub-
beſen hat gründlich aufgeräumt. Ich ſelbſt freilich bin unter den
zumeiſt Getroffenen, aber ich verzeihe alles, verzeihe es um ſo lie-
ber, als ich ſehr wohl weiß, daß überall da, wo das Böſe ſeine
Strafe, auch das Gute ſeinen Lohn erhält. Sie, Madame, wer-
den dieſen Lohn empfangen und ich bitte Sie dann um Ihr aller-
gnädigſtes Fürwort. Sagen Sie dem Apoll, daß er als Direc-
teur der Künſte und Wiſſenſchaften eigentlich doch zu grob operirt
und mich kaum noch als einen Mann von Ehre behandelt habe.
Bitte, ſagen Sie ihm ferner, daß es eigentlich nur ein Mittel
gäbe, ſolche Züchtigungen und Backenſtreiche erträglich zu machen,
nämlich die Stiftung eines Ordens vom ſchlechten Reim.
Willigt er darin, ſo kann er uns von da ab treffen, wie er will,
wir werden es ruhig und dankbar hinnehmen — Ritter, die wir
dann ſind.“
So der Brief. Der Kronprinz hat in den erſten Zeilen deſ-
ſelben ein ganzes Heer von Verſen angekündigt, Sechsfüßler mit
ſcharfen Zähnen und langgeſtrecktem Körper, und dieſe Verſe, die
dem Briefe beiliegen, ſo wie andere, die folgten, beſchäftigen uns
jetzt. Alle dieſe Verſe theilen ſich in zwei Gruppen, in ſolche, die
in directer Huldigung gegen die ſchöne Frau geſchrieben, und
ſolche, die ihr bloß zur Kritik, muthmaßlich zur mildeſtdenkbaren,
vorgelegt wurden.
Eine Ode, an Frau von Wreech gerichtet, eröffnet den Rei-
gen. Man muß es damals mit den Gattungs-Eintheilungen und
den demgemäßen Ueberſchriften nicht ſehr genau genommen haben,
[51] denn die Zeilen verhalten ſich zu dem Schwung einer wirklichen
Ode etwa wie ſich Kotzebues „armer Poet“ zum Goetheſchen Taſſo
verhält. Der Prinz erklärt, daß er Frau von Wreech liebe und ver-
ehre; daß es freilich Menſchen gäbe, die da meinten, Liebe ſei
eine Schwäche, daß er für ſein Theil aber die ſchwachen Herzen
angenehmer fände, als die Herzen von Stein. In der Mitte der
ſogenannten Ode, bei deren Uebertragung ich übrigens, wie auch
bei den folgenden Stücken, die im Ausdrucke proſaiſchſten Stellen we-
ſentlich gemildert habe, heißt es in leidlich wohlgeſetzten Alexandrinern:
Ein Zufall und — ſo wenig dichteriſchen Werth dieſe Dinge
haben mögen, — doch muß ich ſagen ein glücklicher Zufall hat
uns die Reimzeilen aufbewahrt, mit denen Frau von Wreech die
poetiſche Adreſſe des Kronprinzen beantwortete. Dieſe Antworts-
zeilen ſind nämlich als Brouillon, als Entwurf auf die Rückſeite
des Kronprinzlichen Briefes geſchrieben und lauten wie folgt:
4*
[52]
Dies ſei genug. Auffallend iſt es, daß ſich in dieſen Verſen,
die ſpätere Ruhmesbezeichnung gleichſam anticipirend, bereits der
Ausdruck le grand Fréderic vorfindet. Das bewundernde Hin-
aufblicken aber zu dieſem grand Fréderic, das — wenn auch
vieles auf Rechnung bloßer geſellſchaftlicher Phraſe zu ſetzen iſt —
dennoch ziemlich unverkennbar aus dieſen gereimten Zeilen der
Frau von Wreech ſich kundgiebt, erklärt ſich wohl überwiegend dar-
aus, daß die Küſtriner Tragödie, der Tod Kattes, mit Allem, was
vorausging und folgte, den Kronprinzen mit einem poetiſchen
Zauber umkleidet hatte, der bei erſter Begegnung noch nachwirkte.
Dieſer Zauber, dieſe Glorie, dieſe Bewunderung, wie immer ſonſt
auch die Herzensbeziehungen zwiſchen beiden ſich in jenen Herbſt-
und Wintermonaten geſtalten mochten, waren jedenfalls nicht von
Dauer. Ich deutete das ſchon an und wir kommen noch einmal
kurz darauf zurück.
Ich ſagte, die Sechsfüßler, die der Kronprinz ſeinen Briefen
beilegte, waren doppelter Art; die einen wandten ſich huldigend
an das Herz der ſchönen Frau, die andern — und ihre Anzahl
iſt ungleich größer — waren kleine literariſche Beilagen, die ein
Geplauder, einen Meinungsaustauſch, eine eſpritvolle Controverſe
wachrufen ſollten und auf die ich hier begreiflicherweiſe ein beſon-
deres Gewicht lege, weil ſie die angedeutete Art des Verhältniſſes,
das äſthetiſch-literariſche Fundament deſſelben, ungleich beſſer cha-
rakteriſiren, als jene Huldigungsſtrophen.
Dieſe literariſchen Beilagen beſtanden zunächſt aus Saty-
ren, ebenfalls in den unvermeidlichen Alexandrinern geſchrieben.
Er rächt ſich in ihnen für alle Unbill ſeiner Gefangenſchaft, und
Jeder, der ihn gepeinigt oder auch nur vorübergehend gelangweilt
[53] hat, erhält ſeinen Geißelhieb. Die Liſte iſt ziemlich lang, und
Gouverneur von Lepel, Kammerdirector Hille, die neidiſche Frau
von Wolden, alle ziehen ſie noch einmal vorüber, zuletzt die Colo-
nelle Eberts, von der es heißt, daß ſich über ihre Dummheit eine
ganze Aenëide ſchreiben ließe. An Noten, Erläuterungen und Rand-
bemerkungen iſt kein Mangel, und in einem Poſtſcriptum heißt es,
daß die ganze Satyre in etwa 14 Tagen geſchrieben und doch zu
ſeinem Bedauern immer noch voller Fehler ſei, während er alles
Gute darin dem Horaz, dem Juvenal oder dem Boileau verdanke.
So waren die Verspakete, die die kronprinzliche Correſpon-
denz nach Tamſel hin begleiteten.
Aber wir würden irren, wenn wir annehmen wollten, daß
ſich dieſe literariſchen Beilagen auf Verſe beſchränkt hätten. Auch
der Proſa wurde ihr Recht. Die Briefe ſelber, wie ſchon hervor-
gehoben, wurden gelegentlich zu Aufſätzen, zu „Feuilletons,“ wie
wir jetzt vielleicht ſagen würden, und hoben, wenigſtens vielfach,
das literariſche Intereſſe über das Herzens-Intereſſe hinaus.
Etwa um die Mitte Novembers, kurz vor ſeinem erſten Be-
ſuche in Berlin und vor der wirklichen Ausſöhnung mit dem Va-
ter, ſchreibt der Kronprinz wie folgt:
„Verehrteſte Couſine! Des guten Glaubens, daß Sie zu
meinen beſten Freunden in dieſen Gegenden zählen, kann ich nicht
unterlaſſen, Ihnen einen Plan mitzutheilen, der ſich auf meinen
demnächſtigen Einzug in Berlin bezieht. Es iſt ohngefähr Folgen-
des, was ich Ihnen darüber mitzutheilen habe. Der Zug ſoll
durch eine Heerde jener verpönten Thiere von zartem Fleiſch und
unzarten Gewohnheiten eröffnet werden, denen die Aufgabe zu-
fallen wird, aus Leibeskräften und in Gemäßheit angeborner In-
ſtincte zu ſchreien. Dann folgt eine Schaf- und Hammelheerde,
unter Führung eines meiner Kammerdiener. Danach eine Heerde
Podoliſcher Ochſen, die mir unmittelbar voraufgehen. Nun ich
ſelbſt. Mein Aufzug iſt folgender: ein großer Eſel trägt mich, ſo
einfach als möglich aufgeſchirrt. Statt der Piſtolenhalfter befinden
ſich zwei Getreideſäcke vor mir, und ein tüchtiger Mehlſack vertritt
[54] die Stelle von Sattel und Schabracke. So ſitz ich da, einen
Knittel als Peitſche in der Hand und einen Strohhut ſtatt des
Helmes auf dem Kopf. Zu beiden Seiten meines Eſels marſchirt
ein halbes Dutzend Bauern, mit Senſen, Pflugſchaaren und an-
deren Attributen der Landwirthſchaft, und müht ſich, Schritt zu
halten und einen Ernſt zu zeigen, wie er der Sache angemeſſen
iſt. Dann folgt, auf der Höhe eines ſchwerbeladenen Heuwagens,
die heroiſche Geſtalt des Seigneur von Natzmer, der Wagen ſelbſt
von vier Ochſen und einer Stute gezogen. Ich bitte Sie, verehr-
teſte Couſine, mich bei Anordnung dieſer Ceremonie unterſtützen zu
wollen. Was mich angeht, ſo ziehe ich es vor, eine wirkliche Ur-
ſache zu Hohn und Spott zu geben, als ohne allen Grund von
einem frechen Volkshaufen ausgelacht zu werden. Ich treffe alle
Vorbereitungen für dieſen meinen Einzug und warte nur noch
Ihrer Ordre, um ſie ins Werk zu ſetzen.“
Dieſer Brief, mit ſeinen Vorzügen und Schwächen, was iſt
er anders, als ein kleiner humoriſtiſcher Verſuch, der der ſchönen
Freundin in Tamſel überſandt wird, um bei nächſter Gelegenheit
einiges Verbindliche, Schmeichelhafte darüber zu hören.
Noch einmal, die äſthetiſch-literariſchen Bedürfniſſe des Kron-
prinzen ſchufen und unterhielten das Verhältniß, und wenn die
Neigung des jungen Poeten, wie kein Zweifel iſt, zu Zeiten die
Geſtalt einer leidenſchaftlichen Liebe annahm, ſo bleibt es doch
mindeſtens ungewiß, ob dieſe Liebe eine glückliche, eine gegenſeitige
war. Wenn wir darüber die Schlußſätze des letzten Briefes vom
20. Februar zu Rathe ziehen, ſo ſcheint es beinahe, daß Frau
von Wreech (wie ſchon angedeutet) hinnahm, was ſie nicht ändern
konnte, und daß ſie, namentlich nachdem die erſte poetiſche Be-
wunderung vorüber war, des Kronprinzen Neigung mehr duldete,
als erwiederte. Dieſe Schlußſätze des Prinzlichen Briefes lauten:
„So ſchicke ich Ihnen denn mein Bild. Ich hoffe, daß es wenig-
ſtens dazu dienen wird, mich dann und wann in Ihre Erinne-
rung zu bringen und Sie ſagen zu machen: er war au fond ein
guter Junge (un assez bon garçon), aber er langweilte mich,
[55] denn er liebte mich zu ſehr und brachte mich oft zur Verzweiflung
mit ſeiner unbequemen Liebe.“
Dieſe Worte, die faſt wie ein Reſumé klingen, ſind mir als
beſonders charakteriſtiſch erſchienen. Ende Februar verließ der Kron-
prinz Küſtrin, um nicht mehr (es ſei denn auf ein paar Tage
im März oder April) dahin zurückzukehren. —
Die Jahre gingen; andere Zeiten kamen. Das Verhältniß,
das einen Winter lang ſo viel Troſt und Freude im Geleite ge-
habt hatte, ſchien todt, ſchien vergeſſen; erſt 26 Jahre ſpäter ſehen
wir den Krónprinzen, nun König Friedrich, der mit ſeinem
Ruhme die Welt erfüllt hat, noch einmal wieder in Tamſel, und
noch einmal ſitzt er nieder, um an Frau von Wreech zu ſchreiben.
Aber wie anders ſieht ihn jetzt Tamſel an! Es iſt am
30. Auguſt 1758, fünf Tage nach der Schlacht bei Zorndorf. Das
Schloß iſt von den Ruſſen ausgeplündert, alle Bewohner ſind
geflohen, der zurückgebliebene Lehrer der Wreech’ſchen Kinder liegt
erſchlagen im Park, Alles iſt wüſt, öde, halb verbrannt; mit
Mühe wird ein Tiſch herbeigeſchafft, an dem es möglich iſt, zu
ſchreiben. Der König, ſo oft lieblos geſcholten, gedenkt jetzt ent-
ſchwundener Tage, alter Liebe, alter Pflicht, und Angeſichts der
Zerſtörung, die ſein Herz an dieſem Orte doppelt ſchmerzlich
trifft, ſchreibt er noch einmal an Frau von Wreech. Keine Verſe
ſind eingeſchloſſen, aber ein Beſſeres hat er ſich in der Schule
des Lebens erobert — ein ächtes Gefühl. Der Brief ſelbſt aber
lautet:
„Madame! Ich habe mich nach der Schlacht vom 25. hier-
her begeben und eine volle Zerſtörung an dieſem Orte vorgefun-
den. Sie mögen verſichert ſein, daß ich alles nur Mögliche thun
werde, um zu retten, was noch zu retten iſt. Meine Armee hat
ſich genöthigt geſehen, hier in Tamſel zu fouragiren, und wenn
freilich die verdrießliche Lage, in der ich mich befinde, es ganz
unmöglich macht, für all’ den Schaden aufzukommen, den die
Feinde (vor mir) hier angerichtet haben, ſo will ich wenigſtens
nicht, daß von mir es heiße, ich hätte zum Ruin von Perſonen
[56] beigetragen, denen gegenüber ich die Pflicht, ſie glücklich zu ma-
chen, in einem beſondern Grade empfinde. Ich halte es für mög-
lich, daß es Ihnen ſelbſt, Madame, eben jetzt am Nothwendigſten
gebricht, und dieſe Erwägung iſt es, die mich beſtimmt, auf der
Stelle die Vergütigung alles deſſen anzuordnen, was unſere Fou-
ragirungen Ihnen gekoſtet haben. Ich hoffe, daß Sie dieſe Aus-
zeichnung als ein Zeichen jener Werthſchätzung entgegennehmen
werden, in der ich verharre als Ihr wohlgewogener Freund
Friedrich.“
Frau von Wreech empfing dieſen Brief am ſelben Tage noch,
woraus ſich ſchließen läßt, daß ſie auf einem der benachbarten
Güter Zuflucht geſucht hatte, denn dem Briefe ſind von der Hand
der Empfängerin die Worte hinzugefügt: „Empfangen am 30. Au-
guſt 1758, in demſelben Jahre, in dem ich Alles verlor, das ich
mein nannte“ — oder wie es im Originale heißt: „L’année où
j’ai perdu tout ce que j’avais dans le monde pour vivre.“
Dieſe Worte der Frau von Wreech ſind charakteriſtiſcher, als
ſie auf den erſten Blick erſcheinen mögen. Der Brief des Königs
hatte zweifellos den Zweck, ein Troſtbrief zu ſein; der Ausdruck
ſeiner Theilnahme, ſeine Zuſage für alles das aufkommen zu wol-
len, was die Verpflegung ſeiner Truppen gekoſtet hatte, alles
das bezeugte genugſam, daß er tröſten, aufrichten wollte, aufrich-
ten vor allem auch durch die Aufmerkſamkeit (er deutet es ſelber
an), die allein ſchon in der Thatſache lag, daß er unter ſolchen
Umſtänden ſchrieb. Frau von Wreech aber, unter dem Druck un-
beſtreitbar ſchwerer Sorgen, ſcheint (unberührt faſt von dem In-
halt jenes Briefes) nur dem einen niederdrückenden und bitteren
Gedanken gelebt zu haben: Ich war reich und bin nun arm, ich
konnte geben und helfen und bin nun ſelber hülfebedürftig.
Es würde gewagt ſein, aus der kurzen Notiz: „das Jahr,
in dem ich Alles verlor, was ich mein nannte,“ ſo weit gehende
Schlüſſe auf die damalige Stimmung der Frau von Wreech ziehen
zu wollen, wenn nicht die Correſpondenz, die ſich nun (alſo 26
Jahre nach jenem erſten Briefwechſel) zwiſchen Jugendfreund und
[57] Jugendfreundin entſpann, keinen Zweifel darüber ließe, welche Em-
pfindungen damals beinah ausſchließlich das Herz der freilich
ſchwer heimgeſuchten Frau erfüllten; und wenn die Jugendbriefe
des Kronprinzen uns ungleich mehr mit der Empfängerin in Tam-
ſel als mit dem Küſtriner Verfaſſer ſympathiſiren ließen, wendet
ſich nun das Blatt und der König kommt zu ſeinem Recht.
Auch auf dieſe zweite Correſpondenz werfen wir noch einen
flüchtigen Blick. Sie beſteht nur aus fünf Briefen und dieſe
Blätter liegen neben der Jugendcorreſpondenz, wie die Briefe eines
Ehemannes, der ſich mit Anſtand zurückgezogen hat, neben dem
Brief-Päckchen das er als Bräutigam geſchrieben.
Aber dieſen fünf Proſabriefen gebührt diesmal dennoch der
Vorzug. Von verſchiedenen Punkten aus datirt, wohin der Krieg
den ſchwerbedrängten König gerade rief, von Dresden, Breslau,
Leipzig aus, gereicht jeder einzelne dem Schreiber zu hoher Ehre.
Aus ihrem Inhalt ergiebt ſich, daß Frau von Wreech nicht müde
wurde, den König zuerſt um Unterſtützung für die verarmten Bau-
ern der Wreechſchen Güter, dann um Darlehne für ſich ſelbſt zu
bitten. Dieſe Geſuche waren ſicherlich dazu angethan, die Geduld
des Königs zu erſchöpfen, der z. B. einen dieſer Briefe im De-
cember 1760, alſo kurz nach dem ſchwer erkauften Siege von
Torgau und jedenfalls zu einer Zeit empfing, wo die halbe Mo-
narchie ziemlich eben ſo verwüſtet war, wie die Güter der Frau
von Wreech; aber ſeine Antworten (nur zum Theil von ihm ſelbſt
geſchrieben) verrathen nirgends Ungeduld, oder jene Schärfe und
Herbe, durch die er ſo ſchwer verletzen konnte; und ſelbſt da, wo
er auf das Beſtimmteſte ablehnt, lehnt er nur ab, weil er muß.
Er ſchreibt eigenhändig von Breslau aus:
„Madame, Sie ſtellen ſich die Dinge ſehr anders vor, als
ſie ſind. Bedenken Sie, daß ich ſeit einem Jahre weder Gehalte
noch Penſionen zahle; bedenken Sie, daß mir Provinzen fehlen,
daß andere verwüſtet ſind; denken Sie an die enormen Anſtren-
gungen, die ich machen muß, und Sie werden einſehen, daß meine
Ablehnung nur in der völligen Unfähigkeit ihren Grund hat, Ih-
[58] nen zu helfen; ſobald die Dinge ſich ändern, ſoll geſchehen, was
möglich iſt.“
Ja, er geht ſchließlich weiter und bewilligt wirklich eine
Summe zu einem Betrage, der nicht genannt wird, deſſen Unzu-
reichendheit aber ſich muthmaßen läßt, denn die Anfangsworte des
Begleitſchreibens lauten: „Es thut mir aufrichtig leid, Madame,
weder ſo viel thun zu können, wie ich möchte, noch ſo viel, wie
Sie wünſchen. Aber ich habe Ordre gegeben ꝛc.“
Dies ſind die letzten Zeilen, die Friedrich nach Tamſel hin
richtete; ſie zeigen, wie dieſe letzten Briefe überhaupt, daß er bis
zuletzt und unter den preſſendſten Verhältniſſen, nie vergaß, was
er dieſem Hauſe und dieſer Frau an Dankbarkeit ſchuldete. Er
hätte ſonſt einen ganz andern Ton angeſchlagen. Frau von Wreech
indeß ſcheint anders empfunden und die Vorſtellung unterhalten
zu haben, daß des Königs Benehmen hart überhaupt und ſpeciell
hart gegen ſie, die Genoſſin, die Freundin ſeiner Jugend geweſen ſei.
Der Friede kam, das verwüſtete Tamſel blühte wieder auf,
der alte Feldmarſchall mit ſeinen rothen Gamaſchen hing wieder
an der boiſirten Wand und der Park, ſchöner werdend von Jahr
zu Jahr, füllte ſich mit Marmorſtatuen. Dem Ruhme des Prin-
zen Heinrich, des Bruders des Königs, wurden Tafeln und Obe-
lisken errichtet, jedem Hohenzoller fiel eine Huldigung zu, nur
dem Größten nicht; kein Stein, keine Tafel trug den Namen
König Friedrichs. Hier, wo er glücklich geweſen war und vielleicht
auch, wenigſtens vorübergehend, glücklich gemacht hatte, ſollte ſein
Name vergeſſen ſein. Eingeſchloſſen in die zwei Feldmarken von
Küſtrin und Zorndorf, ſollte Tamſel dennoch den Namen nicht
nennen, der, von allen Seiten her, hoch über Schloß und Park,
wie ein Hymnus zuſammenklang.
Aber die Zeiten üben Gerechtigkeit. Im Sommer 1795 wurde
der jüngſte Sohn der ſchönen Frau von Wreech, der letzte ſeines
[59] Namens und Stammes, in die Kirchengruft hinabgeſenkt, und an-
dere Bewohner zogen in Schloß Tamſel ein, die lächeln mochten
über den Unmuth, der, begründet oder nicht, ſich unterfangen
hatte, den Namen des großen Königs von dieſer Stelle ausſchlie-
ßen zu wollen.
Am 31. Mai 1840, am hundertjährigen Jahrestage der
Thronbeſteigung Friedrichs des Großen, fiel die Hülle von dem
Monument, das Graf Hermann Schwerin, der Vater des gegen-
wärtigen Beſitzers von Tamſel, dem Andenken des Königs hatte
errichten laſſen. Es iſt ein Denkſtein von 30 Fuß Höhe; auf der
Spitze deſſelben erhebt ſich eine vergoldete Victoria, während
der Sockel die Inſchrift trägt: Es iſt ein köſtlich Ding einem
Manne, daß er das Joch in ſeiner Jugend trage.
Unter Betheiligung vieler Tauſende aus Dorf und Stadt
wurde die Enthüllungsfeier begangen. Ein alter Bauer, als er die
Hüllen fallen ſah, rief ſeinem Nachbar zu: „Ick dacht, et ſüll de
olle Fritz ſinn, un nu is et man ſine Fru.“
Der alte Bauer hatte Wahrheit und Weisheit geſprochen —
waren doch Victoria und Friedrich zu treuem Bunde vereint ge-
weſen. Die Hohenzollern aber, mögen ſie nie aufhören, in gleicher
Art dem Siege vermählt zu ſein.
[[60]]
Zorndorf.
Dürſtete Friedrichs Blut.
Chriſtian Fr. Daniel Schubart.’
Eine halbe Meile nördlich von Tamſel liegt Zorndorf. Der
Weg führt zunächſt durch eine tiefe Schlucht hindurch, die hier,
unmittelbar im Rücken des Dorfes, die Hügelkette (das alte Ufer
der Warthe) wie ein Thor durchbricht und immer anſteigend, nach
Norden hin, auf ein Plateau von mäßiger Höhe mündet. Die
Fahrt, die ſehr maleriſch beginnt, mit Berglehnen und Laubholz
verliert ſehr bald dieſen Charakter; Sand und Baumwurzeln treten
an die Stelle, bis endlich das glau und freundlich daliegende
Zorndorf wieder die ziemlich reizloſe Oede unterbricht.
Zorndorf iſt hübſch und wohlhabend, wie faſt alle Dörfer,
wo Schlachten geſchlagen wurden. Ob es lediglich darin liegt,
daß die während des Kampfes zerſtörten Dörfer beſſer und freundlicher
wieder aufgebaut werden, oder ob die Schlachtfelder, wie große
Kirchhöfe, einen reicheren Acker ſchaffen, wer mag es ſagen? Wahr-
ſcheinlich wirkt beides zuſammen. Vielleicht aber kommt noch ein
Drittes hinzu: das Auferbauen aus Trümmern ſchafft nicht nur
einfach ein neues Dorf, es ſchafft auch, in nöthig gewordener An-
ſpannung aller Kräfte, ein rührigeres Geſchlecht; und Fleiß und
Energie, einmal wach gerufen, vererben ſich nunmehr wie ein Se-
gen von Vater auf Sohn.
[61]
Unſer Wagen hielt vor dem Krug. Mein Führer und Reiſe-
gefährte, der halb heimiſch in Zorndorf war, rief nach dem Krü-
ger. Aus einem kleinen dürftigen Laden trat eine Hünengeſtalt
heraus, grüßte und ſtellte ſich halb dienſtlich neben den Wagentritt.
Seine rieſige Geſtalt und die kleine Ladenthür paßten wenig zu-
ſammen; ein ähnlich komiſches Verhältniß beſtand zwiſchen ſeiner
Geſtalt und ſeinem Namen.
„Guten Tag, Herr Nonnenprediger,“ begann die Unterhal-
tung. Der Angeredete erwiederte ruhig den Gruß, ohne eine Miene
zu verziehen.
„Herr Nonnenprediger“, ſo fuhr mein Reiſegefährte heiter
fort, „einer von den Bauern hier ſammelt ja wohl alles, was auf
dem Schlachtfelde gefunden wird. Verlohnt es ſich, bei ihm vor-
zufahren?“
Nonnenpredigers Mund verzog ſich zu einem leiſen Grinſen,
das deutlich errathen ließ, wie der Angeredete über „vaterländiſche
Alterthümer“ dachte.
„Können Sie uns nicht ohngefähr ſagen, was der Bauer
alles hat?
„Kanonenkugeln, Gewehrläufe, Schäfte, Flintenſteine.“
„Nicht den Lehnſtuhl, drauf Friedrich der Große die Nacht
vorher geſchlafen hat?“
„Nein, der ſteht in der Neu-Damm’ſchen Mühle.“
„Sonſt nichts?“
„Nicht daß ich wüßte.“
„Dank ſchön. Guten Abend, Herr Nonnenprediger. — Fahr zu!“
So ging es weiter, an der hübſchen neuen Kirche vorbei
(die in einem runden Thurmfenſter die Inſchrift trägt: „Zur Er-
innerung an den 25. Auguſt 1758“) über den Dorfdamm fort,
hinaus in’s Freie.
Unmittelbar hinter Zorndorf, in der Richtung nach Norden
hin, beginnt das Schlachtfeld. Es iſt ein Viereck, ziemlich genau
eine Quadratmeile groß, nach Weſten hin von der Drewitzer Heide,
im Norden von der Mietzel, im Oſten vom Ziecher Bach und im
[62] Süden von einem kleinen Höhenzuge begrenzt, an dem die Dörfer
Wilkersdorf und Zorndorf liegen. Auf dieſem Stück Erde wurde
das Drama aufgeführt. Der Boden iſt wellenförmig, aber die Ein-
ſchnitte ziehen nicht horizontal von Weſt nach Oſt, ſondern ſenk-
recht von Nord nach Süd, ſo daß das ganze Terrain mit ſeinen
Höhen und Tiefen einer Tiſchplatte gleicht, auf der (von oben nach
unten zu) eine Hand mit geſpreizten Fingern liegt. Dorf Quart-
ſchen (der damalige Mittelpunkt der ruſſiſchen Stellung) entſpricht
dem Handgelenk, oder dem Knotenpunkt, wo alle Linien des Fel-
des, Höhen und Tiefen, zuſammentreffen. Das Ganze alſo, von
Nord nach Süden zu, iſt ein fächerförmiges Hügelterrain.
Auf einem dieſer Hügelrücken, der, länglich und kaum tauſend
Schritte breit, zwiſchen zwei Vertiefungen, dem „Zaber- und dem
Galgengrund“ ſich hinzieht, wurde die Schlacht entſchieden; richtiger
vielleicht, von hier aus wurde ſie entſchieden. Von Zorndorf her
den Zabergrund hinaufrückend, begleitete Seydlitz, am äußerſten
linken Flügel der preußiſchen Aufſtellung, den Auf- und Vormarſch
der Angriffskolonnen. Selber ungeſehen, ſah er ſeinerſeits alles. Auf
die Aufforderung des Königs, „anzugreifen, bei Gefahr ſeines Kopfes,“
gab er die bekannte Antwort. *) Der Zeitpunkt war noch nicht da.
Im Moment aber, als die bereits ſiegreichen Ruſſen ihre Reiterei
vorſchickten, um in die fliehenden preußiſchen Bataillone einzuhauen,
ſchwenkte Seydlitz plötzlich rechts, paſſirte den Bach und ſtieg aus dem
Grund (der ihn bis dahin verborgen hatte) herauf. Wie Sturm
über das Plateau zwiſchen dem Zaber- und Galgengrund hinfegend,
führte er nun jene weltberühmte Attake aus, die mit der Nieder-
werfung des zunächſt ſtehenden ruſſiſchen Flügels endigte, und
ſechs Stunden ſpäter gegen den andern Flügel wiederholt, den
Tag zu Gunſten des Königs entſchied.
„Seydlitz, auch dieſen Sieg verdank ich Ihm.“ — „Nicht
[63] mir, Majeſtät; hier dieſem Löwen“ (Rittmeiſter von Wakenitz). Es
war überhaupt, wie ein Tag glänzenden Sieges, ſo auch glänzen-
der Impromptus und Repliken. „Keine Schlacht iſt verloren, ſo
lange das Regiment Garde du Corps nicht angegriffen hat“ ꝛc.
Die Chauſſee von Zorndorf nach Quartſchen läuft auf der
Höhe des flachen Hügelrückens zwiſchen dem Zaber- und Galgen-
grunde hin und durchſchneidet genau (in einer Längslinie) denjeni-
gen Theil des Schlachtfeldes, auf dem die entſcheidenden Würfel
fielen.
Wir machen den Weg bei Sonnenuntergang. Der goldene
Ball der Sonne hängt glänzend über den Dächern von Quart-
ſchen; die Luft iſt ſtill, nur hoch im Blauen ſingt es und klingt
es. So geht es zwiſchen dem wogenden Korn dahin.
Etwa tauſend Schritt hinter Zorndorf paſſiren wir einen
altmodiſchen Bauernhof mit Plankenzaun und Strohdoch; wieder
fünfhundert Schritt weiter fällt uns, rechts am Wege und mitten
auf dem Felde ſtehend, ein auf verſchiedenen Stufen errichtetes
Steinmonument auf, das in Form eines Oblongs das Kornfeld
überragt. Dieß iſt das Denkmal zur Erinnerung an die Zorndor-
fer Schlacht, am 25. Auguſt 1826 von Männern des Kreiſes
errichtet und an derſelben Stelle aufgeführt, wo, alter Ueberliefe-
rung zufolge, der König hielt und den Gang der Schlacht ordnete
und überblickte. Dieſem Punkt gilt unſer Beſuch.
Wir laſſen halten und ſuchen nach einem Feldweg, einem
Pfad, der uns vorausſichtlich an das Monument führen wird.
Aber nichts derart iſt zu finden. Beſucher, die hieher kommen, um
das Schlachtfeld von Zorndorf zu überblicken, ſind ſo ſelten, daß
es nicht nöthig iſt, einen Feldweg nach dem Denkmal hin offen zu
halten. Lauter Ackerland; wie es im Chamiſſoſchen Liede heißt:
„Der Pflug geht drüber hin.“ Nach langem Suchen endlich ent-
decken wir eine Ackerfurche, die uns in gerader Linie, aber von
den ſchräg liegenden Halmen völlig verdeckt, dem Monumente zu-
führt. Wir ſtehen nun vor einem Sand- und Lehmhügel, von
der Form und Größe eines Backofens, auf dem ſich der Denkſtein
[64] erhebt. Der Aufgang iſt ſteil wie eine Wand und man kann
deutlich erkennen, daß die anfangs ſich allmählig abflachenden
Wände, von dem Bauer, dem jetzt das Feld gehört, ab- und nie-
dergepflügt wurden, um dadurch ein paar Quadratruthen mehr
Ackerland zu gewinnen. Bauern-Egoismus iſt ſicherlich das einzig
leitende Motiv dabei geweſen, aber der Egoismus iſt hier zum
Segen ausgeſchlagen und der Hügel mit ſeinen nun ſteil abfallen-
den Wänden, hie und da von Liguſter und Diſtelbüſchen über-
wachſen, nimmt ſich ganz trefflich aus, als Poſtament für den auf
ſeiner Höhe errichteten Denkſtein. Dieſer Denkſtein iſt einfachſter
Art. Er beſteht aus drei Granitſtufen, auf deren oberſter ſich ein
Oblong, ebenfalls aus Granit, erhebt; das Ganze ein etwa manns-
hoher, höchſt ſchlichter Steinbau, der früher an ſeiner Nordſeite eine
Inſchrift trug. Man liest noch jetzt: „Hier ſtand Friedrich ....
M.D.C.C.L.VIII.“ Alles andere iſt verlöſcht.
Das Monument iſt ſchlicht genug; aber der Blick über das
Schlachtfeld, nach dem alten Comthurei-Dorfe Quartſchen hin, das
jetzt grau und ſchattenhaft vor der dahinter gelagerten Abendröthe
liegt, iſt entzückend. Der Abend ſchickt einen Luftzug durch die
Halme; ein leiſes Rauſchen und Kniſtern; die Lerchen ſind eben
ſtill geworden; aber von rechts und links her rufen jetzt die Unken
über das Feld hin. Die hauſen noch im Zaber- und Galgengrund,
freilich nicht mehr ſo im Vollen wie ſonſt. Die beiden Gründe
oder Erdklinſen haben längſt aufgehört eigentliche Waſſerrinnen zu
ſein, Cultur hat ſie trocken gelegt, aber hie und da, wo nach wie
vor ein Reſtchen Sumpfwaſſer in der Vertiefung ſteht, halten ſich
noch die alten Bewohner.
Die Sonne iſt unter; aber noch iſt es hell genug, um das
ganze Terrain von dieſer Stelle aus klar zu überblicken, und als
ob das Ueberſichtliche des Feldes, das Plaſtiſche der Lokalität, dem
Heraufſteigen des ganzen Schlachtenbildes von ehemals zu Hülfe
käme, ſo fängt das in Dämmer daliegende Feld an, ſich mit
ruſſiſchen Carrés zu beleben. Aber ſie ſtehen nicht lange: von links
her, aus der ſchattigen Tiefe des Zabergrundes herauf, ſteigen
[65] Seydlitz und die Gardes du Corps. Rittmeiſter von Wakenitz, mit
gezücktem Pallaſch allen andern vorauf, fliegt über die Ebene hin.
— Da klappert (ſehr zur Unzeit) ein Wagen aus Quartſchen die
Chauſſee entlang; er fährt mitten durch die blanken Schwadronen
hindurch, und — Viſion und Waffenglanz ſind hin.
Noch einmal, ein ſchlichtes Monument iſt es, das an dieſer
Stelle das Gedächtniß an den Tag von Zorndorf zu wahren
unternimmt, aber es iſt gut, daß es ſchlicht iſt; prächtige Monu-
mente gehören in die Stadt, in das Bereich der Kunſt. In Wald
und Feld gehören Denkmäler (mit einzelnen Ausnahmen), deren
Schlichtheit ſie in den Hausrath der Natur wie einzureihen ſcheint.
Verſchmelzung, Uebergang, nicht Gegenſatz. Würfel und Obelisk
werden auf Schlachtfeldern noch lange das beſte bleiben.
Mein Reiſegefährte, zu dem ich Aehnliches geſprochen haben
mochte, legte bei dieſen Worten ſeine Hand auf meine Schulter
und ſagte dann lächelnd: „Dieſer Stein weiß davon zu erzählen.
Wir haben hier dergleichen erlebt. In das Leben dieſes Steins
ſchleicht ſich nämlich eine Epiſode höherer Kunſtexiſtenz ein; aber
es war kein glückliches Daſein.“
Auf meine Bitte um Aufſchluß, fuhr der Sprecher fort: „Gern,
nichts ſoll Ihnen vorenthalten bleiben. Aber ändern wir zuvor
unſere Front und nehmen wir hier auf den Stufen der Rückſeite
Platz, damit wir nach Bauer Mertens und ſeinem Gehöft hinüber
ſehen können. Das Gehöft und ſeine Inſaſſen ſpielen mit.“
Ich that, wie geboten. „Sie kommen von Tamſel“, nahm
der Erzähler das Wort, „und haben im dortigen Park ſicherlich
das Monument geſehen, das auf ſeiner Spitze die Rauchſche Vic-
toria trägt. Das Monument hat Graf Hermann Schwerin errichtet
(der Vater des gegenwärtigen Beſitzers), ein ſehr liebenswürdiger
und kunſtſinniger Herr. Sie werden gleich ſehen, warum ich mit
ihm beginne.“
„Es war etwa 1846 oder 1847, als ein befreundeter Herr
5
[66] beim Grafen in Tamſel erſchien und ihm von einem Küſtriner
Klempner erzählte, der in, ich fürchte, mißverſtandenem patriotiſchem
Eifer auf die Idee gekommen war, den alten Fritz in Weißblech
zu treiben. Er hatte jahrelang ſeine Feierabendſtunden daran geſetzt;
nun ſtand der alte Fritz endlich da, ſieben Fuß hoch und blank
wie ein Zinnlöffel; aber niemand wollte ihn haben. Der Graf,
der nicht nur ein kunſtſinniger, ſondern, wie ſchon angedeutet, vor
allem auch ein ſehr humaner Mann war, überlegte ſich’s einen
Augenblick, acceptirte dann das angebotene Kunſtwerk, zahlte einen
guten Preis und traf ſeine Dispoſitionen.“
„Ein paar Tage ſpäter traf die getriebene Arbeit in Tamſel
ein. Tamſel indeß war nicht Beſtimmungsort; der Graf hatte
ſchon anderweitig darüber verfügt, freilich mit einer gewiſſen Be-
ſorgniß, man könnte ſagen mit Vorahnung.“
„Es war Anfang November, als, bald nach Mitternacht, ein
Leiterwagen vor dem Tamsler Schloß hielt. Die Statue wurde raſch
aufgeladen, und ehe zehn Minuten um waren, ſetzte ſich der Zug
unter Begleitung von einem Maurerpolier und drei Geſellen —
anderer Dienſtleute zu geſchweigen — in Bewegung. Es ging ſtill
durch Schlucht und Wald, noch ſtiller durch Zorndorf hindurch,
an Mertens Gehöft vorbei, bis der Wagen hier zu Füßen des
Hügels hielt. Raſch, ängſtlich, mit faſt geſpenſtiſcher Stille, wurde
der blecherne Fritz auf den Granitwürfel geſtellt. Sie können noch
ſehen, wo der Mörtel geſeſſen hat. Dann, in ſtiller Nacht, wie der
Zug gekommen war, verſchwand er auch wieder.“
„Am andern Morgen trat Mertens älteſter Sohn in die
Hausthür, um nach dem Wetter zu ſehen. Er ſah auch zufällig
nach dem Monument hinüber und bemerkte, daß eine menſchliche
Figur regungslos auf dem Steinwürfel ſtand. Er ſchüttelte den
Kopf, dachte aber nichts Arges. Nach einer Stunde — er hatte
inzwiſchen die Pferde gefüttert — trat er wieder vor’s Haus, ſah
wieder hierher und brummte vor ſich hin: „He ſteiht immer noch!“
[67] Er wartete, es wurde nicht anders. Nun wurde ihm die Sache
bedenklich. Er weckte den Alten; der Alte kam und alles Haus-
geſinde mit ihm. Aber es blieb, wie es war. „De ſnackſche Kerel
ſteiht ümmer noch“, wiederholte der Sohn. Und in der That, im
Nebel des Novembermorgens, grau, geſpenſtiſch, räthſelvoll, ſtand
eine Figur auf dem Schlachtenſtein. Welche Hypotheſen in jener
Stunde durch die verſchiedenen Köpfe der Familie Mertens gegan-
gen ſein mögen, iſt ſchwer zu ſagen. Endlich, wie ſich von ſelbſt
verſteht, löste ſich der Spuk.“
„Die Mertensſchen waren nun zufrieden, auch die Zorndorfer
und die Quartſchener vielleicht; aber Graf Schwerin, der dieſe
Umwandlung geſchaffen hatte, war es keineswegs. Sein künſtleri-
ſches Gewiſſen ſchlug ihm, und wenn Anfangs das gute Herz über
die äſthetiſchen Inſtinkte geſiegt hatte, ſo rächten ſich dieſe jetzt und
drangen ihrerſeits auf Abhülfe. Der Graf, der zeitlebens nur Gutes
gethan hatte, ging an dem „alten Fritz“ vorbei, wie an einer
Schuld, welche Sühne verlangt.“
„Er fand ſie endlich auf die einfachſte Weiſe. Nachdem der
„alte Fritz“ einen Winter lang den Stürmen getrotzt und alles
Blanke ſeiner Erſcheinung längſt eingebüßt hatte, erſchienen die
Vermummten wieder, und nächtlicherweile, wie die Statue gekom-
men, ſo verſchwand ſie wieder. Es war eine kurze Exiſtenz. Wie
Leidtragende folgten der Maurerpolier und die Seinen, als man
die Figur nach Tamſel zurück geleitete. Sie wurde dort im Koh-
lenkeller deponirt und iſt dort verſchollen. Ich bleibe dabei: das
einfachſte Monument das beſte, wenigſtens auf einem Schlachtfeld.“
Während der Erzählung war es dunkler geworden, und war
es nun die Kühle des Abends, oder die Stelle, auf der wir ſtan-
den, ein leiſes Fröſteln lief über uns hin. Dann ſprangen wir,
über die Liguſterwand weg, vom Hügel aus mitten in’s Kornfeld
hinein, und Arm und Bruſt vorſchiebend, ſchwammen wir durch
das Kornfeld durch. Wir hörten nichts als das Kniſtern der
5*
[68] Halme, ſelbſt im Zabergrund war es ſtill geworden und unſere
Rede floß erſt wieder von der Lippe, als unſer Wagen über die
Landſtraße hinrollte und in das Pruſten der Pferde hinein Bauer
Mertens uns ſeinen „guten Abend“ bot. Sein „guter Abend“
klang treuherzig genug und keine Ahnung ſchien ihn beſchlichen zu
haben, daß er oder ſein Älteſter ſo eben „der Held einer Geſchichte“
geweſen war.
[[69]]
„Der Blumenthal.“
Will ich deſſelbigen Weges fahren.
Cidher der ewig junge.’
„Der Blumenthal“ (d. h. der Blumenthal-Wald) iſt der Name
eines großen Forſtreviers, das den öſtlichen Theil des Barnim
von Weſten nach Oſten hin durchzieht und durch die Straße, die
von Berlin nach Wriezen führt, faſt ſeiner ganzen Länge nach
durchſchnitten wird.
„Der Blumenthal“ iſt ſchön und ſagenreich. Etwas von dem
Zauber Vinetas iſt um ihn her und die Sage von untergegangenen
Städten, verſchwunden in Waſſer oder Wald, begleitet den Reiſen-
den auf Schritt und Tritt. Wer um die Mittagsſtunde hier vor-
überzieht, der hört an See und Schlucht ein Klingen und Läuten
aus der Tiefe herauf; und wer gar Nachts des Weges kommt,
wenn der Mond im erſten Viertel ſteht, der hat über Stille und
Einſamkeit nicht zu klagen, denn ſeltſame Stimmen, Rufen und
Lachen, ziehen neben ihm her.
Und ein ſchöner Wald iſt „der Blumenthal.“ Die vielen
Seen, die ihn durchſchneiden, auch wo ſie nicht ſichtbar werden,
geben ſeinem Laub und ſeiner Luft eine duftige Friſche, und ein
Blühen iſt ringsum, als woll es der Wald immer wieder beweiſen:
ich bin „der Blumenthal!“
Rapsfelder an den offenen Stellen, die ſich breit in den Wald
[70] hineindehnen, würzen im Mai die Luft; dem Blühdorn folgt die
Hageroſe und dem Faulbaum der Akazienſtrauch; die rothen Erd-
beeren löſen ſich ab mit den rötheren „Malinekens“ (wie der Land-
mann, poetiſchen Klanges, hier die Himbeeren nennt) und wenn
endlich der Herbſt kommt, ſo lachen die Ebreſchen-Beeren überall
aus dem dunklen Laube hervor. Dabei ein Reichthum an Hölzern,
wie ihn Märkiſche Forſten wohl kaum zum zweiten Male zeigen.
In reichſtem Gemiſch ſtehen alle Arten von Laub- und Nadelholz;
Eiche und Edeltanne, Elſe und Kiefer, Buche und Lärchenbaum
machen ſich den Rang der Schönheit ſtreitig; vor allem aber iſt
es die Birke, der Liebling des Waldes, die mit weißem Kleid und
langem Haar vorüber fliegt und das Auge des Reiſenden immer
wieder entzückt.
Der Blumenthal iſt faſt 2 Meilen lang und ziemlich eben
ſo breit. Hier und dort aber, wie ſchon angedeutet, unterbrechen
weite Ackerſtrecken das Waldrevier und dringen, von rechts und
links her, bis zur Chauſſee hin vor. Ungefähr in der Mitte des
Waldes treffen von Nord und Süd zwei ſolcher Einſchnitte beinahe
zuſammen und theilen dadurch den Forſt in zwei ziemlich gleiche
Hälften, in eine weſtliche und eine öſtliche, oder in eine Wer-
neuchenſche und eine Prötzelſche Hälfte. Die erſte iſt die landſchaft-
lich ſchönere, die andere die hiſtoriſch intereſſantere.
Der ſchönſte Punkt der weſtlichen Hälfte iſt der Gamen-
Grund, genau eine Meile öſtlich von Werneuchen gelegen. Dies
war die Waldesſtelle, wo Schmidt von Werneuchen, Jahr aus
Jahr ein, die Sommer- und Familienfeſte zu feiern liebte. Sein
feiner Naturſinn bekundete ſich auch in der Wahl dieſer Stelle.
Sie iſt von aparter Schönheit, und während ſonſt der Bau einer
Chauſſee wenig zum Reiz einer Landſchaft beizuſteuern pflegt, liegt
hier ein Fall vor, wo das Landſchaftsbild durch die durchſchnei-
dende Weglinie entſchieden gewonnen hat. *) Der Chauſſeebau
[71] machte nämlich, wenn überhaupt eine paſſirbare und möglichſt
gerade Straße geſchaffen werden ſollte, die Ueberbrückung des
Gamen-Grundes nöthig, und da die Herſtellung eines Dammes
als paſſendſtes Mittel dafür erſchien, ſo wurde eine Art Viaduct
quer durch die Schlucht geführt, der nun das Hüben und Drüben
des Hügellandes verbindet. Von der Höhe dieſes Viaducts aus
blickt man nun nach links hin in die Waſſertiefe des Gamen-
Sees, nach rechts hin in die Waldestiefe des Gamen-Grundes
hinab. Der Vorüberfahrende fühlt ſich wie an dieſe Stelle gebannt,
und der Eiligſte hat es nicht eilig genug, um nicht ein paar
Minuten an dieſer Stelle zu verweilen. Beide Bilder ſind ſchön,
auch einzeln betrachtet; aber wie überall da, wo zwei Landſchafts-
bilder neben einander hängen, das eine die Wirkung des andern
unterſtützt und beide erſt, wie Abend und Morgen, eine höhere
Einheit herſtellen, ſo ſchöpft auch hier jedes einzelne der beiden
Bilder einen geſteigerten Reiz aus der Nachbarſchaft des andern.
Nach links hin Klarheit und Schweigen. Der Gamen-See, wie
ein Flußarm, windet ſich in leis geſpanntem Bogen zwiſchen den
Tannenhügeln hin und nichts unterbricht die Stille, als ein plät-
ſchernder Fiſch, den die Nachmittagsſonne an die Oberfläche treibt.
Nach rechts hin Dunkel und Leben. Aus dem Grunde herauf, bis
an die Höhe des Dammes (beinahe greifbar für unſere Hände)
ſteigen die älteſten Eichen des Waldes, und während ſich die
Stämme in Schatten und Waldesnacht verlieren, blitzt die Sonne
über die grünen Kronen hin. Allerhand Schmetterlinge ſteigen auf
und nieder und die Vögel ſingen in einer Herzlichkeit, als wäre
dies das Thal des Lebens und als wäre nie ein Falk oder Weih
über den Gamen-Grund hingezogen. In der Ferne Kukukruf und
ein blauer Himmel über dem Ganzen, heiß und feſt wie eine Glocke.
Die Weſthälfte des „Blumenthals“ iſt der landſchaftlich
*)
[72] ſchönere Theil des Waldes; aber die Oſthälfte iſt reicher an Sage
und Geſchichte. Wir wandern dieſer anderen Hälfte zu. Eine Meile
öſtlich vom Gamen-Grund, den ich eben zu ſchildern verſucht, liegt
ein Vorwerk, hart an der rechten Seite des Weges. Der Wald
hat uns bis dicht an die Stall- und Wirthſchaftsgebäude deſſelben
begleitet und jenſeit deſſelben, wo das Vorwerk aufhört, fängt der
Wald wieder an. Das Ganze erſcheint faſt nur wie ein Steinthor
mitten im Walde, wie eine Auffahrt in die Hügellandſchaft hinein,
die ſich, halb Wieſe, halb Ackerland, unmittelbar hinter dem Vor-
werk auszudehnen ſcheint. Dies iſt die Stelle, die wir ſuchen. Die
Paſſage dieſes Hofes wird auf Anſuchen freundlich geſtattet und
hinaustretend in die halb bebauten, halb brachliegenden Felder
(die ſich nicht nur im Rücken des Vorwerks, ſondern auch hin-
ter dem Waldſaume entlang ziehen), halten wir uns jetzt links
und marſchiren etwa 500 Schritt am Rande des Waldes entlang.
Wo wir eines Waſſerpfuhls, „die Suhle“ genannt, anſichtig wer-
den, machen wir Halt und ſtehen nun vor einem mit Steinmaſſen
überdeckten Terrain. Dies Steinfeld iſt die ſogenannte „Stadt-
ſtelle.“
Hier ſtand vor 500 Jahren die Stadt oder das Städtchen
Blumenthal, das ſeitdem dem ganzen Walde den Namen gege-
ben hat. Verfolgen wir nunmehr die Schickſale dieſer Stadt durch
die Jahrhunderte hindurch.
Die älteſte Nachricht über Stadt Blumenthal, die wir
haben, reicht bis auf 1375 zurück. Das Landbuch der Mark
Brandenburg (bekanntlich in genanntem Jahre entworfen) führt
„Blumendal“ noch unter den Ortſchaften des Landes Barnim
auf; der Umſtand aber, daß nur das Areal des Städtchens ange-
geben, aber weder von Abgaben noch Hofedienſten geſprochen wird,
ſpricht dafür, daß die Feldmark bereits wüſt und werthlos zu wer-
den begann. Die Trefflichkeit der Aecker, ſo wie die Bedeutung, die
„Blumendal“ bis dahin gehabt hatte, machen es zwar wahrſcheinlich,
daß im Laufe der nächſten Zeit verſchiedene Verſuche gemacht wur-
den, die wüſt gewordenen Höfe neu zu beſetzen und die Aecker neu
[73] zu bebauen, aber dieſe Abſichten ſcheiterten an der Ungunſt der
Zeiten. 1348 war das große Sterben; 50 Jahre ſpäter, als neue
Coloniſten muthmaßlich eben anfingen dem todten Orte ein neues
Leben zu geben, fielen die Pommern ins Land und wieder 30
Jahre ſpäter ging der Huſſitenzug (der bei Bernau ſein Ende
fand) mit Mord und Brand über „den Blumenthal“ hin. In
80 Jahren die Peſt, die Pommern und die Huſſiten, — das war
zu viel für das Leben von Blumendal. Ein Fluch ſchien über den
Ort ausgeſprochen zu ſein. Er war nun wirklich todt, die Wieder-
belebungsverſuche blieben aus und das Mauerwerk zerfiel. Der
Wald mit Eichen und Schlingkraut zog in die offenen Thore ein
und die Mallinekens rankten und blühten über Steintrog und
Brunnen hinweg. Die Sage fing an ihre Kreiſe um dieſen Stein-
platz zu ziehen und ehe ein Jahrhundert um war, war es ein
unheimlicher Ort, eine „verwunſchene Stelle.“ Jeder mied ſie. Wie
es Seen und Seeſtellen giebt, wo die Fiſcher nicht fiſchen, weil ſie
fürchten, daß eine Hand aus der Tiefe fahren und ſie hernieder
zerren wird, ſo berührte kein Jäger die Stelle, wo die alte Stadt
geſtanden hatte. Rundum tobte die Jagd, die Kurfürſten ſelbſt
jagten hier mit „Hund und Horn“; aber vorüber an der
Stadtſtelle zog der Zug. Und waren Kinder beim Himbeerſuchen
unerwartet unter das alte Mauerwerk gerathen, ſo befiel ſie’s
plötzlich wie bittere Todesangſt und ſie flohen blindlings, durch
Geſtrüpp und Dorn, bis ſie zitternd und athemlos die Ihrigen
erreichten. Was gab es da nicht alles zu erzählen! So wuchs die
Sage und zog immer feſtere Kreiſe um die „Stadt im Wald.“ Immer
gefürchteter wurde der Platz. Selbſt das Wild ſchien die Stelle zu
meiden und nur Bache und Keiler hatten ihre Tummelplätze hier.
An den tiefer gelegenen Stellen der „alten Stadt“, wo aus
moderndem Eichenlaub und ſickerndem Quellwaſſer ſich Sumpfland-
ſtücke gebildet hatten, kamen die Wildſchweinsheerden aus dem
ganzen „Blumenthal“ zuſammen und wenn ſie dann in Mond-
ſcheinnächten ihre Feſte feierten, klang ihr unheimliches Getös bis
weit in den Wald hinein und mehrte die Schauer des Orts.
[74]
So vergingen Jahrhunderte. Die Eichen wurden immer höher,
das Geſtrüpp immer dichter, — die alte Stadt ſchien verſchwunden.
Nur um die Winterzeit, wenn Alles kahl ſtand, wurden die Reſte
alten Mauerwerkes ſichtbar. Aber wer war, der ihrer geachtet hätte?
Es waren die Zeiten des 30jährigen Krieges und der Jahre, die
folgten; — ſo viele Dorf- und Stadtſtellen lagen wüſt, ſo viel
neue Herde waren zerſtört; wer hätte Luſt und Zeit gehabt, ſich
um alte, halbvergeſſene Zerſtörung zu kümmern?
So kam das Jahr 1689 und mit dieſem Jahre tritt die
alte Stadt, die bis 1375 ein Stück wirklicher Geſchichte gehabt
hatte und dann erſt ſagenhaft geworden war, aufs Neue in die
Geſchichte ein. 1689 beſuchte Bürgermeiſter Grüvel aus Kremmen
die Stadtſtelle und fand noch Feldſteinmauern, die den Boden in
Mannshöhe überragten. Von da ab folgten weitere Beſuche in
immer kürzeren Zwiſchenräumen: Beckmann um 1750, Bernouilli
um 1777; beide fanden Mauerreſte und hielten ſie für die Ueber-
bleibſel einer alten Stadt. Noch andere Reiſende kamen; aber
ausführlichere Mittheilungen gelangten erſt wieder zur Kenntniß
des Publicums, als im Jahre 1843 der Geiſtliche des benachbar-
ten Dorfes Prötzel, einen auf genaue Forſchung gegründeten Bericht
veröffentlichte. In dieſem heißt es: Die merkwürdige Stadtſtelle
Blumenthal iſt unſtreitig*) in alten Zeiten ein menſchlicher
Wohnort geweſen. Man ſieht noch jetzt Spuren von Feldſtein-
mauern. Vor einigen Jahren ſind von den Waldarbeitern mehrere
Werkzeuge, Hämmer, Sporen u. dergl. gefunden worden, die, den
Kindern dann zum Spielen gegeben, leider wieder verloren gingen.
Kalk wird noch jetzt dort gefunden. Die Stadt ſoll von den Huſ-
[75] ſiten auf ihrem Zuge nach Bernau zerſtört worden ſein. Einige
meinen, daß die Zerſtörung älter ſei. Der große platte Stein inner-
halb der „Stadtſtelle“ (der ſogenannte Mark- oder Marktſtein) iſt
vielleicht ein Denkmal aus der heidniſchen Zeit. Es iſt nicht un-
denkbar, daß hier, mitten im Urwalde, ſchon die Semnonen einen
Volksverſammlungsplatz oder eine Opferſtätte hatten, und daß die
Städte erbauenden Wenden (oder vielleicht auch erſt die Sachſen),
als ſie an dieſer Stelle einen Wohnort gründeten, den heidniſchen
Opferſtein liegen ließen, wo er lag, weil es unmöglich war, ihn
fortzuſchaffen. Dieſer Markſtein wird hier auch noch liegen, wenn
von den Feldſteinmauern rings umher längſt die letzte Spur ver-
ſchwunden iſt. Sollen dieſe Spuren gewahrt werden, ſo iſt es
die höchſte Zeit. Schon hat die Pflugſchar ganze Strecken der
„Stadtſtelle“ in Aecker umgewandelt und der Eichenwald iſt hin,
der dieſe Stelle ſo lange in ſeinen Schutz nahm.“
So weit der Bericht von 1843. Ich ſuche nun in Nachſte-
hendem zu ſchildern, wie ich beinahe 20 Jahre ſpäter (1862) die
Stadtſtelle gefunden habe.
Von dem Hügelrande aus geſehen, der die ſchon genannte
„Suhle“ einfaßt, hat man nach Oſten (nach Prötzel) hin ein
wellenförmiges, hier und da angebautes Stück Land vor ſich, das
an einzelnen Stellen von loſe aufgethürmten, ſehr niedrigen Stein-
mauern eingefaßt, an anderen Stellen mit großen Feldſteinen wie
beſäet iſt. Wer viel in der Mark gereiſt iſt, dem fällt der Anblick
zunächſt nicht auf, denn es giebt unendlich viele ſolcher mit Feld-
ſteinmaſſen überſäeter Felder, deren Feldſteinblöcke — um das Feld
doch einigermaßen nutzbar zu machen — die Menſchenhand bei
Seite geworfen, ſo zu ſagen an den Tellerrand gelegt und dadurch
ein freies Feld mit einer ſteinernen Einfriedigung geſchaffen hat.
Dies iſt der nächſte Eindruck; nichts was auf den erſten
Blick an Stadtüberreſte erinnerte, und man tritt (ohne es zu
[76] merken) in die alte Umwallung ein, völlig überzeugt, daß Klöden
Recht gehabt habe, als er die Exiſtenz einer Stadtſtelle beſtritt.
Aber dieſer Eindruck iſt nicht von Dauer. Unſer kundiger Führer
(der Meier auf dem obengenannten Vorwerk) führt uns an ein
Geſtrüpp von Elsbuſch und Brombeerſtrauch und ſagt dann, auf
eine Steinlinie zeigend, die kaum fußhoch aus der Erde hervor-
ragt: Dies iſt die Kirche. Wir antworten zunächſt mit einem
halb verlegenen Lächeln. „Hier können Sie den Kalk ſehen“, fährt
der Führer fort, ein Stück Mörtel aus den Fugen losſtoßend, und
indem wir uns nunmehr niederbeugen und das Kalkſtück in die
Hand nehmen, erkennen wir mit ſo großer Beſtimmtheit, wie ſie
nur irgendwie der Augenſchein geben kann, daß wir hier nicht eine
aufgeſchüttete Einfriedigung, ſondern ein in die Tiefe gehendes,
gemauertes Fundament vor uns haben. Auf einen Schlag ſind
wir überführt. Wir verfolgen nun die Steinlinie, kommen an die
Eckſteine, endlich an einen zweiten und dritten, überblicken das
Oblong und ſind mit einem Male orientirt. Aller Zweifel ſchwindet
und wir ſehen klärlich: hier hat ein Gebäude geſtanden, die Fun-
damente liegen da; ob Kirche oder Rathhaus, iſt gleichgültig;
höchſt wahrſcheinlich eine Kirche. Unſer Führer erkennt ſehr wohl
die Umwandlung, die in uns vorgegangen. „Ich werde Sie nun zu
dem großen Brunnen führen“, murmelt er mit erkünſtelter Gleich-
gültigkeit (denn dieſe „Stadt-Stelle“ iſt ſein Stolz) vor ſich hin
und geht, hügelanwärts, vorauf. Inmitten eines Stück Roggen-
landes, deſſen Halme erſt handhoch aus der Erde ragen, ſtehen wir
alsbald vor dem Brunnen, und zwar ganz unzweideutig vor einem
jener Ziehbrunnen, wie wir deren noch jetzt in den Dorfgaſſen be-
gegnen. Wir ſehen eine Rundung von 5 bis 6 Fuß Durchmeſſer,
die Rundung ſelbſt mit Feldſteinen ausgemauert und die Höhlung,
wiewohl mit Geröll locker zugeworfen, noch jetzt über 5 Fuß tief.
Auf unſere Fragen erfahren wir, daß vor 20 Jahren alle dieſe
Dinge noch viel deutlicher waren: das Mauerwerk der Kirche ragte
noch mannshoch auf, die Brunnenhöhlung war noch gegen 15 Fuß
tief, und die innere Umkleidung, der Mantel des Brunnens, erwies
[77] ſich noch deutlich als eine Art Lehm-Cylinder, in dem die Steine
kreisförmig übereinander ſteckten.
So vor 20 Jahren, alſo zur ſelben Zeit, als der Prötzler
Geiſtliche ſchrieb. Aber was da iſt, genügt auch jetzt noch völlig
zur Beweisführung. Wir ſchreiten nunmehr von der „Brunnen-
ſtelle“ zu der benachbarten „Backofenſtelle.“ Sie liegt mitten im
Roggenland und giebt ſich zunächſt durch nichts Beſonderes zu
erkennen. Die Roggenhalme ſtehen hier ebenſo wie rundum. Erſt
bei genauerer Einſicht gewahren wir, daß ſich mitten in dem
ſchwarzbraunen Boden eine kreisrunde, etwa 6 Fuß im Durchmeſſer
habende Lehmſtelle ſcharf markirt. „Hier ſtand ein Backofen; Sie
werden unten (in dem tiefer gelegenen Stadttheil) beſſere ſehn.“
Von der Backofenſtelle geht es zum „Marktſtein“, der an
höchſter Stelle der Stadtſtelle gelegen, bis dieſen Tag von einer
alten Eiche überſchattet wird. Aber dieſe Eiche, alt wie ſie iſt, iſt
keine von den älteſten. Sie iſt eine von dem Nachwuchs, der,
als die Stadt zerſtört war, durch die offenen Thore hier einrückte.
Die wirklich alte Eichengeneration, die, zu Lebzeiten der Stadt,
den Marktplatz hier einfaßte und beſchattete, iſt hin und zeigt nur
noch an einzelnen Wurzelſtubben (von 7 Fuß Durchmeſſer), weß
Schlages und Umfangs ſie war.
Weit mehr aber als dieſe Eichenſtubben iſt der Markſtein
ſelbſt eine Sehenswürdigkeit. Es iſt derſelbe, über den wir ſchon
den Prötzler Geiſtlichen berichten hörten. Er mißt etwa 8 Fuß im
Quadrat, ragt nur wenig aus dem Erdreich hervor und gleicht
einer großen, granitnen Tiſchplatte. Seine Wurzeln gehn ſehr tief,
ſo daß man bei Nachgrabungen, die vor einiger Zeit angeſtellt
wurden, noch auf 14 Fuß Tiefe nicht das Ende des Steins er-
reicht hatte. Natürlich hat nicht Menſchenhand dieſen Stein hierher
gelegt, und die Annahme hat nichts Gezwungenes, daß er ein
Opferſtein der Ureinwohner war. Auf dieſem Stein zu ſchlafen,
müßte mindeſtens eben ſo unheimlich wie unbequemlich ſein.
Von dem Markſtein aus, — nach den Detail-Studien, die
man auf dem Wege dahin an Fundamenten, Brunnen- und
[78] Backofenſtellen gemacht hat, — überblickt man nunmehr die „Stadt-
ſtelle“, wie man auf eine Reliefkarte blickt; man iſt durchaus
orientirt und hat Alles in völliger Klarheit vor ſich. Man erkennt
die Stadtmauer, die Thore, die Hauptſtraße, die Kirche, die ein-
zelnen Häuſer und Gehöfte, — und ungerufen, wie eine Viſion,
ſteigt die alte Stadt wieder vor unſerem Auge auf. Gewiß iſt das
Bild ein vielfach falſches; aber die Umriſſe liegen überſichtlich da,
und die Fehler, die wir machen, ſind nur die, in die wir verfal-
len, wenn wir uns mit Hülfe eines Plans eine Stadt im Geiſte
auferbauen. Die Dinge ſelbſt ſind nicht richtig, aber wir geben
den Dingen ihren richtigen Platz.
Nachdem wir Umſchau gehalten, traten wir nunmehr den
Rückweg an. Unſer Nächſtes war, den Umfang von Stadt und
Kirche auszumeſſen. Die Kirche mißt 50 Fuß zu 40; die ganze
Stadt iſt 600 Schritt lang und ziemlich eben ſo breit. Unten am
Hügel-Abhang, in der Nähe der „Suhle“, blickten wir noch ein-
mal auf das Steinfeld, das nun nicht länger ein Chaos für uns
war, zurück; — dann trennten wir uns zögernd von dieſer Stelle,
über der ein eigener Zauber waltet. Die Natur wuchs einſt wild
in dieſe alte Stelle der Cultur hinein und wucherte darin; nun
hat eine andere Cultur den Wald gefällt und breitet ihre Saaten
darin aus. Im Mai blüht und duftet hier der Raps; im Juni
wogen die Kornfelder. Städtiſche Cultur von ehemals und Acker-
cultur von heut reichen ſich über dem vierhundertjährigen Wald-
Interregnum die Hand. Aber an Unheimlichem fehlt es noch
immer nicht. Das Wildſchwein hat es nicht vergeſſen, daß Jahr-
hunderte lang ihm dieſe Stelle gehörte, und in Sommernächten,
wenn der Rapsduft vom Feld her in den Wald zieht, dann
bricht es in ſein altes Land ein, erſt in die „Suhle“, dann in
die Saat und tritt nieder und wirbelt auf. Wer dann im
„Blumenthal“ ſeines Weges kommt, der hört ein Lärmen und
Jolen, ein Grunzen und Quitſchen wie in alter Zeit, und weiß
nicht, iſt es ein Hexen-Sabbath oder die wilde Jagd.
[[79]]
Predikow.
Um den großen und ſagenreichen „Blumenthalwald“ herum, der
das Plateau des Barnim von Weſt nach Oſt durchzieht, gruppirt
ſich eine ganze Anzahl ſchöner und reicher Güter, die, bis in die
Zeiten des dreißigjährigen Krieges hinein, das Beſitzthum vier
alter märkiſcher Familien waren. Lichterfelde, Hohen-Finow, Trampe
und Hackelberg (alle im Norden des Blumenthalwaldes gelegen)
gehörten den Sparrs; Gielsdorf und Garzin (im Süden) den
Pfuels; Werneuchen (weſtlich) den Krummenſees; im Oſten aber
ſaßen die Barfuſe auf Möglin und Batzlow, auf Prötzel und
Predikow.
Die Krummenſees ſind ausgeſtorben; von den Sparrs exiſtirt
noch ein Zweig in Pommern (ihre märkiſchen Güter ſind längſt in
andere Hände übergegangen); die Pfuels blühen noch auf Gielsdorf
und Jahnsfelde, anderer neu erworbener Güter zu geſchweigen; die Bar-
fuſe aber, eine Zeit lang die mächtigſten und reichſten vielleicht,
haben alles eingebüßt und beſitzen von jenen fünfzehn Gütern,
die ſie zur Regierungszeit des großen Kurfürſten (blos im Lande
Barnim) inne hatten, nur eines noch — Batzlow. Die letztge-
nannten, die Barfuſe, ſind es, die uns in dieſem Kapitel aus-
ſchließlich beſchäftigen ſollen.
[80]
Sie kommen zuerſt 1280 in den Marken vor, wo Hans
Barfus, als einer der angeſehenſten Vaſallen des Landes Ober-
barnim, genannt wird. In ihre ſagenhafte Vorgeſchichte ſteigen wir
übrigens nicht zurück und leiſten namentlich auch Verzicht darauf,
den alten Streit wegen „Barfus“ mit einem s und „Barfuß“
mit einem ß entſcheiden zu wollen. Die Genealogen ſchreiben „Bar-
fuß“, einfach auf das Wappen der Familie deutend, das drei un-
verkennbare Barfüße zeigt; die Familie ſelbſt aber verwirft die
Ableitung von einem niederſächſiſchen Geſchlecht der Baarfoote,
Barfuße oder Nudipes (wie ſie in alten Urkunden häufig genannt
werden), und ſchreibt ſich Barfus, ihren Urſprung auf das alt-
kölniſche (urſprünglich römiſche) Patriziergeſchlecht der Parvus zu-
rückführend. Der jetzige Senior der Familie beſitzt unter ſeinen
vielen Bildern und Schildereien auch eine Abbildung des alten,
noch exiſtirenden Parvuſenhofes in Köln, eine Stätte, auf die er
als auf den alten Urſitz ſeiner Familie zurückblickt.
Gleichviel ob Barfuß oder Barfus, für unſere Zwecke genügt
es, daß die Barfuſe (wie wir in Huldigung gegen die Familie,
aber ohne direkte Parteiergreifung ſchreiben wollen) ſchon in der
Mitte des dreizehnten Jahrhunderts auf dem Oberbarnim ſäßig
waren und bald darauf bereits dieſelben Güter inne hatten, die
ſpäter den Kern ihres ausgebreiteten Beſitzes bildeten: Kunersdorf
(nicht das Schlachten-Kunersdorf), Batzlow, Predikow und Möglin.
Predikow war das eigentliche Familiengut und damals unmittel-
bar am Rande des „Blumenthal“*) gelegen war es beſonders werth-
voll durch ſeine Forſtbeſtände, die ſich, nach Weſten hin, bis weit
in den Blumenthalwald hinein erſtreckten. Dieſen reichen Forſtbe-
ſtänden verdanken wir es auch, daß wir die Barfuſe, etwa um
1590 herum, bereits in der Specialgeſchichte unſeres Landes auf-
treten ſehen, indem es eben dieſer Predikowſche Antheil am Blu-
menthalwalde war, der unter Johann Georg und Joachim Friedrich
[81] zu einem vieljährigen Streit zwiſchen den Kurfürſten und den Bar-
fuſen führte. Dem ganzen Ereigniß — ohne ſchließlich in einer
Schlacht von Otterbourne oder einem Percy- und Douglaskampf
zu culminiren — ſtand nichts deſto weniger von Anfang an ein
gewiſſes romantiſches Element zur Seite, und um dieſes Stückleins
Romantik willen (eine ſeltene Blume hierlandes) mag es gerecht-
fertigt ſein, wenn wir einen Augenblick bei der Erzählung des
ganzen Hergangs verweilen.
Kurfürſt Johann Georg liebte die Jagd, wie alle Hohenzollern
vor und nach ihm, Friedrich den Großen abgerechnet, der das
Jagdvergnügen einfach als eine Barbarei bezeichnete. Die Kurfür-
ſten jagten damals in den ſchönen Forſten um Berlin herum, in
den weiten Waldrevieren von Potsdam und Spandau, von Kö-
penick und Fürſtenwalde, und beſaßen außerdem den „Werbelliner
Wald“, einen der ſchönſten Forſte in Norddeutſchland. Aber, voll
wachſender Jagdpaſſion, mit jeder Grenze unzufrieden, ging ihr
beſtändiges Streben dahin, ihre Jagdterritorien zu erweitern und
immer neue Waldgebiete in den großen Jagdgrund hineinzuziehen.
Eine ſeiner Jagden führte den Kurfürſten (Johann Georg)
um 1590 in den „Blumenthal“ und die Schönheit dieſes Waldes
machte einen tiefen Eindruck auf ihn. Der fruchtbare Boden, der
allem, was hier wuchs, eine üppige Schönheit lieh, die hohen
Eichen, das friſche Niederholz, das Terrain ſelbſt in buntem Wechſel
von Thal und Hügel, mit klaren Seen in Tiefen und Schluchten,
alles das erfreute das Jägerherz Johann Georgs, und ehe eine
Woche um war, wandte er ſich an die Barfuſe (vier Brüder), die
damals auf Predikow ſaßen, und bat um die Erlaubniß, in ihrem
Walde jagen zu dürfen. Die Barfuſe (Richard, Nicolaus, Valentin
und Casper) willfahrten gern dem kurfürſtlichen Wunſche, ohne
Ahnung, daß aus ihrer Willfährigkeit alsbald das dauernde Recht
der „Vorjagd“ gefolgert werden würde. Und dennoch geſchah es
ſo. Ohne weitere Nachſuchung, geſtützt auf das plötzlich in’s Leben
getretene Recht „landesherrlicher Vorjagd“ brach im Sommer 1602
das Jagdgefolge Joachim Friedrichs (des Nachfolgers Johann
6
[82] Georgs) „mit Hund und Horn“ in die Predikowſchen Waldungen
ein und das Geklaff von über 200 Rüden lärmte durch den Forſt.
Ehe der Tag um war, war das hohe Wild zu Tode gehetzt und
der junge Wildſtand vernichtet. Soweit die Romantik; die vier
Barfuſe aber, ſtatt ihren Clan zu den Waffen zu rufen, wurden
klagbar beim Obergericht, und als nach fünfzig oder hundert Jah-
ren der Inſtanzenzug zu Ende war, war längſt kein Barfus mehr
auf Hohen- und Nieder-Predikow.
Die Barfuſe wurden klagbar, ſtatt ihren Clan zu entbieten;
aber wir würden ſehr irren, wenn wir aus dieſem Abſtehen vom
Kampf gegen die damals ſchon feſt gegründete hohenzollernſche
Gewalt, etwa den Schluß ziehen wollten, die vier Barfuſe auf Pre-
dikow wären ſehr friedliche und ruhige Leute geweſen. Sie waren
ſo ziemlich das Gegentheil davon, was aus einer andern Geſchichte
erhellen mag.
Von den vier Brüdern waren drei, die beiden älteſten und
der jüngſte, auf ihren „Höfen“ in Predikow geblieben, während
der dritte Bruder, Valentin, in die Dienſte des Pommernherzogs
getreten und deſſen Oberjägermeiſter geworden war.
Es war um 1610, alſo acht Jahre nach der Jagd im „Blu-
menthal“, als Valentin Barfus auf Beſuch nach Predikow kam.
Es verſtand ſich von ſelbſt, daß er von ſeinen Brüdern der Reihe
nach bewirthet wurde. Der älteſte, Richard, der auf dem „rothen
Hauſe“ in Nieder-Predikow ſaß, hatte natürlich den Vorrang als
Feſtgeber und eine tüchtige Zechkumpanei, nach Sitte jener Zeit,
wurde geladen. Man trank, man jubelte, man tobte und, unglaub-
lich zu ſagen, — denn woher nahm man die Damen? — man
tanzte auch. So kam Mitternacht heran. Um Mitternacht aber
legten die Spielleute matt und müde ihre Fiedeln nieder und ſag-
ten: „Wir können nicht mehr!“ Da ſprang Nicolaus, der zweite
und wildeſte der Brüder, mitten unter ſie und ſchrie, indem er
dem Nächſten mit der Fauſt drohte: „Weiter, weiter, und wenn
der Teufel ſelber aufſpielen ſollte!“ Da erſchien der böſe Feind
auf dem Ofen, mit der Sackpfeife unterm Arm, grinste den Ni-
[83] colaus an und ſpielte auf. Da entſetzten ſich die Barfuſe und lie-
ßen den Pfarrer holen. Als er kam, fingen ſie an mit ihm zu
beten, und beteten, bis der Sackpfeifer wieder verſchwunden war.
Aber der Teufel war doch im Hauſe geweſen und Unfrieden
ließ er zurück. Fehde brach aus zwiſchen den Brüdern; die beiden
älteren ſtanden ſich im Zweikampf gegenüber, und auf dem Gras-
platz am Teich, hundert Schritt hinter dem rothen Hauſe, fiel
Richard, der älteſte, von der Hand des zweiten Bruders, eben
jenes Nicolaus, der an dem geſchilderten Zechabend den unheimli-
chen Sackpfeifer herbei gerufen hatte.
Unfriede kam in’s Haus und alsbald jedes Unglück im Geleit.
Der dreißigjährige Krieg legte die Felder wüſt und fünfzig Jahre
ſpäter war kein Barfus mehr in Predikow. Intrigue und Gewalt
hatten ihnen ihr altes Erbe entwunden.
In Predikow iſt wenig oder nichts mehr, das an die alten
Barfus-Zeiten erinnerte. Noch unterſcheidet man ein Ober- und
Unterdorf, noch weiß man, wo das „rothe Haus“ geſtanden und
wo der älteſte Bruder, zum Tod getroffen, zuſammenſank; aber
ſonſt ſchweigt an dieſer Stelle alles von den Barfuſen, wiewohl
die alte Ulmenallee noch ſteht, die ſie gepflanzt, und die alte Kirche,
die ſie gebaut haben.
Dieſe Kirche iſt eine jener einfach maleriſchen Feldſteinbauten,
wie man ihnen, aus dem vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert
her, ſo oft in den Marken begegnet. Ein Chriſtuskopf auf dem
Schweißtuch der heiligen Veronica, eine rohe Arbeit, ſtammt viel-
leicht noch aus jener Zeit der „vier Brüder“, aber niemand weiß
es zu ſagen. Im Jahr 1821 war ferner noch ein Barfusſches
Wappenfenſter da; indeſſen proteſtantiſches „Lichtbedürfniß“ hat
längſt ſeitdem das bunte Glas beſeitigt und eine „helle Scheibe“
an die Stelle der bunten geſetzt. Nichts mehr mahnt an die Bar-
fuſe hier als ihre Gruft, aber auch die Sprache der Särge iſt
ſtumm gemacht. Der Eingang in das Gewölbe iſt zugemauert, und
die Gruft ſelber, ſo würden wir glauben, längſt verſchüttet, wenn
nicht der Eſtrich hie und da tief verſänke und hohlen Klang gäbe
6*
[84] bei jedem Schritt darüber hin. Aber verſchüttet oder nicht, da un-
ten ruhen die vier Brüder Barfus, bei denen unſere Erzählung
länger verweilt hat: Valentin, „der beim Pommernherzog das
Zechen gelernt,“ Richard, der hinter dem „rothen Hauſe“ zuſam-
menſank und Nicolaus, der den Teufel-Spielmann rief und dann
ihm verfiel.
Von den Predikowſchen Barfuſen aber wenden wir uns viel
berühmteren Gliedern derſelben Familie zu: den Barfuſen von
Möglin. Noch gedenkt ihrer, ihres Namens in der Geſchichte zu
geſchweigen, ein altes Wappenſchild in der kleinen Kirche des eben-
genannten Dorfs, aber im Gedächtniß der „Mögliner, die nach
ihnen kamen,“ ſind ſie todt; mit Unrecht. Detlof Friedrich von
Barfus, der als Oberſt bei der Belagerung von Greifswald fiel,
war ein Barfus von Möglin, deſſen das Dorf ſchon Grund
hätte in Ehren eingedenk zu ſein bis dieſen Tag; mehr aber als
Detlof Friedrich und alle Barfuſe vor und nach ihm ſteuerte Hans
Albrecht von Barfus, der Feldmarſchall und Türkenbeſieger,
zum Ruhme ſeiner Familie und ſeines Dorfes bei. Dieſem, dem
vornehmſten ſeines Geſchlechts, wenden wir uns nunmehr aus-
führlich zu.
[[85]]
Hans Albrecht von Barfus.
War erſt nur ein ſchlichter Edelmann,
Und weil er der Kriegsgöttin ſich vertraut,
Hat er ſich dieſe Größ’ erbaut.
Schiller.’
Hans Albrecht von Barfus wurde, inmitten der Drangſale des
dreißigjährigen Krieges, 1635 zu Möglin geboren. Dieſes Dorf,
dem zu Anfang dieſes Jahrhunderts, durch den Namen Albrecht
Thaers, ein Ruhm weit über die Grenzen unſerer Heimath hin-
aus erwuchs, war an und für ſich ein unbedeutender Beſitz; der
Vater Hans Albrechts aber, in ſo weit er einige Nachbargüter be-
ſaß, zählte keineswegs zu den ärmerern Grundbeſitzern des Barnim
und verfügte zweifellos über die Mittel, ſeinem Sohne eine Er-
ziehung zu geben. Aber ſei es, daß der Vater, wie ſo viele da-
mals und ſpäter, von hohen Schulen nicht allzu hoch dachte, oder
daß die Verwüſtungen des Krieges die vorhandenen Mittel er-
ſchöpft hatten, gleichviel, eine claſſiſche Bildung unterblieb, und
eine weltmänniſche kaum minder. Das Militäriſche trat von An-
fang an in den Vordergrund und wurde Schule für’s Leben,
Staffel zum Glück.
Hans Albrecht trat früh in Dienſt. Es war die Zeit, wo die
Söhne des Adels anfingen, nachdem ſie Jahrhunderte lang dem
Aufgebot ihres Landesherrn gefolgt waren, den Krieg aus eigenem
Trieb heraus als Metier zu treiben. Alles drängte darauf hin.
Die Edelhöfe lagen wüſt, die Zeiten waren unſicher, zudem traten
eben jetzt die ſtehenden Heere in’s Leben und brauchten Offiziere.
Hans Albrecht diente „von der Pieke auf“, ein Umſtand, deſſen er
ſich in ſeinen Feldmarſchallstagen gern zu rühmen pflegte.
[86]
Seine erſten Feldzüge machte er unter Sparr, Derfflinger
und Görtzke. Er focht mit in Polen (die dreitägige Schlacht bei
Warſchau), in Pommern, in Preußen und am Rhein. Bei Fehr-
bellin war er höchſt wahrſcheinlich nicht, da er zu allen Zeiten beim
Fußvolk ſtand, das brandenburgiſcherſeits in dieſer Reiterſchlacht faſt
gar nicht zur Verwendung kam. Auch Schöning (aus gleichem
Grunde, wie ſchon erzählt) fehlte bei Fehrbellin. Im Uebrigen be-
gann ſchon damals der Unterſchied zwiſchen Schöning und Barfus,
auch in ihrer äußern Stellung hervorzutreten. Schöning war mit
35 Jahren Generalmajor, Barfus mit 35 Jahren — Lieute-
nant. Das durfte nicht Wunder nehmen. Erwies ſich Schöning
doch in allem und jedem als der „Ausnahmemenſch“, als der
Mann der „großen Carrière“. Barfus hingegen war der Durch-
ſchnittsmenſch, der Mann der Anciennität. Freilich gehörte er jener
Claſſe von Perſonen zu, die man als die ſubalternen Genies
bezeichnen könnte, zu jener Claſſe von Leuten, die eine mäßige
Begabung glücklich und ſegensreich für ſich und andere auszubeu-
ten wiſſen. Ihre Tugenden ſind Charakterſache und ihre Genialität
heißt: Abwarten, Ausdauer, Conſequenz. Eine ſolche Natur war
die unſeres Hans Albrecht.
Im Jahr 1670, fünfunddreißig Jahre alt, war er noch
Lieutenant, aber ſei es, daß die immer ſich ſchneller folgenden
Kriegszüge ihm eine raſch wachſende Gelegenheit gaben, ſich aus-
zuzeichnen, oder daß das Glück, das ihm ſo wenig hold geweſen
war, plötzlich ſeine gute Laune ihm zuwandte, gleichviel, mit 35
Jahren noch Lieutenant, war er mit 43 Jahren bereits Obriſt
eines Regiments und wenige Jahre ſpäter Generalmajor. (In der
neueren preußiſchen Kriegsgeſchichte bietet vielleicht nur Gneiſenau
ein ähnliches Beiſpiel verſpäteten und dann ſehr raſchen Avance-
ments, Gneiſenau, der 1806 noch Capitän und 1813 bereits Ge-
nerallieutenant war.) Als ſolcher machte Barfus zwei Türkenzüge
mit, den erſten (1683) behufs des Entſatzes von Wien, den an-
dern (1686) wegen der Eroberung von Ofen. Die Belagerung
dieſer Feſtung und den beſonders ruhmreichen Antheil, den Hans
[87] Albrecht an dieſer Belagerung genommen, habe ich unter Tamſel,
in dem Kapitel „Hans Adam von Schöning“ bereits ausführ-
licher erzählt. Schöning wird der Ruhm nicht genommen werden
können, Brandenburg damals, ſowohl durch ſein perſönliches Auf-
treten, wie auch durch den Aplomb, mit dem er ſeine Truppen in
den Vordergrund ſchob, glänzend repräſentirt zu haben, glänzender
muthmaßlich, als es unſer Hans Albrecht vermocht hätte; dem
letzteren aber bleibt ſeinerſeits das Verdienſt, in der Nähe des
„Ofens, der ſehr heiß war,“ wie damals das Sprüchwort ging,
am andauerndſten ausgehalten und zweimal allerperſönlichſt die
Kaſtanien aus dem Feuer geholt zu haben. Seine Sturmkolonne
war es, neben der kaiſerlichen des Herzogs von Croy, die über das
Schickſal „Budas“ entſchied.
Zwei ruhmreiche Türkenzüge lagen hinter ihm; aber ein
dritter, ruhmreicherer ſtand ihm bevor; ruhmreicher vielleicht für
die chriſtlichen Waffen überhaupt, jedenfalls ruhmreicher für unſern
Hans Albrecht ſelbſt. Im Jahr 1691 ſtieß abermals ein Corps
Brandenburger als Auxiliartruppe zu den Kaiſerlichen, und am
19. Auguſt erfolgte Angeſichts von Peterwardein, die große Tür-
kenſchlacht bei Szalankament. Markgraf Ludwig von Baden führte
das chriſtliche Heer. Da Barfus dieſen wichtigen Tag zu „Ehren
der Chriſtenheit“ entſchied, ſo ziemt es ſich wohl, bei den Details
dieſes Tages, ſo ſehr wir ſonſt geneigt ſind, von Schlachtenſchil-
derungen Abſtand zu nehmen, etwas ausführlicher zu verweilen.
Die Türken, etwa 100,000 Mann ſtark, hatten eine ſehr feſte,
aber zugleich ſehr gefährliche Poſition eingenommen, eine Poſition, in
der ſie ſiegen oder nothwendig zu Grunde gehen mußten. Sie ſtanden
nämlich mit ihrem Fußvolk (50,000 Mann, meiſt Janitſcharen) auf
den Hügeln an der Donau, den Fluß im Rücken, die Ebene vor ſich.
Auf dieſer Ebene, am Fuß des Hügels, ſtanden andere 50,000
Mann, lauter Reiterei (Spahis). Die Janitſcharen führte der
Großvezier Köprili, die Reiterei der Seraskier-Paſcha. Die kaiſer-
liche Armee war viel ſchwächer und betrug im Ganzen kaum
50,000 Mann. Den rechten Flügel führte Feldzeugmeiſter Graf
[88] Souches, den linken Feldmarſchall Graf Dünewald, im Centrum
aber befehligte Hans Albrecht von Barfus; ſiebzehn Bataillone
und einunddreißig Schwadronen ſtanden unter ſeinem Commando.
Der Plan des Markgrafen Ludwig war vortrefflich. Graf
Dünewald ſollte vom linken Flügel her mit 85 Schwadronen
die Spahis von der Ebene fortfegen, und den glücklichen Moment
benutzend, war Graf Souches angewieſen, über das frei gewordene
Terrain hinweg die Hügel zu erſtürmen; aber der große Reiteran-
griff Graf Dünewalds unterblieb (das Terrain war unwegſam),
und ſo griff denn Graf Souches unter ungünſtigen Verhältniſſen
an. Dreimal vordringend, wurde er dreimal zurückgeſchlagen, und
bereits ſchickte die ganze türkiſche Reiterei ſich an, die Vernichtung
des rechten Flügels vollſtändig zu machen, als Barfus mit ſeinen
Bataillonen vorrückend und einfach rechts ſchwenkend, eine ſchützende
Mauer zwiſchen die eben angreifenden Spahis und den in Flucht
aufgelösten rechten Flügel ſchob. Dieſe Eine Bewegung ſtellte die
Schlacht wieder her.
Aber Barfus ſollte nicht nur die ſchon verlorene Schlacht
wieder herſtellen, er ſollte ſie in der zweiten Hälfte des Kampfes
gewinnen. Wir blicken jetzt auf den zweiten Akt der Schlacht.
Der ſieghafte Sturm der Spahis war gehemmt, noch ehe er
ſeinen vollen Anlauf hatte nehmen können; die Schlacht ſtand.
Da endlich kam Graf Dünewald, der lang erwartete, mit dem
linken Flügel heran; Markgraf Ludwig ſtellte ſich ſelbſt an die
Spitze der Reiterei und brach nun von links her in die Spahis
ein, während 6000 Küraſſiere, die geſammte Reſerve des chriſtlichen
Heeres, den Feind in der Front angriffen. Der Angriff war
unwiderſtehlich. Die Fortfegung der Spahis, womit die Schlacht
hatte beginnen ſollen, jetzt war ſie vollzogen; aber kein rechter
Flügel exiſtirte mehr, um die Gunſt des Moments zu nutzen.
Graf Souches ſelbſt lag todt auf der Wahlſtatt.
Nur das Centrum ſtand noch. Barfus erkannte die volle
Bedeutung des Moments. Was der rechte Flügel nicht mehr
konnte, das konnte das Centrum, nur noch das Centrum. Die
[89] Aufgabe jenes war auf dieſes übergegangen. Barfus rückte vor
zum Sturm. Siegreich, wie er vor Buda in die Breſche eingerückt
war, ſo erſtieg er hier die Höhen und ein raſendes Gemetzel be-
gann. Was nicht in Stücke gehauen wurde, warf ſich in die
Donau und ertrank. Der Großvezier Köprili, der Stolz und
Abgott der Türken, der Janitſcharen-Aga, 18 Paſchas, 36 Alaibege,
15 Torbaſchis der Janitſcharen und 20,000 Gemeine bedeckten
das Schlachtfeld; die große Heeresfahne des Großveziers von
grüner Farbe mit Gold, 145 Kanonen, die Kriegskaſſe, 10,000
Zelte ꝛc. waren erbeutet, und wohl mochte Markgraf Ludwig
berichten, „daß dieſe Schlacht die ſchärfſte und blutigſte in dieſem
Säculo geweſen, maßen die Türken wie verzweifelte Leut’ gefoch-
ten und mehr als eine Stunde den Sieg in Händen gehabt.“
Der Verluſt des Chriſtenheeres betrug 7300 Mann, darunter
1000 Brandenburger.
Der Sieg bei Szalankament, ſeiner allgemeinen Bedeutung
zu geſchweigen, hatte auch eine hohe Bedeutung für das Haus
Brandenburg insbeſondere. Markgraf Ludwig ſchrieb an den Kur-
fürſten und drückte ſich über die Mitwirkung der brandenburgiſchen
Hülfsvölker in folgenden Worten aus: „Ich kann Euer Kurfürſt-
liche Durchlaucht den außerordentlichen Valor und das gute Be-
nehmen von Dero Generallieutenant von Barfus, ſo wie Ihrer
braven Truppen nicht genug rühmen, und ihnen allein hat der
Kaiſer den Sieg und die Vernichtung der Türken zu danken.“
Eine ähnliche complimentenreiche Sprache war zwar damals
an der Tagesordnung und verfolgte den leicht begreiflichen Zweck,
durch freigebig geſpendetes Lob die verſchiedenen Reichsfürſten und
ihre Truppenbefehlshaber bei guter Laune zu erhalten. Im vor-
liegenden Fall indeß, ſo müſſen wir annehmen, waren dieſe Worte
mehr als bloßes Compliment und drückten in der That eine wohl-
verdiente Anerkennung aus. Dieß ergiebt ſich zum Theil aus der
Schlachtbeſchreibung ſelbſt. Barfus, durch ſeine prompte Rechts-
ſchwenkung, dann durch ſeinen Sturm auf die Höhen, entſchied
zweimal, durch ſelbſtſtändige Manöver, über das Schickſal des
[90] Tages. Aber freilich, Schlachtbeſchreibungen können täuſchen. Was
indeſſen nicht täuſchen kann, das iſt das nachfolgende Benehmen
des Wiener Hofes. Brandenburg, als es nach der Königswürde
zu ſtreben begann, betonte immer wieder und wieder, und zwar
erfolgreich, ſeine entſcheidende Mitwirkung am Tage von Szalan-
kament, und ſo mögen denn die Barfuſe nicht ganz Unrecht ha-
ben, wenn ſie den ſtolzen Ausſpruch wagen: „ihr Ahn, Hans
Albrecht, habe auf dem Felde von Szalankament die preußiſche
Königswürde mit erobern helfen.“
Im Jahre 1692 kehrte Barfus mit ſeinem Hülfscorps nach
Berlin zurück. Hier häuften ſich jetzt die Ehren auf ſeinem Haupt.
Ohne ein Hofmann zu ſein, vielleicht ſelbſt ohne den Ehrgeiz, es
ſein zu wollen, trat er in die Hofkreiſe und ihr Parteigetriebe
ein. Was eigenes Verdienſt ihm nicht erwarb, erwarb ihm die
Coterie, der er angehörte. „Eine Hand wuſch die andere“, wie
nicht zum zweiten mal in unſerer Geſchichte. Er hielt ſich von
Anfang an zur „Fraktion Dohna-Dönhof“ und es gereicht ihm
zur Ehre, in einer Zeit voll cyniſch egoiſtiſchen Undanks, in Treue
bei der einmal erwählten Partei ausgehalten zu haben. Es kam
freilich hinzu, daß er ſeit 1693 mit Gräfin Eleonore von Dönhof
(in zweiter Ehe) vermählt und dadurch an die Intereſſen dieſer
Familie gefeſſelt war. 1695, ohne daß inzwiſchen neue Kriegsthaten ihm
neuen Kriegsruhm erworben hatten, wurde er Feldmarſchall-Lieutenant
und das Jahr darauf Feldmarſchall. Wie ſein Rang und ſein
Anſehen, ſo wuchs ſein Vermögen. Er erſtand die Quittainenſchen
Güter in Oſtpreußen, die bis dahin dem Feldmarſchall Derfflinger
gehört hatten, und endlich auch „Schloß Coſſenblatt an der Spree“,
ſeinen Lieblingsbeſitz, von dem wir in dem nächſten Kapitel aus-
führlicher ſprechen werden.
Aber erſt das Jahr 1697 bezeichnet den Höhenpunkt ſeines
Ruhms. Im November dieſes Jahres wurde Eberhardt von
Danckelmann, der bis dahin allmächtig geglaubte Miniſter, durch
die Dohna-Dönhofſche Fraktion geſtürzt. Hans Albrecht fielen die
endlichen Erfolge eines Spieles zu, deſſen Einfädelung und Durch-
[91] führung, wie wir annehmen dürfen, ihm wenig Sorge gemacht
hatte. Seine Hand war zu ſchwer zur Einfädelung einer Intrigue.
Er gab das Gewicht ſeines Namens her und ließ dann die andern
machen.
Danckelmann war geſtürzt und Barfus wurde Premier-
miniſter. Es war eine Zeit, wo ſich jeder zu jedem fähig glaubte,
wenigſtens bei Hofe. Das bekannte Wort Oxenſtiernas wurde wahr
an jedem neuen Tag, und was das erſtaunlichſte iſt: die Dinge
gingen auch ſo, und gingen zum Theil ſogar gut.
Barfus war Premierminiſter, noch richtiger Univerſalminiſter.
Er war alles, er that alles. Auswärtiges, Finanzen, Krieg — alles
fiel ihm zu. Dazu war er Gouverneur von Berlin, Commandeur
der Garde, Landeshauptmann der Grafſchaft Ruppin, und ſo viel
Stellen ſich ihm aufthaten, ſo viel Quellen floſſen in ſeinen Schatz.
Er wurde ſehr reich. Als Gouverneur von Berlin bezog er ein
palaſtartiges Gebäude, das vor ihm der Obermarſchall von
Grumbkow (der Vater des bekannten) beſeſſen hatte. Barfus ließ
es umbauen, erweitern und einen Garten nach der Spree hin an-
legen. Es iſt dieß daſſelbe Gebäude, das ſpäter, und bis auf dieſen
Tag, als „Stadtvogtei“ eine ſo hervorragende, aber freilich wenig
poetiſche Rolle in unſerer Stadt- und Staatsgeſchichte geſpielt hat.
Hans Albrecht war Univerſalminiſter, aber er war es nur
durch Zulaſſung und nicht durch eigene Kraft. Die Dohna-
Dönhofs ſchoben ihn einfach vor, um in die entſtandene Günſt-
lingslücke nicht einen neuen, vielleicht viel gefährlicheren Günſt-
ling einrücken zu laſſen, als Danckelmann je geweſen war. Barfus
fiel alſo die Rolle zu, durch ſein bloßes Daſein den Satz zu
predigen: wo ich bin, kann kein anderer ſein.
Das ging zwei Jahre lang, aber nicht länger. Der Kurfürſt,
was immer ſeine Schwächen ſein mochten, war aus zu feiner
Schulung, um an der Haltung eines alten Campagneſoldaten, der
nicht einmal franzöſiſch ſprach, auf die Dauer ein Genüge finden
zu können. Neben einem geborenen Hofmann wie Kolbe-Warten-
berg verſchwand er, und die Einführung einer Perückenſteuer,
[92] durch die er der Sitte und den Finanzen des Landes einen gleich
großen Dienſt zu leiſten trachtete, war nicht angethan, die ſchon
ſchwankende Wage zu ſeinen Gunſten ſinken zu machen. Die neue
Sonne ſtieg immer höher; Kolbe-Wartenberg begann wie ein
Major Domus zu herrſchen und der Hochmuth des geſtürzten
Danckelmann erſchien nun wie Leutſeligkeit, neben dem Ton des
neuen Günſtlings. Niemand wurde geſchont, kaum die Königin, am
wenigſten die alten Parteien des Hofes.
Aber Barfus, der den Hof überhaupt wie ein Schlachtfeld
nahm, war ein viel zu guter Soldat, um ſo ohne weiteres an
Flucht oder Rückzug zu denken. Er hatte den türkiſchen Großvezier
beſiegt, warum nicht auch den Major Domus von Brandenburg?
Den Danckelmann hatte er mit ſtürzen helfen, warum nicht auch
den Wartenberg? Die Königin, die Dohna-Dönhofs, wenn ſie
auch anders darüber dachten, verfolgten doch daſſelbe Ziel, und ſo
entſtand die „große Liga von 1702“, die keinen andern Zweck
verfolgte, als den tyranniſchen Günſtling zu beſeitigen und das
Barfusſche Interregnum von 1697—99, die Zeit der vereinig-
ten Miniſterien und der Perückenſteuer, wieder herzuſtellen.
Aber Kolbe-Wartenberg war glücklicher, als Danckelmann ge-
weſen war. Vielleicht weil es die Liga in der Perſon verſah, die
ſie mit Ausführung der Hauptrolle betraute. Dieſe Perſon war
der Hofmarſchall von Wenſe. Graf Otto Dönhof, als er von der
Wahl dieſes letztgenannten Herrn hörte, zuckte die Achſeln, ſetzte
aber gutgelaunt hinzu: „Wohlan denn, wir müſſen dem Glück
einen Ochſen opfern!“ Er hatte Recht gehabt. Nur blieb es nicht
bei dem einen Opfer; alle traf die Ungnade des Kurfürſten (da-
mals ſchon König), und während der Hofmarſchall den Hof mit
der Feſtung Küſtrin vertauſchen mußte, wurde der Reſt vom Hofe
verbannt, die Dohnas, die Dönhofs, und auch Barfus.
Dies war ſeine letzte Action, — kein Ruhmestag von Sza-
lankament. Der Hof war nicht ſein Feld. Tröſten mochte es ihn,
daß auch Gewandtere unterlegen hatten. Unſer Feldmarſchall ging
nach „Coſſenblatt“, wo inzwiſchen der Frontbau eines Schloſſes
[93] auf einer Spreeinſel entſtanden war. Mit ſich nahm er, zu allem,
was er ſonſt beſaß, ein Jahrgehalt von 8000, nach Pöllnitz ſogar
von 12,000 Thalern. Aber er erfreute ſich deſſelben nicht lange mehr.
Am 27. December 1704 beſchloß er ſein an Kämpfen und Wand-
lungen reiches Leben. In einem ſchlichten Anbau neben der Coſſen-
blatter Kirche hat er ſeine letzte Ruheſtatt gefunden.
Wir verſuchen nun, nachdem wir in Vorſtehendem die Le-
bensgeſchichte Hans Albrechts erzählt haben, eine Schilderung ſei-
ner äußeren Erſcheinung, wie ſeines Charakters.
Hans Albrecht von Barfus war von großem, kräftigem Kör-
perbau, über ſechs Fuß hoch und durchaus militäriſch in Haltung
und Auftreten. Selbſt groß und ſtattlich, legte er auch Gewicht
auf Stattlichkeit, und lange bevor König Friedrich Wilhelm I. ſeine
Rieſengarde in’s Leben rief, verrieth Hans Albrecht eine entſchiedene
Neigung, hünenhafte Leute, beſonders Offiziere, in den preußiſchen
Dienſt zu ziehen. Es waren dies die erſten Anfänge der ſpäter ſo
notoriſch gewordenen „blauen Kinder“ von Potsdam. So mag es
auch mehr als Zufall ſein, daß das einzige größere Bildniß, das
von unſerem Hans Albrecht exiſtirt, ein Bild iſt, das vom „Solda-
tenkönig“ ſelber gemalt wurde. Das Bild ſtammt etwa aus dem Jahre
1737, und da um dieſe Zeit unſer Feldmarſchall längſt verſtorben
war, ſo hat es nichts Unwahrſcheinliches, daß der König, nach
einem Stich oder einer Zeichnung, dieſes Bildniß eigens in Hul-
digung gegen denjenigen ausführte, in dem die Idee der „großen
Blauen“ zuerſt gedämmert und gelegentlich Geſtalt gewonnen hatte.
Faſſen wir den Charakter unſeres Feldmarſchalls in’s Auge,
ſo finden wir: er war tapfer, ſoldatiſch, ſpecifiſch deutſch, antifran-
zöſiſch (auch hierin ein Vorläufer Friedrich Wilhelms I.), hab-
ſüchtig, aber unbeſtechlich, rechthaberiſch, aber nicht ungerecht, in
Intriguen verwickelt, aber nicht eigentlich intriguant.
Wir betrachten ihn zuerſt in ſeinen ſoldatiſchen, dann in ſei-
[94] nen hofmänniſchen Qualitäten. Als Soldat — ohne ihn über-
ſchätzen zu wollen — erhob er ſich, trotzdem er immer der Mann
blieb, der „von der Pike auf“ gedient hatte, weit über die Claſſe
jener Corpsführer, die auf die Ordre eines Vorgeſetzten hin, ihre
Truppe prompt in’s Feuer zu führen verſtehen. Hätte ſeine mili-
täriſche Laufbahn mit der Erſtürmung Ofens abgeſchloſſen, ſo
würde er einfach einer jener „braven Soldaten“ geweſen ſein, wie
deren unſere Kriegsgeſchichte ſo viele aufzuweiſen hat; ſein zwei-
maliges und jedesmal entſcheidendes Eingreifen in die Schlacht bei
Szalankament aber zeigt ihn uns allerdings, wenn nicht als einen
wirklichen Feldherrn, ſo doch als einen Soldaten von höheren
Gaben. Beide male handelte er ohne Ordre und folgte nur ſeiner
perſönlichen Erkenntniß deſſen, was der gegebene Moment erheiſchte.
Sein Auge und ſein Charakter bewährten ſich dabei gleichmäßig;
er hatte den ruhigen Blick, das Richtige, das was noth that, zu
erkennen, und er hatte den Muth, das als richtig Erkannte auf
eigene Verantwortung hin auszuführen. Dieſer Blick und dieſer
Muth gehören ſchon zu den ſelteneren Gaben.
Was ihm andererſeits fehlte, das erkennen wir am beſten,
wenn wir ſein militäriſches Auftreten mit dem ſeines Nebenbuh-
lers Schöning vergleichen. Schöning, wiewohl es ihm verſagt
blieb, in wirklich großen Verhältniſſen zu wirken, geht dennoch,
ſo oft er auftritt, jedesmal über das Alltägliche hinaus. Nicht zu-
frieden damit, den Moment zu begreifen, begreift er die Situa-
tion überhaupt. Es genügt ihm nicht, ein Nächſtliegendes zu
thun oder zu berechnen, ſondern die Rückſicht auf das Ganze
beſtimmt ſeine Haltung. Am lehrreichſten nach dieſer Seite hin, iſt
Schönings Auftreten vor Ofen. Kaum auf den Höhen erſchienen,
kaum begrüßt von der großen Chriſtenarmee, die in weitem Halb-
kreis die Feſtung umlagerte, rückte Schöning klingenden Spiels
vor, und jede Deckung oder Vorſichtsmaßregel verſchmähend, brachte
er ſich auf Einen Schlag in Linie mit dem Belagerungsheer. Der
ungedeckte Vormarſch koſtete Opfer und das ganze Manöver, glän-
zend wie es war, fand nichts deſtoweniger lebhaften Tadel bei den
[95] Brandenburgern ſelbſt. Sie bezeichneten es einfach als Rodomon-
tade. Dennoch hatte Schöning Recht. Immer das Ganze in’s
Auge faſſend, ſagte er ſich, daß er der allgemeinen Sache, min-
deſtens aber der Sache ſeines Kurfürſten, durch etwas Eclatan-
tes am beſten diene. Seine Berechnung traf im vollſten Maße zu.
Den Türken ſowohl wie den Verbündeten hatte dieſer Aufmarſch
imponirt, und lange bevor Buda über war, hatten die Branden-
burger bei Freund und Feind einen moraliſchen Sieg errungen.
Das war Schöning’ſch; ſolcher Einfälle und Berechnungen wäre
unſer Barfus unfähig geweſen. Er gehört zu den Schachſpielern,
die in jedem Moment des Spiels einen guten Zug, vielleicht den
beſten, zu thun verſtehen, aber der Gabe weitſichtiger Voraus-
berechnung eben ſo ſehr wie jeder genialiſchen Combination ent-
behren.
Tapfer, wie Hans Albrecht war, beſaß er auch in hohem
Maße jenen liebenswürdigen, den ächten und bewährten Muth
verrathenden Zug alter Soldaten, ſchwache Momente nachſich-
tig zu beurtheilen. Nur die Leute hinter’m warmen Ofen drin-
gen auf conſtantes Heldenthum. Einſtmals beklagte ſich Graf Chri-
ſtoph Dohna über die Feigheit eines Offiziers, der ihn während
des Gefechts kläglich im Stich gelaſſen hatte. Barfus trat an
Dohna heran und ſagte: „Hören Sie, Graf, man muß Mitleid
mit ſeinem Nächſten haben und ihm nicht alles Ueble anthun, was
man ihm mit Gerechtigkeit würde anthun können. Es giebt
ſchlechte Viertelſtunden im Leben; vielleicht wird dieſer Offi-
zier ein andermal ſich beſſer zeigen. Ich werde mit ihm allein
reden.“ Barfus that es, und wenige Tage ſpäter fiel der Offizier
an der Spitze einer Angriffscolonne.
Ein ſehr hervorſtechender Zug ſeines Charakters war das
Antifranzöſiſche. Seine vielbeſprochene „Perückenſteuer“ war
nicht bloß eine Finanzmaßregel, ſie war auch gegen das „fremde
Unweſen“ überhaupt gerichtet. Der Umſtand, daß er des Fran-
zöſiſchen nicht mächtig war, mochte freilich das ſeine dazu beitra-
gen, ihn in ſeiner Abneigung gegen die „Welſchen“ zu beſtärken.
[96] Es kamen verdrießliche Scenen vor. Seine Gegner bei Hofe
gefielen ſich darin, in ſeiner Gegenwart franzöſiſch zu ſprechen,
oder wohl gar bei ſeinem Erſcheinen, die bis dahin deutſch geführte
Converſation mit einer franzöſiſchen zu vertauſchen. Da mochte es
denn nicht ausbleiben, daß ein Theil des Aergers auf die Sprache
fiel, die als Mittel dienen mußte, ihm ſolche Kränkungen zu
bereiten.
Von Habſucht hatte er, wie faſt alle Perſonen, die den Hof
König Friedrichs I. bildeten, ſein reichlich zugemeſſen Theil; doch
ſcheint er, trotz alles Hanges nach Beſitz, der Corruption jener
Zeit ſich entzogen und ſeine gut deutſche Natur auch in Unbeſtech-
lichkeit gezeigt zu haben. Er genoß auch dieſes Rufes. Im Jahre
1699 beſchwerte ſich der holländiſche Großpenſionär Heinſius über
eine ganze Reihe unbegreiflicher Handelsmaßregeln, die alle vom
Feldmarſchall Barfus (der damals alles war, auch Finanz-
miniſter) ausgegangen ſeien, und ließ den Verdacht durchblicken,
daß Barfus im Solde Frankreichs ſtehe. Der Großpenſionär er-
hielt aber von competenter Seite den Beſcheid, daß General Bar-
fus überhaupt unbeſtechlich, „jedenfalls aber zu antifranzöſiſch ſei,
um ſich jemals durch Frankreich beſtechen zu laſſen.“
Eben ſo wenig, wie er ſich beſtechlich erwies, eben ſo wenig
war er intriguant. Er diente nur den Intriguen anderer. Er war
vielleicht die Hauptkarte, ohne welche das Intriguenſpiel anderer
nie und nimmer gewonnen werden konnte, aber wie hoch immer
ſeine Bedeutung, der Werth ſeiner Karte ſein mochte, er war nicht
der Spieler ſelbſt. Klügere benutzten ihn und gönnten ihm die
goldenen Früchte, die ihm in den Schooß fielen.
Er war nicht intriguant, aber wir würden irre gehen, wenn
wir ihm aus dem Fehlen dieſer Eigenſchaft irgend ein beſonderes
Verdienſt machen, oder ihn gar mit der hohen Tugend der Selbſt-
ſuchtsloſigkeit ausſtatten wollten. Er gehörte jener Claſſe von Cha-
rakteren an, denen man in ganz Norddeutſchland und beſonders
in den Marken häufig begegnet: Perſonen, die zu wirklicher oder
ſcheinbarer Offenheit eine große Verſchlagenheit geſellen, und ſol-
[97] datiſche Schroffheit und rückſichtsloſe Derbheit mit einem ſcharfen
Erkennen des eigenen Vortheils glücklich vereinen. Er war voll
jener ſcharfen Lebensklugheit, der wir bei allen denen begegnen,
die ein brennendes Verlangen nach Bereicherung tragen, und beſaß
in hohem Maße die Kunſt (ganz wie bei Szalankament), einen
glücklich gegebenen Moment zu benutzen; aber er beſaß nicht die
Kunſt, einen ſolchen Moment durch feines Spiel, durch einen klug
geſchürzten Knoten herbeizuführen. Das aber iſt der Unter-
ſchied zwiſchen praktiſcher Lebensklugheit und Intrigue. Der „Prak-
tiker“ nutzt die Situation, der Intriguant macht ſie. Jener wird
meiſt realere, dieſer in der Regel mehr ideelle Zwecke verfolgen;
der Intriguant wird böſer, gefährlicher, der „Praktiker“ aber wird
meiſt ſelbſtſüchtiger ſein.
Die Hofgeſchichte jener Tage bietet zwei Beiſpiele, die dieſen
Unterſchied recht klar in’s Auge ſtellen. Als der Streit zwiſchen
Schöning und Barfus auf ſeiner Höhe ſtand und niemand vor-
ausſagen mochte, wie er enden würde, verdarb Schöning ſein eige-
nes Spiel durch die agreſſive Weiſe, in der er vorging. Sein
Hochmuth, ſeine Rechthaberei halfen den „richtigen Moment“ be-
reiten, auf den Barfus wartete oder vielleicht auch nicht wartete,
den er aber als richtigen Moment zu benutzen verſtand, ſobald er
gekommen war. Dieſe Benutzung zeigte ſich einfach darin, daß er
der anmaßlichen oder doch der allzuſicheren Sprache Schönings,
womit dieſer ſeine Sache vor dem Kurfürſten führte, einen Ton
der Devotion gegenüberſtellte. Dieſer Ton der Devotion hatte
nichts von einer Intrigue an ſich, er war das einfache Reſultat
des Schluſſes: „Wo Anmaßung verletzt hat, wird Devotion dop-
pelt willkommen ſein.“ Und der Erfolg bewies, daß dieſer Schluß
ein richtiger geweſen war.
So weit reichten die Gaben unſeres Barfus. Als es ſich
aber ſechs Jahre ſpäter darum handelte, Eberhard Danckelmann,
den Günſtling des Kurfürſten, durch ein combinirtes Spiel, ein
für allemal aus der Gunſt ſeines Herrn zu entfernen, reichte es
nicht aus, eine ſich bietende Situation einfach zu benutzen, ſon-
7
[98] dern es kam darauf an, durch eine Reihenfolge kleiner in einander
greifender Scenen eine Situation zu ſchaffen. Dazu war Graf
Chriſtoph Dohna der Mann. Er begann folgendes Meiſterſpiel.
Er wußte ſich eine Medaille zu verſchaffen, die Eberhard Danckel-
mann — ſo hieß es wenigſtens — ſich und ſeiner Familie zu
Ehren hatte ſchlagen laſſen. Sie verſinnbildlichte den Ruhm der
Danckelmanns. Gewölk hing über Berlin, durch das Gewölk hin-
durch aber leuchteten die ſieben Sterne Eberhard Danckelmanns
und ſeiner ſechs Brüder; das Ganze trug die Inſchrift: „Inta-
minatis fulget honoribus.“ Chriſtoph Dohna, der die Vorliebe
des Kurfürſten für Münzen und Medaillen kannte, wußte es ein-
zurichten, daß ſich im Vorzimmer des Kurfürſten ein Streit um
dieſe Medaille entſpann. Als der Kurfürſt heraustrat, um nach der
Urſache des Lärms zu forſchen, erzählte ihm Dohna, in erkün-
ſtelter Verlegenheit, daß es ſich um eine Medaille handle. „Ich
wünſche ſie zu ſehen.“ — „Eure Kurfürſtliche Durchlaucht wer-
den die Medaille kennen.“
Mit dieſen Worten überreichte Dohna das Gewünſchte. Der
Kurfürſt betrachtete die ſieben Sterne, biß ſich (eiferſüchtig wie
er war) auf die Lippe und reichte ſie mit den Worten zurück:
„Ich weiß nichts davon.“ An dieſer Scene ging Danckelmann zu
Grunde. Iſt es wahr, daß Danckelmann ſelbſt von dieſer Medaille
nichts wußte, und daß ſie vielmehr hinter ſeinem Rücken, auf An-
ſtiften ſeiner Gegner, geprägt wurde, ſo haben wir es hier mit
einer ziemlich unwähleriſch eingefädelten, aber von Anfang bis
Ende klug durchgeführten Intrigue zu thun, mit einer Intrigue,
die in ihrem glücklichen Ausgang alle Ehren auf unſern Feld-
marſchall ausſchüttete, aber von dem Glückskinde, das die Ehren
einheimste, weder jemals hätte erdacht noch durchgeſpielt werden
können.
Wenn wir zum Schluſſe nun Hans Albrecht von Barfus
mit den hervorragenderen jener brandenburgiſch preußiſchen Kriegs-
leute vergleichen, die ihm ſeitdem gefolgt ſind, ſo zeigt er mit kei-
nem eine größere Verwandtſchaft, als mit dem „alten York.“ Die-
[99] ſelbe Tapferkeit, dieſelbe ſoldatiſche Schroffheit, dieſelbe Strenge
im Dienſt und gegen ſich ſelbſt. Haß gegen franzöſiſche Sitte,
Gleichgültigkeit gegen die Frauen, Verachtung gegen Ausſchweifung,
geſellen ſich als weitere übereinſtimmende Züge hinzu. Eben ſo ſind
ihre Feldherrngaben nahe verwandt: kalte Ruhe, klares Erkennen
der Fehler bei Freund und Feind, glückliche Benutzung des Mo-
ments. Was ſie aber vor allem mit einander gemein haben, das
iſt die hohe Meinung von ſich ſelbſt und in Folge dieſer
eigenen (wie immer auch berechtigten) Werthſchätzung, eine krank-
hafte Reizbarkeit gegen alles das, was neben oder wohl gar über
ihnen ſtand. York in ſeinem Verhältniß zu Bülow und ſpäter zu
Gneiſenau (oder ſagen wir wenigſtens „zum Hauptquartier“) er-
innert mehr als einmal an „Schöning und Barfus.“
Wenn York nichts deſto weniger in hellerem Lichte vor uns
ſteht als Hans Albert, ſo liegt das — ohne den hohen Verdien-
ſten Yorks zu nahe treten zu wollen — nicht unweſentlich darin,
daß wir die „Convention von Tauroggen“ dankbar in Erinne-
rung tragen, den Tag von Szalankament aber, trotz ſeiner Be-
deutung für unſere Geſchichte, ſo gut wie vergeſſen haben. Ein
Anderes kommt hinzu. Der Charakter Yorks ruht allerdings auf
einer ſittlichen Baſis, deren der Charakter Hans Albrechts, wenig-
ſtens in ſo ausgeſprochenem Maße, entbehrt. Aber andererſeits
dürfen wir dieſen Umſtand dem alten York nicht allzuſehr zum
Ruhme und unſerem Barfus nicht allzuſehr zum Schaden anrech-
nen. Das ſittliche Element, deſſen ſich York, im Vergleich zu Hans
Albrecht, allerdings als eines Vorzugs erfreut, war überwiegend
ein Vorzug der Zeit, in der er lebte, wenigſtens jener Jahre, die
die Befreiung des Vaterlandes brachten. Es war 1813 leichter
als hundert Jahre früher, „ſelbſtſuchtslos im Dienſt einer Idee
zu ſtehen.“ Was 1813 möglich war, war 1703 unmöglich. Die
Charaktere waren weniger verſchieden, als die Zeiten es
waren.
Mit Hans Albrecht von Barfus ſtarb der letzte jener fünf
brandenburgiſchen Feldherrn, die noch die jungen Tage des gro-
7*
[100] ßen Kurfürſten geſehen und die erſten Siege Brandenburgs unter
ſeinen Fahnen erfochten hatten: Sparr, Derfflinger, Görtzke,
Schöning, Barfus. Die Derfflinger ſind ausgeſtorben. Glieder der
vier andern Familien leben noch, aber von dem alten Beſitz iſt
wenig oder nichts mehr in ihren Händen. Auf den alten Barfus-
Gütern iſt der Name des alten Geſchlechts vergeſſen; nur „Schloß
Coſſenblatt an der Spree“ erzählt noch von ſeinem Erbauer, dem
Feldmarſchall. Dieſem „Schloß in der Oede“ wenden wir uns im
folgenden Kapitel zu.
[[101]]
Schloß Coſſenblatt.
An den Ort, den ich beſinge,
Kann er nicht dem Bangen wehren,
Daß es ihm das Herz durchdringe.
Lenau.’
Der Weg nach Coſſenblatt führt über Fürſtenwalde und Bees-
kow. Fürſtenwalde iſt allerliebſt und verdient ein Kapitel für ſich;
heut aber erreichen wir es ſpät und begnügen uns mit dem Ein-
druck, den die halb im Dunkel liegende Stadt und die freundlich
erleuchtete Paſſagierſtube auf uns machen.
Paſſagierſtuben ſind ein ſelten trügender Barometer für die
Stimmung, das geiſtige Leben, das in den verſchiedenen Städten
herrſcht, und es hat eine Bedeutung, ob „Schwerins Tod“ oder
ein altes Poſtreglement über dem Sopha hängt. Die Fürſtenwal-
der Paſſagierſtube zeigt noch auf „ſchön Wetter“. Es herrſcht etwas
Anheimelndes in dem Zimmer überhaupt und die gute Stimmung
wächſt im Hinblick auf eine Gruppe von älteren Männern, die,
ein Glas Bier vor ſich, am Sophatiſche Platz genommen haben.
Es ſind ihrer drei, zwei Bürger und der Wirth. Der letztere
beſtreitet wie billig die Koſten der Unterhaltung und bemerkt mit
freundlicher Würde: „Sie glauben nicht, was alles vorkommt,
meine Herren. Bahnhof iſt Bahnhof und Poſt iſt Poſt, aber die
Menſchen thun immer, als ob Bahnhof und Poſt all ein und
daſſelbe wäre. Schreibt mir vorgeſtern ein Mann aus Dresden,
er habe ſeinen Ueberzieher hier liegen laſſen, „über einer Stuhl-
[102] lehne“ ſchreibt er. Ich lache und ſage zu Spilleken (der jetzt die
Poſt fährt): „Spilleke, ſag’ ich, wenn Sie ’rauskommen, fragen
Sie doch auf’m Bahnhof.“ Er fragt auch und am Abend iſt der
Ueberzieher hier. Wo war er geweſen? „Ueber einer Stuhllehne.“
Alles ganz richtig, meine Herrn, aber — auf’m Bahnhof. So
geht es immer.“
Die beiden Zuhörer antworteten durch ein Gemurmel, das
halb ihre Uebereinſtimmung mit dem Sprecher, halb ihre Mißbilli-
gung des Dresdners ausdrücken ſollte. Ich aber, um auch mei-
nestheils jede Gemeinſchaft mit dem letzteren abzulehnen, fuhr mit
Oſtentation in den neben mir liegenden Ueberzieher, empfahl mich
und ſtieg in den bereits draußen ſtehenden Poſtwagen.
In demſelben fand ich einen Reiſegefährten, einen jungen
Beeskower, der alſo dieſelbe Tour mit mir machte. Während der
Wagen über das Pflaſter raſſelte und von rechts und links her
das helle Licht großſtädtiſcher Gaslaternen in unſer Fenſter fiel,
wandte ich mich, halb überraſcht, mit der Frage an meinen Ge-
fährten:
„Fürſtenwalde hat Gas?“
„Ja, und aus Stubben;“ lautete die Antwort.
„Aus Stubben?“
„Ja, aus Stubben.“
Nun erfuhr ich ein Langes und Breites über den Fürſten-
walder Stadtforſt, über Holzhandel und Wohlhabenheit und zuletzt
auch über die „Stubben“, die in einer ſtädtiſchen Gasanſtalt auf
Gas verarbeitet würden. Ich geſtehe, daß ich Reſpekt bekam. Wer
unſere kleinen Städte kennt, weiß am beſten, wie abgeneigt ſie
ſind, auf ſpekulative Neuerungen einzugehen. Staatsneuerungen, —
ja; Stadtneuerungen, — nein. Die Fürſtenwalder haben ein
Stück ſtädtiſchen Lebens gezeigt; die meiſten unſerer Ackerſtädte
ſind todt.
Beeskow erreichten wir um Mitternacht. Ich ſchlief in einem
alten Hauſe, deſſen Hinterwand die Stadtmauer bildet, und erfuhr
en passant, daß dies Haus ein Urſulinerinnen-Kloſter geweſen
[103] ſei und dann und wann von nicht Ruhe habenden Aebtiſſinnen
und Nonnen beſucht werde. Auch der übliche „unterirdiſche Gang“
wurde mir nicht erlaſſen. Ich war aber zu müde, um dadurch
beſonders geſtört zu werden, und ſchlief, bis die Sonne in’s Zim-
mer ſchien. Eine Stunde ſpäter ſchlenderte ich durch die Stadt.
Beeskow hat zwei Sehenswürdigkeiten: das „Amt“ und die
Kirche.
Das „Amt“, auf einer Spreeinſel unmittelbar vor der Stadt
gelegen, war in alter Zeit ein Schloß (Schloß Beeskow), dann
ſpäter, ſeit 1519, ein biſchöfliches Haus, das die Biſchöfe von
Lebus — die die Herrſchaft Beeskow zu Anfang des ſechszehnten
Jahrhunderts erwarben — gelegentlich bewohnten. Viele der noch
jetzt vorhandenen alten Mauern reichen bis in die Zeit von Schloß
Beeskow zurück, das im fünfzehnten Jahrhundert (alſo vor den
Biſchöfen) ausbrannte. Dies erwies ſich 1828, als wegen Bau-
fälligkeit das dritte Stockwerk des alten Amtsgebäudes abgetragen
wurde. An vielen Stellen fand man doppeltes Mauerwerk. Die
Zimmerwände zeigten nach innen zu die Biſchofsmütze, waren alſo
nicht älter als 1519; beim Niederreißen dieſer Zimmer- oder In-
nenwände aber ſtieß man alsbald auf ältere Außenwände, halb
verbrannt und hier und da mit Moos und Aſche bedeckt. Dieſe
Außenwände waren Ueberreſte des alten Schloſſes. In den untern
Stockwerken ſteckt noch einzelnes davon.
Die Bücher berichten wenig über „Schloß Beeskow“ und
nicht viel mehr über das „biſchöfliche Haus“, das ſich ſpäter an
gleicher Stelle erhob. Nur der Umfang und die Feſtigkeit der
Bauten zeigt, daß es eine bevorzugte Stelle war; und mit Recht.
Die Lage auf einer Inſel, die nicht flach, ſondern wie eine natür-
liche Hügelfeſtung ſich aus der Spree erhebt, iſt feſt und maleriſch
zugleich, und in dieſem Augenblick vielleicht maleriſcher denn je
zuvor. Das alte, dunkelfarbige Mauerwerk iſt überall von Grün
umrankt; braun und grün, die ſo ſchön zu einander ſtimmen,
miſchen ſich hier in allen erdenklichen Schattirungen, und Baum
und Strauch wachſen von Wall und Gräben aus in die Gitter-
[104] fenſter hinein oder über das Portal hinweg. Jenſeits des Amts-
hofes, auf deſſen Tümpel und Pfuhl die helle Morgenſonne fällt,
ſteigt der Brennereiſchornſtein aus dem Refektorium des alten Bi-
ſchofsſitzes auf; aber wo Tod und Leben, Poeſie und Proſa ſo
dicht bei einander wohnen wie hier, ſtört auch die Rauchfahne nicht,
die eben jetzt über dem Refektorium weht.
Die Liebfrauenkirche zu Beeskow, ein ſchöner gothiſcher Bau
aus dem dreizehnten Jahrhundert, war längſt eine Zierde der Stadt,
eh’ die Lebuſer Biſchöfe als Neubeſitzer und Neuerbauer in Schloß
Beeskow einzogen. Sie war dreihundert Jahre vor dem Biſchofs-
hauſe da und hat es nun ebenſo lange überlebt. Dieſe ſchöne
Kirche zählt zu den ſchönſten in der Mark, und der Epheu, der
ſich an einigen Fenſtern bis in den Spitzbogen emporrankt, ſcheint
zu wiſſen, was er an ihr hat. Der maſſive Thurm geht in ſeinem
zweiten Stockwerk ſehr gefällig aus dem Viereck in’s Achteck über
und eine pyramidenförmige Spitze ſchließt den ganzen Bau ge-
fällig ab.
Eine 82jährige Küſterfrau führte mich in die Kirche ein,
plauderte mit mir, ſtieg Treppen auf und ab und ich bin ihr das
Zeugniß ſchuldig, daß ich nie einen beſſeren Führer gehabt habe.
Sie zeigte mir Großes und Kleines, Andacht und Stadtklatſch
floſſen gleichen Tones über ihre Lippen; ſie ſprach bereits — ſie
war eben 82 Jahr alt — mit jener unterſchiedsloſen Ruhe, die
ſo ſehr verdrießt, wo man Partei iſt, aber ſo wohlthut, wo der
Hörer mit über den Parteien ſteht. Sie zeigte mir den Gekreuzig-
ten und den einen Schächer, die „wegen Unſchönheit“ in einen
Seitenraum geſchafft worden waren, und erklärte mir die Grab-
ſteine vor’m Altar. Der eine war hellbraun und ſehr abgetreten.
„Das iſt unſer Pfefferkuchenmann“, ſagte ſie ruhig, und wirklich,
das alte Rathsherrnbild konnte nicht treffender bezeichnet werden.
An einem der Pfeiler blieb ſie ſtehen. „Da war früher ein Bild:
ein Schachbrett und ein Mohr darüber; es hing da zum Gedächt-
niß an eine vornehme Frau, die alles verſpielt hatte, bis auf ihr
Schachbrett und ihren Mohren.“ Dann ging es treppauf und ab.
[105] Wir ſtiegen in einen Keller, wo dieſelbe Küſterfrau vor 56 Jah-
ren mit ihrem Mann (der auch noch lebt) ein tiefes Loch gegraben
und die Kirchengüter vor Feindeshand gerettet hatte. „Wir fanden
bei’m Graben nichts wie Knochen und Schädel.“ Sie ſagte nicht
„Knochen und Schädel von heimlich Verſcharrten“, aber ſie meinte
es ſo; das Volk hierlandes denkt ſich nun einmal die katholiſche
Zeit als eine Mordzeit; es iſt das ein ſeltſamer Theil unſerer
Volkspoeſie.
Dann ſtiegen wir wieder aufwärts, eine hohe ſchmale Treppe
hinauf, und waren auf einem Chor oder einer Empore, die man
zu einer Art Kunſtkammer umgeſchaffen hatte. Allerhand Raritäten
waren hier ausgeſtellt; aber es war doch ſchon der Uebergang von
der Kunſtkammer zur Rumpelkammer. Es hing da z. B. ein Bild
der Lutherſtatue in Wittenberg, mit der Wartburg als Hintergrund.
Die Geſchichte des Bildes intereſſirte mich noch mehr als das ab-
ſonderliche Bild ſelbſt. Eine reiſende Schauſpielergeſellſchaft, deren
„erſter Liebhaber“ es gemalt hatte, hatte es auf Groſchenlooſe aus-
geſpielt und der Gewinner war es durch „Schenkung“ an die
Kirche los geworden. Daneben hingen drei Porträts, lebensgroß,
die Bildniſſe dreier Brüder, die einſt bei Stadt und Kirche ge-
glänzt hatten. Das Rathsherrnbild trug folgende Inſchrift:
Von Beeskow nach Coſſenblatt ſind noch anderthalb Meilen.
Ein leichter Wagen nahm mich auf und in brennender Sonnen-
hitze machte ich den Weg. Die Landſchaft iſt troſtlos und die
Dörfer ſind arm. Ueberall mahlender Sand und Kiefernhaide,
dazwiſchen Brach- und Fruchtfelder, die letzteren ſo kümmerlich,
[106] daß man glaubt die Halme zählen zu können. Auf Meilen hin
eine reizloſe Oede. Und doch hat der märkiſche Sand auch ſeinen
Zauber. Ich werde des Wellenterrains zwiſchen Bieſenthal und
Prenden nicht leicht vergeſſen: in den Thaleinſchnitten ein Waſſer-
tümpel und Binſengeſtrüpp, auf der Höhe hüben und drüben eine
Fichte, ein Kieferbuſch; der Boden gelb, der Himmel grau und
am Wege ein Stein, ein verwehter Tannenapfel; über dem allen
aber nichts Lautes und Lebendiges, als eine Krähe und die Schläge
der Bieſenthaler Thurmuhr, die beide langſam über die Oede hin-
ziehen. Wer ſolchem Bilde begegnet, der hat die Poeſie des mär-
kiſchen Sandes kennen gelernt.
Aber auf dem Sandwege, den wir heute paſſiren, empfinden
wir nichts davon, vielleicht weil die Oede nicht vollkommen iſt
und das Sandfeld vielfach den Anlauf nimmt, ein Fruchtfeld zu
werden. Solche Anſtrengungen haben immer etwas Triſtes. Es
ſind dies die Gegenden der Mark, die ihr den Namen der „Streu-
ſandbüchſe des heiligen römiſchen Reiches“ eingetragen haben,
ein Name, der muthmaßlich nie entſtanden wäre, wenn die Rei-
ſenden „aus dem Reich“ noch etwas anderes von der Mark ken-
nen gelernt hätten, als eben jenen breiten Sandgürtel, den ſie
auf ihrem Wege von Dresden nach Berlin nothwendig paſſiren
mußten.
Der Weg war reizlos, aber er wurde mir durch eine Begeg-
nung werth, die ich unterwegs hatte. Etwa eine halbe Meile vor
Coſſenblatt bemerkte ich einen Knaben, der auf einem Feldſtein
am Wege ſaß und augenſcheinlich ſehr ermüdet war. Er mochte
zwölf Jahr alt ſein. Ich ließ halten und es entſpann ſich folgen-
des Geſpräch zwiſchen ihm und mir: „Willſt du mit?“ — „Wo
wüllen Se denn hen?“ — „Nach Coſſenblatt.“ — „Da will ick
ooch hin.“
Nun ſtieg er auf und ſetzte ſich beſcheiden auf den Rand des
Wagens. Mich beſchäftigte der kleine Vorfall, weil er mir ſo recht
wieder jene nüchterne und mißtrauensvolle Vorſicht zeigte, die
unſern Stamm im Guten und Schlechten ſo ſehr charakteriſirt.
[107] Müde wie er war, ſprang er doch weder auf, noch bezeugte er
irgend welche Freude; er beantwortete meine Frage durch eine
andere Frage, und erſt als ich dieſe meinerſeits zu ſeiner Zufrie-
denſtellung erledigt hatte, nahm er freundlich an, was freundlich
geboten war. Es war übrigens ein allerliebſter Junge, der mich
von Seidenbau und Seidenzucht ſehr verſtändig unterhielt, was
ich beſonders hier erwähne, um dabei auf die Vorliebe aufmerkſam
zu machen, mit der die Seidenzucht von den ärmeren Leuten
unſerer Provinz betrieben wird. Sie ſind mit einer Art Paſſion
dabei und es früge ſich, ob dieſe Art der Induſtrie nicht noch ener-
giſcher zu unterſtützen wäre.
Wir ſind nun in Coſſenblatt (mein junger Freund hat
mich am Eingang des Dorfes beſcheidentlich verlaſſen) und wenige
Minuten ſpäter halten wir vor der Einfahrt des Amtshofs, wo
alle Sehenswürdigkeiten Coſſenblatts, auf einen engſten Raum
zuſammengedrängt, wie zur Auswahl vor uns liegen. Alles liegt
rechts von der Dorfſtraße und wir unterſcheiden: Herrenhaus
(jetzt Amtshaus), Schloß und Kirche. Unſer nächſter Beſuch
aber gilt dem in Weinlaub verſteckten Predigerhauſe, das von der
andern Seite der Dorfgaſſe her wie eine Laube zu uns herüber
blickt. Freundlich wie das Haus ſind ſeine Bewohner, und Platz
nehmend unter dem grünen Dach, den Blick auf Herrenhaus und
Schloß und Kirche gerichtet, plaudern wir von Coſſenblatt und
ſeiner Geſchichte.
Coſſenblatt war immer ein reicher und ausgedehnter Beſitz,
auch ehe ein Schloß hier ſtand und Feldmarſchälle und Fürſten
hier reſidirten. In ſumpfiger Niederung gelegen (Coſſinbloth heißt
„Krummenſumpf“) unterſchied es ſich immer vortheilhaft von den
Sanddörfern der Höhe, und lange bevor es „königlich“ war, hatte
es ein Anſehen in der Gegend um ſeiner Aecker und Wieſen
willen. Die Beſitzer wechſelten oft; im ſechzehnten Jahrhundert
hatten es die von Weilsdorf. Ein Bruder erſtach den andern im
Zweikampf, aber auch dieſer Vorgang — übrigens eine immer
[108] wiederkehrende Geſchichte *) — feſſelt uns nicht und wir beginnen
mit dem Jahre 1581. Die Geſchichte Coſſenblatts theilt ſich ſeit
der Zeit in drei beſtimmte Epochen: in eine Oppenſche, eine
Barfusſche und eine königliche Zeit.
Ueber die Oppenſche Zeit (von 1581 — 1699) gehen wir
ſchnell hinweg. 1581 kam der brandenburgiſche Oberkammerherr,
Georg von Oppen, in Beſitz von Coſſenblatt. Es blieb bei der
Familie durch drei Generationen hindurch bis 1699. Vom Schloß
war damals noch keine Spur vorhanden, vielmehr bewohnten die
Oppen das alte Herrenhaus, deſſen Kellergewölbe bis dieſen Augen-
blick vorhanden ſind und eine Art Sehenswürdigkeit des jetzigen,
im übrigen völlig modernen Amtshauſes bilden. Dieſe hohen Keller-
gewölbe, im einfachen Rundbogen, ſind aus unbehauenen Feld-
ſteinen aufgeführt und Sachverſtändige pflegen hervorzuheben, daß
die Baumeiſter damals einen andern, raſch feſt werdenden Mörtel
benutzt, oder die Gewölbe jahrelang geſtützt haben müſſen. Dieſe
gewölbten Fundamente gehen bis in die Oppenſche Zeit zurück,
vielleicht ſind ſie noch viel älter. Wir laſſen aber dieſe Fundamente
ſammt einer Anzahl alter Bilder, die ebenfalls der Vorgeſchichte
Coſſenblatts angehören, und wenden uns nunmehr ſeiner eigent-
lichen hiſtoriſchen Zeit zu, die mit Feldmarſchall von Barfus
beginnt.
Im Jahr 1699 kaufte Hans Albrecht von Barfus, wie wir
bereits in ſeiner Lebensgeſchichte (ſiehe das vorige Kapitel: Predikow)
bemerkt haben, die Herrſchaft Coſſenblatt und zahlte dafür die für
die damalige Zeit ziemlich beträchtliche Summe von 32,000 Tha-
[109] lern und hundert Dukaten Schlüſſelgeld. Das Oppenſche Herren-
haus, das er vorfand, genügte ihm nicht und er beſchloß das
Jahr darauf (1700) die Aufführung eines Schloſſes.
Die Arbeiten begannen ſogleich; da aber ſelbſt der mittlere
und älteſte Theil des Schloſſes, der Flügelbauten aus noch ſpä-
terer Zeit ganz zu geſchweigen, erſt im Jahr 1712 beendet wurde,
ſo iſt es nicht wahrſcheinlich, daß der Feldmarſchall, der bereits
1704 ſtarb, jemals einen Theil des Schloſſes bewohnt habe. Das
Herrenhaus mußte genügen.
Die Wittwe des Feldmarſchalls, Eleonore, geborene Gräfin
von Dönhof (wie wir wiſſen, ſeine zweite Gemahlin), übernahm
laut teſtamentariſcher Beſtimmung die Verwaltung der Güter und
führte den Schloßbau glücklich hinaus. Sie war eine ſtolze Frau,
und es geht die Sage von ihr, daß ſie ihrem einzigen überleben-
den Sohne (ſie ſtarb 1728), da ſie ihm ſein Erbe nicht nehmen
konnte, dieſes Erbe wenigſtens nach Möglichkeit ſchädigen und ver-
ringern wollte. Sie ließ einen holländiſchen Baumeiſter kommen,
befahl ihm, unterhalb der Keller des Schloſſes einen zweiten Keller
zu graben und zu wölben, that dann alles hinein, was ſie an
Gold und Koſtbarkeiten beſaß, und ließ die Gruft in ihrer Gegen-
wart ſchließen. Sie nahm dem Baumeiſter alsdann einen Eid ab,
die Stelle niemandem zu verrathen. Voll Zweifel aber, ob er den
Eid auch halten werde, zog ſie, als er ſchon fort war, das Sichere
vor und ließ ihn auf der Rückreiſe nach Holland verſchwinden.
Der „Schatz“ war bei Seite gebracht, dem Erben entzogen; aber
die Bilder und Möbel waren noch da, die ganze Einrichtung
eines reichen Schloſſes. Auch das mußte fort. Als ſie fühlte, daß
es mit ihr zum Letzten ging, ließ ſie alles, was das Schloß an
koſtbarem Hausrath hatte, auf den Schloßhof tragen, und ver-
goldete Stühle und Tiſche, Spiegel und Conſolen, Divans und
Commoden wurden zu einer Pyramide aufgethürmt. In einem
Rollſtuhl ließ ſie ſich an die offene Thür des Gartenſaales bringen,
gab dann Ordre, zwei Fackeln anzulegen, und ſtarrte eine Stunde
lang befriedigt in die aufſchlagende Flamme. Sie fühlte das Feuer
[110] mehr, als daß ſie es ſah, denn die helle Mittagsſonne ſtand über
dem Schauſpiel. Als alles niedergebrannt war, ſaß ſie todt in
ihrem Rollſtuhl.
So erzählt ſich das Volk. Die erſte Hälfte der Geſchichte,
das Vermauern des Schatzes, iſt das immer Wiederkehrende; aber
die zweite Hälfte hat neue Züge, die auf wirklich Vorgekommenes
hindeuten. Anhaltepunkte ſind da. Ich finde in dem Nachweis
über die Söhne des Feldmarſchalls von Barfus folgendes: „Die
beiden älteren ſtarben jung, der älteſte an Wunden, die er in der
Schlacht bei Belgrad erhalten hatte. Der dritte und jüngſte Sohn
war Karl Friedrich Ludwig. Er war der einzige, der ſeine Mutter
überlebte, und es ſcheint faſt, daß ſeine Erziehung abſichtlich ver-
nachläſſigt wurde, da ſeine nächſten Verwandten nach dem Beſitz
des reichen Erbes trachteten.“
Dieſe Zeilen, ſo unbeſtimmt ſie gehalten ſind, oder vielleicht
weil ſie es ſind, laſſen ſich unſchwer mit der eben erzählten Sage
in Einklang bringen. Der Sohn, ſo darf man annehmen, wurde
nicht von der Mutter, ſondern von den Verwandten erzogen, und
eingeſponnen in die Netze der letzteren, traf ihn leicht möglich ein
Theil des Haſſes mit, den die alte Reichsgräfin gegen die hab-
gierig Wartenden unterhielt. Alles dieß indeß will nichts weiter
ſein als eine Hypotheſe, als ein Verſuch, mit Hülfe von Sage
und Tradition, dem Hiſtoriſchen um einen Schritt näher zu
kommen.
Im Jahr 1728 ſtarb die alte Reichsgräfin, und ihr einziger
Sohn, der obengenannte Karl Friedrich Ludwig, folgte im Beſitz
von Coſſenblatt. Aber nur acht Jahre blieb es in ſeinen Händen;
1736 erſtand es König Friedrich Wilhelm I. und machte es zu
einem Theil ſeiner Herrſchaft Königs-Wuſterhauſen. Ueber die
Umſtände, die den Ankauf des Gutes begleiteten, ſpreche ich wei-
ter unten.
Hundert Jahre und darüber ſind ſeit jenem Ankauf vergan-
gen und Schloß Coſſenblatt iſt ſeitdem ein hohenzollernſcher Beſitz
geblieben, bis auf dieſen Tag. Die Barfus, für die der alte Feld-
[111] marſchall hier eine Stätte bereiten wollte, betraten die Schwelle
des Schloſſes nicht wieder, das — des ſagenhaften Schatzes ganz
zu geſchweigen — Schätze an Gold verſchlungen hatte, um es
aufzubauen. Da, während der fünfziger Jahre dieſes Jahrhun-
derts, trat wieder ein Barfus in das alte Barfusſchloß ein. Der
Eintretende war ein Urenkel des Feldmarſchalls; er kam nicht als
Herr, er kam als Gaſt. Sei es ein romantiſcher Herzenszug, oder
ſei es Pietät gegen die Stätte, wo ſein Ahnherr gelebt und einen
Denkſtein ſeines Ruhms und ſeines Reichthums hinterlaſſen hatte,
gleichviel, der Enkel hatte das Anſuchen an den König geſtellt,
einen Sommer lang in Schloß Coſſenblatt reſidiren zu dürfen,
und Friedrich Wilhelm IV., deſſen Königs- und Poetenherz hiſto-
riſchen Sinn und romantiſches Empfinden in jeder Geſtalt zu
ſchätzen wußte, hatte dem Anſuchen gern willfahrt.
General Barfus, ſelbſt ein alter Soldat, zog ein in das alte
Feldmarſchallsſchloß. Ein Wagen hielt vor der Steintreppe, die
roſtigen Angeln gaben halb widerwillig nach, und der Enkel ſtand,
ein Gaſt, ein Fremder, im Haus ſeiner Väter. Niemand war mit
ihm als ſeine Frau und deren Dienerin. Er bezog die Eckzimmer
im Schloß und das Nöthigſte an Hausrath wurde herbeigeſchafft;
aber es war nicht möglich, die Oede des Orts in Wohnlichkeit zu
verwandeln. Der Regen fuhr durch die morſch gewordenen Fen-
ſter und ſelbſt das heitere Sonnenlicht lieh dieſem Ort keine Hei-
terkeit, denn ungemildert fiel es durch die großen Fenſter und
ſprang heiß und blendend von den kahlen weißen Wänden zurück.
Zu dem Bedrückenden der Oede geſellte ſich der Mangel an al-
lem, was das Leben, ſelbſt ein einfaches Leben, an Unterhalt
erfordert. Die Stadt war weit und das Dorf war arm. Die
Frauen litten ſchwer; aber das romantiſche Herz des Generals
trug die Entbehrungen, die ihm Schloß Coſſenblatt auferlegte, mit
Freudigkeit; ſie hoben ihn mehr, als daß ſie ihn niederdrückten.
Er war nicht nach Schloß Coſſenblatt gekommen, um zu banket-
tiren; es lag ihm nicht an luſtiger Geſellſchaft und an lautem
Geſpräch über den Tiſch hin; es lag ihm an ſtiller Zwieſprach
[112] mit denen, die nicht mehr waren, und da war kein Zimmer, das
nicht leiſe zu ihm geſprochen hätte. Ihm waren dieſe weiten Räume
nicht öde, und wenn er Nachts oder am hellen Mittag ſie durch-
ſchritt, hörte er’s flüſtern und ſtand ſtill, ob er’s erlauſchen könnte.
Umſonſt hingen die Augen der Frau an ihm und baten um Rück-
kehr zu den Menſchen; da endlich kam Hülfe, ehe ſie erwartet
war. Es war Hochſommer und die Hitze des Tags hatte den Ge-
neral in die Wald- und Wieſengründe geführt, die den Coſſen-
blatter See an ſeinem Südrande umziehen. Es wurde drückend
ſchwül und um die vierte Stunde brach das Unwetter los. Als
die erſten Donner heraufzogen, war es, als rollten ſchwere Wa-
gen durch alle Säle und Corridore. Einzelne Windſtöße fuhren
gegen das Schloß, und die entſetzten Frauen hörten, wie in allen
Theilen des Schloſſes ein geſpenſtiſches Klappen von Fenſtern und
Thüren begann. An hundert Stellen zugleich wollte der Böſe
herein. Das Blitzen wurde immer heftiger; Herrin und Dienerin flo-
hen aus ihren Zimmern in den Corridor hinaus, der unten auf
den Schloßhof niederblickt. Der Flügel gegenüber ſtand wie in
Nacht. Plötzlich aber war es, als fiele ein Feuer vom Himmel,
der Schloßhof ſtand wie in Flammen und die Dienerin ſchrie
auf: „Dort ſitzt ſie!“ Es war ihr, als habe ſie die alte Reichs-
gräfin geſehen, im Rollſtuhl unter der Balkonthür ſitzend und in
die Flammen des Hofes ſtarrend.
Dieſer Nachmittag entſchied; die Gäſte verließen Schloß Coſ-
ſenblatt und alles war wieder wie zuvor. Die Spinnen begannen
ihre ſtille Wirthſchaft und niemand anders ſprach ein, als der
Wind im Kamin. Die Barfuſe waren vergeſſen an derſelben Stelle,
an der der alte Feldmarſchall ſich ſelbſt und ſeinem Namen eine
Art Ruhmeshalle hatte errichten wollen; Schloß Coſſenblatt wußte
nichts mehr von den Barfuſen und viele Barfuſe wußten nichts
mehr von Coſſenblatt. Aber aus der Geſchichte unſerer Tage haben
wir noch einmal zurückzugehen in die Tage des letzten Grafen
Barfus und in aller Kürze jener dritten Epoche Schloß Coſſen-
blatts zu gedenken, der Zeit Friedrich Wilhelms I.
[113]
Im Jahre 1735 kam König Friedrich Wilhelm I. auf einer
Jagd von Königs-Wuſterhauſen aus in die Gegend von Coſſen-
blatt, ſah das ſchöne Schloß und trug dem Beſitzer, dem mehr-
genannten Grafen Karl Friedrich Ludwig von Barfus, an, ihm
Coſſenblatt käuflich zu überlaſſen. Als dieſer Antrag abgelehnt
wurde, ſetzte der König alles in Bewegung, um ſeine Abſicht den-
noch zu erreichen. Es fand ſich auch bald ein Weg, da er ſich
durchaus finden ſollte. Der Verlauf war folgender. Nur um den
wiederholten Zumuthungen des Königs zu entgehen und letzteren
durch eine möglichſt hochgegriffene Summe abzuſchrecken, äußerte
der Graf gegen den Unterhändler des Königs, „daß er die Güter
(Coſſenblatt, Brieſcht, Werder und Wieſe) für 180,000 Thaler
überlaſſen wolle.“ Dieß genügte. Der König erklärte nunmehr:
„da der Graf ſich geäußert habe, die Güter verkaufen zu wollen,
ſo hänge es nicht mehr von dem freien Willen deſſelben ab, den
Preis der Güter zu beſtimmen, vielmehr müßten dieſelben taxirt
werden.“ Hiernach kam der Kauf im Januar 1736 zu Stande,
ohne daß die belehnten Agnaten befragt worden wären. Der Kö-
nig bewilligte 125,000 Thaler, ſchlug Coſſenblatt zur Herrſchaft
Königs-Wuſterhauſen und überwies es gleich nach der Uebergabe
ſeinem zweiten Sohne, dem Prinzen Auguſt Wilhelm. Ob dieſer
je dort reſidirt hat, iſt mindeſtens zweifelhaft. Der Prinz, zu
Spandau in Garniſon, hatte eine ausgeſprochene Vorliebe für das
nachbarliche Oranienburg, deſſen Park allein ausgereicht haben
würde, es über das beinah baumloſe und jedenfalls weit abgele-
gene Coſſenblatt zu erheben. Nichts erinnert mehr daran, daß das
letztere jemals im Beſitz des Prinzen war, außer der Namenszug
A. W. (Auguſt Wilhelm) am großen Frontbalkon.
Prinz Auguſt Wilhelm reſidirte nicht in Schloß Coſſenblatt,
aber der König ſelbſt ſcheint, während ſeiner letzten Lebensjahre,
Wochen- und Monatelang daſelbſt zugebracht zu haben. Wenn
der Ausdruck geſtattet iſt: er ſaß hier ſeine Gicht ab, und Schloß
Coſſenblatt wurde der Schauplatz jener Kunſtübungen, deren Re-
ſultate die bekannte Inſchrift tragen: in tormentis pinxit.
8
[114]
Die Bilder, die ſich noch gegenwärtig in Coſſenblatt befin-
den, (neuerdings, Sommer 1863, nach Königs-Wuſterhauſen ge-
ſchafft) tragen zwar zufällig dieſe Inſchrift nicht; ſie ſind aber nichts
deſtoweniger in tormentis gemalt, und ſehen auch danach aus.
Nach dieſen hiſtoriſchen Vorbemerkungen ſchicken wir uns nun-
mehr, unſern Plauderplatz unter der Weinlaube des Prediger-
hauſes aufgebend, zum Beſuch des Schloſſes ſelber an.
Die Lage deſſelben iſt nicht günſtig. Ein Schloß, ein Her-
renhaus, wo die Natur nicht Berg, nicht See geboten hat, muß
entweder, nur wenig zurücktretend, ſich in gleicher Linie mit der
Dorfgaſſe erheben, oder aber inmitten eines Parks liegen, hinter
deſſen Bäumen es ſich halb verſteckt. Das Coſſenblatter Schloß
thut weder das eine, noch das andere. Der Platz an der Dorf-
gaſſe war ſchon vergeben (das alte Herrenhaus nahm dieſen Platz
ein), und ſo erhebt ſich das Schloß hinter dem jetzigen Amtshof,
deſſen Wirthſchaftsgebäude zugleich die Auffahrt zum Schloſſe bil-
den. Dehnte ſich nun unmittelbar hinter dem Amtshof ein Park,
ein Wald aus, aus dem das blendend weiße Schloß hier und da
hervorſchimmerte, ſo würde durch die ſonderbare Art der Auffahrt
nicht viel verloren ſein, ja ſie könnte vielleicht einer poetiſch male-
riſchen Wirkung Vorſchub leiſten; aber dieſer Wald fehlt, und
wie auf einer Tiſchplatte, über die man ein graugrünes Tuch
gelegt hat, ſteht das Schloß da, unvermittelt, ohne Vor- und
Hintergrund, wie eine Tempelruine in der Wüſte. Dieſer Aus-
druck aber ſoll nur das Unvermittelte des Aufſteigens bezeichnen,
denn Schloß Coſſenblatt, wie viel ihm im Uebrigen fehlen mag,
iſt jedenfalls keine Ruine, vielmehr liegt es in einer gewiſſen
Stattlichkeit und Wohlerhaltenheit da, die auf den erſten Blick
überraſcht. Erſt ein Eingehen in die Details zeigt, daß dies letztere
mehr ſcheinbar als wirklich iſt.
Wir ſtehen nun in Front des faſt wie Kreide in der Sonne
blitzenden Schloſſes, das aus einem Corps de Logis und zwei
Flügeln beſteht. Der erſte Eindruck, wenn wir von dem Un-
maleriſchen der Lage abſehen, iſt architektoniſch kein ungünſtiger,
und erſt die Rückfront des Baues zeigt uns ſeine Schwächen: die
[115] Flügel ſind zu lang und der Zwiſchenraum zwiſchen denſelben,
der Schloßhof, iſt viel zu ſchmal. Der ganze Bau erhält dadurch
etwas Gefängnißhaftes. Die Rückſeite des Schloſſes hat die Aus-
ſicht auf einen ſchmalen Spreearm, und zugleich auf eine kümmer-
liche Baumanlage am andern Ufer des Fluſſes, die den Namen
„Luſtgarten“ führt. Früher ging eine Brücke über den Spreearm,
aber nur ein einziger Pfahl zeigt noch, wo ſie ſtand.
Dieſer Luſtgarten war es, wohin ſich König Friedrich Wil-
helm I. in ſeinem Rollwagen fahren ließ, und die ſorglich zu-
geſchrägte Doppelrampe, die ſich in Hufeiſenform an die Schloß-
flügel anlegt, zeigt am deutlichſten, mit welcher Sorglichkeit ver-
fahren werden mußte, um die ſchlechte Laune des von Gicht und
Waſſerſucht geplagten Königs nicht noch ſchlechter zu machen.
Wir haben das Schloß umſchritten und treten nun ein. Der
Eindruck, den es in ſeinem Innern macht, iſt der des Stattlichen,
aber zugleich der höchſten Trübſeligkeit. Es iſt ein impoſantes
Nichts, eine vornehme Oede, eine würdevolle Leere, — die Dimen-
ſionen eines Schloſſes und die Nüchternheit einer Kaſerne. Wir
ſteigen zunächſt treppan. In den Zimmern der Bel-Etage erreicht
die Oede den höchſten Grad. Die hechtgrau angeſtrichenen Thüren
tragen in Manneshöhe allerhand gelbe Oelfarbe-Inſchriften, und den
Corridor des linken Flügels hinunterſchreitend, leſen wir, nach der
Analogie von Kaſernenſtube Nr. 3, Nr. 4: „Ihro Hoheit Kron-
prinzeſſin,“ „Ihre Hoheiten Prinzeſſin Ulrike und Amalie,“ „Ihre
Königl. Hoheiten Prinz Heinrich und Ferdinand,“ „Oberhofmei-
ſterin,“ „Fräuleins-Kammer“ ꝛc. Das Zimmer der beiden jungen
Prinzen, Heinrich und Ferdinand, ſieht aus wie ein Gefängniß.
Dazwiſchen immer „Garderobezimmer,“ aber alles in dieſelbe weiße
Tünche getaucht.
Wir kehren nun aus dem erſten Stock in die Zimmer des
Erdgeſchoſſes zurück. Hier in den Zimmern des linken Flügels
wohnte der König und mancherlei erinnert noch an ihn, an ſei-
nen holländiſchen Geſchmack, an ſeine Neigungen und ſeine Thä-
tigkeit. Im großen Eckzimmer ſind die Wände bis zu der Höhe,
8*
[116] in der ſonſt Panele laufen, mit kleinen holländiſchen Kacheln be-
kleidet, glaſirte Täfelchen mit kleinen blauen Figuren darauf. Dieß
war erſichtlich das Staats- und Empfangzimmer während der
„Tage in Coſſenblatt;“ denn über dem Kamin hängt ein Por-
trät Ludwig XIV. im weit nachſchleppenden Hermelin. Die Far-
ben des Bildes ſind halb abgefallen und doch iſt der haften ge-
bliebene Reſt das Einzige, was in dem ganzen weiten Schloß an
Kunſt erinnert, an Genius mahnt.
In demſelben Zimmer befindet ſich noch ein Dutzend anderer
Porträts, aber es ſind die in tormentis gemalten Bilder des
Königs ſelbſt. Das Mildeſte, vielleicht auch das Zutreffendſte, was
man von ihnen ſagen kann, iſt: ſie verleugnen die Stunde ihres
Urſprungs nicht. Freilich haben auch ſie ihre Verehrer gefunden,
und wenn man ſo will, mit Recht. Einige unbedingte Friedrich-
Wilhelms-Bewunderer haben die ganze Frage auf das Gebiet des
Charakters, der Kraft, der Energie geſpielt und von ihrem Stand-
punkt aus mit Recht geſprochen: „So malte ein Mann, der nicht
malen konnte; ſo malte er unter Schmerzen, und — jeden
Tag ein Bild.“
Vor dieſem Raiſonnement verneigt ſich die Kritik. Alle dieſe
Bilder des Königs rühren aus den Jahren 1736, 1737 und
1738 her. Es ſind ſämmtlich Porträts (Bruſtſtücke), und zwar
41 an der Zahl, von denen ſich 32 in den Zimmern, 9 aber im
Corridor, alle in Rahmen von gebeiztem Eichenholz, befinden. So
häßlich die Bilder ſind und ſo unfähig, ein künſtleriſches Wohl-
gefallen zu wecken, ſo wecken ſie doch immerhin ein gewiſſes künſt-
leriſches Intereſſe. Der Hang zum Charakteriſtiſchen iſt unver-
kennbar. In dem einen Zimmer hängen z. B. zwei Judenköpfe
neben einander. Man ſieht deutlich, daß dem König der erſte Kopf
nicht jüdiſch genug erſchienen war, und daß er ſich zum zweiten
mal an die Arbeit machte, um das Charakteriſtiſche entſchiedener
herauszuarbeiten. Einmal iſt ihm ſogar (cum grano salis) ein
hübſcher Kopf geglückt: die Frau ſeines erſten Kammerdieners.
Außer den Bildern des Königs bewahrt Schloß Coſſenblatt
[117] auch die Staffelei, auf der dieſe Bilder gemalt wurden. Daneben
ſteht ein ſchwerer Eichentiſch und um den Tiſch herum eine An-
zahl ſchwerer Holzſtühle, nach Art unſerer jetzigen Gartenſtühle.
Alles höchſt ſolid gearbeitet, beſonders der Tiſch, der wie auf
Pfeilern ruht.
Wir durchſchritten auch den Reſt der Zimmer; ſie waren im
Erdgeſchoß, wie oben im erſten Stock, groß, öde, weiß; dazu hohe
Fenſter und hohe Kamine. Sie hatten nur ein charakteriſtiſches
Zeichen, und dieſes Zeichen mehrte unſer Grauen. In jedem Zim-
mer lag ein todter Vogel, in manchen auch zwei. In Sturm-
nächten hatten ſie Schutz geſucht in den Rauchfängen, und tiefer
nach unten ſteigend, waren ſie in das Zimmer wie in eine Vogel-
falle hinein gerathen. Vergebens einen Ausweg ſuchend, hin und
her flatternd in dem weiten Gefängniß, waren ſie verhungert.
Spät am Abend, die Sterne waren längſt am Himmel,
mahlte unſer Fuhrwerk wieder durch den Sand den öden Weg
nach der Stadt zurück. Es war kühl geworden und der Sternen-
himmel gab auch dieſer Oede einen poetiſchen Schimmer. Ich ſah
hinauf und freute mich der Klarheit, des Glanzes; doch in die
heitern Bilder, die ich wachzurufen trachtete, drängte ſich immer
wieder das Bild von Schloß Coſſenblatt hinein. Die weißen
Wände ſtarrten mich an, ich hörte das geſpenſtiſche Thürenklappen
und in dem letzten Zimmer des linken Flügels flog ein Vögelchen
hin und her und ſtieß mit dem Kopf gegen die Scheiben; ſein
Zirpen klang wie Hülferuf. Aber im ſelben Augenblick war alles
hin, der Schloßhof ſtand in Flammen und unſichtbare Hände
trugen das Schloß ab und warfen es in das Feuer.
[[118]]
Königs-Wuſterhauſen.
Mehr noch als Schloß Coſſenblatt, das ich im vorigen Kapitel
geſchildert, war, wie männiglich bekannt, Königs-Wuſterhauſen ein
bevorzugter Aufenthalt König Friedrich Wilhelms I. Wir dürfen
an dieſem (an Wuſterhauſen) nicht vorbeigehen, nachdem wir jenes
(Coſſenblatt) kennen gelernt haben und wählen zu unſerem Aus-
flug das Pfingſtfeſt, das Feſt der Maien.
Es reiſt ſich ſchön an einem Pfingſtſonnabend in die Welt
hinein, es ſei wohin es ſei. Die Natur, die Dinge, die Menſchen,
alles lacht; die Sonne geht in Strahlen unter, die Rapsfelder
blühen, und ſelbſt die Windmühlenflügel ſchwenken Maienbüſche
durch die Luft.
Ricksdorf rüſtete ſich zum Feſt. Die Mägde aufgeſchürzt und
kurzärmlig, ſtanden auf den Höfen und wuſchen und ſcheuerten;
die kupfernen Keſſel blinkten wie Gold, und einige Kinder, die
eben aus dem Tümpelbade kamen, liefen nackt über die Straße
und wirbelten den Staub auf. Der Tümpel blieb ja nah und
erlaubte ein zweites Bad.
In Rudow ſchnitten die Jungen Kalmus; über Walters-
dorf ſpannten die Linden ihren Schirm, während ſich der Kirch-
hof in Hollunderbüſchen verſteckte; Kiekebuſch aber (ſo ändern
[119] ſich die Zeiten) kuckte nicht mehr aus Buſch und Haide, ſondern
aus hohen Roggenfeldern hervor.
Nun Haiderevier, dann wieder freies Feld, bis plötzlich die
Höhe, auf der wir bis dahin fuhren, ſteil abfällt und eine Nie-
derung, zunächſt ein Keſſelthal vor uns liegt, in das wir hin-
unterrollen. Die Poſtillone blaſen (wir haben drei Beichaiſen), die
erſten Häuſer ſchimmern hinter Bäumen hervor, die Leute vor den
Thüren richten ſich auf und grüßen, und die Jungen werfen ihre
Mützen und ſchreien Hurrah. Es iſt ein Lärm, der einer Reſidenz
zur Ehre gereichen würde, und doch iſt es nur Wuſterhauſen,
freilich — zu Pfingſten.
Wir halten vor der Poſt; drüben iſt ein Gaſthof mit Staub-
rouleaux, Waſchtoiletten und Klingelzügen, alles großſtädtiſch, und
während mir zwei Lichter auf den Tiſch geſetzt werden, richt’ ich
unwillkürlich die Frage an mich: iſt dies daſſelbe Wuſterhauſen,
von dem wir jene klaſſiſche, aber freilich wenig ſchmeichelhafte Be-
ſchreibung haben, die eine Seite in den Memoiren der Mark-
gräfin von Baireuth, der Lieblingsſchweſter Friedrichs des Großen,
füllt? Laß doch ſehen, was ſie ſchreibt.
Ich war wohlweislich nicht ohne dies Buch aufgebrochen,
(das, wenn man ſo will, der „älteſte Fremdenführer von Wuſter-
hauſen“ iſt), und las wie folgt:
„Mit unſäglicher Mühe hatte der König an dieſem Orte
einen Hügel aufführen laſſen, der die Ausſicht ſo gut begrenzte,
daß man das verzauberte Schloß nicht eher ſah, als bis man
herabgeſtiegen war. Dieſes ſogenannte Palais beſtand aus einem
ſehr kleinen Hauptgebäude, deſſen Schönheit durch einen alten
Thurm erhöht wurde, zu dem hinauf eine hölzerne Wendeltreppe
führte. (In der erſten Ausgabe heißt es von dieſem alten Thurm:
„er war ein ehemaliger Diebeswinkel, von einer Bande Räuber
erbaut, denen dies Schloß früher gehört hatte.“) Das Gebäude
war von einem Erdwall und einem Graben umgeben, deſſen
ſchwarzes und fauliges Waſſer dem Styxe glich. Drei Brücken
verbanden es mit dem Hofe (in Front des Schloſſes), mit dem
[120] Garten (zur Seite deſſelben) und mit einer gegenüberliegenden
Mühle. Der nach vornhin gelegene Hof war durch zwei Flügel
flankirt, in denen die Herren von des Königs Gefolge wohnten.
Am Eingang in den Schloßhof hielten zwei Bären Wacht (bei-
läufig geſagt ſehr böſe Thiere), die auf ihren Hintertatzen umher-
ſpazierten, weil man ihnen die vorderen abgeſchnitten hatte. Mit-
ten im Hof befand ſich ein kleiner Born, aus dem man mit vie-
ler Kunſt einen Springbrunnen gemacht hatte. Er war mit einem
eiſernen Geländer umgeben, einige Stufen führten hinauf, und
dies war der Platz, den ſich der König Abends zum Tabackrau-
chen auszuwählen pflegte. Meine Schweſter (Charlotte; ſpäter Her-
zogin von Braunſchweig) und ich, hatten für uns und unſer gan-
zes Gefolge nur zwei Zimmer, oder vielmehr zwei Dachſtübchen.
Wie auch das Wetter ſein mochte, wir aßen zu Mittag immer
im Freien unter einem Zelte, das unter einer großen Linde auf-
geſchlagen war. Bei ſtarkem Regen ſaßen wir bis an die Waden
im Waſſer, da der Platz vertieft war. Wir waren immer 24 Per-
ſonen zu Tiſch, von denen drei Viertel jederzeit faſteten; denn es
wurden nie mehr als ſechs Schüſſeln aufgetragen und dieſe waren
ſo ſchmal zugeſchnitten, daß ein nur halbwegs hungriger Menſch
ſie mit vieler Bequemlichkeit allein aufzehren konnte.*) .... In
[121] Berlin hatte ich das Fegfeuer, in Wuſterhauſen aber die Hölle zu
erdulden.“
So die Markgräfin, die frühere Prinzeſſin Wilhelmine. Ich
ſchlug das Buch zu und trat an das offene Fenſter, durch das
der heitere Lärm ſchwatzender Menſchen zu mir herauf drang. Das
Zimmer lag im erſten Stock und die Kronen der abgeſtutzten Lin-
denbäume ragten bis zur Fenſterbrüſtung auf, ſo daß ich meinen
Kopf in ihrem Blattwerk verſtecken konnte. An der andern Seite
der Straße (etwas zurückgelegen) zog ſich der eine Cavalierflügel
des Schloſſes hin. Die ganze mir zugekehrte Front ſteckte in wei-
ßen und rothen Roſen, die Oberfenſter waren geöffnet und Licht
und Muſik drangen zu mir herüber. Hinter dem Flügel, in ſchrä-
ger Richtung nach rechts hin, ſtanden hohe Baumgruppen, und
zwiſchen dem Laubwerk wurde das Schindel- oder Schieferdach
des alten Schloßthurms ſichtbar, „des Diebeswinkels, von einer
Räuberbande erbaut.“ War es wirklich ſo arg mit ihm? Er ſtand
da, mondbeſchienen, mit der friedlichſten Miene von der Welt,
ſeine Spitze (eine Art Flaggenſtock) ſo krumm wie ein Elephanten-
zahn und das Ganze eher an Idyll und goldene Zeit, als an
Fegfeuer und Hölle mahnend.
Es war noch nicht ſpät und der Weg nicht zwei Minuten
weit; ſo beſchloß ich noch einen Abendbeſuch zu machen und die,
freilich dämmerumwobene Wirklichkeit des Schloſſes mit der Be-
ſchreibung ſeiner ehemaligen Bewohnerin zu vergleichen. Ich trat
in den weiten Schloßhof ein. Da lagen die Flügel rechts und
links, vor mir Brücke und Graben, und dahinter, großentheils
verſteckt, das Schloß ſelbſt. Die Bären fehlten, der Springbrun-
nen auch; keine Stufen da, auf der irgend wer ſeine Abendpfeife
hätte rauchen können; nur eine weiße Pumpe ſtand mitten in
einem Fliederbosquet und nahm ſich beſſer aus, als Pumpen ſonſt
wohl pflegen.
Ich näherte mich der Brücke und konnte nun die Funda-
mente des Schloſſes in wenigſtens dunklen Umriſſen, die Giebel
aber, auf die das Mondlicht fiel, in ſcharfen Linien erkennen; was
[122] zwiſchen Giebel und Grundmauer lag, war hinter Bäumen ver-
ſteckt. Der „Styx“ exiſtirte nicht mehr; halb zugeſchüttet war aus
dem Graben ein breiter Streifen Wieſenland geworden; die blü-
henden Kräuter würzten die Luft, und im Rücken des Schloſſes
(die Notte fließt dicht daran vorüber) hört’ ich, wie ein Waſſer
ſtill, breit, melodiſch über ein Wehr fiel.
Ich kehrte um und ſetzte mich unter die Linden des Gaſt-
hauſes. Das war keine „Hölle,“ die ich geſehen hatte, oder —
die Beleuchtung hatte Wunder gethan.
Der Wirth ſetzte ſich zu mir, und angeſichts des Schloſſes,
deſſen Thurmdach uns argwöhniſch zu belauſchen ſchien, plauderten
wir vom Schloß Wuſterhauſen.
In alten wendiſchen Zeiten ſtand hier ein Dorf Namens
„Wuſtrow“, d. h. „umfloſſener Ort.“ Die Bezeichnung findet ſich
vielfach in der Mark bis dieſen Tag, z. B. das Zieten’ſche Wu-
ſtrau. Als die Deutſchen in’s Land kamen, gründeten ſie ein Nach-
bardorf, das noch exiſtirende Deutſch-Wuſtrow, zum Unterſchied
von Wendiſch-Wuſtrow, ſchließlich aber wurden beide Worte
(durch ein angehängtes „hauſen“) germaniſirt, und Deutſch- und
Wendiſch-Wuſterhauſen waren fertig.
Wendiſch-Wuſterhauſen — nur mit dieſem haben wir es zu
thun — wurde eine markgräfliche Burg. Sie vertheidigte, wie
„Schloß Mittenwalde,“ von dem wir in einem der nächſten Kapitel
ſprechen werden, den Notte-Uebergang, d. h. ſie war Grenzburg
zwiſchen der Mark und der Lauſitz.
Wendiſch-Wuſterhauſen blieb markgräfliche Burg bis gegen
1370. Es iſt ſehr wahrſcheinlich, daß der alte Thurm (der „Diebs-
winkel“) bis in dieſe markgräfliche Zeit zurückdatirt. Etwa 1375
kamen die Schliebens in Beſitz der Burg, eine Familie, die
damals in der Umgegend reich begütert war. Sie beſaßen es ein
Jahrhundert lang, alſo namentlich auch während der Quitzow-
Zeit, ohne daß beſondere Räuberthaten der Burg Wendiſch-Wuſter-
hauſen, bekannt geworden wären. 1475 kauften es die Schenken
von Landsberg, die damaligen Beſitzer der Herrſchaft Teupitz,
[123] aus deren Händen es (kleiner Mittelglieder zu geſchweigen) 1683
in Beſitz des Kurprinzen Friedrich, des ſpäteren Königs Frie-
drich I. kam. Dieſer ſchenkte es 1698 ſeinem damals 10 Jahre
alten Sohne, dem ſpäteren König Friedrich WilhelmI.
Dieſer (Friedrich Wilhelm I.) nahm Wendiſch-Wuſterhauſen
von Anfang an in ſeine beſondere Affektion. Er hielt bei dieſer
Vorliebe aus bis zu ſeinem Tode. Was der Ort jetzt iſt, ver-
dankt er ihm, dem „Soldatenkönig.“ Das Dorf wurde zum Fle-
cken; die Straßen und Plätze, die Häuſer und Bäume, alles iſt
ſein Werk, und mit Recht hat der Flecken ſeinen Namen gewechſelt
und ſich aus einem Wendiſch-Wuſterhauſen zu einem Königs-
Wuſterhauſen erhoben.
Königs-Wuſterhauſen iſt vielleicht mehr als ein anderer Ort
(nur Potsdam ausgeſchloſſen) mit der Lebens- und Regierungs-
Geſchichte König Friedrich Wilhelms I. verwachſen. Hier ließ er
als Knabe ſeine „Kadetten,“ und einige Jahre ſpäter (von 1705
an, wo er ein Regiment erhalten hatte) ſeine „Leib-Compagnie“
exerciren. Hier übte und ſtählte er ſeinen Körper, um ſich wehr-
haft und mannhaft zu machen, und hier, zur Regierung gelangt,
fanden jene Jagdſcenen und waidmänniſchen Feſtlichkeiten ſtatt, die
Wuſterhauſen damals zum Jagdſchloß par excellence erhoben.
Hier auf dem Schloßhof, den jetzt die friedliche Pumpe ziert,
war es, wo jedesmal nach abgehaltener Jagd, den Hunden ihr
„Jagdrecht“ wurde. Dies „Jagdrecht“ galt als eine Nachfeier zum
eigentlichen Feſt. Der zerlegte Hirſch wurde wieder mit ſeiner
Haut bedeckt, an der ſich noch der Kopf ſammt dem Geweih be-
finden mußte. So lag der Hirſch auf dem Hof, während hundert
und mehr Parforce-Hunde, die durch ein Gatter von ihrer Beute
getrennt waren, laut heulten und winſelten und nur durch Peit-
ſche und Karbatſche in Ordnung gehalten wurden. Endlich erſchien
der König, der Jägerburſche zog nun die Haut des Hirſches fort,
das Gatter öffnete ſich und die Meute fiel über ihr „Jagdrecht“
her, während die Piqueurs im Kreiſe ſtanden und auf ihren Hör-
nern blieſen.
[124]
Wenigſtens zwei Monate alljährlich wohnte König Friedrich
Wilhelm I. in Wuſterhauſen. Späteſtens am 24. Auguſt traf er
ein und früheſtens am 4. oder 5. November brach er auf. Die
erſten 8 Tage gehörten der Rebhuhnjagd (vorzüglich auf der Groß-
Machenower Feldmark), ſpäter dann folgten, freilich zumeiſt erſt im
December und Januar, die Jagden auf Roth- und Schwarzwild.
Zwei ſtehende Feſtlichkeiten im größeren Stil gab es alljährlich
während der Wuſterhauſner Saiſon: die Jahresfeier der Schlacht
bei Malplaquet (am 11. September) und das Hubertusfeſt
am 3. November. Bei Malplaquet war der König, damals noch
Kronprinz, zum erſten Mal im Feuer geweſen, das erheiſchte, wie
billig, ein Erinnerungsfeſt. Das Hubertusfeſt war zugleich das
Abſchiedsfeſt von Wuſterhauſen.
Bei dieſen Feſten ging es hoch her, zumal beim Hubertusfeſt.
Nur einmal fiel es aus, am 3. November 1730. Am 28. Okto-
ber, ſechs Tage vor dem Hubertustag, hatte das Kriegsgericht in
Schloß Cöpenick geſeſſen, das über Katte und Kronprinz Friedrich
Urtheil ſprechen ſollte.
In Wuſterhauſen ſaß derweilen der erzürnte König und war-
tete auf „Tod“. Das Kriegsgericht ſprach „Schuldig“, aber es
verweigerte den Ausſpruch „Tod“. Da griff der König ſelbſt in
den Gang des Prozeſſes ein, er ſtieß das Urtheil um, und jene
berühmte Cabinetsordre wurde erlaſſen, die da ſchließt:
„S. K. M. ſeynd in der Jugend auch die Schule durch-
gelauffen und haben das lateiniſche Sprüchwort gelernet: fiat
justitia et pereat mundus. Alſo wollen Sie hiermit, und
zwar von Rechts wegen, daß der Katte, ob er ſchon nach denen
Rechten verdienet gehabt, wegen des begangenen crimen lae-
sae Majestatis mit glühenden Zangen geriſſen und auffgehän-
get zu werden, Er dennoch nur, in consideration ſeiner Fa-
milie, mit dem Schwert vom Leben zum Tode gebracht wer-
den ſolle. Wenn das Kriegs-Recht dem Katten die Sentenz
publicirt, ſoll ihm geſagt werden, daß es S. K. M. leydt
[125] thäte, es wäre aber beſſer, daß er ſtürbe, als daß die Juſtiz
aus der Weldt kähme.“
Dieſe Cabinetsordre trägt als Ort und Datum: Wuſter-
hauſen, d. 1. November 1730.
Hier in Wuſterhauſen ſpielten ſpäter die Intriguen zwiſchen
Schweſter und Schweſter, (Prinzeſſin Wilhelmine und Prinzeſſin
Charlotte) und Tochter und Mutter (Prinzeſſin Wilhelmine und
Königin); hier ſchwankte noch zuletzt die Wage, ob der Erbprinz
von Baireuth oder der Prinz von Wales, wie ſo ſehr gewünſcht
wurde, die Braut heimführen würde; hier endlich, nachdem die
Ungewitter ſich verzogen und ruhigeren Tagen Platz gemacht hat-
ten, theilte der früh alternde König, wenn Gicht und Podagra
das Jagen verboten, ſeine Zeit zwiſchen Rauchen und Malen,
zwiſchen Pfeife und Pinſel. Es war dann in Wuſterhauſen wie in
Schloß Coſſenblatt (ſeinem eigentlichen Atelier), nur mit dem
Unterſchied, daß Coſſenblatt der auserwählte Ort für Podagra
und Malerei geweſen zu ſein ſcheint, während in Potsdam und
Wuſterhauſen nur gemalt wurde, wenn die Gicht wie von unge-
fähr d. h. ohne Anmeldung und unerwartet erſchien. Dies iſt auch
der Grund, weshalb ſich in Potsdam und Wuſterhauſen viel we-
niger Bilder von der Hand des Königs vorfinden, als in Schloß
Coſſenblatt. Man könnte vielleicht ſagen, daß ſeine Malerei in
Coſſenblatt chroniſch, in Potsdam und Wuſterhauſen blos
acut geweſen ſei. Schon hier übrigens ſei bemerkt, daß ſich im
Wuſterhauſener Schloſſe zur Zeit keine Bilder des Königs mehr
vorfinden (ſeit Sommer 1863 geändert. Vgl. S. 114), doch hän-
gen einige auf dem Oberflur des nachbarlichen Poſthauſes, — Er-
innerungsſtücke an die Kunſt und die Gicht des königlichen Malers.
Bei dieſem Geplauder war es ſpät geworden. Die Stille in
den Straßen mahnte zur Ruh. Ein ſchwaches Wetterleuchten zuckte
dann und wann am Himmel und verſprach einen ſchönen Tag;
ſo ſchlief ich ein.
Der andere Morgen war Pfingſtſonntag. Ich brach früh auf,
um das „verzauberte Schloß“ in hellem Tageslicht zu ſehen. Ich
[126] fragte nach dem Kaſtellan, — todt; nach der Kaſtellanin — auch
todt; endlich erſchien ein Mann mit einem großen alten Schlüſſel,
der mir als der „Exekutor“ vorgeſtellt wurde. Dies ängſtigte mich
ein wenig. Es war ein ziemlich mürriſcher Alter, der von nichts
wußte, auch von nichts wiſſen wollte. Seine Naſe ſpielte in’s
Röthliche.
Wir traten durch eine Seitenthür auf den Schloßhof. Es
war ſchon heiß, trotz der frühen Stunde; die Sonne blendete und
die Bosquets ſammt der weißen Pumpe waren nicht ganz mehr,
was ſie am Abend vorher geweſen waren.
Wir umſchritten zunächſt das Schloß, dann nahm ich einen
guten Stand, um mir die Architectur deſſelben einzuprägen.
Es iſt gewiß ein ziemlich häßliches Gebäude, aber es iſt doch
mehr originell als häßlich, und weil es (hübſch oder häßlich) ſo
ganz apart iſt, iſt es nicht ohne Intereſſe. Der ganze Bau, bis
zu beträchtlicher Höhe, iſt aus Feldſtein aufgeführt, woraus ich den
Schluß ziehe, daß der König, bei Ausbau des Schloſſes, die
Grundform deſſelben (ein Viereck, mit einem vorſpringenden Rund-
thurm) beibehielt und nur die Einrichtung und Gliederung völlig
veränderte. Der Rundthurm wurde Treppenthurm. Von dieſem
Thurm aus zog er eine Mauerlinie mitten durch das Feldſtein-
Viereck hindurch, und theilte dadurch den Bau in zwei gleiche
Hälften. Jede Hälfte erhielt ein Giebeldach, ſo daß jeder, der ſich
dem Schloſſe nähert, zwei Häuſer zu ſehen glaubt, die mit ihren
Giebeln auf die Straße blicken. In Front beider Giebel, an beide
ſich lehnend, ſteht der Thurm.
Der Thurm iſt ſehr alt; König Friedrich Wilhelm I. aber
hat ihm einen modernen Eingang gegeben, eine Art griechiſches
Portal (in Mannshöhe), deſſen Giebelfeld etwa ein Dutzend in
Holz geſchnittene Amoretten zeigt. Einige ſind wurmſtichig gewor-
den, andere haben ſonſtigen Schaden genommen.
Beim Eintreten erblickt man zuerſt verließartige Kellerräume,
darin etwas Stroh liegt, wie eben verlaſſene Lagerſtätten. Dann
führt eine Treppe von zehn oder zwölf Stufen in’s Hochparterre,
[127] dann eine zweite höhere Treppe in’s erſte Stockwerk. Wir verwei-
len hier einen Augenblick. Ein ſchmaler Gang ſcheidet zwei Reihen
Zimmer von einander, deren Thüren ſämmtlich (muthmaßlich des
beſſeren Luftzugs halber) kleine Gitterfenſter haben, in Folge deſſen
die Zimmer genau ausſehen, wie Gefängnißzellen. Es ſind dies
erſichtlich dieſelben Räume („nicht beſſer als Dachſtuben“), in denen
die Prinzeſſinnen ſchlafen mußten, wenn ſie nicht, was auch mög-
lich iſt, in den kleinen Giebelſtuben untergebracht wurden. Die
Gitterfenſter gönnen überall einen Einblick. Nur eines der Zimmer
ſchien benutzt; auf dem Boden deſſelben lagen Aktenbündel ausge-
breitet, weiße, grüne, blaue, wohl 80 oder 100 an der Zahl;
muthmaßlich eine alte Regiſtratur der Herrſchaft Königs-Wuſter-
hauſen.
Wir ſtiegen nun in’s Hochparterre zurück. Hier befindet ſich
die alte Herrlichkeit des Schloſſes auf engſtem Raum zuſammen.
Man tritt zuerſt in eine Jagdhalle, die, wie oben der Flurgang,
zwiſchen zwei Reihen Zimmern hinläuft.
In dieſer Halle befinden ſich, nach Art dieſer Lokalitäten, 6
oder 8 Hirſchgeweihe, an denen nichts Beſonderes wahrzunehmen
iſt. Die frühere Sehenswürdigkeit dieſer Halle iſt ihr verloren ge-
gangen. Es war dies (ſo geht die Sage) das 532 Pfund ſchwere
Geweih eines Rieſenhirſches, der 1636, alſo zur Regierungszeit
George Wilhelms, in der Köpnicker Forſt, 4 Meilen von Fürſten-
walde, erlegt worden war. Es iſt über dies Geweih, auch in neuerer
Zeit noch, viel geſtritten und obige Gewichtsangabe, wie billig,
belächelt worden. Nichtsdeſtoweniger muß das Geweih etwas ganz
Enormes geweſen ſein, da Friedrich Auguſt II. von Sachſen dem
Könige Friedrich Wilhelm I.eine ganze Compagnie langer
Grenadiere zum Tauſch dafür anbot, ein Anerbieten, das na-
türlich angenommen wurde. Das Geweih exiſtirt noch und ſoll ſich
auf dem Jagdſchloß Moritzburg bei Dresden befinden.*)
[128]
Rechts von der Halle ſind zwei Thüren. An der einen, zu-
nächſt der Treppe, ſteht mit Kreide angeſchrieben: „Wachtſtube der
Artillerie“. Bei Manövern, Mobilmachungen ꝛc. muß nämlich das
Wuſterhauſener Schloß wohl oder übel mit aushelfen und erhält
vorübergehend eine kleine Garniſon, eine Benutzung, gegen die der
„Soldatenkönig“ vielleicht am wenigſten einzuwenden haben würde.
Auch ſtehen die meiſten dieſer Räume (wenigſtens in ihrer jetzigen
Geſtalt) durchaus nur auf der Stufe von Kaſernenſtuben. Das
erſte Zimmer hinter der mit Kreide beſchriebenen Thür war ehedem
das Schlafzimmer Friedrich Wilhelms I. Es befindet ſich in dem-
ſelben — faſt das einzige, was dieſem Schloſſe aus jener Zeit her
erhalten geblieben iſt — das Waſchbecken des Königs, eine Art
feſtgemauertes Waſchfaß. Das Ganze, aus Gips gefertigt, gleicht
den Abgußſteinen, die man in unſeren Küchen findet, und hat in
der That eine Oeffnung zum Abfluß des Waſſers, in der ein ſtei-
nerner Stöpſel ſteckt, halb ſo lang wie ein Arm und halb ſo dick.
Beim Anblick dieſes Waſchfaſſes glaubt man allerdings, was all-
ſeits von dem König berichtet wird, daß er einer der reinlichſten
Menſchen war und „ſich wohl zwanzigmal des Tages wuſch“.
Die andere Thür, ebenfalls zur Rechten der Halle, führt in
den Speiſeſaal. Er mißt 15 Schritt im Quadrat, iſt alſo ziem-
lich geräumig. In der Mitte iſt ein hölzerner Pfeiler angebracht,
der vielleicht mehr ſchmücken als ſtützen ſoll; iſt aber zu beidem
gleich unfähig. Ein großer Kamin und ein gegipster, ſteinartiger
Fußboden vollenden die Einrichtung dieſes Saales; neben dem
Kamin ſieht man die Ueberreſte einer Treppe, die direct in den
Küchenanbau führte. Dies iſt alſo der Saal, in dem an jedem
11. September der Tag von Malplaquet und an jedem 3. No-
vember das Hubertusfeſt gefeiert wurde. Es ging dann hier viel
heiterer her, als man jetzt, beim Anblick dieſer weißgetünchten Oede,
glauben ſollte. Frauen waren ausgeſchloſſen; es war ein Männer-
feſt. Zwanzig bis dreißig Offiziers, meiſt alte Generals, die unter
Eugen und Marlborough mitgefochten hatten, ſaßen dann um den
Tiſch herum und Rheinwein und Ungar wurden nicht geſpart. Der
[129] „ſtarke Mann“ mußte kommen und ſeine Kunſtſtücke machen; zu-
letzt, während das Feuer flackerte und die Piqueurs auf ihren
Jagdhörnern blieſen, packte der König den alten Generallieutenant
von Pannewitz, der von Malplaquet her eine breite Schmarre
im Geſicht hatte, und begann mit ihm den Tanz. Dazwiſchen Ta-
back, Brettſpiel und Puppentheater, bis das Vergnügen an ſich
ſelbſt erſtarb.
Wir treten aus dieſem Eßſaal wieder in die Halle zurück.
Zur Linken derſelben befinden ſich ebenfalls zwei Zimmer, die Zim-
mer der Königin. Sie ſind verhältnißmäßig noch wohl erhalten
und geben einem ein deutliches Bild, wie die „Eleganz“ von
Schloß Wuſterhauſen beſchaffen war. Beide Zimmer ſind durch
eine einfache Eichenthür mit einander verbunden, ſowie auch nie-
drige Eichenholz-Pannele die Wände umziehen. In den Ecken der
Decke ſind vier Lyras angebracht, die aber ſo genirt ausſehen, als
befänden ſie ſich lieber wo anders. Mit Unrecht: denn ſie haben
wenigſtens Geſellſchaft: zwei Basrelief-Bilder (in jedem Zimmer
eins), die ſich als Wandſchmuck zwiſchen Decke und Kamin be-
finden. Das eine ſtellt eine „Toilette der Venus“, das andere eine
„Venusfeier“ dar. Das erſte operirt mit dem alten, wohlbekannten
Material: ſchnäbelnde Tauben, Amoretten, Roſen-Guirlanden ꝛc.,
das zweite aber thut ein Uebriges. Nackte Geſtalten, von ganz un-
glaublichen Formen, umtanzen eine Venusſtatue, während ein Sa-
tyr von hinten her eine Bachantin umklammert hält und die Wi-
derſtrebende zum Tanze zwingt. An anderem Ort würde dieſer
luſtige Heidenſpuk weiter nichts zu bedeuten haben, hier in Schloß
Wuſterhauſen aber nimmt er ſich wunderlich genug aus und paßt
ſeltſam zu dem Waſchbecken drüben mit dem dicken ſteinernen
Stöpſel.
Das erſte dieſer Zimmer, das ſich mit der „Toilette der Ve-
nus“ begnügt, führt durch eine Seitenthür auf eine Art Rampe
hinaus, die ziemlich ſteil nach dem Park hin abfällt. Dieſen Weg
machte wahrſcheinlich immer der König, wenn er in ſeinem Gicht-
9
[130] ſtuhl in den Garten hinein und wieder zurückgerollt wurde. Be-
kanntlich war Treppenſteigen nicht ſeine Sache.
Wir treten jetzt, den Blick noch einmal auf die öden Räume
gerichtet, ebenfalls in’s Freie hinaus und athmen auf im Son-
nenlicht und in dem Wieſenduft, den eine Luftwelle eben zu uns
her trägt. Eine mächtige alte Linde, hart zu Füßen der Rampe,
ladet uns ein, unter ihrem Zweigwerk Platz zu nehmen. Wir
thun’s und befinden uns muthmaßlich unter demſelben Blätterdach,
„unter dem (um noch einmal Prinzeſſin Wilhelmine zu citiren)
die Damen, wenn’s regnete, bis an die Wade im Waſſer ſaßen“.
Die Parkwieſe liegt vor uns, Hummeln und Käfer ſummen dar-
über hin, das Mühlenfließ, uns zur Rechten, fällt leiſe über das
Wehr. Träume nehmen den Geiſt gefangen und führen ihn weit
fort in ſüdliche Länder, zu Tempeltrümmern und Götterbildern.
Aber ein Satyr lauſcht plötzlich hervor; — es iſt derſelbe, der
der tanzenden Bachantin da drinnen im Nacken ſitzt, und die Bil-
der von Schloß Wuſterhauſen ſchieben ſich plötzlich wieder vor die
Bilder klaſſiſcher Schönheit. Hatte die Memoirenſchreiberin doch
Recht? Ja und nein; ein prächtiger Platz für einen Waidmann
und eine ſtarke Natur, aber allerdings ein ſchlimmer Platz für
äſthetiſchen Sinn und einen weiblichen esprit fort.
[[131]]
Teupitz.
Räthſelſtimmen tiefer Trauer.
Lenau.’
Coſſenblatt führte uns mittelbar nach Königs-Wuſterhauſen und
Königs-Wuſterhauſen führt uns nunmehr nach dem nahegelegenen
Teupitz. Die alten Herrn des „Schenkenländchens“ beſaßen beide
Städtchen; — das eine haben wir kennen gelernt, machen wir
auch dem andren, dem hiſtoriſch älteren, unſren Beſuch.
Teupitz verlohnt allerdings eine Nachtreiſe (die Poſten dahin
meiden das Tageslicht), wiewohl dieſe Hauptſtadt des ſogenannten
„Schenkenländchens“ lange nicht das iſt, als was es mir geſchil-
dert worden war.
Die Schilderungen von Teupitz galten ſeiner Armuth. „Die
Poeſie des Verfalls liegt über der Stadt,“ ſo hieß es voll
dichteriſchen Ausdrucks, und die farbenreichen Armuthsbilder, die
mein Freund und Gewährsmann vor mir entrollte, wurden mir
zu einem viel größeren Reiſeantrieb, als die gleichzeitig wieder-
kehrenden Verſicherungen: „aber Teupitz iſt ſchön.“ Dieſen Re-
frain überhörte ich oder vergaß ihn, während ich doch die Worte
nicht wieder loswerden konnte: „das Plateau um Teupitz herum
heißt „der Brand“, und das Wirthshaus darauf führt den Na-
men „der todte Mann“.
Ich hörte noch allerhand Anderes. Ein früherer Geiſtlicher in
9*
[132] Teupitz ſollte unverheirathet geblieben ſein, „weil die Stelle einen
Hausſtand nicht tragen könne“, und ein Gutsbeſitzer (ſo hieß es
weiter) habe Jedem, der es hören wollte, erzählt: „wenn ich einem
Teupitzer Bettelkinde ein Stück Brod gebe, ſo ißt es nur die
Hälfte davon, die andere Hälfte nimmt es mit nach Haus. So
rar iſt Brot in Teupitz.“ Dieſe Geſchichten hatten einen Eindruck
auf mich gemacht. Zu gleicher Zeit erfuhr ich, König Friedrich
Wilhelm IV. habe gelegentlich halb ſcherzhaft, halb mitleidsvoll
hingeworfen: „die Teupitzer ſind doch meine Treueſten; wären ſie’s
nicht, ſo wären ſie alle längſt ausgewandert.“
Dies und noch manches der Art weckte eine Sehnſucht in
mir, Teupitz zu ſehen, das Ideal der Armuth, von dem ich in
Büchern nur fand, daß es vor hundert Jahren 258 und vor
fünfzig Jahren 372 Einwohner gehabt habe, daß das Perſonal
der Geſundheitspflege (wörtlich) „auf eine Hebeamme be-
ſchränkt ſei,“ und daß der Ertrag ſeiner Aecker 1¼ Sgr. pro
Morgen betrage. Angedeutet habe ich übrigens ſchon (und es ſei
hier eigens wiederholt), daß ich die Dinge anders fand, als ich
nach dieſen Schilderungen erwarten mußte. Wie es Familien giebt,
die, wiewohl längſt leidlich wohlhabend geworden, den guten, be-
quemen Ruf der Armuth durch eine gewiſſe Paſſivität geſchickt auf-
recht zu erhalten wiſſen, — ſo auch die Teupitzer. Solche viel-
bedauerte „Armen“ (wer kennte ihrer nicht!) leben glücklich-ange-
nehme Tage, und unbedrückt von den Mühſalen der Gaſtlichkeit
oder der Repräſentation, lächeln ſie ſtill in ſich hinein, ſo oft ſie
dem lieben, alten Satz begegnen, daß „Geben ſeliger ſei denn
Nehmen.“
Um 12 Uhr Nachts geht die Poſt, die dreimal wöchentlich
(Montag, Mittwoch, Freitag) die Verbindung zwiſchen Teupitz und
Zoſſen und dadurch zwiſchen Teupitz und der Welt unterhält.
Zoſſen iſt wie ein Paß für dieſe Gegenden: „es führt kein andrer
Weg nach Teupitz hin.“ Die erſte Meile haben wir noch Chauſſee,
deren Pappeln, ſoviel die Mitternacht eine Muſterung geſtattet, nicht an-
ders ausſehen als anderswo; erſt mit dem erſten Morgengrauen biegen
[133] wir nach links hin in tiefe Sandgeleiſe, in die eigentliche Teupitzer Ge-
gend ein. Es iſt ein ganz eigenthümliches Haideland, vielleicht am
meiſten unſern Wedding-Parthieen verwandt, wo um den Plötzen-
See herum, die Rehberge und die Ausläufer der Jungfern-Haide
zuſammenſtoßen. Auch die Namen klingen ähnlich: „Sandkrug,
Spiesberge“ und „der hungrige Wolf.“ Hier wie dort ſind es
die alten wohlbekannten Elemente: „Sand und See, Kiefer und
Kuſſel,“ die ſich zu Landſchaftsbildern zuſammenſtellen; aber ſo
alltäglich die Dinge ſelber ſind, ſo apart iſt ihre Gruppirung, zu-
mal in dieſer Teupitzer Gegend. Die Kiefer, groß und klein, tritt
nirgends (oder doch beinahe nirgends) in geſchloſſenen Maſſen
auf; nicht en colonne ſteht ſie da, ſie bildet Schützenlinien, ein
aufgelöſtes Gefecht. Die Dämmerung unterſtützt die Vorſtellung
eines Heerlagers. Dort auf der Kuppe ſtehen drei Alte und lugen
aus; am Abhang lagert eine Feldwacht jungen Volks; eine lange
Poſtenkette von Kuſſeln zieht ſich am See entlang und reicht einem
andern Lagertrupp die Hand. Dazwiſchen Sand und Moos und
dann und wann ein Aehrenfeld, dünn, kümmerlich, ein bloßer
Verſuch, eine Anfrage an die Natur.
Es iſt inzwiſchen immer heller geworden. Das Grau am
Horizont wurde weiß, das Weiß wurde iſabell-, dann roſenfarben;
nun ſchießt es wie Feuerlilien auf, der Sand verſchwindet, See-
und Morgenkühle wehen uns an, und während der Sonnenball
hinter der Teupitzer Kirche aufſteigt, fahren wir in die noch ſtille
Straße des Städtchens ein.
Der Wagen hält vor der Poſt, ſchrägüber vom „goldnen
Stern.“ Der goldne Stern iſt ein Eckhaus; vor ſeiner Thür ſteht
ein Akazienbaum und an dem Laubenvorbau lehnt der Wirth,
ſeines Zeichens ein Bäcker. Das iſt eine gute Vorbedeutung. Un-
ter allen Gewerksmeiſtern ſteht doch der Bäcker unſerm innern
Menſchen am nächſten. Freundlich weiſt er mich zurecht, dem Mü-
den iſt leicht gebettet, und ich ſchicke mich an zu einer Stunde
Morgenſchlaf. Ein friſcher Luftſtrom zieht durch das Gazefenſter,
die Akazie draußen bewegt ſich leiſe, die Tauben auf dem einge-
[134] rahmten Geburtstagswunſch werden immer größer, nun fliegen ſie
fort und — meine Träume fliegen ihnen nach.
Nicht lange. Das Picken des Nagelſchmieds von der Ecke
gegenüber weckt mich (beiläufig eine reizende Art geweckt zu wer-
den) und während die Frühſtücksſtunde kommt und die braunen
Semmeln neben die braunere Kanne auf den Tiſch geſtellt wer-
den, ſetzt ſich die Sternen-Wirthin zu mir und unterhält mich
von Teupitz und dem Teupitzer See.
„Ja — ſo erzählt ſie — was wäre Teupitz ohne den See.
Wir wären längſt ein Dorf, wenn wir das Waſſer nicht hätten.
Freilich wir dürfen nicht mehr fiſchen (die Fiſchgerechtigkeit iſt ver-
pachtet), aber das Waſſer iſt uns mehr als die Fiſche und Al-
les, was drin ſchwimmt. Mit gutem Wind fahren wir in ſechs
Stunden nach Berlin. Was wir kaufen und verkaufen, alles
kommt und geht auf dem See. Wir bringen keine Fiſche mehr zu
Markte, denn wir haben eben keine mehr, aber Garten- und Feld-
früchte, Obſt und Weintrauben, Holz und Torf. Das giebt ſo
was wie Handel und Wandel, mehr als Mancher denkt und mehr
als wir ſelber gedacht haben. Große Spreekähne kommen und ge-
hen jetzt täglich, — das machen die neuen Ziegeleien. Ueberall hier
herum liegt fetter Thon unterm Sand, und wenn Sie Nachts
hüben oder drüben am See entlang fahren, über Groß-Köris hin-
aus bis an den Motzner See, da glüht es und qualmt es rechts
und links, als brennten die Dörfer. Oefen und Schornſteine über-
all. Meiner Mutter Bruder iſt auch dabei; er wird reich, und
Alles geht nach Berlin. Viele hunderttauſend Steine. Immer liegt
ein Kahn an der Ladeſtelle, aber er kann nicht genug ſchaffen, ſo
viel wie gebraucht wird. Ich weiß es, daß er reich wird, und An-
dere werden’s auch; aber daß ſie’s werden können, das macht
der See.“
Die Sternwirthin verrieth an dieſer Stelle eine unverkenn-
bare Neigung, ſich über die Vermögensverhältniſſe von ihrer Mut-
ter Bruder ausführlicher zu verbreiten, weshalb ich (ohne Neugier
[135] nach dieſer Seite hin) die Frage einwarf: wem denn eigentlich
der See gehöre, was er Pacht trage und wer ihn gepachtet habe?
„Der See gehört zum Gut. Zum Gut gehören 32 Seen,
große und kleine, aber der Teupitz-See iſt der größte. Der Fiſch-
großhändler in Berlin, der ihn vom Gut gepachtet hat, zahlt
800 Thaler, und die Teupitzer Fiſcher, die hier fiſchen und die
Fiſche zu Markte bringen, ſind nichts als die Dienſtleute und
Tagelöhner des reichen Händlers in Berlin. Meiner Mutter Bru-
der ....“
„Achthundert Thaler,“ unterbrach ich, „iſt eine große Summe;
ich kenne Seen, halb ſo groß wie der Teupitz-See, die nur vier
Thaler Pacht bezahlen; iſt der Teupitz-See ſo reich an Fiſchen?“
„Ob er’s iſt; die Stadt führt nicht umſonſt einen Karpfen
im Wappen. Unſer See hat viel Fiſche und ſchöne Fiſche, freilich
wenn der Zander-Zug fehlſchlägt —“
„Der Zander-Zug?“ fragte ich, komiſch betroffen durch den
an hohe Dinge der Kunſt anklingenden Namen.
„Ja, der Zander-Zug. Er iſt nur einmal im Jahr und von
ſeinem Ausfall hängt Alles ab. In der Regel bringt er 600, oft
1500 Thaler; dann und wann gar nichts. Dann muß das nächſte
Jahr den Schaden decken. Aber weil es unſicher iſt, was der Zan-
derzug bringen wird, deshalb können unſere Fiſcher den See nicht
pachten.“
„Wann iſt der Zug?“
„Im Januar und Februar; immer im Winter, denn die
Netze werden unterm Eis geſpannt und gezogen. Es iſt jedesmal
ein Feſttag für Teupitz.“
Die Sternwirthin begann nun mit vieler Lebhaftigkeit mir
die verſchiedenen Phaſen des Zander-Zuges zu beſchreiben, unbe-
kümmert durch meine Fragen, die übrigens allen Ernſtes darauf
aus waren, das ganze Verfahren nach Möglichkeit kennen zu ler-
nen. Die Handgriffe beim Spannen und Ziehen der Netze aber
blieben mir unklar; ſo viel nur ſah ich, daß das ganze Verfahren
die größte Aehnlichkeit mit einer Treibjagd und zwar mit einem
[136] Keſſeltreiben haben müſſe. Die Fiſcher, wohl vertraut mit dem
Terrain des See’s, fegen gleichſam den Zander mittelſt weitge-
ſpannter Netze in bekannte Keſſelvertiefungen hinein, umſtellen ihn
hier und ſchöpfen ihn dann, etwa wie man Goldfiſche aus einem
Baſſin ſchöpft, mit Leichtigkeit aus der fiſchgefüllten Tiefe heraus.
Inzwiſchen erfuhr ich, daß das Boot bereit läge, das mich
laut Verabredung auf dem See umherfahren ſollte. Ich trat auf
den Marktplatz hinaus und paſſirte einen ſchmalen Gang, der,
unmittelbar neben dem „goldenen Stern“ gelegen, in leiſer Schrä-
gung dem See zuführte. Rechts und links ſtanden Hof- und Gar-
tenzäune, und zwar in jenen ſeltſamen Biegungen und Wellen-
linien, die altes Zaunwerk im Lauf der Jahre anzunehmen pflegt.
Ueber die Zäune hinweg wuchſen vielfach die Kronen der Bäume
zu einem Laubengange zuſammen, was ſich zu Ende der Gaſſe in
der Nähe des Waſſers am maleriſchſten ausnahm, wo bereits der
See bis hinauf zwiſchen das Plankenwerk vordrang, und mal
höher, mal tiefer mit gelblichem Schaum ſeine Grenzmarke zog.
Hier lag das Boot, in das ich leidlich trocknen Fußes hin-
eingelangte. Ein Fiſchermädchen vom Ufer gegenüber ſtand aufrecht
im Kahn, und während ihr weißes Kopftuch im Winde flatterte,
ſtießen wir ab.
Der Teupitz-See iſt faſt eine Meile lang und eine Viertel-
meile breit, an einigen Stellen, wo er ſich buchtet, auch breiter.
Das Waſſer des See’s iſt hellgrün, friſch und leichtflüſſig; Hü-
gel mit Feldern und Hecken faſſen ihn ein, und außer der ſchma-
len Halbinſel, die das „Schloß“ trägt und ſich bis mitten in den
See hinein erſtreckt, ſchwimmen große und kleine Inſeln auf der
ſchönen Waſſerfläche umher. Die kleinen Inſeln ſind mit Rohr
beſtanden; die größeren aber (auch Werder geheißen) ſind bebaut
und tragen die Namen der beiden Seedörfer, Egsdorf und Schwe-
rin, denen ſie zunächſt gelegen ſind. Alſo der Egsdorfer und
der Schweriner Werder.
Wir fuhren von Inſel zu Inſel, von Ufer zu Ufer; abwech-
ſelnd mit Ruder und Segel ging es auf und ab, planlos, ziellos.
[137] Die Teupitzer Kirche, der alte Schloßthurm hinter Pappeln, die
rothen Dächer der Stadt, das Schilf, die Hügel — alles ſpie-
gelte ſich in dem klaren Waſſer, aber, ſo ſchön es war, mir war
doch, als hätt’ ich dies Alles ſchon einmal geſehen, nur ſchöner,
märchenhafter, und dieſe Märchenbilder ſucht’ ich nun. Lächelnd
geſtand ich mir endlich, daß ich ſie nicht finden würde. Noch ein-
mal umfuhr der Kahn die Halbinſel, auf der die Ueberreſte des
alten Teupitz-Schloſſes gelegen ſind, dann trieben wir durch den
Schilfgürtel hindurch, den Kahn an’s Land.
Die Stelle, wo wir landeten, lag in dem Winkel, den Ufer
und Landzunge bilden, und das alte Teupitz-Schloß (ſoviel davon
noch da iſt) oder mit ſeinem vollen Namen „das alte Schloß der
Schenken von Landsberg und Teupitz“ ſtieg faſt unmittelbar vor
uns auf. Ich ſchritt ihm zu.
Das alte Teupitz-Schloß, das in frühe Jahrhunderte zurück-
reicht, galt ehedem für ſehr feſt. Es lag an der Grenze zwiſchen
Mark und Lauſitz und ſcheint abwechſelnd eine märkiſche oder
ſächſiſche Grenzfeſtung geweſen zu ſein, je nachdem Verträge oder
das Glück der Waffen, zu Gunſten des einen oder andern Theils
über den Beſitz der Burg entſchieden hatten. Im 13. ſowie in
der erſten Hälfte des 14. Jahrhunderts waren die Plötzke’s Her-
ren von Teupitz; 1350 etwa kam die Herrſchaft Tupitz oder
Tuptz, wie ſie damals genannt wurde, in Beſitz der Schenken
von Landsberg und nahm ſeitdem (abwechſelnd mit dem Namen
„Herrſchaft Teupitz“) den Namen das „Schenkenländchen“ an.
Dies Ländchen umfaßte 4 □ Meilen; in ſeiner Mitte lag Teupitz
(die Stadt) mit See und Burg. Die Lehnsverhältniſſe des
„Schenkenländchens“ blieben noch geraume Zeit hindurch ver-
wickelter und ſchwankender Natur, bis endlich der Einfall der Huſ-
ſiten in die Mark den Ausſchlag gab und die Schenken von
Landsberg und Teupitz veranlaßte, ſich in den Schutz des Bran-
denburgiſchen Kurfürſten (Friedrich I.) zu begeben. Zwar geſchah
dies zunächſt noch mit der Bemerkung: „unbeſchadet unſerer Un-
terthänigkeitsverpflichtung gegen den Kaiſer und den Herzog von
[138] Sachſen“ — dieſe Hinzufügung ſcheint aber nicht allzu ernſt ge-
meint geweſen zu ſein, da Schenk Heinrich von Landsberg
ſchon wenige Jahre ſpäter (1440) erklärte, „daß, da der Kurfürſt,
ſein gnädiger Herr, mit ihnen, den Herzögen von Sachſen, in
Fehde ſtehe, auch er (Schenk Heinrich) mit ſeinen Helfern und
Knechten ihnen und ihren Landen den Krieg erklären müſſe.“
Die Schenken von Landsberg und Teupitz blieben nah an
400 Jahre im Beſitz der Herrſchaft. Nachdem Schloß und Land
während des 17. Jahrhunderts (zum Theil wohl in Folge des
30jährigen Krieges) ſehr vernachläſſigt, die Weinberge verwildert,
die Haiden verwüſtet waren, ging das ganze Schenkenländchen im
Jahre 1718 durch Kauf an König Friedrich Wilhelm I. über.
Er bezahlte dafür die geringe Summe von 54,000 Thaler, kaufte
einzelne verloren gegangene Güter zurück, machte das Schloß, wie
überall geſchah, zu einem „Amt“ und ſtellte das Schenkenländ-
chen oder die Herrſchaft Teupitz, als Außenwerk der Herrſchaft
Königs-Wuſterhauſen, unter die Verwaltung einer Amtskammer.
Seit einer Reihe von Jahren iſt Schloß Teupitz (zu dem jetzt nur
noch wenig Ländereien, aber viel Wieſen und die 32 Seen ge-
hören) in Privathände übergegangen. Der vorige Beſitzer war
Herr von Treskow, der gegenwärtige iſt Herr von Pappart.
Es giebt kein Schloß Teupitz mehr, nur noch ein Amt
gleiches Namens.
Zu dieſem Amt, ſehr maleriſch an der Stelle des alten
Schloſſes gelegen, gehören natürlich noch die Ueberreſte, die von
dem Schloß vorhanden ſind. Es iſt dies mehr, als auf den erſten
Blick erſcheint. Alle Wirthſchaftsgebäude an der linken Seite des
Hofes ruhen auf den alten hochaufgemauerten Fundamenten, in
denen ſich Gänge und mächtige Kellergewölbe bis dieſe Stunde
vorfinden, während der Eingang in den Amtshof, durch einen
viereckigen Thurm, einen ſogenannten Donjon, höchſt maleriſch
flankirt wird. Dieſer alte Backſteinthurm hat noch beträchtliche
Höhe; was ſeinem Anblick aber einen beſonderen Zauber leiht,
das iſt, daß ſeine Zinne oder Plattform zu einem völligen Garten
[139] geworden iſt. In das Erdreich, das der Regen im Lauf der Jahr-
hunderte hier niedergeſchlagen hat, haben theils die hohen Bäume
die rundum ſtehen, ihre Keime niederfallen laſſen, theils haben die
Wirbelwinde aus dem zu Füßen gelegenen Garten die Samen-
körner bis zur Höhe des Thurmes emporgetragen. Ein Ebreſchen-
baum ſtand in der Mitte, und zwiſchen den Roſenſträuchern neig-
ten ſich gelbe Büſchel jenes Unkrauts über das Mauerwerk, das
den legendenhaft klingenden Namen führt: „Unſerer lieben Frauen
Bettſtroh.“ Das alte Schloß, ſo erzählen einige, habe früher auf
einer völligen Inſel geſtanden, und erſt die Anſchwemmungen hät-
ten im Lauf der Zeit die Inſel zu einer Halbinſel gemacht. Es
iſt möglich, aber nicht wahrſcheinlich. Man ſieht nirgends eine
Terrain-Eigenthümlichkeit (wie etwa Schmalheit der Landzunge,
abweichende Bodenbeſchaffenheit, oder niedriger gelegenes Erdreich),
und alles läßt annehmen, daß es ſtets eine Halbinſel war, die
freilich früher, durch einen Graben, der die Landenge durchſtach,
zu einer Inſel gemacht wurde.
Nichts iſt an dieſer Stelle, außer Thurm und Fundament
mehr vorhanden, was an die alten Schenken von Teupitz erin-
nerte; noch weniger faſt bietet die alte Kirche, die zwiſchen dem
Schloß und der Stadt am Nordrande der letzteren gelegen iſt.
Vor zwanzig oder dreißig Jahren hätte die Forſchung noch
manches hier gefunden; jetzt aber nach Reſtaurirung der Kirche iſt
alles hin, oder doch ſo gut wie Alles. Die Grundform der Kirche
hat zwar wenig unter dieſen Neuerungen gelitten, und die eigen-
thümliche Art, wie der Thurm aus Dach und Giebelwand auf-
wächſt, wird auch jetzt noch den Fachmann intereſſiren; aber die
Details im Innern der Kirche ſind hin, alle jene Ornamente,
Bilder und Gedächtnißtafeln, die in ihrer Geſammtheit vielleicht
der ziemlich grau in grau gemalten Geſchichte der Schenken von
Teupitz etwas Licht und Farbe hätten verleihen können. Bei Oeff-
nung der jetzt zugeſchütteten Gruft (unter der Sakriſtei der Kirche)
fand man eine bedeutende Anzahl Särge, viele mit Meſſingtäfel-
chen, auf denen neben den üblichen Namen- und Zahlen-Angaben
[140] auch einzelne hiſtoriſche Daten angegeben waren. Dieſe Täfelchen
(ſo erzählt der alte Küſter) kamen in die Pfarre, wo ſie bei Um-
zug und Neubauten längſt verloren gegangen ſind. Der gegen-
wärtige Geiſtliche, der einen Sinn für die hiſtoriſchen Ueberliefe-
rungen ſeiner Stadt und Kirche hat, hat mit Mühe eine kleine
Glasmalerei gerettet, die einen Hergang aus katholiſcher Zeit (ein
Mönch ſteht predigend auf der Kanzel) darſtellt. Sonſt iſt der
Kirche aus der „Schenken-Zeit“ nichts geblieben, als ein einziger
Backſtein am Hintergiebel, der die eingebrannte Inſchrift trägt:
nobil. v. Otto Schenk v. Landsb. (nobilis vir Otto Schenk
von Landsberg.) Wahrſcheinlich war er es, unter dem eine frü-
here Reſtaurirung der Kirche (1566) ſtattfand.
Wir haben den See befahren, das Schloß und die Kirche
beſucht, es bleibt uns noch eins in Teupitz übrig — der Jeeſen-
berg, ein Hügel am Südrande der Stadt gelegen, von deſſen
Höhe aus man das Schenkenländchen panoramatiſch überblickt.
Wir erreichen die Höhe und haben nach allen Seiten hin, in weit-
geſpanntem Bogen, eine Keſſellandſchaft vor und unter uns. Wo-
hin wir blicken, vom Horizont zu uns her, dieſelbe Reihenfolge
von Hügel, See und Haide, und in der Mitte des Bildes wir
ſelbſt und der Berg, auf dem wir ſtehen.
Das Panorama iſt ſchön, ſchöner aber wird das Bild, wenn
wir auf den Rundblick verzichten und uns damit begnügen, in die
öſtlich gelegene Hälfte der Landſchaft hineinzublicken. Es iſt dies
die Hälfte, wo Teupitz und ſein See gelegen ſind. Der Wind
weht ſcharf vom Waſſer her, aber eine Hecke von wildem Pflaum-
baum giebt uns Schutz, während Einſchnitte, wie Schießſcharten,
uns einen Blick in die Näh und Ferne geſtatten. Ein Kornfeld
läuft vor uns am Abhang nieder, am Fuß des Hügels zieht ſich
ein Feldweg hin, dahinter dehnen ſich Gärten und Wieſen, hinter
den Wieſen ſteigt die Stadt auf und hinter der Stadt der See
mit ſeinen Inſeln und ſeinen Hügeln am andern Ufer. Aber auch
Leben hat das Bild. Wie losgelöſte Ackerſchollen treiben die In-
ſeln den See entlang (oder ſcheinen doch zu treiben), ein ſatter
[141] Fiſchreiher fliegt landeinwärts, die rothen Tücher der Mägde, die
beim Heuen beſchäftigt ſind, flattern im Winde, und die Schul-
kinder vom nächſten Dorf, die eben den Feldweg paſſiren, haſchen
ſich einander und verkürzen ſich die Zeit mit Spiel und Neckereien.
Die Jungen reißen den rothen Mohn in Büſcheln aus dem Korn-
feld, und ſo oft ſie damit nach den fliehenden Mädchen ſchlagen,
ſtäuben die rothen Blätter nach allen Seiten hin durch die Luft.
So liegen und träumen wir hinter der Pflaumbaumhecke und
ſpielen Verſteckens mit dem Wind, uns duckend, wenn er zu ſcharf
bergan fährt, dann wieder hervorlugend, wenn er pauſirt und zu
neuem Angriff ſich rüſtet.
Nun aber trägt der Wind die Klänge der Teupitzer Mittags-
glocke zu uns her und mahnt zur Rückkehr. Im goldenen Stern
wird ein frugales Mahl ſervirt („wir haben den Karpfen im
Wappen, aber nicht auf dem Tiſch,“ ſo ſagte die Wirthin) dann
ſpring’ ich noch einmal in’s Boot und fahre über den See. Dies-
mal allein. Ich habe ſelber die Ruder genommen. Die kurzen
Wellen tanzen rund umher, das Waſſer iſt grün, der Himmel
grau. Ein Gefühl beſchleicht mich wieder, ſtärker noch als zuvor,
als ruhe hier etwas, das ſprechen wolle, — ein Geheimniß, eine
Geſchichte. Ich ziehe die Ruder ein und horche. Die Wellen klat-
ſchen an den Kiel und der Wind biegt das Rohr tief nieder, an
dem der Kahn vorübertreibt. Sonſt alles ſtumm. Die Wolken ſin-
ken immer tiefer; nun öffnen ſie ſich, und hinter der grauen
Wand, die der niederfallende Regen nach allen Seiten hin auf-
richtet, verſchwindet die Landſchaft, Stadt und Schloß.
So ſah ich den Teupitz-See zuletzt, und ich habe Sehn-
ſucht, ihn wieder zu ſehen. Iſt es ſeine Schönheit allein, oder zieht
mich der Zauber, den das Schweigen hat? Jenes Schweigen,
das etwas verſchweigt.
[[142]]
Mittenwalde.
Und was das Herze kränkt
Der allertreuſten Pflege
Deß, der den Himmel lenkt“ ....
Und kaum das Lied vernommen,
Iſt über ſie gekommen
Der Friede Gottes aus der Höh’.
Schmidt von Lübeck.’
Teupitz war der äußerſte Punkt, bis zu dem uns unſer Coſſen-
blatter Ausflug geführt hat und wir kehren nunmehr auf unſer
eigentliches Reiſeterrain, in die Odergegenden von Barnim und
Lebus zurück. Auf dem Rückweg laſſen wir es uns angelegen ſein,
an Mittenwalde nicht ohne Anſprache vorüber zu gehen.
Wer reiſt nach Mittenwalde? eine wohl aufzuwerfende Frage.
Und doch iſt es ein ſehenswerther Ort, der Anſpruch hat auf Be-
ſuch und Umſchau innerhalb ſeiner Mauern. Nicht als ob es eine
ſchöne und maleriſche Stadt wäre; aber ob ſchön und maleriſch
oder nicht, Mittenwalde iſt ſehenswerth, weil es alt iſt und eine
Geſchichte hat.
Es hat ſogar eine Vorgeſchichte: allerhand Sagen und Tra-
ditionen von einem Alt-Mittenwalde, das, in unmittelbarer Nähe
der jetzigen Stadt, auf der weſtlichen Feldmark derſelben, gelegen
war. Hier unter Wieſen- und Ackerland finden ſich noch Stein-
fundamente, und während das Auge des Fremden nur über
Schläge und Felder zu blicken glaubt, ſprechen die Mittenwald-
ner, als ſtünden die Dinge noch ſichtbarlich vor ihnen, von der
[143] „alten Stadtſtelle,“ vom „Vogelſang,“ vom „Pennings- oder
Pfennigsberg,“ vom „Burgwall“ ꝛc. Alle dieſe Punkte liegen nie-
driger als das heutige Mittenwalde und umzirken die Stadt, in
nächſter Nähe derſelben, in einem enggezogenen Halbkreis.
Daß hier früher ein anderes Mittenwalde, vielleicht ein
Ort mit wendiſchem Namen ſtand, ſcheint unzweifelhaft. Außer
Steinfundamenten auf dem Terrain der alten „Stadtſtelle,“ fin-
den ſich Münzen am Pfennigsberg und als (vor Kurzem erſt)
Canalbauten und Erdarbeiten aller Art beim „Burgwall“ zur
Ausführung kamen, ſtieß man auf der ganzen Strecke, die zwi-
ſchen dem Burgwall und der Höhe liegt, auf Eichenbohlen, die
wohl drei Fuß hoch mit Feldſteinen überſchüttet waren. Erſichtlich
ein Damm, der früher mitten durch den Sumpf hindurch nach
dem Burgwall und einer inmitten deſſelben gelegenen Burg ge-
führt hatte.
So die Traditionen und ſo das Thatſächliche, das jene Tra-
ditionen unterſtützt; aber ſo gewiß dadurch der Beweis geführt iſt,
daß auf der weſtlichen Feldmark der jetzigen Stadt ein anderer
längſt untergegangener Ort (Dorf oder Stadt) geſtanden hat, ſo
wenig iſt dadurch auch nur angedeutet, welcher Art der Ort war,
der ſich dort erhob, und in welchem Verhältniß jene drei Punkte
zu einander ſtanden, die ſich jetzt „Stadtſtelle,“ „Penningsberg“
und „Burgwall“ nennen. Was war es damit? War die Burg
ein Schutz der Stadt, oder umgekehrt ein Trutz derſelben?
Waren Stadt und Burg wendiſch oder waren ſie deutſch? Be-
fehdeten ſie einen gemeinſchaftlichen Feind, oder befehdeten ſie ſich
untereinander? Alle dieſe Fragen drängen ſich auf und ihre Be-
antwortung iſt verſucht worden. Aber mit ſehr unausreichendem Er-
folg. Es liegt zu wenig Material vor, um zu anderen als vagen
Reſultaten gelangen zu können. Die Tradition ſcheint geneigt, eine
alte Wendenſtadt anzunehmen, die auf dem „Burgwall“ ihre
Burg und auf dem „Penningsberg“ ihre Begräbnißſtätte
hatte. Ehe Beſſeres geboten iſt, iſt es vielleicht am beſten, bei die-
ſer Tradition auszuharren. Ausgrabungen auf dem ganzen großen
[144] Stadtfelde, das alle jene Punkte einſchließt, würden gewiß zu wirk-
lichen Aufſchlüſſen führen, aber dieſe Ausgrabungen werden bei uns
in unbegreiflicher Weiſe vernachläſſigt. Die Communen entbehren
meiſt des nöthigen Intereſſes und unſere Geſellſchaften und Ver-
eine gemeinhin der nöthigen Mittel. So bleibt beinah alles dem
Zufall überlaſſen. Andere Staaten überflügeln uns (ich ſpreche zu-
nächſt nur von unſerer Mark) nach dieſer Seite hin bedeutend.
„Hier, wo nicht viel war, kann auch nicht viel zu finden ſein,“
ſo denken die meiſten unter uns und vergeſſen dabei, daß eben
da wo ſtets nur wenig war, dies Wenige um ſo weniger entbehrt
werden kann.
Aber laſſen wir das ſagenhafte Alt-Mittenwalde und wenden
wir uns dem hiſtoriſchen, dem mittelalterlichen Mittenwalde zu,
das, trotz Krieg und Feuer, die mehrmals die Stadt verödet ha-
ben, in einzelnen Baulichkeiten noch immer zu uns ſpricht. Da iſt
die Mauer mit ihren Thorthürmen, da iſt die alte Propſteikirche
und da iſt (mehr ein Platz, als ein Bau) der Schloßberg oder
„Hausgrabenberg,“ von deſſen Höhe aus (freilich nur muthmaß-
lich) „Schloß Mittenwald“ in die Mark und die Lauſitz hin-
einblickte. Ich ſage muthmaßlich, denn die Ueberlieferungen, die an
Schloß Mittenwalde anknüpfen, halten die Mitte zwiſchen Sage
und Geſchichte.
Hiſtoriſch iſt die Exiſtenz des Schloſſes, ſagenhaft iſt die
Stelle, wo es ſtand. Vielfach wird in Urkunden des „feſten
Schloſſes zu Mittenwalde“ Erwähnung gethan; ſchon 1240 legten
die brandenburgiſchen Markgrafen eine Beſatzung hinein, und
1374 verordnete Kaiſer Karl IV. vom „Schloß Mittenwalde“
aus, „daß alle Veſten der Mark Brandenburg in gleich guten
Stand geſetzt werden ſollten.“ All’ dies beweiſt die Exiſtenz des
Schloſſes genugſam. Aber wo ſtand es? Nur mit Wahrſcheinlich-
keit läßt ſich antworten: auf dem „Hausgrabenberg.“ Die Lage
des Berges, im Norden eines Fluſſes (der Notte), deſſen Ueber-
gang vertheidigt werden ſollte, das Fortifikatoriſche der Anlage,
das ſo ſehr an andere Hügelbefeſtigungen jener Epoche erinnert,
[145] würden es freilich halb zur Gewißheit erheben, daß das Schloß
Mittenwalde an dieſer Stelle und keiner andern ſtand, wenn
nicht andererſeits der Umſtand, daß, ſo viel ich weiß, keine Spur
von Steinfundamenten innerhalb des Berges zu finden iſt, das
Urtheil wieder ſchwankend machte. Die Bewohner des Berges er-
zählen ſogar, daß die wenigen Feldſteine, die jetzt als Treppen-
ſtufen zu beßrer Erſteigung des Hügels dienen, von anderswoher
mühſam herbeigeholt ſeien. Gleichviel, ein „Schloß Mittenwalde“
gab es, und einen „Hausgrabenberg“ giebt es noch. Was immer
auf ſeiner Höhe geſtanden haben mag, jetzt ſteht ein Häuschen auf
demſelben, das ſich in Weinlaub verſteckt; über dem grünumrank-
ten Bau aber, als ſolle er doppelt geſchützt werden, wölben ſich
alte Birnbäume zu einem dichten Dach. Im Spätſommer muß es
ſchön hier oben ſein, wenn die blauen Trauben an allen Wänden
hängen und die goldgelben Birnen, vom Winde oder der eigenen
Schwere abgelöſt, polternd über das Dach herunterrollen.
Der Hausgrabenberg hat ein reizendes Haus und eine rei-
zende Ausſicht; der alte Thorthurm der Stadt aber, dem wir
uns jetzt zuwenden, bietet baulich ein Intereſſe. Er liegt nach Nor-
den hin, alſo auf dem Wege nach Cöpnick und Berlin, und führt
deshalb den Namen: das Cöpnicker oder Berliner Thor. In der
alten Zeit, als Mittenwalde noch „feſt“ war, war dieſer Thorbau
(wie alle ſeinesgleichen) ein Bau von ziemlich zuſammengeſetzter
Natur und beſtand aus einem quer durch den Stadtgraben füh-
renden Steindamm, deſſen Mauerlehnen hüben und drüben in
einen Außen- und Innen-Thurm ausliefen. Der Steindamm, ohne
den kein Aus- und Eingang möglich wäre, exiſtirt natürlich noch;
das Außenthor und die Mauerlehnen ſind ebenfalls noch vorhan-
den, aber nur zur Hälfte; das Innenthor fehlt ganz. Eine bloße
Maueröffnung, das moderne Zwei-Pfeiler-Thor, iſt an die Stelle
getreten, und ein alter etwas zur Seite ſtehender Rundthurm, der
einſt den Brückenübergang flankirte, blickt wie verwundert auf die
kümmerlichen Aenderungen, die ihm zu Füßen vorgegangen ſind.
Von dem Außenthor ſteht noch die Front, ein maleriſches
10
[146] Ueberbleibſel, das in ſeiner Stattlichkeit und reichen Gliederung
mehr an die berühmten Thorbauten der altmärkiſchen Städte,
als an verwandte Bauten der Mittelmark erinnert. Es ſcheint,
daß das Ganze ein geräumiges, beinah würfelförmiges Viereck
war, das auf ſeinen vier Ecken eben ſo viele Rundthürme und
zwiſchen dieſen Rundthürmen wieder eben ſo viele Pfeiler trug,
die, reich ornamentirt und zierlich durchbrochen, die vier Rundthürme
weit überragten.
Derſelben Zeit, wie dieſer Thorthurm, gehört die Mittenwal-
der Probſtei- oder St. Moritz-Kirche an, wenigſtens in ihren
älteren Theilen. Die Kreuzgewölbe ſind etwas ſpäter. Man ſieht
deutlich, wie die mächtigen alten Pfeiler in beſtimmter Höhe, ich
möchte ſagen rückſichtslos abgebrochen und die alten Tonnengewölbe
durch neue, von eleganterer Conſtruktion, erſetzt worden ſind. Noch
um vieles moderner iſt der Thurm, dem nichtsdeſtoweniger, mit
Rückſicht auf das Jahr ſeiner Entſtehung (1781), alles mögliche
Lob geſpendet werden muß. Er paßt nicht zur Kirche, aber er
nimmt ſich gut aus. Aehnlich wie die alten ſchweren Steinpfeiler,
die jetzt die Kreuzgewölbe im Innern der Kirche tragen, unverän-
dert dieſelben geblieben ſind, ſo hat auch der Baumeiſter von 1781
die Feldſteinwände des alten gothiſchen Thurmes, bis zu beſtimm-
ter Höhe hin, als Unterbau fortbeſtehen laſſen. Dadurch iſt etwas
ziemlich Stylloſes, aber nichtsdeſtoweniger etwas ſehr Anziehendes
entſtanden. Der weiße, ſchmale Etagenthurm erhebt ſich auf dem
mächtigen alten Feldſteinfundamente wie eine Statue auf ihrem
Piedeſtal, und die Hageroſen und Hollunderbüſche, die auf der
Plattform zu Füßen des eigentlichen Thurmes blühen, ſchaffen das
Ganze zu einem lieblichen Bilde um.
Das Innere der Kirche, in das wir jetzt eintreten, iſt reich
an Bildern und Grabſteinen, noch reicher an Erinnerungen. An
den Wänden ziehen ſich, chorſtuhlartig, die Kirchenſtühle der alten
[147] Gewerks- und Innungsmeiſter hin, 45 an der Zahl, jeder einzelne
Stuhl an ſeiner Rückenlehne mit den Gewerks-Emblemen geſchmückt.
Vor dem Altare liegen die Grabſteine von Burgemeiſter und Rath,
der Altar ſelbſt aber, ein Schnitzwerk aus katholiſcher Zeit mit
Bildern auf der Kehrſeite ſeiner Thüren, iſt muthmaßlich ein Ge-
ſchenk, das von Kurfürſt Joachim I. der Mittenwaldner Kirche
gemacht wurde. Zwiſchen Altarwand und Altartiſch, auf ſchmalem
Raum, begegnen wir noch einem Chriſtuskopf (auf dem Schweiß-
tuch der heiligen Veronica), aber das Intereſſe, das wir eben dem
Bilde zugewendet haben, erliſcht vor dem größeren, mit dem wir
jetzt eines Portrait-Bildes anſichtig werden, das von der Wand
des Seitenſchiffes her, zwiſchen den Pfeilern hindurch, zu uns
herüberblickt. Es iſt nicht das Bild als ſolches, das uns feſſelt,
es iſt der Mann; neben der ſchmalen Sakriſteithür, in ſchlichter
Umrahmung, hängt das lebensgroße Bild Paul Gerhardt’s.
Paul Gerhardt war Probſt zu Mittenwalde von
1651—1657.
Vor etwa 30 Jahren wurde dieſes Bildniß Gerhardt’s nach
einem in der Kirche zu Lübben befindlichen Originalbild angefertigt
und der Mittenwaldner Kirche, zur Erinnerung an die Zeit ſeines
(Gerhardt’s) Wirkens allhier, zum Geſchenk gemacht. Es iſt ein
gutes Bild; die Züge verrathen viel Milde, aber nichts Weichli-
ches, und die Unterſchrift, ebenfalls vom Lübbener Bilde genom-
men, lautet wie folgt:
Paulus Gerhardus Theologus in Cribro Satanae
tentatus et devotus postea, obiit Lubbenae anno 1676,
aetate 70.
Rechts daneben befinden ſich folgende Diſtichen:
10*
[148]
Alſo etwa:
Paul Gerhardt, wie ſchon hervorgehoben, war 6 Jahre lang
Probſt an der Mittenwaldner Kirche und es iſt höchſt wahrſchein-
lich (wenn auch nicht mit abſoluter Sicherheit zu beweiſen), daß
die ſchönſten Lieder, die wir dieſem volksthümlichſten aller Lieder-
dichter verdanken, während ſeines Mittenwaldner Aufenthal-
tes, in Leid und Freud’ des Hauſes und des Amtes gedichtet
wurden.
Begleiten wir ihn auf ſeinem Ein- und Ausgang.
Paul Gerhardt kam ſpät in’s Amt. Er war bereits 46 Jahr
alt, als die Kirchenvorſtände von Mittenwalde, wo der Probſt
Goede eben geſtorben war, ſich an das Miniſterium der St. Ni-
kolaikirche zu Berlin wandten mit der Bitte, einen geeigneten
Mann für die Mittenwaldner Probſtei-Kirche in Vorſchlag zu brin-
gen. Die Kirchenbehörden von St. Nicolai waren ſchnell entſchie-
den; ſie kannten Paul Gerhardt, der ſeit einer Reihe von Jahren
als Lehrer, Freund und Erzieher im Hauſe des Kammergerichts-
Advokaten Andreas Berthold lebte und durch Lieder und Vorträge
längſt die Aufmerkſamkeit aller Kirchlichen, auch der Behörden und
Vorſtände, auf ſich gezogen hatte. Dieſen empfahlen ſie. Nach
[149] zwanzigjährigem Harren ſah ſich Paul Gerhardt am Ziele ſeiner
innigſten Sehnſucht und mit dem Dankesliede
verließ er Berlin und trat, mit dem neuen Kirchenjahr 1651,
freudig in’s Amt.
Freudig begann er es, voll guten Muths, der Gegnerſchaf-
ten und Widerwärtigkeiten Herr werden zu können, an denen von
Anfang an kein Mangel war. Neid, verletztes Intereſſe, gekränkte
Eigenliebe (Diaconus Allborn, ſeit Jahren an der Mittenwaldner
Kirche, hatte erwartet, Probſt zu werden) — das waren die Geg-
ner, auf die er ſtieß, aber wenn er dann Abends an dem offenen
Hinterfenſter ſeiner Arbeitsſtube ſaß und über die Stadtmauer hin-
weg in die dunkler werdenden Felder blickte, während, von der
Probſtei-Kirche her, der Abend eingeläutet und nach ſchöner Sitte
jener Zeit eine alte Volksweiſe vom Thurm geblaſen wurde, dann
ward ihm das Herz weit, und den Athem Gottes lebendiger füh-
lend, kam ihm ſelber ein Lied und mit dem Liede Glück und Er-
hebung. Es war die Volksweiſe: „Insbruck, ich muß Dich laſſen“,
die Abends vom Mittenwaldner Thurm zu erklingen pflegte, (jene
alte Volksweiſe, von der Sebaſtian Bach ſpäter zu ſagen pflegte:
„er gäbe all ſeine Werke darum hin“) und der fromme Gerhardt,
der wiſſen mochte, wie ſeine Gemeinde an eben dieſem Liede hing,
trachtete nun danach, der ſchönen alten Melodie, die Jedem längſt
Herzensſache geworden war, tiefere Worte, einen anderen, chriſtlichen
Text zu Grunde zu legen. So entſtand das ſchöne „Abendlied“:
jenes Muſterſtück einfacher Sprache und lyriſcher Stimmung, das
durch die kindiſchen Spöttereien, die es erfahren (z. B. die ganze
Welt könne nie ſchlafen, weil die Antipoden Tag hätten, wenn
[150] wir zur Ruhe gingen) an Volksthümlichkeit womöglich noch ge-
wonnen hat.
Glaube und Liebe richteten ihn wohl auf, wenn die Kümmer-
niſſe des Lebens ihn niederdrücken wollten, aber die Einſamkeit
blieb ihm, und ſein Herz ſehnte ſich nach Genoſſenſchaft, nach einem
Herd. Im vierten Jahre ſeines Amts bewarb er ſich um die Hand
Maria Bertholds, der älteſten Tochter jenes frommen Hauſes, in
dem er ſo viele Jahre glücklich geweſen war, und der Probſt Vehr
von St. Nicolai, der beide ſeit lange gekannt und geliebt hatte,
legte beider Hände in einander. Um die Mitte Februar 1655 zog
Maria Berthold in die Mittenwalder Probſteiwohnung ein.
Innige Liebe hatte das Band geſchloſſen und Paul Gerhardt
glaubte nun den Segen um ſich zu haben, der alle böſen Geiſter
von der Schwelle ſeines Hauſes fernhalten würde. Glücklich, neu
gekräftigt in ſeinem Glauben, neu geſtimmt zur Dankbarkeit, war
es um dieſe Zeit wohl, daß er den hohen Freudenſang (den „Anti-
melancholicus“ wie ihn einer ſeiner Ausleger genannt hat) an-
ſtimmte, der da lautet:
Aber es war anders beſtimmt; die Freudigkeit des Gemüths
ſollte ihm nicht zufallen (auch jetzt nicht), er ſollte ſie ſich er-
ringen in immer ſchwerer werdenden Kämpfen. Ein Töchterlein,
das ihm geboren wurde, ſtarb bald, und die Kränkungen, die das
immer ſchroffer werdende Auftreten Allborns für ihn ſelbſt im Ge-
leite hatte, zehrten vor allem an Geſundheit und Leben ſeiner, wie
es ſcheint, zart gearteten Frau. Es waren nicht frohe Tage, die
Tage in Mittenwalde; zu Krankheit, Tod und Kränkung geſellte
[151] ſich Roth, und als der unerſchütterlich Gläubige, allem Widerpart
zum Trotz, jenes Vertrauenslied anſtimmte, das von Strophe zu
Strophe ausruft:
da war das Herz der ſonſt frommen Frau in den Wirrſalen des
Lebens bereits bitter und klein genug geworden, um ſich abzu-
wenden von einer ſtarken Glaubenskraft, die über die Kraft ihres
eigenen ſchwachen Herzens hinausging. Tiefe Schwermuth ergriff
ſie. Paul Gerhardt ſelbſt aber, in jener Freudigkeit, wie ſie das
Vorgefühl nahen Sieges, endlicher Erhörung leiht, ſchlug ſeine
Bibel auf und las die Worte des Pſalmiſten: „Befiehl dem Herrn
deine Wege und hoffe auf ihn: er wird’s wohl machen“. Wie
ein Funken fiel das Wort in ſeine Bruſt. Er athmete höher auf;
die Stube wurde ihm zu eng, und auf- und abſchreitend in den
Gängen des Probſteigartens, entſtanden die erſten Strophen jenes
Troſtliedes:
In freudigſter Erregung eilte er in das Haus zurück; em-
pfand er ſich jetzt doch als den Träger einer Botſchaft, der kein
Herz widerſtehen könne, und ſiehe da, an der ſchwermüthigen Stim-
mung ſeiner Frau erprobte dies Lied zuerſt ſeine wunderbare Kraft.
Alles Leid floß hin in Thränen, alle Trübſal wurde Licht, und
eh noch der Rauſch gehobenſter Empfindung vorüber war, war
auch ſchon die Hülfe da — ein Abgeſandter, ein Brief, der den
Probſt von Mittenwalde als Diakonus an die Berliner Nicolai-
kirche berief. Er reichte ſeiner Hausfrau den Brief und ſagte ruhig:
„Siehe wie Gott ſorget; Befiehl dem Herrn Deine Wege
und hoffe auf ihn, er wird’s wohl machen“.
Paul Gerhardt verließ Mittenwalde im Juli 1657; dem wei-
tern Gange ſeines Lebens folgen wir an dieſer Stelle nicht, aber
[152] die Frage drängt ſich auf: was iſt der Stadt, in der er ſeine
ſchönſten Lieder dichtete, aus der Zeit ſeines Lebens und Wirkens
erhalten geblieben? ſind noch Plätze da, die an ihn mahnen, und
welche ſind’s?
Die Stadt bietet nichts. Das Probſteigebäude, das noch vor
fünfzig Jahren bewohnt und noch vor zwanzig Jahren wenigſtens
eine Ruine war, iſt ſeitdem abgebrochen und ein Schulhaus an
ſeiner Stelle errichtet worden; der Garten aber, in deſſen Gängen
muthmaßlich das ſchönſte und volksthümlichſte aller unſerer Lieder
entſtand, liegt, wüſt geworden, ohne Zaun und Einfaſſung zwi-
ſchen zwei Nachbargärten; eine Kalkgrube in der Mitte, etwas
Gänſekraut an den Seiten, das ganze der deſignirte Turnplatz der
Mittenwalder Schuljugend.
Die Stadt bietet keine Erinnerungen mehr an ihn, wohl
aber die Kirche. Unmittelbar unter ſeinem Bildniß, deſſen ich be-
reits ausführlicher erwähnte, iſt eine Steintafel in die Wand des
Seitenſchiffes eingelaſſen, die folgende Inſchrift trägt: Maria
Eliſabeth — Pauli Gerhardt’s, damahligen Probſtes allhier zu
Mittenwalde und Anna Maria Bertholds erſtgebohrnes, herzliebes
Töchterlein, ſo zur Welt kommen d. 19. Mai Anno 1656 und
wieder abgeſchieden d. 14. Januar Anno 1657 — hat allhier
ihr Ruhebettlein und dieſes Täfflein von ihren lieben Eltern. Ge-
neſis 47. V. 9. „Wenig und böſe iſt die Zeit meines Lebens.“
Ein grüner Kranz faßt die Inſchrift ein und Engelsköpfe ſchmü-
cken die Ecken der Steintafel.
Neben Bildniß und Stein iſt die Sakriſteithür. In der Sa-
kriſtei ſelbſt finden wir das alte Kirchenbuch von Mittenwalde, ein
großes, nach Art der Bilderbibeln in Leder gebundenes Buch,
etwa dreihundert Jahre alt. Die Regiſtrirungen in dieſem Buch
aus der Zeit von 1651 bis Reujahr 1657 rühren alle von Paul
Gerhardt ſelber her. Seine Handſchrift iſt feſt, dabei voll Schwung
und Schönheit. Die Aufzeichnungen von ſeiner Hand ſchließen mit
dem 28. December 1656.
Bild und Stein und Buch, ſie mahnen an ſein Wandeln
[153] und Wirken an dieſer Stätte, aber fehlten auch dieſe Zeichen, die
direkt ſeinen Namen oder gar die Züge und das Zeugniß ſeiner
Hand tragen, die Kirche ſelber, im Großen und Ganzen dieſelbe
geblieben, würde daſtehen zu ſeinem ehrenden Gedächtniß, — der
proteſtantiſchen Welt mehr eine Paul Gerhardts- als eine Sankt
Moritz-Kirche. Wenig Modernes hat ſich ſeit zweihundert Jahren
darin eingeſchlichen; die Altarbilder, die Chorſtühle, die Grabſteine,
es ſind dieſelben noch, und wohin das Auge ſich wenden mag,
ſein Auge hat darauf geruht. Veränderungen ſollen vorgenommen
werden; mögen ſie mit Pietät geſchehen.
Paul Gerhardt iſt der Glanzpunkt in der Geſchichte Mitten-
walde’s; aber Mittenwalde hat der hiſtoriſchen Erinnerungen mehr.
Am 31. Auguſt 1730 traf Kronprinz Friedrich unter ſtarker
Bedeckung, von Weſel aus, über Treuenbrietzen (wo er die Nacht
vorher geweſen war) in Mittenwalde ein, um daſelbſt, vor ſeiner
Abführung nach Küſtrin, ein erſtes Verhör zu beſtehen. Das
Truppenkommando, das ihn bis Mittenwalde geführt hatte, ſtand
unter Befehl des Generalmajors von Buddenbrock, deſſelben
tapferen Offizters, der zwei Monate ſpäter dem mit der Todes-
ſtrafe drohenden König mit den Worten entgegentrat: „Wenn
Ew. Majeſtät Blut verlangen, ſo nehmen Sie meines; jenes be-
kommen Sie nicht, ſo lange ich noch ſprechen darf.“*)
Kronprinz Friedrich blieb zwei Tage in Mittenwalde, vom
31. Auguſt bis 2. September. Das Verhör fand muthmaßlich
am 1. ſtatt. Er beſtand es vor Generallieutenant von Grumbkow,
Generalmajor von Glaſenapp, Oberſt von Sydow und den Geh.
[154] Räthen Mylius und Gerbett und behauptete während deſſen eine
„kecke und beleidigende Zurückhaltung.“ Als Grumbkow ihm ſeine
Verwunderung darüber bezeugte, antwortete er: „Ich bin auf
alles gefaßt, was kommen kann, und hoffe, mein Muth wird grö-
ßer ſein, als mein Unglück.“ —
Garniſon ſtand damals noch nicht in Mittenwalde; es hatte
eine ſolche (Jäger) nur von 1780—1806. Die Stadt war über-
haupt noch klein und zählte (1730) nur 952 Einwohner. In
welchem Hauſe der Prinz bewacht wurde, habe ich nicht mehr er-
mitteln können; das „Schloß“ exiſtirte längſt nicht mehr; das
Verhör fand muthmaßlich auf dem Rathhauſe ſtatt.
Das war im September 1730. Faſt ſiebenzig Jahre ſpäter,
am Sylveſterabend 1799, tritt noch einmal eine hiſtoriſche Figur
auf die beſcheidene Mittenwalder Bühne, um ihr (ſechs Jahre
lang, wie Paul Gerhardt) in Leid und Freude anzugehören. Ein
Kämpfer wie er, nicht mit mächtigeren, aber mit derberen Waffen.
Es genügt, ſeinen Namen zu nennen — Major von York, der
ſpätere „alte York.“ Unterm 6. November hatte der König an den
damals in Johannisburg ſtehenden Major von York geſchrieben:
„Mein lieber Major von York. Da die jetzt verfügte Verſetzung
des Major von Uttenhoven vom Regiment Fußjäger als Com-
mandeur zum dritten Bataillon des Regiments von Zenge es
nothwendig macht, dem Jägerregiment (in Mittenwalde) einen
ganz capablen Commandeur zu geben und Ich Mich überzeuge,
daß Ihr die zu dieſem wichtigen Poſten erforderlichen Eigenſchaf-
ten in Euch verbindet, ſo will ich Euch hierdurch zum Comman-
deur des Jägerregiments ernennen ꝛc.“
Am Sylveſterabend 1799, an der Neige des Jahrhunderts,
traf Major von York in Mittenwalde ein und überraſchte ſeine
Herren Offiziers auf dem Sylveſterball. Die erſte Begegnung war
gemüthlich genug, der dienſtliche Ernſt kam nach. Das Corps war
[155] verwahrloſt, er gab ihm einen neuen Geiſt, und dieſer Geiſt war
es, der ſich ſieben Jahre ſpäter ruhmreich in jenen kleinen Käm-
pfen bewährte, die einem ruhmloſen Großkampf folgten. Bei Al-
tenzaun, dreiviertel Meile oberhalb der Sandauer Fähre, am
26. October, waren es die Mittenwaldner Jäger, die den Elb-
übergang des Blücher’ſchen Corps zu decken hatten. Sie thaten
es mit Ruhm und Geſchick. Die Jäger kehrten nicht nach Mit-
tenwalde zurück; York ſelbſt nur auf wenige Tage (im Januar
1807),*) dann rief ihn die Noth des Vaterlandes dorthin, wo
damals allein noch Preußen war, — nach Königsberg. Die Mit-
tenwaldner aber waren ſtolz auf ihren York, und als nach ſchwe-
ren Jahren der Erniedrigung alles Volk in Preußenland zu Ge-
wehr und Lanze griff und „Landwehr“ wurde, da griffen die
Mittenwaldner zur Büchſe und wurden — Jäger. Wenigſtens
deutet darauf die Gedächtnißtafel in der Kirche hin, wo die Na-
men der Gefallenen, faſt ausnahmelos die Bezeichnung J., F.-J.
und G.-J., d. h. alſo Jäger, Freiwilliger Jäger und Garde-
Jäger tragen.
Das Haus, das Major von York bewohnte, exiſtirt noch.
Es iſt jetzt ein Gaſthaus, in der Hauptſtraße der Stadt gelegen,
und führt, wie billig, den Namen „Hotel York.“ Ueber der
Hausthür befindet ſich eine Niſche und an derſelben Stelle, wo
ſonſt wohl ein „Mohr“ oder ein „Engel“ zu ſtehen pflegt, ſteht
hier eine Büſte des alten York. Auch in den Zimmern findet ſich
ſein Bild. Die Lokalität iſt im Großen und Ganzen noch ganz
dieſelbe wie ſie vor 60 Jahren war: hinter dem Hauſe ein Hof
und hinter dem Hof ein Garten, beide, Hof und Garten, von
Stall- und Wirthſchaftsgebäuden umſtellt, an denen ſich maleriſch
die Treppen und Stiegen im Zickzack an den Außenwänden ent-
lang ziehen. Im Innern des Hauſes hat ſich natürlich viel ver-
[156] ändert; nur das Zimmer, das er ſelbſt zu bewohnen pflegte, zeigt
noch die alten (übrigens höchſt einfachen) Stuckverzierungen. In
demſelben hängt der Kaulbach-Muhr’ſche Jeremias über dem So-
pha und eine Kamphinlampe von der Decke herab, Beides —
Kinder einer andern Zeit.
„Wer reiſt nach Mittenwalde?“
Tauſende wallfahrten nach Gohlis, um das Haus zu ſehen,
darin Schiller das Lied „an die Freude“ dichtete. Mittenwalde
iſt vergeſſen, und doch war es in ſeinem Probſtei-Garten, wo
ein anderes, größeres Lied an die Freude gedichtet wurde, das
große deutſche Tröſtelied:
„Befiehl Du Deine Wege“.
[[157]]
Steinhoefel.
Die Britten-Degen ſprachen: „nun General,
good bye,“
Da ſprach er: „Kameraden, grüßt Wellington
mir ſchön,
Wer weiß, in Jahr und Tage wir uns mal wie-
derſehn.“
Scherenberg.’
Bei Fürſtenwalde haben wir die Spree nach Norden hin paſſirt
und auf unſrem Wege dem Oderbruch und ſeinen alten und neuen
Dörfern zu, erreichen wir zunächſt, eine Meile nordöſtlich von
Fürſtenwalde, das Maſſowſche Gut Steinhöfel.
Steinhöfel gehörte mehrere Jahrhunderte lang dem Güter-
complexe an, den die Familie von Wulffen (die ſich in eine Tem-
pelbergſche und eine Steinhöfelſche Linie theilte) hier im
Herzen des alten Landes Lebus beſaß. Tempelberg,*) jetzt dem
[158] Grafen Hardenberg gehörig, liegt eine Meile nördlich von Stein-
höfel.
Die Wulffens beider Linien blühten hier mehrere Jahrhun-
derte lang, bis, wenn die Sage Recht hat, zu Anfang des vori-
gen Jahrhunderts, ein Wendepunkt eintrat. Wenigſtens mit Rück-
ſicht auf die Steinhöfler Wulffens.
[159]
Die Leute im Dorf erzählen die Sache wie folgt. Der alte
Wulffen (Balthaſar Dietloff), der damals Steinhöfel, Kersdorf,
Goelsdorf und Madlitz beſaß, war ein paſſionirter Jäger. Er un-
terhielt große, eingefriedigte Waldſtrecken, in denen das Wild ge-
hegt und gepflegt wurde. So weit hatte alles ſeine Richtigkeit.
Im Dorf war aber auch ein alter Schäfer und dieſer Schäfer
hatte die Eigenheit, ein ebenſo leidenſchaftlicher Sackpfeifer zu ſein,
wie der alte Wulffen ein leidenſchaftlicher Jäger war. Wie der
„Dudelſack“ nach Steinhöfel kam, darüber giebt die Tradition
keinen Aufſchluß; thut auch nichts. Es ſcheint nun, daß der alte
Schäfer mit beſondrer Vorliebe eben dann ſeine Stücke blies,
wenn der alte Wulffen auf die Jagd ritt, ſo daß die Hirſche jedes-
mal wußten, was und wen ſie zu erwarten hatten, ſobald ſie den
Dudelſack ſpielen hörten. Es war für die Hirſche wie Hundeblaff
und Büchſenſchuß. Oft ſchon hatte der alte Jäger dem alten Schä-
fer dieſe „Meldung in den Wald hinein“ verboten; aber immer
vergeblich. Als er ihn nun eines Tages wieder bei ſeinem Spiel
betraf, ſchoß er ihn nieder. Damit war es indeſſen nicht abge-
than, die Sache machte Aufſehn und die Gerichte d. h. der König
Friedrich Wilhelm I. ſelbſt, verurtheilte den alten Wulffen zum
Verluſt ſeiner Güter; — nur Steinhöfel ward ihm belaſſen.
So weit die dörfliche Tradition. Daß der Erzählung etwas
thatſächliches zu Grunde liegt, iſt nicht unmöglich, andrerſeits iſt
kaum zu bezweifeln, daß ſich die Sache, wenigſtens in ihrem ge-
ſetzlichen Verlauf (Confiskation der Güter) weſentlich anders ver-
halten haben muß. Einzelne der obengenannten Güter waren min-
deſtens noch in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts in
Wulffen’ſchen Händen und das Epitaphium, das dem alten Bal-
thaſar Dietloff ſelbſt, in der Steinhöfler Kirche errichtet wurde,
führt ihn eigens noch als Erbherrn auf Steinhöfel, Kerſtorf,
Goelsdorf ꝛc. auf.
Dies Epitaphium, außer der oben erzählten kleinen Geſchichte,
hält bei den Steinhöflern die Erinnerung an die Wulffens über-
haupt lebendig. Es iſt ein großes und ſehr in die Augen fallendes
[160] Denkmal. Degen, Flinte, Streitaxt, Lanze, Sponton, Lochaber-
Axt, Morgenſtern, Keule, Streitkolben, Pauke, Trommel ꝛc. bilden
eine Art Trophaee, die wie die Strahlen einer Kriegsglorie das
leidlich gemalte Portraitbild des alten Wulffen umzirken. Die In-
ſchrift, die mit den Worten anhebt: „Tugend hat ihr eigen Licht“,
ſchließt verbindlich genug mit den Reimzeilen:
ein Wunſch, in den, wenn auch ſonſt ganz Steinhöfel, die Familie
des Dudelſackpfeifers (wenn ſolche je exiſtirte) ſchwerlich eingeſtimmt
haben wird.
Steinhöfel blieb Wulffen’ſcher Beſitz bis 1774; dann nach
einem kurzen Interregnum, während deſſen der Miniſter Graf
Blumenthal das ſchöne Gut beſaß, ging es durch Kauf, an den
Obermarſchall von Maſſow, den jüngſten und einzig überlebenden
Sohn des Staatsminiſters von Maſſow (Staatsminiſter unter
Friedrich II.) über. Die vier ältren Brüder des Obermarſchalls
waren ſämmtlich in den Schlachten des ſiebenjährigen Krieges
geblieben.
Der Obermarſchall beſaß Steinhöfel von 1790—1817 und
in dieſe Zeit — trotzdem es die Kriegsjahre waren — fallen zum
guten Theil die Anlagen und Neuerungen, die das Gut, auch in
ſeiner Erſcheinung, zu einem ſo anſprechenden Beſitze gemacht ha-
ben. Das Schloß — kleinere Erweiterungen abgerechnet — blieb
allerdings zunächſt noch daſſelbe, wie es zur Wulffen’ſchen oder
doch zur Blumenthal’ſchen Zeit geweſen war, der Park aber (da-
mals kaum mehr als ein eichenbeſtandenes Stück Bruchland)
wurde im Weſentlichen zu dem gemacht, als was wir ihn jetzt er-
blicken. Er zählt zu den ſchönſten, die wir in der Provinz beſitzen,
was ihm indeſſen, faſt noch über die Schönheit ſeiner Linien und
Details hinaus, ein beſonderes Intereſſe leiht, das iſt der Umſtand,
daß er der erſte Park hierlandes war, deſſen Anlage nach Prin-
zipien erfolgte, die ſeitdem in der Park- und Gartenkunde, die
[161] herrſchenden geworden ſind. Es iſt dies bekanntlich der Sieg des
Natürlichen über das Künſtliche, des Gebüſches über den „Poeten-
ſteig“, des engliſchen, oder wie einige wollen, des alt-chineſiſchen
Geſchmacks über den franzöſiſchen. Der Obermarſchall, ohne je in
England geweſen zu ſein, muthmaßlich ſogar ohne jemals über
dieſe Dinge theoretiſirt zu haben, durchbrach das bis dahin Gül-
tige einfach nach einem ihm innewohnenden künſtleriſchen Inſtinkt,
und operirte dabei, auch in den Details der Anlage, mit ſo glück-
licher Hand, daß einzelne ſeiner Anlagen ſpäter als Muſter gedient
und in den Königlichen Gärten z. B. in Paretz eine theilweiſe
Nachahmung erfahren haben.
Der Obermarſchall hatte 4 Söhne. Wie ſein Vater, der Mi-
niſter, vier Söhne von fünfen, in den ſiebenjährigen Krieg ge-
ſchickt hatte, ſo ſchickte er drei Söhne von vieren in den Be-
freiungskrieg. Der erſte und zweite kehrte zurück; der dritte
(ſechszehnjährig) fiel bei Leipzig. Ein auffliegender Pulverwagen
nahm ihn mit in die Luft.
Der Obermarſchall ſtarb 1817; 1835 folgte ihm ſeine Wittwe
und Steinhöfel ging nun an den älteſten Sohn beider, den Major,
ſpätren Generallieutenant Valentin von Maſſow über. Bei dieſem
werden wir auf den nächſten Blättern zu verweilen haben.
Valentin von Maſſow.
Valentin von Maſſow wurde am 24. März 1793 zu Berlin
geboren. Er erhielt eine ſorgfältige Erziehung und theilte dieſe, ſo
wie den Unterricht der Haus- und Privatlehrer, mit dem Grafen
Friedrich Wilhelm von Brandenburg (dem ſpätren Miniſterpräſi-
denten), deſſen Erziehung König Friedrich Wilhelm III. 1797
dem damaligen Hofmarſchall von Maſſow anvertraut hatte. Außer
dem Grafen von Brandenburg war der zweite Bruder unſres Va-
lentin, der ſpätere Hausminiſter von Maſſow, der einzige Gefährte
ſeiner Knabenzeit.
11
[162]
Dreizehn Jahr alt, machte er, als Junker im Regiment Ru-
dorff-Huſaren, die unglückliche Campagne von 1806 mit und
wurde im Blücherſchen Corps bei Lübeck gefangen und auf Ehren-
wort in die Heimath entlaſſen. Sein Ehrenwort band ihn bis
zum Tilſiter Frieden. Nach dem Friedensſchluß ſeines Verſprechens
ledig, trat er ins Brandenburgiſche Huſarenregiment ein, avancirte,
beſuchte 1810 die Kriegsſchule und war im März 1812 unter den
300 Offizieren, die, als Preußen, durch die politiſche Lage ge-
zwungen, ſein Contingent zum Feldzug gegen Rußland ſtellen mußte,
ihren Abſchied nahmen, um, wo immer es auch auf den Schlacht-
feldern Europa’s ſein möge, wohl gegen den Unterdrücker, aber
nicht für ihn zu kämpfen. Die Mehrzahl jener 300 Offiziere trat
in ruſſiſchen Dienſt; unſer Maſſow aber, mit zwei gleichgeſinnten
Freunden (von Barner und von Scharnhorſt, Sohn des Generals)
ging nach England und von da, als Offizier in einem Dragoner-
Regiment der Engliſch-Deutſchen Legion, nach Spanien. Er focht
unter Wellington und wurde vor Burgos, bei einer Cavallerie-
Attacke, durch einen Lanzenſtich in die Lunge lebensgefährlich ver-
wundet. Er genas indeß und kehrte zunächſt nach England, von
da nach Preußen zurück. Er trat hier, es war im Juni 1813,
bei dem braunen Huſaren-Regimente ein, das damals der Obriſt
von Blücher (Sohn des Feldmarſchalls) kommandirte, machte in
dieſem Regimente die Kämpfe jenes ſchlachtenreichen Sommers und
Herbſtes mit und wurde dann, am Schluß des Jahres, in den
Generalſtab verſetzt. 1815 befand er ſich im Hauptquartier des
Fürſten Blücher, deſſen Communicationen mit Wellington,
vor und während der Schlacht bei Belle-Alliance, durch
unſren Maſſow vermittelt wurden. Welch beſſerer Vertrauensmann
hätte ſich finden laſſen als eben er, der ſchon drei Jahre früher
unter den Augen des Herzogs gefochten hatte und deſſen volle
Kenntniß der Engliſchen Sprache, damals bei den wenigſten anzu-
zutreffen, ihn ohnehin empfahl.
Der Niederwerfung Napoleons folgte bekanntlich die Okku-
pation Frankreichs durch engliſche und preußiſche Truppen. Den
[163] Oberbefehl über dieſe Truppen führte Herzog Wellington, in deſſen
unmittelbare Umgebung preußiſcherſeits unſer Maſſow kommandirt
wurde. Drei Jahre lang, bis 1818, verblieb er in dieſer Stellung,
in der er ſich, durch die Zuneigung und das beſondre Vertrauen
„des Siegesherzogs“ geehrt ſah. Die Berichte, die der Hauptmann
von Maſſow, während dieſer 3 Jahre von Paris oder Cambray
aus, wo Wellingtons Hauptquartier war, erſtattete und die nicht
nur militairiſchen, ſondern auch allgemein politiſchen Inhalts wa-
ren, werden noch im großen Generalſtab zu Berlin aufbewahrt
und gelten für ausgezeichnete Leiſtungen.
Bei Ablauf der Okkupation nach Berlin zurückgerufen, wurde
er gegen Ende des Jahres 1818 zum Flügeladjutanten König
Friedrich Wilhelms III. ernannt und ſtieg, immer in unmittelbarer
Nähe des Königs verbleibend, von Stufe zu Stufe, bis er, nach
langwieriger Krankheit, im Jahre 1843 ſeinen Abſchied nahm und
ſich in die ländliche Stille von Steinhöfel zurückzog.
Hier trieb er mit Eifer Landwirthſchaft, erweiterte das Schloß,
verſchönerte den Park und mehrte und ſteigerte den Werth des
Familienerbes. Er war in weiten Kreiſen ein Tröſter der Betrüb-
ten, ein Wohlthäter der Leidenden, ein weiſer Rathgeber Aller, die
ihm vertrauend ihr Herz öffneten.
Die Ruhe ländlicher Zurückgezogenheit war ihm lieb gewor-
den; nur einmal noch wurde er ihr entriſſen, um auf kurze Zeit,
vielleicht auf Tage nur, die Stille von Steinhöfel mit dem Lärm
von London zu vertauſchen.
Der eiſerne Herzog war am 14. September 1852 auf ſeinem
Schloſſe Walmer Caſtle bei Dover, beinah 80jährig geſtorben und auf
den 15. November war ſein feierliches Begräbniß feſtgeſetzt. Faſt
alle europäiſchen Armeen ſchickten Deputationen, um „den Feld-
marſchall der ſieben Reiche“ auf ſeinem letzten Gange zu begleiten;
die preußiſche Deputation aber beſtand aus Graf Noſtitz, General
von Scharnhorſt und unſrem Maſſow, der in Veranlaſſung dieſer
Deputirung zum Generallieutenant ernannt worden war. So folgte
dieſer denn dem Sarge des großen Feldherrn, unter deſſen Augen
11*
[164] er, 40 Jahre früher, zuerſt das Hochgefühl des Sieges kennen
gelernt hatte, und neben ihm ſchritt General von Scharnhorſt, der,
von gleichem Haß gegen die napoleoniſche Herrſchaft erfüllt, damals
mit ihm nach England gegangen war, um, wo immer es ſei, den
Unterdrücker ſeines Vaterlandes zu bekämpfen. Beide waren der
Fahne Wellingtons gefolgt, nun folgten beide ſeinem Sarge.
Und welch Leichengefolge das! Ein ſchönes Gedicht George Heſe-
kiel’s hat dieſen Zug beſchrieben:
Maſſow, der durch Jahre hin, dem „Old Duke“, ſo per-
ſönlich nahe geſtanden hatte, war in London mit beſondrer Aus-
zeichnung empfangen worden, jetzt, nach der feierlichen Beiſetzung,
kehrte er aus dem Gewoge Londons in die Stille Steinhöfels
zurück. Aber eine tiefre Stille harrte ſeiner bereits. Es war be-
ſchloſſen, daß er dem Siegesherzog, deſſen Sarge er am 15. No-
vember 1852 gefolgt war, nach wenig mehr als Jahresfriſt in
die Ruhe des Grabes folgen ſollte. Am 11. Jan. 1854 erkrankte
er, am 18. entſchlief er als ein ernſter und gläubiger Chriſt.
Auf dem Kirchhof zu Steinhöfel ruht er und ein Granitſtein
giebt die Daten ſeines Lebens und Todes. Er war nie vermählt.
Steinhöfel fiel an ſeinen Bruder den Hausminiſter und nach deſſen
[165] Tode an den älteſten Sohn deſſelben, den Rittmeiſter Valentin
von Maſſow. Dieſer iſt der gegenwärtige Beſitzer.
Steinhöfel iſt ein ſchönes und reizend gelegenes Gut. Es liegt
an der Stelle, wo der breite Sandgürtel, der ſich nördlich von
Fürſtenwalde hinzieht, in ein friſcheres und fruchtbareres Terrain
übergeht. Das Dorf ſelbſt, durch das ſich Kaſtanien-Alleen ziehn,
macht einen freundlichen und maleriſchen Eindruck; die Kirche iſt
alt, das Schloß neu, wenigſtens in ſeiner gegenwärtigen Geſtalt.
Intereſſante Bilder von Fr. Gilly (halb landſchaftlich, halb archi-
tektoniſch), die ſich bis dieſen Tag in einem der Zimmer des
Schloſſes vorfinden, zeigen uns deutlich wie die urſprüngliche
äußere Anlage war. Die innere Einrichtung (einige ältre Bilder
und Familien-Werthſtücke abgerechnet), ſtammt aus der Zeit des
Generallieutenants Valentin von Maſſow und ſeines Vaters des
Obermarſchalls. Eine tiefe Stille herrſcht innerhalb des Schloſſes,
während doch die heitren, nur in der Einſamkeit wie ſchwermüthig
gewordenen Räume den Eindruck machen, als würden ſie’s gern
haben, ſtatt der Lichter und Schatten, die auf dem Fußboden um-
herſpielen, oder ſtatt des Echo’s, das dann und wann durch die
lange Zimmerreihe klingt, lebendige, lachende Geſtalten zu em-
pfangen.
Eine Aufzählung der Familienbilder, denen wir ſowohl in
den Räumen des Erdgeſchoſſes als des erſten Stockes begegnen,
geb’ ich in den Anmerkungen; nur zweier alter Portraits, die
höchſt wahrſcheinlich aus der Blumenthalſchen Zeit her dem Schloſſe
verblieben ſind, geſchehe ſchon hier in aller Kürze Erwähnung. Es
ſind das die Bildniſſe 1) des Cabinetsminiſters von Blumen-
thal, der zur Zeit des großen Kurfürſten brandenburgiſcher Ge-
ſandter in Paris war und 2) des Feldmarſchalls von Flanß
(geb. 1664, geſtorb. 1748), eines beſondren Lieblings und Jagd-
[166] genoſſen Friedrich Wilhelms I. Beide Portraits, namentlich das
erſtere, ſind von vorzüglichem Kunſtwerth.
Einzelne kleinere Bilder, ſämmtlich Aquarelle, von denen zwei
von Schinkel, fünf von Fr. Gilly herrühren, mögen indeſſen ſchon
hier eine eingehendere Beſprechung finden. Es ſind Steinhöfler
Landſchaften, die theils als Arbeiten jener hervorragenden Künſtler,
theils aber auch dadurch unſer Intereſſe erwecken, daß ſie uns, wie
ſchon angedeutet, Schloß und Park von Steinhöfel in jener Ge-
ſtalt zeigen, wie beide vor 50 oder 60 Jahren waren. Alle ſieben
Bilder weiſen keine Jahreszahl auf, doch iſt es ſehr wahrſcheinlich,
daß die beiden Schinkelſchen Bilder unmittelbar nach ſeiner Rück-
kehr aus Italien (1805), die Gillyſchen (Fr. Gilly ſtarb ſchon 1800)
Ausgangs des vorigen Jahrhunderts gemalt wurden.
Die zwei Schinkelſchen Bilder ſind folgende:
1. La Maison du Vigneron, et Vendange à Stein-
hoeffel. Es iſt Spät-Nachmittags-Beleuchtung; eine Gruppe rechts
ſitzt im Schatten der Bäume; auf das laubumrankte Winzerhaus
aber, ſo wie auf den freien Platz davor, fällt ein mildes, heitres
Sonnenlicht. Winzer und Bäuerinnen tanzen einen Rund- und
Ringelreihn; in der weinumrankten Vorhalle des Winzerhauſes,
und auf der Treppe, die zu dieſer Vorhalle hinaufführt, ſtehen
plaudernde Paare und ein Paar Fiedler, die zum Tanze ſpielen.
Ein reizendes Bild; in ſeiner derb heitren Stimmung nieder-
ländiſch, in Beleuchtung und Farbenton italieniſch und in ſo
fern allerdings wohl einer gewiſſen realiſtiſchen Wahrheit entbehrend.
2. La Vigne de Steinhoeffel.
Dies Bild iſt ruhiger als das erſte, aber vielleicht noch
hübſcher und anziehender. Es iſt daſſelbe Haus, nur mit dem Un-
terſchied, daß man mehr die Giebel- als die Frontſeite ſieht. Die
Sonne geht eben unter und ein rothbrauner Ton liegt über dem
Ganzen. Zwei Bäuerinnen kehren mit Fruchtkörben heim; an der
ſonnenbeſchienenen, rothbraunen Gartenmauer ſteht eine kurzgeſchürzte
Winzerin in grünem Friesrock und rothem Mieder und reicht
einem Winzer, der oben auf der niedrigen Mauer ſteht, die abge-
[167] ſchnittnen, ſchweren Trauben zu. Edeltannen und Silberpappeln
im Hintergrund; das Ganze in Auffaſſung und Beleuchtungston
durchaus italieniſch.
Die Gillyſchen Blätter haben mit den Schinkelſchen nicht
die geringſte Aehnlichkeit. Sie führen alle fünf die gemeinſchaftliche
Unterſchrift: Vue de Steinhoeffel und zeigen: 1. das Schloß,
wie es ſich vor 50 oder 60 Jahren präſentirte, wenn man von
der Dorfgaſſe her in den Park einbog; 2. das Schloß vom Park
aus; 3. das japaniſche Häuschen im Park (nach dem Fr. W. III.
das Paretzer aufführen ließ); 4. eine Baum- und 5. eine Waſ-
ſerparthie (Cascade) aus dem Park.
Wenn auf den zwei Schinkelſchen Blättern ſaftgrün und
rothbraun vorherrſchen und ihnen Kraft und Friſche geben, ſo
ſind auf den Gillyſchen Blättern weiß und ein helles Waſſergrün
die vorherrſchenden Farben. Die Schinkelſchen machen den Eindruck
moderner, ſehr farbenkräftiger Aquarelle, während die Gilly-
ſchen wie Federzeichnungen wirken, die mit dünnen und unkräf-
tigen Waſſerfarben hinterher fein und ſinnig getuſcht wurden.
Intereſſanter noch als dieſe höchſt anſprechenden Aquarell-
Bilder Fr. Gilly’s und Schinkel’s und vielleicht überhaupt das
intereſſanteſte unter allem was ſich an Kunſtſchätzen und Curioſi-
täten in Steinhöfel vorfindet, iſt ein andrer Rahmen, deſſen ſchlich-
ter brauner Holzrand ſtatt eines Bildes, ein vergilbtes Quart-
blatt Papier umfaßt. Dies Quartblatt Papier, auf beiden Sei-
ten beſchrieben, (weshalb der Rahmen hinten und vorn ein Glas
hat) iſt das Concept eines Briefes (in Verſen), den Kronprinz
Friedrich, von Königsberg aus, im Auguſt 1739, an Voltaire
richtete. Im 21. Bande der Oeuvres completes (dem 5. der
„Correſpondence“) findet ſich dieſer Verſebrief abgedruckt. Ich ſtelle
nun, behufs eines Vergleichs, den gedruckten Brief und die ver-
ſchiedenen Verſionen des Steinhöfler Concepts (die Orthographie
habe ich an einigen Stellen unverändert gelaſſen) zuſammen, zu-
gleich eine Ueberſetzung hinzufügend, bei der ich auf eine Markirung
der kleinen Unterſchiede verzichtet habe.
[168]
En effet, je suis sûr que ces quarante têtes qui sont payées pour
penser, et dont l’emploi est d’écrire, ne travaillent pas la moitié autant
que vous. Les sciences sont pour tout le monde, mais l’art de penser
est le don le plus rare de la nature.
[169]
Ich bin in der That ſicher, daß dieſe vierzig Köpfe, die für’s Denken
bezahlt werden und von Amts wegen zu ſchreiben haben, nicht halb ſo
viel arbeiten als Sie. Die Wiſſenſchaften ſind für alle Welt, aber die
Kunſt des Denkens iſt die ſeltenſte Gabe der Natur.
[170]
Entre cent personnes qui croient penser, il y en a une à peine qui
pense par elle-même. C’est cet esprit créateur qui sait multiplier les
idées, qui saisit les rapports entre des choses que l’homme inattentif
n’aperçoit qu’à peine, c’est cette force du bon sens qui fait, selon
moi, la partie essentielle de l’homme de génie.
Ce qui n’est parvenu de „Mahomet“ me parâit excellent.....
Vous n’avez pas besoin, mon cher Voltaire, de l’éloquence de M. de
Valori; vous êtes dans le cas qu’on ne saurait détruire ni augmenter
votre réputation.
Je suis avec une estime parfaite, mon cher Voltaire etc.
[171]
Unter hundert Menſchen, die zu denken glauben, iſt kaum einer,
der wirklich denkt. Dieſer ſchöpferiſche Geiſt aber, der die Ideen zu ver-
mehren weiß, der da einen Zuſammenhang der Dinge wahrnimmt, wo
der Unaufmerkſame kaum irgend etwas zu entdecken verſteht, dieſer bon-
sens, dieſe Kraft des geſunden Menſchenverſtandes iſt es, die meiner Mei-
nung nach den weſentlichſten Theil eines Mannes von Genie ausmacht.
Was ich vom „Mahomet“ erhalten habe, erſcheint mir vorzüglich.
Sie, mein theurer Voltaire, bedürfen nicht der Beredſamkeit des Herrn
von Valori; Sie ſind in der glücklichen Lage, daß Ihren Ruf Niemand
weder zu zerſtören noch zu ſteigern vermag.
Ich bin, mein theurer Voltaire, mit vorzüglicher Hochachtung ꝛc.
[172]
Was an dieſem auf beiden Seiten beſchriebenen Quartblatt
das intereſſanteſte iſt, iſt wohl der Umſtand, daß uns daſſelbe,
(eben weil Brouillon) in die Entſtehungs-Geſchichte dieſer,
wie ähnlicher Versbriefe des Kronprinzen einführt und uns genau
zeigt, wie er arbeitete. Es überraſcht dabei einmal eine gewiſſe
Strenge gegen ſich ſelbſt, die ſich in den doppelten und dreifachen
Varianten zur Genüge ausſpricht, anderſeits ein gewiſſes proſaiſches
„ſich’s bequem machen“, das die Reimworte nicht mit ahnungs-
voller Sicherheit aus dem Gedächtniß raſch heraufbeſchwört, ſon-
dern ſie aufſchreibt, um nun völlig nüchtern und nach Bedürf-
niß die Auswahl zu treffen. So finden wir, in kurzen und langen
Columnen, unter einander geordnet, erſt: hyperbole, parole,
dann pretendu, venu, parvenu, dann magnifique, rustique,
implique, philosophique, intrique, musique, inique, poe-
tique; endlich aprouvé, depravé, annoncé, consumé, alarmé
etc., Aufzählungen, die es erſichtlich machen, daß der Kronprinz
in vielen Fällen nicht eine Hülle für den Gedanken, ſondern einen
Gedanken für die Hülle ſuchte. Uebrigens arbeiten bekanntlich viele
Poeten auf ziemlich dieſelbe Weiſe und ſo unpoetiſch, auf den
erſten Blick, dieſer Weg allerdings erſcheinen muß, ſo iſt doch
ſchließlich nicht erwieſen, daß derſelbe weſentlich ſchlechter ſei als ein
andrer. Er erinnert an die Verfahrungsweiſe einzelner Maler, be-
ſonders guter Coloriſten, die, zunächſt eine bloße harmoniſche Wir-
kung auf die Sinne bezweckend, nicht klare Geſtalten, ſondern
Farben (die dem Reim entſprechen) neben einander ſtellen.
Form und Gedanke finden ſich nachher. Wie ſie ſich finden, —
ſcheinbar zwanglos, oder aber ſichtlich erzwungen — davon hängt
dann freilich alles ab.
Wir haben dieſem umrahmten Quartblatt Papier wieder ſei-
nen Ehrenplatz an der Längswand des Bibliothekzimmers gegeben
und treten nun aus dem kühlen ſchattigen Raume in den ſonn-
beſchienenen Park hinaus. Es iſt jener Mittagszauber, von dem
es im Liede heißt:
[173]
Hier iſt es nicht die Sägemühle, die rauſcht, aber ein Bach, der,
aus dem Felde kommend, über ein natürliches Wehr von Feld-
ſteinblöcken niederſprudelt und ſchillernd in Regenbogenfarben, in
den hellbeleuchteten Park tritt. Weiterhin dehnt ſich der Bach zu
einem ruhigen Teich aus, (das flinke Leben iſt raſch ſtill geworden)
und die umſtehenden Bäume werfen ihr Bild in die dunkelklare
Tiefe. Durch den Park hin, nach Süden zu, iſt eine Lichtung ge-
ſchlagen, und vor die lichte Oeffnung ſchiebt ſich, in Dämmerferne,
der Hügelzug der „Rauenſchen Berge“. Der ſcharf gezogene Con-
tur ihres Profils mahnt an ſüdlich Land und blauen Himmel.
Ueber den Teich hin fliegen Libellen, die einzigen, die um dieſe
heiße Stunde noch munter ſind; das macht ihre Flügel ſind groß
und ihre Leiber ſind leicht.
Ein ſeltſam Klingen und Tönen zieht durch die Luft,
aber eh noch das Klingen ein beſtimmter Klang geworden, fällt
die Kirchglocke mit ihren zwölf Mittagsſchlägen ein; der Mittags-
ſpuk verfliegt und nur der Zauber der Stille und Schönheit bleibt.
[[174]]
Buckow.
Doch bleibt es das Beſt’ an der ganzen Geſchicht’,
Courage, Courage!
Chamiſſo.’
Buckow hat einen guten Klang hierlandes und bei bloßer Nen-
nung des Namens ſteigen freundliche Landſchaftsbilder auf: Berg
und See, Tannenabhänge und Laubholzſchluchten, Quellen, die
über Kieſel plätſchern und Birken, die vom Winde halb entwur-
zelt, ihre langen Zweige bis in den Waldbach niedertauchen. Selbſt
wer Buckow nie ſah, freut ſich an Wort und Namen und erwie-
dert im Ton des Einverſtändniſſes: „ah, märkiſche Schweiz.“ —
Buckow iſt ſchön, aber doch mit Einſchränkung. Es hängt
alles davon ab, ob wir Buckow die Gegend oder Buckow die
Stadt meinen; — allen Reſpekt vor jener, aber Vorſorge gegen
dieſe. Seine Häuſer kleben wie Neſter an Abhängen und Hügel-
kanten und ſein Straßenpflaſter (um das ſchlimmſte vorweg zu
nehmen) iſt entſetzlich. Es weckt mit ſeiner hals- und wagen-
brechenden Paſſage die Vorſtellung, als wohnten nur Schmiede
und Chirurgen in der Stadt, die am Ende auch leben wollen.
Von Löchern iſt längſt keine Rede mehr; wo dergleichen waren,
ſind ſie zu einer rinnenartigen Vertiefung geworden und als
Friedrich Wilhelm IV. vor einer Reihe von Jahren Buckow paſ-
ſirte, ſah ſich die Commune veranlaßt, die Hauptſtraße der Stadt
fußhoch mit Sand beſtreuen zu laſſen. Dieſer Beſchluß wurde
[175] aber nicht gleich gefaßt. Viele hatten vorgeſchlagen „das Pflaſter
zu laſſen wie es ſei“ um den König deſto eher zu einer milden
Beiſteuer zu bewegen, in dankbarer Erinnerung an Rettung aus
Lebensgefahr. Aber der Vorſchlag mußte freilich ſcheitern, weil
niemand den Muth hatte (und nicht haben konnte), im Voraus
für ſichere Paſſage zu bürgen. So wurde denn Sand geſtreut
und das alte Pflaſter blieb der Stadt erhalten. Für ſchwache
Achſen iſt Buckow daſſelbe was Wien für ſchwache Lungen iſt, —
keiner kommt heil heraus.
Buckow war einmal wohlhabend, aber das iſt lange her. Im
14. Jahrhundert, auch ſpäter noch, blühte hier der Hopfenbau und
gab 33 Hopfengärtnern reichliche Nahrung. Sie gewannen jährlich
weit über 1000 Wispel und der Buckower Hopfen war es, der
dem Bernauer Bier zu ſeinem Ruhme half. Noch giebt es Ho-
pfengärten in Buckow, aber ihre Bedeutung für die Stadt iſt hin
und die überall ſiegreiche Kartoffel erobert auch hier das Terrain.
Kümmerlich ſchlägt ſich die Stadt mit Spaten und Hacke durch;
Communalvermögen iſt nicht da; die vier Jahrmärkte werden nicht
beſucht und die alte Hügel-Kirche mit reichem Altar und mächti-
gen Glocken, würde ſchwerlich in ſolcher Stattlichkeit auf die Stadt
herabſehen, wenn ſie vom jetzigen Buckow gebaut werden ſollte.
Weiteres über dieſe Kirche ſiehe in den Anmerkungen.
Die Buckower ſind ordentliche, fleißige Leute, die ſich’s ſauer
werden laſſen, aber ſei es, daß ihre wendiſch-deutſche Blutmiſchung
nicht ganz die richtige iſt, oder daß ſie’s nicht verwinden können
vor lieber langer Zeit einmal reich geweſen zu ſein, gleichviel ſie
haben eine Vorliebe für’s Prozeſſiren und gelegentlich auch wohl
für die Selbſthülfe. Es exiſtiren darüber viel heitre und viel
traurige Geſchichten. Eine Geſchichte dieſer Art, die luſtig und
traurig zugleich war, ſpielte vor Kurzem erſt, als die Buckower
mit ihrem „Grafen“ (Graf Flemming, Beſitzer der Herrſchaft
Buckow) in Streit geriethen. Dieſer Streit nahm ein paar Tage
lang den Charakter an, als habe ſich ein Vorgang aus dem
15. Jahrhundert in unſre Zeit hinein verirrt; die Bürger zogen
[176] zu Felde, ſchlugen die gräflichen Mannen in die Flucht, nahmen
Poſſeß vom ſtreitigen Terrain und pflanzten ihr Banner auf dem
eroberten Grund und Boden auf. Kurzum eine mittelalterliche
Fehde in beſter Form. Streitobjekt war ein Forſt, den der Graf
als ſeine, die Stadt als ihre beanſpruchte. Die Gerichte hatten
zu Gunſten des Grafen entſchieden, aber die Stadt ſchüttelte den
Kopf und ſo geſchah wie eben gemeldet. Ein Bänkelſänger, der
juſt des Weges kam, hörte von dem kaum geſchlichteten Streit
und das Balladenhafte des Vorganges raſch erkennend, brachte er
alles in „neue Reime aus dieſem Jahr.“ Ich habe das Blatt
zufällig in die Hand bekommen und gebe etliche Strophen daraus.
[177]
Nun folgen ſechs, acht Strophen, in denen beſchrieben wird,
wie alles dem Redner zujubelt, wie die Bürger ſich rüſten und
andern Tages wirklich ausziehen, um die „Pfändung der Gräf-
lichen“ vorzunehmen. Drei andre Strophen ſchildern den Zug
ſelbſt;*) dann endlich treten ſie in den Wald.
12
[178]
Der Kampf iſt kurz. Die gräflichen Holzſchläger ſtrecken die
Waffen und die Sägen und Äxte werden gepfändet. Ein Hurrah
klingt dreimal durch den Wald. Aber der Sieg iſt von kurzer
Dauer. Die Gräflichen verſtärken ſich und rücken andren Tags,
unterſtützt durch die ganze Polizeimacht der Kreiſe Barnim und
Lebus in’s Feld. Die Polizei, bekanntlich ein proſaiſches Inſtitut
und ohne Glauben an Geſpenſter, hat auch kein Herz für Roman-
tik und Mittelalter und ſchickt die Buckower in ſehr beſtimmten
Ausdrücken heim.
Aber ich habe vielleicht zu lange ſchon bei den Buckowern
verweilt; wenden wir uns wieder ihrer Stadt zu. Buckow und
ſeine Umgebungen bilden die „märkiſche Schweiz.“ Freilich geht
es der Stadt mit dieſem Namen und Anſpruch nicht viel beſſer
als mit ihrem Forſt, denn Freienwalde tritt mit überlegner Miene
in die Schranken und ſagt: „dieſer Name iſt mein.“ Dabei iſt es
[179] (ohne dadurch Freienwalde in den unverdienten Ruf der Eleganz
bringen zu wollen) als hörte man Seide rauſchen, während
Buckow wie im Friesrock bei Seite ſteht.
Wo liegt denn nun aber die wirkliche märkiſche Schweiz?
Wir werden uns einen Dualismus, wie auch ſonſt wohl, gefallen
laſſen müſſen. Freienwalde iſt immerhin eine Dame, Buckow iſt
eine ländliche Schönheit, die mit nacktem Fuß in den See tritt
und unter Weidenzweigen ihr Haar flicht. Nun wähle jeder nach
ſeinem Sinn. Binnen Kurzem wird ſich ſolche Wahl erleichtern.
Die neu-projectirte Eiſenbahn zwiſchen Berlin und Küſtrin, führt,
auf kürzeſte Entfernung, an Buckow vorüber und einmal in den
Verkehr hineingezogen, wird das „Aſchenputtel“ von heute, ihren
bevorzugten Schweſtern vielleicht ſchon morgen gefährlich werden.
Buckow liegt in einem Keſſelthale, deſſen Sohle (wir über-
ſehen dabei zwei kleinere Seen) von einem großen See gebildet
wird. Dieſer See hat die Form eines abgeſtumpften Halbmonds,
iſt alſo bohnen- oder nierenförmig und heißt der Schermützel-
See. Wir werden noch weiter von ihm hören. An der concaven
Seite des Sees, ziemlich genau an der Stelle, wo ſich das hüg-
lige Erdreich in den See hineinbuchtet, liegt die Stadt, von der
aus ſich in kürzeſter Zeit und mit leichteſter Mühe, die verſchie-
denſten Ausflüge in die Umgegend ermöglichen. Alle dieſe Ausflüge,
verſchieden wie ſie ſind, laſſen ſich nichts-deſtoweniger in drei ganz
beſtimmte Gruppen bringen, in Spazierfahrten über den See, in
Beſteigung des Bollersdorfer Plateaus, (weſtlich vom See) oder
in Wanderungen durch die Thäler und Schluchten der nach Nord
und Oſt hin gelegenen „märkiſchen Schweiz.“ Die Parthieen, die
ſich innerhalb der letzteren bieten, ſind zahlreich und anmuthig,
(ich beſchreibe dieſelben zum Theil im nächſten Kapitel) der eigent-
liche Zauber aber, den Buckow übt, beſteht nicht in der Schönheit
dieſer oder jener Details, ſondern einfach in dem Blick auf den
ſchönen, tief gelegenen, ſchon in ſeiner Erſcheinung halb märchen-
haften See, der ſich von keinem Punkt der umgebenden Höhen
her, ſchöner und maleriſcher ausnimmt, als von dem Bollersdorfer
12*
[180] Plateau aus, das den See nach Weſten hin begrenzt. Dieſem
Bollersdorfer Plateau wenden wir uns jetzt zu.
Wir wählen dazu (ſtatt der Fahrt über den See) einen
Umweg, durch jene lieblichen Schlucht- und Waldparthieen, die,
indem wir zunächſt uns nördlich halten, von einem Bergwaſſer,
dem Marienfließ, durchfloſſen werden. Das Landſchaftsbild, das
ſich vor uns erſchließt, iſt daſſelbe, dem der Reiſende in den Wald-
und Gebirgsparthieen Mitteldeutſchlands ſo oft begegnet; — wer
den Harz, wer Thüringen und die ſächſiſche Schweiz kennt, iſt
manche liebe Stunde unter gleichen Bildern und Eindrücken bergan
geſtiegen. Tannen und Lärchenbäume faſſen zu beiden Seiten die
Hügelabhänge ein, Buchen und Birken ſind in das Nadelholz
eingeſtreut, der Kuckuck ruft, der Bach plätſchert und auf dem
friſchen Raſen, der das Wandern ſo leicht macht, liegen die Tann-
äpfel oder ſpielen die Schatten und Lichter der Nachmittagsſonne.
So auch hier. Ueber die primitivſten Brücken hinweg (ſechs Feld-
ſteine quer durch den Bach gelegt) ſchreiten wir vom linken auf
das rechte und wieder vom rechten auf das linke Ufer, bis wir
nach halbſtündigem Marſch die nördliche Richtung aufgeben und
links den Tann ohne Weg und Steg durchbrechend, plötzlich auf
einem weiten Ackerfeld uns erblicken, rundum Raps und grüne
Saaten, in der Ferne aber die Giebelwand einer Dorfkirche.
Wir befinden uns jetzt auf einem Plateau und zwar auf eben
jener „Bollersdorfer Höhe“, die wir, den Wendungen des Baches
folgend, faſt wie auf einer Wendeltreppe ohne Stufen, erſtiegen
haben. Aber noch wiſſen wir es kaum, daß wir uns auf einer
Höhe befinden, denn die weiten Ackerfelder dehnen ſich, bis zum
Horizont, wie eine Ebene vor uns aus und erſt nach links hin
einer Ackerfurche folgend, die uns an eine Wand von Brombeer-
und Weißdornſträuchern führt, blicken wir plötzlich in eine völlig
ſenkrechte Tiefe nieder, — hundert Fuß unter uns der See.
Wir nehmen nun unſern Stand und haben vielleicht das
ſchönſte Landſchaftsbild vor uns, das die „märkiſche Schweiz“ oder
doch der „Kanton Buckow“ zu bieten vermag. Links und rechts,
[181] in gleicher Höhe mit uns, die Raps- und Saatfelder des Plateaus,
auf dem wir ſtehn; unmittelbar unter uns der blaue, leis gekräu-
ſelte Schermützel See; drüben am andern Ufer, hügelanſteigend,
in den Schluchten verſchwindend und wieder zum Vorſchein kom-
mend, die Stadt und endlich hinter derſelben, im weitgezogenen
Halbkreis, eine Bergwand, hier und dort mit jungem Kiefernholz,
in der Mitte aber mit dunklen Schwarztannen bis zur vollen
Höhe des Berges beſetzt. Die Nachmittagsſonne fällt auf die Stadt,
die mit ihren rothen Dächern und weißen Giebeln wie ein Bild
auf dem dunklen Hintergrund der Tannen ſteht; das Auge aber,
wohin es durch die Mannigfaltigkeit des Bildes auch gelockt wer-
den mag, kehrt immer wieder auf den räthſelvollen See zurück,
der in genau zu verfolgenden Linien halbmondförmig unter
uns liegt.
Auf den räthſelvollen See. Noch wiſſen wir es nicht, aber
wir ahnen es, daß er unter andern Schätzen auch Sage und
Geſchichte umſchließen muß, und unſer Führer, ein Buckower Fiſcher,
der uns bis hieher ſchweigend geleitet, hebt nun mit ſchlichtem
Tone an: „Dort unten liegt die alte Stadt. Drüben am andern
Ufer, wo Sie die ſpiegelglatte Stelle ſehen, dort hat Alt-Buckow
geſtanden. Wir kennen die Stelle ganz genau. Von dem Eck dort,
wo die Binſen 100 Schritt weit in den See hineingehen, bis
hier g’radüber von uns, wo die Weiden in’s Waſſer hängen, —
ſo weit ging die Stadt. Ich ſpreche nicht von Glocken, die unten
klingen, Alt-Buckow hatte ſchwerlich Gocken, aber das müſſen Sie
ſchon glauben, daß wir an klaren Tagen 10 Fuß tief unterm
Spiegel allerhand Pfahlwerk ſtehen ſehn, Blockhäuſer vielleicht,
jedenfalls Zaun und Steg und mancher unter uns hat etwas von
dem Pfahlwerk herausgeholt und ihm einen guten Platz im Haus-
flur gegeben. Wir denken, es iſt ein Segen dabei.“ Der Erzäh-
lende machte eine Pauſe, während er mich ſcharf anſah, dann fuhr
er fort: „Drüben, wo die Stadt ſtand, iſt der See flach, wenig-
ſtens eine kurze Strecke; hier unter uns aber iſt er tief, an 100
Fuß und darüber; hier wimmelt es auch von Fiſchen, aber wir
[182] haben wenig davon. Wenn wir hier Netze ziehn, ſo gehen die
Fiſche tiefer, und wollen wir ihnen nach, ſo kommen wir in den
alten Eichwald, der hier unten ſteht. Die Maſchen zerreißen dann,
die Fiſche ſchlüpfen durch und ein paar abgebrochne Zacken ſind
alles, was wir mit nach oben bringen. So hat ſich’s geändert;
einſt war alles Berg hier, und Stadt und Wald ſtanden zwiſchen
hüben und drüben, wie wir beide hier auf dieſer Höhe ſtehn. In
einer Nacht war alles vorbei. Der Berg ging nach unten und der
See kam herauf.“
Die Sonne ging eben unter, eine kühle Luft wehte über das
Feld und ein leiſes Unbehagen lief mir über den Rücken. Aber ich
wußte doch nun, was es war, daß mich der See mit ganz andrem
Auge angeblickt hatte wie mancher andre See und ich warf mich
nieder und ſtreckte den Kopf über den Abgrund hinaus, wenigſtens
den Wunſch (wenn nicht mehr) im Herzen, unten ein Eichenſkelett
bis an den Waſſerſpiegel heraufragen und die Fiſche durch die
Zackenkronen hindurch huſchen zu ſehn. Ich ſah es auch wirklich,
aber mit dem Bewußtſein, daß es Täuſchung ſei.
Wir traten den Rückweg an und plauderten über dies und
das. Des See’s Sagen indeß verließen mich nicht und begleiteten
mich in die große Stadt, wo ich in Büchern nachzuſchlagen und
nach der Vorgeſchichte des großen Schermützel See’s zu ſuchen
begann. Was ich fand, iſt das. Viele unſrer märkiſchen Seen und
ſeeartigen Vertiefungen ſollen durch ſogenannte Erdfälle entſtan-
den ſein. Man hat keine andre Erklärung. Plötzlich und unver-
mittelt in Mitten eines Plateaus auftretend (wie dies namentlich
bei’m Schermützel See der Fall iſt) iſt es nicht möglich von her-
einbrechenden Waſſerfluthen, von Flußbett oder Strömungen zu
ſprechen. Es iſt nichts von außen Herantretendes, was die
Erklärung geben kann, es muß vielmehr ein innerlicher Vor-
gang, ein eminent lokaler ſein. Man denkt ſich die Sache ſo.
Das Innere der Erde hat Höhlen, deren Wände und Deckenge-
wölbe (nach Art der jetzigen Tunnel) die Hand der Natur mit
[183] Kalk oder Gipsmaſſen umkleidet hat. Solche natürlichen Tunnel
ſind entweder völlig hohl und leer, oder aber, (was häufiger zu
ſein ſcheint) mehr oder weniger mit Waſſer gefüllt. Ueber ſolchem
gewölbten Rieſentunnel liegt Erdreich (wie viel iſt gleichgültig)
und auf dem Erdreich ſteht eine Stadt oder wächſt ein Wald.
So geht es durch ein Jahrtauſend. Da plötzlich, ſei es durch
einen Ruck von unten oder durch ſickernde Waſſer von oben her,
bricht das Tunnelgewölbe ein und wie ein Haus, das ſeine Bal-
kenlage verliert, in den Keller ſtürzt, ſo fährt nun das Erdreich,
mit allem, was drauf wuchs und lebte, in die plötzlich geöffnete
Tiefe herab. War der Tunnel leer, ſo zeigt ſich nunmehr einfach
eine Vertiefung, wo ſonſt eine Fläche war, war der Tunnel aber
umgekehrt ein rieſiges übermauertes Waſſerreſervoir, ſo ſchlagen
nun die freigewordenen Waſſer über allem was niedergefahren iſt,
zuſammen und — ein See ſteht ruhig über Stadt und Wald.
Eine geognoſtiſche Autorität hat die hübſche Wendung ge-
braucht: „daß die Natur, bei der Bildung von Erdfällen nur
erſt ſelten auf friſcher That ertappt worden ſei“, ein
Umſtand, zu dem wir uns, ſo intereſſant und lehrreich das Gegen-
theil auch ſein würde, doch vor allem zu gratuliren haben. Wäre
es anders, wären wir in der Lage, dieſe „Erdfälle“ wie Stern-
ſchnuppenfälle im Auguſt, regelmäßig beobachten zu können, ſo
würde Central-Amerika ein vergleichsweiſe ſichrer Aufenthalt ſein;
denn was ſind „Erdbeben“ gegen ſolche „Erdfälle“, wo die
Erde gleichſam ſich ſelbſt zu verſchlingen beginnt. Sind übrigens
die Annahmen, über die Bildung mehrerer unſrer größten und
ſchönſten Seen nur halbwegs richtig, ſo haben die Vorbewohner
der Mark von dieſen „intereſſanten Naturerſcheinungen“ mehr denn
zur Genüge gehabt. Der Kreſſinſche See nicht weit von Saar-
mund, der Gohlitz-See im Amt Lehnin, der Gudelack-See bei
Lindow und der große Paarſteiner-See bei Kloſter Chorin, ſollen
durch ſolche Erdfälle entſtanden ſein, der zahlreichen Teufelsſeen (die
überall vorkommen) zu geſchweigen. Wo zwiſchen zwei abſchüſſigen
[184] Hügelwänden ſich plötzlich ein trichterförmiger See einklemmt, der
weder Zu- noch Abfluß, wohl aber eine bedeutende Tiefe hat, da liegt
immer Grund vor, einen „Erdfall“ zu vermuthen. Erzählt aber
gar die Sage von untergegangenen Dörfern und Städten, ſo iſt
es gut, dem Volksmund zu glauben und die Zweifel zu Haus zu
laſſen. Ob die Glocken dann Abends unten klingen oder nicht, —
der iſt nicht beneidenswerth, der ſie ſchlechterdings nicht zu hören
vermag.
[[185]]
Der große und kleine Tornow-See.
Da blühn der Lilien viele.
Schnezler.’
Die „märkiſche Schweiz“ um Buckow herum iſt zum großen
Theil ein Beſitzthum der Grafen Flemming und Itzenplitz.
Der Itzenplitz’ſche Antheil an dieſem Stück ſchöner Natur
liegt in Nordweſt und Nordoſt des großen Schermützel-See’s und
umfaßt das Areal der Güter Bollersdorf und Pritzhagen.
Von dem Bollersdorfer Plateau ſprachen wir bereits im
vorigen Kapitel; ebenſo vom dem ſchönen Blick, den der abſchüſſige
Rand deſſelben auf den unten liegenden Schermützel-See geſtattet.
Das Dorf Bollersdorf ſelbſt, deſſen kleine gothiſche Kirche dem
kahlen Plateau einen maleriſchen Reiz verleiht, iſt ohne Bedeu-
tung. Seine Beſitzer wechſelten oft. In der zweiten Hälfte des
17. Jahrhunderts war es Eigenthum des General-Lieutenant von
Goertzke, der, nach Ankauf des jetzt Marwitz’ſchen Friedersdorf,
auch noch Kienitz und Bollersdorf an ſich brachte. Nach ſeinem
Tode aber ſcheint es ſofort in andre Hände übergegangen zu ſein.
Die ſchon genannte Kirche iſt alt. Bei einem vor Jahresfriſt ſtattfinden-
den Umbau wurden in der geöffneten Gruft die Särge der Familie
Loeſchebrand gefunden. Ueber den Schnitzaltar, der bei Umbau
der Kirche ebenfalls reſtaurirt wurde, ſpreche ich in den Anmer-
kungen. Es iſt ein ſehr altes und vor vielen ähnlichen Arbeiten
intereſſantes Werk.
[186]
1763 kam Bollersdorf durch Schenkung (wie Friedland) in
Beſitz des Generalmajors von Leſtwitz und theilte ſeitdem, hinſicht-
lich ſeiner Beſitzverhältniſſe, das Schickſal des Leſtwitz-Itzenplitzi-
ſchen Gütercomplexes (Friedland, Cunersdorff, Bollersdorf, Pritz-
hagen), dem es von da ab zugehörte.
Pritzhagen liegt mehr öſtlich und das coupirte Terrain ge-
ſtattet keinen Blick auf den Schermützel-See. Das Dorf ſelbſt iſt
unbedeutend wie Bollersdorf. Viele Jahrhunderte lang, bis kurz
vor der Zeit, wo es Leſtwitz erhielt, beſaßen es die „Rutze“ oder
die „von Reutze“ wie ſie ſpäter genannt wurden. Schon 1375
(wie das Landbuch berichtet) gehörte Pritzhagen den „Rutze’s und
blieb im Beſitz dieſer alten Familie bis in’s 18. Jahrhundert
hinein. Dann ſtarben ſie aus. Der letzte, wie es ſcheint, war
„Junker Hans“, ein Waidmann von altem Schrot und Korn, der
ſeine Paſſion mit dem Leben bezahlte. Sein Name lebt fort in
der „Junker Hanſens Kehle.“ „Kehle“, in der Gebirgsſprache der
märkiſchen Schweiz, iſt der gäng und gäbe Ausdruck für „Schlucht“
und „Junker Hanſens Kehle“ bedeutet einfach die Schlucht, in
die Junker Hans von Rutze bei Verfolgung eines Hirſches hinein-
ſtürzte und den Hals brach. In Pritzhagen erzählt jedes Kind von
ihm; aber eine Meile weiter weiß niemand etwas weder von den
Rutzes, noch Junker Hans, noch von der „Kehle“, die ſeinem
eignen Halſe ſo verderblich wurde. Ein allerlokalſter Ruhm.
Pritzhagen bedeutet wenig, aber ſeine Berge und Schluchten
bedeuten viel, ſelbſt ſeine „Kehlen.“ Einer ſeiner reizendſten Punkte
iſt der „Dachsberg“, kaum eine Viertelſtunde vom Dorf gelegen
und mit Recht ein Lieblingsplatz aller märkiſchen „Touriſten.“
Auch Berliner huldigen ihm. Und das iſt doch immer das Ent-
ſcheidende!
Der Dachsberg an und für ſich iſt nichts beſonderes; aber
die beiden Seen, die zu ihm aufblicken, ebenſo wie die Schlucht,
die dieſe Seen verbindet, bilden ſeine Schönheit. Die beiden
Seen heißen der kleine und große Tornow und die Schlucht heißt
die „Silberkehle.“
[187]
Die beiden See’n ſchauen zu dem Berge hinauf, der ſeiner-
ſeits terraſſenförmig anſteigt. Am Fuß der Treppe breitet ſich der
große Tornow aus, aber auf der mittleren Treppenſtufe liegt der
kleine Tornow, dunkel, ſtill, in verſchwiegener Tiefe.
Von der Kuppe des Hügels herab überblickt man nur den
kleineren See; Baumparthieen faſſen ihn ein und beſchränken die
Fernſicht. Das Terraſſenförmige des Berges kommt wenig zur
Erſcheinung. Möglich daß das Landſchaftsbild an Reiz gewönne,
wenn der Blick an dieſer Stelle zu erweitern wäre, wenn das
Auge des Beſchauers, gleichſam die Stufen der Treppen hernie-
derſteigend, erſt bei dem kleineren Tornow-See, dann endlich tief
unten bei der größeren Waſſerfläche verweilen könnte. Möglich daß
mehr Weite dem Blick auch einen weiteren Zauber liehe; aber
auch wie es iſt, iſt es ſchön.
Der kleine Tornow hat den Charakter der ſogenannten
„Teufels-Seen“, denen man in der Mark an den Abhängen der
Hügel ſo oft begegnet. Ihr Name bezeichnet ihren Charakter. Das
Waſſer iſt ſchwarz (von Moorgrund in der Tiefe), dunkle Baum-
gruppen ſchließen es ein, breite Teichroſenblätter bilden einen Ufer-
kranz und die Oberfläche bleibt ſpiegelglatt, auch wenn der Wind
durch den Wald zieht. Es iſt als hätten dieſe dunklen Waſſer
einen beſonderen Zug in die Tiefe und als ſtünden ſie feſter,
unbeweglicher da, als das Waſſer anderer Seen. *)
So iſt auch der kleine Tornow in Erſcheinung eine Art
Hertha-See; einer jener Plätze, an denen Sage und Märchen am
[188] liebſten verweilen und von Prinzeſſinnen erzählen, die in der Jo-
hannisnacht aus dem See ſteigen und mit Teichroſen im Haar
freundlich-traurig am Ufer ſitzen.
Nicht ſo der große Tornow-See, der funfzig Fuß tiefer ſeine
breite und hellere Waſſerfläche am Fuß des Berges ausdehnt.
Ihm ſchreiten wir jetzt zu; unſer Weg dahin — die Silberkehle.
Die Silberkehle iſt eine tiefe Schlucht mit abſchüſſigen Sei-
tenwänden und führt ihren poetiſchen Namen daher, weil überall
dort, wo von Moos und Humusdecke entkleidet das eigentliche
Erdreich ſichtbar wird, eine Wand von Glimmerſand zu Tage
tritt. Dieſer Glimmerſand blitzt und glitzert wie Silber und liegt
ſo feſt auf, daß es möglich iſt, Namen und Figuren, wie in
Sandſtein hinein zu ſchneiden. Die Silberkehle hat völlig den
Charakter einer Gebirgsſchlucht, einer Bergklinſe, und zeigt auf
ihrem ganzen Lauf ein tiefausgehöhltes Bett mit den Spuren
niederſtürzender Waſſer. Feldſteine, feſt in den Sand gerammt,
Laubholzbäume rechts und links über den Weg geworfen, Spuren
von Wind und Waſſer überall. Aber heute wo wir des Weges
kommen, iſt nichts fühlbar von Waſſer und Wind. Wie eine
Mühle am Sonntag, ſo liegt die Silberkehle da, das Triebrad
ſteht ſtill, das Wehr iſt geſperrt. Erſt im Frühjahr, wenn der
Schnee ſchmilzt oder im Sommer wenn die Regengüſſe kommen,
dann wird es wieder lebendig hier. Dann jagt das Waſſer zu
Thale, dann iſt es wieder als ſchäumten und klapperten hundert
Mühlen hier, dann werden neue Bäume unterhöhlt und gefällt
und die eingerammten Steine, wie Kieſel weiter nach unten geriſſen.
Wir ſahen das Bild bei Herbſtesſtille. Nur am Fuß des
Berges plätſcherten ein paar Quellen, ſo traten wir aus der Enge
der Schlucht in’s Freie und blickten auf die Fläche des großen
See’s. Er iſt dem kleinen Tornow ſo unähnlich wie möglich. Der
kleine Tornow — willfähriger dem Schatten als dem Licht; der
große Tornow — ſonnenbeſchienen, ein Bild heitrer Ruhe. Grün-
anſteigende Ufer faſſen ihn ein, rothe Fichtenſtämme ſpiegeln ſich
im Waſſer und wenn erſt (wie beabſichtigt) der Waſſerdruck des
[189] höher gelegenen kleinen Sees benutzt ſein wird, um mitten auf
dem „großen Tornow“ einen natürlichen Springbrunnen ſteigen
zu laſſen, ſo wird dieſer Eindruck des Heiteren noch gewachſen ſein.
Am Ufer des großen Tornow-See’s erhebt ſich eine Villa,
ein Schweizerhaus. Der Erbauer, in Huldigung gegen den Ort,
an dem er den zierlichen Bau entſtehen ließ, hat ihm den Namen
„Haus Tornow“ gegeben. Das hat einen guten Klang. Stille
weilt rundum. Es iſt ein Platz für Raſt und Ruhe und wer
empfände nicht die Sehnſucht danach. Bilder ſchmücken die Zimmer
der Villa und Wein und Blumen ranken ſich an Wand und
Laubengang empor, aber der ſchönſte Blick, den „Haus Tornow“
gewährt, bleibt doch der Blick auf den See. Ein Kahn liegt bereit
und trägt uns darüber hin, leicht und glatt; dies iſt kein See
der tückiſchen Mächte. Aus der Tiefe des „kleinen Tornow“ her-
auf, könnte uns eine Hand, eine Stimme nach unten ziehn; aber
das Waſſer des großen Tornow, das eben in tauſend Tropfen
von unſerm Ruder fällt, funkelt heiter in allen Farben des Lichts.
Ein Schwarm Tauben blitzt durch die Luft, ein Reh tritt an’s
Ufer und blickt uns nach; — es weiß, es darf es wagen.
„Friede“ iſt die Parole am großen Tornow-See.
[[190]]
Das Oderbruch.
1.
Wie es in alten Zeiten war.
Die Tiefe ſelbſt verfaulte,
Schlammthiere krabbeln zahllos rings
Auf ſchlammiger Moderflut.
Freiligrath, nach Samuel Taylor Coleridge.’
Am Weſt-Ufer der Oder, nach rechts hin vom Fluſſe ſelber be-
grenzt, nach links hin von den Abhängen des Barnim-Plateau’s
wie von einem gebogenen Arm umfaßt, liegt das Oderbruch.
Es iſt eine 7 Meilen lange und etwa 2 Meilen breite Niederung,
die, ihrem Hauptbeſtandtheil nach, in ein hohes und niederes
Bruch (das Ober-Bruch und das Nieder-Bruch) zerfällt. An dieſe
beiden ſchließt ſich noch, nach Norden hin, (alſo flußabwärts) das
Mittelbruch. Dieſe Bezeichnung iſt ſchlecht gewählt und wird die
Urſache beſtändiger Verwechſelungen. Als „Mittelbruch“ vermuthet
man es zwiſchen dem Ober- und Niederbruch gelegen, während
es doch umgekehrt, am äußerſten Flügel des Bruches liegt.
Seinen Namen, der beſſer einem andern Platz machte, hat es
wahrſcheinlich daher, weil es inmitten zweier Oderarme ſich aus-
breitet. Neueren Arbeiten, namentlich dem vorzüglichen Aufſatz des
Geh. Rath Wehrmann „die Eindeichung des Oderbruches“ ent-
nehme ich, daß man angefangen hat, dieſe ſchlechte Bezeichnung
[191] „Mittelbruch“ ganz fallen zu laſſen. Man ſpricht nur noch von
einem Ober- und Niederbruch, und ſo iſt es in der Ordnung.
Ohnehin wird dadurch das Bruch in zwei ziemlich gleich große
Hälften getheilt.
Das Bruch iſt ein Bauernland, eine Art Dithmar-
ſchen*); aber adlige Güter blicken rundum, wie von hoher
Warte, in das ſchöne, fruchtbare Bruchland hinein. Eine ganze
Anzahl dieſer auf der Höhe gelegenen, altadligen Güter wer-
den wir noch in ausführlicheren Schilderungen kennen lernen;
nur ihre Namen, ſo wie die Namen der alten, zum Theil ausge-
ſtorbenen Familien, die ihnen im Lauf der Jahrhunderte zu Ruhm
und Anſehn verhalfen, mögen ſchon hier eine Stelle finden. Auch
einem neuen Namen werden wir begegnen: Albrecht Thaer.
Es wird dem Leſer, mit bloßer Hülfe dieſer Aufzählung, der
Reichthum hiſtoriſchen Lebens entgegentreten, der ſich hier, unmit-
telbar am Rande des Bruchs, auf dem Raum weniger Meilen
zuſammenfand. Ich folge der Linie von Nord nach Süd.
- Hohen-Finow (Sparr. Vernezobre).
- Cöthen und Falkenberg (von Jena).
- Freienwalde (Uchtenhagen).
- Ranft (von Marſchall).
- Möglin (Albrecht Thaer).
- Batzlow (Barfus).
- Ihlow (Ihlow oder Illo).**)
[192]
- Ringenwalde (Bredow).
- Cunersdorf und Friedland (Leſtwitz und Itzenplitz).
- Buckow (von Pfuel. von Flemming).
- Quilitz (Prittwitz. Hardenberg).
- Guſow (Derfflinger).
- Friedersdorf (Görtzke. Marwitz).
- Lietzen (Johanniter-Comthurei).
- Hohen-Jeſar (Burgsdorf).
- Reitwein (Finkenſtein).
Von allen dieſen Punkten (ſelbſt von Buckow aus, das am
meiſten zurückgelegen liegt) ermöglicht ſich ein Blick in die frucht-
bare Tiefe; dabei wechſelt der Charakter der Landſchaft ſo oft und
ſo anmuthig, daß jeder, der am Rande des Plateaus hin, etwa
von Freienwalde bis Selow, oder ſelbſt bis Frankfurt hin, dieſe
Fahrt zu machen gedenkt, einer langen Reihe der mannigfachſten
und anziehendſten Bilder begegnen wird.
Eine ſolche Fahrt auf der Höhe hin werden wir mehrfach
zu machen haben und manche dieſer Fahrten (z. B. der Weg von
Falkenberg bis Freienwalde), wird uns Gelegenheit wenigſtens zu
dem Verſuch eines Landſchaftsbildes geben; heute aber iſt es das
Bruch ſelbſt, das in der Tiefe gelegene Bauernland, das uns
ausſchließlich beſchäftigt, und wir werden abwechſelnd bei den alten
Zuſtänden dieſes Sumpflandes, dann bei ſeiner Eindeichung und
Entwäſſerung, endlich bei ſeiner Coloniſirung zu verweilen haben.
[193]
Alle noch vorhandenen Nachrichten ſtimmen darin überein,
daß das Oderbruch vor ſeiner Urbarmachung eine wüſte und wilde
Fläche war, die (vielleicht unſrem Spreewald nicht unähnlich)
von einer unzähligen Menge größerer und kleinerer Arme der Oder
durchſchnitten wurde. Viele dieſer Arme breiteten ſich aus und ge-
ſtalteten ſich zu Seen, deren manche, wie der Liepeſche bei Liepe,
der Kietzer- und der Kloſter-See bei Friedland, noch jetzt, wenn
gleich in ſehr veränderter Geſtalt, vorhanden ſind. Das Ganze hatte,
im Einklang damit, mehr einen Bruch-, als einen Wald-
Charakter, obwohl ein großer Theil des Sumpfes mit Eichen
beſtanden war. Alle Jahr ſtand das Bruch zweimal unter Waſſer,
nämlich im Frühjahr um die Faſtenzeit (nach der Schneeſchmelze
an Ort und Stelle) und um Johanni, wenn der Schnee in
den Sudeten ſchmolz und Gewitterregen das Waſſer verſtärkten.
Dann glich die ganze Ebene einem gewaltigen Landſee, aus wel-
chem nur die höher gelegenen Theile und die Horſten emporrag-
ten; ja bei ungewöhnlich hohem Waſſer wurden ſelbſt dieſe über-
ſchwemmt.
Waſſer und Sumpf in dieſen Bruchgegenden beherbergten
natürlich eine eigne Thierwelt, und was den Reichthum an Waſ-
ſer- und Sumpfthieren angeht, ſo würden die Berichte darüber
allen Glauben überſteigen, wenn nicht urkundliche Beläge dieſe
Traditionen unterſtützen. In den Gewäſſern fand man: Zander,
Fluß- und Kaulbarſe, Aale, Hechte, Karpfen, Bleie, Aaland, Zär-
then, Barben, Schleie, Neunaugen, Welſe und Quappen. Letztere
waren ſo zahlreich (z. B. bei Quappendorf), daß man die fetteſten
in ſchmale Streifen zerſchnitt, trocknete und ſtatt des Kiens zum
Leuchten verbrauchte. Die Gewäſſer wimmelten im ſtrengſten Sinne
des Worts von Fiſchen, und ohne viele Mühe, mit bloßen Hand-
netzen, wurden zuweilen in Quilitz an einem Tage über 500 Ton-
nen gefangen. In den Jahren 1693, 1701 und 1715 gab es
bei Wriezen der Hechte (die als Raubfiſche ſich dieſen Reichthum
zu nutze machten) ſo viele, daß man ſie mit Händen greifen konnte
und mit Keſchern fing. Begreiflich unter dieſen Umſtänden, daß in
13
[194] Wriezen und Freienwalde eine eigne Zunft der Hechtreißer exiſtirte.
An den Markttagen fanden ſich, aus den Bruchdörfern, hunderte
von Kähnen in Wriezen ein und verkauften ihren Vorrath an
Fiſchen und Krebſen an die dort verſammelten Händler. Ein be-
deutender Handel wurde getrieben und der Fiſch-Ertrag des Oder-
bruchs ging bis Böhmen, Baiern, Hamburg, ja (vielleicht die ge-
räucherten Aale) bis nach Italien. Kein Wunder deshalb, daß
in dieſen Gegenden, unter allem Haus- und Küchengeräth der
Fiſchkeſſel obenan ſtand und ſo ſehr als wichtigſtes Stück der
Ausſtattung betrachtet wurde, daß er, nach geſetzlicher Anordnung,
beim Todesfall der Frau und bei Erbtheilungen dem überlebenden
Gatten verblieb.
In großer Fülle lieferte die Bruchgegend Krebſe (die Oder-
krebſe ſind noch jetzt berühmt) und in manchen Jahren in ſolchem
Ueberfluß, daß man zu Colerus Zeiten, Ausgangs des 16. Jahr-
hunderts, ſechs Schock ſchöne, große Krebſe für 6 Pfennige meiß-
neriſcher Währung kaufte. Zu Küſtrin wurde von 100 Schock
durchgehender Krebſe ein Schock als Zoll abgegeben, und Colerus
verſichert, daß dieſer Zoll in einem Jahre 325,000 Schock Krebſe
eingetragen habe. Somit wären blos in dieſer einen Stadt (Küſtrin)
in einem Jahre 32½ Millionen Schock Krebſe verſteuert worden.
Im Jahre 1719 war das Waſſer der Oder, bei der großen Dürre,
ungewöhnlich klein geworden; Fiſche und Krebſe ſuchten die größ-
ten Tiefen auf und dieſe wimmelten davon. Da das Waſſer aber
von der Hitze zu warm wurde, krochen die Krebſe auf’s Land ins
Gras und wo ſie ſonſt Kühlung erwarteten, ſelbſt auf die Bäume,
um ſich unter das Laub zu bergen, von welchen ſie wie Obſt
herabgeſchüttelt wurden. Auch die gemeine Flußſchildkröte war im
Bruch ſo häufig, daß ſie von Wriezen fuhrenweiſe nach Böhmen
und Schleſien verſendet oder vielmehr abgeholt wurde.
Ein ſo lebendiges Gewimmel im Waſſer mußte nothwendig
ſehr vielen anderen Geſchöpfen eine mächtige Lockſpeiſe ſein. Schwärme
von wilden Gänſen und Enten bedeckten beſonders im Frühjahr
die Gewäſſer, unter welchen ſich häufig die Löffelente, die Quack-
[195] ente und die kleine Kriechente befanden. Zuweilen wurden in einer
Nacht ſo viele erlegt, daß man ganze Kahnladungen voll nach
Hauſe brachte. Waſſerhühner verſchiedener Art, beſonders das Bläß-
huhn, Schwäne und mancherlei andre Schwimmvögel belebten die
tieferen Gewäſſer, während in den Sümpfen Reiher (beſonders bei
Freienwalde), Kraniche, Rohrdommeln, Störche und Kibitze in un-
geheurer Zahl fiſchten und Jagd machten. Im Dorfe Letſchin trug
jedes Haus drei, auch vier Storchneſter. Rings um das Bruch
und in den Gebüſchen und Horſten im Innern deſſelben fand man
Trappen, Schnepfen, Ortolane und andre zum Theil ſelten ge-
wordene Vögel; über dem allen aber ſchwebte, an ſtillen Som-
merabenden, ein unermeßlicher Mückenſchwarm, der beſonders
die Gegenden von Freienwalde und Küſtrin in Verruf brachte.
„Sie ſchwärmten — ſo erzählt Beckmann — in ſolcher Menge,
daß man in der Luft dicke Säulen von Mücken beobachtete und
gaben ein ſolches Getöſe von ſich, daß es, wenn man nicht ſcharf
darauf achtete, klang, als würde in der Ferne die Trommel gerührt.“
Biber und Fiſchottern bauten ſich zahlreich an den Ufern an und
wurden die erſteren als große Zerſtörer der ſpäter errichteten Dämme,
die anderen als große Fiſchverzehrer fleißig gejagt; jeder konnte auf
ſie Jagd machen, worauf ſie gänzlich ausgerottet wurden.
Die Vegetation ſtand natürlich mit dem ganzen Charakter
dieſer Gegenden in Einklang: alle Waſſer- und Sumpfpflanzen
kamen reichlich vor, breite Gürtel von Schilf und Rohr faßten die
Ränder ein und Eichen und Elſen überragten das Ganze.
Im Spätſommer, wenn ſich die Waſſer endlich verlaufen hat-
ten, traten, für den Reſt des Jahres, fruchtbare Wieſen zu Tage,
und dieſe Wieſen, die ein vortreffliches Futter gaben, ſicherten,
nebſt dem Fiſchreichthum dieſer Gegenden, den Bewohnern des
Bruchs ihre Exiſtenz. Darüber hinaus ging es nicht, vielleicht des-
halb nicht, weil der enorme Reichthum an Fiſchen und Heu beides
halb werthlos machte.
Einzelne benachbarte Cavallerie-Regimenter zogen etwa um die
Mitte des vorigen Jahrhunderts von dieſem Heureichthum mehr
13*
[196] Vortheil, als die Bruchbewohner ſelbſt. Es fand noch die alte
Verordnung ihre Anwendung, daß die Escadrons-Chefs ſelber für
die Unterhaltung der Pferde Sorge tragen mußten. Daher beſtrebten
ſich die in den Nachbarſtädten, auch in der Reſidenz ſelbſt garni-
ſonirenden Rittmeiſter reſp. Obriſtwachtmeiſter, ihre Pferde in den
Bruchdörfern auf Graſung zu geben. Zu dem Ende wurden die-
ſelben auf Flößen und zuſammengebundenen Kähnen dorthin ge-
ſchafft. Hauptſächlich waren es drei Regimenter, welche die übrigen
ganz von dieſer Quelle abgeſchnitten hatten, nämlich das ſpätre
Göckingſche Huſaren-Regiment, ſowie die Gensdarmes und die
ſpäteren Pfalzbaiern-Dragoner. Zuweilen lag in einem Dorfe eine
ganze Escadron. Doch hatten die Dorfbewohner, wie ſchon ange-
deutet, wenig Vortheil von ſolcher Einquartierung, da monatlich
(wenigſtens in der Regel) nur ein Thaler Futtergeld pro Pferd
gezahlt wurde.
[[197]]
2.
Die Verwallung.
Fiſche und Heu hatten Jahrhunderte lang den einzigen Reichthum
der Oderbruchgegenden gebildet; die Bewohner hatten davon ge-
lebt, indeſſen, im Großen und Ganzen, ſelbſt in guten Jahren,
kärglich genug. Gute Jahre gab es aber nicht immer. Traf es ſich,
daß es ein Waſſerjahr war, daß die Ueberſchwemmungen weiter
gingen oder länger andauerten als gewöhnlich, ſo war Noth und
Elend an allen Enden.
Zwar wurden ſchon im 16. Jahrhundert Verſuche gemacht,
der Waſſersnoth durch Eindeichung des linken Oderufers, nament-
lich auf der Straße von Frankfurt bis Cüſtrin ein Ziel zu ſetzen,
aber alle dieſe Arbeiten waren theils auf kleinere Strecken be-
ſchränkt, theils mangelhaft in ſich. Schon unter der Regierung des
Kurfürſten Johann George (1593) hatte man mit ſolchen Verwal-
lungen den Anfang gemacht und Arbeiter aus Holland, Brabant,
Schleſien herbeigerufen; die aufgeführten Dämme (zwiſchen Reit-
wein und dem Cüſtriner Kietz) bewährten ſich aber ſchlecht, und
1613 brach die Oder von Neuem durch. Auch der große Kurfürſt
(1653) zog Oldländer (Bewohner der untern Elbe, abwärts von
Stade) und Holländer ins Land und ſpeziell auch in dieſe Bruch-
gegenden; ihre ſehr beſchränkten Mittel reichten aber natürlich nicht
aus, eine viele Meilen lange Schutzmauer aufzuführen, ohne welche
[198] die Anſtrengungen des Einzelnen in den meiſten Fällen nutzlos
bleiben mußten. Nur einige wenige Dominien, die durch kleine
Höhenzüge eines natürlichen Schutzes genoſſen und vielleicht nur
an einer ſchmalen Stelle eines Damms bedurften, waren darin
glücklicher und brachten es dahin, ſich zu einer Art Feſtung zu
machen, in die das Waſſer nicht hinein konnte.
Eine ſolche kleine Feſtung, die den Anprall des Waſſers
glücklich abgeſchlagen hatte, lernte König Friedrich Wilhelm I. ken-
nen, als ihn eine Reiherbeize, die er bekanntlich ſehr liebte, in
dem großen Ueberſchwemmungsjahre 1736 in dieſe Gegenden führte.
Der König ſah die Verheerungen, die das Oderwaſſer angerichtet
hatte, ſah aber auch zu gleicher Zeit, daß die geſchickt eingedeichten
Beſitzungen ſeines Staatsminiſters von Marſchall auf Ranft
von dieſen Verheerungen wenig oder gar nicht betroffen worden
waren. Was er in Ranft im Kleinen ſo glücklich ausgeführt ſah,
mußte bei größeren Mitteln und Anſtrengungen auf der ganzen
Strecke des Oderbruches, zwiſchen Frankfurt und Oderberg, mög-
lich ſein und energiſch, wie er an’s Werk gegangen war, um das
große havelländiſche Luch trocken zu legen, ſo war er nun nicht
minder entſchloſſen, auch das Oderbruch zu einem nutzbaren Fleck
Landes zu machen.
Der König nahm auch wirklich die Sache in Angriff und
beauftragte ſeinen Kriegsrath Harlem (einen Holländer, der ſich
ſchon durch ähnliche Waſſerbau-Arbeiten ausgezeichnet hatte), ihm
ein Gutachten einzureichen, ob das Oderbruch auf ſeiner ganzen
Strecke eingedämmt und gegen Ueberſchwemmungen geſichert wer-
den könne, oder nicht. Harlem’s Gutachten lautete dahin: „daß
das allerdings geſchehen könne; daß die Arbeit aber ſchwierig, weit
ausſehend und koſtſpielig ſei“.
Dem König ſchien dies einleuchtend, und ſo vertagte er denn
ein Unternehmen, deſſen Wichtigkeit er ſehr wohl erkannte, mit den
Worten: „Ich bin ſchon zu alt und will es meinem Sohn über-
laſſen.“
Es läßt ſich annehmen, daß Friedrich II. noch als Kron-
[199] prinz von dieſer Aeußerung ſeines Vaters Kenntniß erhielt und
Veranlaſſung daraus nahm, bald nach ſeinem Regierungsantritt,
einestheils zur Entwäſſerung, andererſeits zur Eindeichung des
Bruchs Veranſtaltungen zu treffen. Dies geſchah nach Beendigung
des zweiten ſchleſiſchen Krieges.
Der Plan zur Ausführung des Werks wurde ſehr wahr-
ſcheinlich von demſelben Manne (Kriegsrath von Harlem) entwor-
fen, der ſchon unter Friedrich Wilhelm I. ſein Gutachten in die-
ſer Angelegenheit abgegeben hatte; um aber bei einem Unterneh-
men von ſolchem Umfange möglichſt ſicher zu gehen, wurde von
Seiten des Königs noch eine beſondere Commiſſion zur örtlichen
Beſichtigung und zur Begutachtung des Unternehmens ernannt.
Es war dabei der ausdrückliche Befehl des Königs, daß der be-
rühmte Mathematiker Bernhard Euler, dazumal anweſendes Mit-
glied der Berliner Akademie der Wiſſenſchaften, an den Berathun-
gen dieſer Commiſſion Theil nehmen ſolle. Der König hatte guten
Grund nach Möglichkeit Autoritäten und berühmte Namen in dieſe
Commiſſion hineinzuziehen, da er im Voraus von dem Wider-
ſtande überzeugt war, dem er, wie immer in ſolchen Fällen, ſo
auch hier, von den Anwohnern des Bruchs, den adligen und den
bäuerlichen, begegnen würde. Etwas von der Oppoſition, die ſpä-
ter (namentlich von 1748—52) der am Rande des Oderbruches
hin reichbegüterte Markgraf Carl machte, mochte ſchon damals zu
Ohren des Königs gedrungen ſein.
Die Commiſſion ging an’s Werk und ſtattete ihren Bericht
ab. Dieſer Bericht (von Schmettau, Harlem und Euler unter-
zeichnet) iſt umfangreich, aber in Erwägung der Schwierigkeit und
Wichtigkeit der Materie verhältnißmäßig kurz gefaßt und läuft,
hinſichtlich ſeiner Vorſchläge, auf drei Hauptpunkte hinaus:
- 1. der Oder einen ſchnellen Abfluß zu verſchaffen,
- 2. die Oder mit tüchtigen Dämmen einzufaſſen,
- 3. das Binnenwaſſer aufzufangen und abzuführen.
Alle drei Aufgaben ſind im Weſentlichen gelöſt worden.
Ad 1. Um der Oder einen ſchnelleren Abfluß zu verſchaffen,
[200] wurde ihr auf der Strecke von Güſtebieſe bis Hohen-Sathen ein
neues Bett und zwar zur Abkürzung ihres Laufs gegraben.
Die Oder nahm früher, d. h. alſo vor den Arbeiten von 1746
bis 53, (7 Jahre, weshalb man von einem in der „Stille ge-
führten 7jährigen Krieg“ geſprochen hat) auf der eben angegebe-
nen Strecke einen andren Lauf als jetzt; ſie machte, ſtatt in
grader Linie weiter zu fließen, drei Biegungen, und zwar
zuerſt bei Güſtebieſe nach Weſten, dann bei Wriezen nach Norden,
endlich bei Freienwalde nach Oſten; ſo daß ſie (dreimal ein Knie
bildend) auf ihrem langen Umwege, drei Linien ſtatt einer be-
ſchrieb. Dieſem Umwege, der dem raſchen Abfluß hinderlich war,
ſollte abgeholfen werden; mit andern Worten, der Lauf des Fluſ-
ſes, der bis dahin etwa dieſe Geſtalt
gehabt hatte, ſollte durch ein neues
Bett nunmehr einfach dieſe Richtung
erhalten. Der Canal wurde gegraben und die Oder fließt ſeitdem
in einem neuen Bett, das nur 2½ Meile ſtatt 6 Meilen Länge
hat. Dies iſt die ſogenannte „neue Oder“ zwiſchen Güſtebieſe
und Hohen-Sathen. Aber das alte Bett wurde durch dieſen grad-
linigen Durchſtich, wie ſich denken läßt, nicht abſolut waſſerleer,
es blieb vielmehr Waſſer genug in der „alten Oder“, um den
verſchiednen an ihr gelegenen Städten und Dörfern mehr oder
weniger ihren alten Waſſerverkehr zu erhalten. Erſt 1832 kam
dieſer Waſſerverkehr in Gefahr. Die Verwallung, wie ſie bis da-
hin beſtand, hatte im Lauf der Jahrzehnte verſchiedene Mängel
gezeigt, und namentlich war der untre Theil des Niederbruchs,
(das ſogenannte Mittelbruch) nach wie vor, vielfachen Ueberſchwem-
mungen ausgeſetzt geweſen. Dem vorzubeugen, entwarf der Geh.
Ober-Baurath Cochius ſchon zwiſchen 1810 und 1818 einen
kühnen Plan, der darauf hinausging, die alte Oder bei Güſte-
bieſe zu ſchließen d. h. alſo einen Riegel vorzuſchieben. Dieſer
vorgeſchobene Riegel (ein Damm, eine Zuſchüttung) ſollte alles
Waſſer zwingen im Bett der neuen Oder zu bleiben und ein
[201] theilweiſes Abfließen des Waſſers in das Bett der alten Oder
unmöglich machen. Der Plan war kühn, weil die dadurch im
Bett der neuen Oder ſehr weſentlich wachſende Waſſermaſſe leicht
Gefahren (Deichbrüche) im Geleite haben konnte. Außerdem war
das Aufhören jeder Waſſerverbindung, wenn auch das Ganze da-
durch gewann, für viele Bewohner des Mittelbruchs eine wenig
wünſchenswerthe Sache. Alles wurde indeſſen glänzend hinaus-
geführt. Die wachſende Waſſermaſſe der neuen Oder ſchuf keine
Gefahren oder man wußte doch dieſen Gefahren zu begegnen, und
was ebenfalls wichtig war, eine abſolute Trockenlegung der alten
Oder erfolgte durch Vorſchiebung jenes Riegels eben ſo wenig,
wie ſie 70 Jahre früher durch Grabung des neuen Oderbettes
erfolgt war. Die Anwohner (namentlich in den Städten Wriezen
und Freienwalde, die an der alten Oder liegen) erfreuen ſich
nach wie vor einer Waſſerverbindung, da theils das Grundwaſſer,
theils ein geſchicktes, alles Waſſer ſammelndes Canalſyſtem das
Bett der alten Oder, trotz der Coupirung (Zuſchüttung) bei Güſte-
bieſe, mit Waſſer ſpeiſt. Ausbaggerungen und Tieferlegung des
Betts halfen nach.
Man darf ſagen, daß ſich die Herſtellung eines gradlinigen
und dadurch verkürzten Oderbetts („die neue Oder“) in allen
Punkten bewährt hat, nur vielleicht in dem einen nicht, den
man dabei zunächſt und vorzugsweiſe im Auge hatte. Man hatte,
wie ſchon angedeutet, von dieſem neuen, kürzeren Bett, eine Ver-
beſſerung des Oderfahrwaſſers überhaupt erwartet, man hatte ge-
hofft, das raſche Fließen des Waſſers an dieſer Stelle werde das
Flußbett vertiefen, den Strom einengen, concentriren und dadurch
die Stromkraft ſteigern. Dies alles iſt wenig oder gar nicht in
Erfüllung gegangen. Der vielfach verſandete Fluß iſt nach wie
vor mehr breit als tief, die Schifffahrt nach wie vor ſchwierig
(oft ganz unterbrochen) und ſogar die Canal-Anlage ſelbſt hat
ihren urſprünglichen Charakter zum Theil verloren und iſt breiter,
aber flacher und ſandiger geworden.
Ad 2. Die zweite Aufgabe war, die Anlegung von „tüch-
[202] tigen Dämmen.“ Das ſogenannte Ober-Bruch, wie wir geſehen
haben, hatte ſolche Dämme ſchon. Es handelte ſich jetzt um Ein-
dämmung des Nieder-Bruchs, eine Aufgabe, die dadurch ſo
complicirt wurde, daß es hier nicht nur galt, den jetzigen Oder-
ſtrom auf ſeiner Strecke von Cüſtrin bis Sathen an einer Seite
(das neumärkiſche Ufer hat Berge), ſondern vor allem die in wei-
ten Windungen ſich durch das Land ziehende „alte Oder“ an
beiden Seiten einzudämmen. Große Anſtrengungen und große
Geldſummen waren dazu erforderlich. Endlich glückte es. Die Ge-
ſammtſtrecke der hier im Nieder-Oderbruche angelegten Deiche be-
trägt über zehn Meilen. Dieſe Deiche waren nicht gleich Anfangs
was ſie jetzt ſind, weder an Höhe noch Feſtigkeit. So kam es,
daß auch nach Anlage derſelben verſchiedne große Ueberſchwem-
mungen ſtattfanden, z. B. 1786 und 1838. Auch jetzt noch iſt
die Möglichkeit ſolcher Ueberſchwemmungen nicht ausgeſchloſſen;
ein Dammbruch kann ſtattfinden oder die Höhe des Waſſers (wie
1854 und 1862 nahezu geſchah) kann die Höhe der Dämme
überſteigen. Indeſſen verringert ſich dieſe Möglichkeit von Jahr zu
Jahr, da die Dämme wie Feſtungen, die nach immer verbeſſerten
fortifikatoriſchen Prinzipien gemodelt werden, alljährlich an Aus-
dehnung und Widerſtandskraft gewinnen.
Ad 3. Die dritte Aufgabe war, das Binnenwaſſer abzu-
fangen. Dies war kaum minder wichtig als die Anlegung der
Dämme. Die Dämme ſchützten gegen die von außen her herein-
brechenden Fluthen; aber ſie konnten nicht ſchützen gegen das
Waſſer, das theils ſichtbar im Bruche (in Sümpfen, Pfuhlen
und ſogenannten „faulen Seen“) daſtand, theils als Grund-
waſſer unter dem Erdreich lauerte, jeden Augenblick bereit, zu
wachſen und an die Oberfläche zu treten. Um dieſem Uebelſtande
abzuhelfen, ohne den eine eigentliche Trockenlegung nicht mög-
lich war, bedurfte es eines ausgedehnten Canalſyſtems. Auch
ein ſolches wurde geſchaffen. Zahlloſe Abzugsgräben, kleine und
große und unter den verſchiedenſten Namen, wurden gegraben, die
alle in den ſogenannten „Landgraben“ mündeten und mittelſt deſ-
[203] ſelben bei Wriezen und Freienwalde vorbei in die Oder geführt
wurden. Zum Theil ſind es auch wohl dieſe Gräben, die das
tiefer gelegene Bett der „alten Oder“ mit Waſſer ſpeiſen und
daſſelbe vor völligem Austrocknen ſchützen. Dies ganze Canal-
ſyſtem, eben ſo wie die Verwallung, iſt im Lauf der Jahrzehnte
vielfach verbeſſert worden und weite Strecken, die noch vor 25 Jah-
ren nur eine unſichere Heuerndte gaben, zeigen jetzt um die Som-
merzeit die ſchönſten Raps- und Gerſtenfelder.
Noch vor Ausbruch des 7jährigen Krieges war alles We-
ſentlichſte der Arbeiten beendet*). Niemand ahnte damals, was im
Lauf der Zeit durch den Einfluß von Luft und Sonne, durch den
Fleiß der Bewohner, durch Verſtärkung der Dämme, durch
Erweiterung und beſſere Richtung der Abzugsgräben, aus dieſem
Landestheile werden würde; — man hielt es überwiegend nur
zum Graswuchs und zur Weide geeignet. Der Brief eines Rei-
ſenden, der das Bruch im Jahre 1764 paſſirte, giebt Auskunft
darüber. Der Brief lautet:
„So angenehm auch dieſe Gegend geworden (denn es iſt
die ebenſte Pläne, die Wege mit Weiden beſetzt, wie auch die
Deiche, und zwar mit mehreren Reihen, nicht nur auf dem
Kamm, ſondern auch auf der Böſchung zu beiden Seiten, da-
mit ſie von den verwachſenen Wurzeln eine mehrere Feſtigkeit
bekommen), ſo haben die neuen Dörfer doch mehrfach ſchon
durch Ueberſchwemmung gelitten, ſo daß man mit Kähnen die
Einwohner retten, oder ihnen doch, da ſie auf die Böden ihrer
Häuſer geflüchtet, zu Hülfe kommen mußte. Der eingedeichte
Acker dürfte wohl mit der Zeit der Wiſche in der Altmark ähn-
[204] lich werden; aber noch iſt er es nicht..... In den erſten Jah-
ren gab der Roggen faſt gar kein Mehl, ſondern lauter Kleie,
und die Gerſte taugte gar nicht zu Malz, weil es lauter La-
gerkorn geweſen war.“
Seitdem iſt es unſer eigentliches Gerſtenland geworden.
Neuerdings (neben Gerſte, Raps, Weizen und den feineren Kräu-
tern) blüht die Rüben-Cultur. Große Zuckerfabriken exiſtiren auf
den Aemtern, und immer neue Unternehmungen treten ins Leben.
Der Anblick dieſer fruchtbaren Landestheile aber ruft immer wie-
der die Worte des großen Königs in unſer Gedächtniß zurück:
„Hier hab ich im Frieden eine Provinz erobert.“
[[205]]
3.
Die alten Bewohner.
Das Oderbruch — oder doch wenigſtens das Niederbruch, von
dem wir im Nachſtehenden ausſchließlich ſprechen — blieb ſehr
lange wendiſch. Wahrſcheinlich waren alle ſeine Bewohner bis zur
Mitte des vorigen Jahrhunderts von ziemlich unvermiſchter wendi-
ſcher Abſtammung. Die deutſche Sprache war eingedrungen (es
iſt nicht feſtzuſtellen wann), aber nicht das deutſche Blut. Die
Gegend war auch nicht dazu angethan, zu einer Ueberſiedlung ein-
zuladen. Ackerland gab es nicht, deſto mehr Ueberſchwemmungen
und der Fiſchfang, den die Wenden, wenigſtens in dieſen Gegen-
den, vorzugsweiſe betrieben, hatte nichts Verlockendes für die Deut-
ſchen, die zu allen Zeiten entweder den Ackerbau oder die Meer-
fahrt, aber nicht den Fiſchfang liebten. Dazu kam, daß die alten
Wenden, wie es ſcheint, von ſehr nationaler und ſehr excluſiver
Richtung waren und den wenigen deutſchen Coloniſten, die ſich
hier niederließen (z. B. unter dem großen Kurfürſten), das Leben
ſo ſchwer wie möglich machten.
Ueber die Art nun, wie die wendiſchen Bewohner hier leb-
ten, wiſſen wir wenig, und das beſte Theil unſrer Kenntniß ha-
ben wir aus Vergleichen und Schlußfolgerungen zu ſchöpfen. Di-
[206] rektes iſt nicht da, oder noch nicht aufgefunden, und kein Haus
oder Gehöft exiſtirt, das — einen beſtimmten Anhaltepunkt bie-
tend — bis in die Wendenzeit, trotzdem dieſe lange Zeit hindurch
ihr Daſein hier friſtete, zurückreichte. In der That, alles was
im Bruche lebte, war nur Außenpoſten, oft auch (wenigſtens
moraliſch genommen) verlorner Poſten, der mehr und mehr unter
deutſche Cultur gerathenen Randdörfer, zu denen ſich die Bruch-
dörfer, ihrer Mehrzahl nach, wie die verachteten „Kietze“ zu den
deutſch gewordenen Städten verhielten. Die damals reicheren, halb-
germaniſirten Dörfer „auf der Höhe“, kümmerten ſich wenig um
dieſe ihre wendiſchen Bruch-Anhängſel (die Sumpf-Stationen
oder Wieſenvorwerke waren), und dieſes ſich nicht um ſie küm-
mern, bewahrte ihnen natürlich gewiſſe alt-wendiſche Eigenthüm-
lichkeiten. Aber freilich dieſe Indifferenz wurde gleichzeitig auch die
Urſach, daß Niemand ſich der Mühe unterzog, über dieſe mehr
und mehr von deutſchen Elementen eingeſponnene Wenden-Inſel
beſtimmte Aufzeichnungen zu machen. Ein geübtes Auge würde
vielleicht auch heute noch in der aus den verſchiedenſten Elementen
gemiſchten Bevölkerung der Bruchdörfer, eine Fülle ſpeziell wen-
diſcher Eigenthümlichkeiten herausleſen können; es gehört aber
dazu eine ſo exakte Kenntniß der verſchiedenen ſlaviſchen und deut-
ſchen Stammes-Eigenthümlichkeiten, daß ich es nicht wage, mich
in ſolche Scheidungen und Beſtimmungen einzulaſſen.
Ich gebe zunächſt nun das Wenige, was ich über die alten
wendiſchen Bruchdörfer und ihre Bewohner als direkte Schil-
derung aus älterer Zeit her habe auffinden können.
„Die Dörfer im Bruch — ſo ſagt eine in Buchholtz Ge-
ſchichte der Churmark Brandenburg abgedruckte Schilderung (Vor-
rede zu Band II.) — lagen vor der Eindeichung und Neu-Be-
ſetzung dieſes ehemaligen Sumpflandes auf einem Haufen mit
ihren Häuſern (d. h. alſo weder vereinzelt, noch in lang-
geſtreckter Linie) und waren meiſtens von gewaltigen, häuſer-
hohen Wällen — von Kuhmiſt aufgeführt — umzingelt, die ih-
nen Schutz vor Wind und Wetter und vor den Waſſerfluthen
[207] im Winter und Frühling gewährten und den Sommer über zu
Kürbisgärten dienten. Den übrigen Miſt warf man aufs Eis oder
ins Waſſer und ließ ihn mit der Oder forttreiben. Einzeln lie-
gende Häuſer (wie jetzt) gab es im Bruche nicht ein einziges.
Im Frühling, und ſonderlich im Mai, pflegte die Oder die
ganze Gegend zu 10 bis 12, bis 14 Fuß hoch zu überſchwem-
men, ſo daß zuweilen das Waſſer die Dörfer durchſtrömte
und niemand anders als mit Kähnen zu dem andern
kommen konnte.“ (Dafür, daß das ganze Bruch damals ſehr
oft unter Waſſer ſtand und keine andre Communikation, als mit-
telſt Kahn zuließ, ſpricht auch die Einleitung zu der vorſtehenden
Schilderung. Dieſe lautet: „Ich habe das Bruch unzählige Mal
durchreiſt, ſowohl ehedem zu Waſſer, als auch jetzt, nachdem es
urbar gemacht worden iſt, zu Lande.“)
Dieſe Beſchreibung, kurz wie ſie iſt, iſt doch das Beſte und
Zuverläſſigſte, was ſich über den Zuſtand des Bruchs, wie es vor
der Eindeichung war, beibringen läßt. Der neumärkiſche Geiſtliche,
von dem die Schilderung herrührt, hatte die alten Zuſtände wirk-
lich noch geſehn, und ſo wenig das ſein mag, was er in dieſer
ſeiner Beſchreibung beibringt, es giebt doch ein klares und be-
ſtimmtes Bild. Wir erfahren aus dieſem Briefe dreierlei: 1. daß das
Bruch den größten Theil des Jahres über unter Waſſer ſtand und
nur zu Waſſer paſſirbar war; 2. daß auf den kleinen Sandinſeln
dieſes Bruchs Häuſergruppen („in Haufen“ ſagt der Briefſchrei-
ber) lagen, die uns alſo die Form dieſer wendiſchen Dörfer ver-
anſchaulichen; und 3. daß es kleine ſchmutzige Häuſer (entweder
aus Holzblöcken aufgeführt, oder ſogenannte Lehmkathen)
waren, die meiſtens von Kuhmiſt-Wällen gegen das andrin-
gende Waſſer vertheidigt wurden.
Man hat dies Bild durch die Hinzuſetzung vervollſtändigen
wollen, „daß alſo, nach dieſem allem, die alten wendiſchen Bruch-
dörfer den noch jetzt exiſtirenden Spreewalddörfern muthmaßlich
ſehr ähnlich geweſen wären“ und wenn man dieſe Aehnlichkeit auf
den Grundcharakter der Dörfer, d. h. auf ihre Art und nicht
[208] auf das Maaß der Erſcheinung bezieht, ſo wird ſich gegen einen
ſolchen Vergleich wenig ſagen laſſen. Die Spreewäldler ſind Wen-
den bis dieſen Tag; ſie leben zwiſchen Waſſer und Wieſe, wie
die Oderbrücher vor 100 Jahren, und ziehen einen weſentlichen
Theil ihres Unterhalts aus Heumaht und Fiſchfang; ſie leben in
ſtetem Kampf mit dem Element; ſie unterhalten ihren Verkehr
ausſchließlich mittelſt Kähnen (der Kahn iſt ihr Fuhrwerk), und
ihre Blockhäuſer (z. B. in den zwei Muſterdörfern Lehde und
Leipe) ſind bis dieſen Tag von Kuhmiſtwällen eingefaßt, die,
ganz nach dem Bericht unſres neumärkiſchen Geiſtlichen, halb zum
Schutz gegen das Waſſer, halb zu Kürbisgärten dienen. Daß der
Spreewäldler jetzt ſtatt der Kürbiſſe die beſſer rentirenden Gur-
ken ꝛc. zieht, macht keinen Unterſchied. Auch die wendiſche Tracht
der Spreewäldler entſpricht den Reſten wendiſcher Tracht, die ſich
in einigen Oderbruchdörfern erhalten haben und von denen ich
noch zu erzählen haben werde.
So weit reicht die Aehnlichkeit. Es iſt, wie ſchon angedeutet,
eine Aehnlichkeit innerhalb der Gattung, der Art, und es läßt
ſich annehmen, daß dieſe Aehnlichkeit eine beinah vollſtändige ſein
würde, wenn wir den Spreewald und ſeine Bewohner noch in
ſolcher Geſtalt ſehen könnten, wie ſie vor 100 Jahren waren.
Dieſe hundert Jahre aber haben auch den Spreewald, trotzdem
er wendiſch blieb, in ſeiner Erſcheinung verändert, wenigſtens,
wie ſchon hervorgehoben, dem Maaß, wenn auch nicht der Art
der Dinge nach. Das in Berührung kommen mit einer höhren
Cultur, pflegt, je nach den Verhältniſſen, die ſie vorfindet, eine
ſehr verſchiedne, faſt entgegengeſetzte Wirkung zu üben. Entweder
ſie überwuchert und tödtet das Alte (was im Oderbruch geſchah)
oder ſie belebt und veredelt umgekehrt und zeigt ihre Wirkſamkeit
nur darin, daß ſie das, was ſie vorfindet, ohne es in ſeinem We-
ſen zu verändern, einfach auf eine höhere Stufe hebt. So ge-
ſchah es im Spreewald. Daß der letztere einer maſſenhaften
deutſchen Coloniſirung, wie ſie im Oderbruche ſtattfand, ebenfalls
nicht widerſtanden hätte, verſteht ſich von ſelbſt. Ein Vergleich
[209] zeigt übrigens vielleicht am beſten, wie ich obigen Satz verſtanden ha-
ben möchte. Der wendiſche Oderbruchsrock und der wendiſche Spree-
waldsrock waren in Schnitt und Stoff vor hundert Jahren
vielleicht dieſelben. Der wendiſche Oderbruchsrock iſt ſeitdem ver-
ſchwunden, er exiſtirt nicht mehr, weder ſeinem Schnitt noch ſei-
nem Stoff nach; die eindringende deutſche Cultur hat ihn, wenn
dieſer Ausdruck geſtattet iſt, dem Lande ausgezogen. Nicht ſo
im Spreewald. Hier blieb der Schnitt des Rocks, worin ſeine
Eigenart beſteht, nach wie vor derſelbe; aber der Stoff wurde
feiner, und würde es möglich ſein, einen ſolchen Spreewaldsrock
von heute mit einem Oderbruchsrock von damals zu vergleichen,
ſo würde das ohngefähr veranſchaulichen, worin das alte Oder-
bruch dem jetzigen Spreewald ähnlich und worin es von ihm ver-
ſchieden war.
Der oben mitgetheilte Brief hat uns ziemlich anſchaulich die
Lokalität der Oderbruchdörfer gegeben; die Frage bleibt noch, wie
waren die Bewohner (über deren Beſchäftigung kein Zweifel ſein
kann) nach Charakter, Sitte, Tracht.
Wie gut auch das Zeugniß iſt, das jetzt noch an einigen
Stellen des Oderbruchs, den Ueberreſten der wendiſchen Bevölke-
rung, im Gegenſatz zu den „Pfälzern“ ausgeſtellt wird, ſo iſt es
doch nicht ſehr wahrſcheinlich, daß es, vor hundert Jahren und
drüber, mit dieſen von der Welt abgeſchnittenen, von jeder Idea-
lität losgelöſten Exiſtenzen, etwas beſonderes auf ſich gehabt habe.
Es waren vielleicht gut geartete, aber jedenfalls rohe, in Aber-
glauben und Unwiſſenheit befangene Gemeinſchaften,*) die trotz
14
[210] ihres chriſtlichen Bekenntniſſes mit den alten Wendengöttern nie recht
gebrochen hatten. Der Aberglaube hatte in dieſen Sümpfen eine
wahre Brutſtätte. Kirchen gab es zwar in ein oder zwei dieſer
Dörfer, aber der Geiſtliche erſchien nur alle 6 oder 8 Wochen,
um eine Predigt zu halten und der Verkehr mit den glücklicheren
Randdörfern oder gar mit den Städten (wohin ſie eingepfarrt
waren) war durch Ueberſchwemmungen und grundloſe Wege er-
ſchwert. Man darf mit nur allzu gutem Rechte behaupten, daß
die Brücher in allem, was geiſtlichen Zuſpruch und geiſtiges Leben
anging, von den Broſamen lebten, die von des Herren Tiſche fie-
len. Die Todten, um ihnen eine ruhige Stätte zu gönnen (denn
die Fluthen hätten die Gräber aufgewühlt), wurden nach Wriezen
hin, oder auf den Höhe-Dörfern begraben und die Taufe der Kin-
der erfolgte, vielleicht 4 oder 6 mal des Jahres, in ganzen Trupps.
Es wurden dann Boten nach der benachbarten Stadt abgefertigt,
welche den ganzen Trupp dem dortigen Geiſtlichen zur Taufe zu
überbringen hatten, wobei es ſich nicht ſelten zutrug, daß von die-
ſen, in großen Körben transportirten Kindern, das eine oder
andre auf der Ueberfahrt ſtarb.
Die geiſtige Speiſe, die geboten wurde, war ſpärlich und die
leibliche nicht minder; Korn wurde wenig oder gar nicht gebaut,
die Kartoffel war noch nicht gekannt, oder, wo ſie gekannt war,
als Feind und Eindringling verabſcheut; ein Weniges an Gemüſe
gedieh auf den „Kuhmiſtwällen“, ſonſt — Fiſch und Krebſe und
Krebſe und Fiſch. Seuchen konnten nicht ausbleiben; dennoch wird
eigens berichtet, daß ein kräftiger Menſchenſchlag (wie jetzt noch)
hier heimiſch war und daß Leute von 90 und 100 Jahren nicht
zu den Seltenheiten zählten.
Ein hervorſtechender Zug der Wenden, z. B. auch der Spree-
wald-Wenden, iſt ihre Heiterkeit und ihre ausgeſprochene Vorliebe
*)
[211] für Muſik und Geſang. Ob eine ſolche Vorliebe auch bei den
Wenden des Oderbruchs zu finden war? möglich, aber nicht wahr-
ſcheinlich. Eins ſpricht entſchieden dagegen. Volkslieder haben ein
langes Leben und überdauern Vieles; aber nirgends im Bruch,
auch in jenen Randdörfern nicht, die ſich noch einer vorwiegend
wendiſchen Abſtammung rühmen, begegnet man alten Volkswei-
ſen; ſie ſingen was andren Orts geſungen wird; keine Spur wen-
diſcher Eigenart, woraus ſich ſchließen läßt, daß überhaupt wenig
davon vorhanden war.*)
14*
[212]
Das Einzige, was ſich, ähnlich wie im Altenburgiſchen, auch
hier im Bruche, länger als jede andre Spur nationalen Lebens
erhalten hat, iſt die Tracht. Ueber dieſe noch ein paar Worte.
Wir begegnen ihr nicht inmitten des Bruchs, wo doch das
Wendenthum bis 1747 ſich wahrſcheinlich ziemlich unvermiſcht er-
halten hatte, ſondern am Rande des Bruchs, wo die Berührung
mit der deutſchen Cultur doch ſchon durch Jahrhunderte hin ſtatt-
gefunden hatte. Aber dies darf nicht überraſchen. Dieſe Berührung
blieb in den Randdörfern eine ſpärliche, mäßige, wie ſie es immer
geweſen war, während das, durch Jahrhunderte hin, wendiſch in-
takt erhaltene Centrum des Bruchs, als dieſe Berührung über-
haupt einmal begonnen hatte, durch Maſſen-Einwanderung ſolche
Dimenſionen annahm, daß das Wendenthum in kürzeſter Friſt
darunter erſticken mußte. Die Gäſte wurden die Wirthe und gaben
nun den Ton an. Anders, wie ſchon angedeutet, in den Rand-
dörfern, wenigſtens in einzelnen derſelben. Hier am Südweſtrande
des Bruchs, in einem Winkel, den man, um ihn kurz und cha-
rakteriſtiſch zu bezeichnen, den Derfflingerſchen-Winkel nennen
könnte, liegen noch einige Dörfer, drin ſich die alte wendiſche
Tracht, oder doch Ueberreſte davon, bis auf dieſen Tag erhalten
haben. In Vollſtändigkeit exiſtirt ſie nur noch in Quilitz oder
Neu-Hardenberg.
Dieſe Tracht, übrigens nur noch bei den Frauen wendiſch-
national, beſteht aus einem kurzen rothen Friesrock mit etwa hand-
breitem gelbem Rand; aus einem beblümten, dunkelfarbigen, vorn
ausgeſchnittenen Leibchen und aus einem weißen Hemd, deſſen
Aermel bis zum Mittelarm reichen, während Latz und getollter
Kragen über Bruſt und Nacken fallen; dazu Kopftuch und Schürze.
Die Tracht iſt Alltags und Sonntags dieſelbe und nur im Stoff
verſchieden. Alltags: blaue beblümte Cattun- oder Leinwandſchürze
und Kopftuch von demſelben Zeug; Sonntags: weiße Schürze und
*)
[213]ſchwarzſeidnes Kopftuch. Der rothe Friesrock iſt das ſtändige
und die Schürze iſt jedesmal um eine Handbreit länger
als der Rock. Wie Alltag oder Sonntag, macht natürlich auch
arm oder reich einen Unterſchied. Bei den Armen legt ſich der
Friesrock in wenige, bei den Reichen in viele Falten und er er-
reicht ſeine Höhe (wenigſtens ſprüchwörtlich, gezählt habe ich ſie
nicht), wenn er ſo viele Falten hat, wie Tage im Jahre. Auch
das Leibchen iſt ſeinem Stoff nach verſchieden: Cattun, Tuch,
Mancheſter (der letztere ein ſehr bevorzugter Stoff) wechſeln ab,
aber immer dunkelfarbig und immer beblümt. Weiße Zwickelſtrümpfe
vollenden den Anzug und maſſive ſilberne Ohrgehänge ſind beliebt.
Dieſe wendiſche Tracht nimmt ſich höchſt maleriſch aus und
iſt ſo ziemlich die kleidſamſte unter allen Nationaltrachten, die mir
in den verſchiednen Theilen Deutſchlands vorgekommen ſind. Es
iſt damit durchaus kein übertriebnes Lob geſpendet, da dieſe Na-
tionaltrachten, ſo ſehr wir ſie lieben und ſo ſehr wir ihrer Con-
ſervirung das Wort reden möchten, doch vielfach nichts weniger
als ſchön zu nennen ſind. Oft ſind ſie entſchieden häßlich. Wir
erinnern nur an die Altenburgerinnen, die wie ſteif ausgeſtopfte
Bachſtelzen einherſchreiten. Alle dieſe Nationaltrachten indeß, ob
ſchön oder häßlich, ſind meiſt ſehr koſtſpielig zu beſchaffen und die-
ſer Umſtand hat entſchieden mitgewirkt, der ſtädtiſchen Mode, oder
mit andern Worten, dem billigen Cattunkleide den Eingang zu
verſchaffen. Auch in Quilitz — das, nachdem es dem Staats-
kanzler, Fürſten Hardenberg, als Dotation zugefallen war, den
Namen Neu-Hardenberg erhielt — würden wir höchſt wahrſchein-
lich daſſelbe erlebt haben, wenn nicht jener moraliſche Zwang, den
die Ausſicht auf Gewinn und jeglichen Vortheil übt, zu einer
halbkünſtlichen Conſervirung der alten Sitte geführt hätte. Schon
der Fürſt-Staatskanzler, der ein feines Auge für derlei Dinge
hatte, hielt darauf, daß die Frauen und Mädchen des Dorfs in
der alten maleriſchen Tracht vor ihm erſcheinen mußten und jede
Magd, die einen Dienſt im Schloſſe will, kann ihn, auch jetzt
noch, nur antreten, wenn ſie ſich zu Mieder, Kopftuch und Fries-
[214] rock bequemt. Ohne dieſen Zwang, würde ſich auch Quilitz ſchwer-
lich noch einer Auszeichnung erfreun, die jetzt allmälig wieder
einen Corpsgeiſt, ein gewiſſes Selbſtgefühl herauszubilden und
mittelſt deſſelben, dem zunächſt künſtlich erhaltenen, neue lebendige
Wurzeln zu geben beginnt.
Dem geſammten Oderbruch (deutſch oder wendiſch) iſt, als
Hinterlaſſenſchaft aus der Zeit wendiſcher Tracht her, nur das
ſchwarze ſeidne Kopftuch geblieben, das, durch die Art, wie es
getragen wird, ſo außerordentlich kleidſam erſcheint, und jedem ju-
gendlichen Geſichte gut ſtehend, die Oderbrücherinnen (zum Theil
ſehr unverdient) in den Ruf gebracht hat, beſondere Schönheiten
zu ſein.
[[215]]
4.
Die Coloniſirung und die Coloniſten.
Die umfangreichen Arbeiten (Siehe S. 199), die unter Friedrich dem
Großen von 1746 bis 53 ausgeführt wurden, kamen dem ge-
ſammten Oderbruche zu ſtatten; in beſonderem Maaße aber doch
nur einem Theil deſſelben, dem Niederbruch. Dies war auch
Zweck. Das Oberbruch zwiſchen Frankfurt und Cüſtrin war
längſt unter Cultur *); das ſumpfige Niederbruch, zwiſchen
Cüſtrin und Freienwalde, war der Cultur erſt zu erobern.
Dieſe Eroberung des Niederbruchs, mit dem wir uns hier,
wie ſchon im vorigen Kapitel angedeutet, ausſchließlich beſchäftigen,
[216] geſchah, wie ich in dem Kapitel „Die Verwallung“ (S. 197 bis
204) gezeigt habe a) durch das neue Oderbett, b) durch die Ein-
deichung, c) durch Abzugscanäle.
Das Niederbruch, vor Ausführung dieſer Arbeiten, war
ein 3 bis 4 □Meilen großes Stück Sumpfland, auf deſſen
wenigen, höher gelegenen Sandſtellen 8 kümmerliche Dörfer lagen.
Dieſe 8 Dörfer waren:
- Reetz, Meetz,
- Lebbin, Trebbin,
- Großbaaren, Kleinbaaren,
- Wuſtrow und Alt-Wriezen.
So, wie hier aufgeführt, wurden dieſe 8 Dörfer früher geſchrieben.
Die Rechtſchreibung der Namen iſt ſeitdem zum Theil eine andre
geworden: Meetz iſt Medewitz, Lebbin iſt Lewin, Großbaaren
und Kleinbaaren iſt Groß- und Klein-Barnim. In der Volks-
ſprache aber leben die alten Namen oder richtiger vielleicht lebt die
alte Ausſprache noch fort. Man ſagt noch Meetz, Lebbin und
jedenfalls Groß- und Klein-Baaren.
Dieſen acht kümmerlichen Fiſcherdörfern zu liebe, war nun
natürlich, ſeitens des großen Königs, die Entwäſſerung von 3 oder
4 Quadratmeilen Sumpfland nicht vorgenommen worden, um ſo
weniger als der König wohl wußte, daß die Reetzer und Meetzer
Fiſcher, wenn er ihnen auch das ganze entwäſſerte Land mühlos
zu Füßen gelegt hätte, doch nach Art ſolcher Leute, nur über den
Verluſt ihrer alten Erwerbsquellen (Heumaht und Fiſcherei) geklagt
haben würden. Dieſe 8 Fiſcherdörfer kamen alſo nicht in Betracht,
weder mit ihren Klagen, die nicht ausblieben, noch etwa mit ihren
Anſprüchen.
Der König hatte durch ſeine Mittel das Land gewonnen
und vertheilte das Gewonnene daher nach ſeinem Belieben. Einen
weſentlichen Theil behielt er ſelbſt (Königlicher Antheil), den Reſt
erhielten die angrenzenden Städte und Rittergüter, Einiges auch
die alten Bauerndörfer. Das gewonnene Land betrug im Ganzen
etwa 130,000 Morgen, auf welches nun, wie man ſonſt Bäume
[217] pflanzt oder einſetzt, 1300 Familien „angeſetzt“ wurden. Das
geſchah in 43 neugegründeten Coloniſtendörfern. Die Gründung
dieſer Coloniſtendörfer war Sache des Königs auf dem Königlichen
Antheil, Sache der Städte und Rittergüter auf den Antheilen,
die dieſen zugefallen waren. So entſtanden königliche, ſtädtiſche
und adlige Coloniſtendörfer.
Die königlichen Coloniſtendörfer waren von Anfang an die
größten und wichtigſten und ſind es wohl auch geblieben. Mit
Ausnahme von Herrenhof und Herrenwieſe führen ſie ſämmtlich
die Namen alter Bruch- und Uferdörfer, denen nur, zur Unter-
ſcheidung, die Sylbe „Neu“ hinzugefügt worden iſt. Es ſind
folgende:
- Neu Lewin.
- Neu Barnim.
- Neu Trebbin.
- Neu Kiez.
- Neu Küſtrinchen.
- Neu Glietzen.
- Neu Lietzegörike.
- Neu Medewitz.
- Neu Reetz.
- Neu Rüdnitz.
- Neu Tornow.
- Neu Wuſtrow.
Die meiſten Coloniſten wurden in den drei erſtgenannten
Dörfern, in Neu Barnim, Neu Lewin und Neu Trebbin
angeſetzt und ſind dieſe drei Ortſchaften auch die größten und
wichtigſten geblieben. Die beiden erſten haben weſentlich über 1000,
Neu-Trebbin beinah 2000 Einwohner.
Werfen wir noch einen Blick auf jene erſten Jahre nach der
Trockenlegung des Bruchs. 1300 Coloniſten-Familien ſollten an-
geſetzt werden, vielleicht waren auch die Häuſer dazu (urſprünglich
bloße Hütten, die in den Stielen eine Höhe von kaum 7 Fuß
hatten) vorweg bereits aufgeführt, aber die Herbeiſchaffung von
1300 Familien war nichts Leichtes. Eine eigne „Kommiſſion zur
Herbeiſchaffung von Coloniſten wurde eingeſetzt und dieſe Kommiſ-
ſion ließ durch alle preußiſche Geſandſchaften „fleißige und arbeit-
ſame Ausländer“ zum Eintritt in die preußiſchen Staaten einladen.
Dieſe Einladungen hatten in der That Erfolg; an Verſprechun-
gen wird es nicht gefehlt haben. So kamen Pfälzer, Schwaben,
Polen, Franken, Weſtphalen, Voigtländer, Mecklenburger, Oeſtrei-
[218] cher und Böhmen, die größte Anzahl aus den drei erſt genannten
Ländern. Neu-Barnim iſt eine Pfälzer-Colonie, ebenſo Neu-Trebbin.
Neu-Lewin wurde mit Polen, auch wohl mit Böhmen, jedenfalls
mit ſlaviſchen Elementen beſetzt. Dieſe Unterſchiede zeigen ſich zum
Theil noch in Erſcheinung und Character der Bewohner. In den
Pfälzer-Dörfern begegnet man einem mehr blonden, in Neu-Lewin
einem mehr brünetten Menſchenſchlag. Auch von der Ausgelaſſenheit
und dem leichten, lebhaften Sinn der Pfälzer hört man erzählen.*)
Jede Familie erhielt 90, 60, 45, 20 und ein größerer Theil
10 Morgen Ackers von dem entwäſſerten Boden, bei welcher Ver-
theilung man, wie billig, auf die Stärke der Familie und die
Größe des Vermögens Rückſicht nahm. Jegliche Religionsausübung
war frei. Der König ließ ſechs neue Kirchen bauen, ſetzte vier
Prediger, zwei reformirte und zwei lutheriſche ein und gab jedem
Dorf eine Schule. Der Unterricht war frei; Pfarre und Schule
erhielten Ländereien. Noch andre Vortheile wurden den Anſiedlern
gewährt. Allen denen, die ſich niederließen, ward eine vollſtändige
Freiheit von allen Laſten auf 15 Jahre gewährt, wie ſie denn
[219] auch (kein geringes Vorrecht in jenen Tagen) für ihre Perſon,
ſammt Kind und Kindeskind von aller Werbung frei
waren. Dem König, wie wohlbekannt, lag vor allem daran, ſeine
dünn beſäten Staaten reicher bevölkert zu ſehen. Nach der Ver-
theilung der Ländereien blieben ihm noch 20,000 Morgen, im
Hinblick auf welche ein benachbarter Gutsbeſitzer dem Könige den
Rath gab, „daß ſich vorzügliche Domainen-Vorwerke daraus wür-
den bilden laſſen.“ Der König ſah den Rathgeber durchdringen-
den Blickes an und bemerkte dann ſcharf: „wäre ich, was Er iſt,
ſo würd’ ich auch ſo denken; da ich aber König bin, ſo muß ich
Unterthanen haben.“ Er gab auch dieſe 20,000 Morgen
noch fort.
Die Coloniſten waren nun angeſetzt und die Urbarmachung
begann. Das nächſte, was der Trockenlegung folgte, war die Aus-
rodung. Dieſe Ausrodung führte in den erſten Jahren zu ſelt-
ſamen Scenen, wie ſie ſeitdem, wenigſtens in unſrer Provinz,
wohl nicht wieder beobachtet worden ſind. Die ausgerodeten Bäume
und Sträucher, — da keine Gelegenheit gegeben war, die ganze
Fülle dieſes Holzreichthums zu verkaufen oder wirthſchaftlich zu
verwerthen, — wurden zu mächtigen Haufen aufgeſchichtet und
endlich, nachdem ſie völlig ausgetrocknet waren, angezündet und
verbrannt. Aber das Austrocknen dieſer ausgerodeten Sumpf-Ve-
getation dauerte oft monatelang und ſo kam es, daß dieſe auf-
geſchichteten Holz- und Strauchhaufen eine willkommene Zufluchts-
ſtätte für all’ die Thiere wurden, die bei den Ausrodungen rings
umher aus ihren Schlupfwinkeln aufgeſcheucht worden waren. In
dieſen Holz- und Strauchhaufen ſteckten nun die Thiere drin, bis
der Tag des Anzündens kam. Dann, wenn Qualm und Flamme
aufſchlugen, begann es, bei hellem Tagesſchein, in dem Strauch-
haufen lebendig zu werden, und nach allen Seiten hin jagten nun
die geängſtigten Thiere, wilde Katzen, Iltiſſe, Marder, Füchſe und
Wölfe über das Feld. Ebenſo wurde ein Vernichtungskrieg gegen
Wildpret und Geflügel geführt, und jeder Haushalt hatte Ueber-
fluß an Hirſchen, Rehen, Haſen, Sumpfhühnern und wilden En-
[220] ten. Haſen gab es ſo viel, daß die Knechte, wenn ſie gemiethet
wurden, ſich ausmachten, nicht öfter, als zweimal wöchent-
lich Haſenbraten zu kriegen.
Der Boden im Bruch war ein ſchönes, fettes Erdreich, mit
einer großen Fülle von Humus, der ſich ſeit Jahrhunderten aus
dem Schlamme der Oder und aus der Verweſung vegetabiliſcher
Subſtanzen erzeugt hatte. Dies erleichterte die Bewirthſchaftung;
auch diejenigen Coloniſten, die nicht als Ackersleute ins Land ge-
kommen waren, fanden ſich leicht in die neue Arbeit und Lebens-
weiſe, die, ob ernſter oder leichter betrieben, jedem ſeinen Erfolg
ſicherte. Man ſtreute aus und war der Ernte ſicher. Es wuchs
ihnen zu; der Segen kam in’s Haus (halb uneingeladen); alles
wurde reich über Nacht.
Dieſer Reichthum war ein Segen, aber er war zum großen
Theil ſo raſch, ſo mühelos errungen worden, daß er vielfach ein
Fluch wurde. Man war eben nur reich geworden; Bildung, Ge-
ſittung hatten nicht Schritt gehalten mit dem raſch wachſenden
Vermögen, und ſo entſtanden wunderliche Verhältniſſe, übermü-
thig-ſittenloſe Zuſtände, deren erſte Anfänge noch der große Kö-
nig, der „dieſe Provinz im Frieden erobert hatte,“ mit erlebte
und die bis in unſre Tage hinein fortdauerten. Ein Brief aus
dem Jahre 1838 ſchildert die Zuſtände des damaligen Oder-
bruchs wie folgt:
„Die Verhältniſſe, die ich hier vorgefunden habe, ſind die,
durch alle Jahrhunderte hin immer wiederkehrenden Zuſtände
einer Viertel- und Halb-Kultur, Zuſtände, wie ſie zu jeder Zeit
und an jedem Orte immer von ſelber wieder aufwachſen, wo
in noch völlig rohe und barbariſche Gemeinſchaften, ohne Zu-
thun, ohne Mitwirkung, ohne rechte Theilnahme daran, ein
Stück Kultur von außen her in die Unkultur hineingetragen
wird. Das Weſen dieſer Art von Exiſtenzen iſt die Dishar-
monie, der Mißklang, der Widerſtreit. Durch den Schein der
Bildung, oder eines geiſtig erhöhten Lebens, bricht immer wie-
der die alte Rohheit durch, und im Einklang mit dieſem Natur-
[221] geſetz begegnet man auch in dieſen reichen Oderbruchdörfern,
in Aeußerlichem und Innerlichem, einem beſtändigen Gegenſatz
von Sparſamkeit und Verſchwendung, von Luxus und Ge-
ſchmackloſigkeit, von Kirchlichkeit und Aberglauben, von Ehrbar-
keit und Sittenverderbniß. Der Bauer ſchreitet im langen Rock,
ein paar weiße Handſchuh an den Händen, langſam und gra-
vitätiſch nach der Kirche; aber er ſitzt am Abend oder Nach-
mittag deſſelben Tages (einige beginnen gleich nach der Kirche)
im „Gaſthof“ des Dorfes — der Krug iſt für die Knechte —
und vergnügt ſich bei Spiel und Wein. Die Würfel rollen
über das Brett, der ſogenannte „Tempel“ wird mit Kreide auf
den Tiſch gemalt, alle Arten von Hazardſpiel löſen ſich unter
einander ab, und um hundert Thaler ärmer oder reicher, wüſt
im Kopfe, geht es weit nach Mitternacht nach Haus.“
„Derſelbe Gegenſatz findet ſich in jedem einzelnen Haus-
halt hier; kraſſer Luxus und das völlig mangelnde Verſtändniß
für das, was wohlthut und gefällt, laufen neben einander her.
In dem Wohnzimmer ſteht ein großes Sopha mit blauſeidnem
Ueberzug, aber der Ueberzug iſt zerriſſen und eingefettet. Der
Kupferſtich an der Wand hängt völlig ſchief und kein Auge
ſieht es. Das Glas des andern Bildes iſt mitten durchgeſprun-
gen und niemand denkt daran es zu erſetzen. Die eine Tochter
des Hauſes ſitzt am Fenſter und näht, aber in dem Zimmer,
das eben ſo gut wie ein Sopha und ein Fortepiano, doch auch
einen Nähtiſch haben könnte, fehlt alles, was an einen Tiſch
derart erinnern könnte, und auf dem Fenſterbrett ſteht nichts
als ein Cigarrenkaſten, der als Herberge für Knöpfe und Knäuel,
für Lappen und Flicken dient. Nun geht es zu Tiſch. Alles
reichlich aber auch nichts mehr. Die Magd mit klappenden Holz-
pantinen ſetzt die Speiſen auf, das Stück Fleiſch liegt, unſchön
zerhackt, auf der Schüſſel; die Teller ſind verſchieden an Stoff
und Form, die Meſſer und Gabeln ſind abgewaſchen, aber nicht
blank geputzt; von Tiſchgebet keine Rede. So nimmt man
[222] Platz und ſchweigend, unſchön, ohne Dank beginnt und endet
die Mahlzeit.
So iſt es Alltags; einzelnen, für ſchweres Geld erſtande-
nen Glanz- und Prachtſtücken, wird die Pflicht des Repräſen-
tirens auferlegt, die Perſonen entſchlagen ſich deſſen. Es iſt un-
bequem. Das Ganze ein bunter Widerſtreit von herrſchaftlicher
Prätenſion und bäuerlicher Gewohnheit.
Die Feſttage des Hauſes ändern das Bild, aber ſie beſſern
es nicht. Ich habe hier Taufen und Hochzeiten beigewohnt, die
mir unvergeßlich bleiben werden. Eine ſeltſame Miſchung des
alten Bauernhochzeitsſtyls mit dem Apparat vornehmer Leute.
Wirth und Gäſte wetteifern in Staat. Wagen auf Wagen
rollt vor: Chaiſen mit niedergeſchlagenem Verdeck; die wohl-
genährten Pferde tragen Geſchirr mit Silber reich beſchlagen,
der Kutſcher iſt in Livrée und die Damen, die ausſteigen, ſind
in Sammt und Seide. Muſici ſpielen und die Tiſche brechen
unter der Laſt der Speiſen; die Champagnerpfropfen knallen,
der Flur iſt mit Zucker beſtreut, um die Fliegen von den Ta-
felgäſten möglichſt fern zu halten; dann wildes Juchen; dazu
Lichter, halberſtickt in Tabaksqualm. Spiel und Tanz und
Lärm, und ein Fauſtſchlag auf den Tiſch, machen den Schluß
des Feſtes. Bauernhochzeiten zeichnen ſich freilich überall durch
eine gewiſſe Reichthums-Entfaltung aus, aber dieſe ſelbſtbewußte,
zur Schau getragene Opulenz, hält ſich an andern Orten in-
nerhalb gewiſſer bäuerlicher Traditionen. Hier ſind dieſe Tra-
ditionen durchbrochen und jeder verſucht es, gleichſam auf eigne
Hand, ſeiner Eitelkeit, und meiſt nur dieſer, ein Genüge zu thun.
Auch Gutem und Tüchtigem bin ich in dieſen Dörfern
vielfach begegnet; aber zumeiſt doch jener Kraft und jener Tüch-
tigkeit nur, die aus einem ſtarken Egoismus, aus richtigen In-
ſtinkten hervorgeht, aus jener Beſchränktheit, die, weil ſie eine
nah geſteckte Linie nicht überſchreitet, auch nicht in Gefahr
kommt, ſich zu verirren. Die Wurzeln aller Kräfte, die hier
thätig ſind (gute und böſe) ſind Selbſtſucht und Selbſt-
[223]bewußtſein. Die Zeit ſoll noch erſt kommen, wo die hohen
Kräfte des Lebens hier lebendig werden.“
Seit jenem Briefe, der die damaligen (1838) Sittenzuſtände
des Bruchs, eher zu mild als zu ſtreng ſchildert, ſind 25 Jahre
vergangen, und dies Vierteljahrhundert hat bis auf einen gewiſſen
Punkt die Wünſche erfüllt, mit denen der Brief ſchließt. Es iſt
beſſer geworden. Der bloße Geld- und Bauern-Stolz hat dem
Gefühl von den Pflichten des Reichthums Platz gemacht und an
die Stelle jener Selbſtſucht, die nur an ſich und den engſten Kreis
denkt, iſt der wenigſtens erwachende Sinn für das Allgemeine ge-
treten. Es dämmert eine Vorſtellung in den Gemüthern von der
Gegenſeitigkeit der Pflichten, eine Ahnung davon, daß die blanken
Thaler einen andern Zweck haben, als bei dem Nachbar Geizhals
im Kaſten zu liegen, oder vom Bruder Verſchwender bei vingt
un und „blüchern“ vergeudet zu werden. Die üblen Folgen des
„raſch reich geworden ſeins“ verſchwinden mehr und mehr, und
die Segnungen feſten, ſoliden, ererbten Beſitzes treten in den Vor-
dergrund. Man läßt den Schein fallen und fängt an ſich des
Lacks, der, dünn aufgetragen, überall abſplitterte, zu ſchämen.
Man fühlt ſich wieder mehr als Bauer (nur an dem Wort
nimmt man Anſtoß), und will nicht mehr und nicht weniger ſein,
als man iſt. Das Adels- und Standesgefühl, was durch Jahr-
hunderte hin die niederſächſiſchen Bauern ſo ausgezeichnet hat,
fängt auch an bei den Oderbrüchern lebendig zu werden. Mögen
ſie, nach der wilden Jugend ihres erſten Jahrhunderts, immer fe-
ſter werden in Schlichtheit, Sitte, Zucht.
[[224]]
Moeglin.
Etwa eine halbe Meile vom Weſtrande des Oderbruchs entfernt,
liegt Möglin, ein nur 12 Häuſer zählendes, weder durch Größe
noch Bodenbeſchaffenheit ausgezeichnetes Dorf, dem nichtsdeſtoweni-
ger das Loos zufiel, in alter und neuer Zeit unter den hiſtoriſchen
Namen unſres Landes eine Stelle zu finden.
Drei Jahrhunderte lang (vorher war es ein Pfuelſches Gut)
lebten hier die im Ober-Barnim reichbegüterten Barfuſe *), die ſich,
wie wir ſchon an andrer Stelle in Erfahrung brachten, in zwei
Linien theilten, in die Barfuſe von Predikow, und in die Bar-
fuſe von Moeglin. Der berühmteſte Barfus (Hans Albrecht, vgl.
S. 85.) war ein Moegliner Barfus; er verließ aber früh ſein
väterliches Gut, kehrte nie wieder dahin zurück und iſt deshalb
der Erinnerung des Dorfs verloren gegangen.
Hans Albrecht von Barfus, der Türkenbeſieger, iſt in Moeg-
lin vergeſſen, aber von einem andern, einem unberühmten Barfus,
geht noch die Sage daſelbſt. Das macht, der lokale Vorfall iſt
[225] immer ſiegreich über das hiſtoriſche Ereigniß; die allgemeinen Far-
ben verblaſſen, die beſonderen gewinnen an Kraft.
Der einzige Barfus, von dem Moeglin und ſeine Bewohner
noch wiſſen, iſt Dietlof von Barfus. Sie wiſſen von ihm, daß er
reich war, daß er 40 Dörfer beſaß, und daß er in einer Winter-
nacht, als er zu Schlitten von Wriezen kam, ſeinen plötzlichen
Tod fand. Es war Schneetreiben, nicht Weg nicht Steg erkenn-
bar. Durch die nächtliche Oede hin, immer gradaus, dem Inſtinkt
der Pferde das beſte überlaſſend, ſo ging die Fahrt. Schon wa-
ren ſie dicht am Dorf, da, auf einem überſchneeten, mit dünnem
Eis bedeckten Sumpfloch, brach der Schlitten ein und alles ging
in die Tiefe.
Die kleine Feldſteinkirche (ohne Thurm) iſt aus der erſten
chriſtlichen Zeit und ſtand hier um vieles früher, als die Barfuſe
nach Moeglin kamen. In der Kirche ſelbſt aber, aus verhältniß-
mäßig ſpäter Zeit, hängt ein Wappenſchild des alten Geſchlechts,
ſchmucklos, grün und roth übermalt und mit der Umſchrift: Ale-
xander von Barfus, geboren 1580 den 11. Decembris, geſtorben
den 19. Decembris 1647. (Wahrſcheinlich ein Onkel, vielleicht
auch der Großvater Hans Albrechts.)
Die Pfuels hatten Moeglin 100 Jahre inne, die Barfuſe
hatten es dreihundert. Dazwiſchen aber — etwa um die Zeit der
beiden erſten Hohenzollern — fand eine Art Interregnum, ein
herrenloſer Zwiſchenzuſtand ſtatt, der 20 oder 30 Jahre gedauert
haben mag und von dem wir, mit Hülfe des Schloßregiſters von
1450 nur erfahren, „daß in Moeglin ein Schäfer war.“
Das klingt uns wie eine Verheißung, wie ein heitres Verſprechen
für die Zukunft, und der Schäfer von 1450 erſcheint faſt wie
der Schatten, den Albrecht Thaer, „der Moegliner Schäfer
par excellence“, durch vier Jahrhunderte wirft. Ihm, der die-
ſem kleinen Fleck Landes zu einem wirklichen Ruhm, weit über
die Grenzen unſres Landes hinaus, verholfen hat, wenden wir
uns nun ausführlicher zu.
15
[[226]]
Albrecht Daniel Thaer.
Albrecht Daniel Thaer wurde am 14. Mai 1752 zu Celle
geboren. Sein Vater, Hofmedicus ebendaſelbſt, ſtammte aus Lie-
benwerda in Sachſen; ſeine Mutter war die Tochter des Land-
rentmeiſters Saffe zu Celle. Seine erſten Studien machte Albrecht
Thaer auf dem Gymnaſium ſeiner Vaterſtadt, aber er verfuhr da-
bei in ſo unregelmäßiger Art und Weiſe, daß er z. B. (es ſind
dies ſeine eigenen Worte) im 16. Jahre franzöſiſch und engliſch
ſprechen konnte, aber kein Wort lateiniſch verſtand. Die Lehrer
ließen es eben gehen. Endlich entdeckte er ſich dem Rector des
Gymnaſiums, nahm Privatſtunden und holte in einem einzigen
Jahre alles Verſäumte ſo völlig nach, daß er ein Jahr darauf im
Stande war, nach Göttingen zur Univerſität abzugehen.
Sein ganzes Weſen damals (im Gegenſatz zu ſeinen reiferen
Jahren) war genialiſch und excentriſch; er hatte etwas Wunder-
kindartiges an Gaben wie an Unarten. Er begann nun mit gro-
ßem Eifer Medicin zu ſtudiren und ſchien namentlich beſtimmt,
in der Chirurgie Bedeutendes zu leiſten. Er verweilte Tage lang,
das Secirmeſſer in der Hand, auf dem anatomiſchen Saal, ſah
aber bei der erſten Operation, der er beiwohnte, daß er ſeltſamer-
weiſe wohl zum Anatomen am lebloſen, aber nie und nimmer zum
Chirurgen am lebendigen Organismus beſtimmt ſein könne, denn
er fiel in Ohnmacht; — eine Erſcheinung, die ſich wiederholte, ſo
oft er den Verſuch machte, die angeborene Scheu zu überwinden.
Er wandte ſich nun der Pathologie zu, hörte Collegia bei den be-
[227] rühmten Profeſſoren Schröder und Baldinger, die beide ein
ganz beſonderes Vertrauen zu ihm faßten, und genoß, trotz ſeiner
noch knabenhaften Erſcheinung, ein ſolches Anſehen bei Alt und
Jung, daß kein erheblicher Krankheitsfall vorkam, bei dem er nicht
zu Rathe gezogen worden wäre. Dies gab ihm, neben vielem
Selbſtgefühl, auch eine beſondere Poſition, eine Art Mittelſtellung
zwiſchen Lehrern und Schülern.
Den eigentlich ſtudentiſchen Kreiſen, namentlich ſeinen ſpeciellen
Fachgenoſſen, wurde er immer fremder und nur Bücher, philoſo-
phiſche Studien und philoſophiſche Freunde ſchienen ihm eines
vertrauteren Umgangs werth. Unter den letzteren nahm Johann
Anton Leiſewitz, der Dichter des Julius von Tarent, den er-
ſten Rang ein. Thaer ſelbſt ſchreibt darüber: „Unſere Seelen wa-
ren in beſtändigem Einklang, faſt hatten wir nur Ein Herz.“ Ihre
Freundſchaft wurzelte, neben den Beziehungen des Herzens, in
gleichen Intereſſen und Beſtrebungen und wiewohl Thaer, nach
unbedeutenden erſten Verſuchen, die noch in ſeine Schulzeit fielen,
die dichteriſche Production nicht als ſein eigentliches Feld erkannt
hatte, ſo war er doch, neben philoſophiſchem Scharfblick, mit ſo
viel äſthetiſcher Fühlung ausgerüſtet, daß er dem dichteriſch-produc-
tiven Freunde als Kritiker hoch willkommen war. Sie lebten drei
Jahre mit und neben einander; auch nachdem Beide Göttingen
verlaſſen (1774), beſtand ihr Freundſchaftsverhältniß fort, und die
wenigen Briefe, die, aus einer gewiß ſehr lebhaften Correſpondenz
zwiſchen den Beiden, noch jetzt exiſtiren, geben Auskunft darüber,
welchen Einfluß Leiſewitz dem kritiſchen Freunde auf ſeine Ar-
beiten geſtattete. Einer dieſer aufbewahrten Briefe enthält eine ſehr
eingehende Kritik des „Julius von Tarent“ und ein aufmerkſames
Verfolgen des berühmten Trauerſpiels in ſeiner gegenwärtigen Ge-
ſtalt, zeigt zur Genüge, wie bereitwillig die wohlmotivirten Bemer-
kungen Thaer’s von dem Freunde und Dichter benutzt worden ſind.
Aus dieſer Zeit ſtudentiſchen Zuſammenlebens mit Leiſewitz
datiren aber noch andere Arbeiten Thaer’s, die ihn uns nicht nur
auf kritiſchem, ſondern auch auf productivem Gebiete zeigen, freilich
15*
[228] auf einem der Kritik verwandten, auf dem der philoſophiſch-theolo-
giſchen Unterſuchung. Thaer ſelbſt ſchreibt über dieſe ſpäter (in et-
was veränderter Geſtalt) ſo berühmt gewordene Arbeit: „Ich er-
ſchuf mir damals — gleich wenig mit den Orthodoxen, wie mit
den neuern ſogenannten „Berliner Theologen“ einverſtanden —
ein ſelbſtſtändiges, religions-philoſophiſches Syſtem und brachte es
flüchtig zu Papier. Es ward wider meinen Willen abgeſchrieben,
fiel in die Hände eines großen Mannes, der den Styl etwas um-
änderte und einen Theil davon, als Fragment eines unbekannten
Verfaſſers, herausgab. Bis jetzt wiſſen es nur drei lebende Men-
ſchen, daß ich der Urheber bin.“ In dieſen Worten Thaer’s wird
weder Leſſing genannt, noch mit Beſtimmtheit angegeben, welches
der „Fragmente eines Wolfenbüttelſchen Unbekannten“ Thaer für ſich
in Anſpruch nimmt; es iſt aber nach den ſcharfſichtigen und ſehr
eingehenden Unterſuchungen W. Körtes, des Thaer’ſchen Anver-
wandten und Biographen, ſehr wahrſcheinlich, daß die kleine, bis
dahin Leſſing zugeſchriebene Schrift „über die Erziehung des
Menſchengeſchlechts“ eine Jugendarbeit Albrecht Thaer’s iſt, die,
von Leiſewitz an Leſſing übergeben, von dieſem theils überarbeitet,
theils fortgeſetzt wurde.
Faſt gleichzeitig mit dieſem Aufſatz ſchrieb Thaer ſeine Doc-
tor-Diſſertation. Sie erſchien 1774 zu Göttingen unter dem Titel:
„De actione Systematis nervosi in febribus“; bald darauf
kehrte er in ſeine Vaterſtadt (nach Celle) zurück, um ſich daſelbſt
als praktiſcher Arzt niederzulaſſen.
Hier hatte er zunächſt durch eine harte Schule zu gehen.
Weder gefiel die Stadt ihm, noch er der Stadt. Ihm erſchien
Alles klein, beſchränkt, krähwinklig; er erſchien Allen eitel und ein-
gebildet. Seine Jugend und das noch Unentwickelte ſeiner Erſchei-
nung ließen ihn, bei den Anſprüchen, die er erhob, faſt in komi-
ſchem Lichte erſcheinen und an die Stelle der Auszeichnungen, die,
ihm in Göttingen ſo reich zu Theil geworden waren, traten nun
Kränkungen. Der Prophet galt nichts in der Heimath.
Jahre vergingen in Unmuth und Unbefriedigtheit, aber ſeine
[229] bedeutende ärztliche Begabung drang doch endlich ſiegreich durch
und vor Ablauf von 5 oder 6 Jahren ſah er ſich, als der be-
deutendſte Arzt in Celle, hochgeehrt und von Allen geſucht. Sein
alter Vater ſelbſt (der noch weiter praktizirte) fand einſt Gelegen-
heit, ſich von dem wachſenden Ruhm des Sohnes zu überzeugen.
Jener nämlich begegnete, als er eben ſeine Krankenbeſuche begin-
nen wollte, einem Bauer auf der Treppe und folgendes Zwiege-
ſpräch griff Platz:
Zu wem will Er?
Is woll de Dokter Thaer to Huus? Ick bin krank un möcht
em ſpräken.
Ich bin der Doctor Thaer.
Ja, he es de olle; ick will aberſch den jungſchen ſpräken,
de is klöger.
Vater Thaer lachte und gönnte dem Sohn ſeinen Triumph.
Um dieſe Zeit (etwas früher) hatte auch Thaer, in Gemein-
ſchaft mit Leiſewitz, ſeine erſte Reiſe nach Berlin gemacht und
Spalding, Mendelsſohn, Engel, Nicolai, Madame Bam-
berger („eine Frau, die über die abſtracteſten Materien der Phi-
loſophie roſenfarbenes Licht und Grazie zu verbreiten weiß“) kennen
gelernt. Es war von einer Ueberſiedelung nach Berlin die Rede,
aber es zerſchlug ſich wieder. Bald nach ſeiner Rückkehr nach Celle
lernte er Philippine von Willich, eine Tochter des Vicepräſi-
denten am Oberappellationsgericht zu Celle, Georg Wilhelm
von Willich, kennen, und nachdem er das Glück gehabt hatte,
ſie von einer ſchweren Krankheit wiederherzuſtellen, erfolgte 1785
die Verlobung und im folgenden Jahre die Vermählung des jun-
gen Paares. Thaer war damals Stadtphyſicus und Hofmedicus,
und genoß eines großen ärztlichen Anſehens.
Aber ſein ärztliches Wirken genügte ihm nicht. Er hatte in
ſeiner Diſſertation die Heilkunſt als das Herrlichſte, Angenehmſte,
innerhalb aller menſchlichen Beſtrebungen Nützlichſte geprieſen; je
mehr er fortſchritt, deſto zweifelhafter wurde ihm der Anſpruch auf
das Lob, das er geſpendet, und deſto mehr beſchlich ihn die Vor-
[230] ſtellung, daß eine andere, ſegensreichere Kunſt da ſein müſſe, herr-
licher, nützlicher, heilender, als die Heilkunſt. Nach dieſer Kunſt
begann ſein Herz zu ſuchen. Er fand ſie; aber erſt allmälig, von
Stufe zu Stufe.
Als dieſe ſchönſte, ſegensreichſte Heilkunſt erſchien ihm der
Ackerbau; ihrem Dienſt beſchloß er ſich zu widmen. Von kleinen
Anfängen ging er aus.
Er hatte ſich in Celle ein geräumiges Haus mit einem ſehr
großen Hofraum gekauft, welchen er zu einem kleinen Garten
benutzte. Er wandte ſich alsbald mit Vorliebe der Blumenzucht
zu und bezeigte ein beſonderes Geſchick und eine glückliche Hand
im Varüren von Nelken und Aurikeln. Es ſprach ſich hierin ſchon
dieſelbe Neigung für das „Princip der Kreuzung“ aus, das er
ſpäter, innerhalb der Thierwelt, ſo glänzend durchführte.
Der kleine Raum hinterm Hauſe genügte dem „Hofmedicus“
bald nicht mehr; er kaufte einen größeren vor dem Thore gelege-
nen Garten, mit einem daranſtoßenden Kamp von meiſt dürrem
Flugſandboden, aber mit ſchönen Gruppen alter Eichen und Buchen
beſetzt. Garten und Kamp umfaßten 16 Morgen und der Bebauung
und Verſchönerung dieſes Fleckchens Erde waren von nun an alle
ſeine Mußeſtunden gewidmet. Akazien, Lärchenbäume, Pappeln wur-
den gepflanzt; Weißdorn- und Büchenhecken zogen ſich als le-
bendiger Zaun um die Anlage, Raſenflächen wurden geſchaffen,
und Obſtbaum-Plantagen angelegt. Dazwiſchen Fruchtſträucher
aller Art. Gartenbau trat an die Stelle der Pflege von Nelken
und Aurikeln, — aus dem Blumiſten war ein Gärtner geworden.
So ging es eine Weile. Aber wie ihm das Blumenbeet zu
kleinlich geworden war, ſo wurde ihm jetzt der Garten (trotz ſeiner
relativen Größe) zu eng. Er kaufte deshalb in kurzer Zeit noch
ſo viele Ländereien hinzu, daß alles zuſammen eine zwar kleine,
aber ziemlich anſtändige Wirthſchaft ausmachen konnte. Dieſe Wirth-
ſchaft lag nur eine Viertelſtunde vor dem Thore, zog ſich am
Aller-Fluß entlang und umfaßte ohngefähr 110 Morgen unterm
Pfluge und 18 Morgen natürliche Wieſen. Da er kein Wirth-
[231] ſchaftsgebäude vorfand, ſo entwarf er einen Plan zu einem „Ge-
höft“ und ließ Wohnhaus und Wirthſchaftsgebäude nach ſeinem
eigenen Plane aufführen. Er hatte dabei überall nur das Zweck-
mäßige, nirgends die Eleganz im Auge und verfuhr ganz nach der
Regel des M. P. Cato: „Baue dein Gehöft ſo, daß es weder
den Gebäuden an Ländereien, noch den Ländereien an Gebäuden
fehlt.“ Der Boden beſtand aus Lehm und Sand; drei Arbeits-
pferde und 14 Kühe wurden angeſchafft und zwei Knechte und zwei
Mägde in Dienſt genommen.
So war Thaer, nachdem er die Stadien des Blumiſten und
Gärtners durchgemacht hatte, zum Landwirth geworden. Er blieb
noch Arzt, ſogar ein beſchäftigter, vielfach ausgezeichneter (1796
ward er zum Leibarzt des Königs Georgs III. ernannt), aber
ſein Herz, ſein Sinnen und Trachten gehörte der „Wirthſchaft“
draußen und die Sommermonate pflegte er, ſammt ſeiner Familie,
auf dem „Gute“ zu wohnen. Sein Leben war ein ſehr ange-
ſtrengtes; die Frühſtunden von 4—7 und der Spätabend gehör-
ten ſeinen landwirthſchaftlichen Studien, der Tag ſeinem ärztlichen
Beruf. Nur die Paſſion half über Alles hinweg.
Es lag ihm zunächſt daran, ſeiner Umgebung augenſcheinlich
darzuthun, daß es einen Ackerbau gebe, der vollkommener und er-
giebiger ſei, als der, welchen man im Celle’ſchen Felde betreibe.
Er wollte durch ſein eignes Beiſpiel zeigen, wie man den Ackerbau,
mit höchſtem Unrecht, nur als ein Handwerk, ja oft noch geringer
anſehe, in der Meinung, daß weniger Kunſt dazu gehöre, einen
Acker zu beſtellen, als einen Schuh zu machen. Er wollte die Be-
treibung dieſes wichtigen, verwickelten, dieſes unerſchöpflich künſt-
lichen Gewerbes zu wohlverdienten Ehren bringen. Er ſtellte ſich
bei ſeiner kleinen Wirthſchaft einen doppelten Zweck: den zum Theil
widerſtrebenden Boden in eine möglichſt hohe Culturſtufe zu heben
und vor allem eine Experimental-Wirthſchaft zu ſeiner eig-
nen Belehrung und Förderung zur Hand zu haben.
Selbſtdenkend, aber auch Rath nicht verſchmähend, wie gute
Bücher oder bewährte Landwirthe ihm boten, ging er ans Werk.
[232] Er belächelte die Bauernweisheit, die damals, häufiger noch als
jetzt, ſich in dem Satze gefiel: „Ein günſtiger Regen iſt beſſer, als
alles Geſchreibſe der Federfuchſer,“ und zu ſeinen Lieblingsſätzen
gehörte der Ausſpruch Zimmermanns: „Ein Trommelſchläger, der
in zwanzig Schlachten trommelte, weiß doch weniger vom Kriege,
wie König Friedrich, als er eine gewonnen hatte.“ Gegen die
Trommelſchläger, die in zwanzig Schlachten getrommelt, zog Thaer
jetzt zu Felde; auch ſeine ärztliche Praxis mochte ihm gezeigt ha-
ben, daß es mit der „Erfahrung“ untergeordneter Naturen ein
eigen Ding iſt und daß ſie nur da belehrt, wo eine Neigung vor-
handen iſt, ſich belehren zu laſſen. Wo dieſe Neigung fehlt, glau-
ben die Männer der Erfahrung wohl an Tücken der Natur, aber
nie an Fehler des Syſtems.
Thaer begann die Anfänge einer rationellen Landwirthſchaft
in ſeinem Kopfe allmählig auszuarbeiten und fing mit der Auf-
ſtellung gewiſſer Probleme an. Das erſte Problem, deſſen Löſung
er zuſtrebte, war folgendes:
die größte Maſſe zur thieriſchen Nahrung geeigneter Pflan-
zen auf einer beſtimmten Fläche Landes zu gewinnen.
Das zweite nicht minder wichtige Problem beſtand darin:
die verſchiedenen Fruchtkräfte jedes Bodens für die ver-
ſchiedenen ihrer bedürftigen Fruchtarten ſo viel als möglich
und in einer der Regeneration des Abſorbirten
günſtigen Wechſelfolge zu benutzen; alſo die Brache ent-
behrlich zu machen.
Die Löſung des erſten Problems fand er im Anbau der Fut-
tergewächſe, ganz beſonders der Kartoffel, die Löſung des zwei-
ten Problems in der ſeitdem ſiegreich durchgedrungenen „Lehre von
der Fruchtfolge.“
Für die Kartoffel trat er überall in die Schranken und
widerlegte alte Vorurtheile. Er wies darauf hin, daß die Irlän-
der die ſtärkſten und älteſten Kartoffeleſſer und zugleich, unter
allen europäiſchen Racen, vielleicht die geſundeſte, kräftigſte und
ſchönſte ſeien; und dem Grafen Podewils, der ihn auf dieſem Ge-
[233] biete freundlich bekämpfte, antwortete er in ſpätern Jahren: „der
Herr Graf iſt mein ſehr verehrter Freund, aber der Kartoffelbau
iſt mein Kind.“
Seine Lehre von der „Fruchtfolge“ ſtieß Anfangs auf vielen
Widerſpruch und da er ſeine eignen Felder danach beſtellte, pro-
phezeihte man ihm, daß ſeine Aecker nach 4 Jahren völlig ausge-
ſogen ſein würden. Thaer ließ ſich das nicht anfechten. Schon
Friedrich der Große hatte ſich ſeinerzeit für ein rationelles aber
conſtantes Tragen der Felder ausgeſprochen und den Wider-
ſpruch mit den Worten zurückgewieſen: „ſeh Er doch nur ſein
Gartenbeet an, wie das alljährlich trägt.“ Thaer war gewillt,
die treffende Bemerkung des Königs ſich ſelber geſagt ſein zu laſſen.
Er überzeugte ſich alsbald, daß der Acker nicht dadurch ausgeſogen
wird, daß man ihn alljährlich tragen läßt, ſondern dadurch,
daß man ihn nicht das tragen läßt, was er zur Wiederherſtellung
ſeiner Kräfte bedarf. Es führte das ſpäter zu dem Axiom, daß
den Acker, wie den Menſchen, nichts ſo ſehr entnerve und ausſauge,
als das Nichtsthun, das Nichttragen; aber auf das richtige,
das ihm paſſende Tragen kommt es an.
Das Syſtem des Fruchtwechſels (das die Brache ent-
behrlich machte) trat nunmehr ſiegreich ins Leben, wiewohl zunächſt
nur mangelhaft und weitab von dem Grade von Vollkommenheit,
dem es ſpäter entgegenging. Thaer überzeugte ſich alsbald, daß es
mit dem bloßen Saat- und Fruchtwechſel an und für ſich
nicht gethan ſei, daß vielmehr eine genaue Kenntniß des Bodens
voraus gehen müſſe, um die für eine beſtimmte Oertlichkeit jedes-
mal vortheilhafteſte Production von vornherein feſtſtellen zu können.
Wenn mancher Landwirth immerfort klagte, daß ſein Lein faſt all-
jährlich mißrathe, ſo lachte Thaer, daß der Betreffende, ohne alle
Noth, unverbeſſerlich darauf aus ſei, ſeinen Lein ſelber bauen zu
wollen und ſetzte hinzu: „ein Landwirth, der alles baut, was er
braucht, iſt ein Schneider, der ſich ſeine Schuhe ſelber macht.“
Thaer verlangte von jedem Boden etwas, aber er verlangte nicht
alles von allem, vielmehr machte er es zu einem beſondern Gegen-
[234] ſtand ſeiner Studien, genau feſtzuſtellen, welche Producte jeder
Boden, nach der ihm innewohnenden Eigenart, d. h. nach
ſeiner chemiſchen Zuſammenſetzung, am eheſten hervorbringen könne.
Wo — um auf das obige Beiſpiel noch einmal zurückzugreifen —
kein Lein wachſen wollte, da gab er es auf, einen kümmerlichen
Ertrag zu erzwingen und den Boden genau unterſuchend, der eine
Leinerndte verweigerte, ſtellte er nunmehr feſt: auf einem Boden
von der und der Beſchaffenheit hat ſich der Fruchtwechſel in dem
und dem Kreiſe zu drehen, unter Ausſchluß von Lein. Glück-
licherweiſe begann eben damals die Wiſſenſchaft, welche ganz be-
ſonders zur Bodenkenntniß hinführt, die Chemie, ſich zu jener
Stufe hoher Ausbildung zu erheben, auf der wir ſie jetzt erblicken.
Thaer widmete ihr die größte Aufmerkſamkeit, und die chemiſche
Zuſammenſetzung der verſchiedenſten Bodenarten mit ihrer ſpeciellen
Tragfähigkeit oder Unfähigkeit vergleichend, glückte es ihm, ſeine
ſpeciellen Erfahrungen zu allgemeinen Geſetzen zu erheben. Die
Frucht aller dieſer ſeiner Anſtrengungen war, daß er auch ſeine
ſchlechteſten Felder (indem er ſich auf ſie verſtand) durch Fleiß und
Nachdenken einträglich zu machen wußte und jeden Boden, nach
Verhältniß ſeiner Güte und ſeines Werthes, bei kluger Bewirth-
ſchaftung für einträglich erklärte.
In einzelnen Kreiſen, wenn auch nicht gerade in nächſter
Nähe von Celle, begann die kleine Thaer’ſche Wirthſchaft Aufmerk-
ſamkeit zu erregen, einzelne Beſucher kamen, Briefe wurden aus-
getauſcht, Anregungen gegeben und empfangen. Es iſt aber nichts-
deſtoweniger mindeſtens zweifelhaft, ob Thaer jemals aus ſeinem
engſten Kreiſe herausgetreten und epochemachend für die Landwirth-
ſchaft geworden ſein würde, wenn ſich nicht zu ſeiner praktiſchen
Thätigkeit (deren wiſſenſchaftliche Ausbeute bis dahin nur einem
ziemlich eng gezogenen Kreiſe zu gute gekommen war) eine emſige
Beſchäftigung mit den Büchern, und als letzte Frucht praktiſcher
Erfahrung und wiſſenſchaftlichen Studiums, ein literariſches
Auftreten geſellt hätte.
Die deutſche landwirthſchaftliche Literatur, die er in all ihren
[235] Erſcheinungen kannte, hatte ihn im Einzelnen angeregt und be-
lehrt, im Ganzen aber unbefriedigt gelaſſen. Daſſelbe galt von
den engliſchen landwirthſchaftlichen Schriften, ſoweit er dieſelben
aus Ueberſetzungen kennen gelernt hatte; er ſchloß ſich dem
Spott derer an, die damals von einer „Anglomanie“ (beſonders
in der Landwirthſchaft) zu ſprechen begannen und war — etwa
gegen Anfang der 80er Jahre — der feſten Ueberzeugung, daß
auch aus England nichts zu holen ſei und daß die deutſche Land-
wirthſchaft ſich ſelber helfen müſſe.
Genau um dieſe Zeit war es, als ein glückliches Ohngefähr
ihm einige engliſche landwirthſchaftliche Schriften im Original
zuführte. Wie war er freudig überraſcht, darin die genaueſten Be-
obachtungen, die ſorgfältigſten Verſuche, die auch die kleinſten Ein-
zelnheiten beachtenden Berechnungen, die lichtvollſten Verhandlungen
und Forſchungen zu finden! Das war ja genau, im Großen und
Kleinen, was ihm als Ziel einer rationellen Landwirthſchaft vor-
geſchwebt hatte. Das, wonach ſein Streben ging, — die Eng-
länder hatten es bereits. Seitdem ſtudirte Thaer die engliſche
Landwirthſchaft mit ſolcher Aufmerkſamkeit, daß Engländer ſelbſt
ihm zugeſtanden: er kenne England (obgleich er nie da war) wie
wenn er es Jahre lang durchreiſt habe.
Die Frucht dieſer ernſten und anhaltenden Studien war ſein
berühmtes Werk, deſſen erſter Theil 1798 unter dem Titel er-
ſchien: „Einleitung zur Kenntniß der engliſchen Land-
wirthſchaft und ihrer neueren praktiſchen und theoretiſchen Fort-
ſchritte, in Rückſicht auf Vervollkommnung deutſcher Landwirth-
ſchaft, für denkende Landwirthe und Cameraliſten.“*) Der zweite
[236] Band folgte 1800 und 1801, der dritte Band 1804. In der-
ſelben Zeit, von 1799—1804 erſchienen die „Annalen der
Niederſächſiſchen Landwirthſchaft“ (Sechs Jahrgänge).
Das Aufſehen, das dieſe Bücher und Schriften machten, war
ein ganz außerordentliches. Man begreift dieſen Erfolg nur, wenn
man im Auge behält, daß ſich ganz Deutſchland eben damals
nach einem beſſeren Ackerbauſyſtem ſehnte. „Wie ein leitendes Ge-
ſtirn erſchienen dieſe Werke am Horizont, freudig begrüßt von der
landwirthſchaftlichen Welt.“ Nicht nur in Schriften, ſondern auch
in den Salons der Reſidenzen und in den Wein- und Bierſtu-
ben der Marktſtädte, ward mit Enthuſiasmus dafür, mit Wuth
(denn auch an Gegnern fehlte es nicht) dagegen geſtritten, oft von
beiden Seiten gleich unverſtändig. Seine eignen Erfolge, die von
Jahr zu Jahr wuchſen, unterſtützten ſein Anſehn, ſo daß ihm ein
großer hannöverſcher Grundbeſitzer ſchrieb: „wenn ich dieſen Abend
einen Brief von Ihnen erhalte, daß ich meine Gebäude anſtecken
ſoll, ſo ſtehen ſie vor Nacht ſchon in Flammen.“ Alles verlangte
ſeinen Rath, erbat ſeine oberſte Leitung, ſo daß demſelben Manne
(dazu noch immer „Leibmedieus“), deſſen eignes Guts-Areal ſich auf
kaum 130 Morgen belief, 100,000 Morgen des verſchiedenſten Bo-
dens derart zur Verfügung ſtanden, daß er, in Anſehung der Be-
wirthſchaftung, damit ſchaltete und waltete wie mit ſeinem
Eigenthum. Sein Buch aber gewährte ihm vor allem die Befrie-
digung: „das Nachdenken beſſerer Köpfe über Landwirthſchaft ge-
weckt und zu energiſcherer Thätigkeit angeſpornt zu haben.“
Im Jahre 1802 traten auch die Anfänge ſeiner „land-
wirthſchaftlichen Akademie“ in’s Leben. Dieſe Akademie er-
wuchs organiſch zwanglos; ſie machte ſich von ſelbſt und ging
mehr aus einem glücklichen Ohngefähr, als aus einem feſten Ent-
ſchluß hervor, wiewohl Thaer in ſeinen Schriften bereits auf das
Wünſchenswerthe eines landwirthſchaftlichen Lehrinſtituts hingewie-
ſen und ſeine Ideen darüber geäußert hatte. Im genannten Jahre
kamen mehrere junge Männer (darunter der ſpäter, durch ſein
Buch „der iſolirte Staat“, ſo berühmt gewordene Herr von Thü-
[237] nen) nach Celle, um an Ort und Stelle die Methode und die
Erfolge der Thaerſchen Beſtellungsart kennen zu lernen. Sie blie-
ben den ganzen Sommer über. Um dieſe jungen Leute nicht un-
beſchäftigt zu laſſen, entſchloß ſich Thaer ihnen Vorleſungen über
Landwirthſchaft zu halten und einigen Unterricht in der Natur-
kunde, Chemie und Botanik hinzuzufügen. Der Fleiß und Eifer,
womit man ihm entgegenkam, übertrafen ſeine Erwartung, aus
den zwangloſen Vorleſungen wurde ein „Inſtitut“, das, im Klei-
nen, bereits all die Züge der ſpäter ſo berühmt gewordenen
Mögliner Akademie beſaß.
So kam das Jahr 1804, das unſern Thaer nach Preußen
führte.
Schon 1799 und 1801 hatte er Reiſen in die Mark, be-
ſonders in die Oderbruchgegenden gemacht und dabei die Frau
von Friedland (Tochter des Generals von Leſtwitz, der die
Schlacht von Torgau entſchied), ſowie deren Tochter und Schwie-
gerſohn, den Landrath Grafen von Itzenplitz kennen gelernt.
Der Aufenthalt in Kunersdorf, dem ſchönen Gute der Frau von
Friedland, wo dieſe ausgezeichnete, mit allen Details der Wirth-
ſchaftsführung vertraute Frau lebte, war ihm genuß- und lehr-
reich geweſen und vielfach belehrt, erſtarkt, ermuthigt, war er nach
ſeinem Landgütchen an der Aller zurückgekehrt. Die Hauptbedeut-
ſamkeit dieſer Reiſen lag aber darin, daß es die während ſeines
Aufenthalts in Kunersdorf angeknüpften Beziehungen (beſonders
zum Grafen Itzenplitz) waren, die bald darauf zu ſeiner Ueber-
ſiedelung nach Preußen führten.
Die nächſte Veranlaſſung zu dieſer Ueberſiedelung entſproß
aus der politiſchen Lage, aus den damaligen großen Weltverhält-
niſſen. Der Wiederausbruch des Krieges zwiſchen Frankreich und
England hatte zur Beſetzung Hannovers (damals engliſch) durch
die Franzoſen geführt. Die Noth des Landes ſchmerzte ihn tief;
zwar hatte er perſönlich unter der franzöſiſchen Okkupation nicht
zu leiden, da er durch General Mortiers Anordnungen (der Ge-
neral behandelte ihn als Verfaſſer der „Engliſchen Landwirth-
[238] ſchaft“ mit beſonderem Reſpekt) vor allem Kriegsunweſen geſichert
wurde, allein ſein perſönliches Geſichertſein konnte ihn nicht tröſten
über die allgemeine Lage.
In dieſer Zeit war es, daß Thaer ſein Auge auf Preußen
richtete, auf Preußen, das er für die einzige feſte Vormauer gegen
hereinbrechende Anarchie und Deſpotismus hielt. Die Idee einer
Ueberſiedelung kam ihm; Briefe, nach Kunersdorf hin gerichtet,
ſprachen verwandte Wünſche aus und Graf Itzenplitz (übrigens
bei Hardenberg und Beyme dem entſchiedenſten Entgegenkommen
begegnend) führte mit Umſicht und Gewandtheit die ganze Ange-
legenheit zu einem glücklichen Ende. Schon im Februar 1804
erhielt Thaer, in Folge der von dem bewährten Freunde getha-
nen Schritte, einen Brief vom Miniſter Hardenberg, in dem es
hieß: „Für mich würde nichts erwünſchter ſein, als die Möglich-
keit, mich recht oft Ihres angenehmen und lehrreichen Umgangs
erfreuen zu können, aber noch weit größer würde meine Zufrie-
denheit ſein, wenn ich Sie dem preußiſchen Staate erwerben
könnte..... Eröffnen Sie mir freimüthig Ihre Wünſche und die
Bedingungen, die Sie verlangen würden.“ Thaer reiſte gleich nach
Eingang dieſes Briefes nach Berlin, um das Eiſen zu ſchmieden,
ſo lang es noch heiß ſei. Schon am 19. März erhielt er folgen-
des Königliche Schreiben:
Mein Herr Leibmedicus! Ich habe mit Vergnügen ver-
nommen, daß Sie entſchloſſen ſind, ſich in meinen Staaten
niederzulaſſen und Ihr landwirthſchaftliches Lehrinſtitut
hierher zu verlegen, wenn Sie für die mit dieſer Veränderung
verbundenen Schäden und Koſten entſchädigt und in den Stand
geſetzt würden, Ihre gemeinnützlichen Arbeiten für die Verbeſ-
ſerung der Landwirthſchaft, welche künftig vorzüglich die Lan-
descultur in den preußiſchen Staaten bezwecken werden, fortzu-
ſetzen. Da Ich Mir nun von Ihrem rühmlichſt bekannten Eifer,
Fleiße und Kenntniſſen, den größten Nutzen für die Landes-
cultur verſpreche, ſo habe Ich Ihnen ſehr gern die gemachten
Bedingungen, wie Sie aus der abſchriftlich anliegenden erlaſſe-
[239] nen Ordre erſehen werden, bewilligt und wünſche, daß Sie recht
bald im Stande ſein mögen, Ihre Niederlaſſung in Meinen
Staaten auszuführen. Bis dahin verbleibe Ich Ihr gnädiger
Friedrich Wilhelm.
Die beigelegte Ordre enthielt (außer der Aufnahme in die
Akademie der Wiſſenſchaften und außer dem Charakter als Gehei-
mer Kriegsrath) folgende Zugeſtändniſſe: 1) drei bis vierhundert
Morgen Acker des Amtes Wollup in Erbpacht; 2) die Erlaub-
niß, dieſe Erbpacht zu veräußern und ein Rittergut dafür zu kau-
fen; 3) Schutz und Begünſtigung des landwirthſchaftlichen In-
ſtituts.
Thaer nahm an; verkaufte den ihm in Erbpacht gegebenen
Theil des Amtes Wollup (das ſpäter durch Koppe ſo berühmt
wurde), erſtand dafür das Rittergut Moeglin nebſt dem Vor-
werk Königshof, ſchloß im Herbſt (1804) ſein bis dahin in
Celle fortgeführtes Lehrinſtitut, „dem der Ruhm verbleiben wird,
die erſte landwirthſchaftliche Lehranſtalt in Deutſchland
geweſen zu ſein“ und wanderte, einige Wochen ſpäter, mit 23 Per-
ſonen in ſein neues Vaterland ein.
Thaer hatte in Celle zunächſt eine Experimental-Wirth-
ſchaft, dann, — nachdem ſeine Verſuche faſt durchgängig von Er-
folg gekrönt worden waren, — eine Modell-Wirthſchaft geführt;
in Moeglin wurde die Modell-Wirthſchaft zu einer Muſter-
Wirthſchaft. Hierin liegt der alleinige Unterſchied zwiſchen der Cel-
ler und der Moegliner Wirthſchaftsführung ausgeſprochen. Die
Modell-Wirthſchaft in Celle legte denen, die ſie kennen gelernt
hatten, die Mühwaltung, oft auch geradezu die Schwierigkeit des
Transponirens aus kleinen in große Verhältniſſe auf, die
Moegliner Wirthſchaft hingegen war für die Mehrzahl der Fälle
ohne Weiteres ein Muſter. Natürlich innerhalb der Grenzen, wie
[240] ſie ſich auf einem Gebiet, das einem lebendigen Organismus gleicht,
von ſelbſt verſtehn.
Moeglin war Muſter, Celle war Modell, aber (den
räumlichen Unterſchied bei Seite gelaſſen) liefen beide Wirthſchaften
in ihren Prinzipien und Qualitäten auf daſſelbe hinaus. Deshalb
werden wir hier, nachdem wir die Celler Wirthſchaft und die Prin-
zipien, die ſie zur Geltung bringen ſollte, ſo ausführlich beſpro-
chen haben, bei der Moegliner Wirthſchaft nur kurz verweilen und
nur dasjenige betonen, wodurch ſich dieſelbe, nicht quantitativ, ſon-
dern ſachlich und qualitativ von der Celler Wirtſchaft unterſchied.
Es war dies vorzüglich die Einführung einer veredelten
Schafzucht, die Herſtellung, mittelſt kunſtvoller Kreuzung, einer
ausgezeichneten Wolle, der beſten, die bis dahin in Deutſchland
producirt worden war. Die Kunſt, die Thaer zwanzig oder drei-
ßig Jahre früher, halb ſpielend, geübt hatte, als es ſich in ſeinem
Garten zu Celle (lange bevor er eine Wirthſchaft hatte) um Ge-
winnung immer neuer, immer ſchönerer Nelken- und Aurikel-Arten
gehandelt hatte, — dieſe Kunſt der Kreuzung kam ihm jetzt treff-
lich zu Statten. Was ihm innerhalb der vegetabiliſchen Welt
überraſchend geglückt war, glückte ihm innerhalb der animaliſchen
doppelt und dreifach. Er ſchien wie auserwählt für dieſen wichti-
gen Zweig landwirthſchaftlicher Thätigkeit: phyſiologiſches Wiſſen,
angeborene feine Inſtinkte und eine glückliche Hand — alles ver-
einigte ſich bei ihm, um zu den überraſchendſten Reſultaten zu
führen.
Nicht gleich in den erſten Jahren ſeines Moegliner Aufent-
halts, vielmehr erſt 1811—13, nachdem Koppe als Gehülfe und
Wirthſchaftsführer bei ihm eingetreten war, hatte Thaer eine
Schäferei — wozu er Merinoſchafe aus Sachſen erhielt — ein-
zurichten begonnen. Es ging auch nicht von Anfang an alles vor-
trefflich, aber ſchon 1815 und 16 wurde ſeine Wolle auf dem
Berliner Wollmarkt für die beſte erklärt. 1817 ſchrieb er an ſeine
Frau: „für mich iſt der diesmalige Wollmarkt (in Berlin) zwar
nicht der pekuniär beſte, aber der gloriöſeſte, den ich erlebt habe.
[241] Meine Wolle iſt 20 Prozent geringer verkauft, wie im vorigen
Jahre, aber um 20 Prozent höher, wie irgend eine Wolle hier
und in ganz Deutſchland verkauft iſt und werden wird. Unter
allen Wollhändlern und allen Wollproducenten iſt es ganz ent-
ſchieden angenommen, daß meiner Wolle keine in ganz Europa
nahe komme, viel weniger ihr an die Seite zu ſetzen ſei. Dies
iſt ſo das Tagesgeſpräch geworden und ſo über das Gemeine hin-
weggehoben, daß ich auch keine Spur des Neides bemerke. Jeder
erkennt es an, daß ich das Außerordentliche errungen, worauf kein
Anderer Anſpruch machen kann. „Solche Wolle, ſagt man, kann
man erzeugen, denn Moeglin hat ſie erzeugt.“ Wenn ich auf
den Markt komme, ſo ſteht alles mit dem Hut in der Hand. Ich
heiße bereits der Wollmarktskönig!“
Thaer erzielte dies alles durch ſein Kreuzungs-Prinzip
und die geſchickte, ſcharfſinnige Handhabung deſſelben. Jedem wäre
es freilich nicht geglückt. Einem ſehr erfahrenen Wollhändler ſagte
er: „zeigen Sie mir nur irgend ein Vließ, wie Sie es zu haben
wünſchen und ich werde Ihnen in der dritten oder vierten Gene-
ration einen Stamm herſtellen, der nur ſolche Vließe liefert.“
Man hielt dies für Uebertreibung, überzeugte ſich aber bald, daß
er nicht zuviel geſagt hatte. Es glückte ihm mit der Wollpro-
duktion, wie dem berühmten engliſchen Viehzüchter Backwell mit
der Fleiſchproduktion, der Schafe herſtellte, die vor Beleibtheit
auf ihren kurzen Beinen kaum gehen konnten, ſo daß er ſich ver-
anlaßt ſah, allmälig wieder Schafe mit längeren Beinen zu ma-
chen. Man ſagte von ihm: es ſei, als ob er ſich ein Schaf nach
ſeinem Ideale ſchnitzen und demſelben dann das Leben geben
könne. Dies paßte auf Thaer ſo gut wie auf Backwell.
Es konnte nicht ausbleiben, daß das Thaer’ſche Züchtungs-
Verfahren, das geniale Operiren mit der Natur, auch Gegner
fand. Dieſe warfen ihm vor, daß er bei ſeiner Art und Weiſe
der Züchtung am Ende wohl gar die Natur dahin zu zwingen
gedächte, wohin ſie nicht wolle, und daß er ſie dadurch ſchwächen
und ermüden werde. Die Kunſt aber werde nie die natürlichen
16
[242] Anlagen erſetzen können. Er rechtfertigte ſich mit Shakeſpeare’s
tiefgeſchöpfter Lehre (Wintermährchen IV, 3.):
Thaer erfuhr Angriffe, aber ſie waren vereinzelt und ſpeziell
auf dem Gebiete der Schafzucht ward er mehr und mehr eine
europäiſche Autorität. Bei Errichtung (1816) der beiden auf Rech-
nung des Staats gegründeten Stammſchäfereien zu Franken-
felde in der Mark und zu Panten in Schleſien, wurde Thaer
zum General-Intendanten derſelben ernannt und 1823, als auf
ſeine Veranlaſſung in Leipzig der erſte „Wollzüchter-Convent“ zu-
ſammentrat, huldigte man ihm nicht nur als dem Präſidenten,
ſondern ſpeziell auch als dem Meiſter der Verſammlung.
Aber der Weg zu dieſen Erfolgen war ein weiter und mühe-
voller. Unter den denkbar ungünſtigſten Verhältniſſen waren ihm
die erſten Jahre ſeiner Moegliner Wirthſchaftsführung vergangen.
Zu den Sorgen und Fehlſchlägen, die, namentlich nach dem un-
glücklichen Kriege von 1806, alle damaligen Grundbeſitzer trafen,
geſellten ſich für ihn noch ganz beſondere Schwierigkeiten: ſein
relatives Fremdſein in der neuen Heimath und — das „Inſtitut.“
Die Herſtellung einer landwirthſchaftlichen Lehranſtalt war,
wie oben bereits erwähnt, bei Thaers Ueberſiedelung nach Moeg-
lin allerdings in Erwägung gezogen, aber von Seiten der preu-
ßiſchen Regierung mehr als ein Anſpruch, den Thaer erheben
könne, wie als eine Pflicht, die er zu erfüllen habe, angeſehen
worden. Thaer ging indeß ſofort an die Errichtung eines „Inſti-
[243] tuts“, ähnlich wie es in Celle beſtanden hatte, vielleicht dabei eben
ſo ſehr ſeiner Neigung, wie der Vorſtellung folgend, daß ein ſol-
cher Schritt (ob gefordert oder nicht) eine Pflicht ſei, die er gegen
ſeine neue Heimath zu erfüllen habe. Die Anfänge waren auch
viel verſprechend. Schon im Jahre 1805 traf er Vorbereitungen
zum Bau eines Inſtituthauſes; da es ihm indeſſen zu dem im
Ganzen ziemlich koſtſpieligen Unternehmen an Mitteln gebrach, ſo
machte er den Plan, den Bau auf Aktien zu unternehmen. Von
allen Seiten kamen Zuſchriften; ſchon im Juli 1806 konnte er
bekannt machen, daß die Unterzeichnung nunmehr geſchloſſen ſei.
Ziemlich um dieſelbe Zeit berichtete Thaer dem König (der an dem
Zuſtandekommen des Unternehmens den lebhafteſten Antheil nahm),
daß die Eröffnung des Moegliner Inſtituts in der Mitte Oktober
erfolgen werde. In der That, das Wohnhaus mit 24 Zimmern,
außer dem Souterrain, ſtand fertig da; 21 junge Leute hatten
ſich zum Eintritt gemeldet; Alles verſprach einen glänzenden
Anfang.
Aber die Mitte des Oktober 1806 brachte andere Ereigniſſe;
der ſiegreiche Feind überſchwemmte die Marken und ſtatt der an-
gemeldeten 21 jungen Leute kamen drei. Im Frühjahr 1807
waren es acht. Die Zahl wuchs zwar ſpäter, da aber, bei der
völligen Zerrüttetheit aller Geldverhältniſſe, viele Söhne ſonſt wohl-
habender Eltern mit ihren Penſionen im Rückſtand blieben, an-
dere, die Aktien genommen hatten, ihre Aktien-Beiträge nicht zah-
len konnten, ſo entſtanden, ohne daß von irgend welcher Seite
her eine Verſchuldung vorgelegen hätte, die ſchwerſten Verlegen-
heiten für Thaer ſelbſt, der, dem guten Sterne Preußens ver-
trauend, in freilich ſchon bedrohter Zeit, dies Inſtitut in’s Leben
gerufen hatte. Sechs Jahre ſpäter, während des Befreiungskrie-
ges, wiederholten ſich dieſe Verlegenheiten. Alles war in den Krieg
(auch Thaers drei Söhne) und ſo kam es, daß die Einrichtung,
die doch einmal da war, ohne Verluſt weder aufgegeben noch fort-
geführt werden konnte. In Noth und Sorge ſchrieb er ſeiner da-
mals abweſenden Frau: „Wollte Gott, daß ich das Inſtitut nicht
16*
[244] angelegt hätte, denn es iſt die Quelle aller Verlegenheiten und
Sorgen geworden. Aber es iſt für unſer Land zu wichtig, und
nun es einmal da iſt, muß es bleiben.“ Ein Glück, daß es blieb.
Mit dem Frieden kamen geſegnetere Zeiten und wie Thaer, wäh-
rend des letzten Jahrzehnts, das ihm noch zu leben und zu wir-
ken vergönnt war, ſeinen Ruhm wachſen und die verſchiedenen
Zweige ſeiner Wirthſchaft proſperiren ſah, ſo hob ſich auch das
„Inſtitut“ (ſeit 1819 „Königliche akademiſche Lehranſtalt
des Landbaus“) von Jahr zu Jahr an Ausdehnung und An-
ſehn. Anfangs hatte Thaer es für das Zweckmäßigſte gehalten,
das Inſtituthaus auf den Fuß eines Gaſt- und Logierhauſes zu
ſetzen, damit jeder Akademiker nach Vermögen, Geſchmack und Ge-
wohnheit leben und zehren könne. Allein das erwies ſich bald als
nachtheilig für alle Theile. Nur ungern entſchloß er ſich endlich
dazu, einen gemeinſchaftlichen Mittags- und Abendtiſch
zu halten. Die Mitglieder des Inſtituts waren, nach Thaers aus-
drücklicher Beſtimmung, nicht Studenten im gewöhnlichen Uni-
verſitätsſinne. Am wenigſten waren ſie Schüler. Thaer äußerte
ſich dahin: „Schulmeiſter können wir nicht ſein, ſondern müſſen
unſere Zuhörer wie freie, vernünftige Männer betrachten, die nur
allein ein lebhafter Trieb zu den hier zu lehrenden Wiſſenſchaften
zu uns geführt. Kein Zwang. Aber freilich würde es andererſeits
ſchmerzlich für uns ſein, wenn wir uns zu der ſonſt bewährten
Maxime gezwungen ſähen: „sumimus pecuniam et mittimus
asinum in patriam.“ — Das Inſtitut wurde von einer ähnlichen
Bedeutung für unſer Land, wie die „Forſt-Akademie“ in dem be-
nachbarten Neuſtadt-Eberswalde. Die große Wirkſamkeit deſſel-
ben, ſo lang es exiſtirte, hat darin beſtanden, daß durch die
vielen darin gebildeten, ſpäter dann zur Selbſtſtändigkeit gelang-
ten Männer, eine höhere, umfaſſendere Anſicht des landwirthſchaft-
lichen Betriebes weiter und allgemeiner verbreitet worden iſt, als
je durch Schriften hätte geſchehen können. Namentlich hat
es das ſiegreiche Vordringen der Thaer’ſchen Prinzipien beſchleu-
nigt und um eins (nicht das Kleinſte) ſpeziell hervorzuheben, ein
[245] Zurückverſinken der landwirthſchaftlichen Sprache und Ausdrucks-
weiſe in das alte, wirre Chaos unmöglich gemacht. *)
Wir wenden uns zum Schluß noch einmal der literari-
ſchen Thätigkeit Thaers zu.
Auch in Moeglin, wie Körte ſich ausdrückt, war Thaer eben
ſo thätig am Schreibtiſch, wie auf dem Ackerfeld. In den
erſten 10 Jahren ſeines Moegliner Aufenthalts würde es ihm
ſogar ſehr ſchlimm ergangen ſein, wenn der Erwerb ſeiner Feder
nicht dem ſtockenden Erwerb des Pfluges zu Hülfe gekommen
wäre. Mannigfaches erſchien in jenen Jahren von ihm; vor allem
jedoch ſei hier ſeines Meiſterwerkes gedacht, das unter dem Titel
„Grundzüge der rationellen Landwirthſchaft“ (4 Bände)
1810—12 veröffentlicht wurde. Das Werk, wie alle Welt jetzt
weiß, war epochemachend. Dennoch hätte er ſich ſchwerlich ſchon
[246] damals zur Herausgabe deſſelben verſtanden, wenn nicht die preſ-
ſende Noth, in der er ſich befand, ihm keine Wahl gelaſſen hätte.
Er beklagte dies oft, denn wie groß die Freude geweſen war, mit
der die landwirthſchaftliche Welt dieſes Werk begrüßt hatte, ihm
ſelbſt genügte es keineswegs. Wir können indeß auf Thaer
und ſein berühmtes Werk anwenden, was Luther einſt bei Tiſch
vom Melanchthon ſagte: „Magiſter Philippus hätte Apologiam
confessionis zu Augsburg nimmermehr geſchrieben, wenn er nicht
wäre ſo getrieben und gezwungen worden; er hätte wollen es
immer noch beſſer machen.“ Die „rationelle Landwirthſchaft“
hat verſchiedene Auflagen erlebt und iſt in verſchiedene Sprachen
überſetzt worden; zu einer Umarbeitung aber iſt Thaer nicht ge-
kommen, wie ſehr dieſelbe auch innerhalb ſeiner Wünſche lag. Die
anderweiten Schriften ſeiner Moegliner Epoche (worunter nament-
lich verſchiedene Bücher und Brochüren über Schafzucht und
Wollproduktion) übergehen wir hier. Es mögen ſtatt deſſen von
ihm ſelbſt herrührende Worte hier Platz finden, die ihn uns, bis
in ſein hohes Alter hinein, von einer ſeltenen Friſche des Geiſtes
und von einer ſteten Geneigtheit zeigen, das Gute durch das Beſ-
ſere zu erſetzen. „Meine Meinung, ſo ſchreibt er, habe ich über
verſchiedene Dinge in meinem Leben oft geändert, und hoffe es,
wenn mir Gott Leben und Verſtand noch länger erhält, noch
mehrmals zu thun. Es freut mich immer, wenn ich Gründe dazu
habe, denn ſo komme ich in meinem Wiſſen vorwärts. Ich halte
den für einen Thoren, der in Erfahrungsſachen ſeine
Meinung zu ändern, nicht geneigt iſt.“
Wir werfen noch einen Blick auf die letzten Jahre ſeines
Lebens. Nachdem er ſchon ſeit 1810 und 11 mittelbar im Staats-
dienſt thätig geweſen und z. B. 1813 ſchon eine Gemeinheit-
theilungs-Ordnung (eine Angelegenheit, mit der er auch ſpäter
praktiſch viel beſchäftigt war) entworfen hatte, wurde er 1819
zum Geheimen Ober-Regierungsrath ernannt. 1823 folgte der
ſchon erwähnte Leipziger Wollconvent, dem er präſidirte; das
Jahr darauf (1824) feierte er unter zahlreicher Betheiligung von
[247] nah und fern ſein Doktor-Jubiläum. Unter den vielen Geſchenken
und Ueberraſchungen, die der Tag brachte, war auch ein Goethe-
ſches, eigens für dieſen Tag gedichtetes Lied:
1825 auf 26 erweiterte er ſeinen Beſitz durch Ankauf der
benachbarten Rittergüter Lüdersdorf und Biesdorf, und der neue
Beſitz regte ſeinen landwirthſchaftlichen Eifer noch einmal auf das
Lebhafteſte an. Aber das Feuer war im Erlöſchen. Schon das
Jahr zuvor hatte er an ſeinen Schwager Jacobi in Celle ge-
ſchrieben: „Wir haben nun bald unſere Laufbahn auf dieſer Welt
vollendet. Wir können vor vielen Andern ſagen, daß unſer Leben
köſtlich geweſen, aber doch nur ein elend jämmerlich Ding. Mit
Sehnſucht erwarten wir ein anderes; Gott erleichtere uns den
Uebergang in daſſelbe.“ Noch einige Jahre waren ihm gegönnt,
aber Schmerzensjahre. Er litt an rheumatiſchen Beſchwerden, end-
lich bildete ſich ein ſchmerzhaftes Fußleiden aus, der Alters-
brand. Er litt ſehr. Des berühmten Dieffenbach Heilverſuche
ſchafften vorübergehend Linderung, aber die Uhr war abgelaufen:
Thaer entſchlief am 26. Oktober 1828.
Thaer war von mittlerer Größe, fein und ſchlank gebaut, in
allen Theilen von gutem Verhältniß, und von feſter, ruhiger, im-
mer bequemer Haltung und Bewegung. Sein Aeußeres war im
Ganzen nichts weniger als imponirend, hatte jedoch etwas trocken
Ablehnendes, ſo daß ſich der Fremde nicht leicht auf den erſten
Blick zu ihm hingezogen fühlte. Seine Züge zeigten nicht viel
Beweglichkeit; der Mund war geſchloſſen, zurückgezogen, ſchweig-
ſam, aber mit dem unverkennbaren Ausdruck der abſichtsloſeſten
Güte. Seine Augen waren rechte Künſtleraugen, ſehr bedeutend
und von ungewöhnlicher Klarheit; dabei ruhig prüfend, man
fühlte, daß er auch den verborgenen Fleck traf. Sein gutes, wei-
ches Herz verrieth ſich leicht, auch bei geringerer zufälliger Anre-
gung. Was man jedoch ein gefälliges Weſen nennt, war ihm
[248] ſo wenig eigen, wie jede Art oberflächlicher Liebenswürdigkeit. Als
Schriftſteller innerhalb ſeines Fachs gehört Thaer in den höch-
ſten Rang. Er war nicht eigentlich ein erfindendes Genie, aber er
fand ſeine Stärke in der beharrlichſten Anwendung ſeines geſun-
den Verſtandes und ſehr ausgebildeten Scharfſinns. Daß er gleich
anfangs ſich einer faſt allgemeinen Anerkennung zu erfreuen hatte,
verdankte er ganz vorzüglich ſeiner Aufrichtigkeit und Treue
in Erzählung von Thatſachen und der edlen Offenherzigkeit,
mit welcher er auch das erzählte, worin er ſich früher geirrt hatte.
Das Bewußtſein ſeines großen Ziels machte ihn ſtark, feſt, be-
harrlich, muthig; ſeine Leiſtungen aber ſchienen ihm immer unzu-
länglich, ja ſelbſt geringfügig gegen das, was ſeiner Seele vor-
ſchwebte. Ein Jagen nach Berühmtheit, wie es ſich bei weniger
Begabten ſo oft findet, blieb ihm durchaus fremd. Unterſuchen,
forſchen, prüfen, war ihm von Jugend auf wie zur zweiten Na-
tur geworden und die Verſe Hagedorns erſchienen wie an ihn
gerichtet:
Sein Leben, wie er ſelbſt ſchreibt, war köſtlich geweſen, den-
noch empfand er zuletzt die „Sehnſucht nach einem anderen“, wo
kein Suchen und kein Forſchen iſt. Wir aber, die wir noch in-
mitten des Kampfes ſtehn, den die Erde von uns heiſcht, haben
ihm zu danken, daß er geſucht und geforſcht.
Nachdem wir bis hieher dem Manne gefolgt ſind, deſſen
Name unzertrennlich von dem Namen Moeglins geworden, wen-
den wir uns nunmehr wieder der Stätte zu, wo er gelebt.
Moeglin, auch äußerlich genommen, iſt (wenn man den Aus-
[249] druck geſtatten will) „nur Thaer“, und in dieſem Umſtand liegt
ſein Reiz und ſeine Eigenthümlichkeit. Im Uebrigen wirkt das
ganze Dorf faſt wie eine Ueberraſchung. Etwas in der Tiefe
gelegen und durch keinen Kirchthurm in die Weite hin verrathen,
tritt man plötzlich, unter alten Bäumen hindurch, wie in ein
Camp, eine Niederlaſſung ein und hat hier, maleriſch gruppirt,
alles zuſammen, was zur Bedeutung und zur Poeſie des Ortes
gehört.
Den Mittelpunkt des Ganzen bildet ein Teich, den nach
rechts hin hohe Schilfwände, nach links hin hohe Erlenbäume
umfaſſen. Dieſſeits des Teichs, neben der Stelle, wo wir uns
ſelbſt befinden, ſteht die alte Feldſteinkirche, von einer Linde, die
nicht viel jünger ſein mag als die Kirche, überſchattet. Jenſeits
des Teichs, freundlich blinkend im Schmuck eines angebauten
Glashauſes, ſteht das Wohngebäude; dahinter ein Haus von
ähnlicher Größe — die ehemalige Akademie. Die Wirthſchafts-
gebäude, darunter die berühmte Stammſchäferei, verſtecken ſich zum
Theil hinter den hohen Bäumen, die den engen Kreis des Bildes
(Teich, Kirche, Wohnhaus, Akademie) umzirken.
Perſönlichkeiten, von zum Theil hervorragender Stellung in
Leben oder Wiſſenſchaft, drängten ſich an dieſer Stelle während
der letzten 50 Jahre und ſo darf es nicht Wunder nehmen, daß
jeder Fußbreit Erde hier ſeine Erinnerungen hat. Am Südrande
des Teichs, der Kirche zunächſt, fällt uns eine Erdpyramide auf,
von Blumen überdeckt und terraſſenförmig ſich zuſpitzend. Es iſt
ein Grabhügel. Unter ihm ruht Albrecht Thaer, und auf den
Treppenſtufen des Hügels, der mehr ein Blumengarten als ein Grab
iſt, blühen, den Sommer hindurch, 400 Blumen jahrein, jahraus.
Am Weſtrande des Teichs bemerken wir den zerſplitterten
Stamm eines vom Winde abgebrochenen Baumes. Das ſind die
Ueberbleibſel der „Herzogs-Weide“ die hier ſtand. Zu den erſten
Freunden und Genoſſen Thaers, bei ſeiner Ueberſiedelung nach Moeg-
lin, gehörte der Herzog von Holſtein-Beck, damals (1804 auf 5)
bereits ein Mann von nah an 50, ein Vertrauensmann des
[250] Kaiſers Paul, wie er vorher ein Freund des Rheinberger Prinzen
Heinrich geweſen war. Der Herzog lebte monatelang als Moegliner
Gaſt, und dieſe Weide am Teich war ſein bevorzugter Aufenthalt, wo
er zu ſitzen und zu ſinnen liebte. Es durfte wohl ſo ſein. Die
Zweige des Baumes hingen in den Teich nieder, das blaugraue
Laub war doppelt ſchön auf einem Hintergrund dunkler Erlen,
und der an der Wurzel 7 Fuß dicke Stamm theilte ſich höher
hinauf in zwei Stämme. Zwiſchen dieſen hatte der Herzog ſeinen
Platz. Beim Abſchied ſchrieb er, in dankbarer Erinnerung an die
hier verträumten Stunden:
Das Wohngebäude, reich an Erinnerungsſtücken aller Art,
an Bildern und Büſten, iſt faſt eben ſo ſehr ein Thaer-Mu-
ſeum, als ein Wohnhaus. Auf Namhaftmachung dieſer Erinne-
rungsſtücke (meiſt Darbringungen von nah und fern) leiſten wir
hier Verzicht; ebenſo auf eine Schilderung des Akademie-Gebäu-
des, der Lehr- und Wohnzimmer, der Bibliothek und der natur-
wiſſenſchaftlichen Sammlungen, die ſich darin vorfinden.
Wir verweilen nicht bei dieſen Dingen, die, trotz ihrer ſach-
lichen Beſcheidenheit, an die erſten glänzenden Jahre der Akademie
erinnern, wir treten lieber aus den öden Zimmern wieder in’s
Freie, wo ein zierlicher in Front des Gebäudes aufſteigender
Obelisk an ein ſchönes Feſt (vielleicht das ſchönſte) mahnt, das
hier gefeiert wurde; freilich zugleich auch an das Erlöſchen der
Flamme, die hier einſt brannte. Die Inſchrift des Obelisken be-
zeichnet die Art des Feſtes. Sie lautet: „Zur Erinnerung an das
[251] 50jährige Beſtehen der landwirthſchaftlichen Akademie zu Moeglin,
im Oktober 1856.“ An der andern Seite befindet ſich Thaers
Reliefbild; darunter die Namen aller Schüler, die zur Errichtung
dieſes Denkſteins beitrugen.
Dieſe Feier, wie ſie das halbhundertjährige Beſtehen bezeich-
nete, und einem 50jährigen Leben galt, bezeichnete doch auch zu-
gleich den „Anfang vom Ende“, und die leiſe Mahnung klang
durch, „daß es Zeit ſei.“ Vielleicht gab dieſe Stimmung dem Feſt
eine beſondre poetiſche Weihe. Viele waren gekommen, alt und
jung, um dieſer Stätte und dem Gedächtniß des Mannes, der
hier in ſeltenem Maße ſegensreich gewirkt hatte, ihren Dank dar-
zubringen. Dieſer Dank fand in dem Liede eines jüngeren Feſt-
genoſſen ſeinen Ausdruck. Das Lied, das wir aus dem Gedächtniß
wiedergeben, lautet:
[252]
Wir aber nehmen Abſchied jetzt von dieſer Stätte und von
Moeglin. Unſer Heimweg führt uns an dem Grabhügel vorüber,
der in Blumen ſteht, roth und weiß, als gäb’ es keinen Herbſt
und kein Scheiden. Die alte Steinkirche daneben, die ſchon ſo
vieles überdauert, wird vielleicht auch dieſen Hügel überdauern,
aber nicht das Andenken an ihn, der unter dieſem Hügel ſchläft.
[[253]]
Freienwalde.
1.
Von Falkenberg nach Freienwalde. Die Stadt.
Der Ruinenberg. Monte Caprino.
Am grünen Bergeshang;
Dort Sicheln und Senſen blitzend
Die reiche Flur entlang;
Und weiterhin die Ebne,
Die ſtolz der Strom durchzieht. …
Uhland.’
Es kommt aus Gottes Haus.
W. Müller.’
Freienwalde — hübſches Wort für hübſchen Ort. Seine Recht-
ſchreibung ſchwankt; aber ob wir Freienwalde ſchreiben (von „frei
im Wald“) oder Freyenwalde (von Freya im Wald), in den
Marken giebt es wenig Namen von beſſerm Klang. „Fehrbellin“
klingt ſchöner, poetiſcher vielleicht (wie Trompetenſignale hallt es
dazwiſchen), aber Freienwalde iſt lachender, hat freundlicheren Klang.
Viele Wege führen nach Freienwalde; dies hat es mit be-
rühmteren Plätzen gemein. Wir wählen heute nicht die kürzeſte
Strecke quer über das Plateau des Barnim hin, ſondern die
üblichſte, über Neuſtadt-Eberswalde, die, trotz des Umwegs, am
raſcheſten zum Ziele führt. Bis Neuſtadt — Eiſenbahn, von da
aus Poſt. Der Neuſtädter Poſtillon, einer von den alten, mit zwei
[254] Treſſen auf dem Arm — bläſt zum Sammeln, und während links
die weiße Wolke des weiter dampfenden Zuges am Horizont ver-
ſchwindet, biegt unſer Poſtwagen rechts in die Chauſſee ein, die
uns, auf der erſten Hälfte des Weges, abwechſelnd über Thal und
Hügel, dann aber, vom ſchönen Falkenberg aus, am Fuße des
Barnim-Plateau’s hin, dem Zielpunkt unſerer Reiſe entgegenführt.
Wie oft bin ich dieſes Weges gekommen! um Pfingſten, wenn
die Bäume weiß waren von Blüthen, und um Weihnachten, wenn
ſie weiß waren von Schnee; heut aber machen wir den Weg zur
Pflaumenzeit und freuen uns des Segens, der lachend und ein-
ladend zugleich an den geſtützten Zweigen hängt. Es iſt um die
vierte Stunde, der Himmel klar, und die niederſteigende Sonne
kleidet die herbſtliche Landſchaft in doppelt ſchöne Farben. Der
Wagen, in dem wir fahren, hindert uns nicht, uns des ſchönen
Bildes zu freuen; es iſt keine übliche Poſtchaiſe mit Ledergeruch
und kleinen Fenſtern, es iſt einer von den großen Sommerwagen,
wie ſie zur guten Jahreszeit zwiſchen Neuſtadt und Freienwalde
auf- und abfahren, ein offnes Gefährt mit 20 Plätzen und einem
„Himmel“ darüber, der auf 4 Stangen ruht. Dieſer „Himmel“
— die Urform eines Baldachins, der Wagen ſelbſt aber dem alten
Geſchlecht der Kremſer nah verwandt, an deren Stelle mehr und
mehr das Kind der Neuzeit „der Omnibus“ zu treten droht.
In leichtem Trabe geht es auf der Chauſſee wie auf einer
Tenne hin, links Wieſen, Waſſer, weidendes Vieh und ſchwarze
Torfpyramiden, rechts die ſteilen, aber ſich buchtenden Hügel-
Wände des Plateaus, deren natürlichen Windungen die Straße
folgt. Aber nicht viele befinden ſich auf unſerem Wagen, denen
der Sinn für Landſchaft aufgegangen; — Erwachſene haben ihn
ſelten und Kinder beinah nie. Die Beſatzung unſeres Wagens be-
ſteht aber (drei Mütter abgerechnet) aus lauter Kindern, und wäh-
rend mein Auge ſich links hält und den Maſchen des blauen
Waſſernetzes folgt, wenden ſich die Kinderaugen immer begehrlicher
dem näher liegenden Reiz des Bildes — den blauen Pflaumen
zu. In vollen Büſcheln hängen ſie da, eine verbotene Frucht, aber
[255] deſto verlockender. „Die ſchönen Pflaumen“ klingt es von Zeit zu
Zeit, und ſo oft unſer Kremſer den Bäumen nahe kommt, fahren
etliche kleine Hände zum Wagen hinaus und ſuchen die nächſten
Zweige zu haſchen.
Aber umſonſt. Die Bewundrung fängt ſchon an (wie immer
in ſolchen Fällen) in Mißſtimmung überzugehen. Da endlich be-
ſchleicht ein menſchliches Rühren das Herz des Poſtillons und auf
jede Gefahr, ſelbſt auf die der Pfändung und Anzeige hin, links
einbiegend, fährt er jetzt mit dem wachsleinenen Baldachin mitten
in die Zweige des nächſten Baumes hinein. Ein Meiſtercoup. Wie
aus einem Füllhorn, fällt es von Front und Seite her, in den
Wagen hinein; alles greift zu; der kleinſte aber, ein Blondkopf,
der vorne ſitzt und die Leine mit halten darf, als führ’ er ſelber,
deklamirt jetzt, auf den ſchmunzelnden Poſtillon zeigend:
und während alle Inſaſſen des Wagens, jung und alt, in den
Kinderreim mit einſtimmen, geht es an Landhäuſern und
Waſſermühlen, an Gärten und Fiſchernetzen vorbei, in das hübſche
aber holprige Freienwalde hinein.
Freienwalde iſt eine Bergſtadt, aber nicht minder iſt es ein
Badeort, eine Fremdenſtadt. Wir haben erſt eine einzige Straße
paſſirt und ſchon haben wir fünf Hôtels und eine Hof-Apotheke
gezählt; noch ſind wir nicht ausgeſtiegen und ſchon raſſeln andere
Poſtwagen von rechts und links heran; das Blaſen der Poſtillone
nimmt kein Ende; Herren in grünen Reiſeröcken und Tyroler
Spitzhüten wiegen ſich auf ihren Stöcken und umſtehen das Poſt-
haus, blos in der vagen Hoffnung, ein bekanntes oder gar ein
hübſches Geſicht zu ſehen; Hausknechte erheben ihre Stimme zu
Ehren der „drei Kronen“ oder der „Stadt Berlin“, und die erſten
Anfänge des Ciceronethums, räthſelhafte Geſtalten in Flaußröcken
und Strohmützen, ſtellen ſich ſchüchtern dem Neu-Ankommenden
vor und erbieten ſich ihm die Schönheiten der Stadt zu zeigen.
[256] Nur der fliegende Buchhändler fehlt noch, der die „Schönheiten
Freienwalde’s“, beſungen und lithographirt, mit beredter Zunge
anzupreiſen verſtände.
Freienwalde iſt ein Badeort, eine Fremdenſtadt und trägt den
Charakter davon zur Schau; was ihm aber ein ganz eigenthüm-
liches Gepräge giebt, das iſt das, daß alle Bade- und Brunnen-
gäſte, alle Fremden, die ſich hier zuſammen finden, eigentlich keine
Fremden, ſondern märkiſche Nachbarn, Fremde aus nächſter
Nähe ſind. Dadurch iſt der Charakter des Bades vorgeſchrieben.
Es iſt ein märkiſches Bad und zeigt als ſolches in allem jene
Schlichtheit und Leichtbegnüglichkeit, die (einzelne Reſidenz-Aus-
nahmen zugegeben) noch immer einen Grundzug unſeres märkiſchen
Weſens bilden. Zum Theil viel mehr noch, als wir ſelber wiſſen.
Freienwalde iſt kein Roulette- und Equipagen-Bad, kein Bad des
Rollſtuhls und des galonnirten Bedienten, am wenigſten ein Bad
der 5 mal gewechſelten Toilette. Der breite Stempel, den die
ächten und unächten Engländer ſeit 50 Jahren allen europäiſchen
Badeörten aufzudrücken wußten, hier fehlt er noch, hier iſt der
complicirte „Breakfaſt-Tiſch“ noch ein kaum geahntes Geheimniß,
hier wird noch gefrühſtückt, hier ſucht noch kein grüner und
ſchwarzer Thee die alte Herrſchaft des Morgenkaffee zu untergra-
ben, hier herrſcht noch die vaterländiſche Semmel und weiß nichts von
Butter-Toaſt und Muffin, des Luftbrodes (aêrated bread) und
anderer Neuerungen von jenſeit des Kanals ganz zu geſchweigen.
Und einfach wie die Frühſtücksfrage, ſo löſt ſich auch die
Frage des Koſtüms. Der Shawl, der früher eine Mantille, oder
die Mantille, die früher ein Shawl war, der Hut mit der neuen
„Rüſche“, der Handſchuh, der drei mal durch die Brönner-Probe
ging, — hier haben ſie noch Hausrecht, und das 12 Jahr ge-
diente Leihbibliothekenbuch, hier ruht es noch frei und offen, auf
dem Antimakaſſar-Stuhl, mit der ganzen Unbefangenheit eines
guten Gewiſſens. Nichts von Hyperkultur, wenig von Comfort.
Während überall ſonſt ein gewiſſer Kosmopolitismus die Eigenart
jener Städte, die das zweifelhafte Glück haben „Badeörter“ zu
[257] ſein, abzuſchwächen oder ganz zu verwiſchen wußte, iſt Freienwalde
eine märkiſche Stadt geblieben. Kein Wunder. Nicht der Welt-
touriſt, nur die Mark kehrt hier bei ſich ſelber zum Be-
ſuche ein.
Freienwalde, wie wir ſahen, iſt eine Bergſtadt; Bergſtädte
aber ſind ſelten die Stätten einer glänzenden Architektur. Die
Häuſer, überall ein „beſtes Plätzchen“ ſuchend, ſchaffen mehr Gaſ-
ſen und Winkel als eigentliche Straßen, und das Beſte, was wir
von Freienwalde zu ſagen wiſſen, iſt, daß es von dem bedenklich-
pittoresken Vorrecht wirklicher Bergſtädte keinen allzuſtarken Ge-
brauch macht. Die Buden-Gaſſe, der ſeidene Beutel, der Köter-
oder Rosmarinweg ſind freilich Lokalitäten, die dem Klange ihres
Namens ſo ziemlich gleich kommen, aber der Marktplatz mit ſeiner
kahlen Geräumigkeit (nur Raum, nur Weite) macht vieles wie-
der gut. Weite hier und Enge dort, hätten ſich gegenſeitig aus-
helfen können.
Die Schönheit der eigentlichen Stadt iſt mäßig, ihr Reiz
liegt draußen auf den Bergen. Dieſen Bergen verdankt es Alles,
was es iſt: von dort aus kommen ſeine Quellen und von dort
aus gehen die „Blicke“ in’s Land hinein. Dieſe Quellen aber und
dieſe Ausſichtspunkte ſind es, die die Stadt zu einem Brunnen-
und Fremdenort gemacht haben. Wer nicht kommt, um hier die
Eiſenquelle zu trinken, der kommt doch um einen Blick in die
„märkiſche Schweiz“ zu thun. Dieſen Freienwalder Bergen nun,
den Hütern, Wächtern und zum Theil den Ernährern der Stadt,
ſchreiten wir jetzt zu.
Zunächſt der Ruinenberg. Er erhebt ſich unmittelbar im
Rücken der Stadt und hat mit dem bekannten Potsdamer „Brau-
hausberge“ das eine gemein, daß er, wie dieſer, gleichſam die
älteſte Ausſichts-Firma und nach Anſicht vieler noch immer die
beſtfundirte, repräſentirt. Er iſt am leichteſten zu erſteigen; das iſt
eins, was ihn empfiehlt. Keine Schneckengänge winden ſich endlos
hinauf, bequeme Terraſſen bilden den Weg, und (die Ausſicht auf
Gärten rechts und links), ſo erreicht man die Höhe, plaudernd-
17
[258] leicht, als ſtiege man die Treppen eines Renaiſſance-Schloſſes hinan.
Der Blick vom Ruinenberg aus hat nur in Front eine Bedeu-
tung, wo man zunächſt auf die maleriſch in der Tiefe liegende
Stadt, dann über die Thürme und Dächer hinweg in die duftige
Friſche der Bruchlandſchaft hernieder blickt. Wie ein Bottich liegt
das weitgeſpannte Oderbruch da, durchſtrömt von drei Waſſerarmen:
der faulen, alten und neuen Oder, und eingedämmt von Bergen
hüben und drüben, die, wie eben ſo viele Dauben, die grüne Bottich-
tiefe umſtehn. Meilenweit nur Wieſen; keine Fruchtfelder, keine Dörfer,
nur Heuſchober dicht und zahllos, die, immer kleiner und grauer wer-
dend, am Horizonte endlich zu einer weidenden Heerde zuſammenzu-
ſchrumpfen ſcheinen. Nur Wieſen, nur grüne Fläche; dazwiſchen einige
Kropfweiden; ’mal auch ein Kahn, der über dieſen oder jenen Arm der
Oder hingleitet, nur ſelten ein Fuhrwerk (natürlich mit Heu be-
laden) oder ein Ziegeldach, deſſen helles Roth wie ein Lichtpunkt
auf dem Bilde ſteht. Der Anblick iſt ſchön in ſeiner Art, und
weſſen Auge krank geworden iſt in Licht und Staub und all dem
Blendwerk großer Städte, der wird hier Geneſung feiern und dies
Grün begrüßen wie ein Durſtiger einen Quell begrüßt; aber der
Anblick, ſo erlabend er iſt, leidet doch Einbuße durch ſeine Mono-
tonie. Auf Meilen hin daſſelbe. Erſt weiter ſüdwärts, nach Frank-
furt zu, verändert das Bruch ſeinen Charakter: Fruchtfelder treten
an die Stelle der Wieſen, Dörfer reihen ſich aneinander und
ſchaffen ein Bild voll Schönheit und Fruchtbarkeit, wie es die
Mark in dieſer Vereinigung nicht zum zweiten Male beſitzt. Aber
dieſe Landſchaftsbilder ſind von hier aus noch meilenweit entfernt.
Der Ruinenberg blickt weit in’s Bruch hinein, wodurch er
ſich indeſſen von den Nachbarbergen am weſentlichſten unterſcheidet,
das iſt ſein Blick auf das ihm zu Füßen liegende Freienwalde.
Außerdem hat er ſeine hiſtoriſchen Traditionen; Erinnerungen, denen
wir es nicht zum Böſen anrechnen wollen, daß ſie ſich in ſagen-
hafte Vorzeit verlieren. Es hat dies folgenden Zuſammenhang. Bei
Nachgrabungen, die im Spätherbſt 1820 hier angeſtellt wurden,
ſtieß man, etwa 4 Fuß tief unter der Erde, auf Fundamente, die
[259] nach ſorglicher Ausmeſſung eine Länge von 136 Fuß ergaben.
Es war juſt die Zeit, wo man hierlandes in die vor-wendiſche
Zeit zurückzuſteigen und die alte Mark, als ein ehemaliges ur-
germaniſches Land, mit Longobarden und Semnonen zu bevölkern
trachtete. Das Bade-Comité — wie alle Bade-Comités — ſtand
natürlich auf der Höhe ſeiner Zeit. Die Folge davon war, daß
Seitens deſſelben das 136 Fuß lange Fundament ohne Weitres
als die Seitenwand eines Freya-Tempels feſtgeſtellt, zugleich aber
(zwei Fliegen mit einer Klappe ſchlagend) jeder etymologiſche Zwei-
fel über „Freienwalde“ oder „Freyenwalde“ ein für allemal be-
ſeitigt wurde. Das Fundament ſelbſt, alsbald an’s Licht geſchafft,
erfuhr eine doppelte Verwendung. Die eine Hälfte ward ohne
weitres zur Aufführung eines Mauerbruchſtücks verwandt, in das
eine Marmor- oder Kalkſteintafel mit der Geſchichte „der Auffin-
dung des Freyatempels“ eingelaſſen wurde; während die andre
Hälfte, ebenfalls nach der Sitte der Zeit, als künſtlicher „Ruinen-
thurm“ in eine neue Phaſe des Daſeins trat. Dieſer künſtliche
Ruinenthurm erhielt, trivial aber wohlmeinend, die Inſchrift: „Wie
ſchön iſt Gottes Erde.“
Unſer nächſter Beſuch gilt dem Ziegenberg (oder „Zicken-
berg“ wie er früher hieß), der ſich jedoch an ſeiner einfachen Er-
hebung in’s Hochdeutſche nicht genügen ließ und deshalb jetzt als
„Monte Caprino“ auftritt. Von ſeiner Höhe blickt man ebenfalls
in die Bruchlandſchaft hinein, aber die Stadt im Vordergrunde
fehlt. Dies führt uns darauf hin, die Bergpartieen, wie ſie ſich
um Freienwalde herum gruppiren, auf ihre eigenthümliche Forma-
tion hin ein wenig näher anzuſehen. Ihre Eigenthümlichkeit beſteht
darin, daß ſie, wiewohl frei und offen daliegend, doch zugleich
einen ſehr excluſiven Charakter haben und unter einander
(landſchaftlich) in gar keiner oder ſehr geringer Verbindung ſtehn.
Wir beſchreiben dieſe hufeiſenförmigen, nach vorn hin geöffneten
Thäler vielleicht am beſten, wenn wir ſie, als ebenſo viele Am-
phitheater bezeichnen. Da alle dieſe Amphitheater am Bruche ent-
lang liegen und nach vorn hin geöffnet ſind, ſo iſt der Blick auf
17*
[260] das Bruch das allen gemeinſame; alles das aber, was ſie
nach rechts und links hin mit ihren Flanken umſpannen, iſt ihre
Beſonderheit, ihre Specialität, und kann nur von den verſchiede-
nen Plätzen des eignen, nicht aber von den Nachbar-Plätzen des
angrenzenden Amphitheaters aus geſehen werden. Freienwalde, wie
ſchon erzählt, ſchiebt ſich in das Amphitheater des Ruinenberges
hinein und wird von dem Höhenzuge deſſelben derart beherrſcht
und flankirt, daß ſelbſt der zunächſt liegende Monte Caprino nir-
gends in den umſchloſſenen Halbkreis des Nachbars hinein zu
blicken vermag.
Wenn wir den Ruinenberg die „älteſte Firma“ nannten, ſo
iſt der Monte Caprino die jüngſte. Profeſſor Valentini (aus
alten Berliner Tagen her manchem unſerer Leſer bekannt) hat der
Stadt, in die er ſich zurückzog, vor 10—20 Jahren dieſen Berg
erobert und die höchſte Kuppe deſſelben in die Liſte der Freien-
walder Schönheiten eingereiht. Dank ihm dafür. Ob wir ihm auch
für das Häuschen zu danken haben, das unter dem Namen „Va-
lentini’s Ruh“ ſich an höchſter Stelle des Berges erhebt und mit
blau und rothen Gläſern ausſtaffirt, den Beſucher auffordert, die
Wieſenlandſchaft abwechſelungshalber auch in blau und roth auf
ſich wirken zu laſſen, — wiſſen wir nicht; aber wir entſinnen
uns Valentini’s und müſſen deshalb hinzuſetzen: wir fürchten
es. Wir fürchten leider auch, daß die poetiſche Zinkblech-Inſchrift,
die (doppelſpaltig) die eine Wand des Häuschens fünf Fuß hoch
bedeckt, auf dieſelbe Urheberſchaft zurückgeführt werden muß. Wer
hier geſtanden und dieſen Verſen gegenüber nach Verſtändniß ge-
rungen hat, denkt mit Wehmuth an den Ruinenberg und den
kurzgefaßten Hölty’ſchen Nachklang zurück.
Wenige freilich werden, angeſichts dieſer lächelnden Land-
ſchaft, Luſt bezeugen, unſern alten Profeſſor auf die Monte Ca-
prino-Höhe ſeines mißverſtandenen Pantheismus zu begleiten, we-
nige werden ihn leſen, und ſie thuen Recht daran. Aber eine Auf-
gabe, deren ſich der freie Wandersmann entſchlagen kann, wird
zur unabweislichen Pflicht für den ex officio Reiſenden, der leſen
[261]muß und der in Nachſtehendem aphoriſtiſch enthüllt, was er an
Ort und Stelle gewiſſenhaft verzeichnet hat. Das Ganze iſt ein
in’s Religiöſe hinüberklingender Naturhymnus, in dem Logik und
Grammatik, wie der Lahme und Blinde, einen wunderlichen Wett-
lauf anſtellen. „Gott (ſo hebt die Inſchrift an) iſt die Seele ſei-
ner Schöpfung, in der Er ſich gleichſam wie in ein herrliches
Gewand hüllt.“ Dieſer Dativ überraſcht; aber Valentini bringt
alles wieder in’s Gleichgewicht. „Wie ein freundlicher Talisman
(ſo fährt er fort) erhält uns die Religion über die Wellen im
Schiffbruch des Lebens.“ So vollzieht er (in ſeinem eignen Hym-
nus) einen Akt der Gerechtigkeit und zahlt ſchließlich dem Akku-
ſativ die Schuld zurück, die er Anfangs bei ihm eingegangen.
Denken wir milde darüber, hat er doch ſelber ſeitdem die
letzte Schuld gezahlt. Auf „Valentini’s Ruh“ raſten jetzt Andere,
er ſelber aber iſt, am Fuße des Hügels, längſt eingegangen zu
dauernder Ruh.
[[262]]
2.
Falkenberg.
An die Berge geſchmiegt das weite Gefild,
Falter fliegen im Sonnenſtrahl.
Paul Heyſe.’
Etwa wie ſich Heringsdorf zu Swinemünde verhält, ſo verhält
ſich Falkenberg zu Freienwalde. Ein Dorf, das, durch ſeine ſchöne
Lage, vielleicht auch durch den ſchlichten Zauber des Ländlichen
bevorzugt, dem eigentlichen Badeort (zu dem es früher nur An-
hängſel war) gefährlich zu werden droht. So dort wie hier. Der
Vergleich ließe ſich ohne Zwang noch weiter durchführen. Die
Entfernungen ſind ſo ziemlich dieſelben, und wie ſich zwiſchen He-
ringsdorf und Swinemünde ein tannenbekränzter Dünenrücken
zieht, deſſen höchſte Punkte einen prächtigen Blick, weit in die grün-
liche See hinaus, geſtatten, ſo ziehen ſich zwiſchen Freienwalde
und Falkenberg die ſteilen, Tannen- und Laubholzbeſetzten Ab-
hänge des Barnim-Plateaus, deſſen Kuppen meilenweit in das
grüne Bruchland herniederſehen.
Der Weg von Freienwalde nach Falkenberg iſt begreiflicher-
weiſe derſelbe, wie von Falkenberg nach Freienwalde; wir fahren
alſo, am Fuß des Plateaus (jetzt umgekehrt, die Berge links, die
Wieſen rechts), denſelben maleriſchen Weg zurück, auf dem wir
im vorigen Kapitel Freienwalde entgegenfuhren. Die Pflaumen-
bäume ſind noch dieſelben wie am Tage vorher, aber nicht nur
[263] die Kinder fehlen, deren Uebermuth wir geſtern ſchon etwas zu
Gute halten durften, auch der Baldachin fehlt, deſſen ſcharfe
und ausgezackte Wachsleinwand geſtern wie eine Harke in die
Bäume fuhr. Ohne Erlebniß, ohne Lärm und Jubel, nur dem
ſtillen Eindruck der Landſchaft und der Herbſtesfriſche hingegeben,
beenden wir unſern Weg und biegen jetzt, mit plötzlicher Schwen-
kung nach links, in die Falkenberger Dorfſtraße ein. Bis dahin
am Rand der Berge fahrend, ſind wir, durch dieſe Biegung,
wie in das Dorf, ſo auch in die Berge ſelbſt gerathen. Die
ſteile Wand, die eben noch frei in’s Bruch blickte, blickt jetzt auf
eine Bergwand gegenüber; das Bild hat ſeinen Charakter ge-
ändert, und der nach rechts hin geöffnete Weg iſt ein Hohlweg,
eine Schlucht geworden. In dieſer Schlucht liegt Falken-
berg. Die einſchließenden Berge gewähren die ſchönſte und wech-
ſelndſte Ausſicht; die Bergwand rechts blickt in das Bruch, die
Wände und Kuppen zur Linken aber blicken in die Verſchlingun-
gen und Keſſeltiefen der eigentlichen Wald- und Berglandſchaft
hinein.
Ehe wir indeſſen dieſe Wände und Kuppen erſteigen und
nach rechts und links hin Umſchau halten, ſteigen wir in die zu
unterſt gelegene Gaſſe des Dorfes nieder, wohin uns die weiße
Wand und mehr noch der melodiſche Lärm einer Waſſermühle
lockt. Dort ſind wir willkommen. Wir nehmen Platz neben der
Thür, und die Steinbrücke vor uns, unter der hinweg der Mühl-
bach ſchäumt (pickende Hühner um uns her und Sommerfäden in
der Luft), ſo raſten wir und plaudern von Falkenberg und ſei-
nen Bewohnern.
Falkenberg iſt doppellebig. Seine Natur bringt das ſo mit
ſich. Die Bruchlandſchaft rechts, die Berglandſchaft links, da ha-
ben wir die Bedingungen dieſer Doppellebigkeit. Die Wieſen ma-
chen es zu einem Bruchdorf, die Berge mit ihren Quellen und
ſchattigen Plätzen zu einem Brunnen- und Badedorf. Im Ein-
klang mit dieſer Doppellebigkeit unterſcheiden wir denn auch einen
Sommer- und einen Winter-Falkenberger.
[264]
Der Winter-Falkenberger, oder der Falkenberger außerhalb
der Saiſon, iſt ein ganz anderer wie der Sommer-Falkenberger,
oder der Falkenberger in der Saiſon. Der Winter-Falkenberger
iſt ganz Märker, d. h. ein Norddeutſcher mit ſtarkem Beiſatz von
wendiſchem Blut. Er iſt fleißig, ordentlich, ſtrebſam, aber miß-
trauiſch, eigenſinnig und zu quäruliren geneigt. Hört man ihn
ſelbſt darüber ſprechen, ſo hat er freilich Recht. Die Wirthſchaft
(d. h. ſeine Wieſe) bleibt doch immer die Hauptſache, das Fun-
dament ſeines Wohlſtandes, und dieſe Wieſe, dies Stück Bruch-
land iſt mit Abgaben überbürdet. „Die Verwallung, ſo hebt der
Winter-Falkenberger an, hat uns Gutes gebracht, aber auch viel
Böſes. Sonſt ſtand das Waſſer auf unſern Wieſen 11 Fuß hoch,
und wir hatten eine unſichere oder auch gar keine Heuernte; jetzt
haben wir die Eindeichung und bringen unſer Heu trocken herein,
aber wir müſſen für den Deich, der uns ſchützt, eine ſo hohe Ab-
gabe oder Beiſteuer zahlen, daß Mancher ſchon gedacht hat: ohne
Deich war es beſſer. Unſer ganzes Unglück iſt, daß ſie „da oben“
die Abgaben und die Beiſteuer ungerecht vertheilen. Die Herren
von der Regierung ſagen: „„wir haben den Damm gebaut und
das Oderbruch trocken gelegt. Wo wir das Bruch von vielem
Waſſer befreit haben, da muß auch viel gezahlt werden, und wo
wir es von wenig Waſſer befreit haben, da wird auch nur wenig
bezahlt.““ Das klingt ſehr ſchön und ſehr gerecht, iſt aber Unge-
rechtigkeit von Anfang bis Ende. Hier bei uns ſtand das Waſſer
alle Frühjahr am höchſten, elf Fuß hoch und drüber, während es
in anderen Theilen des Bruches (und zwar in den beſten und
reichſten) nur einen Fuß hoch ſtand. Was geſchieht nun? Wir
müſſen das Elffache bezahlen, denn man hat uns ja von der elf-
fachen Waſſermaſſe befreit. Aber überſchwemmtes Land iſt über-
ſchwemmtes Land und es iſt ganz gleich, ob das Waſſer ein Fuß
oder elf Fuß hoch auf Wieſe und Acker geſtanden hat.“
So der Winter-Falkenberger. Ich habe ihm anfänglich alles
geglaubt und ihn wochenlang als ein Opfer des Deichverbandes
oder gar einer Regierungs-Laune angeſehen, bis ich ſchließlich mich
[265] überzeugt habe, daß das „wendiſche Blut“ ihn doch auf falſche
Wege geführt und ihn bittrer und eigenſinniger gemacht hatte, als
nöthig. Die Sache iſt nämlich die: Bruchländereien, in denen das
Waſſer vordem elf Fuß hoch zu ſtehen pflegte, genoſſen das trau-
rige Vorrecht, alle Jahre überſchwemmt zu werden, während
Ländereien mit einem Fuß Waſſer, jahrelang von jeder Ueber-
ſchwemmung befreit blieben. Ein Fuß Waſſer oder elf Fuß
Waſſer iſt freilich gleichgültig, aber die Elf-Fuß-Waſſer-Leute hat-
ten eben das Waſſer immer, während es die Ein-Fuß-Waſſer-
Leute vielleicht nur alle elf Jahre hatten. Müſſen aber doch all-
jährlich ihre Beiſteuer zahlen.
Der Winter-Falkenberger iſt märkiſch, der Sommer-Fal-
kenberger iſt thüringiſch, eine Art Ruhlenſer: freundlich, gebil-
det, entgegenkommend. Der Vorübergehende bietet guten Tag,
giebt Auskunft, zeigt den Weg. Ueberall gute Form und gute
Sitte, eine „Manierlichkeit“, wie ſie ſonſt in den Marken (zumal
in den Odergegenden) nicht leicht betroffen wird. Dieſe Manier-
lichkeit iſt zum guten Theil etwas Aeußerliches, ein Kleid, das an-
und abgelegt werden kann, aber wenn ich recht geſehen habe, ſo
iſt dieſe thüringiſch-mitteldeutſche Art, wie ſie einem hier entgegen-
tritt, doch nicht blos etwas Angenommenes, ſondern guten Theils
auch das Produkt einer mitteldeutſchen Landſchaft, einer Thürin-
giſchen Umgebung und Natur. Der modelnde Einfluß, den
die Wohnſtätte des Menſchen auf den Menſchen ſelber übt, wird
wohl kaum noch beſtritten, und hier haben wir ein Beiſpiel da-
von. Die Falkenberger früherer Jahrhunderte, deren Eigenart noch
in dem Winter-Falkenberger fortlebt, hatten ihr Auge nur der
Wieſe und dem Waſſer zugewandt, und ſie waren und blieben
wendiſch-märkiſche Fiſchersleute durch viele Jahrhunderte hindurch;
von dem Augenblick an aber, wo ſie ſich, zumal um die Som-
merszeit, den ſchönen Bergen zuwandten, begann auch der Anblick
des Schönen den Formenſinn zu bilden, die Sitte zu modeln,
und unter dem Einfluß einer ſo nah gelegenen und doch ſo ſpät
erſt entdeckten thüringiſchen Natur entſtand etwas von thüringiſcher
[266] Sitte, von ſächſiſchem Schliff. — Welch Unterſchied jetzt zwiſchen
einem märkiſchen Sanddorf und dieſem gebirgsdorfartigen Falken-
berg! Dort ſchlummert noch der Sinn für das Schöne; die Ar-
muth kennt nur was nöthig, im glücklichſten Fall was nützlich iſt,
aber ſie fragt nicht nach dem, was ziert und ſchmückt. Zieht ſich
eine Allee durch ſolch ein Sanddorf hin, ſo darf man ſicher ſein,
daß ſie ein Befehl in’s Leben gerufen hat; der freie Wille, der
eigne Trieb der Dörfler hätte ſie nie gepflanzt. Wie anders hier.
Jedes einzelne Haus zeigt die Freude an dem, was gefällt. Um
die alten Obſtbaumſtämme rankt ſich der ſorglich gepflegte Epheu
am Gitterdraht, Weingänge laufen an der Rückfront der Häuſer
hin, der Ebereſchenbaum lehnt ſich an den Vorbau der Häuſer,
und Bank und Laube haben ihren beſtimmten Platz. Der Brun-
nen, das Bienenhaus, Kleines und Großes fügt ſich maleriſch in
das Ganze ein, denn der Sinn für das Gefällige, für alles was
ziert und ſchmückt, iſt lebendig geworden und wirkt, ohne Anlauf
und Abſicht, ſelbſtſtändig-thätig in jedem Moment.
Aber freilich Anleitung und Schulung ging dieſem „Selbſt-
ſtändig-thätig-ſein“ voraus und Anregung, Anleitung, treten noch
jetzt, helfend und fördernd, an den Sommer-Falkenberger heran.
Ein geläuterter Geſchmack, das feinere Verſtändniß ſolcher, die we-
der mit dem Winter- noch dem Sommer-Falkenberger etwas Be-
ſtimmtes gemein haben, haben hier in Bauten und Anlagen viel-
fache Muſter geſchaffen. Und ſolcher Muſter bedurfte es aller-
dings. Die Dinge hier, wie ſchon angedeutet, waren nicht immer
das, als was ſie jetzt dem Auge ſich darbieten, und aller gute
Wille der Falkenberger — ſelbſt nachdem ſie gelernt hatten, den
Bergen ſich zuzuwenden — hätte nie ausgereicht, dieſe Sandwand
zur Rechten in Terraſſen und Weingänge und dieſe Berglehnen
zur Linken in Laubholz-Wald zu verwandeln. Ihr Verdienſt war:
ſie folgten, ſie hatten ein Auge für das Beſſere, ſie waren be-
reit zu lernen.
Das Beſte dieſer Umwandlungen verdanken die Falkenberger
dem Natur- und Schönheitsſinn ihres nächſten Nachbars, des Be-
[267] ſitzers von Cöthen, eines Dorfes, deſſen Bergpartieen und Hügel-
abhänge gleichſam die maleriſche Umrahmung des in der Tiefe ge-
legenen Falkenbergs bilden.
In dies Cöthner Bergterritorium hinein ermöglichen ſich nun,
als vorzüglichſter Reiz eines Falkenberger Aufenthalts, allerhand
Ausflüge und Partieen; wir treffen aber wohl das Richtige, wenn
wir nur drei Punkte beſonders namhaft machen und ihnen den
Preis der Schönheit zuerkennen. Es ſind dies die Carlsburg,
die Idas-Eiche und der Cöthner Park. Einer kurzen Beſchrei-
bung dieſer drei Punkte ſelbſt ſchick’ ich eine Beſchreibung des
ihnen gemeinſchaftlichen Terrains voraus. Dies Terrain alſo (im
Rücken Falkenbergs) iſt ein nach vorn hin geöffnetes Keſſelthal
und hat die Form eines Hufeiſens oder eines griechiſchen .
Auf der geſchlungenen Berglinie, die das Keſſelthal bildet, befin-
den ſich Kuppen, die nach den verſchiedenſten Seiten hin in’s
Land hineinſehen, die beiden ſchönſten Punkte aber ſind natürlich
die am freiſten, am meiſten nach vornhin gelegenen: die Carlsburg
und die Idas-Eiche (a und b). Am meiſten zurückgelegen (c)
liegt Dorf Cöthen. Von ihm aus zieht ſich dann, an einem Bach
oder Fließ entlang, von Bergwänden eingefaßt, der Cöthner Park
bis an die Grenze des Falkenberger Gebiets hin.
Die Carlsburg, ein heitres, villenartiges Gebäude, blickt,
von dem ſogenannten Paſchenberg aus, in die Oderbruchlandſchaft
hinein. Der Punkt iſt reizend genug, was aber dieſem Paſchen-
berg als Ausſichtspunkt einen beſondern Reiz verleiht, das iſt die
aparte Schönheit ſeines Vordergrundes, des Dorfes Falkenberg
ſelbſt, über deſſen Schluchten, Dächer und Thürme hinweg der
Blick zu der weiten, grünen Fläche hinüber ſchweift. Schöner faſt
noch, als von der Höhe des Berges aus, hat man dieſe Blicke
ſchon beim Erſteigen deſſelben, wo mannigfache, durch den Wald
geſchlagene Laubengänge die ſchönſten Stellen des Bildes (nament-
lich mit glücklicher Benutzung des Falkenberger Kirchthurms) wie
in einen Rahmen zuſammenfaſſen. — Leicht vom Dorf aus zu
[268] erreichen, eben ſo heiter in ſeiner baulichen Anlage, wie in dem
Blick, den es uns auf die duftige Bruch-Fläche gönnt, iſt die
Carlsburg der bevorzugte Platz der Falkenberger Sommergäſte,
namentlich um die Mittagsſtunde. Hier verſammelt man ſich zu
gemeinſchaftlichem Mahl, hier in Front des Hauſes, unter dem
ſäulengetragenen, geisblattumrankten Vorbau, klingen bei feſtlichen
Gelegenheiten (die ſich ja immer finden) die Gläſer zuſammen,
und die bereit ſtehenden Böller donnern dazwiſchen und wecken
das Echo in den Bergen.
Noch ſchöner iſt die Ida’s-Eiche. Der Blick in’s Bruch iſt
derſelbe wie von der Carlsburg aus, der Blick in die Berge aber
umfaßt den ganzen Inhalt des zu Füßen liegenden Keſſelthals;
Berglehnen und geſchlungene Wege, Laubholzwald, Häuſer und
Hütten. Man kann hier von einem Avers und Revers der Land-
ſchaft ſprechen; nach beiden Seiten hin ein gleich gewinnendes
Bild. Was dieſer Ida’s-Eiche indeſſen die beſten Freunde wirbt,
iſt ein gewiſſes genrehaftes Beiwerk, deſſen ſie ſich erfreut. Eine
breite Treppe windet ſich ſpiralförmig um den alten Stamm der
Eiche und mündet oben in einen Rund-Tiſch oder poetiſcher in
eine „Tafel-Runde“ aus. Die höchſte Krone des Baumes ſpannt
ſich als Schirm über dieſer gitterumfaßten Plattform und ſchafft
hier einen beneidenswerthen Aufenthalt, zumal um die Zeit des
Sonnenuntergangs. — Wenn der Carlsburg, nach altem Her-
kommen, der helle Mittag gehört, ſo gehört der Ida’s-Eiche die
Dämmerſtunde, der Abend, wo
Dann iſt dieſe Plattform ein Balkon, wie ich hierlandes auf kei-
nem ſchöneren geſeſſen. Aus dem Dunkel des Waldes blinken ein-
zelne Lichter herauf, am Horizont (jenſeits des Bruches) ziehen
lichtweiße Streifen, und verſchwinden wieder, — nichts iſt wach
als der Abendwind, der die Eiche, die uns trägt, in leiſes Schwan-
ken bringt. Einlullend, wie mit magnetiſcher Hand, berührt uns
[269] die Luft, und das Geplauder wird ſtiller und ſtiller, bis es end-
lich ſchweigt. Immer heller funkeln die Sterne, immer weiter wird
der Blick, bis endlich, wie aus Bann und Märchenſchlummer, das
Raſſeln eines ſchweren Poſtwagens uns weckt und das begleitende
Poſthorn, das, von der Falkenberger Berglehne her, zu uns her-
überklingt.
Der Cöthener Park. — Von der Ida’s-Eiche bis Dorf
Cöthen iſt wenig weiter als 1000 Schritt, und die Cöthener Dorf-
ſtraße ohne Aufenthalt paſſirend, führt uns unſer Weg unmittel-
bar an den Eingang des Parks. Dieſer Park iſt etwas altfrän-
kiſch; er ſtammt noch aus einer Zeit, wo man gewiſſen perſpecti-
viſchen Künſten den Vorrang einräumte vor der landſchaftlichen
Schönheitslinie; es fehlt noch eine freiere und natürlichere An-
lage, und Tempelchen und Muſchelgrotten haben noch ihren Platz.
Marmorköpfe, über deren ſpecielle Bedeutung an der Stelle, die
ſie einnehmen, vielleicht immer ein Dunkel walten wird, blicken
räthſelhaft aus Felsgemäuer*) hervor und Delphine und Löwen
ſpeien Waſſer und laſſen es ſich nicht anfechten, daß ihre alabaſter-
weißen Unterkiefer von Eiſenocker längſt braun geworden ſind. Die
alten Künſte der alten Parks, von denen wir die Muſterſtücke noch
immer in Schwetzingen und im Wörlitzer Garten finden! Den-
noch hat dieſer Cöthener Park ſeine Eigenthümlichkeit, weil das
Stück Natur eigenthümlich war, das zu ſeiner Anlage genom-
men wurde. Es iſt eine reich mit Laubholz, namentlich mit ſchö-
nen Buchen beſetzte Schlucht, durch die ſich ein Fließ zieht. Dieſes
Fließ, das — in ſeiner künſtlichen Verzweigung — dem Park an
einzelnen Stellen den Charakter eines Elsbruchs giebt, iſt in
Wahrheit der Quell ſeiner Schönheit überhaupt. Ob man wirk-
lich mehr Waſſer und namentlich raſcher fließendes hier hatte als
anderswo, oder ob man ſich nur beſſer auf ſeine Benutzung ver-
ſtand, gleichviel — Waſſer überall. Der Bach mit Plätſchern und
[270] Gemurmel begleitet uns von Schritt zu Schritt, er iſt unſer Füh-
rer durch die labyrinthiſchen Gänge; aber nicht genug damit, alle
Minuten hält er inne, um noch ein Uebriges für uns zu thun.
Hier ſtürzt er ſich vom Wehr, aber nur um an nächſter Stelle
ſchon als Springbrunnen wieder aufzuſteigen; hier treibt er ein
Waſſerrad, dort ſpeiſt er eine überlaufende Vaſe, und aus der
langſam ſich drehenden Scheibe daneben ſpritzen ſeine dünnen
Strahlen, zugleich als Schmuck und als treibende Kraft.
Am wenigſten glücklich iſt der Park in Inſchriften. Wir
folgen aber, ſtatt bei ihnen zu verweilen, lieber dem plätſchernden
Fließ, deſſen Lauf uns nach einem kurzen Spaziergang, durch die
Mitte des umwaldeten Keſſelthals, in die maleriſch verſchlungenen
Straßen von Dorf Falkenberg zurückführt.
[[271]]
3.
Das Schloß.
Die Wand iſt ſauber bis hinauf zum Dache,
Und heitre Fenſter ſind es, die es ſchmücken.
B. v. Lepel.’
Freienwalde hatte von Alters her ein „Schloß“, erſt ein Uchten-
hagenſches, dann ein churfürſtliches, zuletzt ein königliches.
Das Schloß, das die Uchtenhagens hier hatten und in das
ſie wahrſcheinlich einzogen, nachdem ihre Burg auf dem Schloß-
berg (ſiehe das entſprechende Kapitel) zerſtört worden war, lag
unmittelbar hinter der Freienwalder Kirche und blickte auf die
Oder hinaus, die damals bis dicht an die Stadt herantrat. Eine
ſchlichte Abbildung in Philipp v. d. Hagens „Beſchreibung der
Stadt Freienwalde“ ſtellt höchſt wahrſcheinlich dies alte Uchten-
hagenſche Schloß dar. Woher er dies Bild genommen, habe ich
nicht ermitteln können. Es iſt ein einfaches, beinah fenſterloſes Ge-
bäude mit einem gothiſchen Erkerthurm als einzigem Schmuck.
Das churfürſtliche Schloß (in unſcheinbaren Reſten noch er-
halten) erhob ſich an derſelben Stelle, wo vorher, durch zwei
Jahrhunderte hin, das eben beſchriebene Stadtſchloß der alten
Uchtenhagen geſtanden hatte. Der große Churfürſt ließ es 1687
zu „künftigem bequemen Aufenthalte daſelbſt“ erbauen; näheres
über dieſen Bau aber: wann er beendigt wurde, wer es be-
wohnte, hab’ ich nicht mit voller Beſtimmtheit in Erfahrung brin-
[272] gen können. Die Nachrichten, die man in Freienwalde ſelbſt ein-
zieht, widerſprechen ſich einander, und ein Zuratheziehen der reichen
„Freienwalder Literatur“ giebt ebenfalls mehr Abweichendes als
Gewiſſes. Philipp v. d. Hagen ſchreibt: „In der Stadt iſt ein Schloß,
von Steinen gebaut, welches der Churfürſt um deswillen erbauen
ließ, weil er alle Jahre den Brunnen zu beſuchen pflegte und als-
dann daſelbſt wohnte.“ Dies letztere aber (wenn es ſich auf
ein Wohnen in eben dieſem Stadtſchloß bezieht) iſt nicht möglich
und wird durch v. d. Hagens Buch an anderer Stelle ſelbſt wi-
derlegt. Er ſchreibt (S. 48): „Der Churfürſt logirte (1685) mit
ſeinem Gefolge in der Stadt mit vieler Unbequemlichkeit (d.
h. alſo ohne Schloß) und beſchloß beim Brunnen ein Gebäude
aufführen zu laſſen.“ v. d. Hagen fährt dann fort: „1686 kam
der Churfürſt nicht nach Freienwalde; als er 1687 ſich des
Brunnens wieder bediente, wohnte er in dem neuen Brunnen-
gebäude (dem jetzigen ſogenannten churfürſtlichen Flügel), ſein
Gefolge logirte aber in der Stadt.“ Aus allem dieſem geht wenig-
ſtens das eine hervor, daß der große Churfürſt niemals im Stadt-
ſchloß zu Freienwalde gewohnt haben kann; 1685 (wo er in der
Stadt logirte) deshalb nicht, weil das Schloß damals noch nicht
einmal begonnen, geſchweige fertig war, und 1687 deshalb nicht,
weil er in dieſem letztgenannten Jahre überhaupt nicht in der
Stadt, ſondern auf dem Brunnen wohnte. Landrath v. Reichen-
bach ſchreibt 1824: „das alte königliche Schloß in Freienwalde
wurde 1687 von Schlüter begonnen“, eine Notiz, die völlig werth-
los iſt, da der berühmte Baumeiſter erſt 1691, alſo 4 Jahre
ſpäter und drei Jahre nach dem Tode des großen Churfürſten, in
den brandenburgiſchen Dienſt trat. v. Reichenbach verwechſelt hier
das Stadtſchloß mit dem „Schloß auf dem Brunnen.“ Am
zuverläſſigſten iſt mir folgende Angabe erſchienen, die ich einem
1848 erſchienenen Büchelchen entnehme: „König Friedrich I. voll-
führte den ſchon unter ſeinem Vater 1687 angefangenen Bau des
Amts- oder Rathhauſes (hinter der großen Kirche), das ur-
ſprünglich zum Jagdſchloß beſtimmt war.“ Dies Wort „Jagd-
[273] ſchloß“ iſt nicht ganz correkt, ſonſt aber, wie ſchon bemerkt, dürfte
dieſe letztcitirte Angabe der Wahrheit am nächſten kommen. Die
Sache würde ſich danach in Kürze ſo ſtellen. Der große Churfürſt
ordnete den Bau eines „Stadtſchloſſes“ an, und unter ſeinem
Nachfolger wurde dieſer Bau beendet. Dies „Stadtſchloß“ ward
aber weder vom Churfürſten noch ſpäter vom König Friedrich I.
je bewohnt, ſondern erhielt gleich nach ſeiner Herſtellung die Be-
ſtimmung eines Königlichen Amts- und ſpäter (an die Stadt
übergehend) eines ſtädtiſchen Schul- und Rathhauſes. Das Haus,
wenn auch bis zur Unkenntlichkeit verändert, ſteht noch, diente
(wenigſtens bis vor Kurzem) als Schule und Gefängniß und zeigt
begreiflicherweiſe nichts mehr von alter Schönheit und königlichem
Glanz.
Das königliche oder neu-königliche Schloß Freienwalde
liegt nicht innerhalb der Stadt, ſondern unmittelbar vor den Tho-
ren derſelben, auf dem Wege zum Brunnen hinaus, faſt am Fuße
des ehemaligen „Apothekerbergs.“ Dieſer, inzwiſchen in einen
Schloßgarten umgewandelt, führt demgemäß den Namen der
„Schloßgartenberg“; nicht zu verwechſeln mit dem Schloß-
Berg, der, halben Wegs zwiſchen Freienwalde und Falkenberg gele-
gen, die Ruinen der alten Uchtenhagen-Burg auf ſeiner Kuppe
trägt. Wir werden dieſen letztern, den Schloß-Berg, in einem
künftigen Kapitel kennen lernen.
Auch das neu-königliche Schloß Freienwaldes, wiewohl wenig
älter als 60 Jahre, hüllt ſeine Anfänge wenigſtens in ſo weit in
Dunkel, als es mir nicht hat gelingen wollen, das Jahr ſeiner
Entſtehung mit voller Gewißheit feſtzuſtellen. Eine freundliche Mit-
theilung aus Freienwalde ſelbſt lautet wie folgt: „Das hieſige
königliche Schloß iſt Anfangs der neunziger Jahre von der
Gemahlin Friedrich Wilhelms II. erbaut worden. Die Baulichkei-
ten ſind unverändert geblieben, nur daß 1844 ein am Kirchhofs-
rande gelegenes Kammerfrauen-Haus abgebrochen wurde. Der
Schloßgarten, an den Abhängen des Berges, iſt erſt allmählig zu
ſeiner jetzigen Ausdehnung angewachſen. Die Hofdamen wohnten,
18
[274] ſo lange hier Hof gehalten wurde (bis 1805), in dem Hauſe, das
jetzt die Kaſtellans-Wohnung bildet. Friedrich Wilhelm IV. hatte
vor, die Anlagen des Schloßgartens zu erweitern; die nöthigen
Ländereien waren auch bereits angekauft, als ſein Hinſcheiden dem
Plan ein Ende machte.“
Dieſe Notizen enthalten ſo ziemlich eine Quinteſſenz alles
Deſſen, was in Freienwalde über Geſchichte und Entſtehung des
„neuen Schloſſes“ curſirt. Die erſte Zeile derſelben iſt in ſoweit
nicht ganz correkt, als ich nachzuweiſen im Stande bin, daß das
neue Schloß bis 1795 nicht exiſtirte, alſo nicht Anfangs der
neunziger Jahre, ſondern höchſt wahrſcheinlich erſt am Schluß der-
ſelben entſtanden iſt. Es liegt mir ein Buch aus dem Jahre 1795,
„Dr. Heidekkers Beſchreibung der Stadt Freienwalde“ vor, deſſen
Titelkupfer eine Abbildung aller der Baulichkeiten giebt, die damals
auf dem mehrgenannten Berge ſtanden. Es ſind dies: der Pavillon
der Königin, der Königin Wohnhaus und der Königin Garten-
haus, — aber vom „Schloß“ keine Spur, auch nicht einmal die
Anfänge deſſelben.
So weit die Vignette des Buches, die indeſſen möglicherweiſe
täuſchen könnte; aber der Inhalt des Buches beſtätigt, was die
Vignette zeigt, nämlich die Thatſache, daß bis 1795 kein „Schloß“
an den Abhängen des „Apothekerbergs“ zu finden war. Dr. Hei-
dekker ſchreibt in dem genannten Jahre: „Die Gemahlin Friedrich
Wilhelms II. fand die Lage dieſes Berges ſo reizend, daß ſie von
1790 — 95 alljährlich über 6 Wochen während der Badezeit in
Freienwalde zubrachte und die Wohnung des Oberförſters Wiprecht,
die zu dieſem Zweck erweitert und eingerichtet worden war, be-
wohnte. Sie ließ zugleich neben der Oberförſter-Wohnung eine
geſchmackvolle Sommerwohnung bauen, die aus einem Saale, 4
Kabinets und einer Küche beſtand, — der jetzige Pavillon.“
Dieſer Pavillon exiſtirt noch, ganz in der Geſtalt, wie ihn die
Vignette zeigt; er wurde ſpäter zu Gartenfeſten und kleinen Thea-
terſpielen benutzt, iſt aber durchaus nicht das „Schloß.“
Dies „Schloß“ ſelbſt wurde höchſt wahrſcheinlich im Sommer
[275] 1798 zu bauen begonnen. Am 16. November 1797 war König
Friedrich Wilhelm II. im Marmorpalais zu Potsdam geſtorben,
und wie locker immer die Beziehungen zwiſchen dem König und
ſeiner Gemahlin, Louiſe, Prinzeß von Heſſen-Darmſtadt, geweſen
ſein mochten, nicht gut konnte dieſe vor dem Tode des Königs,
ihres Gemahls, daran denken, ihren Aufenthalt dauernd in
Freienwalde zu nehmen. Daß es bis 1795 nicht geſchehen war,
wiſſen wir beſtimmt. Wir irren alſo wohl nicht, wenn wir anneh-
men, daß ſich die Königin bis zum Ende der Saiſon 1797 mit
der oben beſchriebenen Sommerwohnung begnügte und erſt 1798,
— in dieſem Jahre Freienwalde zu ihrem Wittwenſitze machend —
auch ein wirkliches Schloß daſelbſt zu bauen begann. Der Bau
dieſes Schloſſes nahm wenigſtens zwei Jahre in Anſpruch, ſo daß
wir aller Wahrſcheinlichkeit nach das Richtige treffen, wenn wir
uns die Räume des Freienwalder Schloſſes nicht vor Eintritt des
neuen Jahrhunderts belebt denken. Den Namen des Baumeiſters
habe ich nicht in Erfahrung bringen können. Die Königin-Wittwe,
wenn unſere obigen Zahlen zutreffen, reſidirte hier fünf Jahre;
ſie ſtarb am 25. Februar 1805.
Die Frage entſteht, wie lebte hier die Königliche Frau, wie
verfloſſen ihr die Tage ihrer Wittwenzeit? Still, und deshalb nicht
eingetragen in die Blätter der Geſchichte. Aber Einzelnes lebt doch
in ſchriftlicher oder mündlicher Ueberlieferung fort, das uns eini-
germaßen in den Stand ſetzt, uns ein Bild dieſer ſtillen Tage zu
entwerfen. Die königliche Frau, ausharrend in ihrer Liebe für die
Stadt, der ſie ſeit Jahren ihre beſondere Gunſt geſchenkt hatte,
fuhr mit regem Eifer fort, ſich die Verſchönerung Freienwaldes
angelegen ſein zu laſſen, beſonders die Landſchaft durch Zugänglich-
machung ihrer ſchönſten Punkte zu erſchließen.*) Ueberall entſtan-
18*
[276] den Partieen und Promenaden, Eremitagen und „Tempel.“ Ab-
hänge wurden bepflanzt, dichte Waldpartieen gelichtet und gerodet.
Sie kaufte den „Poetenberg“, bepflanzte ihn mit Kaſtanien, mit
Pappeln und Akazien, und errichtete, wie uns überliefert wird, ein
Haus im japaneſiſchen Geſchmack, das (man nahm es damals
nicht ſo genau) den Namen „Otahaiti“ erhielt.
Bedenklicher erſcheint ſchon folgende Notiz, die wir ebenfalls
unſerem Gewährsmann, Dr. Heidekker, entnehmen.
„Etwa hundert Schritte von der Papenmühle entfernt, ſo
ſchreibt er, hat Ihre Majeſtät die Königin-Wittwe ein Haus auf-
führen laſſen (mit Saal und verſchiedenen Cabineten), das ganz
gelb angeſtrichen iſt und oben, gegen das Dach zu, Niſchen mit
Büſten alter Kaiſer und Gelehrten hat, welche abwechſelnd
von rother und ſchwarzer Farbe ſind. (Wer roth oder ſchwarz iſt,
die Kaiſer oder die Gelehrten, iſt nicht geſagt.) Ihre Majeſtät die
Königin pflegen zu allen dieſen äußerſt geſchmackvollen Anla-
gen die Ideen immer ſelbſt anzugeben. Dies eben beſchriebene Haus
wird das „„gelbe Haus““ genannt.“
Wir könnten noch von vielen Verſchönerungen der Art er-
zählen, deren Verdienſtlichkeit es wenig Abbruch thut, daß das
Maaß ihrer Schönheit oft ein höchſt beſcheidenes oder zweifelhaftes
war; wir ziehen es aber vor, uns nunmehr jenen Beſuchs- und
Familientagen von Schloß Freienwalde zuzuwenden, wo die „Kin-
der“ von Berlin herüberkamen: der König, die Königin und mit
ihnen die drei älteſten Enkel: Fritz, Charlotte und Wilhelm. Vieles
im Schloß erinnert noch an jene Tage ſtillen Glücks, und beſon-
*)
[277] ders iſt es „Kronprinz Fritz“, deſſen Spuren ſich auch hier wieder
am deutlichſten verfolgen laſſen. Es ſcheint faſt, daß er oft längere
Zeit bei der Großmutter zum Beſuche war; er drechſelte (Einzelnes
von ſeiner Hand wird noch gezeigt), ſpielte und kletterte im Park
umher, und allerhand Anekdoten curſiren noch von alten viel
verfolgten Hofdamen, die, beſonders an Winterabenden, auf dem
Heimweg vom Schloß durch ſchattenhaftes Hin- und Herhuſchen,
durch Geraſchel in den Zweigen, dann ſpäter am Abend durch
Kratzen an der Hausthür oder durch leiſes geſpenſtiſches Klingeln
in ihrer Einſamkeit erſchreckt wurden. Das intereſſanteſte Ueber-
bleibſel aus jener Zeit aber iſt ein Leierkaſten, der damals dem
Kronprinzen zum Geſchenk gemacht wurde, und deſſen Hauptſtück
die Papageno-Arie war:
eine Arie, die womöglich allabendlich und am liebſten mit Vokal-
Begleitung, unter den Fenſtern der alten Hofdamen geſpielt wurde.
1805 ſtarb die Königin-Wittwe, und das Schloß zu Freien-
walde ſtand, auf viele Jahre hin, leer. Die Invaſion, dann die
Kriegsjahre, — es waren nicht Zeiten für traulich ruhige Tage
in Freienwalde. Erſt wieder in den dreißiger Jahren hören wir
von beſtimmten Beſuchern im Freienwalder Schloß. Prinzeß Luiſe
von Radziwill brachte hier die Sommermonate von 1836 zu; ſie
ſehnte ſich nach Stille, nach Ruhe, und ſie fand ſie hier.
Seit jenen dreißiger Jahren verging kaum ein Sommer, wo
nicht das Schloß am Schloßgartenberg, auf länger oder kürzer,
ſeinen Beſuch gehabt hätte; aber eine Reſidenz, der Sitz eines
Hofhalts iſt es ſeit den Tagen der Königin-Wittwe nicht wieder
geweſen.
Wir treten nun an das Schloß ſelbſt heran. Es hat mehr
den Charakter eines ſtattlichen, geſchmackvoll aufgeführten Privat-
hauſes, als den eines Schloſſes. Würden wir es, ſeinem Styl
nach, zu rubriciren haben, ſo müßten wir es als einen Renaiſſance-
[278] Bau bezeichnen, der ſich, in faſt zu weit gehender architektoniſcher
Einfachheit, vorgeſetzt zu haben ſcheint, unter Vermeidung jeglichen
Ornaments, rein durch die Proportionen, durch das richtige Ver-
hältniß der Formen zu wirken. Unter Laub und Blumen gelegen,
aus denen, maleriſch unterbrochen, die gelben Wände hervorleuch-
ten, macht das Ganze einen durchaus heitern Eindruck, und doch
heißt es auch von dieſen Mauern: „ſie haben Leides viel geſehn“,
ſtilles Leid, aber um ſo tiefer vielleicht, je ſtiller es getragen wurde.
Von dem Innern des Schloſſes gilt daſſelbe wie von ſeiner
äußern Erſcheinung, — es hat überwiegend den Charakter eines
Privathauſes. Geräumige Zimmer, aber weder breite Treppen, noch
lange Corridore, weder Hallen noch Säle; ein Bau für eine Kö-
nigin-Wittwe, die ſich ſelber leben will, nicht für eine Königin,
die Andren leben muß. Die Ausſchmückung und Herrichtung iſt
die übliche; nur ſtatt des ſtrengeren Stils der Außenſeite begegnen
wir hier den Anklängen an die viel verurtheilte und doch ſo be-
hagliche Roccoco-Zeit. Chineſiſche Zimmer und Paradiesvogel-Zim-
mer wechſeln unter einander ab, dazwiſchen Roſenſtrauch-Tapeten
und buntbedruckte Kattune. In den Zimmern zerſtreut ſtehen alte
Erinnerungsſtücke, oft mehr abſonderlich als ſchön, und mehr be-
merkenswerth um der Perſonen willen, denen ſie zugehörten, als
um ihrer ſelbſt willen. An ſolchen eigenthümlichen Werthſtücken
ſind die Schlöſſer der Hohenzollern reich, und wie in manchem
andern, ſo giebt ſich auch hierin eine Eigenthümlichkeit ihres Hau-
ſes zu erkennen. Sie haben nämlich nicht das Bedürfniß, ſich aus-
ſchließlich mit hoher, mit beſternter Kunſt zu umgeben, ſondern mit
Bereitwilligkeit, ja mit Vorliebe faſt, gönnen ſie auch dem Niedrig-
gebornen in der Kunſt, den mit ſchüchterner Hand geſchehenen
Verſuchen, den Zutritt in ihr Haus. Wer die Zimmer kennt,
die Friedrich Wilhelm III. zu bewohnen pflegte, wird dieſe Be-
merkung am eheſten verſtehn. Es ſpricht ſich beides in dieſer Er-
ſcheinung aus, — ein Mangel und ein Vorzug. Die Hohen-
zollern waren nicht immer äſthetiſch-feinfühlig, aber ſie waren
jederzeit human.
[279]
Zu dieſen Betrachtungen giebt auch Schloß Freienwalde ge-
nügende Veranlaſſung. Da ſind complicirte „Stroh-Nähtiſche“ mit
eingeflochtenen Namenszügen, da ſind Stühle mit hochzuſchrauben-
den Lehnen, da ſind endlich Tiſche, aus deren Platten, durch
Druck und Zug, ſich Stehleitern (horribile dictu) vor dem
erſtaunten Auge aufrichten; lauter Dinge, vor denen der eigentliche
Kunſtſinn erſchrickt, während der milde Sinn, der gelten läßt, ſich
ihnen zuneigt und des Strebens ſich freut. Aber, gut oder nicht,
es ſind nicht dieſe Schöpfungen einer ungeregelten Tiſchler-Phan-
taſie, bei denen wir länger verweilen, wir treten lieber aus dem
Paradiesvogel-Zimmer auf den Corridor hinaus und ſteigen einige
Stufen treppab, um nach jenem beſten Erinnerungsſtück des Hau-
ſes zu ſuchen, das vor 60 Jahren der Jubel eines heiteren Prin-
zen und der Schrecken alter Hofdamen war. Wir meinen natürlich
die Drehorgel. Da ſteht ſie verſtaubt im Keller. Wir legen die
Kurbel an, die ſich unter einem Ballen Flachs und Heede findet,
und beginnen zu drehen. Aber die Harmonie iſt hin. Die heitren
Töne ſpringen nicht mehr, wie elaſtiſch, vom Lager auf; lahm,
gebrochen, verſtimmt ziehen ſie langſam durch die Luft und hallen
düſter von der Kellerwand zurück. Sechszig Jahr — eine lange
Zeit. Die Heiterkeit manch’ zarterer Saite, manch’ feineren Inſtru-
ments, ſchlug um ſeitdem in Weh und Leid.
Schloß Freienwalde iſt unbewohnt jetzt. Von Zeit zu Zeit,
wie ſchon erzählt, hat es ſeine Gäſte, aber Laune und Zufall ge-
fallen ſich darin, die ſommerliche Villa vor Allem zu einem win-
terlichen Jagdſchloß zu machen. Im December, bei grauem Himmel,
wenn Weg und Steg unter fußhohem Schnee liegen, dann wird
es lebendig hier. Freilich nur auf Stunden.
Dann, um Mitternacht, mit Peitſchenknall und Schellengeläut,
jagen Schlitten durch die Straßen der tiefſtillen Stadt, den Berg
hinauf, den Park hindurch, bis vor das verſchneite Schloß. Fackeln
[280] und Windlichter werfen ihren Schein auf die ausſteigenden Gäſte,
— hohe, heitre Geſtalten, die den Schnee von ihren Pelzen ſchüt-
teln. Sie treten auf wie Solche, die hier zu Hauſe ſind. Diener
mit Taſchen und Jagdgeräth, mit Büchſenſäcken von rothem Juch-
tenleder, fliegen treppauf, alle Fenſter werden hell, hinter den
herabgelaſſenen Rouleaux bewegen ſich einzelne Schatten, dann
wird es ſtiller und nur von Zimmer zu Zimmer knarrt noch der
Ton, womit der müde Fuß aus dem Stiefel fährt. Noch ein kur-
zer Befehl, ein „gute Nacht“ und alle Lichter löſchen aus.
Eh’ der Tag graut, iſt das Schloß wieder leer. Nur halb-
verwehte Schlittengleiſe und lange Streifen, die die Spitze der
Parforce-Peitſche durch den Schnee zog, zeigen noch den Weg, den
die Gäſte auf ihrer Weiterfahrt genommen. Das Schloß liegt da,
wie immer; ſtiller, ſo ſcheint es, denn je. — Alles was kam und
ging war wie ein Traum über Nacht. —
[[281]]
4.
Der Geſundbrunnen.
Verſtummet ganz der Wind, —
Die Zweige hängen nieder.
Th. Storm.’
„Der Freienwalder Geſundbrunnen liegt eine kleine Viertelmeile
von der Stadt, gen Süden hin, in einem mit ziemlich hohen
Bergen eingeſchloſſenen, anmuthigen Thal; die Berge ſind mit
Eichen, Buchen, Fichten, auch niedrigem Baum- und Strauch-
werk bewachſen, und haben viele gute Kräuter.“ So ſchrieb Tho-
mas Philipp v. d. Hagen, dem wir die erſte Beſchreibung Freien-
waldes verdanken, vor nunmehr 80 Jahren und wir wüßten
nicht, was wir an dieſer Darſtellung zu ändern hätten.
Aber wenn nicht das Brunnenthal ſelbſt, ſo hat doch der
Weg hinaus ſeinen Charakter verändert; was damals eine „Allee“
war, iſt jetzt eine ſtädtiſche „Straße“ geworden und hinter den
ſchönen Lindenbäumen, die nach wie vor den Weg einfaſſen, er-
heben ſich, des Schloſſes und Schloßgartens zu geſchweigen, aller-
hand Villen, Hotels und Gärten, aus denen hervor im Mai die
weißen Blüthen und im September die rothen Aepfel lachen. Der
ganze Weg zum Brunnen hinaus, der einen oder andern unſrer
Thiergarten-Straßen nicht unähnlich!
Dieſelben Hügelreihen, die den Weg zum Brunnen bilden,
bilden ſchließlich auch das Brunnenthal ſelbſt, das nichts anders
[282] iſt als eine etwas erweiterte Thal-Schlucht, ein Keſſel, zu dem ſich
der Weg verhält, wie eine ſchmale Straße zu einem breiten Platz,
auf den ſie mündet.
Es iſt ein September-Nachmittag. An Linden und Sommer-
häuſern, zuletzt an der reizend gelegenen Papenmühle vorbei, über
deren ſtillen Teich die Schwäne ziehn, haben wir unſern Gang
von der Stadt aus gemacht und ſind nun eingetreten in das ſtille
Thal, das den Namen des Freienwalder Geſundbrunnens führt.
Die Saiſon iſt ſchon vorüber; aber die Quellen ſprudeln weiter
und die Nachmittagsſonne ſteht ruhig über dem Thal und wärmt
mit ihren Strahlen die ſchon herbſtesfriſche Luft. Ein Kellner, der
die traurige Verpflichtung hat, ſeine Zeit hier „abzuſtehen“, bis
die de facto bereits beendigte Saiſon auch de jure geſchloſſen
iſt, begrüßt uns, wie der Gefangene den Schmetterling begrüßt,
der an ſeinem Fenſter vorüberfliegt — ein bloßer Paſſant, aber
doch immerhin ein Gaſt. Ohne jegliches Verſtimmtſein entreißt ſich
der an dem Pfeiler Lehnende ſeinem wachen Traum, der ihn
(wir glauben nicht zu irren) ſo eben an die minder poetiſchen,
aber vergnüglicheren Ufer der Spree getragen hatte, in große
Säle mit Gaskandelaber und Spiegelſcheiben, mit Palmenkübeln
und ſchmetternder Muſik.
Wir erſchienen ihm wohl wie Boten aus dieſem Land ſeiner
Sehnſucht. Jedenfalls ließ ſeine Willfährigkeit nichts zu wünſchen
übrig und gemeinſchaftlich anfaſſend, wurde an der ſonnigſten
Stelle des Gartens ein Kaffeeplatz ohne Zwang und Mühe arran-
girt. Die Zuſammenſetzung erfolgte aus den üblichen Requiſiten:
einem weißgeſtrichenen Tiſch mit einem Riß in der Mitte und
einem Stuhl mit ſchräg ſtehender Lehne. Schräg, vom Kippeln.
Der Kaffee kam; die Sonne labte uns, alles war heiter, er-
quicklich; nur eines ging wie ein Schattenſtrich durch dies Bild
voll Licht und Labe: der Kellner ſtand wie angewurzelt an unſrem
Tiſch. Ich hätt’ ihn wegſchicken können, aber auch das erſchien
mir unthunlich. Es war erſichtlich, er ſehnte ſich nach dem ſüßen
Laut menſchlicher Stimme, einer Stimme, die ihn vergewiſſern
[283] konnte: „Kroll lebt noch und das Odeum iſt kein leerer Wahn.“
Ich ließ ihn alſo ſtehen und führte eine jener Unterhaltungen, die
man im Lauf der Jahre, ohne Wiſſen und Wollen, führen lernt,
und die, einen gewiſſen öden Mittelkurs innehaltend, dem Ange-
redeten das Recht gönnen weiter zu ſprechen, aber zugleich durch-
klingen laſſen: er thäte beſſer, auf dieſes Recht zu verzichten. Die-
ſer Verzicht trat endlich ein und ich war allein.
Ich hatte einen prächtigen Platz inne (der Zufall hatte es
glücklich gefügt), und dem ſogenannten Kapellenberg, der das Thal
ſchließt, den Rücken zukehrend, überblickte ich die ganze Anlage des
Brunnens: den Park, die Gartenpartien, die Baulichkeiten. Dieſe
Baulichkeiten, neurer Anfügungen zu geſchweigen, gehören drei
verſchiedenen Regierungs-Zeiten an und werden danach genannt;
man unterſcheidet bis dieſen Tag ein churfürſtliches, ein alt-könig-
liches und ein neu-königliches Gebäude. An Schönheit laſſen ſo
ziemlich alle drei (auch „Flügel“ genannt) gleichviel zu wünſchen
übrig; die „Colonnade“ indeſſen, die ſich, unſerer Stechbahn nicht
unähnlich, unter dieſen Flügeln hinzieht, giebt, neben manchem
andern alten Hausrath, dem Ganzen einen zugleich aparten und
gemüthlichen Charakter, und veranſchaulicht uns, auf einen Blick,
die Geſchichte der verſchiedenen Epochen des Bades überhaupt.
Dieſe Geſchichte iſt in Kurzem folgende. Wann zuerſt des
Bades Erwähnung geſchieht, iſt nicht mit voller Gewißheit feſtzu-
ſtellen. Leonhard Thurneißer, der bekannte Alchymiſt, ſchrieb
zwar ſchon um 1572 „Zwiſchen Freienwalde und Neuſtadt, am
Gebirge, iſt ein Flüßlein, das führt Rubinlein mit ſich, gar klein
aber ſchön an Farbe“, — es bleibt indeſſen zweifelhaft, ob unter
dem Flüßlein, der Freienwalder Geſundbrunnen zu verſtehen iſt;
wenigſtens fehlen jetzt (ſo viel wir wiſſen) die „Rubinlein“ die
kleinen, wie die großen.
Es ſcheint, daß man in alten Zeiten die Quelle einfach in
die Thalſchlucht ausſtrömen und ihren Weg ſich ſuchen ließ. Nur
bei den armen Leuten der Nachbarſchaft genoß der „Brunnen“
eines gewiſſen Anſehns und man trank ihn als ein bewährtes
[284] Mittel gegen hartnäckige Fieber. Was dabei wirkſam war, iſt
ſchwer zu ſagen. Auch Augenkranke kamen. Sie legten von dem
braunen Ockerſchlamm auf das Auge, und ſahen nach kurzer Zeit
wieder klarer und beſſer. Schwerlich war es der braune Eiſen-
ſchlamm als ſolcher, der ſo vortheilhaft wirkte, vielmehr die an-
haftende Flüſſigkeit, die Eiſenvitriol enthielt. Gehört doch der Zink-
vitriol (eine Art Geſchwiſterkind des ebengenannten Eiſenſalzes)
bis dieſe Stunde noch zu den bevorzugten Mitteln der Augen-
heilkunde.
Jedenfalls war der Ruf und Ruhm des Freienwalder Quells
allerlokalſter Natur, bis 1684 die Kunde nach Berlin und bis in
das churfürſtliche Schloß drang, daß in Freienwalde ein „minera-
liſches Waſſer“ entdeckt worden ſei. Einige mit Fieber und Läh-
mung Behaftete ſeien geſund geworden. Der Churfürſt (bereits in
ſeinen alten Tagen und von der Gicht ſchwer geplagt) ſchöpfte
Hoffnung, daß ihm vielleicht das eigne Land gewähren möchte,
was ihm ſo viele Heilquellen bis dahin verſagt hatten und er
ſchickte ſeinen Kammerdiener und Chemikus, den berühmten Kunckel
(den Entdecker des Phosphors) nach Freienwalde, um ſich von
der mineraliſchen Kraft des neu entdeckten Quells zu überzeugen.
Der Bericht lautete günſtig und noch im ſelben Jahre trafen der
Churfürſt und ſeine Gemahlin als erſte Brunnengäſte im Bade
zu Freienwalde ein.
Nun brachen glänzende Tage an. Der Ruf von der Heilkraft
des Brunnens verbreitete ſich bis in ferne Gegenden (ferne, nach
damaliger Vorſtellung) und im nächſten Jahre, 1685, fanden ſich
1500 Gäſte in Freienwalde zuſammen. Freilich dieſe 1500 Gäſte
waren nicht ſammt und ſonders Brunnengäſte, vielleicht nur
zum kleineren Theile. „Der Churfürſt (der auch in dieſem Jahre
mit ſeinem Hofe erſchienen war), ließ zehn Wispel Getreide ver-
backen und die Brote ſammt einer Geldbeiſteuer wöchentlich zwei-
mal vertheilen“ — woraus genugſam zu erſehen iſt, daß die chur-
fürſtliche Gegenwart allerhand armes Volk herbeigelockt hatte, um
von der Mildthätigkeit des Fürſten Nutzen zu ziehen. 1686 (in
[285] welchem Jahre der Churfürſt nicht erſchien) wurde das erſte und
älteſte „Brunnenhaus“ gebaut, daſſelbe, das unter dem Namen
der „churfürſtliche Flügel“ bis dieſen Tag exiſtirt. Dazu kamen
allerhand Vorkehrungen und Einrichtungen: zwei Betſtunden täg-
lich, zwei Jahrmärkte die Woche; eine Brunnenkapelle und ein
Brunnenkoch. Was dieſen letztern angeht, ſo hatte er die Ver-
pflichtung, freilich nur für die Armen, für 1½ gr ein „gutes
Mittagbrod“ zu liefern. Der Churfürſt that in allem, was er
konnte; das nächſte Jahr (1687) machte er ſeinen letzten Beſuch.
Unter der Regierung ſeines Nachfolgers (König Friedrichs I.)
hielt ſich Freienwalde im Weſentlichen auf der Höhe ſeines An-
ſehens. Die Heilkraft des Brunnens ſtand noch in ſo gutem Ruf,
daß das Waſſer deſſelben, behufs mineraliſcher Bäder für den
König, nach Alt-Landsberg und Nieder-Schönhauſen gebracht
wurde. 1704 und die zwei folgenden Jahre kam er ſelbſt und
bezog 1706 das „Schloß am Brunnen“, das ſchon in dem vor-
hergehenden Jahre (1705) vom berühmten Andreas Schlüter für
ihn aufgeführt worden war. Dies Schloß, wenn ſchon ein bloßer
Holzbau, war ein prächtiges, mit vielen Säulen geziertes, zwei
Stock hohes Gebäude, deſſen oberſtes Stock (ſo lautet der Be-
richt) aus 64 Säulen beſtand, auf denen das Dach ruhte. Eine
Beſchreibung, die ziemlich phantaſtiſch klingt, mit der es aber doch
ſeine Richtigkeit hat. Beckmann, in ſeiner „Beſchreibung der Chur-
mark Brandenburg“, giebt Th. I. S. 595 eine ſehr hübſche Ab-
bildung dieſes Sommerſchloſſes, das mit ſeiner Fülle leichter gra-
ziöſer Säulen von äußerſt maleriſcher Wirkung geweſen ſein muß.
Im oberſten Stock war ein Speiſeſaal. Dies Schlüter’ſche Bau-
werk hatte nicht langen Beſtand. Regengüſſe unterwühlten es ſchon
1707, ſo daß der König es raſch verlaſſen und ſeine Rückkehr
beſchleunigen mußte;*) 1722 wurde es unbewohnbar gefunden
und abgebrochen.
[286]
Schon während der letzten Regierungsjahre des erſten Kö-
nigs hatte das Bad (Friedrich I. ſcheint es nach jenem Vorfall
nicht wieder beſucht zu haben) an Anſehen verloren; unter ſeinem
Nachfolger dem „Soldatenkönig“ ſank es mehr und mehr. Ein
glückliches Ohngefähr indeß wollte es, daß im Jahre 1733 einige
von den allerlängſten Potsdamer Grenadieren ihre Geſundheit hier
wieder fanden und von dem Augenblick an war das Bad zu
Freienwalde dem König beſtens empfohlen. Ein neuer Flügel (der
alt-königliche) wurde gebaut, die Quellen erhielten eine neue Faſ-
ſung und über der bedeutendſten derſelben ward ein auf acht
Säulen ruhendes, natürlich hölzernes Brunnenhaus errichtet, das
den ſtolzen Namen „Tempel“ führte und folgende Inſchrift er-
hielt:
Wie der unbekannte Verfaſſer die Logik dieſer letzten Zeile
*)
[287] hat aufrecht halten wollen, iſt ſchwer einzuſehen. Je mehr das
Herz ein Tempel iſt (ſo ſollte man meinen), je weniger nöthig
wurde dieſer Holzbau. Gleichviel indeß. Der Holzbau ſammt ſeiner
Inſchrift iſt längſt hinüber und ſeine Alexandriner geben keine
Räthſel mehr auf.
Auch Friedrich II. fügte ein neues Brunnenhaus (das neu-
königliche) den ſchon vorhandenen Gebäuden hinzu und gab da-
durch dem Brunnenthal, wenn wir von feineren Zügen abſehen,
den Charakter, den es noch jetzt beſitzt. Eine beſondere Theilnahme
ſcheint der große König dem Bade nicht geſchenkt zu haben. An
Schönheit der Natur bot ihm die Umgegend Potsdams kaum Ge-
ringeres und was die Heilkraft des Brunnens angeht, ſo war es
verzeihlich, wenn er den Skepticismus, der ihn auf allen Gebieten
auszeichnete, auch auf den „flüchtigen Schwefel- und Brunnen-
geiſt“, den Spiritus sulphuris volatilis“, der Freienwalder Heil-
quelle übertrug. Es war übrigens die Zeit gekommen, wo Private
das Bad in ihre ſchützende Obhut nahmen, beſonders Herr We-
gely aus Berlin, der unter mannigfach anderem auch Frei-Bäder
für die Armen ſtiftete und deshalb ebenfalls in einer Inſchrift
verherrlicht wurde, deren Schluß lautete:
eine Aufgabe, der ſich das Brunnenhaus ſeit längerer Zeit nicht
mehr zu unterziehen vermag, da es wie der andere „Tempel“ in-
zwiſchen vom Schauplatz abgetreten iſt.
An die Stelle dieſer Werke der Architektur trat inzwiſchen
als Brunnenhüterin ein Werk der Skulptur: eine Najade, mit
einem Ruderſtück in der Rechten, liegt läſſig hingeſtreckt über dem
Heilquell und aus der Urne neben ihr fließt der Waſſerſtrahl.
So weit iſt alles gut. Aber eine ſonderbare Oekonomie hat darauf
gedrungen, daß das Waſſer nicht frei in ein Baſſin oder eine
Rinne ſtrömt, ſondern in ein untergeſtelltes Gefäß, das zwiſchen
[288] Blumenvaſe und Topf nur nothdürftig die Mitte hält. Der Effekt
iſt überaus komiſch und man begreift den pausbackigen Amorin
durchaus, der über die Bruſt der Najade hinweg, lächelnd in den
Topf und auf das fließende Waſſer blickt. Das Ganze iſt vielleicht
ein Unicum heitrer Naivetät und während es, in Form und Ge-
genſtand, die Antike zu copiren meint, erinnert es doch, dem Geiſte
nach, der es ſchuf, durchaus an den Humor des Mittelalters, viel-
leicht zumeiſt an die bekannte kleine Brunnenfigur in Brüſſel.
Der Reiz dieſer Baulichkeiten, aller dieſer Werke der Skulp-
tur und Architektur, iſt nicht groß, und wenn es doch einen Zau-
ber hat, in dieſes Brunnenthal einzukehren, ſo muß es ein andres
ſein, was an dieſer Stelle erquickt und labt. Ich glaube zu wiſ-
ſen, was es iſt. Es iſt das Gefühl eines vollen Geſchützt- und
Geborgenſeins, es iſt die Stille dieſes Thales, vor allem ſeine
Herbſtes-Stille.
Gewiß, daß es hier auch ſchön iſt, wenn die Saiſon auf ih-
rer Höhe ſteht, wenn die Brunnenmuſik ihre Märſche ſpielt, wenn
die Toiletten einheimiſcher und fremder Damen ihr Beſtes thun,
wenn die jungen Paare kichern und die alten Herren ihre eigenen
Anekdoten ſo laut belachen, daß ſelbſt die Blechinſtrumente auf
Augenblicke dagegen verſtummen. Aber wie ſchön es immer in den
Tagen der Saiſon an dieſer Stelle ſein mag, wenn die Najade,
die ſprudelnde Wirthin dieſes Thales, umworbener iſt als alle ihre
Gäſte, die jüngſten und reizendſten nicht ausgenommen, — die
eigentlichſte Zeit dieſes Thales iſt doch die, wenn der ſtille Herbſt
hier einzieht, wenn die letzte Sommerroſe hinüber iſt und ſelbſt
die Malve blaß wird und der Aſter das Feld räumt.
Ein ſolcher Herbſttag iſt heute. Hoch in der Luft, über die
Berge hin, zieht der Herbſtwind; mitunter iſt es, als kläng’ er
bis in’s Thal hernieder, aber wir hören nur den Lüfteſtreit hoch
oben, die Luft unten ſteht unbewegt. Die Vögel ſingen nicht mehr
oder ſind ſchon fort, nur noch das Sonnenlicht hüpft in den
[289] Zweigen. Die Tannenäpfel fallen nieder auf den Kiesweg des
Parks, aber nicht losgelöſt von der Schüttelhand des Windes,
nur losgelöſt von Alter und eigner Schwere. Die Quellen rau-
ſchen, die Sommerfäden ziehen, Bilder kommen und gehen; dem
Ohre klingt es wie leiſe Muſik. Von wannen kommt ſie? Iſt es
die Luft, die klingt, oder iſt es das eigene Herz?
19
[[290]]
5.
Der Roſengarten. Der Baaſee.
Da ſoll der Liliengarten werden.
Uhland.’
Das Brunnenthal iſt ſtill und windgeſchützt, aber in ſeinem
Rücken liegt eine ſtillere Stelle — der Friedhof. Es iſt ein klei-
ner, von einer niedrigen Steinmauer eingefaßter, mitten im Wald
gelegener Begräbnißort, ſo recht ein Platz, wo
ein Platz, der uns mit dem Gedanken des Scheidens verſöhnt und
uns im Tiefſten empfinden läßt:
Die Pforte, einladend, ſteht immer offen, die Waldblumen
blühen draußen und drinnen und die Buchen legen, von außen
her, ihre grüne Hand auf die Gräber, als wollten ſie den Schlum-
mer Derer, die drunter ruhn, noch ruhiger machen.
Es iſt dies die Begräbnißſtätte nicht für Freienwalde ſelbſt,
ſondern für Die, die als Gäſte kamen, um Geneſung zu ſuchen
und — ſie an dieſer Stelle fanden.
[291]
Dieſer Friedhof heißt der Roſengarten. Er heißt ſo, nicht
aus Laune oder Einfall; der Fleck Landes, der dieſen Namen
führt, hieß ſchon ſo, lange bevor der erſte Gaſt durch das offen-
ſtehende Gitter einzog. Es hat das folgenden Zuſammenhang. Die
weiten Waldreviere, die Freienwalde nach Weſten hin umgeben
und alle Thalſchluchten mit Laubholz füllen, waren, in alten Zei-
ten ſchon, immer reich an wilden Roſen, an weißen, rothen und
gelben, und wer um die Johanniszeit durch dieſe grünen Schluch-
ten zog, dem war es, als flögen Schmetterlinge vor ihm her
durch den Wald. Die Stelle aber, wo die Roſenſträucher am dich-
teſten ſtanden und einen kleinen Wald im Walde bildeten, dieſe
Stelle lag im Rücken des Brunnenthals und hieß der „Roſen-
garten.“ Die Sträucher verſchwanden allmälig, das erſte Grab
wurde gegraben, andere Gräber folgten, die Steinmauer wurde
gezogen, — aber der Name blieb, und von den Geſtorbenen heißt
es ſinnig und ungezwungen: „ſie ſchlafen im Roſengarten.“
Weiter in den Wald hinein, etwa eine halbe Meile im
Rücken des Roſengartens, liegt der Baa-See, ein Lieblingsplatz,
und mehr denn das, der Stolz der Freienwalder. Sie überſchätzen
ihn offenbar, was indeſſen darin ſeinen guten Grund hat, daß er
die einzige, landſchaftlich in Betracht kommende Waſſerfläche iſt,
die die ſchöne aber etwas monotone Freienwalder Landſchaft (eine
immer wiederkehrende Berg- und Wald-Couliſſe) gefällig unter-
bricht. Wenn noch ein anderes hinzukommt, was hier eine Repu-
tation machen hilft, ſo iſt es vielleicht der Umſtand, daß der Baa-
See, wie eine vielgeſuchte Schöne, ſich nicht finden läßt, daß er
Verſteckens mit ſeinen beſten Freunden ſpielt, ja daß es oftmals
iſt, als würd’ er von Kobolden im Walde hin und her getragen.
Endlich doch gefunden, wird es ſeiner Schönheit mit angerechnet,
daß er ſich überhaupt hat finden laſſen.
Auch wir ſuchten ihn, ohne ihn finden zu können. Ermattet
warfen wir uns endlich in das Waldmoos, das feucht und ſchwel-
lend um uns her ſtand. Wir ſchloſſen die Augen, träumten, rie-
fen auch wohl den Waldgeiſt, zuſammt der Baa-Nixe, an, es
19*
[292] gnädig mit uns zu machen. Als wir wieder aufblickten, ſahen wir,
waldeinwärts, aber dicht hinter uns, zwei Mädchen-Geſtalten, die
tief in Farrenkraut ſtanden und nur mit Kopf und Bruſt über
das grüne Blattwerk hinwegragend, lächelnd zu uns herüber ſa-
hen. Es war wie ein Bild aus den fleurs animées.
Wir wußten nicht, ob wir ſie anrufen ſollten, aus Furcht,
die hohen Farrenkräuter möchten die zwei Köpfe wieder einziehen,
die nur eben, wie neugierig, in die Welt des Lichts hineingeſtreckt
ſchienen.
Aber die Beiden kamen uns zuvor. Sie traten aus dem grü-
nen Geſtrüpp heraus, barfuß, hochgeſchürzt und riefen uns zu:
„Der See liegt da hinauf!“ Dabei machten ſie eine Handbewe-
gung nach rechts hin und zeigten die Schlucht hinan, durch die
wir, auf unſern Irrfahrten, eben herabgeſtiegen waren.
Beide Mädchen waren noch jung, die jüngere, hübſchere, noch
ein halbes Kind, und nachdem wir Begrüßungsworte mit ihnen
gewechſelt und uns an dem beſcheiden-kecken Ton beider gefreut
hatten, wurden wir einig, daß ſie uns bis zum Baa-See hin
als Führer begleiten ſollten.
Es iſt allzeit ſchwer, wo immer es ſei, mit jungen Dirnen
ein einfach Geſpräch zu führen, und den klaren, ſprudelnden Ton
zu treffen, in dem ihrer Seele wohl wird, wie der Forelle im
Quellwaſſer; aber es iſt doppelt ſchwer mitten im Walde, über
dem die Mittagsſchwüle brütet, nichts vernehmbar als der Specht
im Tann und dann und wann das Rufen des Pfingſtvogels. Zu
der Scheu der Geiſter kommt eine Scheu der Natur, die Scheu
des innerſten Ich.
Wir verſuchten ein Geſpräch, aber es ſcheiterte; die Einſam-
keit, die ſonſt ſo nahe führt, hier zog ſie eine Schranke. So ga-
ben wir’s auf, und die beiden Mädchen, nunmehr unbeläſtigt durch
unſere Fragen, ſchritten vor uns her, die Schlucht hinauf. Es
war ein reizendes Bild; zu beiden Seiten ſtand der Wald und
ſchloß ſich über dem Hohlweg, in dem wir gingen; nur ein ſchma-
ler Streifen blauen Himmels ſah hindurch. Die Schlucht ſelbſt
[293] war tief und vom Regen ausgewaſchen. Die Wandungen rechts
und links zeigten allerlei Wurzelgeflecht, das dann und wann
phantaſtiſch aus der rothen Erdwand hervorſah. Die beiden Mäd-
chen blickten ſich nicht um, ſie ſprachen auch nicht, aber es hielt
nicht ſchwer, dem Gang ihrer Gedanken zu folgen. Sie ſprachen
die Sprache der Bewegung. Beide hatten einen elaſtiſchen Gang
(eine Tugend, deren ſich die Leiber unſeres Volkes nur ausnahms-
weiſe zu rühmen haben) und wie bei guten Schlägern nicht die
Bewegung des Armes, ſondern die Biegung des Gelenks die beſten
Hiebe führt, ſo bewegten ſich auf dem Bilde vor uns nur Hüfte
und Nacken, während der Unterkörper, trotz rüſtigen Schreitens,
in ſtatuariſcher Ruhe zu verharren ſchien. Die ältere wollte gefal-
len, die jüngere dalberte nur, und während jene mit einem ge-
wiſſen koketten Ernſt ihre Schritte that, kicherte die andere und
erröthete über Ohr und Hals.
Nun kletterten ſie die Wandung des Hohlweges hinauf und
liefen waldeinwärts. Als wir ſie wiederfanden, ſtand die jüngere
auf einem ſteilabfallenden Bergeck und hielt ſich mit der linken
Hand an einem Wachholderbuſch, während ſie mit der rechten in
die Tiefe zeigte. Unten lag der Baa-See, das erſehnte Ziel unſerer
Wanderung. Wir traten heran und hielten Umſchau. Aber das
Bild des Mädchens war ſchöner als der See; die Staffage ging
über die Landſchaft.
Was den Baa-See zu keiner tieferen Wirkung kommen läßt,
iſt wohl das, daß er einer gewiſſen Miſchgattung von Seen ange-
hört und zu jener Klaſſe zählt, die zu finſter iſt, um zu erheitern,
und doch wieder zu heiter iſt, um den vollen Eindruck des Schauer-
lichen zu machen. Viel freilich hängt dabei von der Beleuchtung
und noch mehr vielleicht von der Jahreszeit ab.
Wir ſahen ihn bei Sonnenſchein. Lachende Mädchen ſaßen
am Ufer hin und flochten Kränze aus Moos und Waſſerblumen;
ein Boot mit zwei Jägerburſchen fuhr über den See, der eine
ruderte, während der andere von Zeit zu Zeit Hornſignale in den
Wald blies. Die Mädchen am Ufer richteten ſich auf, grüßten mit
[294] flatternden Hutbändern und klatſchten Beifall; Sonne, Luſt und
Liebe ſchienen ſich ein Rendezvous an dieſer düſteren Stelle haben
geben zu wollen. Es war, als ob der Griesgram lachen ſollte;
aber es ging nicht, es kleidete ihn nicht.
Ich fürchte, wir haben den Baa-See zur Unzeit geſehen.
Ungleich ſchöner muß es hier ſein, wenn das Laub hin iſt und
ſtatt der grünen Kronen die grauverzweigten Stämme ihr Bild in
den See werfen; am ſchönſten aber in Sturm- und Winternäch-
ten, wenn der Mond grell-eiſig am Himmel ſteht und ſtatt des
Jagdhorns des Jägerburſchen, das eben verklingt, das Halloh des
wilden Jägers über Wald und See zieht.
[[295]]
6.
Hans Sachs von Freienwalde.
Ich fühle ſo friſch mich, ſo jung.
Chamiſſo.’
Die Straßen in Freienwalde ſind Hügelſtraßen und führen berg-
auf und bergab. Die belebteſte derſelben, die Berliner Straße, ha-
ben wir eben ihrer ganzen Länge nach paſſirt und noch immer
nicht gefunden, was wir ſuchen. Aber das muß es ſein — es iſt
das letzte Haus. Ein Berg und eine Kirche bilden den Hintergrund,
nach der Straße zu ſtehen drei Linden und inmitten dieſer Land-
ſchafts-Requiſiten erhebt ſich ein alter Fachwerkbau, an dem ein
erkerartig vorſpringendes Fenſter und zwei Roſenbäume ſo ziemlich
das Beſte ſind. Die Roſenbäume faſſen das Fenſter ein, aber ſie
müſſen den ſchmalen Raum mit zwei Aushänge-Brettern theilen,
auf denen wir im Lapidar-Styl leſen: „Schirme reparirt; Drechs-
lerarbeit in Holz und Horn.“ Dazu eine große, in Holz geſchnit-
tene Tabackspfeife, die als Ornament deutungsreich über dem
Ganzen ſchwebt.
Das iſt allerdings, was wir ſuchen. Hier wohnt Carl Weiſe,
Poeta und Drechslermeiſter von Freienwalde,
Das Ganze hat das Anheimelnde einer Poetenwohnung alten
[296] Styls und wir treten guten Muthes ein. Eine Thürklingel —
nicht eine von den geräuſchvollen, die, einmal in Bewegung geſetzt,
wie ein bellender Dorfſpitz, gar kein Ende finden können, ſondern
eine von den leiſen, wohlerzogenen — kündigt unſer Eintreten an
und eh wir uns noch in dem Halbdunkel (für das die draußen-
ſtehenden drei Linden ſorgen) zurecht gefunden haben, erſcheint aus
der Werkſtatt her, wo wir eben noch das Schnurren des Rades
hörten, ein ſtattlicher Mann, hemdsärmlich, im Arbeits-Koſtüm
und ſieht uns freundlich fragend an. Er iſt ein Vierziger, brünett,
groß, breitſchultrig, ſeiner ganzen Erſcheinung nach von ſüdſlawi-
ſchem Typus und nach Teint, Haltung und Schnurrbart viel eher
ein Sereſchaner-Hauptmann, als ein Drechslermeiſter oder Poet.
Nichtsdeſtoweniger iſt er beides und in dem friedliebendſten Dialekt
der Welt, im reinen Hallenſiſch, fragt er nach unſrem Begehr.
Wir reichen ihm die Hand, ſagen ihm, daß wir, als gelegent-
lich Versbefliſſene, gekommen wären, „um das Handwerk zu grü-
ßen“ und daß wir vorhätten, wenn irgend möglich, den Abend
mit ihm draußen im Freien zu verplaudern.
Unſer Poet ſchlägt ein, die eben untergehende Sonne mahnt
ohnehin an Feierabend und ſich auf Minuten bei uns entſchuldi-
gend, führt er uns zunächſt in das nebenan gelegene Zimmer, das,
mit ſeinen geſchmückten Wänden, die Honneurs des Hauſes macht.
Wir benutzen dieſe Pauſe, uns in dem Putz- und Empfangs-
zimmer neugierig umzuſehen und ſind überraſcht von der Sinnig-
keit der Anordnung. Wenn das ganze Haus ein Poetenhaus iſt,
ſo iſt dies das Poetenſtübchen. Blumen und Bilder wechſeln unter
einander ab; Geranium und Primel blicken ſchüchtern zu einer
Flora auf, Epheutöpfe ſpannen ihren grünen Bogen über Schrank
und Spiegel und zwiſchen allermodernſte Farbendrucke drängen ſich,
in breiten Ebenholzrahmen, ein paar altfranzöſiſche Stiche: „Vue
des Environs de Saverne; dedié à Madame la Marquise
de Vilette, Dame de Ferney-Voltaire.“ Das ſcheint nicht zu
einander zu paſſen, aber es paßt alles ſehr gut. Was unſere mo-
dernen Zimmereinrichtungen ſo langweilig macht, das iſt das
[297]Schablonenhafte und das Beziehungsloſe. Hier hat alles
eine Beziehung, eine Geſchichte, wäre dieſe Beziehung auch oft keine
andere, als, innerhalb der Kleinwelt, eine mühevolle Eroberungs-
Geſchichte.
Unſer Poet hat ſich inzwiſchen reiſefertig gemacht und bietet
uns freundlich ſeine Führerdienſte an. Wer wäre dazu geeigneter,
als er, der nicht nur alle Wege und Stege der Umgegend kennt,
ſondern auch die ſchönſten Punkte in Berg und Thal beſungen
hat; die vorgeſchrittene Stunde aber macht es uns wünſchenswerth,
auf entferntere Touren zu verzichten und unſere Wünſche beſchei-
dentlich in ein „je näher, je beſſer“ kleidend, ſchreiten wir dem
unmittelbar vor der Stadt gelegenen Schloßgartenberg zu, deſſen
bauliche Anlagen (Schloß, Pavillon ꝛc.) wir ſchon in einem frü-
heren Kapitel kennen lernten.
Aber heute laſſen wir Schloß und Pavillon am Abhang des
Berges liegen und ſteigen höher hinauf, wo ſchmale durchs Park-
holz geſchlagene Wege in endloſen Windungen die obere Hälfte
des Hügels umziehen. Kein beſſerer Plauderweg denkbar, als ſolch
ein Schlängelweg. Die gerade Linie, die den Raum mißt, hat
auch etwas von einem Zeitmeſſer, und die 7mal auf- und abge-
ſchrittene Avenue wirkt unwillkürlich wie ein 7mal gerückter Zeiger;
aber der Schlängelweg entzieht ſich jeder Zeitcontrole und die
Frage nach dem „zuviel“ wird rein praktiſch durch den ermüdeten
oder nicht ermüdeten Fuß entſchieden. Die Füße aber ermüden
ſchwer bei guter Unterhaltung und ſolcher erfreuen wir uns an
der Seite unſeres Führers und Genoſſen. Von Zeit zu Zeit, wo
eine Lichtung im Park einen Blick ins Freie geſtattet, ſtockt das
Geſpräch, aber es iſt nur ein läſſiges Fallenlaſſen des Fadens, —
er ruht nur, er iſt nicht abgeſchnitten. Ungeſucht nimmt ſich das
Geſpräch an ſelber Stelle wieder auf und in die ſtille Abendland-
ſchaft, mit ihrem wechſelnden Hintergrund, ſtellt ſich immer klarer
die Geſtalt, das Bild unſeres Freundes, wie ſein eignes Wort es
vor uns entrollt.
Er beginnt mit Schilderungen aus ſeiner Heimath, ſeiner
[298] Kindheit. Am Giebichenſtein ſpielt er umher; er ſingt und klettert
unter Fels und Trümmern, und thut unbewußt ſeinen erſten
Trunk aus Romantik und Märchenwelt. Er ſingt „des Knaben
Berglied“, er hat eine klare Kinderſtimme; aber was frommt dem
„armer Leute Kind“ Lied und Geſang, wenn beide nicht zu erwerben
verſtehen? und ſo finden wir unſeren jungen Freund in den dun-
keln Straßen Halle’s wieder, — er trägt den Currende-Mantel,
und ſingt um’s Brot. Sei’s drum, es haben es beſſere vor ihm
gethan. Aber Frau Muſika führt einen knappen Haushalt und
andere freie Künſte müſſen helfen. Zunächſt die Dichtkunſt. Zunft-
mäßig tritt er bei ihr ein; Friedrike Schmidt, eine blinde Dich-
terin ſeiner Vaterſtadt, diktirt ihm ihre Lieder und gelehrig wie er
iſt, lernt er der Frau Meiſterin die paar Handtirungen ab, die
ihre Kunſt ausmachen und verſucht ſich ſelbſt alsbald in ſeinen
erſten Verſen.
Glückliche Jahre waren es, dieſe Lehrjahre bei der freien
Zunft, aber wirkliche Lehrjahre ſollten folgen, die Drechslerkunſt
löſte die Reimkunſt ab, und an die Stelle der blinden „Frau
Meiſterin“ trat ein Meiſter, der ſcharf nach dem Rechten ſah.
Wer indeſſen, ſo fragen wir, der geſunden und vor allem
poetiſchen Geiſtes iſt, trüge nicht verhältnißmäßig leicht dieſe Tage
des Lernens und der Laune, dieſe Tage voll Zwang und Druck
und Enge? Auch der Bedrückteſte, er ſieht ein Ende ab; in wei-
ter, aber immer kleiner und kürzer werdender Ferne, jetzt drei
Jahre, nun zwei, jetzt nur noch eins, ſteht es wie ein Lichtſchein
und wächſt und nimmt Geſtalt an, und endlich erkennbar gewor-
den, ſehen wir wie die Geſtalt nach außen zeigt, jenſeit des
Gitterthores, in ein weites Land der Freiheit hinein. Das ſind
die Wanderjahre, die den Lehrjahren folgen, — ein Wechſel, den
das Leben jedem beſcheert, er ſei hoch oder niedrig geboren, ſei
„Burſch“ oder Handwerksburſche.
Dieſe Zeit der Freiheit kam endlich auch unſerm Poeten, —
er wanderte. Er wanderte mit Luſt und ſeine Lieder ſelbſt haben
uns ein paar Klänge davon aufbewahrt. Er zog weit umher, arm,
[299] glücklich, liederfroh, bis er plötzlich, wie mancher vor ihm, eine
Leere und eine Sehnſucht in ſeinem Herzen wach werden und
wachſen fühlte, die ihn nun wieder heimwärts trieb. Er ſang:
und mit dieſer Betrachtung kehrte er in ſeine Vaterſtadt zurück.
Die Heimath nahm ihn wieder auf, und wenn ſein Wander-
leben poetiſch geweſen war, wie es das Vorrecht allen Wander-
lebens iſt, ſo war es ihm nun, bei ſeiner Rückkehr, vor manchem
andren Wandrer beſchieden, daß er nicht aus der Poeſie des Um-
herſtreifens in die Alltags-Proſa eintrat, ſondern daß der Roman
ſeines Lebens nun erſt voll begann. Dem lyriſchen Vorſpiel folgte
die dramatiſche Aktion; an Effekt-Scenen kein Mangel.
Die Perſonen, die in dieſem Drama kommen und gehen,
leben zum großen Theile noch und ſo ſind uns an dieſer Stelle
nur Andeutungen geſtattet. Verlobungen aus Träumerei und ro-
mantiſchem Ehrbegriff, Trauungen auf dem Todtenbett, räthſelhafte
Wiedergeneſungen, Entſagungen aus phantaſtiſcher Opferfreudigkeit
und Trennungen aus Liebe, dabei Armuth in Reichthum und
Reichthum in Armuth, ſo jagen ſich die wunderlichſten Scenen
und Gegenſätze, bis wir, nach einem Leben, das „den Roman auf
ſeinem eigenen Felde ſchlägt“, unſern Freund in die einfachſten
Verhältniſſe zurückkehren und an der Seite der ſchlichteſten, aber
beſten Frau endlich Ruhe finden ſehn.
Dieſe Ruhe indeſſen entbehrte der Sorge nicht. Schwere Zei-
ten kamen und in dieſen ſchweren Zeiten begann die Saite wieder
zu klingen, die in den Jahren reicher und ſich drängender Erleb-
niſſe geſchwiegen hatte. An der Drehbank, unter dem Surren des
Rades, fielen mit den phantaſtiſch gekräuſelten Flocken auch wieder
die erſten Lieder ab. Sie fanden freundliche Hörer, bald auch Leſer,
und jenen erſten Liedern ſind ſeitdem andere gefolgt.
[300]
Wir wenden uns hier von unſerm plaudernden Freunde,
nach deſſen Mittheilungen wir dieſe Skizze zu zeichnen verſuchten,
ab und ſtatt deſſen ſeinen Liedern zu.
In ſeiner erſten Sammlung, die den faſt allzupoetiſchen Titel
„Blumen der Wälder“ führt, erblicken wir ihn nicht auf ſeinem
eigentlichſten Gebiet, überhaupt aber mit einer Aufgabe beſchäftigt,
die ſchwerlich jemals von einem Dichter gelöſt worden iſt. Es han-
delt ſich in dieſen Liedern um eine Verherrlichung der Freienwal-
der Natur und die urſprüngliche Abſicht des Dichters ſcheint auf
nichts geringeres ausgegangen zu ſein, als in einem wahrhaft be-
ängſtigenden Drange nach Vollſtändigkeit, jeder Kuppe (er ver-
zeihe den Ausdruck) einen poetiſchen Zettel umzuhängen. Das
glückt nie. Eine ſolche Aufgabe iſt unpoetiſch in ſich und in der-
ſelben Weiſe wie es unmöglich iſt, auf ſämmtliche Schiffe der eng-
liſchen Flotte, oder auf ſämmtliche Regimenter der preußiſchen Ar-
mee einen Sonetten-Cyclus zu machen, ſo verbietet es ſich auch,
die weitausgeſpannte Freienwalder Landſchaft, Nummer für Num-
mer zu beſingen. Der Verfaſſer ſcheint das ſchließlich auch ſelber
empfunden und den zweiten, bereits angekündigten Band (der
weitere 20 Lieder derart bringen ſollte) glücklich unterſchlagen zu
haben.
Was dieſen „Blumen der Wälder“ indeſſen, wenigſtens in
dem dichteriſchen Entwickelungsgange unſeres Freundes, einen
Werth verleiht, das iſt ein zufälliger, in gar keiner Beziehung zu
den übrigen Liedern der Sammlung ſtehender Anhängſel, worin
der Dichter unſerm Altmeiſter Friedrich Rückert (dem er auch die
Sammlung gewidmet hat) ſeine Huldigung darbringt. Dies Lied
nennt ſich „Meiſter Rückert und ſein Lehrjunge“ und iſt ein ſehr
glücklicher Griff. Es iſt friſch, natürlich, originell. Der geſchilderte
Hergang iſt folgender: Unſer Freienwalder Freund hat vor, dem
alten Rückert zu ſeinem 70. Geburtstage in Verſen zu gratuliren.
Er ſchickt Frau und Kinder möglichſt früh zu Bett und ſetzt ſich
bei der ſprüchwörtlich gewordenen „Poeten-Lampe“ nieder, um
Gedanken und Reime zu Papier zu bringen. Aber auch Poeten-
[301] Lampen verzehren Oel und die wackere Hausfrau (die ſchließlich
doch für Alles aufkommen muß) ſtellt von ihrem Bett aus ein-
ſchneidende Betrachtungen über dieſen Gegenſtand an. Endlich, auf
der Höhe des Conflicts, tritt unſer Dichter aus der Wolke des
Geheimniſſes heraus und erklärt, um was es ſich handle. Nun
wendet ſich das Blatt. „Mit Vater Rückert iſt das was andres“;
über unſere Poetenfrau kommt ein wahrer Opfermuth, und ſiehe da
Dies Lied weckte unſrem Poeten viele Freunde, aber was
wichtiger iſt, es ſtellte ihn und ſein Talent an den rechten Fleck.
Er ſelbſt ſchon, in dunkler Ahnung davon, hatte dieſem Liede das
Motto gegeben: „Geh vom Häuslichen aus und verbreite Dich
ſo gut Du kannſt über die Welt.“ Wie dieſe Worte Motto ſei-
nes Liedes geweſen waren, ſo wurden ſie nun auch das Wort,
die Mahnung für ſein poetiſches Schaffen. Das Haus und ſein
perſönliches Erlebniß innerhalb deſſelben, vor allem ſeine blonde
Frau, in ihrer Schlichtheit und Häuslichkeit, wurden der Mittel-
punkt ſeiner Dichtung und mit innigem Gefühl konnte er von der
letztern ſingen:
Ein neuer Geiſt kam in ſein Schaffen, das Gezwungene fiel
fort, das Natürliche trat an die Stelle und ein Jahr ſpäter konnte
er der Welt ſeine erſte wirkliche Dichtung bieten. Sie führt den
[302] Titel die „Braut des Handwerkers“. Es iſt ein Idyll, das uns,
in fünf Kapiteln, vom Morgen bis zum Abend des Hochzeitstages
führt. Alles was uns ein Menſchenherz lieb und werth machen
kann, das klingt hier zuſammen: Genügſamkeit, kindlich-frommer
Sinn, Liebe, Pietät und Gottvertrauen. Die erſten Geſänge (viel-
leicht die gelungneren) zeigen uns die Braut, wie ſie das „ein-
gebrachte Geſpinnſt“ vor dem Bräutigam ausbreitet, darunter auch
ein Leinenſtück, bei deſſen Anblick ihr unwillkürlich die Thränen
aus den Augen brechen. Es erinnert ſie an ihre Kinderjahre, an
den Tag, wo, nach Feuersbrunſt und Noth und Krankheit, die
fleißige Hand ihrer Mutter, das Garn zu dieſem Stück zu ſpin-
nen begann. Sie entſinnt ſich auch der Worte, die damals die
Mutter zu ihr ſprach und ſie wiederholt ſie jetzt:
Mit dieſen Worten, die ſich mehr denn einmal auch an
unſrem Freunde ſelber bewährt haben, nehmen wir Abſchied von
ihm. Noth und Sorge, wie wir geſehen haben, ſind ihm nicht
geſchenkt worden und er liebt es wohl, nicht ohne einen leiſen
Anflug von Bitterkeit, ſein Leben mit dem des Gellertſchen Eſels
zu vergleichen, den alle drei Brüder benutzen und alle drei futtern
[303] ſollten; „ſie benutzten ihn auch alle drei, aber keiner futterte ihn.“
Indeſſen ſei es drum; eben der Segen der Arbeit, von dem jene
Strophen ſprechen, hat auch ihm über vieles hinweggeholfen; Hu-
mor und Dichtkunſt haben ein weitres gethan und werden es fer-
ner thun.
Vor allem aber möge ihm, in Leben und Dichten, der be-
ſcheidne Sinn verbleiben, der ihn an die Spitze ſeiner erſten Lie-
derſammlung die Worte ſtellen ließ:
[[304]]
Der Schloßberg bei Freienwalde und die
Uchtenhagens.
Auf ſeinen Pfaden hinterdrein.“
Ich ſehe nichts als einen ſchwarzen Pudel.
Goethe.’
Es lächelt ſterbensweh und nickt
Und macht im Saal die Runde.
E. Mörike.’
Die Hügel ſind Freienwaldes Schönheit und ſein Schatz. Wer,
der je in der märkiſchen Schweiz war, hätte nicht vom Ruinen-
und Kapellenberg, von der Königshöhe und dem Monte Caprino
gehört; heute aber an allen dieſen Punkten ſchöner Ausſicht vor-
übergehend, machen wir den entfernter gelegenen, halb verwilderten
Schloßberg zum Gegenſtand unſres Beſuchs, auf dem laut Sage
und Tradition die alte Burg der Uchtenhagens ſtand.
Die Uchtenhagens ſaßen hier um Freienwalde herum drei,
vielleicht auch vier Jahrhunderte lang, und emſiger, neurer For-
ſchung iſt es gelungen, die Schickſale dieſes Geſchlechts, die eine
Zeitlang nur noch unklar dämmerten, wieder klar und deutlich an
das Licht der Geſchichte zu ziehn. Aber die hiſtoriſche Forſchung,
ſo viel ihr gelang, vermochte doch nicht, bis auf die Anfänge des
Geſchlechts zurückzugehen. Dieſe Anfänge ſind im Bereich der Sage
geblieben und wir ſcheiden alles was wir von den Uchtenhagens
[305] wiſſen, richtiger, alles was wir von ihnen zu erzählen haben wer-
den, in eine ſagenhafte und eine hiſtoriſche Zeit. Die hiſto-
riſche Zeit, die etwa gegen Ausgang des 14. Jahrhunderts be-
ginnt, findet die Uchtenhagens bereits in Freienwalde vor; aber
die Frage bleibt ungelöſt (wenigſtens von der Geſchichte): wie ka-
men die Uchtenhagens nach Freienwalde hin? Der Löſung dieſer
Frage unterzieht ſich ausſchließlich die Sage, ja ſie geht noch einen
Schritt weiter und beantwortet, ohne hiſtoriſche Skrupel, zugleich
die Frage nach dem eigentlichen Urſprung des Geſchlechts.
Die Sage, ſelbſtverſtändlich, ſchwankt in ihren Angaben über
dieſen Punkt und führt in ihrer einen Verſion den Urſprung
des Geſchlechts auf die märkiſchen Jagows, in der andern Ver-
ſion auf die pommerſchen Wedells zurück, auf die Wedells, deren
einer (ſo erzählt ſie) ſeinen Lehnsherrn, den Pommernherzog, mit-
ten in der Schlacht an den brandenburgiſchen Markgrafen ver-
rieth, und für dieſen Verrath mit Freienwalde belohnt und be-
lehnt wurde. Uebrigens ein Verrath nicht um Goldes willen, ſon-
dern aus Zorn und Rache.
Die andre, die Jagow-Verſion, hat einen einſchmeichelnderen
Klang und ſei darum an dieſer Stelle in Kürze erzählt. Hennig
von Jagow („klein an Geſtalt, aber hoch an Gemüth“, wie es
von ihm heißt,) nachdem er ſich, verdient oder unverdient, die Un-
gnade des Markgrafen zugezogen hatte, war aus dem Lande ver-
bannt worden. Ein Preis ſtand auf ſeinen Kopf. Jagow indeſſen,
unwillig, das Land zu verlaſſen, daran er hing, zog ſich, bis an
die Oder hin, in die Sümpfe und Wälder zurück, die damals die
Oſtgrenze des markgräflichen Beſitzes bildeten, alſo aller Wahr-
ſcheinlichkeit nach in die Berge und Brüche der Freienwalder Ge-
gend. Hier lebte er, mit andren Verbannten und Ausgeſtoßnen,
das Leben der Geächteten, ungekannt, namenlos, aber ſicher im
Schutz der Wälder. Es war ein Leben voll Kampf und Gefahr,
voll Uebermuth, Raub und Poeſie, genau ſo, wie uns alte Bal-
laden und Volksgeſänge das Leben des Robin Hood, dieſes un-
erreichten Vorbilds poetiſchen Wald- und Räuberlebens, geſchildert
20
[306] haben. Es war ein Leben voll Poeſie; aber unſer Jagow trug
doch ſchwer daran, denn es zog ihn unter die Menſchen und in
die Nähe des Markgrafen zurück und ſeine Seele trachtete mehr
und mehr nach einer Gelegenheit, ſich die Gunſt ſeines Herrn, den
er liebte, neu zu erwerben. Dieſe Gelegenheit bot ſich endlich. Es
kam zu einem Kriege mit den Pommern und um Freienwalde her-
um ſtießen die Heere des Pommern-Herzogs und des Markgrafen
auf einander. Man focht Mann gegen Mann (collato pede wie
der Chroniſt erzählt), und der Sieg neigte ſich ſchon den Pom-
mern zu, als Jagow aus der Waldestiefe mit ſeinen Geächteten
hervorbrach. Er faßte den Feind in Flanke und Rücken, und nach
tapfrer Gegenwehr wandten ſich die Pommern zur Flucht. Aber
nur wenige erreichten die Oder; die Mehrzahl wurde niedergemacht
und färbte den Boden mit ihrem Blut. Die Stelle, wo die
Schlacht ſtattfand, heißt bis dieſen Tag das „rothe Land.“ Ja-
gow, vor den Markgrafen geführt, wurde mit dem Lande be-
lehnt, auf dem ſo glücklich gekämpft worden war; — um aber
ſein Wort zu halten, „daß Henning von Jagow nie mehr vor
ſeinem Auge erſcheinen ſolle,“ nahm er den Namen, der an alte
Zeiten und alten Groll erinnern mochte, von ihm und nannte ihn
Uchtenhagen, weil er „uht dem Hagen“ d. h. aus dem Walde,
zu ſeiner, des Markgrafen, Rettung herbeigekommen war.
So weit die Jagow-Sage. Die andre Verſion, die, wie
ſchon erwähnt, den Urſprung des Geſchlechts auf die Wedells zu-
rückzuführen trachtet, hat viel verwandtes damit. Beide haben den
Pommernkrieg, den Schlachtengrund um Freienwalde herum und
den Umſtand mit einander gemein, daß, in einem wie im andren
Fall, dem hartbedrängten Markgrafen eine unerwartete Hülfe kam,
eine Hülfe, für die er ſich, durch Belehnung mit dem Grund und
Boden, auf dem gekämpft worden war, dankbar erwies. Das Ab-
weichende liegt nur darin, daß uns die eine Sage von einem be-
gangenen Verrath, die andre von einer That der Treue erzählt.
Wenden wir uns nunmehr der Frage nach dem hiſtoriſchen
Gehalt dieſer Sagen zu, ſo hat es damit muthmaßlich nicht viel
[307] auf ſich. Es iſt zwar wahr, daß das Wappen der Uchtenhagen,
der Wedell und der Jagow, ein und daſſelbe iſt (ein rothes Rad
im ſilbernen Felde); aber dieſe Wappengemeinſchaft, ſo viel, ja ſo
entſcheidendes ſie für die Zuſammengehörigkeit der drei Familien
beweiſt, ſo wenig beweiſt ſie ſpeciell für einen etwaigen hiſtoriſchen
Kern des eben Erzählten. Es giebt ein Dorf Uchtenhagen bis die-
ſen Tag in der Altmark, und wenn auch bisher noch nicht feſt-
geſtellt werden konnte, wann und unter welchen Umſtänden das
Geſchlecht, das jenem altmärkiſchen Dorf den Namen gab oder
ihn, umgekehrt, von ihm erhielt, in die Freienwalder Gegend kam,
ſo ſcheint doch ſo viel gewiß, daß das Geſchlecht weder aus den
Wedells, noch aus den Jagows (wie die obigen beiden Sagen
erzählen) erwuchs, ſondern von Anfang an, als zu einer gemein-
ſchaftlichen Sippe gehörend, mit und neben ihnen ſtand. Alles
ſpricht dafür, daß beide Sagen erſt in der Nach-Uchtenhagenſchen
Zeit d. h. alſo nach dem Erlöſchen des Geſchlechts entſtanden ſind.
Sie gehören höchſt wahrſcheinlich der Klaſſe der bloßen Zurecht-
machungen, jenen nachträglichen Erfindungen an, die ihre Wur-
zeln nicht auf dem Berge, ſondern uns zu Füßen haben, Sagen
alſo, die weniger jenen Epheus gleichen, die natürlich-phantaſtiſch
von oben her zu uns herniederſteigen, als jenem Epheu, den wir
künſtlich am Spaliere von unten nach oben ziehn.
Aber das mangelnde hiſtoriſche Fundament ſoll uns nicht
undankbar machen gegen die Sage ſelbſt, die, ſie ſei jung oder
alt, verwirrend oder die rechten Wege führend, um ihrer ſelbſt
willen ihre Berechtigung hat. Wir überlaſſen uns deshalb, eh wir
in das Gebiet der Geſchichte eintreten, auch jetzt noch ihrer Füh-
rung und erfahren von ihr, nachdem wir ſorglos ihren heraldi-
ſchen Märchen und ihrer Erzählung von dem Erſcheinen der Uch-
tenhagen in Freienwalde gelauſcht haben, daß der Schloßberg
es war, auf dem ſich die erſte und älteſte Burg der Uchtenhagen
erhob.
Dieſem Schloßberg gilt jetzt unſer Beſuch.
Wir haben Freienwalde mit der Nachmittagspoſt erreicht und
20*
[308] einem jener Cicerones, die den Poſthof zu umſtehen pflegen, ver-
traulich mitgetheilt, daß wir noch vor Sonnenuntergang oder doch vor
dem Hereinbrechen vollſtändiger Dunkelheit den Schloßberg zu
ſehen wünſchten, zu Fuß, wenn es nicht allzuweit, zu Wagen,
wenn nöthig. Da in den Cicerones von Freienwalde gemeinhin
mehrere Aemter cumuliren, mindeſtens aber die Metiers des Füh-
rers und des Fuhrmanns zuſammenzutreffen pflegen, ſo iſt die
Antwort ſelbſtverſtändlich und nach einer halben Stunde rollt ein
Einſpänner vor, der nicht voll bis in die Zeit der Uchtenhagens
zurückreicht, aber doch beinah. Der Hinterſitz iſt leer, auf dem
Vorderſitz befindet ſich unſer Führer ſelbſt, nunmehr als Kutſcher,
und knipſt mit der Peitſche, um ſich in ſeinem neuen Amte zu
beglaubigen. Er trägt einen hellgrauen Flausrock, dazu eine
ſchwarze Tuchmütze, deren Schirm halb über ſein Geſicht fällt.
Was auf den erſten Blick überraſcht, iſt das, daß er nicht raucht.
Aber freilich jene eigenthümliche Klaſſe von Perſonen, der er zu-
gehört, und deren es in jedem Dorfe mindeſtens einen giebt (auch
in kleinen Ackerſtädten kommen ſie vor), raucht nie. Es ſind dies die
Träger der Volkspoeſie, die Sagenhüter, die Märchenerzähler des
Nordens. Sie ſind gutgeartet, redſelig und ſchweigſam zugleich,
lieben die Scholle, darauf ſie geboren, haben einen Anflug von
Kränklichkeit und wandern, halb bewundert und halb belächelt,
aber wegen ihrer Verträglichkeit wohlgelitten, wie Fremdlinge unter
der derberen Dorfbevölkerung einher. Wiewohl gelegentlich von
einer phantaſtiſchen Scharfſinnigkeit, haben ſie in den gewöhnlichen
Verhältniſſen des Lebens doch nichts von jener Bauernſchlauheit,
die ſprüchwörtlich geworden iſt. Das Feld ihres Geiſtes, überhaupt
von beſcheidner Tragkraft, iſt von der Phantaſie überwuchert, und
ſo gleichen ſie einem Ackerfeld, das zu ſchwach iſt, um ernſte und
ſolide Frucht zu tragen, aber dem ſchönen Unkraut Platz gönnend,
deſto üppiger in rothen und blauen Blumen ſteht.
So iſt auch unſer Führer und Fuhrmann, deſſen Einſpänner
vor uns auf dem Poſthof hält. Ueber den Platz, den wir einzu-
nehmen haben, ſind wir nicht lange in Zweifel. Natürlich über-
[309] laſſen wir den in Riemen hängenden Hinterſitz ſeinem Schickſal
und ſetzen uns auf das Vorderbrett unmittelbar neben den Flaus-
rock, nicht gewillt, eine zweifelhafte Bequemlichkeit auf Koſten beſ-
ſerer Unterhaltung zu erkaufen. Denn es unterhält ſich ſchlecht auf
den Rücken andrer Leute los.
Noch einmal ein Peitſchenknips, diesmal nicht in die Luft,
ſondern in die Weichen des Einſpänners, und über das Straßen-
pflaſters hin, das noch die alten Traditionen des Ortes wahrt,
holpert und raſſelt unſer Wagen, deſſen Hinterſitz die komiſchſten
Sprünge macht, aus der Stadt hinaus, in den Freienwalder Kiez
hinein, bis plötzlich das Holpern und Raſſeln einem ſüßen Gefühl
der Glätte und jenem leis knirſchenden, im Kiesſand mahlenden
Tone weicht, den jeder kennt, der aus dem Sturm und Drang
ſchlecht gepflaſterter Straßen in den ſtillen Hafen einer Chauſſee
eingemündet iſt.
Der Weg, derſelbe, der von Freienwalde nach Falkenberg
führte, iſt glatt, der Abend ſchön. Duft und Nebel ſteigen aus
den Wieſengründen auf; der Wald zur Linken, wie es im Liede
heißt, ſteht ſchwarz und ſchweigend und nur vor uns, nach Nord-
weſten hin, glüht noch der Abendhimmel in wunderbaren Farben-
ſpielen durch die Nebel hindurch. Es iſt juſt die Stunde, um den
Schloßberg und die Burg der Uchtenhagen zu beſuchen; die
Landſchaft ſelbſt iſt wie ein weites Thor aufgethan, roth und gol-
den, um in das Land der Sage einzuführen.
Es labt uns das Bild und die Friſche des Abends, aber
endlich haben wir abgeſchloſſen mit der Landſchaft und ihrem Reiz,
und fühlen ein leiſes Unbehagen über das Schweigen unſres Füh-
rers, an deſſen Seite wir doch Platz genommen, um bequemerer
Unterhaltung willen. Die erſten Hügelparthien liegen bereits hinter
uns, wir müſſen bald halben Weges ſein, aber er ſchweigt noch
immer. Da der Berg nicht zum Propheten kommt, ſo bleibt nichts
andres übrig, als das alte Auskunftsmittel, und blindlings in die
allerbequemſte Form der Unterhaltung hineintappend, beginn ich
mit der Frage:
[310]
Sagen Sie, wie denken Sie über die Uchtenhagens?
Der Angeredete läßt ſich Zeit, und zweimal mit der Leine
auf den Rücken des Pferdes klatſchend, um die lange Pauſe min-
der auffällig zu machen, antwortet er endlich in ſehr unbeſtimmten
Ausdrücken:
Ja, da iſt viel.
Der Wagen rollt weiter in den ſtillen Abend hinein, deſſen
allerſtillſte Stelle unſer Wagen zu werden droht. Ich will aber
die Stille unterbrechen, es koſte was es wolle, und fahre alſo fort:
Sagen Sie, hier ſoll ja auch eine große Schlacht geweſen
ſein, hier hinter den Bergen; ich glaube, ſie nennen es das „rothe
Land.“
Er nickte mit dem Kopfe.
Nun ſagen Sie mir, iſt denn das Land noch immer roth?
„So roth“ antwortete er, halb wie im Echo, auf meine
Frage und machte dabei eine Handbewegung, als ob er ſagen
wollte: lieber Herr, ſprechen wir davon lieber nicht.
Nichtsdeſtoweniger hatte dieſe Frage das Eis gebrochen (ich
ſah das an ſeiner veränderten Haltung), und mit der Rechten auf
die quadratmeilenweite Niederung deutend, die all einſt Uchten-
hagenſcher Beſitz geweſen war, fuhr ich fort: Die Uchtenhagens
müſſen ſehr reich geweſen ſein.
Er ſah unter ſeinem Mützenſchirm zu mir auf, ein halbweh-
müthiges Lächeln flog über ſein Geſicht, dann wiederholte er nur
meine Worte: die Uchtenhagens müſſen ſehr reich geweſen ſein.
Es war erſichtlich, daß er einen Nachſatz machen wollte, ihn
aber rückſichtsvoll verſchwieg; ich kam ihm alſo auf halbem Wege
entgegen und ergänzte:
Sehr reich, aber wie?
Dies Wort ſchien wie ein Erkennungszeichen auf ihn zu wir-
ken, an dem er nun Gewißheit zu finden glaubte, daß ich einer
von dem romantiſchen Geheimbund ſein müßte, der nach Art
andrer Geheimbünde, zwar ſeine unausgeſprochenen, aber nichts-
deſtoweniger ſeine ganz beſtimmten Erkennungszeichen hat. Er
wußte nun, daß er ſprechen dürfe, ohne Furcht vor Profanation.
[311]
Er wartete auch keine weitere Frage ab, rückte vertraulich
näher und ſagte: Wiſſen Sie denn, was ſich die Kiezer hier er-
zählen? Da war hier in Freienwalde, in der Uchtenhagenſchen
Zeit, ein Böttcher, der wohnte neben dem Kirchhof und hieß
Trampe. Das Waſſer ſtand damals bis an die Stadt heran, und
zwiſchen Trampe’s Haus und dem Waſſer lag nur der Kirchhof.
Eines Nachts hörte Trampe ein Knurren und Winſeln und er
trat an’s Fenſter, um zu ſehen, was es ſei. Er ſah aber nichts als
den Vollmond, der am Himmel ſtand. Er legte ſich wieder nieder und
warf ſich eben auf die rechte Seite, um wieder einzuſchlafen, da
hörte er ſeinen Namen rufen: „Trampe“, dreimal; dann wurde es
wieder ſtille. In der nächſten Nacht ebenſo. Trampe, der ſonſt nicht
furchtſam war, meinte nicht anders, als er werde nun ſterben müſſen;
er ergab ſich aber in ſein Schickſal und dachte: „wenn es wieder
ruft, dann wirſt du folgen, es ſei wohin es ſei.“ Und in der
dritten Nacht rief es wieder. Trampe trat nun auf den Kirchhof
hinaus, und als er ſich umſah, war es ihm, als liefe etwas wie
ein Hund zwiſchen den Gräbern hin und her; er konnt’ es aber
nicht genau ſehen, denn das Kirchhofgras ſtand ſehr hoch. Trampe
folgte der Spur, die nach der Waſſerſeite des Kirchhofs hinführte,
und als er an den Strom kam, ſah er einen Kahn, der mit der
Vorderhälfte im Waſſer, mit der Hinterſeite aber auf dem Trock-
nen lag. An der äußerſten Spitze des Kahns ſtand ein ſchwarzer
Pudel mit zwei Feueraugen und ſah Trampen ſo an, daß dieſer
dachte, hier iſt Einſteigen das Beſte. Kaum, daß er ſaß, ſo fuhr
der Kahn, als ob er von hundert Händen geſchoben würde, wie
ein Pfeil in den Fluß hinein und über das Waſſer fort.
Hier unterbrach ſich der Erzähler einen Augenblick, um mir
die Linie zu beſchreiben, die der Kahn damals gezogen haben
müſſe und fuhr dann fort:
Keiner ſteuerte, keiner führte das Ruder, aber der Kahn ging
rechts und links, immer wie der Pudel den Kopf drehte; ſo ka-
men ſie bis an den Schloßberg. Der Kahn lief auf, beide ſpran-
gen an’s Ufer und ſtiegen bergan. Es war inzwiſchen dunkel ge-
[312] worden, der Mond war unter, aber ob nun der Hund rückwärts
bergan lief, oder ob er den Kopf nach hinten zu gedreht hatte,
gleichviel, Trampe ſah immer die zwei Feueraugen vor ſich, die
ihm bis oben hinauf den Weg zeigten. Als er in den Burghof
trat, ſtanden da wohl hundert Fäſſer, alle voll Gold; das war ſo
blank, daß es im Dunkeln blitzte. Das Schloß ſelbſt lag da wie
in Nacht, nur mitunter glühten die Fenſter auf und allerlei Ge-
ſtalten wurden ſichtbar, Ritter und Edelfräulein, die kicherten und
lachten. Dahinter klang es wie Tanzen und leiſe Muſik. Trampe
horchte auf; aber nicht lange, ſo trat ein Ritter an ihn heran,
legte ihm eine ſchwere Hand auf die Schulter und fragte ihn, ob
er der Böttcher aus Freienwalde ſei? Dann befahl er ihm die
Fäſſer zuzuſchlagen: „Das dreizehnte Faß iſt für Dich.“ Nun
ging Trampe an die Arbeit und ſchlug all’ die Fäſſer zu; das
dreizehnte aber, das er bei Seite geſtellt hatte, rollte er den Berg
hinunter. Er war nun fertig und wollte wieder gehn. Da fuhr
es ihm durch den Kopf, „ob nicht der Ritter jedes dreizehnte
Faß gemeint haben könnte“, und als er noch ſo dachte, rollte er
leiſe ein zweites Faß bergab. Als er unten ankam, lag nur ein
Faß da. Trampe dachte: „du wirſt es noch ’mal verſuchen“, ſtieg
wieder bergauf und rollte ein drittes Faß hinunter; niemand hin-
derte ihn daran. Als er aber unten ankam, war alles verſchwun-
den, auch das erſte Faß, und nur an der Vorderſpitze des Kahns
ſaß wieder der Pudel und ſagte: „Trampe, Du haſt verſpielt.“
Trampe ärgerte ſich und dachte, als ſie zurückfuhren: „das ſoll
dir auch nicht wieder paſſiren“; iſt ihm auch nicht wieder paſſirt,
denn die Uchtenhagens haben ihn nie wieder holen laſſen, wenn
ſie einen brauchten, um ihre Fäſſer zuzuſchlagen.
Dieſe Geſchichte, die bedeutungsvoll mit dem Zuſatz, „wie ſie
ſich die Kiezer erzählen“, eingeführt worden war, war kaum zu
Ende, ſo hielten wir auch ſchon am Fuß des Schloßberges, viel-
leicht an derſelben Stelle, wo an jenem Abend der bedenkliche
Uchtenhagenſche Fährmann ſeinen Kahn gelandet hatte. Wir ſpran-
gen vom Wagen, ſchirrten aus, ſchlugen die Leine vorſichtshalber
[313] um einen Baumſtamm, wiewohl der Charakter unſres Einſpän-
ners ohnehin Garantieen für ſein Wohlverhalten geboten hätte,
und ſtiegen den Berg hinan. Es war inzwiſchen finſtrer geworden,
wenigſtens waren die Schatten des Waldes um uns her, dunkle
Schatten, die durch zwei einzelne Lichter, am Ausgang einer ſeit-
wärts gelegenen Schlucht, nur noch zu wachſen ſchienen. Es
mochte da ein Haus ſtehen, vielleicht eine Mühle. Unſer Führer
ſchritt rüſtig vorauf, das Gebüſch wurde immer dichter, und ich
folgte nur noch dem Klang ſeiner Schritte und einem unbeſtimm-
ten Schatten, der vor mir herſchwankte. Ich dachte unwillkürlich
an Trampe, und dies mochte die Urſache ſein, daß ich mich be-
eilte, mich wieder an die Seite des Führers zu bringen. Es ge-
lang auch; in demſelben Augenblicke aber, wo ich ſeinen Arm
ſtreifte, klang es wie Hundeblaff über den Berg hin, und ich
zuckte zuſammen und ſtand. Der Führer aber, der meinem Ge-
dankengange gefolgt ſein mußte, ſagte ruhig: „das iſt dem Mül-
ler ſeiner; der andre blafft nicht.“ Die Ruhe, mit der er dies
ſagte, überhob mich jeder Verlegenheit; — ſo kamen wir endlich
auf der Kuppe des Hügels an.
Dieſe Kuppe beſchreibt einen Kreis von etwa 40 Schritt
Durchmeſſer. Wir traten zunächſt an den Vorderrand des Berges,
der ſonſt einen freien Blick in die Landſchaft geſtattet, jetzt aber
von Bäumen ſo dicht umſtanden iſt, daß ſich nur mühſam, durch
Stämme und Laub hindurch, ein Blick auf das unten liegende
Bruch ermöglicht. Auf den Wieſen brauten die Nebel, nicht länger
golden durchglüht; nur im Weſten ſäumte noch ein rother Strei-
fen den Himmel, während wir ſelbſt in völliger Nacht ſtanden.
Wir umſchritten nun die Rundung, denſelben Kreis, der einſt
den Burghof einſchloß, bis wir an die Rückſeite der Hügelkuppe
kamen, die ebenſo in die tiefen Schluchten eines Bergterrains, wie
die Vorderſeite in das offne Bruchland herniederſieht. Hier an der
Rückſeite befinden ſich auch die Ueberbleibſel der Burg; halbmanns-
hohe Mauerreſte von bedeutender Stärke, die es, höchſt wahrſchein-
licherweiſe, dem Burg- und Bauverſtändigen immer noch möglich
[314] machen würden, den ehemaligen Umfang des alten Schloſſes, die
theilweiſe Grundform deſſelben, ganz beſonders aber den Ort zu
beſtimmen, wo das alte Burgthor war. Die Einfahrt in das letz-
tere, fälſchlich als Kellereingang gedeutet (weil ſich die Phantaſie
der Kiezer am liebſten mit Kellergewölben und den Trampeſchen
Fäſſern beſchäftigt), iſt noch in aller Beſtimmtheit erkennbar.
Wir maßen die Ueberbleibſel der alten Umfaſſungsmauer aus,
ſetzten uns dann, einen Strauch als Lehne, auf die Trümmer-
wand, und blickten in die Schlucht nieder, aus der Laubholz und
Birkengebüſch ſo dicht, ſo ſtill, ſo ſchwellend heraufzuſteigen ſchie-
nen, wie Blätter aus einem Korbe quellen, in den ſie zuvor ge-
preßt wurden. Ein Gefühl überkam mich, als wüchſen die Wipfel
langſam aber unaufhaltſam wie eine ſteigende Fluth zu uns her-
auf. Unten in der Tiefe klang es wie ein Quell, der über Kieſel
fällt. Ich fragte: „iſt da ein Waſſer unten?“ Ja. „Wie heißt
es?“ Das klingende Fließ. Sonſt war alles ruhig. Der Füh-
rer, längſt geſprächig geworden, fing an zu erzählen von Pfingſt-
und Maiennächten, wenn unten in Thal und Schlucht die Rehe
ſchrein, und hoch über dem Berg (als wäre es der Kyffhäuſer)
die Dohlen kreiſen; aber es war nicht Mai, nicht Pfingſten mehr,
kein Reh ſchrie durch die Nacht, ſelbſt der Hundeblaff in der
Mühle ſchwieg, nur das klingende Fließ klang nach wie vor wie
ein Silberton zu uns herauf.
So fanden wir den Schloßberg; wir verlaſſen ihn jetzt, um
uns nunmehr der Frage zuzuwenden, was erzählt uns die Ge-
ſchichte (ſie, die jede Auskunft über den Schloßberg ſo be-
harrlich verweigert), was erzählt uns die Geſchichte von den Uch-
tenhagens ſelbſt.
Die hiſtoriſche Zeit der Uchtenhagen umfaßt einen Zeitraum
von etwa drittehalb Jahrhunderten. 1367 wird ihrer zum erſten
Male urkundlich erwähnt, und 1618 erliſcht das Geſchlecht. Die
Schickſale der beiden letzten Uchtenhagen (und zwar in hiſtoriſch
verbürgter Treue und Beſtimmtheit) waren all’ die Zeit über,
vom Ausgange des Geſchlechts bis auf dieſen Tag, in der Erin-
[315] nerung der Freienwalder lebendig; nicht ſo die Namen und Schick-
ſale derer, die dieſen beiden letzten des Geſchlechts, durch zwei
Jahrhunderte hin, vorausgegangen waren. Sie waren todt in der
Erinnerung der Nachwelt.
Die Urkunden-Sammlungen indeß, die ſeitdem unter Be-
nutzung der verſchiedenſten Archive veröffentlicht worden ſind, ha-
ben uns neuerdings in den Stand geſetzt, die Schickſale der Fa-
milie mindeſtens bis zum Jahre 1414, alſo etwa bis zum Ein-
treffen der Hohenzollern in dieſen Landen, zurück verfolgen zu
können. Wir vermögen mit Hülfe dieſer urkundlichen Ueberliefe-
rungen herabzuſteigen von Vater auf Sohn, und wieder hinanzu-
ſteigen von Sohn auf Vater; wir befinden uns wie auf einer
bequemen Treppe, die uns mühelos den Verkehr zwiſchen oben
und unten, zwiſchen Anfang und Ende geſtattet. Wir verdanken
dieſen Urkunden außerdem werthvolle Mittheilungen von kultur-
hiſtoriſchem Intereſſe; aber was wir denſelben leider nicht zu dan-
ken haben, das iſt die Aufzeichnung, die Ueberlieferung einer wirk-
lichen That der Uchtenhagens, einer That, die entweder voll
hiſtoriſcher Wichtigkeit damals eingegriffen hätte in die Geſchicke
des Landes, oder voll eines gewiſſen poetiſchen Gehaltes im Stande
wäre, noch jetzt unſre Herzen zu berühren. Wir begegnen ihnen
weder in Coſtnitz, noch in Worms; wir ſehen ſie weder unter
Friedrich dem Eiſernen vor Bernau, noch zu Joachim Hektors
Zeiten bei Mühlberg; wir ſehen ſie weder gegen die Huſſiten, noch
gegen die Türken im Felde, und dürfen eben nur annehmen
(eine einzige Urkunde von 1599, ein „Aufruf zum Heerdienſt“
deutet ſogar darauf hin), daß ſie nirgends gefehlt haben werden,
wo es galt, dem Rufe des Kurfürſten zu folgen oder für die
Ehre des Landes einzuſtehen.
Aber wenn dieſe urkundlichen Ueberlieferungen, nach der
Seite der wirklich hiſtoriſchen That hin, wenig oder auch das
kaum bieten, ſo belehren ſie uns doch über die Beſitzverhältniſſe
der Familie, und zeigen uns dieſe letztere in ihren Beziehungen zu
ihren Lehnsmännern, Burgleuten und Hinterſaſſen, oder wenn
[316] uns der Ausdruck geſtattet iſt, in den Verwaltungsgrundſätzen,
wonach ſie die Regierung ihres ziemlich ausgedehnten Beſitzes lei-
teten, eines Beſitzes, der nach Quadratmeilen rechnete und Städte
umſchloß. Da finden wir denn die Uchtenhagens (allen Sagen,
„wie ſie ſich die Kiezer erzählen“, zum Trotz) als wahre Muſter
ritterlichen Wandels: fromm, ſittig, ehrbar in ihrem Hauſe, mild,
helfend, fürſorglich nach außen hin. Sie bauen Kirchen und ſchen-
ken Glocken, ſie ſchützen die Bürger in ihrem Recht und ihrem
Beſitz, ſie belohnen den Rath Freienwaldes mit neuen Feldmarken,
ſie vertreten die Stadt vor dem Kurfürſten und erwirken ihr
Jahrmarktstage und Freiheit von Zoll und Abgaben. Nichts, was
die finſtern Märchen rechtfertigte, die in Spinnſtuben bis dieſen
Tag mit Graus und Behagen geflüſtert werden, vielmehr in allem
die Anzeichen einer Regierungskunſt im Kleinen, dabei, in beſtem
Sinne, das Bewußtſein von den Rechten und Pflichten des Re-
giments. Ein Spruch im Freienwalder Stadt-Archiv (bisher noch
nicht veröffentlicht) giebt volle Auskunft darüber, aus welchen An-
ſchauungen heraus die Uchtenhagen ihre Herrſchaft übten. Dieſer
Spruch lautet:
So war der Spruch, nach welchem die Uchtenhagen in Haus
und Hof ihre Rechte wahrten, ihre Pflicht erfüllten; nichts was
auf Fluch und Unthat hinwieſe, auf Thaten, die unſühnbar ge-
[317] weſen wären. Wohl im Lauf der Jahrhunderte miſchte ſich auch
ein blutbeflecktes Blatt in die Geſchichte des Hauſes, ein Vetter
erſtach den andern im Zweikampf oder aus Nothwehr, aber dem
Verbrechen folgte die Reue auf dem Fuße, und Kurfürſt Albrecht
Achill nahm den Bußfertigen wieder in ſeine Huld und Gnade
auf, „gleichweis (wie die Urkunde ſagt), als ob die Geſchichte nie
geſchehen wäre.“
Durch ſechs Generationen hin, der vorhiſtoriſchen Zeit zu ge-
ſchweigen, hatte der alte Stamm geblüht, nicht voll, nicht zahl-
reich, aber immerhin geblüht. Da, in der zweiten Hälfte des
16. Jahrhunderts, trieb er plötzlich neue Sproſſen in Fülle: acht
Söhne und fünf Töchter wurden geboren, und Freude war im
alten Haus der Uchtenhagen. Aber es war das reiche Blühen vor
dem Tod. Eh’ ein Menſchenalter um war, noch vor Schluß des
Jahrhunderts, waren alle Söhne des Hauſes todt bis auf einen,
und der überlebende achte, inzwiſchen vermählt mit Sophie von
Sparr, einer Vaterſchweſter des berühmten Feldmarſchalls, ſchau-
kelte ein einzig Kind auf ſeinen Knien, — ein zartes Kind,
die blauen Adern ſichtbar unter der feinen Haut. Dies Kind, ein
Knabe, war Kaspar von Uchtenhagen, der letzte ſeines Geſchlechts.
Er ſtarb neun Jahr alt und wurde in der Kirche zu Freienwalde
beigeſetzt. Es heißt im Volk, daß er vergiftet worden ſei, und die
Sage, — die hier wieder für die Geſchichte eintritt — erzählt
ſein Ende ſo:
Einer der Lehnsvettern des Hauſes, voll Verlangen nach
dem Beſitz der Uchtenhagens, wußte dem Knaben eine prächtige
Goldbirne zu reichen, die mit einem langſam wirkenden Gifte ver-
giftet war. Ein Bologneſer Hündchen, das den Knaben auf Schritt
und Tritt zu begleiten pflegte, ſprang, als dieſer die Birne eſſen
wollte, an ihm herauf, halb liebkoſend, halb geängſtigt, um dem
Knaben mit der Vorderpfote die Birne aus der Hand zu reißen,
aber Kaspar nannte ihn lachend ein „neidiſches Thier“ und aß
die Birne. Eine Traurigkeit, ſo fährt die Sage fort, begann als-
bald den Knaben zu beſchleichen, ſeine Lebendigkeit verlor ſich, ſein
[318] Auge wurde matt, ſo verging er wie eine Blume. Seine Mutter
ſaß in der Sterbenacht an ſeinem Bett; da richtete er ſich noch
einmal auf, küßte der Mutter die Hand und ſprach ſterbend, aber
leiſe-vernehmlich vor ſich hin:
So die Sage; eh wir aber auf dieſelbe in aller Kürze noch
einmal zurückkommen, begleiten wir die Uchtenhagen noch durch
ihre letzten Jahre bis zum völligen Erlöſchen des Geſchlechts.
Hans von Uchtenhagen (der überlebende Vater des früh
heimgegangenen Kindes) den Freuden dieſer Welt für immer ab-
gewandt, und ohne tiefres Intereſſe, das alte Erbe des Hauſes
zuſammenzuhalten, verkaufte, ein Jahr nach dem Tode ſeines Kin-
des, die Stadt Freienwalde, ſammt allen ſeinen ſonſtigen Gütern,
an den Kurfürſten Johann Sigismund, zugleich ſich verpflichtend,
die reichen Beſitzungen jenſeit der Oder, die ſogenannte Inſel
Neuenhagen, ſofort in churfürſtlichen Beſitz übergehen zu laſſen.
Andrerſeits ward ihm, dem Hans von Uchtenhagen, die Beibehal-
tung aller dieſſeits der Oder gelegenen Beſitzungen, namentlich
der Stadt Freienwalde, auf die Dauer ſeines Lebens zugeſtanden,
auch das Recht ihm eingeräumt, bei etwaiger Geburt eines Erben,
gegen Rückzahlung der Kaufſumme, in den alten Beſitz wieder ein-
treten zu können. Aber kein Erbe wurde geboren, und in das
alte, ſtill und freudlos gewordene Haus der Uchtenhagens, das
ſich, mit Thurm und Zinnen, ein alter gothiſcher Bau, neben der
Freienwalder Kirche erhob, trat nur noch der Engel des Todes.
Dem Sohne folgte drei Jahre ſpäter die Mutter, bis nach aber-
mals 12 Jahren, voll ſtillen Leids und frommer Betrachtung, auch
Hans von Uchtenhagen, aus der Unraſt dieſer Tage eintrat in
das Reich des ewigen Friedens. Das Kirchenbuch berichtet:
Anno Domini 1618, am Abend Judica des 21. Martii,
zwiſchen 12 und 1 Uhr, iſt der Edle, geſtrenge und Ehrenveſte
Hans von Uchtenhagen, dieſes Städtleins Erbherr und Junker
[319] und der letzte dieſes Geſchlechts, ſelig im Herrn eingeſchlafen
und verſchieden, und danach am Sonntag Exaudi (war der
17. Mai) allhier in St. Nicolaus-Kirche unter den Altar in ſein
gewölbtes Begräbniß, nach adliger Weiſe, zu ſeiner in Gott ru-
henden Frauen und Söhnlein geſetzet, da er in ſeinem gantzen
Alter das 64. Jahr erreicht hatte.“ So weit das Kirchenbuch.
Helm und Schild waren ihm in die Gruft gefolgt, Freien-
walde wurde churfürſtlich, und nur das Wappen der Stadt: das
rothe Rad im ſilbernen Felde, deutet bis dieſe Stunde noch auf
die Uchtenhagenſche Zeit.
Das Geſchlecht iſt erloſchen; aber es bleibt uns noch die Be-
antwortung der Frage übrig: was iſt noch da, was bieten noch
Freienwalde und Umgegend von Erinnerungen an die Uchtenha-
gens, von Ueberbleibſeln aus ihrer Zeit? Noch mannigfaches; das
wohlerhaltene und bis dieſe Stunde bewohnte Amtshaus des
Dorfes Neuenhagen, früher eins der Schlöſſer der alten, viel-
genannten Familie, iſt an ſich noch, wie es da ſteht, ein werth-
volles Erinnerungsſtück aus der Zeit, die uns bis hieher beſchäf-
tigt hat, und die gewölbte Schloßkapelle mit Stuckaltar und ſym-
boliſchen Figuren,*) verlohnte wohl, zu andrer Zeit, eine eingehen-
dere Beſprechung.
[320]
Aber wir verweilen nicht bei Beſchreibung dieſes alten Schloſ-
ſes und ſeiner ſehenswerthen Kapelle, ſondern treten vielmehr
dort ein, wo die alte Zeit der Uchtenhagens in Bild und Wort
am vernehmlichſten zu uns ſpricht; ich meine die alte Kirche
in Freienwalde. Die Uchtenhagens haben ſie gebaut, und ſie iſt
das eigentliche und das beſte Monument des heimgegangenen Ge-
ſchlechts. Bis vor wenigen Jahren lagen verſchiedene Grabſteine,
darunter auch die Grabſteine der beiden letzten, vor den Stufen
des Altars, unter dem, in gewölbter Gruft, ſie ſelber ruhten; —
nun ſind die Grabſteine fort und die Gruft iſt verſchüttet. Aber
andres iſt geblieben. Ueber der niedrigen Sakriſtei-Thür, zur Lin-
ken des Altars, befindet ſich das beinah lebensgroße Bildniß
(ganze Figur) Kaspars von Uchtenhagen, deſſelben, von dem die
Sage erzählt, daß Bosheit ihn vergiftet habe. Das Bild iſt, mit
Rückſicht auf die Zeit, in der es entſtand, eine vorzügliche Arbeit.
Beſchreib ich es. Ein Tiſchchen ſteht zur Seite, mit einer rothen
Decke darüber; auf dem Tiſche liegt die hohe Sammetmütze des
Knaben, in Form und Farbe den Otterfellmützen nicht unähnlich,
denen man noch jetzt in den Oderbruchgegenden begegnet; vor
dem Tiſch aber ſteht der Knabe ſelbſt, blaß, durchſichtig, mit ſchma-
len Lippen und rothblondem Haar, ein feines Köpfchen, klug,
*)
[321] und durchgeiſtigt, aber wie vorausbeſtimmt zu Leid und frühem Tod.
Seine Kleidung zeigt reicher Leute Kind. Ueber dem rothen Unter-
kleid trägt er einen grünen Ueberwurf mit reichem Goldbeſatz (daſ-
ſelbe Grün, das auf den Bildern der van Eycks ſo viele Zauber
weckt) und getollte Halskrauſe, weiße Aermelchen und ſchwarze
Sammetſchuhe, vollenden ſeine Kleidung und Erſcheinung. In der
Rechten hält er eine ſchöne, große Birne, während ein Bologneſer
Hündchen bittend, liebkoſend an ihm emporſpringt. Die Umſchrift
aber lautet: „Da ich, Caspar von Uchtenhagen, bin geweſt dieſer
Geſtalt, war ich viertehalb Jahr alt, Anno 1597 d. 18. November.“
Es iſt erſichtlich, daß dies überaus anziehende Bild, das
wirklich eine Geſchichte herauszufordern ſcheint, die äußre Ver-
anlaſſung zu jener Sage gegeben hat, die ich bereits erzählt habe.
Die Birne, das Hündchen, der Ausdruck der Wehmuth in den
Zügen, dazu der frühe Tod, — es hätte (der Kiezer und ihrer
ſagenbildenden Kraft ganz zu geſchweigen) kein Fünkchen Poeſie
in den Herzen der Freienwalder lebendig ſein müſſen, wenn ſie
ſich hätten die Gelegenheit entgehen laſſen wollen, aus ſo dank-
barem und ſo naheliegendem Stoff eine Sage in’s Leben zu rufen.
Wir freuen uns, daß die Sage da iſt, möchten ſie nicht
miſſen, aber ſie iſt eben Sage und nicht mehr. Der Beweis iſt
mit Leichtigkeit zu führen. Das Bildniß ſelbſt belehrt uns in ſei-
ner Umſchrift, daß es gemalt wurde, als Caspar von Uchtenhagen
iſt „vierthalb Jahre alt geweſt.“ Er muß alſo, da wir die
Birne auf dieſem Bilde bereits erblicken, beſagte Birne (vergiftet
oder nicht), wenn er ſie überhaupt aß, mit vierthalb Jahren, oder
wohl gar ſchon früher, gegeſſen haben. Caspar von Uchtenhagen
ſtarb aber erſt 6 Jahre ſpäter, und wenn wir nicht annehmen
wollen, daß die Mark Brandenburg (die ſich, Gott ſei Dank, auf
das Brauen von Gifttränken nie abſonderlich verſtanden hat) da-
mals eine ſelbſt Italien überbietende Meiſterſchaft in dieſer Kunſt
beſeſſen habe, ſo haben wir guten Grund, die Geſchichte von der
vergifteten Birne (wie faſt alle Geſchichten von vergifteten Birnen
und Aepfeln hierlandes) in das Gebiet der Sage zu verweiſen.
21
[322]
Caspar von Uchtenhagen, wie uns ſein eigen Bild am beſten
belehrt, ſtarb einfach daran, daß ſeine Seele, von Geburt an, in
einem halbverklärten Leibe wohnte; — er ſtarb und wurde, wie
wir gehört haben, in „der Gruft unterm Altar beigeſetzt.“ An der
hintern Altarwand aber, ſchlecht übermalt und minder gut erhal-
ten als das erſte, bereits beſchriebene Bildchen, begegnen wir einem
zweiten Bilde Caspars von Uchtenhagen, das ihn uns zeigt, wie
der nunmehr 9jährige Knabe, blaß und die Ruhe des Todes auf
der Stirn, im offnen, blumenüberſtreuten Sarge liegt. Er trägt
ein weißes Sterbehemd, in dem glattanliegenden Haar einen blü-
henden Rosmarinkranz; um den Hals aber ſchlingt ſich leiſe ein
ſchwarzes Band, daran, bis zur Bruſt herniedergehend, eine Denk-
ſchaumünze und ein länglich viereckiges Medaillon hängt. Eine
Unterſchrift giebt Tag und Stunde ſeines Todes; die Wappen
der Sparrs und der Uchtenhagens ſchieben ſich in die obren Ecken
des Bildes ein, daneben aber leſen wir, nicht ohne an den Voll-
klang lateiniſcher Kirchenlieder erinnert zu werden:
Worte, denen als deutſcher Text der 13. Vers von Luthers Liede:
„Vom Himmel hoch da komm’ ich her“ beigefügt iſt:
Noch wenige Worte. Caspar von Uchtenhagen ruhte bereits
länger denn zweihundert Jahre in der Gruft ſeiner Väter; we-
nige waren es, die nach dem Bilde hinterm Altar blickten, das
blaſſe Geſicht, der Rosmarinkranz im Haar, rührten kein Herz
mehr, und niemand war mehr da, für den die Schaumünze und
[323] das Medaillon, die auf dem Herzen des Knaben ruhten, eine Be-
deutung gehabt hätten. Man nahm ſie als Ornament, als Ein-
fall des Malers. Da in den 20er oder 30er Jahren dieſes Jahr-
hunderts, als ein Umbau nöthig geworden war, ſtiegen die Uch-
tenhagens aus der Gruft, die ſie zwei Jahrhunderte lang bewohnt
hatten, noch einmal an das Tageslicht hinauf; das Kirchenſchiff
hinunter, in langer Reihe, ſtanden die Eichenſärge, vor dem Altar
aber ſtand ein kleinerer Sarg, der Sarg Caspars von Uchten-
hagen. Man nahm den Deckel von dem Sarge, da lag das Kind,
ganz wie auf dem Bilde, mit Kranz und Krauſe; erſt bei der
Berührung zerfiel alles zu Staub, und Form und Hülle waren
hin. Aber das ſchwarze Seidenband hielt noch, und an dem Sei-
denbande hingen, wie das Bildniß es zeigt, eine Schaumünze und
ein Medaillon. Beide werden aufbewahrt und ſind eine Sehens-
würdigkeit von Stadt und Kirche. Die Schaumünze hat das üb-
liche Anſehn; das Medaillon aber, etwa anderthalb Zoll lang und
ein Zoll breit, iſt in zierlichſter Weiſe den Formen eines alten
Gebetbuchs nachgebildet, mit geripptem Rücken und mit zwei klei-
nen Klammern daran. Dieſe Klammern ſind feſtgenietet und öff-
nen alſo weder ſich ſelbſt noch das Buch; wohl aber bewegt ſich
an der Stelle, die dem Schnitt des Buches entſprechen würde,
ein kleiner Schieber hin und her, und ermöglicht, eine Reliquie
oder eine geweihte Hoſtie in das Büchelchen hineinzulegen. Nichts
derart aber wurde an jenem Tage, als die alten Särge noch ein-
mal an’s Licht ſtiegen, in dem goldnen Büchelchen gefunden, nur
ein Zettel fiel heraus, auf dem geſchrieben ſtand: Pſalm 63, 10.
Dieſe Stelle aber lautet: „Sie ſtehen nach meiner Seele mich zu
überfallen“; und die Hindeutung, die in dieſen Worten liegt, hat
der alten Sage und dem alten Vergiftungs-Verdachte ein neues
Leben gegeben.
Ja (ein Zeichen ihres innerſten Lebens) die Sage wächſt ſeit-
dem. Um Mitternacht, ſo erzählt ſie jetzt, glühen die Fenſter der
alten Kirche plötzlich in rothem Lichte auf, die Geſtalt Caspars
von Uchtenhagen in weißem Sterbekleid, mit glattanliegendem
21*
[324] Haar, tritt vor den Altar und leiſe aber vernehmlich ruft er das
Kirchenſchiff hinunter:
Wenn der Ruf verhallt iſt, erliſcht der rothe Schein in den Fen-
ſtern und alles iſt wie zuvor.
So erzählen Sage und Geſchichte vom alten Geſchlecht der
Uchtenhagen.
[[325]]
Lichterfelde.
(Ein Kapitel von Sparren-Land und Sparren-Glocken.)
Die nächſten Nachbarn der Uchtenhagens und vielfach verſchwägert
mit ihnen waren die Sparrs. Das Land um Neuſtadt-Eberswalde
herum war ihre. Die Güter der Uchtenhagens lagen ſcheitelrecht
(von Nord nach Süd) an der Oder hin, während die Güter der
Sparrs ſich wagerecht (von Weſt nach Oſt) an dem Flüßchen Fi-
now entlang zogen. Das ſchöne Gut Hohen-Finow, das wie ein
Kaſtell in das Oderthal hineinſieht, war der Punkt, wo der Beſitz
beider Familien rechtwinklig zuſammenſtieß.
Beider Familien hat ſich in den Gegenden, in denen ſie hei-
miſch waren, die Sage mit einer beſonderen Vorliebe bemächtigt,
und wie es nicht möglich iſt, in den Freienwalder Schluchten um-
herzuſtreifen, ohne — wo immer man anklopfen mag — dem
Uchtenhagenſchen Feuerpudel, dem „rothen Land“ und dem Kind mit
der vergifteten Birne zu begegnen, ſo iſt es um Neuſtadt herum
ſelbſtverſtändlich, vom alten Sparr zu hören, wie er hoch durch
die Lüfte fährt, ſo hoch, daß ſeine niederfallende Peitſche am Bie-
ſenthaler Kirchthurm hängen bleibt. Es iſt intereſſant und lehrreich
zugleich, das poetiſche Bedürfniß und die poetiſche Geſtaltungskraft
des Volks innerhalb einer gewiſſen Oertlichkeit ſich ſo völlig lokali-
ſiren zu ſehen.
[326]
Von den Uchtenhagens hab ich im vorigen Kapitel, von den
Sparrs im erſten Bande dieſer „Wanderungen“ (Band I. S. 296)
bereits ausführlich geſprochen; es bleibt aber doch noch manches
nachzutragen und als ein ſolches Ergänzungs-Kapitel bietet ſich das,
was ich nachſtehend zu erzählen habe.
Die Dörfer, die die Sparrs an dieſer Stelle (des ukermär-
kiſchen Beſitzes zu geſchweigen) beſaßen, waren folgende: Hohen-
Finow, Tornow, Sommerfeldt, Kruge, Klobbicke, Welſickendorf,
Prenden, Dannenberg, Heckelberg, Trampe und Lichterfelde.
In den ſechs erſtgenannten Dörfern — zum Theil ein Beſitz,
den ſie am allerfrühſten (ſchon 1375) inne hatten — iſt nichts
mehr, was an die alte Familie erinnerte; über Prenden hab ich
(Band I.) ausführlich geſprochen; bleiben noch: Dannenberg,
Heckelberg, Trampe und Lichterfelde.
In Dannenberg klingt es nur leiſe noch von den Sparrs;
nur eben ihr Name lebt noch fort in dem „Sparren-Buſch“, der
unmittelbar vor dem Dorf beginnt und den Reiſenden bis in die
Freienwalder Haide begleitet.
In Heckelberg finden wir ſchon mehr. Hier begegnen wir
den erſten Sparrſchen Glocken. Heckelberg war nur kurze Zeit im
Beſitz der Familie, nur der Feldmarſchall beſaß es wenige Jahre,
aber dieſe wenigen Jahre waren ausreichend für ihn, um ſeiner
frommen Leidenſchaft ein Genüge zu thun und der Kirche entweder
neue Glocken zu ſchenken, oder die alten zu erneuern. Wir finden
zwei: eine größere aus dem Jahre 1656, die außer dem Glocken-
ſpruche „Soli Deo Gloria“ noch die Namen des Amtmanns, des
Schulzen, des Pfarrherrn und der Kirchenvorſteher, außerdem eine
etwas kleinere aus dem Jahre 1663, die den Namen „Otto Chri-
ſtoph Freiherr von Sparr“ trägt.
In der Heckelberger Kirche — allerdings ohne alle Beziehung
zu den Sparrs — iſt auch noch ein Schnitzaltar, deſſen ich erwäh-
nen möchte; ebenſo eines Grabes vor dem Altar.
Des Schnitzaltars, der nicht beſſer und nicht ſchlechter iſt als
hundert andre, die ſich hierlandes finden, gedenk’ ich nur, um
[327] vor Reſtaurirungen zu warnen, wie deren eine hier ſtattgefunden
hat. Ermöglicht ſich keine wirkliche Reſtaurirung — die mit
ihrem reichen Goldſchmuck oft ſehr koſtſpielig iſt — ſo thun die
Gemeinden am beſten, die Sache zu laſſen wie ſie iſt, oder aber,
wenn das aus den verſchiedenſten Gründen nicht geht, dem ganzen
Schnitzwerk eine weiße Tünche zu geben. Ich bin dieſem Aus-
kunftsmittel in mehreren Dorfkirchen begegnet und muß einräumen,
daß wenn man das Beſſere nicht kann, dies unter dem Schlimmen
das mindeſt Schlimme iſt. Die Sachen wirken dann gipsfiguren-
haft, was allerdings etwas Kaltes, aber doch nichts direkt Stö-
rendes hat.
Vor dem Altar iſt ein Grab. Einer der Geiſtlichen iſt dort
begraben, und die Stelle markirt ſich durch nichts, als durch eine
ſchwache muldenhafte Einſenkung des Fußbodens, wodurch die
Steine loſe geworden ſind. Wir äußerten ein leiſes Befremden
darüber, aber der uns begleitende Heckelberger meinte ruhig: wir
thun, was wir können; alle paar Jahr ſchütten wir nach und
ſtampfen’s feſt, mörteln auch die Steine wieder ein; aber es hilft
nichts, „er geht immer tiefer“ und eh wir uns verſehn, iſt
die Mulde wieder da. — Ein leiſer Schauer überlief uns bei
dieſer Erzählung.
Wir kommen nun nach Trampe. Trampe iſt altſparriſch
und die eine Linie nannte ſich danach. Aber in den Wirrſalen des
30jährigen Krieges ging es theilweis verloren und erſt der Feldmarſchall
(Otto Chriſtoph) eroberte es der Familie zurück. Er ſcheint ihm
eine beſondre Vorliebe zugewandt und hier und in Prenden, wenn
er nicht in der Hauptſtadt war, abwechſelnd reſidirt zu haben.
Auf beiden Gütern, in Trampe ſowohl wie in Prenden, erbaute
er ſich ein Schloß; während indeß in Prenden nur noch ein
Trümmerhaufen vom alten Sparr erzählt, zeigt ſich in Trampe
alles wohl erhalten. Schloß und Park exiſtiren noch, verändert,
umgebaut zwar, aber in der Grundanlage doch immer noch wie ſie
damals waren. Im Park, der koſtbare alte Bäume und an ſeinem
Flügel eine von Waſſer umgebene Burgruine aufweiſt, befindet
[328] ſich noch eine ſeltſam geformte, acht Zifferblätter zeigende Son-
nenuhr von Sandſtein, die auf mehreren der Zifferblätter den
Namen Otto Chriſtophs trägt. Die Kirche enthält ein paar Bilder,
aber keine Sparrſchen, ebenſo keine Grabſteine der alten Familie.
Nur die Glocken ſind wieder unſre Freunde, die uns von den
Sparrs erzählen, diesmal mit einer gewiſſen Ausführlichkeit und
nicht blos von unſrem Otto Chriſtoph, ſondern auch von ſeinen
Vettern, die er, wie es ſcheint, mit heranzuziehen und ſeiner
Glockenpaſſion dienſtbar zu machen wußte.
Die Inſchrift der erſten Glocke lautet: Der wohledle, geborne
Herr Ernſt Sparr, Ihrer Kurfürſtlichen Durchlauchtigkeit zu
Brandenburg Rath und beſtallter Hauptmann zu Zechlin und
Lindow, Erbherr auf Trampe, Prenden, Behrbaum und Dannen-
berg. Dazu das einfache Sparrſche Wappen und: „Goß mich Ja-
cob Neuwert zu Berlin 1660.“ (Dieſe Angabe wiederholt ſich auf
allen drei Glocken.)
Die Inſchrift der zweiten Glocke lautet: Ernſt George
des heiligen Römiſchen Reiches Graf von Sparr, der Römiſchen-
Kaiſerlichen auch zu Pohlen und Schweden Königlicher Majeſtät
Geheimer Kriegsrath, Generallieutenant und Generalfeldzeugmeiſter,
beiderſeits Kammerherr und Obriſter zu Roß und Fuß; Herr auf
Trampe, Prenden, Dannenberg und Beerbaum. Dazu das gräf-
lich Sparrſche Wappen.
Die dritte Glocke iſt die wichtigſte; ſie iſt die größte und
rührt von unſrem Otto Chriſtoph, dem Feldmarſchall her. Sie iſt
aber geſprungen und befindet ſich deshalb nicht mehr neben ihren
zwei Schweſtern oben in der Höhe, ſondern unten im Thurm, wo
man ihre Inſchrift mit Bequemlichkeit*) leſen und neben dem
[329] ſchönen Guß auch, an der Patina, den erſichtlich feinen Erzgehalt
der Glocke bewundern kann. Die Inſchrift lautet: Otto Chriſtoph
Freiherr von Sparr, der Kurfürſtlichen Durchlaucht zu Branden-
burg Geh. Kriegsrath, Feldmarſchall, Obergouverneur der in der
Chur und Mark Brandenburg, Herzogthum Hinterpommern und
Fürſtenthum Halberſtadt belegenen Feſtungen, Obriſter zu Roß und
Fuß, Herr zu Trampe, Prenden, Lanke und Neuſtadt an der
Dohhl (ſoll höchſt wahrſcheinlich Doſſe heißen). Darunter das
Sparrſche Wappen.
Dieſe Glocke, wie man ſonſt wohl mit geſprungenen Glocken
thut, umzuſchmelzen, wäre nicht rathſam, da ſie dadurch aufhören
würde, die alte Sparren-Glocke zu ſein, und zwar, ſo viel ich
weiß, die ſchönſte und reichſte, die er hat gießen laſſen. Allerhand
Sagen knüpfen ſich außerdem an dieſe Glocke, die gleichſam den
Feuertod ſterben würden, wenn man ſich entſchlöſſe, durch Um-
ſchmelzung aus dieſer alten Glocke eine neue zu machen. Die eine
Sage erzählt die vielfach auch an andern Orten wiederkehrende
Geſchichte, daß der Glockengießer eine Schlange mit in die Glocken-
ſpeiſe gethan habe und daß ſeitdem die Schlangen aus der Tram-
per Umgegend verſchwunden ſeien. Die andre, von mehr hiſtoriſchem
Charakter, meint, daß dieſe Glocke aus türkiſchen Geſchützen gegoſ-
*)
[330] ſen ſei, die Sparr während ſeines Türkenzuges den Ungläubigen
abgenommen habe, ja, eine andre Verſion geht noch einen Schritt
weiter und verbürgt ſich, daß Sparr die Glocke ſelbſt erobert und
ſpäter dafür geſorgt habe, daß ſie durch Tramper Bauern aus
dem fernen Ungarlande herbeigeholt worden. Auch die erſtre, eini-
germaßen glaubhaftere Hälfte dieſer Tradition (das Glockengießen
aus türkiſchen Geſchützen) hält allerdings keine Kritik aus, da die
Glocke, wie ſie ſelber beſagt, 1660 gegoſſen wurde und „Vater
Sparr“ erſt 1664 ſeinen großen Türkenzug (Schlacht bei St. Gott-
hardt) machte.
Nun endlich Lichterfelde ſelbſt. Die Berührung mit den
Sparrs iſt hier die intimſte, das alte Geſchlecht tritt einem in einer
Reihenfolge von Dingen am faßbarſten entgegen, in Kirche und
Schloß, in Grabſteinen und Kirchenbuch.
Sprechen wir zunächſt von Kirchenbuch und Kirche. Das
Kirchenbuch beginnt mit 1599, aber eine regelmäßige und exakte
Führung deſſelben ſchließt ſchon wieder mit 1604. Ein Todesfall,
drei Geburten und Taufen, unter Angabe der Taufzeugen, ſind
eingetragen. Unſer Otto Chriſtoph, der, nach ſeinem Bildniß in
der Berliner Marienkirche, im Jahre 1605 in Lichterfelde geboren
wurde, befindet ſich nicht unter den im Lichterfelder Kirchenbuche
verzeichneten Geburten. Dennoch werfen die Angaben dieſes Kir-
chenbuchs vielleicht ein Licht auf manches Dunkle und geſtatten
weitere Schlußfolgerungen, weshalb ich dieſe Angaben in den An-
merkungen (ſiehe daſelbſt) wörtlich wiedergegeben habe. In der
Kirche ſind außerdem drei Kinder-Grabſteine aus der Sparren-Zeit.
Dieſe ſind ſehr abgetreten, einer ſo völlig, daß von Entzifferung
der Inſchrift keine Rede mehr ſein konnte. Bei den beiden andern
entzifferte ich folgendes. Auf dem größeren: „Anno 1606 (oder
1600, wahrſcheinlich letzteres) iſt geb. Anna Sparr und …
16 … in Gott ſelig entſchlafen; der Seele Gott genade.“ —
Auf dem kleineren: „Anno 1604 d. 2. Januar iſt geboren Eli-
ſabeth Sparrn … entſchlafen d. 3. Januar um 12 Uhr in der
Nacht.“
[331]
Die Glocken, jetzt umgeſchmolzen, ſind nicht-Sparriſch. Es
hieß zwar auch von ihnen (wie eben überall in der Gegend), der
Feldmarſchall habe ſie aus Ungarn mitgebracht, aber alten Auf-
zeichnungen zufolge ſind ſie aus viel früherer Zeit.
Die Hauptſehenswürdigkeit von Lichterfelde iſt das Schloß.
Es heißt von ihm, wie bereits hervorgehoben, daß unſer Otto
Chriſtoph in demſelben geboren wurde. Prenden, wie im erſten
Bande erzählt, erhebt zwar einen gleichen Anſpruch, es iſt indeſſen
mindeſtens höchſt wahrſcheinlich, daß dem Lichterfelder Schloſſe
dieſe Ehre zufällt.
Dieſer Umſtand allein ſchon würde dem Schloſſe ein Anrecht
auf unſer Intereſſe geben, wenn es auch im Uebrigen ein unbe-
deutendes oder halb zerfallenes Gebäude wäre, es trifft ſich aber,
daß dies Schloß, ganz abgeſehen von ſeinen Beziehungen zu den
Sparrs, an und für ſich ein höchſt intereſſanter Bau iſt, groß,
eigenthümlich, gediegen und von einer Munificenz der Anlage, wie
damals (1567) in märkiſchen Landen nur für Fürſten gebaut
wurde. Nach meiner Kenntniß exiſtirt, aus ſo früher Zeit her, kein
Edelſitz in der Mark, der einen gleich geräumigen und gleich ſoli-
den Schloßbau aufzuweiſen hätte.
Ueber die näheren Umſtände des Baues, über Jahreszahl,
Namen der Bauherren und des Baumeiſters giebt eine lateiniſche
Inſchrift Auskunft, die ſich bis dieſen Augenblick in Front des
Schloſſes befindet. Sie lautet:
[332]
Alſo etwa:
Der Herr ſchütze und bewahre uns. Pſalm 126. (muß
heißen: Pſalm 127.) „Wo der Herr nicht das Haus bauet,
ſo arbeiten umſonſt, die dran bauen.“ Anno 1565 haben
die Brüder Arend und Chriſtoph von Sparr dies Haus
zu bauen angefangen; Anno 1567 haben ſie es durch die
Gnade Gottes und unſres Heilands Jeſu Chriſti beendigt
und zwar unter Leitung Joachims von Roncha aus Ma-
nilia in Italien. Ruhm dem alleinigen Gott. Erneuert
Anno 1580.
Dieſe Inſchrift, wiewohl bis dieſen Tag ganz deutlich zu
leſen (weil aufgefriſcht), hat zwei ſchwache Punkte, einmal den
Namen und Geburtsort des italieniſchen Baumeiſters, dann die
Renovirungs-Jahreszahl 1580. Es iſt mindeſtens ungewöhnlich,
daß ein überaus ſolide aufgeführter Schloßbau nach 13 Jahren
ſchon wieder renovirt wird. Dies iſt indeß unwichtiger. Wichtiger
iſt die Frage: wer war dieſer Joachim von Roncha aus Manilia
in Italien? giebt es ein Manilia, giebt es einen Roncha? oder iſt
alles Irrthum und Unſinn von Anfang bis Ende? von Moerner
hat folgende Lesart vorgeſchlagen: per Fra. Chiaramellum (de
Gandino) ex Italia de Venetia; wobei er ſich auf die That-
ſache beruft, daß es einen Joachim von Roncha niemals gab, wohl
aber einen Francesco Chiaramelo oder Chiaramelli (da Gan-
dino), der von 1562—65 die Feſtung Spandow zu bauen begann.
Dieſe Moernerſche Interpretation iſt außerordentlich ſcharf-
ſinnig und leicht möglicherweiſe zutreffend; wir laſſen ſie indeſſen
auf ſich beruhen und treten mittlerweile in den Schloßbau ſel-
ber ein.
Im Vorflur empfängt uns ein alter Herr, der Freund und
Majordomus des Hauſes, der in Abweſenheit des Beſitzers die
Repräſentation auf ſich genommen hat. Wir nennen ihm unſre
Namen, er zieht ſein Käpſel und mit dem plauder-gemüthlichſten
Cicerone-Ton von der Welt, nicht ohne liebenswürdigen Anflug
von Humor und Satyre, beginnt er nunmehr: „Sie werden hier
[333] einen der ſonderbarſten Bauſtyle aller Zeiten kennen lernen; das
Schloß hat weder Treppe noch Küche und beſteht ausſchließlich aus
12 Zimmern und 12 Cloſets, Cloſets in des Worts verwegenſter
Bedeutung.“
So eingeführt, beginnen wir unſren Umgang durch das
Haus. Was nun zunächſt den delikaten Punkt angeht, mit dem
unſer Cicerone ſeine Eröffnungsrede ſchloß, ſo hat es damit aller-
dings ſeine völlige Richtigkeit, wie überhaupt denn eine Total-Be-
ſchreibung des Schloſſes in weniger Worten, als die ſeinigen,
ſchlechterdings nicht gegeben werden kann. Was ſich der Baumei-
ſter, er heiße nun Chiaramelli oder Roncha, eigentlich dabei gedacht
hat, iſt ſchwer zu ſagen. Ich bin allerdings Schlöſſern begegnet,
z. B. dem berühmten Lochleven-Schloß, in dem Maria Stuart
gefangen ſaß, in denen die enorme Dicke ihrer Mauern ebenfalls
zur Herſtellung ſolcher Receſſe und Bequemlichkeiten diente; bei all
dieſen alten Schlöſſern indeß, die meiſt nur aus einem runden
oder viereckigen Feldſteinthurm beſtanden, war dieſe Einrichtung
durch die äußerſte Raumbeſchränkung geboten. Wenn es nun aber
irgend etwas giebt, deſſen das Lichterfelder Schloß ſicherlich nicht
ermangelt, ſo iſt dies eben — Raum, denn der großen Flure und
Dielen ganz zu geſchweigen, ſind die Zimmer ſelber von ſo ſaal-
und hallenartiger Ausdehnung, daß eine Viertheilung jedes einzel-
nen Raumes immer noch vier hübſche Wohnzimmer, reſp. ander-
weitig nutzbare Räume geſchaffen haben würde.
Genug, wir conſtatiren einfach das Faktum der 12 Receſſe
(die ſelbſtverſtändlich ihren früheren Beruf längſt eingebüßt haben)
und widmen nun der Grundanlage des Baus unſre Aufmerkſam-
keit. Das Erdgeſchoß beſteht aus einem breiten Flur, der zu jeder
Seite zwei Zimmer hat (im Ganzen alſo vier); dieſe ſelbe Ein-
theilung wiederholt ſich im erſten und zweiten Stock, ſo daß wir
im Ganzen drei Flure und 12 Zimmer zu regiſtriren haben. Im
Erdgeſchoß und erſten Stock ſind Flur und Zimmer gewölbt. Die
Fenſterniſchen ſind wie Zimmer für ſich und die Dicke der Mauern,
— dazu die labende Kühle innerhalb derſelben, während draußen
[334] die Sonne brennt, — erinnert uns an das hübſche Wort von
der Peterskirche, „daß ſie Winters und Sommers, unwandelbar
wie die Kirche ſelber, eine immer gleiche Temperatur habe.“
Unſer Cicerone ſprach aber auch die Worte: „keine Treppe
und keine Küche.“ Auch damit hat es ſeine Richtigkeit, wenigſtens
ſicherlich mit Rückſicht auf die Küche. (Neuerdings geändert.) Was
die Treppe angeht, ſo befindet ſich dieſelbe bis dieſen Tag in einem
eignen, von außen angebauten Treppenhauſe, von dem allerdings
die Sage geht, daß es Anfangs nicht vorhanden war, da der alte
Arendt Sparr, nach Art ähnlicher Sagenväter, den Zutritt zu ſei-
ner ſchönen Tochter durchaus unmöglich machen wollte. Erſt nach-
dem der Eintritt der bekannten Erſcheinungen unſren alten Spar-
renvater, wie ſo manchen Vater vor und nach ihm, von der Un-
möglichkeit ſolcher Iſolirung, reſp. von der Vergeblichkeit aller ſei-
ner Anſtrengungen überzeugt hatte, entſchloß er ſich reumüthig,
dem Hauſe das zu geben, was es bis dahin nicht gehabt hatte —
eine Treppe. So entſtand (laut Sage) das angeklebte Trep-
penhaus.
Das Schloß, wie ſeine Inſchrift beſagt, wurde 1567 gebaut,
und 1580 renovirt. Ich vermuthe indeß, wie ſchon angedeutet,
daß dieſe letztere Zahl etwa 1650 heißen muß. Jedenfalls haben
ſehr bald nach dem 30jährigen Kriege Renovirungen ſtattfinden
müſſen, da, während des Krieges, wie Bekmann berichtet, die
Seitengebäude des Schloſſes durch den ſchwediſchen General von
Dewitz eingeäſchert wurden. Natürlich mußte das Schloß ſelbſt bei
dieſer Einäſcherung mit gelitten haben. Wie immer dem ſei, die
Grundanlage des Schloſſes iſt ſeit den Tagen Chriſtophs
und Arendts von Sparr unverändert dieſelbe geblieben; nur die
Einrichtung und Bemalung der Zimmer iſt aus ſpäterer Zeit, klei-
neren Theils aus der Groebenſchen Epoche (ſiehe die Anmerkun-
gen), größtentheils aus der Zeit der Familie Splittgerber, die
Lichterfelde von 1760 bis zu Anfang dieſes Jahrhunderts beſaß.
Wir kehren nun zu der ſchon im Vorübergehen berührten
Frage zurück, wurde unſer Otto Chriſtoph von Sparr im Schloß
[335] zu Lichterfelde geboren oder nicht? Es ſtehen ſich hier zwei An-
ſichten gegenüber; Koenig ſagt: „geboren zu Prenden“, Moerner
ſagt: „geboren zu Lichterfelde.“ Weil es ſich dabei um unſren
erſten (brandenburgiſchen) Feldmarſchall handelt, mag eine einge-
hendere Unterſuchung geſtattet ſein.
Koenig erzählt, daß Otto Chriſtoph am 13. November 1599
zu Prenden geboren wurde und daß ſeine Geburt ſeiner Mutter
Edell von Sparr das Leben koſtete. Er fügt hinzu: „Edell
von Sparr wurde am 11. Dezember zu Prenden begraben, wo
ihr Martin Junckel die Leichenpredigt hielt, in welcher der Tag
ihres Abſterbens (13. November) auch eigens als der Tag
der Geburt unſres Helden angegeben wird.
Dem gegenüber ſagt Moerner: „Otto Chriſtoph von Sparr
wurde nicht 1599 in Prenden, ſondern 1605 in Lichterfelde ge-
boren.“ Er giebt es nicht als ganz beſtimmt, aber doch als höchſt
wahrſcheinlich. Hierfür ſprechen (nach Moerner) verſchiedene Dinge:
1) das noch zu Lebzeiten Otto Chriſtophs gemalte Bild des Feld-
marſchalls im Chor der Berliner Marienkirche, auf dem es in
Goldbuchſtaben heißt: „geb. 1660 auf (oder auß) dem Hauſe zu
Lichterfelde“; 2) das Kirchenbuch von St. Marien, das bei
Gelegenheit der Beiſetzung des Feldmarſchalls, obige Ortsan-
gabe und Jahreszahl im Weſentlichen einfach wiederholt;
3) eine Sparrſche Ahnentafel neben dem Bild des Feldmarſchalls,
die darthut, daß ſeine Mutter nicht Edell von Sparr, ſondern
Emerentia von Seeſtedt war und 4) eine Angabe in den Lehns-
copiarien des Kammergerichts, aus denen hervorgeht, daß Otto
Chriſtoph im Jahre 1620 noch entſchieden minderjährig war.
So weit Moerner. Danach fielen ſämmtliche Koenigſche An-
gaben zuſammen und zwar: 1) Otto Chriſtoph wäre nicht 1599,
ſondern 1605 geboren; 2) ſeine Mutter wäre nicht Edell Sparr,
ſondern Emerentia von Seeſtedt und 3) ſein Geburtsort wäre
nicht Prenden, ſondern Lichterfelde.
Die Moernerſche Anſicht iſt unzweifelhaft die beſſer fundirte,
und zwar um ſo entſchiedener, als Koenig nicht nur erklärt, die
[336] Junckelſche Leichenpredigt blos auszugs- und abſchriftsweiſe
in Händen gehabt zu haben, ſondern auch noch, wie zum Ueber-
fluß, den Fehler begeht, über Geburt, Leben und Tod der Edell
von Sparr folgenden Gallimathias drucken zu laſſen: „Edell von
Sparr,“ ſo ſchreibt er, „wurde den 10. Juni 1598 geboren; ſie
verehelichte ſich den 16. Juli 1598 auf dem königlichen Schloſſe
zu Kopenhagen im Beiſein des Hofes und ſtarb den 13. Novem-
ber 1599 bei Geburt unſres Feldmarſchalls.“ Es iſt ſchwer, in
vier Zeilen mehr Thorheit zu ſagen. Hiernach wäre alſo Edell
Sparr bei ihrer Verheirathung 36 Tage und bei Geburt ihres
Sohnes nicht voll anderthalb Jahre alt geweſen. Nun würde man
unter andern Umſtänden ſelbſtverſtändlich die Pflicht haben, die
Geburts-Jahreszahl einfach für einen Druckfehler zu halten, wenn
nicht Koenig ſelbſt wieder einem dieſe Annahme unmöglich machte
und zwar dadurch, daß er, angeſichts ſeiner eigenen Zahlen, ruhig
fortfährt: „ſie ſtarb alſo in einem Alter von 14 Jahren und vier
Wochen.“ Angenommen nun (wie ſchon zugegeben), daß bei An-
gabe der Geburts-Jahreszahl ein Irrthum mit drunter gelaufen
ſei, ſo iſt doch ein ſolcher Irrthum hinſichtlich der Monate nicht
gut möglich und die zwiſchen dem 10. Juni und dem 13. No-
vember mitten inneliegende Zeit, gleichviel um welche Jahreszahlen
es ſich handeln möge, kann nie vier Wochen betragen.
Alles dies läßt die Koenigſchen Mittheilungen in einem höchſt
bedenklichen Lichte erſcheinen und dennoch fehlt es den gegenüber-
ſtehenden Angaben wenigſtens an einer völlig überzeugenden Kraft.
Namentlich gilt dies vom Geburtsjahr 1605. Eine Lektüre der
dreitägigen Schlacht bei Warſchau, wie der polniſchen Campagne
von 1656 überhaupt, giebt einem immer wieder den Eindruck, daß
unſer Otto Chriſtoph in dem eben genannten Jahre bereits ein
ziemlich alter Herr geweſen ſei. Er heißt damals ſchon „der
alte Vater Sparr“ und dem Schwedenkönig werden eigens die
Worte in den Mund gelegt, daß ſich der alte Vater Sparr
als ein rechter kriegskundiger General erwieſen habe. Wurde nun
aber Otto Chriſtoph erſt im Jahre 1605 geboren, ſo war er wäh-
[337] rend des polniſchen Feldzugs höchſtens 51 Jahr alt, — kein
Alter, um jemanden einen „alten Vater“ zu nennen. 1657 wurde
er bereits Feldmarſchall; er hätte alſo dieſe hohe Würde mit 52
Jahren erreicht. Auch nicht ſehr wahrſcheinlich. Endlich drittens
war er ſchon 1638, unter George Wilhelm, mit Bildung einer
„brandenburgiſchen Armee“ betraut worden, die er auch wirklich
bei Neuſtadt-Eberswalde zuſammenzog. Es wäre ihm alſo ein ſol-
cher Auftrag mit 33 Jahren geworden, was, wenn es zuträfe,
wiederum einigermaßen überraſchen müßte.
Gleichviel indeß, in welchem Jahr und an welchem Ort unſer
Otto Chriſtoph geboren wurde; wenn er nicht mit Beſtimmtheit
dieſem oder jenem Dorfe angehört, ſo gehört er doch dem alten
„Sparrenlande“ überhaupt an. In jedem der Dörfer, die dieſem
Landestheile zugehören, iſt er gekannt, in dem einen als Zauberer,
in dem andren als Türkenbeſieger, überall als der „Glocken-Mann“,
der ſich vorgeſetzt hatte, am ganzen Lauf des Finowfluſſes hin
ſeine Glocken klingen zu hören.
Es iſt ein poetiſches Stück Land, dies alte Sparren-Land.
Wer an der Bieſenthaler Waſſermühle oder weiter aufwärts am
Neuſtädter Eiſenhammer den Finowfluß paſſirt, wer an einem
Herbſtabend in die ſtille Dorfgaſſe von Prenden einfährt, oder bei
aufſteigendem Nebel an dem Tramper-Park und ſeinen Burgtrüm-
mern vorüberkommt, der fühlt, daß ihn ſein Weg in Gegenden
geführt hat, wo es nicht Wunder nehmen darf, daß alte Volks-
ſagen noch lebendig ſind und weiter wachſen und ſchaffen. Ein
Knecht lebt da auf einem der alten Sparrendörfer, der ſieht alles
voraus was paſſirt und prophezeiht von einem großen Kriege, der
in den 80er Jahren kommen wird. „Dann werden die Menſchen
ſo rar werden wie die Störche im Jahre 1857, wo ein großer
Sturm ſie verſchlagen hatte und ſo viele umgekommen waren, daß
man alle 5 Meilen nur einen noch ſah. So wird Gott die Men-
ſchen ſchlagen, wie er damals ſeinen Gottesvogel geſchlagen. Dann
werden die Menſchen ſich freuen, wenn einer den andern ſieht.“
[[338]]
Am Werbellin.
Und der Wind ſtreicht durch die Hallen,
Wolken ziehen drüber hin.
Franz Kugler.’
Haufweis das Wild erſchlagen.
Chevy-Jagd.’
Eine halbe Meile nördlich von Lichterfelde, ſchon auf ukermärki-
ſchem Grund und Boden, begegnen wir dem ſagenreichen Wer-
belliner See, auch wohl in Kürze einfach „der Werbellin“ genannt.
Schön wie der Name, ſo ſchön iſt auch der See, ein Zauber iſt
um ihn her, und was der „Blumenthal“ unter den Forſten iſt,
das iſt der Werbellin unter den Seen dieſes Landestheils.
Es ſcheint, als ob alle Welt, auch in alten Tagen ſchon, ein
Ohr für den Wohlklang dieſes Namens gehabt hätte, denn alles,
was um den See herum gelegen iſt, hat den Namen von ihm
entlehnt, und wir unterſcheiden außer dem eigentlichen „Werbellin“
(dem See) noch eine Stadt, ein Dorf und ein Schloß glei-
ches Namens, wovon ſich dann ſchließlich der Werbelliner Forſt,
deſſen wir ſchon früher als des koſtbarſten Jagdgrundes der Hohen-
zollern gedachten, anreiht.
[Die Stadt Werbellin.] Sie iſt ſagenhaft. Sie ſoll an
der Stelle des jetzigen Sees geſtanden haben, ſo daß wir hier —
wenn der Sage irgend etwas Reales zu Grunde liegt — einen
[339] jener „Erdfälle“ anzunehmen hätten, über deren Art und Vor-
kommen ich in dem Buckow-Kapitel (ſiehe S. 184) ausführlicher
geſprochen habe. Das Terrain indeß iſt hier ein weſentlich andres
und macht einen Erdfall um Vieles weniger glaubhaft. Uebrigens geräth
die Sage mit ſich ſelber in Widerſpruch, wenn ſie fortfährt: „daß
die Einwohner der Stadt lange vorher einen Unfall befürchtet hät-
ten, weil der See mehr und mehr die Ufer weggeſpült und gleich-
ſam die Stadt unterminirt habe.“ Dies wäre jedenfalls kein „Erd-
fall.“ Aller Wahrſcheinlichkeit nach hat eine Stadt Werbellin (auch
Werblo geheißen) nie exiſtirt. Wenn Fiſchbach von zwei alten, da-
mals im Rathhauſe zu Neuſtadt-Eberswalde befindlichen Urkunden
ſpricht, die als Datum den St. Gregors-Tag 1306 und den
19. Februar 1319, als Ausſtellungsort aber den Namen Wer-
bellin tragen, ſo iſt jetzt erwieſen, daß ſich dieſe Unterſchrift auf
Schloß Werbellin und nicht auf die ſagenhafte Stadt gleiches
Namens bezieht.
[Dorf Werbellin], etwa eine halbe Meile ſüdlich vom
See gelegen, iſt eine Neu-Schöpfung, eine Pfälzer-Colonie, die
1748, alſo in den Jahren der großen Pfälzer-Einwanderung in
die Mark, angelegt wurde. Es iſt von dieſem Dörfchen nichts zu
ſagen; es trägt ſeinen poetiſchen Namen ziemlich unverdient.
[Schloß Werbellin.] Unmittelbar am Werbellin-See er-
hoben ſich zwei Schlöſſer; eins davon war das eigentliche Schloß
Werbellin, das andre hieß Schloß Breden.
Schloß Breden war das kleinere, unbedeutendere von bei-
den, und ſelbſt über die Stelle wird geſtritten, wo es ſtand.
Doch iſt es ſehr wahrſcheinlich, daß es ſich an der Mittelbiegung
des See’s erhob und zwar dort, wo jetzt maleriſch zwiſchen See
und Wald das Dörfchen Altenhof gelegen iſt. Unter dem Forſt-
hauſe daſelbſt befinden ſich noch alte, gewölbte Keller, die man vor
etwa 100 Jahren entdeckte, als der Grund zur Aufführung einer
neuen Förſterei gelegt werden ſollte. Man fand aber nicht blos
dieſe alten Gewölbe, ſondern auch kupferne und eiſerne Geräth-
ſchaften, die bis dieſen Tag in der Förſterfamilie (ſeit über hun-
22*
[340] dert Jahren immer dieſelbe) aufbewahrt werden. Die dörfliche Tra-
dition ſpricht auch von einem Faß mit Wein, das man damals
gefunden habe, ein Faß, deſſen Dauben bei der Berührung in
Staub zerfielen, während der Wein in der topasfarbenen Wein-
ſteinkruſte, die ſich ſeit den Tagen Markgraf Waldemars gebildet
hatte, wie in einer Kryſtall-Bowle unverſchüttet ſtehen blieb.
Das eigentliche Schloß Werbellin lag an der Südweſtſpitze
des Werbelliner See’s höchſt wahrſcheinlich (denn das Terrain iſt
verändert) auf einer Landzunge, die durch einen Durchſtich und
ein weites, vor dieſem Durchſtich gelegenes (übrigens noch vor-
handenes) Sumpfland zu einer ſchwer zugänglichen Inſel gemacht
wurde. Markgraf Johann I., der Städte-Erbauer unter den As-
kaniern, baute dies Schloß um 1247, und es ſcheint, daß es
unter allen markgräflichen Schlöſſern jener Epoche das größte, und
wohl auch ein bevorzugter Aufenthalt mehrerer unter den Aska-
niern war. Hier wurden die obenerwähnten Urkunden ausgeſtellt,
und wohl viele andre mit ihnen. Von Schloß Werbellin aus
ſchickte Markgraf Waldemar ſeinen Kanzler Nikolaus von Buch
an den Rhein, als, nach Kaiſer Heinrichs VII. Tode, ein neuer Kaiſer
gewählt werden ſollte, und gab ihm, wie wir heute ſagen würden,
charte blanche zu wählen nach ſeinem Ermeſſen. Nikolaus von
Buch gab ſeine Stimme an Ludwig den Baier, an den einzigen,
an den er ſie (nach dem ſtillen Wunſche Waldemars) nicht ge-
ben ſollte. Der empörte Markgraf, ſo geht die Sage, ließ den zu-
zückkehrenden Kanzler nach dem nach gelegenen Schloß Grim-
nitz*) bringen, ihn dort in den Kerker werfen und verhungern.
[341] Die Erzählung fügt hinzu, der Markgraf habe täglich friſche Aepfel
vor das vergitterte Fenſter legen laſſen, um durch den Anblick der
Labefrucht die Qual des Unglücklichen zu ſteigern.
1319 ſtarb Markgraf Waldemar, es kam eine wilde, eine
herrenloſe Zeit, auch Schloß Werbellin ſank von ſeiner Höhe. Noch
im Laufe deſſelben Jahrhunderts, oder doch zu Anfang des nächſt-
folgenden, wurde es zerſtört; der eine Bericht ſagt „durch die
Litthauer“, ein andrer (wahrſcheinlicherer), durch die Quitzows,
die in Gemeinſchaft mit den Ruppiner Grafen die Burg angriffen
und brachen. Ihr Zug ging von da aus gegen Chorin. Auf dem
Felde zwiſchen Lichterfelde und dem Werbelliner-See wird noch die
Stelle gezeigt, wo der Abt von Chorin den Siegern entgegenging
und mit ihnen über gute Bedingungen verhandelte.
[Der Werbelliner-Forſt] endlich iſt der alte, klangvolle
Name des ſchönen, viele Quadratmeilen großen Wald- und Jagd-
Reviers, das den Werbellin- und Grimnitz-See in weitem Halb-
kreis umgiebt. Man hat den alten Namen jetzt aufgegeben, und
das weite Waldrevier, aus Gründen beſſerer Verwaltung, in eine
weſtliche und öſtliche Hälfte getheilt, die nun den Namen „Groß-
Schönebecker- und Grimnitzer-Forſt“ führen; wir aber behalten den
alten Namen bei.
Der Werbelliner-Forſt, wie ſchon angedeutet, iſt gleich aus-
gezeichnet als Wald- wie als Jagd-Grund. Als Waldgrund
mag es, auch in unſern Landen, größere und beſſer gepflegte ge-
ben, als Jagdgrund ſteht er einzig da. Ein Theil des Forſtes,
die ſogenannte Schürf- oder Schorfhaide, die ſich eine halbe Meile
lang am Nordweſt-Ufer des See’s entlang zieht, dient eigens dem
Zweck, das Wild zu pflegen, alſo den Reſt des Forſtes zu einem
*)
[342] deſto reicheren und beſſeren Jagdgrund zu machen. Der nahe See
mit ſeinem koſtbar klaren Waſſer (eine Folge ſeiner Kalk- und
Thon-Gründigkeit) macht ihn zur Tränke vorzüglich geeignet,
während außerdem Brunnen in den Wald gegraben ſind, und
überall ausgebreitete Heu- und Moosbetten dem Wilde über die
Gefahren und Beſchwerden des Winters hinweghelfen. Und das
alles nicht einmal mit der hinterliſtigen Abſicht, den heute noch ge-
hegten und gepflegten Hirſch bei nächſter Gelegenheit in’s Blatt
zu treffen. Der Wildſtand hier iſt eine Parade-Truppe, und wird
auf jede erdenkliche Weiſe geſchont. Letzlingen, ſo heißt es, iſt
für den Gebrauch; Werbellin und Grimnitz ſind für die
Repräſentation. Dort jagten die Hohenzollern um des Jagens
willen; in Werbellin jagen ſie, ausnahmsweiſe, an Feſt- und
Gala-Tagen, um ihren Gäſten zu zeigen, was hohe Jagd in den
Marken iſt.
Letzlingen freilich iſt auch ein koſtbarer Jagdgrund, und in
einzelnen Branchen, z. B. an Damm- und Edelhirſchen, überragt
es ſeinen Rivalen. Aber an Rothwild bleibt Werbellin à la tête.
Die Forſten, die ſeinem Reviere angehören, umſchließen 3000
Hirſche, die größte Anzahl (ſo weit die Kenntniß davon reicht), die
an irgend einem Punkte der Welt, innerhalb eines beſtimmt ab-
gegrenzten Reviers, gehalten wird. Hier war denn auch, wie ſelbſt-
verſtändlich, der Platz, wo ſich die Zahl der getödteten Hirſche
(denn trotz des Prinzips der Schonung müſſen die alten weg-
geſchoſſen werden) auf eine Höhe bringen ließ, gegen die wahr-
ſcheinlich die Thaten des Cooper’ſchen „Hirſchtödters“ zu einem
Minimum zuſammenſchrumpfen. Wildmeiſter Grußdorf (jetzt im
Potsdamer Wildpark) war 30 oder 40 Jahr lang Förſter im
Werbelliner Forſt, und die Leute erzählen von ihm, daß er muth-
maßlich derjenige Jäger ſei, der in ſeinem Leben die meiſten Hirſche
geſchoſſen habe. Es heißt: er kannte nicht nur alle, die über-
haupt da waren, er fand auch alle, die er finden wollte (die
alten, wegzuſchießenden), und traf alle, die er treffen wollte. Nur
[343] vom bairiſchen Grafen Arco erzählt man, daß er möglicherweiſe
unſrem Grußdorf als „Hirſchtödter“ gleichkomme.
Der Werbellin-Forſt umſchließt 3000 Hirſche, aber um die
Brunſtzeit (etwa von Mitte September bis Mitte Oktober) um-
ſchließt er noch tauſend mehr. Dann kommen die Wanderhirſche.
Sie kommen aus den benachbarten Landestheilen, aus Mecklen-
burg, Pommern, Schleſien, ſelbſt aus Polen und Oſtpreußen, alſo
faſt hundert Meilen weit. Alle dieſe Gegenden, namentlich die öſt-
lich und nördlich gelegenen, haben weniger Weibchen in ihren Wäl-
dern, und dieſer Umſtand treibt die Hirſche gen Weſten, und ſpeziell
an das See-Ufer des Werbellin. Hier iſt dann Rendezvous, „Con-
vivium“, wie es die Leute nennen. Weil der Weg weit und die
Fährlichkeit der Reiſe groß iſt, ſo machen ſich nur die ſtärkſten
Thiere auf den Weg; ſie wiſſen auch wohl, daß ſie als Eindring-
linge kommen, und daß es ohne ſchwere Kämpfe, ohne den ganzen
Zorn erwachter Eiferſucht, nicht abgehen wird. Dieſe Kämpfe finden
denn auch wirklich jedesmal ſtatt, aber ſelten mit den eigentlichen Her-
ren des Forſt’s, ſondern gemeinhin unter den Herbeigekommenen
ſelbſt. Sie fechten Eindringling gegen Eindringling, etwa Pole
gegen Oſtpreuße, oder Schleſier gegen Pommer. Die dieſen Kampf
aufnehmen, ſind, wie ſchon angedeutet, immer die Stärkſten, und
die Veranlaſſung iſt jedesmal Rivalität; das Reſultat ihrer Kämpfe
aber pflegt in den meiſten Fällen das zu ſein, daß, während die
beiden Heroen von außerhalb mit einander kämpfen (auch wohl
ſich tödten), der einheimiſche Märker den Liebespreis davonträgt.
Die fremden Hirſche bleiben etwa 4 Wochen; dann kehren
ſie wieder heim.
In den letzten 10 bis 15 Jahren hat ſich dieſer Zuzug von
außenher um etwas verringert. Wahrſcheinlich iſt das Jahr 1848
die Urſach davon, wenigſtens bemerkt man ſeitdem eine Abnahme.
Die Jagdfreiheit machte damals den Marſch von Polen oder Preu-
ßen bis in die Mark allerdings etwas gefährlicher als in ruhi-
geren Zeiten, und die Gefahren jenes Jahres ſcheinen wenigſtens
bei den Wanderhirſchen unvergeſſen.
[344]
Wir treten zum Schluß aus dem Forſte heraus wieder an
den See, an den „Werbellin“, der all dieſer Umgebung, Wald,
Burg, Dorf, ſeinen Namen gab.
Einladend wie der See, ſo waren auch die Fiſche, die er
beherbergte. Es war ein Muränen-See, vielleicht der größte und
ſchönſte unter allen märkiſchen Seen, die ſich mit ihm in die
Ehre theilen, ein Muränen-See zu ſein. (Muränen-Seen waren zu
Bekmanns Zeiten folgende: der Moriner, der Soldiner, der Lychener
und der Stechliner, ferner der Lindower und der Schermützel-
See. Mehrere davon, wenn nicht alle, haben inzwiſchen ihre Mu-
ränen verloren, ebenſo wie der „Werbellin.“)
Auch ſchon in churfürſtlichen Tagen wußte man von dieſem
Reichthum des Werbelliner See’s, und 1565 ſchrieb Churfürſt
Joachim an den Magiſtrat zu Neuſtadt-Eberswalde und ordnete
an: „maßen man gegen Faſtelabend etzlich-vieler Fiſche benöthigt
wäre, ſo viele Muränen und Karpfen, als nur zu bekommen wä-
ren, in dem „Werbellin“ fangen und mit zwei Pferden und Wa-
gen zur churfürſtlichen Küche bringen zu laſſen.“
Mit dieſen Muränen ging es noch faſt dreihundert Jahre;
da, vor 10 oder 20 Jahren, nahm es plötzlich ein Ende. Der
Cormoran kam. Der Cormoran oder ſchwarze Seerabe, ſonſt
nur in Japan und China heimiſch, hatte auf ſeinen Wanderzügen
auch mal den baltiſchen Küſtenſtrich berührt und unter allen For-
ſten und Seen, die er auf dieſem ſeinem Zuge berührt hatte,
ſchien es ihm „am Werbellin“ am beſten gefallen zu haben, denn
hier war es, wo er ſich plötzlich zu vielen, vielen Tauſenden nie-
derließ. Der ſchöne Forſt am See entlang bot prächtige Bäume
zum Horſten, und der See ſelbſt die ſchönſte Gelegenheit zum Fi-
ſchen. Nun ſcheint es, waren die Cormorans inſonderheit auch
Feinſchmecker, und ſtatt ſich mit all und jedem zu begnügen, was
ihnen in den Wurf kam, richteten ſie ihr Begehr vor allem auf
die Muräne. Sie fiſchten nach ganz eigenthümlichen Prinzipien,
und betrieben den Raub nicht als einzelne Freibeuter (wie etwa
die Fiſchreiher und ähnliche auf niedrigſter Stufe der Kriegskunſt
[345] ſtehende Thiere), ſondern das Geheimniß taktiſchen Zuſammenwir-
kens hatte ſich ihnen erſchloſſen. Sie operirten en colonne, in
Reih und Glied und lange Chainen quer über den See ziehend,
dabei mit Hülfe ihrer Taucherkünſte den See auch in ſeinen ver-
ſchiedenen Tiefen, ſo zu ſagen in allen ſeinen Etagen beherrſchend,
glückte es ihnen, überall da, wo ſie ihren Stand nahmen, ein
lebendiges Netz durch den See zu ziehen: jede Maſche ein geöff-
neter Cormoran-Schnabel.*) Die Fiſcher mühten ſich umſonſt ſie
zu vertreiben; es gab damals Cormorans am Werbellin, wie Flie-
gen in einer Bauernſtube; ein paar Hundert mehr oder weniger
war von gar keinem Belang. Auch der Forſt litt, ähnlich wie der
See; denn in manchem Baum hatten die Cormorans 10 Neſter
gebaut, und es war nicht möglich, ihrer Herr zu werden. Da
wurde endlich ein Vernichtungskrieg beſchloſſen; alle Förſter aus
den benachbarten Revieren wurden mit herangezogen, das Garde-
Jäger-Bataillon in Potsdam ſchickte ſeine beſten Schützen, — ſo
rückte man in’s Feld. Zuletzt waren Pulver und Blei ſtärker als
die Cormorans, und ſie blieben entweder auf dem Platze, oder
ſetzten ihren Zug in friedlichere Gegenden fort. Die Cormorans
verſchwanden; aber ihr Beſuch hatte dem Werbellin ſeine Muränen
gekoſtet. Die Cormorans ſind nicht wieder gekommen (das ließe
ſich ertragen), aber — die Muränen auch nicht.
Die Muränen ſind hin wie die Schlöſſer, die den „Wer-
bellin“ umſtanden, nur der See ſelber iſt der alte geblieben. Bei
Altenhof, unmittelbar an dem gelben Kies-Ufer, liegen ein paar
Tannenſtämme aufgeſchichtet, und bilden eine hohe Bank zum
[346] Ueberblick über den See. Dort nehmen wir Platz. Kleine Wellen
ſchäumen an’s Ufer, vor uns die breite Waſſerfläche, liegt noch
im Licht, während nach Norden zu ſich blaue Schatten über
Wald und See breiten. Dorthin liegen auch die Trümmer des
alten, halb Sage gewordenen Grimnitz-Schloſſes. Und wenn jetzt
ein goldenes Schiff den See herunter käme, und auf dem Deck
des Schiffes, unter flatterndem Zeltdach, ſäße Markgraf Otto mit
Heilwig von Holſtein, ſcherzend, lachend über dem Schachſpiel, wir
ließen es vorübergleiten, vielleicht weniger verwundert über das gol-
dene Schiff mit Segel und Zeltdach, wie über das ärmliche Schif-
ferboot, das eben mit Netz und Reuſe des Weges kommt. Es iſt
ein Märchenplatz, auf dem wir ſitzen, denn wir ſitzen am Ufer des
„Werbellin.“
[[347]]
Schloß Friedersdorf.
In der Nähe von Guſow (dem alten Beſitzthum Derfflingers)
auf dem Plateau, das den Südweſtrand des Oderbruchs begrenzt,
liegt Friedersdorf, ein Beſitz der Familie von der Marwitz.
Die Marwitze, urſprünglich eine neumärkiſche Familie, kamen gegen
Ende des ſiebzehnten Jahrhunderts in Beſitz dieſes Guts und
haben es ſeitdem ununterbrochen beſeſſen.*)
Vom Städtchen Selow (halben Wegs zwiſchen Müncheberg
und Küſtrin) erreicht man Friedersdorf in einer Viertelſtunde. Die
Landſchaft iſt reizlos und nur die Bäume des Parks, die man
auf einige Entfernung hin hoch aufragen ſieht, unterbrechen das
flache Einerlei. Unmaleriſch wie die Landſchaft, iſt auch die Einfahrt
in das Dorf ſelbſt, und erſt in der Mitte deſſelben, wo wir die
Parkbäume, die bis dahin den halbnebligten Hintergrund des Bil-
[348] des bildeten, in einem flachen, weit gedehnten Teich ſich ſpiegeln,
und die Thürme und weißgrauen Wände des Schloſſes durch das
ziemlich dichte Laubwerk hindurch ſchimmern ſehen, wird es uns
leichter um’s Herz, und der flachen Alltäglichkeit plötzlich überhoben,
athmen wir auf wie eingetreten in eine neue, poetiſche Welt. Unſer
Wagen beſchreibt eine Curve um den Südrand des Teiches herum
und führt uns dann durch eine von zwei Obelisken gebildete Ein-
fahrt, den Kiesweg des Parks hinauf, bis vor die gaſtlich geöffnete
Thür des Schloſſes.
Das Friedersdorfer Herrenhaus iſt ſo recht ein Bau, wie ihn
die Phantaſie ſich auszumalen liebt, wenn es gilt, das Schloß
einer alten Familie vor Augen zu haben. Die Frage nach dem
Maaß der Schönheit wird gar nicht laut; alles iſt eigenthümlich,
charaktervoll, pittoresk, und dieß genügt. Auch dieſes Friedersdorfer
Schloß nimmt unſer Urtheil ſofort gefangen. Das hohe Dach, wo
es auf der Schrägung der beiden Seitengiebel aufliegt, iſt ſtaffel-
förmig mit allerhand Thürmchen beſetzt, während aus der Mitte
des Dachs ein mächtiger Vordergiebel vorſpringt, der wiederum
ſeinerſeits mit einer Reihe von kleinen Thürmen geſchmückt iſt.
Die hohen, verhältnißmäßig ſchmalen Fenſter ſteigern den Eindruck
des Eigenthümlichen und die breiten Pfeiler zwiſchen denſelben
leihen ein Anſehen voll Feſtigkeit und Solidität. Roſenbäume um-
ranken die Glasthür, die aus der Halle in Park und Garten führt,
vor der Front des Hauſes aber, inmitten eines Grasplatzes, den
Kieswege umzirken und mächtige alte Kaſtanien überſchatten, ſtehen
ein paar gußeiſerne Böller (Eroberungen aus alter Zeit) und mah-
nen an den kriegeriſchen Geiſt, der hier durch viele Generationen
hindurch lebendig war.
Wir betreten das Haus und verwundern uns über die Fülle
von Raum, die uns darin entgegen tritt. Das macht, es iſt noch
ein Bau aus jener vornehmen Zeit, wo man die vorhandene Ge-
ſammträumlichkeit in wenige impoſante Gemächer theilte, ſtatt wie
jetzt die allergrößte Raumfülle durch zahlloſe Stuben und Stüb-
chen hotelartig zu verzetteln. Die Baumeiſter waren damals noch
[349] nicht bei Hauswirthen in die Schule gegangen und hatten noch
nicht gelernt, der trivialſten Oekonomie die Schönheit und Statt-
lichkeit der Verhältniſſe zu opfern. Es war noch die Epoche der
Treppen und Corridore, wie ſie die, ohne Noth und ohne Ver-
ſtändniß, jetzt vielgeſchmähte Zeit der Renaiſſance überall einführte.
Die Halle des Hauſes nimmt uns auf. Hohe Fenſter blicken auf
den Park hinaus, die andern Wände ſind mit zahlreichen Bildern,
mit Familienporträts jedes Alters und jeder Größe bedeckt. Das
ſtattlichſte und in die Augen fallendſte iſt ein Bildniß über dem
Kamin. Es iſt das überlebensgroße Porträt des alten General-
lieutenants von Goertzke, des ſogenannten „Paladins des großen
Kurfürſten“, der im Jahr 1652 Friedersdorf erſtand, dieſes
Schloß renovirte und hier in hohem Alter verſtarb. Wie derſelbe
ein halbes Leben lang neben Derfflinger geſtanden und den Ruhm
des Alten getheilt hatte, ſo fanden ſich die beiden brandenburgiſchen
Helden auch ſchließlich auf nachbarlicher Scholle hier zuſammen:
Guſow gehörte dem einen, Friedersdorf dem andern. Eines
Goertzke’s Tochter heirathete einen Marwitz und bei den Marwitz
iſt das Gut ſeitdem verblieben.
Dieſes Bildniß des alten „Paladin“ nimmt unſer Intereſſe
aus mehr als Einem Grunde in Anſpruch. Ganz geharniſcht, den
Commandoſtab in der Rechten, die leichte Feldbinde um den Hals,
ſo ſteht er da. Der Helm ruht neben ihm auf einem Felſenvor-
ſprung und ſein langes Haar fällt dunkel und beinahe lockig
herab. Finſterer Ernſt und kalte Beſtimmtheit ſprechen aus ſeinen
Zügen. Es knüpft ſich eine hübſche Anekdote an dieſes Bild,
charakteriſtiſch für den Mann und die Zeit, zumal auch für die
Stellung, die die ſchönen Künſte damals in brandenburgiſchen
Landen einnahmen. Goertzke war bei Lützen ſchwer verwundet
worden und hinkte ſeitdem; ſein linker Fuß war zu kurz geheilt
worden und eine dicke, handhohe Holzſohle mußte wieder gut
machen, was das Unglück oder das Ungeſchick des Arztes verſchul-
det hatte. Es ſcheint, daß er ſich an dieſen Holzfuß nicht gern
erinnern ließ oder Vorſtellungen von der Pflicht des Idealiſirens
[350] innerhalb der Kunſt hatte, die dem romantiſchſten Vertreter der
früheren Düſſeldorfer Schule Ehre gemacht haben würden. Als der
Maler ihm das Bild brachte, fiel Goertzke’s Auge zuerſt auf die
breite Holzſohle, die der gewiſſenhafte Realiſt an den Fuß ſeines
Helden geheftet hatte, und voll Zorn und Unmuth warf dieſer ihn
die Treppe hinunter. Eine kaum minder empfindliche Strafe kam
nach: der alte Paladin behielt das Bild und verweigerte die
Zahlung.
Das lebhafte Intereſſe, das wir an dem Bilde zeigen, führt
zu der freundlichen Mittheilung, daß die nahgelegene Kirche ein
Steinbild des alten Reitergenerals enthalte, das die beſte Gele-
genheit bieten würde, zwiſchen zwei ziemlich gleichzeitigen Darſtel-
lungen des Paladins (den beiden einzigen, die exiſtiren) einen
Vergleich anzuſtellen. Unſere Neugier iſt geweckt und die Kiesgänge
des Parks führen uns alsbald in die angrenzende Kirche.
Einen Augenblick vergeſſen wir, was zunächſt uns hergeführt
(das Steinbild des alten Goertzke), und blicken betroffen in eine
Dorfkirche hinein, wie deren die Mark vielleicht keine zweite beſitzt.
Ein Zuſammenwirken von Umſtänden iſt nöthig, um eine
Ausſchmückung wie dieſe zu ſchaffen: lang andauernder Be-
ſitz und ein Herz für Kirche und Kunſt. Saubere Pfeiler
von braunem Eichenholz tragen die weit vorſpringenden Emporen,
und allerhand Bilder, Sprüche und Inſchriften umziehen die
Brüſtung derſelben. Ueberall treten aus dem alten Mauerwerk
Grabmonumente hervor, und Büſten und Portraits, Sarkophage
und ſymboliſche Figuren, die rundum die Wände ſchmücken, leihen
dieſer kleinen Kirche etwas vom Anregenden eines Muſeums und
von der ſchönen Heiterkeit, die überall da waltet, wo die Schö-
pfungen der Kunſt eine Stätte gefunden. Was dieſen Eindruck
künſtleriſcher Heiterkeit noch ſteigert, das iſt das Vorherrſchen der
Farbe oder doch ein glückliches ſich Vermählen der Farbenbuntheit
mit dem Weiß des Marmors. Eine Reihe ſteinerner Grabmonu-
mente weckt oft mehr Schauer als Erhebung, hier aber werden
die weißen Marmorgruppen zu bloßen Umrahmungen für die
[351] Bilder, deren Farbenfriſche den Sieg über den kalten Marmor
und die kalte Symbolik davon trägt. Der Saturn wird zum ge-
müthlichen Alten, wenn er ein Medaillonbild in Händen hält, das
in allen Farben des Lebens lacht.
Unter ſolchen Betrachtungen ſind wir das Kirchenſchiff hin-
aufgeſchritten und ſtehen am Altar. Zur Linken erblicken wir nun-
mehr das Steinbild des alten Paladin, das zunächſt Veranlaſſung
zu unſerem Kirchenbeſuche gab. Neben ihm, in gleicher Höhe und
Größe, iſt das Reliefbild ſeiner Gemahlin, einer geborenen von
Schlieben, in den Wandpfeiler eingelaſſen. Beide Grabſteine lagen
früher an anderer Stelle, unmittelbar über der Gruft, und erſt
bei Renovirung der Kirche hat man ſie aufgerichtet und ihnen den
Ehrenplatz neben dem Altar gegeben. Vergleicht man dieſes Stein-
bild des alten Goertzke mit ſeinem Oelporträt in der Halle, ſo
bemerkt man allerdings Verſchiedenheiten. Der Klumpfuß und die
Krücke zeigen ſich auch hier, eben ſo tritt einem etwas typiſch
Märkiſches im Ausdruck des Kopfes entgegen, aber hiemit ſind die
Aehnlichkeiten erſchöpft. Wohlwollen, Heiterkeit, Bonhommie nehmen
die Stelle des Herben und Martialiſchen ein, die unverkennbar
aus dem Oelbild ſprechen. Der Kopf der jungen, ſchönen Frau
(der er ſich erſt ſpät vermählte und die er nur kurze Zeit beſaß)
iſt überaus anſprechend und man muß erſtaunen, daß es einem
Steinmetzen jener Zeit glücken konnte, ein ſo liebliches Geſicht her-
auszumeißeln. Das Charakteriſtiſche findet ſich immer früher als
das Schöne, das hier bereits in deutlichen Anfängen zu uns ſpricht.
Wir ſind in die Mitte des Kirchenſchiffs zurückgetreten, halten
Umſchau und bemerken jetzt, daß das Bild des alten Goertzke nur
ein Gaſt in dieſer Kirche iſt, ein vornehmer Gaſt zwar, dem man
den Ehrenplatz neben dem Altar gegeben, aber doch immer nur ein
Gaſt. Andere ſind hier jetzt zu Haus; den Marwitzen gehört das
Feld. Vier Generationen ſprechen zu uns; zur Rechten Geſtalten
und Inſchriften, die der Epoche vor dem ſiebenjährigen Kriege
angehören, zur Linken die Namen und Bildniſſe derer, die ſeitdem
gekommen und gegangen ſind. Da ſind zunächſt (zur Rechten) die
[352] Bildniſſe Hans Georgs und ſeiner beiden Frauen, Medaillonpor-
träts, wo die feinen, halb träumeriſchen, halb wehmuthsvollen
Züge der einen, das Auge des Beſchauers zu ſuchen ſcheinen und
feſſelnd aus dem weißen Kopftuche hervorlugen. Da ſind, an der-
ſelben Seite, die Monumente und Bildniſſe ſeiner beiden Söhne,
von denen der eine, voll Eifer für die Wiſſenſchaften, jung und
unvermählt verſtarb, während der andere (Auguſt Gebhardt) in die
Armee trat und als Gardecapitän den Dienſt quittirend, ſeine Tage
auf Friedersdorf beſchloß.
Von dieſem Auguſt Gebhardt v. d. Marwitz, dem Urgroß-
vater des gegenwärtigen Beſitzers, exiſtiren noch ein paar Ueber-
lieferungen, die hier Platz finden mögen, weil ſie ein anſchauliches
Bild von dem Leben geben, das ein märkiſcher Edelmann vor den
Tagen des ſiebenjährigen Krieges zu führen pflegte.
Auguſt Gebhardt lebte noch völlig als Patriarch. Die Bauern
fürchteten ſein grimmiges Anſehen und vermieden ihn lieber, als
daß ſie ihn ſuchten. Er war etwa der „Soldatenkönig im Kleinen“
und das bekannte „lieben ſollt ihr mich“ wurde auch hier mit dem
ſpaniſchen Rohr auf die Rücken geſchrieben. Von beſonderer Wich-
tigkeit war der ſonntägliche Kirchgang. In vollem Staat, gefolgt
von Frau und Kindern, erſchien dann der alte Gardecapitän auf
ſeinem Chor und theilte ſeine Aufmerkſamkeit zwiſchen dem Predi-
ger und der Gemeine. Sein controlirender Blick war über dem
Ganzen. Ein eigens beſtallter Kirchenvogt mußte aufmerken, wer
von den Bauern ausgeblieben war, von denen jeder, der ohne
triftige Urſache fehlte, an ſeinem Beutel oder ſeinem Leibe beſtraft
wurde. Dabei war Auguſt Gebhardt ein Lebemann. Sein Haus
ſtand gaſtlich offen und in heiterer Geſellſchaft vergingen die Tage.
Man aß von ſilbernem Geſchirr und eine zahlreiche Dienerſchaft
wartete auf. Der Sommer gehörte dem Leben auf dem Lande,
aber der Winter rief alles nach Berlin. In einem mit ſechs Heng-
ſten beſpannten Wagen brach man auf und ein Läufer in voller
Livrée lief vor dem Zuge her. Auch in Berlin machte Auguſt
Gebhardt ein Haus; vornehme Geſellſchaft ging aus und ein, an-
[353] gezogen durch den feinen und geiſtreichen Ton ſeiner zweiten Ge-
mahlin, einer geborenen von der Goltz. Das Weihnachtsfeſt führte
die Familie auf kurze Zeit nach Friedersdorf zurück, bis mit dem
herannahenden Carneval der Läufer und die ſechs Hengſte wieder
aus dem Stall mußten.
Das waren die Zeiten Auguſt Gebhardts. Die kommenden
Jahre trugen von allen Seiten her Verwüſtung in das Land und
zerſtörten die Wohlhabenheit, die die geſunde Baſis dieſes patri-
archaliſchen Lebens war. Auguſt Gebhardt ſtarb 1753. Er hinter-
ließ drei Söhne, von denen wir jedem einzelnen zunächſt ein be-
zeichnendes Beiwort (ſtatt der Verwirrung ſtiftenden Vornamen)
geben wollen. So nennen wir denn den älteſten den Huberts-
burg-Marwitz, den zweiten den Hochkirch-Marwitz, den dritten
aber, der nicht Gelegenheit fand im Kriege ſich auszuzeichnen, ein-
fach nach ſeinem Titel, den Kammerherrn Marwitz. Von jedem
mögen hier ein paar Worte ſtehen.
Der Hubertsburg-Marwitz (Johann Friedrich Adolf) war
1723 geboren. Er trat in das Regiment Gendarmes und avancirte
von Stufe zu Stufe. Er war ein ſehr braver und in großer
Achtung iſtehender Soldat, ein feiner und gebildeter Weltmann,
ein Freund der Literatur und der Kunſt. Der große König ſchätzte
ihn hoch, beſonders auch, weil er das Regiment Gendarmes faſt
den ganzen ſiebenjährigen Krieg hindurch, ſtatt des eigentlichen
Commandeurs Grafen von Schwerin, mit dem größten Succeß
geführt hatte. Bei Zorndorf war er mit unter den beſten geweſen.
So kam das Jahr 1760. Der König hatte nicht vergeſſen,
daß es ſächſiſche Truppen geweſen waren, die das Jahr vorher
Schloß Charlottenburg geplündert hatten, und voll Begier nach
Revanche gab er beim Einrücken in Sachſen ſofort Befehl, Schloß
Hubertsburg (daſſelbe, das ſpäter durch den Friedensſchluß be-
rühmt wurde), als Repreſſalie zu zerſtören; das Mobiliar des
Schloſſes ſollte dem plündernden Offizier zufallen. Der Befehl zur
Ausführung traf unſern Marwitz, der damals Oberſt war. Dieſer
ſchüttelte den Kopf. Nach einigen Tagen fragte ihn der König bei
23
[354] Tiſch, ob Schloß Hubertsburg ausgeplündert ſei? „Nein“, erwie-
derte der Oberſt. Eine andere halbe Woche verging und der König
wiederholte ſeine Frage, worauf dieſelbe lakoniſche Antwort erfolgte.
„Warum nicht?“ fuhr der König auf. — „Weil ſich dieß allen-
falls für Offiziere eines Freibataillons ſchicken würde, nicht aber
für den Commandeur von Seiner Majeſtät Gendarmes.“ Der
entrüſtete König ſtand von der Tafel auf und ſchenkte das Mobi-
liar des Schloſſes dem Oberſten Quintus Jcilius,*) der bald
darauf alles rein ausplünderte.
Bei allen Revuen nach dem Frieden war nun der König immer
höchſt unzufrieden, andere Offiziere wurden dem tapfern Gendarmen-
Oberſten vorgezogen und Marwitz forderte ſeinen Abſchied. Der
König verweigerte ihn. Neue Kränkungen blieben indeß nicht aus
und Marwitz kam abermals um ſeine Entlaſſung ein. Keine Ant-
wort. Da that Johann Friedrich Adolf keinen Dienſt mehr und
blieb ein ganzes Jahr lang zu Hauſe. Nun lenkte der König ein
und verſprach ihm das nächſte vacante Regiment; aber vergeblich.
Er ließ antworten: er habe ſo gedient, daß er ſich kein passe
droit brauche gefallen zu laſſen; was geſchehen ſei, ſei geſchehen,
und könne kein König mehr ungeſchehen machen. Zugleich forderte
er zum drittenmal ſeinen Abſchied und erhielt ihn nun (1769).
Er war damals erſt 46 Jahre alt. Das Ende ſeines Lebens
entſprach nicht dem ruhmreichen Anfang. Aller regelnden Thätig-
keit überhoben und jener wohlthätigen Disciplin, die der „Dienſt“
auf die Kräfte und Leidenſchaften ſtarker Naturen ausübt, verfiel
er einem glänzenden Müſſiggange, den er nunmehr mit derſelben
Conſequenz und Energie wie früher ſeine ſoldatiſchen Tugenden
durchführte. Den größten Theil des Tages verbrachte er beim
[355] Spiel. Kam er nach Friedersdorf, ſo war er ſicher von ſeiner
„Partie“ begleitet. Unter der großen Linde, welche hinter dem
Hauſe im Garten ſteht, hatte er ſich eine Laube einrichten laſſen.
Dort ſaß er ſchon am Morgen und ſpielte; dann wurde mit
großem Aufwand getafelt, viel und gut und lange getrunken, bis
der Abend die Beſchäftigung des Morgens wieder aufnahm. Er
beſaß eine höchſt werthvolle Bibliothek, die ſich noch jetzt im Frie-
dersdorfer Schloß befindet. Alle dieſe Bücher hatte er partienweiſe
dem Quintus Jcilius im Spiele abgewonnen und ſich dadurch
nachträglich und auf dem Wege Rechtens in Beſitz derſelben
Bibliothek geſetzt, deren Fortführung aus Schloß Hubertsburg
er, als unwürdig eines Marwitz und eines Oberſten der Gendar-
mes, verweigert hatte. Dieſer Johann Friedrich Adolf, oder der
Hubertsburg-Marwitz, wie wir ihn genannt haben, ſtarb 1781.
Die Friedersdorfer Kirche bewahrt ſein Andenken durch einen Grab-
ſtein, auf dem wir die Worte leſen: „Johann Friedrich Adolf.
Er ſah Friedrichs Heldenzeit und kämpfte mit ihm in allen ſeinen
Kriegen. Wählte Ungnade, wo Gehorſam nicht Ehre
brachte.“
Sein jüngerer Bruder war der Hochkirch-Marwitz (Guſtav
Ludwig). Er diente ebenfalls beim Regiment Gendarmes und focht
bei Hochkirch mit ſolcher Auszeichnung, daß er, unmittelbar nach
der Schlacht, vom Rittmeiſter zum Major avancirte und den Pour
le mérite erhielt. Er iſt nicht zu verwechſeln mit dem Quartier-
meiſter von der Marwitz, deſſen Name in noch glänzenderer Weiſe
mit der verhängnißvollen Nacht von Hochkirch verwoben iſt. Dieſer
letztere von der Marwitz, mit der Friedersdorfer Linie nur weit-
läufig verwandt, weigerte ſich bekanntlich, das Lager, das einen
Ueberfall gleichſam herauszufordern ſchien, an der angewieſenen
Stelle abzuſtecken, und erhielt dafür nicht nur keinen Pour le
mérite, ſondern fiel in Ungnade. Er ſtarb bereits im folgenden
Jahre 1759. „Son mérite et ses services seraient oubliés
si ce monument n’en conservait la mémoire“, ſo ſchreibt
Prinz Heinrich unter den Namen dieſes Marwitz (des Quartier-
23*
[356] meiſters) und reihte dieſe Inſchrift unter die Namen ein, die den
Sockel des großen Rheinsberger Obelisken in goldener Schrift
umziehen. Unſer Hochkirch-Marwitz aber ſtieg von Stufe zu
Stufe, commandirte das altmärkiſche Küraſſierregiment, das zu
Salzwedel lag, und ſtarb erſt 1797 als Generallieutenant. Die
Friedersdorfer Kirche erwähnt ſeiner nicht.
Der dritte und jüngſte Bruder war der Kammerherr Mar-
witz (Berndt Friedrich Auguſt). Sein Leben verlief ohne hiſtoriſche
Momente, ohne Thaten nach außen. Kurz vor ſeinem Tode wurde
er als interimiſtiſcher Intendant an die Spitze der königlichen
Schauſpiele berufen. Die Memoiren ſeines Sohnes äußern ſich bei
dieſer Gelegenheit: „Der Aerger über das ſcheußliche Komödianten-
volk, mit dem er verkehren mußte, vorzüglich aber die unvermeid-
lichen Erkältungen während der Vorſtellungen, gaben ihm den
letzten Stoß.“ Er ſtarb 1793. Seine Gedenktafel in der Frieders-
dorfer Kirche fügt ſeinem Namen einfach die Worte hinzu: „Grad,
bieder, rechtſchaffen.“ So war er. Es ward ihm nicht gegeben,
zum Ruhm ſeiner Familie durch andere, als durch ſtille Thaten
beiſteuern zu können, aber was ihm verſagt blieb, wurde ſeinen
drei Söhnen um ſo reichlicher gewährt. Dieſe drei Söhne waren:
Auguſt Ludwig, Alexander und Eberhard. Nur dem Na-
men des Aelteſten begegnen wir in der Friedersdorfer Kirche. Ueber
der Eingangsthür, in ziemlicher Höhe vom Beſchauer, befindet ſich
ein reicher, in drei Felder getheilter Goldrahmen, in deſſen Mittel-
feld wir das Bildniß Auguſt Ludwigs von der Marwitz, rechts
und links aber die Bildniſſe ſeiner beiden Frauen erblicken. Er
war zweimal verheirathet; das Bildniß ſeiner erſten Frau, einer
geborenen Gräfin Brühl, zeichnet ſich durch einen Ausdruck ge-
winnender Liebenswürdigkeit aus und prägt ſich dem Gedächtniß
des Beſchauers ein.
Ueber den Charakter und reichen Lebensinhalt dieſes für die
Entwickelungs-Geſchichte unſeres Vaterlandes bedeutungsvollen
Mannes, ſpreche ich ausführlicher in dem folgenden Kapitel. Das
vorligende betrifft mehr die Dinge als die Perſonen, mehr das
[357]Kleid als den Mann. Aber auch dieſe Außendinge ſind nichts
Zufälliges; die Schale bildet ſich nach dem Kern, und dieſe Er-
wägung iſt es, die uns nach einem nochmaligen Umblick in der
ſchönen Kirche, in die Räume des Schloſſes zurückführt. Die hohe,
ſchwere Eichentreppe hinauf, treten wir alsbald in das Wohn- und
Arbeitszimmer Auguſt Ludwigs von der Marwitz, des Vaters des
gegenwärtigen Beſitzers, ein Zimmer, das uns auf den erſten Blick
die originelle Eigenart ſeines früheren Bewohners verräth. Die
Pietät gegen den Hingeſchiedenen, hat es in ſeiner ganzen Einrich-
tung ſo ziemlich unverändert erhalten.
Es iſt ein großer luftiger Raum, einfach in ſeinem Mobiliar
und nur an den Pfeilern der Fenſterwand mit Familienbildniſſen
geſchmückt, zumeiſt mit den Porträts derer, die wir als Zeit- und
Kampfgenoſſen des großen Königs bereits kennen gelernt haben.
Sein charakteriſtiſches Element erhält das Zimmer durch eine fort-
laufende Reihe von Wandſchränken, die ein an Thüren und Ab-
theilungen reiches Ganze bilden und wie eine Birkenmaſerpanelli-
rung die Wände des Zimmers umziehen. Hier entſtanden jene
Arbeiten, die, nach der Seite des Wiſſens und Talents nicht ver-
ächtlich, in hohem Maße hervorragen durch ihren Muth und ihre
Selbſtändigkeit und der Mittelpunkt für Beſtrebungen gewor-
den ſind, die ſich, nach langem Kampf gegen die herrſchende Strö-
mung, wenigſtens das Recht der Exiſtenz erobert haben.
Unſere Aufmerkſamkeit gehört aber in dieſem Momente nicht
der Wirkſamkeit des Mannes, ſondern dem Orte, an dem er
thätig war. Die Wandſchränke bergen in ihrer Tiefe den beſten
Theil jener mehrerwähnten Bibliothek, die der Hubertsburg-Mar-
witz dem Quintus Jcilius bändeweis im Spiele abgewonnen,
während die vielen Thürfelder die Umrahmung für ebenſo viele
Kupferſtiche bilden. Dieſe originelle Benutzung der Schrankthüren
zur Aufſtellung einer kleinen Kupferſtichgallerie macht einen eigen-
thümlichen und ſehr gefälligen Eindruck, der unter der Wahrneh-
mung wächst, daß die Auswahl der Stiche entſchieden mehr nach
kleinen Liebhabereien, als nach irgend welchem Kunſtprincip erfolgt
[358] iſt. Neben den Abenteuern des Donquixote begegnen wir ernſten
und heitern Scenen aus der Zeit der Befreiungskriege; alte fran-
zöſiſche Stiche und moderne Lithographien löſen ſich ab. Intereſ-
ſanter aber als dieſe Schränke ſelbſt iſt die bunte Reihenfolge von
Dingen, die auf dem Oberbrett derſelben, wie auf einer fortlau-
fenden Reihe von Conſolen ſtehen. Da haben wir, an die dunkle
Hinterwand des Zimmers gelehnt, zunächſt alte Familienporträts
aus dem Hauſe Holſtein-Beck, während am entgegengeſetzten Ende,
dem Fenſter zunächſt, ſich das lebensvolle Oelbild Georgs von
Derfflinger, des Sohns des berühmten Feldmarſchalls präſentirt.*)
Zwei Töchter des alten Reitergenerals waren an zwei Marwitze
verheirathet; dieß, wie die Nähe der Güter, mag es erklären, daß
ſich dieſes Porträt an dieſer Stelle befindet. Der Sohn Derff-
lingers ſtellt ſich auf dieſem Bilde als ein Mann von ſehr gefäl-
liger Erſcheinung dar, ein leuchtendes überaus freundliches Auge,
das an Seidlitz erinnert, wie man ihn auf dem bekannten Roß-
bachbilde ſieht. Er trägt die Uniform vom Dragonerregiment ſeines
Vaters, weiß mit rothen Aufſchlägen, und den Küraß unter dem
offen ſtehenden Rock.
Neben dieſem Porträt feſſeln zwei Kopfbedeckungen unſere
Aufmerkſamkeit: die eine ein Reitercasquet, die andere ein ſonder-
bar geformter breitkrämpiger ſchwarzer Wachstuchhut, deſſen nach
hinten zu herabhängende Krämpe an die Helgoländer Schifferhüte
erinnert. Auguſt Ludwig trug dieſen Hut in der Schlacht bei Jena,
die er, als Adjutant des Prinzen von Hohenlohe, an der Seite
dieſes unglücklichen Fürſten mitmachte und deren Verlauf und
Kataſtrophe er in einer meiſterhaften Darſtellung geſchildert hat.
Der Hut, zumal die aufrechtſtehende Vorderkrämpe, iſt von Kugeln
durchlöchert. Der elegante, reich mit Goldblech beſchlagene Reiter-
helm, der neben dieſem unſcheinbaren Wachstuchhute ſteht, iſt eines
[359] der Casquets, wie ſie die öſterreichiſchen Chevauxlegers im Kriege
von 1809 trugen. Das Frontſchild zeigt ein F. I. Dieſen Helm
trug Eberhard von der Marwitz, der jüngſte der drei Brüder,
in der Schlacht von Aspern, in der er, erſt achtzehn Jahre alt,
tödtlich verwundet wurde. Er ſtarb zu Nikolsburg in Mähren.
Seine ruhmvoll begonnene Laufbahn ſchloß ſich zu raſch, um
ausreichendes Material für eine eingehendere Biographie zu bieten:
nur in den Anmerkungen (vgl. daſelbſt) habe ich ſeiner in aller
Kürze gedacht. Dem reichen Lebensinhalt der beiden ältern Brü-
der aber, wenden wir uns nunmehr in den beiden folgenden
Kapiteln zu.
[[360]]
Friedrich Auguſt Ludwig von der Marwitz.
Die Marwitze haben dem Lande manchen braven Soldaten,
manchen feſten Charakter gegeben, keinen aber braver und feſter,
als Friedrich Auguſt Ludwig von der Marwitz, deſſen Leben und
Auftreten einen Wendepunkt in unſerem ſtaatlichen Leben bedeutet.
Erſt von Marwitzs Zeiten ab exiſtirt in unſerem Lande ein politi-
ſcher Meinungskampf, eine principielle Oppoſition. Das acht-
zehnte Jahrhundert mit ſeinem rocher de bronze hatte in mär-
kiſchen Landen überhaupt keinen Widerſtand, keine Auflehnung
irgend welcher Art gekannt, und die Oppoſition, die während der
drei vorhergehenden Jahrhunderte, von den Tagen der Quitzows
an bis zum Regierungsausgang des großen Kurfürſten exiſtirt
hatte, war einfach eine Oppoſition des Rechts oder der Selbſtſucht
geweſen. Ein Ideenkampf auf politiſchem Gebiet lag jenen Tagen
fern. Das geiſtige Leben der Reformationszeit und der Epoche,
die ihr folgte, lag innerhalb der Kirche. Erſt die franzöſiſche Re-
volution (die engliſche war ohne Einfluß auf unſer Land geblieben)
ſchuf politiſche Ideen und aus der Auflehnung gegen den ſiegreichen
Strom derſelben, aus dem ernſten Unternehmen (allerdings von einem
beſtimmten Rechtsfundament ausgehend), Idee mit Idee und gei-
ſtige Dinge mit geiſtigen Waffen bekämpfen zu wollen, gingen wahr-
haft politiſche Parteien und ein wirklich politiſches Leben hervor.
Derjenige, der vielleicht zuerſt den Muth hatte, dieſen Kampf
aufzunehmen, war Marwitz. Ich gedenke (zum Theil nach ſeinen
eigenen Worten und Aufzeichnungen) zunächſt die äußern Fakten
[361] ſeines Lebens und im Anſchluß daran eine Schilderung ſeines Cha-
rakters zu geben. Die gereifteren und deshalb ruhigeren Anſchau-
ungen, zu denen wir uns, zumal im Laufe der letzten zehn Jahre,
hindurch gearbeitet haben, geſtatten uns, mit Unbefangenheit an
die Schilderung eines Charakters wie der Marwitzſche zu gehen.
Wie viele auch, mit größerem oder geringerem Recht, beſtrebt ſein
mögen, die einzelnen Doktrinen des Conſervatismus zu bekämpfen,
das Princip ſelbſt iſt von jedem Denkenden anerkannt. Die Tage
des Kampfes ſind nicht vorbei und ſollen nicht vorbei ſein, denn
Kampf iſt Leben; aber die Tage der Verdächtigung ſind hoffentlich
vorüber. Wir wünſchen friſchen und freien Wind in den Segeln
unſeres Staatsſchiffs, aber wir brauchen auch den rettenden Anker,
der auf tiefem Grunde mit ſeinem Eiſenzahn uns feſthält, ſo oft
die friſche Briſe zum Sturme zu werden droht. Mit ſolchem Anker
und ſolchem Eiſenzahne haben wir es in Nachſtehendem zu thun.
Friedrich Auguſt Ludwig von der Marwitz wurde am 29. Mai
1777 zu Berlin geboren, wo ſeine Eltern (die nur den Sommer
in Friedersdorf zuzubringen pflegten) ein Palais in der Wilhelms-
ſtraße bewohnten. Das bedeutendſte Erlebniß ſeiner frühen Kinder-
jahre waren mehrmalige Begegnungen mit dem großen Könige,
das erſtemal in Dolgelin, einem Dorfe in der Nähe von Frieders-
dorf. Er ſelbſt hat dieſe Begegnung in höchſt anſchaulicher Weiſe
beſchrieben.
Der Wagen hielt und der König fragte: „Iſt das Dolgelin?“
— „Ja, Ihro Majeſtät“, lautete die Antwort. Dabei wurde um-
geſpannt. Die Bauern, welche von weitem ganz ſtill mit ehrerbie-
tig gezogenen Hüten ſtanden, kamen ſachte näher und ſchauten den
König begierig an. Eine alte Semmelfrau aus Lebbenichen nahm
mich auf den Arm und hob mich gerade am Wagenfenſter in die
Höhe. Ich war nun höchſtens eine Elle weit vom König entfernt,
und es war mir, als ob ich den lieben Gott anſähe. Er ſah ganz
gerade vor ſich hin durch das Vorderfenſter. Er hatte einen ganz
alten dreieckigen Montirungshut auf; deſſen hintere gerade Krempe
hatte er nach vorn geſetzt und die Schnüre losgemacht, ſo daß
[362] dieſe Krempe vorn herunter hing und ihn vor der Sonne ſchützte.
Die Hutcordons waren losgeriſſen und tanzten auf dieſer herun-
ter gelaſſenen Krempe umher, die weiße Generalsfeder am Hut
war zerriſſen und ſchmutzig, die einfache blaue Montirung mit ro-
then Aufſchlägen, Kragen und goldenem Achſelband alt und be-
ſtaubt, die gelbe Weſte voll Tabak; dazu hatte er ſchwarze Sammt-
hoſen an. Ich dachte immer, er würde mich anreden. Ich fürchtete
mich gar nicht, hatte aber ein unbeſchreibliches Gefühl von Ehr-
furcht. Er that es aber nicht, ſondern ſah immer gerade aus. Die
alte Frau konnte mich nicht lange hoch halten und ſetzte mich wie-
der herunter. Da ſah der König den Prediger, winkte ihn heran
und fragte, weſſen das Kind ſei? „Des Herrn von Marwitz auf
Friedersdorf.“ — „Iſt das der General?“ — „Nein, der Kam-
merherr.“ — Der König ſchwieg, denn er konnte die Kammer-
herrn nicht leiden.
Das zweite Mal (es war im Mai 1785) ſah unſer Mar-
witz den König in Berlin. Die Schilderung, die er uns davon
gegeben hat, iſt faſt noch plaſtiſcher als die vorhergehende.
„Er kam geritten auf einem großen weißen Pferde, ohne
Zweifel der alte Condé, der nachher noch zwanzig Jahre lang das
Gnadenbrod auf der école vétérinaire bekam. Sein Anzug war
derſelbe wie früher auf der Reiſe, nur daß der Hut ein wenig
beſſer conditionirt, ordentlich aufgeſchlagen und mit der Spitze nach
vorn, echt militäriſch aufgeſetzt war. Hinter ihm waren eine Menge
Generale, dann die Adjutanten, endlich die Reitknechte. Das ganze
Rondel (jetzt Belle-Alliance-Platz) und die Wilhelmsſtraße waren
gedrückt voll Menſchen, alle Fenſter voll, alle Häupter entblößt,
überall das tiefſte Schweigen, und auf allen Geſichtern ein Aus-
druck von Ehrfurcht und Vertrauen, wie zu dem gerechten Lenker
aller Schickſale. Der König ritt ganz allein vorn und grüßte, in-
dem er fortwährend den Hut abnahm. Er beobachtete dabei eine
ſehr merkwürdige Stufenfolge, je nachdem die aus den Fenſtern
ſich verneigenden Zuſchauer es zu verdienen ſchienen. Bald lüftete
er den Hut nur ein wenig, bald nahm er ihn vom Haupte und
[363] hielt ihn eine Zeit lang neben demſelben, bald ſenkte er ihn bis
zur Höhe des Ellbogens herab. Aber dieſe Bewegung dauerte fort-
während, und ſo wie er ſich bedeckt hatte, ſah er ſchon wieder an-
dere Leute und nahm den Hut wieder ab. Er hat ihn vom Halle-
ſchen Thore bis zur Kochſtraße gewiß 200mal abgenommen.
Durch dieſes ehrfurchtsvolle Schweigen tönte nur der Hufſchlag
der Pferde und das Geſchrei der Berliniſchen Gaſſenjungen, die vor ihm
her tanzten, jauchzten, die Mützen in die Luft warfen, oder neben
ihm herſprangen und ihm den Staub von den Stiefeln abwiſch-
ten. Bei dem Palais der Prinzeſſin Amalie angekommen (das jetzt
dem Prinzen Albrecht gehört), war die Menge noch dichter, denn
ſie erwartete ihn da. Er lenkte in den Hof hinein, die Flügelthü-
ren gingen auf und die alte, lahme Prinzeſſin Amalie, auf zwei
Damen geſtützt, die Oberhofmeiſterin hinter ihr, wankte die flachen
Stiegen hinab, ihm entgegen. So wie er ſie gewahr wurde, ſetzte
er ſich in Galopp, hielt, ſprang raſch vom Pferde, zog den Hut,
umarmte ſie, bot ihr den Arm und führte ſie die Treppe wieder
hinauf. Die Flügelthüren gingen zu, Alles war verſchwunden, und
noch ſtand die Menge, entblößten Hauptes, ſchweigend, alle Augen
auf den Fleck gerichtet, wo er verſchwunden war, und es dauerte
eine Weile, bis jeder ſich ſammelte und ruhig ſeines Weges ging.“
In ſeinem achten Jahre erhielt Marwitz einen Hofmeiſter. Er
hieß Herr Roſa, war ein völliger Ignorant, aber ein rechtſchaffener
Mann. Die Unterrichtsmethode, nach der er verfuhr, erwies ſich
als die einfachſte von der Welt, bewährte ſich aber durchaus.
Schroeckhs allgemeine Weltgeſchichte (um ein Beiſpiel für ſeine
Methode zu geben) wurde vorgeleſen, was ohngefähr ein Jahr
lang dauerte. War die letzte Seite geleſen, ſo wurde mit der erſten
wieder angefangen. Der Sonnabend gehörte der Repetition. Nach-
dem Marwitz ſeinen Schroeckh zweimal durch hatte, fingen dieſe
Repetitionsſtunden an eine Redeübung zu werden. Marwitz, mit
gutem Gedächtniß ausgerüſtet, hatte den Inhalt des Buches bei-
nahe wörtlich im Kopfe und ſah ſich dadurch in den Stand ge-
ſetzt, den Inhalt eines Kapitels wie eine Erzählung vorzutragen.
[364] Der Vortheil, der dadurch gewonnen wurde, war ein doppelter:
die Dinge ſaßen feſt fürs Leben und die Gewohnheit des Vor-
traghaltens gewann ihm (nach Marwitz’s eigenem Zeugniß) die
nicht hoch genug zu ſchätzende Fähigkeit, aus dem Stegreif zuſam-
menhängend reden zu können.
Dreizehn Jahr alt trat Marwitz als Junker in das Regiment
Gensdarmes, alſo in daſſelbe Regiment, in dem ſchon ſo viele
Marwitze (darunter zwei ſeiner Oheime) gedient und Ruhm und
Auszeichnung gefunden hatten. Dieſer Eintritt verſtand ſich ganz
von ſelbſt; an die Möglichkeit eines andern Berufs war im Va-
terhauſe nie gedacht worden. Marwitz hatte deſſen noch in ſeinen
alten Tagen Dank, denn wie wenig auch die Verhältniſſe ihm zu
Gunſt und Willen geweſen waren, immer blieb er dabei, daß das
Leben des Kriegers das ſchönſte und der Krieg der Prüfſtein des
Mannes ſei. In etwas einſeitiger, aber charakteriſtiſcher Auffaſſung
ſchrieb er darüber noch kurz vor ſeinem Tode: „Zu vieles Lernen
ertödtet den Charakter. Im Kriege nur fallen all die Künſte weg,
welche den Schein an die Stelle des Verdienſtes ſetzen. Dieſe
Eigenheit des Krieges wird nicht genugſam erkannt. Blick und
Urtheil unter erſchwerenden Umſtänden, Tapferkeit und Ausdauer
können nirgends anders als im Kriege gezeigt und erprobt wer-
den. Nur hier kann man mit Sicherheit auf den Charakter des
Menſchen ſchließen.“
Marwitz war alſo Junker im Regiment Gensdarmes. Wie er
zeitlebens alles ernſt nahm, ſo auch den Dienſt. Der noch knaben-
hafte Körper mußte dem ſtarken Willen gehorchen, und der Junker
avancirte zum Cornet und Offizier. Klein wie er war, machte ihm
das Reitenlernen die größte Schwierigkeit, aber je mehr er dieſe
Schwierigkeit empfand, deſto mehr war er beſtrebt, ſie zu überwin-
den. Zu jeder Tageszeit ſaß er zu Pferde, gab aufs genauſte bei
denen Acht, die als die beſten Lehrer und Stallmeiſter galten, und
fragte, verſuchte und quälte ſich ſo lange, bis er endlich völlig
triumphirte und zu einem der beſten Reiter des Regiments wurde.
Das wollte damals etwas ſagen; denn wenn man den Erzählun-
[365] gen und Berichten Glauben ſchenken darf, die Marwitz über dieſen
Gegenſtand, dem er auch in ſpäterer Zeit noch beſondere Aufmerk-
ſamkeit widmete, hinterlaſſen hat, ſo war die Kunſt des Reitens
nur in der alten Armee zu Hauſe und wurde in die neue Hee-
resorganiſation nicht mit herüber genommen. Während des Krieges
und nach demſelben ſaß man noch zu Pferde, aber man ritt
nicht mehr. Mit wahrer Begeiſterung gedachte deshalb Marwitz
ſeiner Lieutenantstage, wo dieſe Kunſt noch geblüht hatte, und er-
zählte mit Vorliebe von den Jagdſpielen, die damals von Kaval-
lerieoffizieren der Berliner Garniſon im Thiergarten aufgeführt
wurden. Lieutenant Rothkirch von den Gensdarmen („ein gewalti-
ger Reiter, wie es keinen mehr giebt“, ſetzt er hinzu) machte den
Hirſch und verbarg ſich im Walde; die andern waren Jäger und
Hunde. Es wurde parforcemäßig lancirt und dann gejagt; der
Hirſch ſollte gegriffen werden, was aber faſt niemals gelang.
Das letzte Jahrzehnt des Jahrhunderts brachte Krieg, Mar-
witz machte 1790 den reſultatloſen polniſchen Feldzug, 1793—95
die Rheincampagne mit; wichtiger aber als dieſe Kriegsereigniſſe,
an denen er bei ſeiner Jugend keinen hervorragenden Antheil neh-
men konnte, war für ihn, beſonders für ſeine geiſtige Entwicklung,
die Rückkehr des Oberſten Barons von der Goltz, der eine lange
Reihe von Jahren hindurch, in Paris als preußiſcher Geſandter
gelebt hatte. Baron von der Goltz war ein ſehr naher Verwandter
der Marwitzſchen Familie, und da, während ſeiner beinahe dreißig-
jährigen Anweſenheit in Paris, die Reihen der Berliner Freunde
und Verwandten ſehr gelichtet worden waren, ſo war das Mar-
witzſche Haus dasjenige, in dem er faſt täglich die Abende zuzu-
bringen pflegte. Die franzöſiſche Revolution und ihre Urſachen bil-
deten natürlich einen unerſchöpflichen Stoff für die Unterhaltung.
Der ehemalige Geſandte, der ein Vierteljahrhundert und länger
den Ereigniſſen der franzöſiſchen Hauptſtadt gefolgt war und mit
ſcharfem Auge die Schwächen und Fehler des Hofes, die Machi-
nationen der politiſchen Gegner und die Verworfenheit, Keckheit
und dämoniſche Zuchtloſigkeit der Volksmaſſen und ihrer Führer
[366] beobachtet hatte, war natürlich ſchon damals befähigt, Aufſchlüſſe
über die Triebfedern und eine Geſammtdarſtellung des großen Er-
eigniſſes zu geben, wie es der Geſchichtſchreibung, die einen Wuſt
von traditioneller Lobpreiſung zu überwinden hatte, erſt in viel
ſpäteren Jahren möglich geworden iſt. Er hatte alle kleinen und
ſchlechten Leidenſchaften in dem Hexenkeſſel thätig geſehen und mußte
natürlich, durch die Lebendigkeit ſeiner Schilderungen und die
Ueberlegenheit ſeines politiſchen Urtheils, Anſchauungen befeſtigen,
zu denen die Keime ohnehin von Anfang an im Gemüth unſeres
Marwitz gelegen hatten. Er war von Natur Royaliſt, von da ab
begann er es auch mit Bewußtſein zu werden.
Noch zehn Jahre lang blieb Marwitz beim Regiment, endlich
(der Vater auf Friedersdorf war inzwiſchen geſtorben) nahm er im
Auguſt 1802 ſeinen Abſchied. Was ihn direkt dazu beſtimmte, iſt
ſchwer zu ſagen. Waren es Vorgänge im Regiment, die ihm den
Dienſt verleideten, war es der frivole Ton der Reſidenz, der ſei-
nem auf Ernſt und Wahrheit geſtellten Weſen widerſtand, oder
war es ſeine Verlobung mit der ſchönen Gräfin Franziska von
Brühl, die im Juli deſſelben Jahres ſtattgefunden hatte, gleichviel,
er quittirte den Dienſt und zog ſich nach Friedersdorf zurück. Die
Sehnſucht nach der väterlichen Scholle war erwacht; der Pflug
trat an die Stelle des Schwertes. Sein ganzes Weſen ließ keine
Halbheit zu, und mit demſelben Ernſt, mit dem er Soldat gewe-
ſen war, ging er jetzt an die Beſtellung ſeiner Aecker, an die
Pflege ſeines Guts. 1803 vermählte er ſich, aber trübe Sterne
waren über Schloß Friedersdorf aufgegangen und der Tod trennte
nach kaum Jahresfriſt ein Band, das die innigſte gegenſeitige Nei-
gung geſchloſſen hatte. Marwitz beſtattete die geliebte Frau, die
ſein Stolz und ſein Glück geweſen war und ſchrieb auf den Grab-
ſtein: „Hier ruhet mein Glück.“
„Hier ruhet mein Glück,“ und in der That, es war, als
habe Marwitz ſein Glück begraben. Ueberall, wo ſein Herz am ver-
wundbarſten war, da wurde es verwundet. Was von dem Gang
der großen Weltereigniſſe in ſeine Einſamkeit drang, ſteigerte nur
[367] die Niedergedrücktheit ſeines Gemüths. Endlich kam ein großer
Schlag, und die politiſchen Vorgänge, die bis dahin nur Bitteres
zu Bitterem gefügt hatten, jetzt ſchufen ſie einen leidenſchaftlichen
Groll in ſeinem Herzen, und die Flamme hellen Zorns, die auf-
ſchlug, wurde ihm zum Gegen, indem ſie ihn ſeinem Brüten entriß.
Der napoleoniſche Uebermuth hatte Schmach auf Schmach
gehäuft, neutrales preußiſches Gebiet (Anſpach) war in herausfor-
dernder Weiſe verletzt worden; das durfte, das konnte nicht getra-
gen werden. Oeſterreich und Rußland ſtanden bereits im Felde;
Preußen mußte ſeine Truppen zum Heere beider ſtoßen laſſen, der
Krieg war ſicher — wenigſtens in Marwitz’s Augen. Er riß ſich
heraus, ſuchte beim König ſeinen Wiedereintritt nach, erhielt ihn
und wurde, mit dem Range eines Rittmeiſters, zum Adjutanten
des Fürſten von Hohenlohe ernannt.
Aber nicht Jeder in preußiſchen Landen war damals ein
Marwitz. Viele wurden durch Furcht und ſelbſtſüchtige Bequem-
lichkeit in ihren Anſichten beſtimmt, andere trieben das traurige
Geſchäft der „Staatskünſtelei.“ Noch viele Jahre ſpäter konnte
Marwitz in nur zu gerechtfertigtem Unmuth ausrufen: „Was redet
man beſtändig von dem edlen Enthuſiasmus von 1813? 1805
war es Zeit, edlen Enthuſiasmus zu zeigen. Damals galt es,
noch ehe man ſelbſt, in Großem und Kleinen, etwas verloren hatte,
Schmach und Verderben vom Vaterlande fern zu halten. Wie
nachher, zur gerechten Strafe, ein Jeder in ſeinem Hauſe geplagt
und gepeinigt und, um ein Weſentliches nicht zu vergeſſen, die
franzöſiſche Armee in Rußland durch die Strafgerichte Gottes ver-
nichtet war — da war es keine Kunſt, Enthuſiasmus zu zeigen.“
Der Tag von Auſterlitz brach an, ehe Preußen ſich entſchloſ-
ſen hatte; nach dieſem Tage war es unnöthig, noch kriegeriſche
Entſchlüſſe zu faſſen. Es blieb Friede (freilich ein Friede wie Ge-
witterſchwüle), und Marwitz, nachdem er zum zweitenmale ſeinen
Abſchied genommen, kehrte nach dem väterlichen Gute zurück.
Die Erfahrungen der letzten Monate, die Schwäche, die Halb-
heit, die Indifferenz, ja die ausgeſprochene franzöſiſche Geſinnung,
[368] der er faſt überall in der Hauptſtadt begegnet war, während ſchon
die napoleoniſchen Adler, ſtoßbereit, über Preußen ſchwebten, alles
das hatte wenig dazu beitragen können, ſeinem Gemüth den Muth
und die Freudigkeit zurückzugeben, die ihn zehn Jahre früher er-
füllt hatten, wenn er bei „Hirſch und Jäger“ im Berliner Thier-
garten einer der eifrigſten geweſen war. Trübes Gewölk hing jetzt
über ihm, und wenn auf länger oder kürzer das Wetter verſchwun-
den ſchien, das drohend über dem Lande ſtand, ſo traf es ihn
doppelt hart am eigenen Herd. Das Kriegsfeuer, das die Luft
hätte reinigen können, war dem Lande zur Unzeit erſpart worden,
aber auf ſeinem eigenen Hofe brach ein Feuer aus und zerſtörte
Ställe und Scheunen und die Ernte des letzten Jahres. Zu der
innerlichen Noth geſellte ſich die äußere Bedrängniß; was ihn
aufrecht hielt, war ein ſtarkes Gottvertrauen und das beſtimmte
Gefühl, daß neue Noth und neue Kämpfe bevorſtünden, gegen die
es geboten ſei, ſich zu waffnen. Das Unglück, das ihn traf, rüſtete
ihn gegen größeres.
Dieſes „größere“, wer kennt es nicht! Die Kaiſerkatze, die ſo
lange mit der Maus geſpielt hatte, jetzt war ſie des Spieles müde
und hob die Tatze, um tödtlich zu treffen. Der Kampf war un-
vermeidlich geworden. Zum dritten Mal trat Marwitz ein; er
hoffte nichts, aber gleichviel, er liebte es, da zu ſtehen, wohin ihn
Pflicht und Ehre ſtellten, unbekümmert darum, ob ihm auch die
Hoffnung zur Seite ſtehe oder nicht. Fürſt Hohenlohe, der ihn
ſchätzen gelernt hatte, erbat ihn ſich abermals als Adjutanten. Der
König willigte ein. So kam der Nebelmorgen jenes vierzehnten
Oktober, der ſo viel Schmach und Elend in ſeinen Schleiern barg.
An Marwitz lag es nicht, daß der Ausgang des Tages war, wie
er war; das Pferd wurde ihm unterm Leibe getödtet, ſein Hut von
Kugeln durchlöchert, mehr als einmal führte er wankende Regi-
menter in die Schlachtreihe zurück, — umſonſt, die Anſtrengungen
der Einzelnen vermochten nichts. Geiſt, Leben, Siegeszuverſicht
waren, wie aus Land und Volk überhaupt, ſo auch aus jener
ſtolzen Schöpfung gewichen, die ſich die Armee Friedrichs des Gro-
[369] ßen nannte, und was längſt todt war, wurde an jenem Tage ſicht-
lich zu den Todten geworfen. Die geſunden Elemente, ſo weit ſie
jener Tag nicht mit begrub, retteten ſich in eine neue Zeit hinüber.
Iſt es nöthig zu ſagen, daß Marwitz unter dieſen geſunden
Elementen war? Er glaubte an die Wiedererſtehung Preußens und
arbeitete daran. Die Mittel und Wege, die ihm dazu die rechten
dünkten, waren freilich völlig abweichend von dem, was in den
Augen der Neugeſtalter Preußens als das Richtige galt. Er konnte
und wollte ſich nicht überzeugen, daß Adel und Bürgerthum als
ſolche, oder ihr Verhältniß zu einander, das Unglück des Landes
verſchuldet haben ſollten, umgekehrt erſchien es ihm, als ſei das
Unheil hereingebrochen, weil beide Stände ein halbes Jahrhundert
lang aufgehört hatten, ein ächter Adel, *) ein rechter Bürgerſtand
zu ſein. Die alten Stände des Landes ſollten ſich ſelber wieder-
finden; der Egoismus ſollte ausgefegt, die Zugehörigkeit zum
Staat und das Bewußtſein davon neu geboren werden. An die
Stelle des Schlendrian und der Laxheit ſollte Umſicht, Pflichtge-
24
[370] fühl und Rechtsbewußtſein, an die Stelle der Frivolität eine friſche
Glaubenskraft treten. In dieſem Sinne wollte Marwitz reformiren.
Gegen den Plan wird ſich nichts ſagen laſſen; ob es möglich war,
ihn auszuführen, dieſe Frage werde ich ſpäter berühren. Die Stein-
ſche Geſetzgebung erſchien ihm unpraktiſch und revolutionär, aber
er reſpektirte ſie in ſo weit, als ſie die Gebrechen des alten Staats
in dem Fehlen alles geiſtigen Lebens und Inhalts erkannte und
durch geiſtige Mittel helfen wollte. Nur die Mittel ſelbſt ſchienen
ihm nicht richtig gewählt.
Marwitz liebte den rheiniſchen Freiherrn (Stein) nicht, aber
er reſpektirte ihn. Anders ſtand er zu Hardenberg. Dieſer war ihm
ein Gegenſtand entſchiedenſter Abneigung, ſeine ganze Natur lehnte
ſich gegen ihn auf. Hardenberg, im Gegenſatz zu Stein, wollte
das Wohl des Staats aus der ſogenannten „Staatswohlfahrt“
gewinnen. Nicht der Geiſt ſollte helfen, ſondern das Geld. Dieſen
Staatswohlfahrtstheorien gegenüber — die in der finanziellen Be-
drängniß des Landes ihre Entſchuldigung fanden, wenn ſie über-
haupt der Entſchuldigung bedürfen — legte ſich Marwitz die Frage
vor: beruht das Heil des Staates auf ökonomiſchen oder auf
moraliſchen Prinzipien? Iſt der reichſte Staat ſeines Reichthums
wegen der glücklichſte? Oder verdient der glücklich genannt zu
werden, in welchem die Freiheit der Bürger am feſteſten gegründet
iſt, und in welchem die Bürger am eheſten fähig ſind, ihr perſön-
liches Wohl dem des Staates nachzuſetzen? Und wenn ein Staat
durch die Unbürgerlichkeit ſeiner Bürger (Adel, Bürger, Bauer)
gefallen iſt, kann ihm durch ökonomiſche Maßregeln geholfen wer-
den? Wird es nicht vielmehr darauf ankommen, ob man das
verlaſſene, das abgefallene Volk zur Bürgerlichkeit wieder zurück-
führen könne oder nicht? Wenn man endlich den entbürgerten,
alſo ſelbſtſüchtigen Individuen Reichthum darreicht, werden ſie da-
durch bürgerlicher werden oder noch ſelbſtſüchtiger? Dieſe Fragen
waren es, die ſein Herz bewegten, und im Sinn und Geiſt der-
ſelben ſtellte er ſich Hardenberg gegenüber.
Möglich, daß dieſe Ideen nie über Schloß Friedersdorf hin-
[371] aus laut geworden, nirgends als ein Saatkorn in die Gemüther
anderer gefallen wären, wenn nicht beſtimmte Ereigniſſe des Jah-
res 1811 unſern Marwitz auf die Schaubühne gerufen und in
den Vordergrund politiſcher Kämpfe, welche er ſelbſt in’s Leben
rief, geſtellt hätten. Wie es immer in ſolchen Fällen ſein muß,
ging er, der den Streit aufnahm, vom zunächſt Liegenden auf
das Große und Allgemeine über. Der Rechtskampf führte
zum Prinzipienkampf. So war es immer, wo Ernſtes und
Nachhaltiges erſtritten wurde. Das bloße ſich Verlieben in Prin-
zipien, ſo oder ſo, bleibt ein energieloſes Ding; erſt aus dem Ge-
fühl verletzten Rechtes geht der heilige Ernſt des Kampfes hervor.
Die erwähnten Ereigniſſe aber, die für Marwitz’s ſpäteres
Auftreten entſcheidend wurden, waren die folgenden.
Hardenberg war entſchloſſen, die Macht der Stände zu bre-
chen, ihre Exiſtenz zu ſtreichen, Schlag auf Schlag fiel gegen die
alte Landesinſtitution. Er verfuhr nach beſter Ueberzeugung, aber
völlig revolutionär, alles mit dem Zwang und Drang der Um-
ſtände (nicht ohne Grund) oder mit einer höheren Staatsraiſon
entſchuldigend. Aeußerſte Dinge geſchahen. Königliche Domänen,
die an die Stände verkauft waren, alſo für ſtändiſches Geld ſtän-
diſches Eigenthum geworden waren, wurden zum zweitenmal an
Privatleute verkauft; ein großer ſtändiſcher Fonds, den die Stände
unter Friedrich II. aus politiſchem Eifer gebildet hatten, um die
endliche Tilgung landesherrlicher Schulden herbeiführen zu
können, wurde eingezogen, aber nichts deſto weniger die Pflicht der
Schuldentilgung und Verzinſung bei den Ständen belaſſen; end-
lich drangen Regierungsbeamte in Begleitung von Landreitern in
das Landſchaftshaus ein, erbrachen, als man ihnen die Schlüſſel
verweigerte, die Kaſſen des Landarmeninſtituts und führten die
deponirten Summen ſtändiſchen Eigenthums gewaltſam fort. Dies
alles war geſchehen gegen Recht und Billigkeit, ja im Widerſpruch
mit einer Anerkenntniß, die man erſt vier Monate früher gegen
die Loyalität und Opferfreudigkeit der Stände ausgeſprochen hatte.
Damals hatte es wörtlich, in einem von Hardenberg contraſignirten
24*
[372] Erlaß geheißen: „Mit Rührung haben wir die Beweiſe von
Anhänglichkeit aller Klaſſen unſerer getreuen Unterthanen an Unſere
Perſon bemerkt, inſonderheit auch die Hülfe erkannt, welche
uns, bei der Sicherſtellung der Contribution an Frankreich und
bei der Aufbringung der einſtweilen nöthigen Fonds, von unſern
getreuen Ständen mit größter Bereitwilligkeit geleiſtet
worden iſt.“ — Und [nun]? mit Gewaltmaßregeln hatte man ge-
glaubt, der weiteren Hülfebereitſchaft der Stände nachhelfen zu
müſſen. Die Gewalt lag vor. Viele empfanden die Unbill, die
Bitterkeit des Unrechts, aber wenige hatten den Muth, auszuſpre-
chen, was ſie fühlten. Unter dieſen wenigen ſtand Marwitz obenan.
Er war der bewußteſte und der ſelbſtſuchtsloſeſte, er konnte ener-
giſcher auftreten als andere, weil er im eigenen Herzen empfand,
daß er den Kampf nicht um äußern Vortheils, nicht um einer
„Kaſſe“ willen aufnahm, ſondern um des Rechtes willen.
Er ſtellte ſich an die Spitze der Lebuſiſchen Stände und
proteſtirte. Er bat nicht, er bettelte nicht, er betonte das ſtän-
diſche Recht. Das war dem Miniſter zu viel; er wollte das
Wort nicht hören. Je mehr er fühlen mochte, wie ſchwer der be-
gangene Rechtsbruch ſei, deſto mehr empfand er die Nothwendig-
keit, die Klage ſtumm zu machen. Einſchüchterung ſollte helfen.
Marwitz und Graf Finkenſtein, die den Proteſt abgefaßt hatten,
wurden zu „warnendem Exempel“ auf die Feſtung Spandau ge-
ſchickt. Das Kammergericht ſelbſt, als öffentlicher Ankläger auftre-
tend, verfügte die Verhaftung beider, ohne daß ein Verhör oder
eine wirkliche Gerichtsverhandlung ſtattgefunden hätte. So war
denn auch der Anruf der Gerichte den vorweg Verurtheilten ab-
geſchnitten. *)
[373]
Dies entſchied für Marwitz’s Lebenszeit, und vor ſeiner Seele
ſtand von jetzt an das aide toi même. Das alte gekränkte Recht
des Landes, den ſtändiſchen Staat, der nicht auf dem Wege Rech-
tens beſeitigt war, gegen jeden Angriff zu halten, wurde von
nun an ſeine Aufgabe, ſein letztes Ziel. Da andere Schultern zu
ſchwach oder zu träge waren, die Laſt auf ſich zu nehmen, ſo that
er es. Den offenen Widerſtand gab er auf, aber er ſchärfte ſich
die Waffen des Geiſtes für einen kommenden Kampf, und die
Schwächen der Hardenbergſchen Verwaltung ſind vielleicht nirgends
klarer und ſcharfſinniger erkannt und rückſichtsloſer aufgedeckt wor-
den, als in den ziemlich zahlreichen Denkſchriften Marwitzens, die
wir jener Epoche ſtiller, aber energiſcher Gegnerſchaft verdanken.
Es ſind Muſterſtücke nach der kritiſchen Seite hin, auch an Ideen
iſt kein Mangel; aber um praktiſch-unmittelbar zu helfen,
dazu waren dieſe Ideen zu allgemeiner Natur und ihr Beſtes iſt
die ideelle Anregung geblieben, die ſie in reichem Maaße gege-
ben haben.
Marwitz’s Gefangenhaltung hatte im Juli 1811 ſtattgefun-
den. Mehr gehoben als gedemüthigt war er nach Friedersdorf
zurückgekehrt, voll des Gefühls, einen guten Kampf gekämpft zu
haben. Mit gerechtem Selbſtbewußiſein ſchrieb er ſpäter die Worte
nieder: „Ich genoß ſeitdem eine weit verbreitetere Achtung und
ward von allen Erbärmlichen geflohen als einer, in deſſen Nähe
man ſich leicht verbrennen kann.“
So kam der Winter 12 auf 13. Die franzöſiſche Armee
war vernichtet. Marſchall Macdonald hatte ausgerufen: „Où est
la grande armée? La grande armée, c’est le dixième
corps.“ Die berühmte Capitulation von Tauroggen war geſchloſ-
ſen; Alexander von der Marwitz, der jüngere Bruder, der damals
*)
[374] in Potsdam lebte, brachte die Nachricht in fliegender Eile nach
Friedersdorf. „Jetzt oder nie!“ Beide Brüder waren einig, daß
ein raſches und entſchiedenes Parteiergreifen die Vernichtung des
kaiſerlichen Heeres, den Sturz Napoleons nothwendig im Gefolge
haben müſſe; aber man war auch einig darin, daß es zweifelhaft
ſei, ob man in Berlin zu einem entſchiedenen Parteiergreifen ſich
entſchließen werde. Der jüngere Bruder drang in den älteren,
Schritte zu dieſem Zwecke zu thun, raſche Entſchlüſſe zu fördern,
die Schwankenden feſt zu machen. „Du mußt nach Berlin, zu —
Hardenberg.“ Marwitz ſtutzte; der Bruder aber mit ſiegender Be-
redſamkeit fuhr fort: „Dies iſt kein Moment der Abwägungen;
eile! Hardenberg iſt beſtimmbar und in Einem ehrlich — in ſei-
nem Haß gegen Frankreich. Vielleicht bedarf er nur eines Anſtoßes;
ſchon dein Erſcheinen nach der unwürdigen Behandlung, die du
von ihm erfahren und die du mit Würde getragen, wird einen
tiefen Eindruck auf ihn machen. Es muß wirken; viel iſt gewon-
nen, ſobald du mit eingreifſt.“
Marwitz ging wirklich. Er ließ ſich melden und trat ein. Dieſe
merkwürdige Begegnung mit ſeinem alten Gegner hat er ſelbſt be-
ſchrieben. „Ich kann nicht ſagen, welchen Eindruck mein Eintritt
auf ihn machte, Erinnerung deſſen, was er mir und andern per-
ſönlich ſo oft verſprochen und nicht gehalten hatte, Scham über
ſein Betragen gegen das Land und gegen mich, und das Beſtreben,
in dieſem hochwichtigen Moment mir nicht abermals nichtswürdig
zu erſcheinen, brachten in ſeinem Betragen eine ſeltſame Miſchung
von Verlegenheit und zuvorkommender Höflichkeit hervor. Ich ſagte
ihm: der gegenwärtige Augenblick müſſe jeden Preußen und jeden
Deutſchen ergreifen; jetzt komme es darauf an, den Schaden wie-
der gut zu machen, den man dem Lande zugefügt; wenn die Re-
gierung ſich jetzt würdig betrage, werde alles Vergangene vergeſſen
werden. Ich käme alſo, um zu vernehmen, wie er denke, und um
zu allem Vaterländiſchen die Hand zu bieten.“
Aber Marwitz ſah ſich wieder getäuſcht — nicht raſcher, ehr-
licher Kampf war es, was man wollte, wieder wurde von Abwar-
ten, von Verhandlungen geſprochen; mit Bitterkeit im Herzen kehrte
[375] er nach Friedersdorf zurück. „Kein Krieg!“ ſchien die Loſung ſein
und bleiben zu wollen.
Doch der Himmel hatte es anders beſchloſſen; es wurde Krieg.
Sechs koſtbare Wochen waren verſäumt, viel war verloren, aber
nicht alles; noch war es nicht zu ſpät. Brauch’ ich zu erzählen,
daß Marwitz wieder zu den Fahnen eilte! Noch weit bitterere Krän-
kungen und Erfahrungen hätten es nicht vermocht, ihn in ſolchem
Augenblick in ſeiner Einſamkeit zurück zu halten.
Mit dem Range eines Majors trat er ein und wurde Anfang
April mit der Bildung einer Landwehrbrigade betraut. Dieſe Bri-
gade beſtand aus vier Bataillonen des dritten kurmärkiſchen Land-
wehrinfanterie-Regiments und aus eben ſo viel Schwadronen Land-
wehrkavallerie. Selber mit Eifer und Vorliebe Kavalleriſt, ließ er
ſich die Ausbildung dieſer vier Schwadronen beſonders angelegen
ſein. Mit jenem geſunden Sinn, der ihn immer ausgezeichnet hatte,
erkannte er auf der Stelle, daß hier unter „Ausbildung“ etwas
anderes verſtanden werden müſſe, als das Reit- und Exercierregle-
ment in langen Paragraphen vorſchrieb. Was er that, auch auf
dieſem relativ untergeordnetem Gebiet (denn es handelte ſich dabei
um höchſtens vierhundert Reiter), ſcheint mir wichtig und charakte-
riſtiſch genug, um einen Augenblick dabei zu verweilen. Die Raſch-
heit und Selbſtſtändigkeit des Urtheils, die jeder neuen Situation
auch ein neues Benehmen anzupaſſen weiß, das iſt es ja vor allem,
was den fähigen Offizier von dem blos braven Soldaten unter-
ſcheidet, und in ähnlicher Weiſe, wie einſt Lieutenant von dem
Kneſebeck während des Feldzugs in der Champagne einen halben
Brodtransport dadurch zu retten gewußt hatte, daß er nicht An-
ſtand nahm, die andere Hälfte (ein paar tauſend Commisbrode)
in einen ſonſt unpaſſirbaren Sumpf zu verſenken, ſo war auch
Marwitz, ſeiner Landwehrkavallerie gegenüber, raſch entſchloſſen, das
erreichbar Unvollkommene einer unerreichbaren Vollkommenheit vor-
zuziehen. So ſehr er die Reitkunſt verehrte und als unentbehrlich
für eine echte, eigentliche Reiterei betrachtete, ſo klar erkannte er
doch auch, daß unter den gegebenen Verhältniſſen dieſe Reitkunſt
[376] nicht gehegt und gepflegt werden konnte, ohne alles zu verderben.
Die Landleute und Bauernknechte, die auf ihren kleinen, magern
Gäulen vor ihm im Sattel ſaßen, konnten reiten, freilich ſchlecht
genug; aber gut oder ſchlecht, er hielt es für das beſte, ſie bei
ihrer Reitart zu belaſſen. Er ſagte ſich ſehr richtig, daß wenn ein
Naturaliſt zur Reitkunſt dreſſirt werden ſoll, er Anfangs noth-
wendig ſchlechter und ungeſchickter reitet als vorher, weil er ſeine
alten Gewohnheiten aufgeben ſoll und ſich die neuen nicht ſchnell
genug zu eigen machen kann. So ließ er es denn beim Alten, be-
fahl die Pferde mit bloßer Trenſe zu zäumen, gab jedem Reiter
einen Kantſchu ſtatt der Sporen und beſchränkte ſeine ganze For-
derung darauf, daß Jeder im Stande ſei, dahin zu reiten, wohin
er wolle. „Gewalt über das Pferd“ war die einzige Forderung;
wie und durch welche Mittel war gleichgültig.
Mit dieſer Reiterei, die, abgeſehen von der Lanze und einem
ärmlichen Uniformſtück, nicht viel anders ausſehen mochte als
Bauernjungen und Pferdeknechte, die Abends zur Tränke reiten,
war Marwitz, weil er den Geiſt zu wecken gewußt hatte, nichts-
deſtoweniger im Stande, am 7. Juni ein ſiegreiches Gefecht vor
den Thoren Wittenbergs zu beſtehen und eine Abtheilung polni-
ſcher Uhlanen (bekanntlich eine berühmte Reitertruppe) zu werfen
und Gefangene zu machen. Eine Paradetruppe waren ſeine Land-
wehrreiter freilich nicht, und als während des Waffenſtillſtandes
auf dem Tempelhofer Berge eine große Muſterung vor dem Kö-
nige ſtattfand, ging das ganze Regiment, deſſen kleine Klepper An-
geſichts der Zuſchauermenge ſcheu wurden, bis auf den letzten
Mann durch. Was der Anblick des Feindes nicht vermocht hatte,
vermochte der Anblick der Berliner Beaumonde. Der König ritt
an Marwitz heran und ſagte lächelnd: „Ein Glück, daß die Mauer
ſo feſt ſtand.“ Der Spott war empfindlich; Marwitz aber blieb
unerſchütterlich bei ſeinem Syſtem.
Und mit Recht. Wie ſeine Leute ſich bei Wittenberg bereits
bewährt hatten, ſo vor allem auch am 27. Auguſt in dem berühmt
gewordenen Gefecht bei Hagelsberg (bei Belzig). Den Ausſchlag
[377] an dieſem Tage gab freilich das Fußvolk. Es traf ſich glücklich für
unſern Marwitz, der an dieſem Tage die Reſerve commandirte,
daß er mit ſeinen drei Bataillonen die ſchon verlorene Schlacht
zum Stehen bringen und endlich ſiegreich hinausführen konnte.
Den entſcheidenden Stoß that ſein Lebuſer Bataillon (Frieders-
dorf liegt im Lande Lebus), was zu der Freude, die er an die-
ſem Tage über die tapfere Haltung ſeiner ganzen Brigade em-
pfand, auch noch eine gewiſſe lokalpatriotiſche Befriedigung fügte.
Die Verluſte ſeines Truppentheils waren nicht unbedeutend gewe-
ſen, er ſelbſt kam geſund heraus und erhielt nur, ähnlich wie bei
Jena, wo ſein Hut mehrfach durchlöchert worden war, eine Kugel
durch den Mantel.
Das Gefecht von Hagelsberg war während des Feldzugs von
1813 und 14 das einzige, wo es, wenn wir von einer Reihe
glücklich ausgeführter Streifzüge abſehen, Marwitz vergönnt war,
ſich perſönlich und in mehr oder minder entſcheidender Weiſe her-
vorzuthun. Die Einſchließung Magdeburgs, wozu auch ſeine Bri-
gade verwendet wurde, hielt ihn vom großen Kriegsſchauplatz fern.
1815 war er bei der Blücherſchen Armee und focht mit Auszeich-
nung bei Ligny und Wavre. Bei Wavre, wo ſo viel auf dem
Spiele ſtand, hielt er mit dem achten Uhlanenregiment während
des ganzen 19. Juni den exponirteſten Poſten. Er hatte das
Seine gethan; an mäßige oder zögernde Anerkennung war er
gewöhnt.
Der Friede kam und in Marwitz, der inzwiſchen zum Ober-
ſten (1817 zum General) aufgeſtiegen war, entſtand die Frage:
bleiben oder gehen. Die Neigung ſeines Herzens zog ihn zurück
in die ländliche Stille, aber andere Erwägungen — „das ſchlech-
teſte aller Motive, das Geld,“ wie er ſich ſelbſt ausdrückt — hiel-
ten ihn bei der Armee. Während der Kriegsjahre war daheim
alles rückwärts gegangen, der Wohlſtand zerſtört, die Erträge des
Guts auf ein Minimum reducirt; ſo blieb er denn, weil er ſich gegen
Frau und Kinder verpflichtet hielt, ſeinen Generalsgehalt nicht ohne
Nöthigung aufzugeben. Möglich, daß er doch darauf verzichtet hätte,
[378] wenn nicht die Kavalleriebrigade, deren Commando er hatte, ihre
Garniſonen in den Nachbarſtädten des Lebuſiſchen Kreiſes gehabt
hätte, ſo daß es ihm möglich wurde, von Friedersdorf aus die
dienſtlichen Geſchäfte zu leiten. Zu gleicher Zeit blieb er ein ſchar-
fer Beobachter der politiſchen Vorgänge, immer bereit, mit Wort
und Schrift einzugreifen, wo es nöthig war, im Dienſt der con-
ſervativen Sache (zumal gegen Hardenberg) ein Zeugniß abzu-
legen.
Zehn Jahre lang führte er die Brigade. 1827, als ihn der
Zuſammentritt des brandenburgiſchen Landtags nach Berlin führte,
dem er als Vertreter des erkrankten Landtagmarſchalls zu präſidi-
ren hatte, wurde ihm die Diviſion in Breslau an Stelle der bis-
her commandirten Brigade angeboten. Nach kurzem Schwanken
lehnte er das Anerbieten ab. Er war müde geworden im Dienſt,
an Aergerniſſen hatte es nicht gefehlt, was aber den Ausſchlag
gab, war die Erwägung, daß die Uebernahme eines faſt vierzig
Meilen von Friedersdorf entlegenen Commandos ein längeres
Verweilen in ſeiner „Väter Schloß“ unmöglich gemacht haben
würde. So forderte er den Abſchied und erhielt ihn. Der König
ließ ihn rufen, um ihm ein Abſchiedswort zu ſagen. Es war eine
Begegnung voll tiefpoetiſchen Gehalts. Der alte märkiſche Edel-
mann, der, wie kaum ein anderer vor ihm, ſein eigenes Recht
neben dem königlichen Recht von Gottes Gnaden zu behaupten ge-
wagt hatte, trat jetzt am Ende ſeines Lebens vor ſeinen König
hin, den er immer geliebt und verehrt und doch in entſcheidenden
Momenten des ſtaatlichen Lebens aus der Ueberzeugung ſeines
Herzens heraus bekämpft hatte.
Es war im Potsdamer Schloſſe. Der König, der von ſeinem
Beinbruche kaum wieder hergeſtellt war, ging ihm durch den hal-
ben Saal entgegen, reichte ihm feſt die Hand und ſagte dann laut,
in Gegenwart aller Umſtehenden: „Mir ſehr leid gethan, einen ſo
ausgezeichneten General zu verlieren.“ Marwitz, leiſe den Punkt
berührend, wo Herr und Diener auseinander gegangen waren,
antwortete mit der Verſicherung unverbrüchlicher Loyalität. „Mir
[379] ſehr wohl bekannt, immer nach Grundſätzen gehandelt ha-
ben,“ antwortete der König mit gnädiger Verbeugung. So trennte
man ſich.
„Immer nach Grundſätzen gehandelt haben“ — unter Wie-
derholung dieſer königlichen Worte, die die ganze Würde und Be-
deutung dieſes Mannes in einen Satz zuſammenfaſſen, nehmen
auch wir von Marwitz Abſchied. „Immer nach Grundſätzen gehan-
delt haben“, das war es, was er in einer Zeit, die in ihren
Grundſätzen ſehr ſchwankend war, vor geiſtig höher Begabten, vor
Weiterblickenden, namentlich wohl auch vor Glücklicheren, voraus
hatte; das war es, worin ſeine Bedeutung wurzelte. An Wiſſen,
an Talent, mochten ihm viele überlegen ſein — nicht an Charak-
ter. Nicht ein reaktionäres Weſen ſchuf er, nicht ein albernes Jun-
kerthum; er war es, der den Muth einer Meinung hatte, längſt
ehe dieſes Wort gemünzt und in Curs gekommen war. Er war
kein Reaktionär, der eiferſüchtig und mißmuthig auf jeden Fort-
ſchritt geblickt hätte, er war nur mißtrauiſch gegen das alleinige
Recht der Neuerungen, er war der Mann des Rechtsbodens, der
loyalen Oppoſition. Nach dieſer Seite hin ihn gezeichnet, ſeinen
hohen Werth auch ſeinen politiſchen Gegnern dargelegt zu haben,
war der Zweck dieſer Zeilen.
Am 7. December 1837 ging er aus einem Leben voll Un-
ruhe in die ewige Ruhe ein. Drei Tage ſpäter ward er neben ſei-
ner erſten Gemahlin begraben. Den Sonntag darauf ward ihm
die Gedächtnißpredigt gehalten, gemäß den Anweiſungen ſeines letz-
ten Willens. Dieſe Anweiſungen lauteten: „Der Prediger ſoll mich
nicht loben wegen deſſen, was ich auf Erden gethan, ſondern ſoll
zeigen, wie das irdiſche Leben nur eine Vorbereitung iſt zu dem
ewigen. Er kann aber ſagen, daß ich geſtrebt habe mein Leben lang,
die mir auferlegten Pflichten und Arbeiten treulich zu erfüllen, da-
bei mein eigenes irdiſches Wohlſein für nichts achtend; er darf
das ſagen, weil es wahr iſt.“ Wohl jedem, der mit gleichem
Bewußtſein aus der Welt ſcheiden kann!
Ein Bild Marwitz’s, eingefaßt von den Seitenbildniſſen ſei-
[380] ner beiden Frauen (die zweite war eine geborene Gräfin Moltke,
geſtorben am 18. November 1848) ſchmückt, wie bereits erzählt,
die Friedersdorfer Kirche.
Ich habe in Vorſtehendem die äußeren Lebensfakten Marwitz’s
gegeben und verſuche zum Schluß eine Charakteriſtik, eine Kritik.
Ich knüpfe zu dieſem Behuf an die Vorgänge des Jahres 1811
an. Das Auftreten Marwitz’s in jener Epoche, wenn man ihm
irgend wie gerecht werden will, muß von zwei Geſichtspunkten aus
betrachtet werden, — juriſtiſch und politiſch. Das Urtheil über
dieſelben Vorgänge wird ſich danach ſehr verſchieden geſtalten.
Was zunächſt die juriſtiſche Seite angeht, ſo hatte Harden-
berg ſelbſt das Recht der Stände anerkannt und mehr denn ein-
mal der patriotiſchen Haltung derſelben die königliche Anerkennung
ausgeſprochen. Nichts konnte deßhalb falſcher und begriffsverwirren-
der ſein, als das Eintreten für ein derartig anerkanntes Recht auf
Rebellion zu deuten. Daß es doch geſchah, mag (wo nicht poli-
tiſche Berechnung und reformatoriſcher Eifer ein richtigeres Urtheil
trübten) als Beweis dienen für den Servilismus und die Indo-
lenz jener Zeit.
Noch einmal, das Recht war unbeſtreitbar auf Seiten der
Stände und dieſes ſtändiſche Recht war verletzt. Gegen dieſe Ver-
letzung hatte Marwitz proteſtirt. Dieſer Proteſt war muthig und
ehrenhaft; aber freilich, wenn er, außer dem Zugeſtändniß, muthig
und ehrenhaft gehandelt zu haben, auch noch Sympathien für die
Sache wecken wollte, ſo mußte ſich das Feſthalten am Princip
über den Schein und Verdacht einer Donquixoterie, einer bloßen
Rechtsmarotte, erheben. Auch das beſte Recht, wenn es ſich
ſträubt, einem neuen Platz zu machen, muß den Beweis beibrin-
gen, daß es mehr iſt als ein todter Buchſtabe, als eine Laſt, ein
Hemmniß. Es bleibt „Recht“ auch ohne dieſen Beweis, aber ein
Recht, dem jeder wünſcht, daß es dem Unrecht unterliegen möge.
[381] Das fühlte Marwitz ſehr wohl. Er vertheidigte alſo das Stän-
diſche als ein äußerlich ererbtes Gut, aber er hielt es auch auf-
recht im vollen Glauben an die innerliche Berechtigung deſſelben.
Dieß führt mich von der einfachen Rechtsfrage auf das politi-
ſche Gebiet.
Mußte der alte ſtändiſche Bau fallen, oder nicht? Millionen
ſagten ja, Marwitz ſagte nein. Für ihn handelte ſich alles um
Wiederbelebung; nicht Tod, nur Lähmung war über den
alten, kräftigen Organismus des Landes gekommen; es galt einen
Bann, eine Krankheit von ihm zu nehmen, und alles war wieder
gut. Nicht die Paragraphen und Inſtitutionen, die Herzen der
Menſchen wollte er wandeln; an die Stelle kleiner Geſinnung
ſollte hohe Liebe und idealer Schwung, an die Stelle philiſtröſer
Beſchränktheit eine opferfreudige Begeiſterung treten, — ſo wollte
er reformiren. Vortrefflich; aber wie? wodurch? Um die Weckung
oder Mehrung dieſer Dinge hat es ſich immer gehandelt. Wie aber
wollte Marwitz an die Herzen heran, wie wollte er das Wunder
vollziehen? Die Antwort auf dieſe Frage iſt er ſchuldig geblieben.
Er zeigte das Ziel, aber nicht den Weg. Die bloße Bußpredigt
und ein langes Sündenregiſter haben noch nie geholfen. Hier liegt
ſein Fehler, ſein politiſcher Fehler. Das Alte, ob mit Recht oder
Unrecht, war jedem ein Gräuel geworden; es war unmöglich,
wenigſtens damals unmöglich, eine Begeiſterung dafür wach zu
rufen; wenn Leben überhaupt geweckt werden ſollte, ſo mußte es
für etwas Neues geweckt werden, ſelbſt auf die Gefahr hin, daß
es ſich als ein Falſches erweiſen würde. Es handelte ſich in dieſem
Augenblick nicht um geſunde Nahrungs-, ſondern um Bele-
bungs- und Erweckungsmittel. Dieß wußte Hardenberg, in
dem Sinne handelte er und dafür haben wir ihm zu danken, ſei
er im übrigen wie er ſei.
Der alte ſtändiſche Staat hatte dem Sturm nicht widerſtan-
den und ein neues Haus mußte bezogen werden, wenigſtens
auf Probe. Möglich, daß der Zuſammenſturz nicht an der
Schlechtigkeit des alten Baus, ſondern an der Heftigkeit des
[382] Sturms gelegen hatte; möglich das alles, aber die Verhältniſſe
geſtatteten damals nicht, ſolche Möglichkeiten in Frage zu ziehen
oder ruhig darüber zu discutiren. Raſche Hülfe war nöthig. Zwan-
zig oder dreißig Jahre ſpäter durfte geſchehen, was 1811 eine
Unmöglichkeit war, und dem einſichtsvollen und gerechten Fürſten,
den wir eben verloren haben, ſtand bei ſeinem Regierungsantritt
allerdings das Recht zu, den ſtändiſchen Staat, der unter’m Drang
der Umſtände kritiklos bei Seite geworfen war, auf ſeinen Werth
und ſeine Stichhaltigkeit noch einmal zu prüfen. Das Jahr 1846
brachte uns die vereinigten Landtage. Ob die Formen, unter
denen der vereinigte Landtag in’s Leben trat, ob namentlich die
rheiniſche Bourgeoiſie und ihr großer Einfluß, dem Marwitz’ſchen
Ideale entſprochen hätte, muß freilich dahin geſtellt bleiben.
Dieſe nur allzu begründeten Zweifel führen mich auf Mar-
witz zurück und zwar auf ſeine angreifbarſte, wenn auch mit Rück-
ſicht auf die Zeit, in der er lebte, wenigſtens halb erklärliche, halb
zu entſchuldigende Seite. Ich meine ſein Verhältniß zum Bür-
gerſtand. Er ließ den „Bürgerſtand“ gelten, ſo weit er in die
alte ſtändiſche Inſtitution hineinpaßte, aber er haßte die „Gebilde-
ten.“ Da die Bürgerlichen zu jener Zeit überwiegend die Träger
dieſer Bildung waren, ſo wurde daraus eine Verkleinerung, eine
völlig ſchiefe Stellung zum Bürgerthum überhaupt. Daß das
damalige, von Freigeiſterei und Revolutionsideen erfüllte Bürger-
thum, das, theilweiſe wenigſtens, die Niederlage von Jena mit
Befriedigung verkündigt hatte, ihn wenig mit Freude und Hoch-
achtung erfüllen konnte, war eben ſo begreiflich wie berechtigt,
aber er verharrte in dieſer Abneigung auch noch, als die Ereig-
niſſe des Jahres 1813, und zwar nicht nur die Erhebung des
Volks (von der er, als von einer Maſſenerhebung, nicht einmal
beſonders hoch dachte), ſondern ſpeciell die Begeiſterung der „Ge-
bildeten“ ihm den Beweis geliefert hatte, daß auch ein Gebildeter
für eine gute Sache zu fechten und zu ſterben verſtehe. Er ſelbſt
gab dieſe Dinge im Einzelnen zu (z. B. in ſeiner Darſtellung des
Hagelsberger Gefechts), aber dem ganzen Stande gegenüber blieb
[383] die Abneigung, das ariſtokratiſche Vorurtheil. Der Adel nahm in
ſeinen Augen nicht nur politiſch und geſellſchaftlich, ſondern auch
moraliſch und nach der Seite der Charakterbildung hin, eine über-
legene Sonderſtellung ein; ſeine Geſinnung war beſſer und eben
ſo ſeine äußere Haltung, und ſo viel Wahrheit, ſo viel Berechtig-
tes, namentlich Angeſichts der Kleinheit und Spießbürgerei unſeres
märkiſchen Bürgerſtandes — der ein großes Hanſagefühl nie ge-
kannt hatte — in dieſer Auffaſſung liegen mochte, ſo führte die
Ausgeſprochenheit dieſer Anſicht doch gelegentlich zu den allerbe-
denklichſten Conſequenzen. Eine Anekdote mag dieß zeigen.
Im Jahre 1806 traf er, wenige Tage vor der Jenaer
Schlacht, im Schloß zu Weimar mit Goethe zuſammen. Wie
ſchildert Marwitz dieſen? „Er war ein großer, ſchöner Mann, der
ſtets im geſtickten Hofkleide, gepudert, mit einem Haarbeutel und
Galanteriedegen, durchaus nur den Miniſter ſehen ließ und die
Würde ſeines Ranges gut repräſentirte, wenn gleich der na-
türlich freie Anſtand des Vornehmen ſich vermiſſen
ließ.“ Alſo auch Goethe konnte ſich, in Haltung und Erſcheinung,
nicht bis zur Ebenbürtigkeit erheben. Er war ein anſtandsvoller
Miniſter und ein großer Poet, war der Freund ſeines Fürſten
und der leuchtende Stern des Hofes, aber geboren als ein Bür-
gerſohn zu Frankfurt, ließ er doch den „freien Anſtand des Vor-
nehmen“ vermiſſen, es fehlte ein unausſprechliches Etwas, vielleicht
— und dieſe Worte ſind nicht ironiſch gemeint — die hohe Schule
des Regiments Gendarmes.
Es ſei hier ein kleiner Exkurs geſtattet. Es iſt mit dieſen
Dingen, mit der Kunſt des Anſtands und feiner Sitte, wie —
man verzeihe den Vergleich — mit der Kunſt des Reitenkönnens
und am Ende mit vielen andern Künſten. Jeder, Individuum wie
Nationen, glauben im Beſitz des Rechten zu ſein. Die engliſchen
Gentlemen ſagen zu deutſchen Cavalieren: „Ihr ſeid die beſten
Reiteroffiziere, aber — ihr könnt nicht reiten,“ und die deutſchen
Cavaliere erwiedern dem engliſchen Gentleman: „Ihr verſteht euer
fox hunting und steeple chase aus dem Grunde, aber —
[384]enfin, ihr könnt nicht reiten.“ Ein ſtilles Bedenken miſcht ſich,
von rechts und links her, in beide Urtheile mit ein, eine leiſe An-
deutung, daß dem perfecten Cavalier, dem perfekten Gentleman,
doch noch dieß und das zu ſeiner Vollkommenheit fehle. Wie es
mit der Kunſt des Reitens iſt, ſo mit der Kunſt der feinen Sitte.
Die Geſetze derſelben ſind überall verwandt, ein Gemeinſames liegt
ihnen zu Grunde, aber ihre Formen weichen ab, ſind wenigſtens
nicht überall dieſelben. Da wo noch an eine ausſchließliche Form
der Sitte geglaubt wird, hat die Sitte ſelbſt ihre höchſte Blüthe
und Verfeinerung noch nicht erreicht.
In Standesvorurtheilen, wie ſie das Urtheil über Goethe
zeigt, war und blieb Marwitz befangen; aber der gute Glaube,
die volle Ueberzeugung, mit der er ſeine Anſichten äußerte, nahmen
ſeinen Angriffen den Stachel des perſönlich Verletzenden. Zudem
hielt es nicht ſchwer, die Wurzel des Irrthums zu erkennen,
woraus ſeine harten und zum guten Theil ungerechten Anſichten über
den Bürgerſtand empor wuchſen. Während er nämlich ſich ſelbſt
als Repräſentanten des Adels nahm, nahm er den erſten beſten
Bürgerlichen als Repräſentanten des Bürgerſtandes. Der Zufall
wollte, daß er in ſich ſelbſt einen ſo vollkommenen Vertreter ade-
liger Geſinnung zur Hand hatte, daß, bei einem Herausgreifen
auf’s Geradewohl aus der Reihe der Bürgerlichen, die letztern mit
großer Wahrſcheinlichkeit zu kurz kommen mußten. Er vergaß (viel-
leicht in Beſcheidenheit), daß nicht jeder Adelige ein Marwitz war,
und daß viele Eigenſchaften die er an den „Gebildeten“ haßte,
nicht Sondereigenſchaften des Bürgerſtandes, ſondern allgemeine
Eigenſchaften der ganzen Epoche waren. Er geißelte das Auftreten
des eitlen, leckern, geſinnungsloſen Johann v. Müller (des berühm-
ten Hiſtorikers) mit verdientem Spott, aber andere bürgerliche
Namen, die auf ſolche Geißelung keinen Anſpruch hatten, hätten
ihm eben ſo nah oder näher gelegen. Hätte er Fichte, der eben
damals durch ſeine begeiſterten, aus Muth und Geſinnung her-
ausgeborenen Reden, ſelbſt wieder Muth und Geſinnung in alle
Herzen goß, hätte er Fichte als Repräſentanten deutſchen Bürger-
[385] thums und deutſcher Bildung gewählt, ſein Urtheil würde ſich
anders geſtaltet haben. So aber ſah er nur die weite Kluft, die
allerdings zwiſchen ſeinem eigenen Empfinden und jener ſchnöden
Niedrigkeit lag, die ſich (in Berlin) danach drängte, als „Bürger-
garde Marſchall Victors“ zu antichambriren und Schildwache zu
ſtehen.
Aengſtliche Rückſichtnahme war nicht ſeine Sache, wo es die
Wahrheit galt, oder wenigſtens das, was ihm als Wahrheit
erſchien. Durch Freund und Feind hin ging er ſeinen Weg; die
Furcht, anzuſtoßen, war nicht ſeine Furcht. Selbſtbewußtſein durch-
drang ihn und durfte ihn durchdringen, denn die Worte ſeines
Teſtaments, „daß er die ihm auferlegten Pflichten treulich erfüllt
und dabei ſein eigenes irdiſches Wohlſein für nichts erachtet habe“,
waren Worte der Wahrheit. Verkannt, zurückgeſetzt, verleumdet,
hatten die Kränkungen, die er erfahren, doch nie ſchwerer in ſeinem
Herzen gewogen, als das Gefühl ſeiner Pflicht. So oft es galt,
war er da. Alles gab er auf, alles ſetzte er ein, ſo oft die großen
Intereſſen des Vaterlandes auf dem Spiele ſtanden. Das Ein-
ſtehen für das Ganze war ſeinem Herzen Bedürfniß, und die
höchſten Kräfte des Menſchenherzens, Treue, Pietät und Opfer-
freudigkeit waren in ſeiner Seele lebendig. Er war ſchroff nach
außen, aber feinfühlig im Gemüth. Das Leben, ungehoben und
unverklärt durch geiſtigen Gehalt, war ihm eine leere Schale; die
Idee allein gab allem Werth und im Kampf für ſie hat er ſein
Leben hingebracht. Möglich daß ſein Kampf unbewußt im Intereſſe
eines Irrthums, eines politiſchen Fehlers geführt wurde; aber ſelbſt
wenn dem ſo wäre, ſo würde es wenig ändern in der Werthſchä-
tzung des Mannes ſelbſt. Denn jedem ſelbſtſuchtslos geführten gei-
ſtigen Kampfe gelten unſere Sympathien. „Es irrt der Menſch, ſo
lang er ſtrebt.“ Erſt aus Streben und Irren gebiert ſich die
Wahrheit. Auch der Kampf, den Marwitz kämpfte, hat uns dieſer
näher geführt.
„Er war“, ſo ſchließt ein Nekrolog, den befreundete Hand
geſchrieben, „ein Mann von altrömiſchem Character, eine kräftige,
25
[386] gediegene Natur, ein Edelmann im beſten Sinne des Worts, der
in ſeiner Nähe nichts Unwürdiges duldete, allem Schlechten ent-
ſchieden in den Weg trat, Recht und Wahrheit vertheidigte gegen
jedermann, der die Furcht nicht kannte und immer in den Reihen
der Edelſten und Beſten zu finden war. Alles Verſteckte, Unklare
und Erheuchelte war ihm von Herzen zuwider. Wie er ſtreng war
gegen ſich ſelbſt, war er es auch gegen andere. In Fleiß und
guter Wirthſchaft, in Frömmigkeit und ſtrenger Sittlichkeit, in
einem rechtſchaffenen Wandel ſtrebte er ſeiner Gemeinde ein Vor-
bild und Muſter zu ſein.“
An ernſtem Streben, an Ringen nach der Wahrheit, an
ſelbſtſuchtsloſer Vaterlandsliebe ſei er Vorbild und Muſter auch
uns.
[[387]]
Alexander von der Marwitz.
Vom Weltgetümmel Ruh;
Selbſt Lorbeer, Ruhm und Ehre
Heilt keine Wunden zu.
Waiblinger.’
Dieſe ſchlanke Heldenblume;
Nie vergeß ich dieſes ſchöne
Träumeriſche Jünglingsantlitz.
H. Heine.’
Alexander von der Marwitz war der jüngere Bruder des
Generallieutenants Ludwig von der Marwitz, deſſen Leben und
Charakter ich im vorhergehenden Kapitel zu ſchildern verſucht habe.
Der Anfang dieſes Jahrhunderts war eine Epoche der Dioskuren,
der glänzenden Brüderpaare: die beiden Humboldt, die beiden
Schlegel, die beiden Tieck, die beiden Bülow — zu ihnen geſellten
ſich die beiden Marwitz. Beide Brüder waren von verwandter
Naturanlage, von gleichem Temperament; ſie hatten daſſelbe Blut.
Beider Herz war groß und hatte jenen hohen Vollſchlag, der die
Freiheit bedeutet. Sie hatten eine verwandte Naturanlage, aber ſie
waren doch verſchieden. Wie ein Adler war der ältere Bruder.
Himmel und Einſamkeit um ſich her, ſah er auf die irdiſchen
Dinge wie auf etwas Fremdes herab, wie auf das Treiben eines
Lagers, das morgen abgebrochen wird; Ziel und Heimath lagen
ihm über der Welt, nicht auf ihr. Wie ein Falke aber, ein früh
gezähmter, war das Herz des jüngeren Bruders. Früh an die
Menſchenwelt gewöhnt, ein Theil von ihr geworden, blieb er in
Zwieſpalt, wo ſeine Heimath ſei, ob hinter Gitterſtäben, wo die
ſchöne Hand der Herrin ihm Spielzeug und Schmeichelworte reichte,
oder dort oben in jauchzender Freiheit und Einſamkeit. So oft er
25*
[388] in den Lüften war, zog ihn die ſüße Gewohnheit zur Erde zurück,
ſo oft er auf der Erde war, zog ihn die eingeborene Natur nach
oben. Als er auf dem Punkte war, die Gegenſätze zu verſöhnen
und in Freiheit zu dienen, traf ihn der Tod. So ſtarb er,
„ein hoffnungsvoller, ein vielgeliebter“, wie die kriegsgeſchichtlichen
Tagebücher jener Zeit ihn nennen.
Alexander von der Marwitz wurde am 4. Oktober 1787 zu
Berlin (nach einer andern Angabe zu Friedersdorf) geboren. Seine
erſte Erziehung erhielt er im elterlichen Hauſe, theils in Berlin,
theils auf dem Familiengut. Seinen Vater verlor er früh (1793),
und ſein zehn Jahre älterer Bruder, Friedrich Auguſt Ludwig,
wurde, wenn auch nicht dem Namen, ſo doch der Sache nach, ſein
Vormund. Das ſtete Wechſeln im Aufenthalt zwiſchen Berlin und
Friedersdorf erwies ſich als nicht günſtig für die Erziehung des
jüngeren Bruders, und ſo wurde derſelbe im Sommer 1794 zum
Hofprediger Arens in Küſtrin in Penſion gegeben. Arens, wohl
unterrichtet, ſtreng und gewiſſenhaft in ſeiner Methode, legte den
Grund zu dem ſpäteren ausgezeichneten Wiſſen ſeines Zöglings.
Kaum vierzehn Jahre alt, verließ dieſer die Küſtriner Schule, nahm
in einer noch aufbewahrten, durch Gedankenreife überraſchenden
Rede von Lehrern und Schülern Abſchied und ging nach Berlin,
wo er noch dritthalb Jahre lang das damals unter Gedikes Lei-
tung ſtehende höchſt ausgezeichnete Gymnaſium „zum grauen Kloſter“
beſuchte. Er fand hier gute Geſellſchaft. Unter ſeinen Mitſchüleru
befanden ſich zunächſt die Söhne von Büſching, Bieſter, Adelung
und Koepke, ferner der älteſte Sohn des damaligen Oberſten von
Scharnhorſt (welcher letztere eben damals in preußiſche Dienſte
getreten war) und endlich der Sohn der Frau von Staël-Hol-
ſtein,*) die, 1803 nach Deutſchland gekommen, ihren Wohnſitz in
[389] Berlin genommen hatte. Sprachliche und hiſtoriſche Studien waren
es, denen ſich Marwitz ſchon damals mit ganzer Seele hingab.
Johann von Müllers Schweizergeſchichte machte einen ſolchen Ein-
druck auf ihn, daß er, kaum ſechzehn Jahr alt, den berühmten
Hiſtoriker aufſuchte, um ihm ſeinen Dank und ſeine Bewunderung
auszudrücken.
Dieſer Schritt, unſcheinbar, wie er auf den erſten Blick er-
ſcheinen mag, gab ihm doch Gelegenheit, zuerſt die Selbſtſtändigkeit
ſeiner Denk- und Handelsweiſe zu zeigen, die ihn ſpäter ſo ſehr
auszeichnete. Sein älterer Bruder mißbilligte dieſe Bekanntſchaft,
wie aus der ziemlich unzweideutigen Beſchreibung hervorgeht, die
uns derſelbe von der Perſon Johann von Müllers hinterlaſſen
hat. „Johann von Müller“, ſo ſchreibt er, „war ein kleines,
grundhäßliches Kerlchen mit einem Spitzbauch und kleinen Bein-
chen, einem dicken Kopf, immer glühend von vielem Freſſen und
Saufen, mit Glotzaugen, die weit aus dem Kopf heraus ſtanden
und beſtändig roth unterlaufen waren ꝛc.“ Aber ſo wenig der
berühmte Hiſtoriker nach dem Geſchmack des älteren Bruders ſein
mochte und ſo gern bereit der jüngere Bruder war, dieſen Ge-
ſchmack als berechtigt gelten zu laſſen, ſo wenig war er doch ande-
rerſeits geneigt, ſich durch fremde Sympathien oder Antipathien
beſtimmen oder in dem beirren zu laſſen, was ſeiner Seele Be-
dürfniß war.
Neben der Selbſtſtändigkeit ſeines Charakters trat hierin zuerſt
auch jener andere Zug ſeiner Natur hervor, der ihn, in Freud
*)
[390] und Leid, unter den wechſelndſten Schickſalen und Stimmungen
beherrſchte: der Zug und Hang nach dem Geiſtreichen. Die-
ſer Hang nahm, bevor die letzten Jahre ſeines Lebens eine Klä-
rung und die Ruhe einer größeren Reife ſchufen, faſt die Form
einer Krankheit an. Alles verſchwand daneben.
Um dieß in ganzem Umfang zu verſtehen, iſt es nöthig, ſich
in die Genialitätsbeſtrebungen, in die geiſtige Genußſucht jener Zeit
zurückzuverſetzen. Der bekannte Ausſpruch Friedrichs des Großen,
„daß er der Beſchäftigung mit guten Büchern und geſcheidten
Leuten die genußreichſten, wo nicht die einzig genußreichen Stun-
den ſeines Lebens verdanke“, ſchien plötzlich die Anſchauung aller
feinen Köpfe geworden zu ſein; ſie lebten wie im Theater und
horchten auf die beſten Stellen. Die Perſonen waren nicht
mehr Perſonen, ſondern Akteurs; alles kam auf die Unterhal-
tung, die Belehrung an, die ſie gewährten. Der Witz, die geiſt-
reiche Sentenz, der Strom des Wiſſens, der Zauber der Rede
lösten ſich wie ſelbſtſtändige Kunſtwerke vom Sprecher los, und in
derſelben Weiſe, wie es uns, Angeſichts eines ſchönen Landſchafts-
bildes, nicht im geringſten kümmert, wer es gemalt hat, ob ein
Vornehmer oder Geringer, ob eine ſaubere oder unſaubere Hand,
ſo wog damals der Glanz geiſtiger Gaben alles auf. Ein Höcker,
phyſiſch oder moraliſch, war gleichgültig, wenn es nur ein Aeſop
war, der ihn trug. Ein brennender Durſt erfüllte die Geiſter, und
wer dieſen Durſt ſtillte, der war willkommen. Es hätte für Vor-
urtheil, für kleinlich und altfränkiſch gegolten, moraliſche Bedenken
zu unterhalten. Erſt der Kriegsſturm reinigte wieder die Atmoſphäre.
Die Geſtalt des Prinzen Louis Ferdinand wird immer
jene Zeit hoher Vorzüge und glänzender Verirrungen wie auf
einen Schlag charakteriſiren. Alexander von der Marwitz war ihm
ähnlich. Der Unterſchied zwiſchen beiden war nur der, daß die
Genußſucht des Prinzen (wie viel auch zur Erklärung und Ent-
ſchuldigung deſſelben geſagt worden iſt) ſeinen Charakter beeinfluſ-
ſen und beſchädigen durfte, während Marwitz, in wunderbarer
Weiſe, eine getrennte Wirthſchaft, eine doppelte Oekonomie zu
[391] führen verſtand. Das Bedürfniß geiſtiger Nahrung war allerdings
ſo groß in ihm, daß er, wie ſein älterer Bruder von ihm erzählt,
ohne geiſtreiche Geſellſchaft nicht leben konnte und ſelbſt zum Stu-
diren und Arbeiten durch ſolchen Umgang angeregt werden mußte;
er ſchreckte dabei vor „alten Schläuchen“ nicht zurück, wenn es
nur eben ein alter, feuriger Wein war, den ſie ihm boten. Aber
alles dieß blieb bei ihm nur Sache der Zerſtreuung, des Studiums,
des Kennenlernenwollens. Die geiſtigen Anregungen, ſobald ſie
eines geſunden Kernes entbehrten, waren ihm wie der Genuß eines
berauſchenden Getränks, aber auch nicht mehr. Sie gewannen nicht
Einfluß auf ſeine Ueberzeugungen, am allerwenigſten auf ſeine
Haltung und Führung. Das Gemeine blieb machtlos über ihn,
und ſo ging er durch’s Leben, wie gefeit durch den Adel ſeiner
Geſinnung.
Zu dieſen Bemerkungen, die darauf aus ſind, die Geſammt-
erſcheinung Alexanders von der Marwitz in’s Auge zu faſſen,
glaubte ich gleich Anfangs ſchreiten zu dürfen, und der Name
Johann von Müllers bot die beſte Gelegenheit dazu. Eben dieſer
war die vollendete Vereinigung von geiſtiger Kraft und Charakter-
ſchwäche, von hohem Erkennen und niederem Handeln. Marwitz
überſah in Milde, was ihm nicht paßte, und bewunderte, was ihm
der Bewunderung werth erſchien. Auch die Antipathien des älteren
Bruders ſtörten ihn hierin nicht.
Um Oſtern 1804 verließ er das graue Kloſter und bezog die
Univerſität Frankfurt, um daſelbſt die Rechte zu ſtudiren. In dem
bereits citirten Schulprogramm des genannten Jahres heißt es:
„Alexander von der Marwitz bildete bei uns ſeine glücklichen Na-
turanlagen mit rühmlichem Fleiße aus und empfahl ſich durch ein
feines und anſpruchloſes Betragen. Er hat in den meiſten Fächern
des Unterrichts, beſonders in der alten Literatur, glückliche und
ausgezeichnete Fortſchritte gemacht.“ Er blieb nur ein Jahr in
Frankfurt, deſſen Stern ſich damals bereits im Niedergang be-
fand. Halle lockte ihn, und in Halle vor allem der Name Wolfs.
Johann von Müller ſchrieb an den letzteren: „Dieſen Gruß bringt
[392] Ihnen Alexander von der Marwitz. Ich brauche ihn nicht zu
empfehlen, weil Sie ſelbſt bald ſehen werden, wie viel in ihm iſt.“
Mit immer wachſendem Eifer ging er hier an das Studium
der Alten; daneben beſchäftigten ihn Geſchichte und Philoſophie,
und wie er zwei Jahre zuvor unter den Schülern des grauen
Kloſters der tonangebende geweſen war, ſo arbeitete er ſich auch
hier zu gleichem Anſehen durch. Die Commilitionen weder meidend
noch ſuchend, immer er ſelbſt, ernſt ohne Hochmuth, freundlich
ohne Vertraulichkeit, ſo beherrſchte er ſie, gleich angeſehen an Wiſ-
ſen wie an Charakter. Dieſe Herrſchaft war das natürliche und
deßhalb unvermeidliche Reſultat ſeiner Ueberlegenheit; dennoch be-
klagte ſein älterer Bruder in ſpäteren Jahren dieſe frühen und
unbedingten Erfolge, die zuletzt ein Hochgefühl des eigenen Werthes
groß zogen, das ſchwindlich machte.
In Halle war Marwitz anderthalb Jahre. Kurz vor der
Jenaer Schlacht verließ er die Univerſität und begab ſich nach
Friedersdorf, um in Abweſenheit des älteren Bruders (der wieder
in die Armee getreten war, um als Adjutant des Prinzen Hohen-
lohe den Feldzug mitzumachen) die Verwaltung des Guts zu über-
nehmen. Mit der Kraft und raſchen Umſicht, die ihm überall,
damals wie ſpäter, zu Gebote ſtand, auch wo es die praktiſche
Seite des Lebens galt, griff er in die Wirthſchaftsführung ein,
und ohne jemals vorher ſich um landwirthſchaftliche Dinge im
Geringſten gekümmert zu haben, überſah er die Verhältniſſe ſofort
und ſetzte ſpäter den heimkehrenden Bruder durch die Ordnung,
die dieſer vorfand, in Erſtaunen. Seine Wirthſchaftsführung wäh-
rend eines vollen Jahres war eine muſterhafte geweſen, nur ſein
überaus reizbares Temperament hatte im Winter 1806 auf 7 die
Verwaltung des Guts und mehr denn das, ſein eigenes Leben in
Gefahr gebracht. Wir lernen hier eine neue Seite ſeines Charakters
kennen. Die Beſchäftigung mit den Wiſſenſchaften, weit entfernt
davon, ihm „die Bläſſe des Gedankens anzukränkeln“ oder das
innere Feuer, das nach Thaten dürſtete, zu dämpfen, hatte ſeine
ganze, leidenſchaftlich angelegte Natur nur noch glühender und
[393] leidenſchaftlicher gemacht. Die angeborene Herrſchſucht und Cha-
rakterüberlegenheit hatte aus dem immer lebendiger-werdenden
Gefühl auch geiſtiger Superiorität neue Kraft und neue Nah-
rung geſogen, und was ein aufbrauſendes Weſen in ihm begann,
das hielt er hinterher mit unbeugſamen Willen feſt. Gegen die
Ueberlegenheit des Geiſtes und Charakters, wo er ſie fand, ver-
hielt er ſich wie ein junger Königstiger, der ruhig wird in der
Nähe des Löwen, aber freilich, er fand dieſe Ueberlegenheit ſelten.
Sein auflodernder Zorn verleitete ihn auch während ſeiner
Gutsverwaltung zu einer raſchen That, die den Stempel der Un-
gerechtigkeit breit an der Stirn trug und nur aus Jugendſinn
und der Leidenſchaftlichkeit ſeines Charakters erklärt werden kann.
Eine durch Nachbarn ihm zugefügte Unbill nahm er nicht Anſtand
in einer Weiſe zu rächen, die als ein Mißbrauch der Gewalt und
des Namens der Franzoſen (die eben damals die Landesobrigkeit
bildeten), von dieſen geſtraft werden mußte. Er wurde Nachts
durch franzöſiſche Gendarmen vom Gute fortgeholt und in Feſſeln
nach Küſtrin abgeführt. Man hielt ihn ſchon für verloren, doch
wurde die Sache durch vielfach thätige Verwendungen ſchließlich
auf gütlichem Wege beigelegt. Die Details über dieſen Vorgang
fehlen.
Ende Oktober 1807 traf der ältere Bruder wieder in Frie-
dersdorf ein. Der Tilſiter Friede hatte zur Entwaffnung ſo vieler
Regimenter geführt, natürlich auch zur Entlaſſung jenes Truppen-
theils, der unter dem Namen des „Marwitz’ſchen Freicorps“ in
Preußen und Pommern gebildet worden war. Der jüngere Bru-
der verließ nun Friedersdorf wieder und ging nach Memel, wo
ſich damals der preußiſche Hof befand. Empfehlungsbriefe führten
ihn bei dem Miniſter Stein ein, Niebuhr ſchenkte ihm Aufmerk-
ſamkeit und Intereſſe, und ſein überaus gewinnendes Weſen, das
ihn überall, wo er ſich ſympathiſch berührt und geiſtig heimiſch
fühlte, die Herzen wie durch einen Zauber erobern ließ, bewährte
ſich auch hier. Aeußerliche Mittel unterſtützten ſeine Erfolge. Er
war groß und ſchlank, mit ſeinem jugendlichen Geſicht, und die
[394] ſchönen dunkeln Augen voll Leben und Ausdruck. Wie auf Schule
und Univerſität, ſo herrſchte er alsbald auch hier, wo die Männer
des „Tugendbundes“ ihn in ihre Mitte zogen. Er belächelte vieles,
was er geſchehen ſah, der gemeinſchaftliche Franzoſenhaß aber und
noch mehr vielleicht der Umſtand, daß es geſcheidte Leute waren,
mit denen er eine Stunde geiſtvoll plaudern und Anregung zu
neuen Studien mit heim nehmen konnte, ließen ihn die Kluft ab-
ſichtlich überſehen, die zwiſchen ihm und ihnen lag.
Es ſcheint (es fehlen hierüber beſtimmte Angaben), daß er
bis Weihnachten 1808 in Memel blieb und dann nach Berlin
zurückkehrte. Sein Umgang hier geſtaltete ſich im Einklang mit
den Bekanntſchaften, die er in Memel und Königsberg angeknüpft
hatte, nur kehrte er jetzt, wo das Leben und Treiben der größeren
Stadt für den, der Ruhe und Zurückgezogenheit ſuchte, auch bei-
des leichter geſtattete, mit verdoppeltem Eifer zu ſeinen Büchern
zurück. Politik wurde geleſen und geſprochen, und die ſtaatsökono-
miſchen Sätze Adam Smiths, deſſen berühmtes Buch vom „Reich-
thum der Nationen“ auch das Geheimmittel enthalten ſollte, wie
dem ruinirten preußiſchen Staate wieder aufzuhelfen ſei, wurde der
Gegenſtand der eingehendſten Studien und Debatten. Schon da-
mals verhielt er ſich mehr kritiſch als bewundernd gegen das Buch,
das die Hardenberg’ſche Schule zur Panacee für alle Uebel ſtem-
peln wollte, und wurde nicht müde, auf den Unterſchied zwiſchen
einem reichen und freien England und einem armen und unter-
jochten Preußen hinzuweiſen.
Er trieb dieſe Studien mit einem ſolchen Ernſt und verfügte
neben dem klar blickenden Geiſte, den ihm die Natur gegeben, über
ein ſo umfangreiches Wiſſen auf dieſem ſchwierigen und bis dahin
wenig cultivirten Gebiete, daß ihm, dem zweiundzwanzigjährigen,
von Niebuhr ſelbſt, der nicht leicht in Verdacht kommen wird, aus
Leichtſinn oder Uebereilung gehandelt zu haben, im April 1809
ein Staatsrathspoſten angetragen wurde.*) Die Sache war noch
[395] nicht entſchieden, als der Schill’ſche Zug dazwiſchen trat und die
Unterhandlungen abbrach. Marwitz ſchloß ſich dem Zuge an, und
wiewohl er wenige Wochen ſpäter (unmittelbar vor oder nach dem
Gefecht von Dodendorf) nach Berlin zurückkehrte, weil er das
Kopfloſe des ganzen Unternehmens erkannt hatte, ſo wurden doch
die einmal abgebrochenen Unterhandlungen nicht wieder aufge-
nommen.
Beinahe unmittelbar nach ſeiner Rückkehr vom Schill’ſchen
Zuge machte Marwitz die Bekanntſchaft der Rahel Levin. Er
war dem Prinzen Louis Ferdinand an ritterlichem Sinn, an
Schönheit der Erſcheinung, an künſtleriſchem Bedürfniß und vor
allem auch in jenem Selbſtgefühl verwandt, das das Vorurtheil
des Standes überwunden hat, und ſo ergab ſich dieſe Bekannt-
ſchaft mit einer Art von Folgerichtigkeit. Wie dieſe Bekanntſchaft
ihm ſelber zu hoher Befriedigung gereichte und ihm in ſchweren
Tagen eine Stütze, in dunkeln Tagen ein Sonnenſtrahl war, ſo
haben auch wir uns dieſes Freundſchaftsverhältniſſes zu freuen,
weil wir dem Briefwechſel, der ſich zwiſchen beiden entſpann, das
beſte Theil alles deſſen verdanken, was wir über den Charakter
und ſelbſt über die äußern Lebensſchickſale des Mannes wiſſen.
Ihre Bekanntſchaft begann im Mai 1809, und noch vor
Ablauf deſſelben Monats trennten ſich die ſchnell Befreundeten
wieder, um erſt nach länger als Jahresfriſt die alten Beziehungen
wieder anzuknüpfen. Ein gegenſeitiges Verſtändniß ſcheint ſich faſt
augenblicklich zwiſchen ihnen gebildet zu haben. Schon am 13. Juli
1809 konnte Rahel ſchreiben: „Ich ging in den Park hinunter,
ſchön waren Wieſen und Feld. Tauſenderlei ſah ich um mich her,
und alles hätte ich Marwitz gern gezeigt; er war der Letzte,
den ich ſah, der ſo etwas verſtand.“ Und um dieſelbe Zeit
ſchrieb ſie an Fouqué: „Ich habe Marwitz nur vierzehn Tage ge-
*)
[396] kannt und mein ganzes Herz liebt ihn; ſeine Exiſtenz iſt ein Troſt
für mich. Sie wiſſen, er iſt mit Varnhagen hin nach dem Krieg.“
Marwitz war „nach dem Krieg“; er war Ende Mai nach
Oeſterreich gegangen, um an dem Kampf gegen Napoleon Theil
zu nehmen. Was ihn fort trieb, war ein Mannichfaches: zunächſt
die Nachricht, daß ſein jüngerer Bruder Eberhardt, der ſeit 1808
in öſterreichiſchen Dienſten ſtand, in der Schlacht bei Aspern ſchwer
verwundet worden ſei; dann aber vor allem ſein Haß gegen Na-
poleon, die Ueberzeugung, „daß — um die Worte ſeines Bruders
zu wiederholen — die Freiheit das allein Werthvolle ſei,
und alles Wiſſen in einem Sklavenlande nicht gedeihen,
nicht ächte Frucht treiben könne.“ Zudem war die Theil-
nahme am Kampf halb Ehrenſache für ihn geworden. Er hatte
Schill verlaſſen, weil er das Kopf- und Planloſe des Zuges ſofort
erkannt hatte, aber er hatte dadurch gleichzeitig die ſtillſchweigende
Pflicht auf ſich genommen, jedem Unternehmen ſeine Kräfte zu
leihen, das mit ausreichenderen Mitteln begonnen, irgend welche
Ausſicht auf Erfolg bieten konnte. Ein ſolches Unternehmen war
der öſterreichiſche Krieg. Marwitz trat in das berühmte Chevaux-
legersregiment Graf Klenau ein, daſſelbe Regiment, in dem ſein
Bruder gedient hatte, und machte die letzten Kämpfe des Krieges,
die Schlachten bei Wagram und Znaym mit. Auch nach dem
Friedensſchluß blieb er bis zum Herbſt 1810 in öſterreichiſchem
Dienſt. Gleich die erſten Wochen nach dem Frieden wurden ihm
ſchwer vergällt. Krank war er nach Ollmütz gekommen, wo er
Quartier in einem Gaſthof nahm. Der Wirth, ein roher und
heftiger Geſell, erging ſich, aus Motiven, die nicht klar geworden
ſind, vermuthlich aber ohne alle und jede Veranlaſſung, in hefti-
gen Inſulten gegen Marwitz und drang endlich auf dieſen ein.
Marwitz zog den Degen zu ſeiner Vertheidigung und ſtieß den
Angreifer endlich nieder. Dieſer Vorgang machte großes Aufſehen
und auf Marwitz’s Gemüth einen tiefen und nachhaltigen Eindruck.
Denn wiewohl er nur Nothwehr gebraucht und den Ausſpruch der
Gerichte ſowohl wie die öffentliche Meinung für ſich hatte, ſo ſuchte
[397] er doch ſeitdem die Reizbarkeit und den Jähzorn ſeines Charakters
ſtrenger zu bewachen.
Das Kriegsleben war etwas, wie es zu Marwitz’s inner-
ſtem Weſen ſtimmte, aber das Garniſonsleben war wenig nach
ſeinem Sinn. Alsbald fehlten die Anregungen, ohne die er, wenn
der Krieg nicht ſeine Würfel warf, nicht leben konnte. Wie viele
Leute gab es in Olmütz und Prag (wo er ſich abwechſelnd auf-
hielt), die ihm ein Geſpräch mit Johann von Müller, mit Niebuhr
oder mit Rahel Levin hätten erſetzen können! Während des Waf-
fenſtillſtandes, ſo lange die Wiederaufnahme des Krieges noch eine
Möglichkeit war, beſchäftigten ihn militäriſche Arbeiten, an deren
Ausarbeitung er mit einer Raſchheit und einem Scharfſinn ging,
als habe irgend ein Hauptquartier ihn groß gezogen und nicht der
Hörſaal oder der Salon. Er entwarf unter anderem ein Expoſé,
wie, bei Wiedereröffnung des Kampfes, die öſterreichiſche Armee zu
operiren habe, eine umfangreiche Arbeit. Ueber den ſtrategiſchen
Werth, ja nur über die Ausführbarkeit des ganzen Planes ſchweige
ich; ſie entzieht ſich der Kritik eines Laien, aber die Klarheit der
Darſtellung iſt bewundernswerth und faſt mehr noch die kühne
Selbſtändigkeit, die ihm die Idee eingab, durch eine Flankenbe-
wegung, in weit geſpanntem Bogen, der Napoleoniſchen Armee den
Rücken abzugewinnen. Er drückt das durch die Worte aus:
„Eine veränderte Frontſtellung muß unſer ſtrategiſches Prin-
cip ſein; Front gegen Oſten oder Nordoſten — ſo müſſen wir
den Angriff erwarten.“
Aber der Waffenſtillſtand führte zum Frieden und mit dem
Frieden ſchwand, ganz abgeſehen von jener Aufregung und jener
Poeſie der Gefahr, die ihm Bedürfniß war, auch jene auf’s Ganze
und Große gerichtete Thätigkeit, die das geringſte war, deſſen er
als Erſatz für Beſſeres bedurfte. Das Einerlei des Dienſtes fing
an ihn zu drücken. Eine Correſpondenz, darunter auch der Aus-
tauſch einiger Briefe mit Rahel, war kein Erſatz für Alles, was
fehlte, und ſo nahm er denn den Abſchied; im Herbſt 1810 war
er wieder in Berlin.
[398]
Das alte Leben, das ihm ſo theuer war, nahm hier auf’s
neue ſeinen Anfang. Die Bücher, die Studien, der geſellige Ver-
kehr, der Austauſch, die Friktion der Geiſter, das Blitzen der Ge-
danken — er hing an dieſer Art der Exiſtenz, und doch, wenn
er ſie hatte, genügte ſie ihm nicht. Er kam zu keinem Glück,
wenigſtens damals nicht. Das Gegenwärtige immer klein findend,
von der Zukunft und ſich ſelber das Höchſte wollend, rang
er einer Traumwelt nach und verlor die wirkliche Welt unter den
Füßen. Er gehörte ſo recht zu denen, die den Genuß nicht genie-
ßen, weil ſie ſelbſt im Beſitz des Höchſten und Liebſten die Vor-
ſtellung nicht aufgeben mögen, daß es noch ein Höheres und Lie-
beres giebt.
In dieſem Sinne ſchreibt Rahel zu Anfang des Jahres 1811.
„Und wie treibens unſere Beſten? Ruhm wollen ſie, wollen zeh-
ren, ohne beizutragen, und — nichts kriegen ſie. Beſſeres noch,
ſo denken ſie, werden ſie finden, und — nichts finden ſie. Statt
ihren wahren Freunden ſelbſt Freund zu ſein, ſtatt ihnen etwas zu
leiſten und ſich des Glückes zu freuen, das ſie durch Opfer und
Gutthat geſchaffen, vergeuden ſie ihre beſte Kraft in der Beſchäf-
tigung mit ihren Plänen, im Kampf mit Phantomen. Marwitz
hab ich dies noch nie geſagt, weil ich ihn zu ſehr liebe
und es zu perſönlich würde.“
So klagte Rahel über ihren „liebſten Freund“ zu einer Zeit,
wo täglicher Verkehr und rückhaltloſes Vertrauen ihr die beſte Ge-
legenheit gab, einen Einblick in die Vorgänge ſeines Herzens zu
gewinnen.
„Er war des Lebens früh überdrüſſig und durchaus ermüdet
vom täglichen Einerlei, wenn das Gewaltigſte ſich nicht von Tage
zu Tage jagte.“ So beſchreibt ihn ſein älterer Bruder. Er war
ruhelos, unbefriedigt, unglücklich. Aber wir würden ihm Unrecht
thun, wenn wir dieſes Unbefriedigtſein, dieſen Lebensüberdruß (Er-
ſcheinungen, die freilich mitunter an die krankhaften Stimmungen
Heinrich von Kleiſts erinnerten) ausſchließlich auf Rechnung eines
überreizten Gemüthes ſetzen wollten. Er war unſtät, ruhelos, weil
[399] er einem Höchſten nachjagte, das ſich nicht erreichen und erringen
ließ, aber er litt auch in aller Wahrheit und Wirklichkeit unter
der Wucht ſchwerer Schläge, die ihn betroffen. Wenn ſich eigene
Schuld mit einmiſchte, um ſo ſchlimmer. Er hatte ein Recht, eine
Befugniß, ernſter drein zu ſchauen, als mancher andere. Es waren
zum Theil höchſt reelle Dinge, die an ſeinem Herzen nagten und
zehrten, Dinge, die mit dem unruhvollen Jagen nach einer Fata
Morgana nichts zu ſchaffen hatten. Die Schmach des Vaterlandes,
die Eiſenhand des Unterdrückers, die Hoffnungsloſigkeit für jenes,
nachdem Oeſterreich abermals niedergeworfen war, das alles waren
ſehr wirkliche Dinge, die damals manches Herz mit Schwermuth
oder Fanatismus erfüllten. Vor Marwitz’s Seele aber ſtand noch
ein Anderes: ſein Traum brachte ihm die Geſtalt des polternden,
zornrothen und dann ſo ſtill und blaß gewordenen Wirths, und
wenn die Geſtalt verſchwand, in Traum und Wachen ſtand die
Geſtalt einer Frau vor ſeiner Seele, zu der er ſich mit glühender,
immer wachſender Leidenſchaft hingezogen fühlte. Der Tag iſt noch
nicht da, über dieſes Verhältniß, das übrigens zu keiner häßlichen
Verirrung führte, ausführlicher zu ſprechen; vielleicht wird die
Pietät gegen einen unſerer gefeiertſten Namen es für immer ver-
bieten. Zorn und Liebe, Gewiſſensangſt und Leidenſchaft rangen
auf und ab in Marwitzens Herzen, und es hätte des heißen Ver-
langens nach Ruhm und Auszeichnung, nach einem unbeſtimmten
Höchſten nicht bedurft, um jene Ermüdung zu ſchaffen, die ja nichts
anderes iſt als das Verlangen nach Ruhe.
Im Mai 1811 ging Marwitz auf kurze Zeit nach Frieders-
dorf. Die Veranlaſſung dazu war nicht angethan, ihm die Heiter-
keit zurückzugeben, deren er ſo ſehr bedurfte. Das Eintreten des
älteren Bruders für das ſtändiſche Recht hatte zu ſeiner Verurthei-
lung geführt, und während er nach Spandau ging, um daſelbſt
ſeine Haft anzutreten, trat der jüngere Bruder für ihn ein, um,
wie fünf Jahre früher, die Verwaltung des Guts zu übernehmen.
Dieſer nur kurze Aufenthalt in Friedersdorf ſcheint eine Zeit der
Kriſis für ihn geweſen zu ſein. Während die Briefe, die während
[400] dieſer Zeit zwiſchen ihm und Rahel gewechſelt wurden, ihn anfäng-
lich noch auf einem Höhenpunkt der Schwermuth und Rathloſigkeit
zeigen, klärt ſich gegen das Ende hin die Situation plötzlich auf.
Das Gewitter ſcheint vorüber und wir blicken wieder in klareren Him-
mel. Einzelne Briefbruchſtücke aus jener Zeit mögen dieſen Ueber-
gang vom Trübſinn bis zur neu erwachenden Hoffnung zeigen.
„Mit mir wird es beſſer. Zwar will mir das Herz noch zu-
weilen erkranken, aber ich gebiete ihm Ruhe. Wille und Thätigkeit
bändigen es. Machen Sie ſich meinetwegen keinen Kummer. Unter-
gehen kann ich, aber mir zum Ekel, andern zur Laſt leben, das
kann ich nicht. Und das iſt doch noch ſehr glücklich. Ich habe in
dieſer Zeit zuweilen an den Selbſtmord gedacht, aber immer iſt er
mir vorgekommen wie eine verruchte Rohheit.“
„Ich bin bis jetzt hier geblieben, theure Rahel, und hatte
vor, noch einen Monat hier zu bleiben, weil, ungeachtet der Ge-
ſpenſter, die in meinem Innern herum wandeln, doch eigentlich der
Körper durch Landluft gedeiht und ich jene durch Thätigkeit zu
verſcheuchen hoffte. Aber ich traue nicht mehr, denn geſunder bin
ich zwar, aber nicht weniger reizbar. Ein einziger Moment kann
mich dahin zurückwerfen, wo ich war, und was am Ende aus
dem finſtern Brüten werden kann, überſehe ich nicht. Nun ſehe ich
zwei Auswege. Der eine iſt, mit Ihnen nach Töplitz zu gehen
(unbeſchreiblich reizend), der andere iſt eine Reiſe nach England und
von dort aus weiter nach Spanien, wo ich Dienſte nehmen kann.
Wäre es ſo unrecht, die Kraft der ſüdlichen Sonne an mir zu
prüfen?“
Dieſe Bruchſtücke zeigen zur Genüge, daß er unmittelbar vor
ſeinem Abgange aus Berlin einen Entſchluß gefaßt hatte. Er will
den Anblick fliehen, der ſo viele Gefahren in ſich birgt; darum
dehnt er auch den Aufenthalt in Friedersdorf aus. Er will nicht
nach Berlin zurück, denn „er traut ſich ſelbſt nicht und fürchtet,
daß er dahin zurückgeworfen werden könne, wo er war.“ Er bangt
vor der Möglichkeit neuen Brütens, neu aufſteigender Geſpenſter,
und er will fort, weit fort — nach Spanien. Er will Dienſte
[401] nehmen und das Nothwendige und Nützliche zugleich erfüllen,
nothwendig ihm allein, aber nützlich der Allgemeinheit, der gu-
ten Sache.
Rahels Worte aber halten ihn in der Heimath und führen
ihn endlich aus ſeiner Friedersdorfer Verbannung wieder in die
Welt zurück. „Sie dürfen nicht vereinſamen. In Friedersdorf iſt
keine Geſellſchaft für Sie, und die müſſen Sie haben, lebendigen
alles anregenden Umgang. Sie gehen da in Ihren eigenen Stim-
mungen wie in einem Zauberwald umher und werden bald nichts
mehr vernehmen können.“
Zuletzt hat er überwunden, Weichheit, ein neues Leben ſcheint
ſein Herz beſchlichen zu haben, und er ſchreibt, frühere Briefworte
Rahels in ſeiner Antwort wiederholend: „Leben, lieben, ſtudiren,
fleißig ſein, heirathen, wenns ſo kommt, jede Kleinigkeit recht und
lebendig machen, dies iſt immer gelebt und dies wehrt niemand.“
— Ja, Sie haben Recht, liebe Rahel. Ja, ich weiß das jetzt.
Fernab ſind mir jetzt alle Träume von Heldengröße und äußerer
Bedeutſamkeit; führt mich das Schickſal dahin, wo ich in großen
Kreiſen zu wirken habe, ſo will ich auch das können, aber meine
Hoffnungen, meine Plane ſind nicht darauf geſtellt. Ich klage auch
nicht länger über die Zeit; ganz dumm iſt, wer das thut. Wem
das Herrliche im Gemüth gegeben iſt, dem wird alle Zeit herrlich.“
Mit dieſem Briefe ſehen wir Marwitz nach Berlin zurückkeh-
ren, und ein neues, klareres Leben beginnt. Es iſt plötzlich, als
habe der Moſt ausgegohren. Viele Ideale ſind hin, aber das
Schillerſche Troſtwort: „Beſchäftigung, die nie ermattet“, wird
auch ein Troſtwort für ihn. Ernſt, Arbeit nehmen von ihm Beſitz,
das wirkliche Leben, wie es iſt, wohl oder übel, iſt plötzlich für
ihn da, er ſtellt ſich zu demſelben und tritt mitwirkend, mitſtrebend
an dem Nächſtliegenden in dieſes wirkliche Leben ein.
Marwitz verließ Friedersdorf etwa im Juli 1811, aber nicht, um
in Berlin ſeinen Wohnſitz zu nehmen, ſondern um in Potsdam
bei der dortigen Regierung als Hülfsarbeiter einzutreten. Zugleich
beſchäftigten ihn Vorarbeiten zu einem juriſtiſchen oder kameraliſti-
26
[402] ſchen Examen, das er noch zu abſolviren hatte. Es heißt, als er
einige Monate ſpäter wirklich an die Abſolvirung dieſes Examens
ging, hätten die Examinatoren offen erklärt, „daß es ſich bei dem
glänzenden und vielſeitigen Wiſſen des zu Examinirenden nur um
die Erfüllung einer Form handeln könne, deren Innehaltung ihnen
Verlegenheit bereite.“
Marwitz blieb in Potsdam etwa anderthalb Jahre, vom
Sommer 1811 bis zum Schluß des Jahres 1812. Wir können
dieſen Zeitraum, wie auch das Jahr 1813, das er draußen im
Felde zubrachte, beſſer überblicken als irgend eine andere Epoche
ſeines Lebens, und haben den Eindruck einer nicht länger in’s
Weite ſchweifenden Exiſtenz. Die Richtung auf das „Immenſe“ iſt
aufgegeben und das Beſtreben wird ſichtbar, von einem beſtimmten
Punkt aus, nach der ihm gewordenen Kraft zu wirken und zu ge-
ſtalten. Er hat nicht das Glück, aber doch Beſcheidung
und Ergebung gefunden; die Leidenſchaften ſind gezähmt. Eine
gerade in dieſer Zeit beſonders lebhafte Correſpondenz zwiſchen ihm
und Rahel läßt uns Einblick in wenigſtens Eine Seite ſeines
Thuns und Treibens gewinnen. Politiſche Dinge werden wenig
berührt, oder doch nur in philoſophiſch abſtracter Weiſe; Perſön-
lichſtes aber kommt ausführlich zur Sprache und äſthetiſche Fragen
werden mit Vorliebe behandelt. „Antworten Sie gleich, Ihre Briefe
ſind mir unentbehrlich,“ ſchreibt Marwitz und fährt an einer an-
dern Stelle fort: „O wüßten Sie, wie ich Ihre Briefe empfange!
Ich leſe ſie drei-, viermal hinter einander, und dann laufe ich im
Zimmer umher und laſſe den Inhalt Ihrer Zeilen in mir nach-
klingen.“ Tagebuchartig werden die Briefe geführt, was der Tag
bringt und verweigert, wird beſprochen. „Mit welchem Herzensan-
theil verfolg’ ich Ihre Spaziergänge in Sansſouci, wie gerne
nähme ich Theil daran!“ ſchreibt Rahel und Marwitz antwortet:
„Auf Sansſouci war ich lange nicht, es iſt jetzt dort ſtürmiſch
und öde; öfters ging ich im neuen Garten, wo der fluthende See
und die vielen dichten Tannengebüſche es lebendiger machen und
die Marmorhalle vor dem Hauſe mir ernſte, rührende und ſchwer-
[403] müthige Gedanken erweckt.“ Aeſthetiſche Dinge werden berührt, zur
Arbeit wird ermuthigt. „Nur ans Werk, wir warten hier auf
Ihre Arbeit über die Propyläen und über die Politik des Ariſto-
teles.“ Daran ſchließen ſich die Vorkommniſſe der großen Stadt;
Reflexionen ranken ſich um Großes und Kleines. — „Gern hätte
ich Ihnen geſtern ſchon geſchrieben, wenn mich nicht die Nachricht
von Heinrich Kleiſts Tod völlig eingenommen hätte. Ich kenne
nicht die näheren Umſtände ſeines Todes; aber es iſt und bleibt
ein Muth. Wer bangte nicht vor jenen „dunkeln Möglichkeiten?“
Forſche ein jeder ſelbſt, ob es viele oder wenige ſind.“ So ſchreibt
Rahel, wohl in Vergeſſenheit, daß ſie die Antwort auf dieſen
Brief vorweg empfangen hatte, als ihr Marwitz von Friedersdorf
aus die ſchon citirten Worte ſchrieb: „Mir iſt der Selbſtmord
immer wie eine verruchte Rohheit vorgekommen.“
So läuft das briefliche Geplauder zwiſchen den Befreundeten
hin, einmal heiter, einmal paradox, einmal tief, wie Stimmung
und Ereigniß das Wort geſtalten; aber die Plaudereien beider,
wie ſie der Briefwechſel der Freunde zeigt, zeigen uns, wie ſchon
angedeutet, das Leben, das Marwitz in jener Epoche der Ruhe,
der Sammlung, der innerlichen Geneſung und Conſolidirung führte,
nur von Einer Seite. Die Abendſtunden, die er ſonſt wohl am
Theetiſch der Freundin zu verplaudern pflegte, gehörten jetzt der
Correſpondenz mit ihr, aber der Tag gehörte der Arbeit. Fach-
ſtudien und Neigungen verwoben ſich hier zu einem Ganzen. Die
Marwitz’ſche Familie iſt noch im theilweiſen Beſitz umfangreicher
Memoires, kritiſcher Abhandlungen und Gutachten, die jener rei-
fen Zeit ihre Entſtehung verdanken. Alle dieſe Arbeiten theilen ſich
in zwei Gruppen, in politiſche und ſtaatswiſſenſchaftliche. Den
Charakter und die Eigenart Napoleons zu ſtudiren, ſchien er ſich
zu einer beſondern Aufgabe geſtellt zu haben, und man erſtaunt
billig über die Reichhaltigkeit der Studien, die er muthmaßlich zu
keinem andern Zweck gemacht hatte, als um ſeine Kenntniß zu
erweitern und geſtützt darauf ſchärfere Schlüſſe über den Charakter
des Mannes ziehen zu können. Alles, was erſchien, wurde geleſen
26*
[404] und excerpirt und unter der Ueberſchrift „Bonapartiana“ zuſam-
mengeſtellt. Dazu geſellten ſich mündliche Mittheilungen und Aus-
züge aus Briefen. Was der Tag brachte, wurde in bunter Rei-
henfolge regiſtrirt, und Oberſt Spiegel, Genz, Brinkmann, Fürſt
Lichtenſtein, Oberſt Bentheim, Itzenplitz, Müffling, General Kruſe-
mark (1812 preußiſcher Geſandter in Paris) fanden ſich hier auf
denſelben Blättern zuſammen. „Chassez moi cette Canaille
lá!“ (ſo erzählt Oberſt Spiegel) donnerte Bonaparte einem ſei-
ner Kammerherrn zu, als er bei einer großen Cour jene dreizehn
Cardinäle erblickte, die ſich in der Scheidungs- und Wiederver-
mählungsfrage gegen ihn erklärt hatten; und wenige Tage ſpä-
ter — ſo fährt derſelbe Oberſt Spiegel fort — ſpuckte der Kai-
ſer, mit unverkennbarer Abſicht, mitten in die Reihe der Könige
hinein, die bei der großen Vermählungsceremonie (mit Marie Luiſe)
unmittelbar hinter ihm ſtanden.
Von beſonderem Intereſſe unter dieſen Aufzeichnungen iſt die
Anſprache Napoleons an eine Deputation märkiſcher Stände, die,
wenn ich nicht irre, zu Dresden auf ſein ſpezielles Geheiß vor ihm
erſchienen war. Es iſt erſichtlich, daß der Kaiſer die Deputirten,
wenigſtens einen Theil derſelben, durch liberale Phraſen kir-
ren und an ſich und ſeine Sache feſſeln wollte. Er ſagte mit
jener rückſichtsloſen Offenheit, die er eben ſo gut wie Liſt und
Verſchlagenheit zu handhaben wußte: „Vous êtes gouvernés
que cela fait pitié. Votre roi est — Si l’empereur Ale-
xandre avait tardé de trois jours de faire sa paix, j’au-
rais détrôné votre —, et je vous aurais fait une consti-
tution, qui vous manque. Nous sommes tous des Romains,
les Français, les Italiens et les Allemands, nous sommes
la même nation. Je vous aime, vous êtes de bons enfants.
Mais par exemple je ne fais pas cas de vos militaires.
D’un côté ils ne sont pas des héros, et de l’autre ils
ont marché sur les têtes des bourgeois. — Je suis
militaire, et ce n’est pas moi, qui voudra jamais déroger
aux privilèges du militaire, mais je ne permettrai jamais
[405] que mes soldats traitent les citoyens français
comme les votres vous ont traités.“ Itzenplitz, der ein Mit-
glied der Deputation war, hat dieſe Worte aufgezeichnet. Marwitz
ſammelte dergleichen zu doppeltem Zweck, zu ſeiner Inſtruktion
und zur Nährung ſeines Haſſes.
Aber Hand in Hand mit dieſen loſen Collectaneen, bei deren
Durchblätterung die ganze Epoche, der ſie angehören, wieder leben-
dig vor uns hintritt, gingen abgerundete, tief durchdachte Arbei-
ten, von denen uns wenigſtens Eine über die ſogenannte „Se-
paration“, d. h. „die Theilung der Gemeinheiten“ in aller Voll-
ſtändigkeit aufbewahrt worden iſt. Marwitz iſt gegen die Separa-
tion. Er ſucht zu beweiſen, daß die „Theilung der Gemeinheit“
und das ſogenannte „Abbauen der Dörfer“ ein Fehler ſei; ein
Fehler deßhalb, weil es den Egoismus des Einzelnen ſteigere,
ſtatt ihn zu mindern. Dieſer Egoismus erſcheint ihm als der
Wurm, der den Geiſt der Nationen, dieſe eigentlich produktive
Kraft, zerſtört. Laſſen wir ihn ſelber ſprechen.
„Die Nationalkraft iſt der Urgrund alles Producirens. Selbſt
wenn unſere Zuſtände, wie ſie jetzt ſind, ſich befeſtigen ſollten,
ſelbſt wenn wir Zeiten der Ruhe entgegen gingen, die einen un-
geſtörten Auf- und Ausbau deſſen zulaſſen, was ihr einzuführen
gedenkt (Separation und Dörferabbau), ſo iſt damit wenig ge-
wonnen. Die Welt hat ſolche Zeiten ſchon einmal geſehen. Es
waren die Zeiten der beſſeren römiſchen Kaiſer. Friede herrſchte
von den Säulen des Hercules bis zu den Ufern des Euphrat;
das Recht war genau beſtimmt und wurde ſtrenge gehandhabt, es
wurden manche Rohheiten der früheren Zeit verbannt durch die
milde Geſinnung der Herrſcher und überhaupt alle Störungen
entfernt, die dem Wohlſein der Einzelnen entgegen ſtehen mochten.
Und doch waren dieß dieſelben Zeiten, in denen in den höheren
Regionen des menſchlichen Daſeins völlige Oede herrſchte, Zeiten,
in denen weder Wiſſenſchaft noch Religion, noch Vaterland die
Menſchen begeiſterten. Aber mehr denn das (mehr in den Augen
derer, die ſich durch die Erſcheinung beſtechen laſſen), auch der
[406]äußere Glanz verfiel. Schon unter Auguſtus verödeten ehemals
berühmte Städte, und unter Trajan, dem beſten der Kaiſer, wur-
den im ganzen Peloponnes weniger Menſchen gezählt, als früher
in der einzigen Stadt Athen. So wahr iſt es, daß nicht der
Einzelne producirt, ſondern der Geiſt der Nationen,
und daß, wo dieſer erſtorben, und mit ihm Lebensluſt und Freude
an der Gegenwart entſchwunden iſt, da auch das äußere Daſein
allmählich in eine kümmerliche und barbariſche Entartung zurück
ſinkt. Auf den Gemeinſinn, auf die Geſammtkraft kommt es an;
dieſe zu wecken, iſt Aufgabe, und alles, was die Kleinheit der
Geſinnung und den Egoismus nährt (Dörferabbau), das ſchwächt
die nationale Kraft und mindert dadurch den wahren und zuletzt
auch den alleräußerlichſten Reichthum des Landes. Wohin der Dör-
ferabbau führt, das läßt ſich nirgends beſſer ſtudiren als im
Oderbruch. Es giebt kaum ein ruchloſeres Geſchlecht; weder vor
göttlichen noch vor menſchlichen Dingen haben ſie Ehrfurcht, we-
der den Nachbarn wollen ſie helfen, noch dem Staate dienen: das
letztere mit einigem Recht, denn ſie verdanken ihm nichts; im Ge-
gentheil hat er ſie ausgeſtoßen und ſie ihrer eigenen heilloſen Roh-
heit preisgegeben.“
So waren Marwitz’s Gedanken über dieſe hochwichtige Frage.
Er ſuchte ſie nicht als ein „Praktiker“, ſondern von einem höhe-
ren Geſichtspunkt aus zu löſen. Nicht in allem hat er Recht be-
halten; die Separation, die Theilung der Gemeinheiten iſt erfolgt
und dem Lande — wie ſich kaum beſtreiten läßt — zum Segen
ausgeſchlagen; aber wenn auch die Geſammtheit ſeiner Aufſtellun-
gen ſeitdem widerlegt ſein ſollte (was nicht der Fall iſt), es würde
dieß keinen Grund abgeben, unſere Schätzung des Mannes, der
dieſe Fragen von einem idealen Standpunkt aus zu löſen trach-
tete, irgendwie zu beeinträchtigen. Nicht als ein Richtiges, praktiſch
Unangreifbares habe ich ſeine Ausſprüche citirt, ſondern nur um
die hohe Art eines Charakters zu zeichnen, der es verſchmähte,
Fragen nach dem Tagesreſultat zu beurtheilen. Sein Blick drang
in Zeit und Raum über das Zunächſtliegende hinaus.
[407]
Unter ſolchen und ähnlichen Arbeiten, nur unterbrochen, wenn
ein Beſuch bei den Freunden ihn nach Berlin hinüber führte, ver-
floß das Jahr 1812. Der November und die erſten Wochen des
December vergingen in wachſender Aufregung; die aus Rußland
eintreffenden Nachrichten meldeten den ſich vorbereitenden Untergang
des Napoleoniſchen Heeres. Wie ihn das erfaßte! Ein Hoffnungs-
ſtrahl dämmerte wieder. Die Studien, die Bücher waren ihm viel,
aber der Krieg war ihm mehr, wenigſtens ein ſolcher Krieg.
„Alles Wiſſen war werthlos in einem Sclavenlande.“ Krieg war
gleichbedeutend mit Freiheit. Etwa am 18. December traf in Ber-
lin die Nachricht vom Bereſinaübergang ein. Marwitz war wie
elektriſirt. Es war ihm klar, daß Preußen ſich auf der Stelle er-
heben, die Reſte der großen Armee gefangen nehmen und dadurch
auf Einen Schlag die Niederlage des Kaiſers vollenden mußte.
Die eigene Wiederherſtellung ergab ſich dann von ſelbſt. Aber wie
das in’s Werk ſetzen? Er kannte zu gut die Halbheit, die Unent-
ſchiedenheit, die in den höchſten Regierungskreiſen maßgebend war;
wie war dieſer Geiſt der Schwäche zu bannen? Er beſchwor zu-
nächſt ſeinen älteren Bruder, alles alten Grolls uneingedenk zu
ſein, und beſtimmte ihn zu jener Audienz bei Hardenberg, die ich
im [vorhergehenden] Kapitel ausführlicher geſchildert habe. Die Au-
dienz verlief, wie ſich erwarten ließ, die Politik des Abwartens
war noch nicht zu Ende.
Beide Brüder empfanden die Vertröſtungen, die doch ſo troſt-
los waren, mit gleicher Bitterkeit; während aber der ältere Bru-
der nach Friedersdorf zurückehrte, „auf Gott vertrauend, daß er
ſein großes begonnenes Wunder auch vollführen werde“, brannte
dem jüngeren der Boden unter den Füßen. Er konnte ſich nicht
länger zur Unthätigkeit verdammt ſehen, und wenn Hardenberg
nicht konnte oder wollte, ſo wollte er. In den erſten Tagen des
Januar eilte er nach Oſtpreußen. Hier wirkte er mit, daß ſich die
Provinz für Rußland und den General York erklärte und ihre
Landwehr zu errichten begann.
Als die erſten Reitercorps der Ruſſen über die Weichſel gin-
[408] gen, ſchloß er ſich dem Oberſt Tettenborn an. Dieſen ſuchte er,
als man in die Nähe der Oder gelangt war, zu kühnen Streif-
zügen gegen Frankfurt, Selow und andere kleine Städte zu ver-
anlaſſen, in denen die Trümmer der franzöſiſchen Armee Poſto
gefaßt hatten; Tettenborn aber, der ſehr eitel war und durch
einen nichtsſagenden Streifzug gegen Berlin nur von ſich reden
machen wollte, opferte wirkliche Vortheile ſeiner Eitelkeit auf.
Marwitz durchſchaute dieſes Spiel ſehr bald und ging nach Bres-
lau, um ſeinen Eintritt in die preußiſche Armee zu betreiben. Hier
aber ging alles langſam, und bei der Unruhe, die ihn verzehrte,
konnte er dieſes Hingehaltenwerden, dieſes Abwickeln großer Dinge
nach der Nummer, nicht länger ertragen. Er verließ Breslau wie-
der, geſellte ſich abermals zu den Ruſſen (zu Dörnberg, damals
in ruſſiſchen Dienſten) und wohnte dem Gefechte bei Lüneburg
bei, das mit der Vernichtung des Morand’ſchen Corps endigte.
Darauf begab er ſich zu Czernicheff, wurde dem General Benken-
dorf attachirt und zeichnete ſich bei Halberſtadt und Leipzig aus,
wo er dem ganzen Corps ſehr weſentliche Dienſte leiſtete.
So kam der Waffenſtillſtand. Jeder wußte, hoffte wenigſtens,
daß die Fortſetzung des Kampfes nahe ſei. Wie ſich denken läßt,
konnte Marwitz den Gedanken nicht aufgeben, dieſen ſchönſten
Kampf, der je gekämpft worden, auf preußiſcher Seite mitzu-
kämpfen. Im Jahre 1809 hatte er im öſterreichiſchen Heere ge-
ſtanden, jetzt war er in ruſſiſchem Dienſt — war auch der Feind
ein gemeinſamer, es ſchmerzte ihn doch, halb unter Fremden die-
ſen Freiheitskampf mitkämpfen zu ſollen. Er bat alſo abermals
um Anſtellung im vaterländiſchen Dienſt; da man ihn aber nur
bei der Infanterie verwenden zu können meinte, und dieſer Dienſt
weder ſeiner Neigung (er war immer Cavallerieoffizier geweſen),
noch ſeiner Körperconſtitution entſprach, ſo zerſchlugen ſich die Un-
terhandlungen abermals und er blieb bei den Ruſſen.
Gleich nach dem Waffenſtillſtand, am 21. oder 24. Auguſt,
war er mit Czernicheff in der Nähe von Wittenberg (bei Bos-
dorf) und griff mit den Koſaken ein Carré polniſcher Infanterie
[409] an. Das Pferd wurde ihm unter’m Leibe erſchoſſen, die Koſaken
kehrten um und ein Pole, der aus dem Carré heraustrat, hieb
jetzt mit ſeinem kurzen Säbel auf ihn ein. Marwitz ſchützte ſich
mit ſeinem Arm, welcher ihm, ſammt der Hand, bei der Gelegen-
heit völlig zu Schanden gehauen wurde. Endlich trat ein Offizier
heraus und rettete ihn. Er wurde in das Carré genommen und
ſo Angeſichts der Seinigen, da die Koſaken nicht wieder zum An-
griff zu bringen waren, nach Wittenberg geführt, von da nach
Leipzig, wo er ſchlecht behandelt, eng eingeſperrt und ſeine Wun-
den vernachläſſigt wurden. Zu Ende September nach Mainz ab-
geführt, rettete er ſich unterwegs unter vielen Gefahren und
Abenteuern nach Prag. Hier wurden ſeine Wunden geheilt, aber
die Hand blieb ſteif und unbrauchbar.
In Prag traf er ſeine Freundin wieder — Rahel. Sie ſelbſt
hat dieſen Moment des Wiederſehens in Briefen an Robert und
Varnhagen in ſehr anſchaulicher Weiſe beſchrieben. Ich gebe dieſe
Stelle, füge auch die Worte hinzu, worin ſie, nach Marwitz’s
eigener Erzählung, die Vorgänge bei Bosdorf beſchreibt: „Geſtern
führte Tieck einen freiwilligen Jäger, einen Enkel des Staatsraths
Albrecht (aus Berlin) bei mir ein. Als ich eben mit Tieck und
dem jungen Jäger verhandle, geht meine Thür auf und —
Marwitz ſteht vor mir. Den Arm in einer Binde, ruppig, ab-
gemagert, ſteht er da, einen zerriſſenen Bauernkittel an und ein
Stück Commisbrod in ein grobes Schnupftuch eingewickelt, in der
linken Hand. Welcher Jubel! Er lebt, iſt der Alte, iſt geſund,
hat aber acht Wunden. Sein Pferd fiel auf ihn und quetſchte ihn.
Polen fielen über ihn her und ſtießen ihn mit Kolben, wovon ihm
der Degen entſank; ein anderer packte ihn und gab ihm drei
Hiebe in Hand und Arm, ein dritter einen Lanzenſtich, ein vierter
ſetzte ihm das Gewehr an den Kopf und ſchoß los, aber der
Schuß verſagte. Der Oberſt der Polen ſprang vor und rettete
ihm das Leben. Gefangen war er aber und iſt nur durch tauſend
Aventüren entkommen, und endlich hier. Er iſt einfach, gut, wahr,
[410] ſtill, mild wie immer, ohne alles Vorurtheil über irgend etwas,
was vorgefallen iſt.“
„Nachſchrift. Der polniſche Offizier, der Marwitz gerettet hat, iſt
der Obriſtlieutenant Skrzynecki; *) er bot Marwitz ſeine Börſe an,
ein gleiches that Obriſt Szymanowsky. Ich ſchreibe dir dieß, weil
der Krieg wunderbare Begegnungen ſchafft und man wiſſen muß,
wo man Gutes mit Gutem zu vergelten hat.“
Am 15. September war Marwitz in Prag eingetroffen; die
Heilung ſeiner Wunden verzögerte ſich und er blieb daſelbſt bis Mitte
December. Dieſes Vierteljahr, das letzte das ihm zu leben be-
ſtimmt war, ging wie ein Friedensſchein über der Unraſt ſeines
Herzens auf. Den Frieden, dem er nachgeeilt war, ohne ihn fin-
den zu können, hier fand er ihn, und hier durfte er ihn finden.
Die heilige Sache der Freiheit und des Vaterlandes drang ſieg-
reich vor, und ein Blick auf ſeine Wunden, das hohe Gefühl,
ſelbſt für dieſe Freiheit gekämpft und geblutet zu haben, gab ihm
ein Anrecht, ohne Vorwurf und mit ungetrübter Freude dem Sie-
geszuge der Verbündeten zu folgen. Die Plauderſtunden mit der
Freundin, in deren ſtillen Genuß ſich ſonſt vielleicht ein Wer-
muthstropfen, das demüthigende Gefühl: „du ſollteſt wo anders
ſein“, gemiſcht hätte, er durfte ſie, um ſeiner Wunden willen,
ganz und voll genießen, und er genoß ſie wirklich. Die Briefe
Rahels aus jener Zeit an Robert, an Varnhagen und andere
Freunde laſſen keinen Zweifel darüber.
„Marwitz“, ſo ſchreibt ſie an Varnhagen, „wohnt mit uns
in demſelben Hauſe. Die Wirthin nahm ihn gleich auf, aus Ra-
hel und aus Preußenliebe. Er hat es en prince und ißt bei
uns. Ich und ein Stücker ſechs bis acht Domeſtiken warten ihm
auf.“ — „Du fragſt wegen Marwitz. Er hat keinen Orden, aber
— Tieck las ihm geſtern den Hamlet vor. Niebuhr, den Tieck
den Muth hatte für hübſch ausgeben zu wollen, nennen wir ſeit-
[411] dem „Venus“ und Marwitz heißt ſchlechtweg der „Sklave“. Er
rief mir nämlich zu: „Soll ich noch mehr Ihr Sklave ſein?“
was uns alle zum herzlichſten Lachen ſtimmte; denn er iſt ganz
deſpotiſch.“ — „Wir plaudern hier oft über Goethe und meiner
Liebe und Bewunderung hab’ ich nicht Hehl. Marwitz, mit dem
ich hier über alles die knetendſten, herrlichſten Geſpräche
führe, ſagt auch: kein Menſch liebe ihn mehr als ich.“
Dieſe wenigen Auszüge gönnen uns einen Einblick in das
heitere, bewegte und angeregte Leben, das jene Prager Herbſt- und
Wintertage ausfüllte. Endlich gegen Schluß des November heißt
es: „Marwitz verläßt uns bald“, und wenige Tage ſpäter brach
er wirklich auf. Er ging zunächſt nach Wiesbaden, dann nach
Frankfurt am Main, wo er bei der erſten Brigade des York’ſchen
Corps eintrat und als dienſtthuender Adjutant zum General
Pirch II. commandirt wurde. Hier war er endlich voll an ſei-
nem Platz. Die Idee eines großen Kampfes war nirgends leben-
diger ausgeprägt, als im York’ſchen Corps, und ein Feuergeiſt, wie
Marwitz, mußte ſich da am eheſten heimiſch fühlen, wo im gering-
ſten Landwehrmann ein Theil jener treibenden Kraft, jenes Blü-
cher’ſchen Geiſtes zu finden war, ohne welchen jener ſchöne Kampf
nie und nimmer ſiegreich hinausgeführt worden wäre.
Am 1. Januar ging es über den Rhein. Die Gefechte bei
Brienne und la Rothière eröffneten den Kampf auf franzöſiſchem
Boden. Der Sieg ſchien bei den Fahnen der Verbündeten blei-
ben zu wollen, da kamen die Unglückstage von Champaubert und
Montmirail. Der Kaiſer warf ſich auf das ruſſiſche Corps unter
General Sacken und war im Begriff es zu vernichten, als Sacken
ſelbſt, der leichtſinnig dieſes Unheil herauf beſchworen hatte, an
York die dringende Bitte ſtellte, den Feind in der linken Flanke
zu faſſen. An Sieg war nicht zu denken, aber die Rettung der
Ruſſen mußte wenigſtens verſucht werden. Die erſte (Pirch’ſche)
Brigade, bei der Marwitz ſtand, erhielt Befehl zum Angriff. Ge-
neral Pirch ſelbſt ſetzte ſich an die Spitze der oſt- und weſtpreu-
[412] ßiſchen Grenadiere, zwei Landwehrbataillone folgten als Soutien;
ſo drang man im Sturmſchritt gegen das Gehölz von Bailly vor.
Aber der Angriff ſcheiterte; die Führer der Bataillone fielen, Ge-
neral Pirch wurde verwundet, und Marwitz ſank tödtlich getroffen.
Es ſcheint, daß eine Flintenkugel ihn in die Schläfe traf.
Sein Tod („der Tod unſeres hoffnungsvollen und ſehr geliebten
Marwitz“, ſo ſchreibt Schack in ſeinem Tagebuch) galt für ein
Ereigniß ſelbſt in jenen Tagen, wo jede Stunde die Beſten als
Opfer forderte. Seine Leiche wurde nicht gefunden und dieſer Um-
ſtand gab Veranlaſſung, daß man geraume Zeit hindurch glaubte,
er ſei abermals, ſchwer verwundet, dem Feinde in die Hände ge-
fallen. Auch Rahel theilte dieſen Glauben. Noch am 26. April
ſchrieb ſie von Prag aus: „Nun fehlt nur noch Marwitz. Aber
ich hoffe. Der kommt wieder, ganz durchlöchert an Körper und
Wäſche.“ Aber er kam nicht; er lag, eingeſcharrt mit hundert an-
dern, auf dem Sandplateau von Montmirail. „Jeder ſeiner
Freunde fühlte ſeinen Tod nach Maßgabe des eigenen
Werthes“, ſo ſchrieb Rahel im Juni, als ſein Tod nicht länger
zweifelhaft ſein konnte, und Marwitz’s älterer Bruder ſchrieb die
Worte nieder: „Die Welt erlitt an ihm einen großen Verluſt. Er
war ein außerordentlicher Menſch im Wiſſen wie im Handeln. Er
würde das Höchſte geleiſtet haben, wenn er erſt zur inneren
Beruhigung gelangt wäre.“
Vielleicht war er dieſer „inneren Beruhigung“ näher, als
der Bruder vermuthen mochte. Die Unruhe, die Kämpfe, die Lei-
denſchaften, die ihn bis zu jener Epoche (Sommer 1811), die ich
ausführlicher zn ſchildern verſucht habe, verzehrt haben mochten,
hatten ſeitdem ruhigeren Anſchauungen Platz gemacht, Anſchau-
ungen, die freilich mehr oder minder dem älteren Bruder ein Ge-
heimniß geblieben waren. Sie ſahen ſich damals zu ſelten, als
daß es dieſem hätte möglich ſein können, ſolche Wandlungen zu
beobachten. Er hatte bis zu jener Zeit ganz und gar den genia-
liſchen Leuten unſerer politiſchen Sturm- und Drangperiode an-
[413] gehört; aber gegen jedes krankhafte Uebermaß in Hoffen und Wol-
len hatte endlich ſeine angeborene gute und geſunde Natur reagirt,
und die Handelweiſe ſeiner letzten Lebensjahre würde ausrei-
chend ſein, uns darüber aufzuklären, wenn es nicht direkte Worte
thäten, die er darüber an ſeine Freundin richtete. „Fernab ſind
mir jetzt alle Träume von Heldengröße und äußerer Bedeutſam-
keit. Führt mich das Schickſal dahin, wo ich in großen Kreiſen
zu wirken habe, ſo will ich auch das können, aber meine Hoff-
nungen, meine Plane ſind nicht länger darauf geſtellt.“ So hatte
er an Rahel geſchrieben und dieſe ſchon oben citirten Worte be-
zeichneten in Wahrheit einen Wendepunkt in ſeinem Leben, den
erſten Moment der Geneſung. Der ältere Bruder kannte we-
der dieſe Worte, noch die Wandlung des Gemüths, der ſie Aus-
druck liehen. Marwitz, als ihn der Tod ereilte, hatte den Hang
und Drang nach dem Unerreichbaren aufgegeben, er ſtand nicht
mehr kritiſch und ironiſch außerhalb des Kreiſes, ſondern mitſchaf-
fend und mitgeſtaltend innerhalb deſſelben. Was er wollte, war
ein Erreichbares geworden. Ob die Wege, die Preußen einſchlug,
nachdem die Gefahr von außenher beſeitigt und die Triebkraft der
Nation, auf Dezennien hin, in harten Kämpfen verzehrt war, muß
freilich billig bezweifelt werden, und in dieſem Sinne (aber auch
nur in dieſem) ſtehen wir nicht an, die Worte des älteren Bru-
ders auch zu den unſrigen zu machen: „Es war ein Glück zu
nennen, daß Gott ihm verlieh, in ſeinem ſiebenundzwanzigſten
Jahre für das Vaterland zu ſterben.“ Auf dem Friedhof zu Frie-
dersdorf hat die Liebe des Bruders auch ihm, neben Eberhard
von der Marwitz, der bei Aspern fiel, einen Denkſtein errichtet,
der die Inſchrift trägt:
„Chriſtian Guſtav Alexander v. d. Marwitz, geb. den 4. Oktober
1787. Lebte für die Wiſſenſchaften. Erſtieg deren Gipfel. Redete
ſieben Sprachen. Wahrete dieſes Vatergutes 1806 und 1807,
wie der Bruder zu Felde lag. Von Freiheitsliebe ergriffen, focht
er 1809 in Oeſterreich bei Wagram und bei Znaym. Diente 1813
[414] dem Vaterlande. Schwer verwundet und gefangen, befreite er ſich
ſelbſt. Wieder geneſen focht er in Frankreich und fiel dort bei
Montmirail den 11. Februar 1814. Sein Vater war Behrend
Friedrich Auguſt v. d. Marwitz, ſeine Mutter Suſanne Sophie
Marie Luiſe von Dorville. Hier ſtand er hoch, dort höher. Sei-
nem Andenken geſetzt von ſeinem Bruder.“
[[415]]
Quilitz oder Neu-Hardenberg.
Hier halt’ ich feſt die Feinde dein,
Hier glückt es, oder nie.
G. Heſekiel.’
leiht Gegenwart,
Wer neu ſich fühlt, Neues zu bilden bedacht iſt.
Platen.’
Die Geſchichte von Quilitz bis zum Jahre 1763 hin iſt arm
und dunkel. Der Beſitz (wie es ſcheint immer ein getheilter) wech-
ſelte vielfach, ſo daß wir einer Menge von Namen begegnen, ohne
weiter etwas zu haben als dieſe Namen. Zu Anfang des 15. Jahr-
hunderts, alſo zur Zeit als die Hohenzollern in’s Land kamen,
finden wir in Quilitz die Höndorps, Beerfeldes und Schapelows;
gegen Ausgang deſſelben Jahrhunderts haben ſich die Beſitzver-
hältniſſe geändert und wir hören von den Eyckendorps, Pfuels
und Barfus. Lauter Familien, die mit Ausnahme der beiden letz-
tern, in Barnim und Lebus nicht länger exiſtiren. Um 1685 kam
Quilitz, und auch wohl das benachbarte Kloſter Friedland, in Be-
ſitz der markgräflichen Linie des Hauſes Brandenburg, und
verblieb bei dieſer Linie bis zum Tode des Markgrafen Carl von
Schwedt, 1763.
Alles dies ſind nur Namen und Zahlen und die üblichen
Details über Beſitzverhältniſſe, Hufen-Zahl, Hebungen, Verpfän-
[416] dungen ꝛc., die wir den ſpärlich vorhandenen Urkunden entneh-
men könnten, würden das Bild wohl erweitern, aber nur noch
farbloſer machen. Die Urkunden bieten nichts Berichtenswerthes,
und was ſchlimmer iſt, auch die anderen Quellen, die wir ſonſt
wohl heranzuziehen gewohnt ſind: die Grabſteine in der Kirche,
die Sagen und Traditionen im Dorfe ſelbſt, ſie alle verſagen glei-
cherweiſe den Dienſt. Die Kirche hat aufgeräumt mit den alten
Hinterlaſſenſchaften (wenn ſie deren jemals beſaß) und nur dunkle,
nebelhafte Erinnerungen leben noch fort an das am meiſten zu-
rückliegende, an die alte Wendenzeit. Traditionen kann man dieſe
dunklen Erinnerungen kaum noch nennen, dazu ſind ſie zu vager
Natur, aber das Dorf ſelbſt, zum mindeſten die Tracht ſeiner
Bewohnerinnen, iſt noch wie eine Art Tradition aus der
Wendenzeit her. Quilitz iſt ſo ziemlich der einzige Ort am Rande
des Oderbruchs, der ſich die wendiſche Tracht erhalten hat; Frauen
und Mädchen tragen noch den rothen, vielgefalteten Friesrock, das
dunkle, geblümte Mieder, den breiten Ueberfallkragen, das ganze
maleriſche Coſtüm, das ich an anderer Stelle bereits (Siehe S. 212
und 213) ausführlicher beſchrieben habe.
Einigermaßen Leben und Farbe gewinnt die Geſchichte von
Quilitz erſt mit dem Jahre 1763, und wir wenden uns deshalb,
mit Uebergehung alles deſſen was vorher liegt, nunmehr dieſer
Epoche zu.
[Quilitz von 1763 — 1814.]
Nach dem Tode des Markgrafen Carl fielen die am Rande
des Oderbruchs gelegenen Güter deſſelben, Friedland und Quilitz,
an die Krone zurück. Sie blieben aber nicht lange bei der Krone;
Friedrich II. verſchenkte ſie im ſelben Jahre noch, und zwar gab
er Friedland an den damaligen Major von Leſtwitz, „den Sieger
von Torgau“, und Quilitz an den Oberſtlieutenant von Prittwitz,
der in der Schlacht bei Cunersdorf, als Rittmeiſter bei den Zie-
ten’ſchen Huſaren, den König vor ſicherer Gefangenſchaft gerettet
hatte. Gegen beide Offiziere unterhielt der König ſeit den genann-
ten beiden Tagen ein verwandtes Gefühl beſonderer Dankbarkeit:
[417] „Leſtwitz hat den Staat, Prittwitz hat den König gerettet“, ſo
hieß es damals ſprichwörtlich. Lestwitz a sauvé l’etat, Pritt-
witz a sauvé le roi.
Die Rettung des Königs durch Prittwitz wird verſchieden er-
zählt; die gewöhnliche Darſtellung des Hergangs iſt folgende:
„Als gegen Abend die Preußiſchen Truppen nach übermenſch-
licher Anſtrengung und Tapferkeit, durch die feindliche Uebermacht
endlich zurückgeworfen waren, und faſt aufgelöſt das Schlachtfeld
verließen, war der große König in Verzweiflung, und man hörte
ihn die Worte rufen: „Kann mich denn heut keine verwünſchte
Kugel treffen.“ Zwei Pferde waren ihm unter dem Leib erſchoſſen
worden, und eine dritte Kugel hatte ihm ein goldenes Etui in
ſeiner Weſtentaſche zerdrückt. *) Nach dem ſchnellen Rückzuge des
Heeres ſtreifte, als einer der letzten Preußen, noch Joachim Bern-
hard von Prittwitz mit einem Trupp von etwa 50 ſeiner Zieten-
ſchen Huſaren, die wahrſcheinlich am Kampfe noch nicht Theil ge-
nommen hatten, auf dem Schlachtfelde umher. Als auch er end-
lich ſich vor den andrängenden Koſackenſchwärmen zurückziehen
wollte, rief ihm plötzlich der Unteroffizier Velten, der ſpäter gea-
delt als Major in der Rheincampagne fiel, zu: „Herr Rittmeiſter,
da ſteht der König.“ Sich umwendend, erblickte er den König,
der faſt allein, nur in Begleitung eines Pagen, welcher ſein Pferd
hielt, auf einem Sandhügel des ſogenannten Mühlberges ſtand.
Er hatte ſeinen Degen vor ſich in die Erde geſtoßen und blickte
mit verſchränkten Armen dem herannahenden Verderben entgegen.
Eilig ſprengte Joachim Bernhard auf ihn zu, doch nur mit Mühe
konnte er ihn überreden, ſich auf’s Pferd zu werfen und auf ſeine
Rettung bedacht zu ſein. Endlich folgte der König ſeinen Bitten,
indem er rief: „Nun Herr, wenn Ihr meint, vorwärts.“ Aber
ſchon waren die Koſaken ganz nahe gekommen. Joachim Bernhard
27
[418] wandte ſich um und ſchoß den feindlichen Offizier vom Pferde.
Dies machte die Verfolger einen Augenblick ſtutzen, der König ge-
wann mit ſeiner kleinen Schaar einen Vorſprung, und jene ver-
mochten ihn nicht wieder einzuholen. Mehrmals rief er dabei aus:
„Prittwitz, ich bin verloren.“ Auf dieſe Weiſe rettete ſich Friedrich
der Große vom Mühlberg herab in das Thal, über die ſogenannte
große Mühle, hinter deren Defileen er vorläufig ſicher war. Hier
ritt er auf die erſte Anhöhe und betrachtete mit Wehmuth ſeine
zurückeilenden Truppen. Mit Thränen in den Augen rief er ihnen
zu: „Kinder verlaßt heute mich, euren König, euren Vater, nicht.“
Dann ritt er weiter und kam, es war ſpät am Abend, nach dem
Dorfe Oetſcher. Auf dem Rücken Joachim Bernhards ſchrieb er
mit Bleiſtift an den Miniſter Finkenſtein in Berlin die Worte:
„Alles iſt verloren, retten Sie die Königliche Familie, Adieu für
immer.“ Während in Oetſcher der unglückliche König, nur von
wenigen Getreuen umringt, ſich auf’s Stroh warf, ſammelte Joa-
chim Bernhard die aufgelöſten Trümmer der Armee, etwa 3 bis
4000 Mann, ſo daß ihm nicht nur der Ruhm gebührt, den Kö-
nig, ſondern auch den Reſt der Armee gerettet zu haben; denn
wurden die Truppen nicht in der Nacht nach Oetſcher, wo die
Schiffsbrücken waren, dirigirt, ſo waren ſie auf dem rechten Oder-
ufer verloren. Als er dem Könige melden wollte, daß ſich einige
Bataillone geſammelt hätten, verhinderten ihn die Adjutanten da-
ran, die bei der verzweifelten Stimmung des Königs fürchteten,
derſelbe werde, ſobald er erführe, er habe noch Truppen in Hän-
den, den unglücklichen Kampf von Neuem beginnen.“
So erzählen die meiſten zeitgenöſſiſchen Schriftſteller die Ret-
tung des Königs. Etwas abweichend davon, berichtet Frau von
Blumenthal in ihrer trefflichen Lebensbeſchreibung Zietens, über
denſelben Hergang, und in Erwägung des Umſtands, daß Pritt-
witz ſelbſt eine Vorrede zu dieſer Lebensbeſchreibung ſchrieb (alſo
das Buch, wenigſtens aber doch dieſe, ihn ſelbſt ſo nah angehende
Stelle geleſen haben muß), können wir nicht umhin, dieſer an-
[419] dern Darſtellung der Kunersdorfer Schlacht, eine vorzugsweiſe
Bedeutung beizulegen. In dieſer Darſtellung heißt es:
„Am Abend der unglücklichen Schlacht ſtand das Detache-
ment von Zieten-Huſaren zur Rechten des Königs, als der Mo-
narch für ſeine Perſon noch nicht die Hoffnung zum Siege auf-
geben wollte, obgleich ſchon aller Anſchein dazu verloren war. Der
König warf ſich mit etwas Infanterie in das ſtärkſte Feuer. Ihm
wurde das Pferd, das er ritt, erſchoſſen; ſein Adjutant, der Oberſt
von Goetz, gab ihm zwar das ſeinige, allein jetzt drängte auch die
Oeſtereichiſche Reiterei des General Laudon mächtig auf ihn ein,
und Friedrichs Perſon gerieth in augenſcheinliche Gefahr, um ſo
mehr, da er nicht zurückgehen und auf ſeine Sicherheit bedacht
ſein wollte. In dieſem furchtbaren Augenblick, an dem Preußens
Glück und Ehre hing, ſprengten, entflammt von Rache und Wuth,
die Zieten’ſchen Huſaren herbei, hieben mit Nachdruck in die öſte-
reichiſche Reiterei, und hielten ſie von dem Regiment von Diricke,
an deſſen Spitze der König ſtand, bis zu ſeiner Rettung glücklich
entfernt. Unter ihnen zeichnete ſich beſonders der Lieutenant Velten
dadurch aus, daß er der Erſte war, der einen Trupp Oeſtereichiſcher
reitender Grenadiere zurückwarf, die ſchon den König umringen
wollten. Der Rittmeiſter von Prittwitz, nachmaliger General der
Kavallerie, hatte unterdeſſen den Muth, daß er ſich ohne Anfrage
zum Geleitsmann des Königs aufwarf, ihn halb mit Gewalt aus
dem Feuer herauszog, und ihn über das Defilee bei der Mühle
bis zur Schiffbrücke bei Goeritz durchbrachte, wo ſich die Armee
bald darauf wieder formirte. So wurde jener (Prittwitz) der Ret-
ter Friedrichs und der Retter des Vaterlandes. (Andere Mitthei-
lungen über Prittwitz ſiehe in den Anmerkungen.)
Der Krieg war zu Ende, und Prittwitz, damals noch Oberſt-
lieutenant, war Herr auf Quilitz. Es war ein ſchönes Gut, aber
unwohnlich wie alle Güter, die lange in Pächterhänden ſind, und
da Prittwitz, der kurz zuvor (1762) eine Freiin Seherr-Thoß
geheirathet hatte, ſtandesgemäß zu leben gedachte, ſo mußte er vor
allem darauf aus ſein, ein Haus aufzuführen, das den Anſprü-
27*
[420] chen ſeiner übrigens auch in Schleſien begüterten Gemahlin ent-
ſprach. Der Bau wurde unverzüglich begonnen, und war ſchon
bis zu den erſten Steinen des erſten Stocks (der Belle-Etage)
gediehn, als König Friedrich des Weges kam, ſei es auf einer
ſeiner Revue-Reiſen in die öſtlichen Provinzen, oder eigens zu dem
Zweck, das Oderbruch, an deſſen Melioration auch nach dem Kriege
noch gearbeitet wurde, zu inſpiciren. „Prittwitz, Er baut ja ein
Schloß; Er will ja hoch hinaus“, waren die nicht allzu gnä-
digen Worte, mit denen der König ſich an den zur Seite ſtehen-
den Oberſtlieutenant wandte, der nun ſeinerſeits nichts eiligeres zu
thun hatte, als dem Wunſch und Wink des Königs nachzukom-
kommen, und unter Fortlaſſung einer Belle-Etage ſofort das Dach
auf das Erdgeſchoß ſetzen zu laſſen. Erſt in den zwanziger Jahren
dieſes Jahrhunderts wurde durch Schinkel ein Umbau des Schloſ-
ſes vorgenommen.
Stell’ ich nunmehr zuſammen, was in Quilitz noch an die
Prittwitz-Zeit erinnert, oder aus derſelben herſtammt. Die Einrich-
tungen, die Zimmer des Erdgeſchoſſes ſind im Weſentlichen die-
ſelben geblieben, namentlich gilt das von dem großen, mit Stuck-
Reliefs geſchmückten Gartenſalon, der auf eine Parkwieſe, und jen-
ſeits derſelben auf die Waſſer- und Baumparthieen des Parkes
blickt. Auch dieſer Park ſelbſt ſtammt aus der Prittwitz’ſchen Zeit,
wenn ſchon derſelbe ſeitdem weſentlichen Veränderungen unterzogen
wurde. An verſchiedenen Stellen des Parks befinden ſich Gedenk-
ſteine, von denen zwei ebenfalls jener Epoche angehören. Der eine
derſelben iſt ein unſcheinbarer Grabſtein, unter dem der Schimmel
begraben wurde, den Rittmeiſter von Prittwitz in der Schlacht bei
Kunersdorf ritt, der alſo den hiſtoriſchen Moment der Rettung
des Königs mit erlebte, reſp. ſeinen Antheil daran hatte. Der
Grabſtein iſt jetzt ſeinerſeits wieder unter Laub und Moos halb
vergraben, ſo daß es unmöglich iſt, eine Inſchrift zu entziffern,
wenn eine ſolche überhaupt jemals vorhanden war. Dies Fehlen
einer Inſchrift hat denn auch dahin geführt, daß man die ganze
Erzählung von dem im Park beſtatteten Schimmel in Zweifel ge-
[421] zogen hat. Aber gewiß mit Unrecht. Aeußere und innere Gründe
ſprechen dafür. Der Stein hat ganz die Form eines Grabſteins;
außerdem ging der König, der auf der oberſten Terraſſe von
Sansſouci nicht nur ſein Pferd und ſeine Lieblings-Windſpiele be-
graben ließ, ſondern auch inmitten derſelben begraben ſein wollte,
ſeinen Generalen mit dem entſprechenden Beiſpiel voran. Man
liebte damals dergleichen.
Ebenfalls im Park, dem Gartenſalon gegenüber, und eine
Wand dunkler Bäume als Hintergrund, erhebt ſich maleriſch das
Marmor-Denkmal, das Prittwitz im Jahre 1792 dem Andenken
des großen Königs errichten ließ. Die Zeichnung zu dieſem Denk-
mal wurde von Johann Meil, dem damaligen Vice-Direktor der
Berliner Akademie der Künſte entworfen, die Ausführung in car-
rariſchem Marmor aber einem Bildhauer in Lucca, Namens Jo-
ſeph Martini, anvertraut. Die Worte, die dieſer an der linken
Seite des Denkmals eingravirt hat, lauten: Joseph Martini
Lucensis inventor faciebat 1792; alſo etwa: Joſeph Martini
von Lucca hat es erfunden und ausgeführt (oder erdacht und
gemacht) im Jahre 1792. Das Wort inventor muß hier über-
raſchen, wenn man es mit der (der Schadow’ſchen Autobiographie
entlehnten) Notiz zuſammenhält, daß Meil den Entwurf gemacht
habe, alſo mit anderen Worten der Inventor geweſen ſei. Die
Compoſition iſt etwas ſteif, etwas herkömmlich und in vielen
Stücken angreifbar, aber dennoch eine gute Durchſchnitts-Arbeit.
Damals, wenigſtens hier zu Lande, war ſie unzweifelhaft ein Mei-
ſterſtück. Ein Säulenſtumpf trägt das Reliefbild des großen Kö-
nigs; ein trauernder Mars, knieend, umklammert von der einen
Seite her die abgebrochene Säule, während eine aufrecht ſtehende
Minerva ſich von der andern Seite her an den Säulenſtumpf
lehnt. Das Hauptintereſſe, das dieſe Gruppe einflößt, iſt das, daß
es das erſte Denkmal iſt, das dem Andenken des großen Kö-
nigs errichtet wurde. Schadow’s Friedrichsſtatue auf dem Stetti-
ner Exercierplatz iſt erſt das zweite Monument. Allerhand kleine
Anekdoten knüpfen noch an dies Denkmal an. So heißt es, daß
[422] eine Eule längere Zeit im Schutz der Minerva geniſtet habe.
Fraglich. Aber bis dieſen Tag iſt die Statue, namentlich der offen
am Boden liegende Helm des Mars, der bevorzugte Platz neſter-
bauender Schwalben. Am Anziehendſten iſt die einfache Ausle-
gung, die die Quilitzer den Geſtalten des Mars und der Minerva
gegeben haben. Sie ſagen, „es ſei Prittwitz und ſeine Frau, die
um den alten Fritzen trauern.“
Wir begegnen der Prittwitz-Zeit, oder doch einer Mahnung
an dieſelbe, auch noch in der alten, übrigens durch Schinkel völ-
lig umgebauten Kirche. Einige Schritte vor dem Altar, iſt, an
Stelle eines Grabſteins, eine Erztafel in die rothen Ziegel des
Fußbodens eingelaſſen, eine Tafel, auf der wir in Vergoldung
ein kurzes römiſches Schwert erblicken, um das ſich ein Lorbeer
windet. Darunter leſen wir: Joachim Bernhard von Pritt-
witz, K. Pr. General der Kavallerie, Ritter des ſchwarzen Adler-
und St. Johanniter-Maltheſer-Ordens, geb. 3. Febr. 1727, ge-
ſtorb. 4. Juni 1793; und ſeine Gattin Maria Eleonora von Pritt-
witz, geb. Freiin von Seher-Thoß, geb. 1739, geſt. 1799. Un-
ter dieſer Tafel befindet ſich höchſt wahrſcheinlich die Gruft, in der
das Prittwitz’ſche Paar beigeſetzt wurde; die Tafel ſelbſt aber
ſtammt erſichtlich aus den erſten zwanziger Jahren dieſes Jahr-
hunderts, wo die Kirche reſtaurirt wurde. 1793 hatte man noch
die altherkömmlichen Grabſteine; die Benutzung von Gußeiſen
(des lorbeerumwundenen kurzen Römerſchwerts ganz zu geſchwei-
gen) deutet unverkennbar auf die Schinkel’ſche Zeit.
Zum Schluß nennen wir noch zwei Portraits, denen wir in
einem der Zimmer des Schloſſes begegnen, und die höchſt wahr-
ſcheinlich der Prittwitz’ſchen Hinterlaſſenſchaft angehören. Es ſind
dies: der alte Fritz und der alte Prittwitz ſelbſt. Das erſte Bild
wurde 1786, kurz vor dem Tode des Königs, von Bardou ge-
malt. Die Auffaſſung weicht ab von dem Herkömmlichen. Neben
dem Ausdruck des Leidens, iſt es ein Zug milder Schwermuth,
der den Kopf charakteriſirt und anziehend macht. Das Portrait
des alten Prittwitz (ebenfalls Bruſtbild) zeigt uns den General
[423] wahrſcheinlich in der Uniform des Regiments Gensdarmes, deſſen
Commandeur en Chef er ſeit 1775 war. Auf dem rothen (pfir-
ſichblüthfarbenen) Frack ruht das breite Orangeband des ſchwar-
zen Adlerordens. Die Farbe des Ordensbandes wirft einen gelben
Reflex auf das ohnehin leberfarbene, wenig anziehende Geſicht des
alten Generals, deſſen Griesgrämigkeit unter dieſem Reflex noch zu
wachſen ſcheint.
1793 ſtarb General von Prittwitz, 1799 ſeine Witwe; Qui-
litz blieb aber noch eine Reihe von Jahren hindurch in Händen
der Familie und zwar im Beſitz des Geh. Finanzraths Friedrich
Wilhelm Bernhard von Prittwitz, geb. 1764, geſt. 1843, älteſten
Sohnes des Generals. Herr von Prittwitz ſtand zu Hardenberg
und Stein in naher Beziehung, nahm aber 1808 ſeinen Abſchied
und lebte ſeitdem ganz in Quilitz, bis er die Herrſchaft 1810 an
den Staat verkaufte (mittelſt Tauſch), und dafür die frühere
Probſtei Caſimir im Leobſchützer Kreiſe Oberſchleſiens erwarb.
Aus dieſen Jahren, wo von Prittwitz der jüngere, die Herr-
ſchaft inne hatte, wiſſen wir wenig von Quilitz zu erzählen, es
ſei denn, daß in den Jahren von 1801 bis 1803, der damals
20jährige Schinkel hier ſeine erſten architektoniſchen Verſuche machte.
Er begann mit dem Kleinſten, und zwar mit zwei Wirthſchafts-
gebäuden, von denen das eine auf dem Vorwerk Stuthof, das
andere auf dem Vorwerk Bärwinkel errichtet wurde, — zwei
Ortsnamen, die faſt noch weniger, wie die Aufgabe ſelbſt, im
Stande waren, ſeinen Genius zu beflügeln. Aber dieſer war eben
da und bewies ſich im Kleinen, wie er ſich ſpäter im Großen be-
wies. Wenn an dieſen frühſten Bauten Schinkels (nur ein Gar-
tenſaal im Flemming’ſchen Schloß zu Buckow iſt noch älter) etwas
zu tadeln iſt, ſo iſt es das, daß der Genius des jungen Baumei-
ſters, der Zug nach idealeren Formen ſich hier an der unrechten
Stelle zeigt. Dieſe Wirthſchaftsgebäude machen etwa den Eindruck,
wie wenn ein junger Poet einen wohlſtyliſirten und bilderreichen
Brief an ſeine Wirthsfrau oder deren Tochter ſchreibt. Der Styl,
die Sprache, ſind an und für ſich unangreifbar, nur die Gelegen-
[424] heit für den poetiſchen Ausdruck iſt ſchlecht gewählt; Gemeinplätze
wären beſſer. Schinkel ſelbſt, der ja in ſpäteren Jahren ſo vor-
zugsweiſe die Anlehnung an das Bedürfniß predigte, würde dieſe,
einer höheren Form huldigenden Wirthſchaftsgebäude, ſpeciell das
auf dem Vorwerk Bärwinkel, zwar mit Intereſſe, aber ſicherlich
auch mit Lächeln wieder betrachtet haben. Indeſſen, wie jugendlich
immer, ex ungue leonem. Je unverkennbarer dies hervortritt,
um ſo auffallender iſt es, daß eine Zuſchrift an Herrn von Wolzo-
gen, den Herausgeber der Schinkel’ſchen Briefe, gerade dieſes in-
tereſſante, aus Raſeneiſenſtein und Eiſenſchlacken (als Ecken-Gar-
nirung) errichtete Wirthſchaftsgebäude in Bärwinkel, dem Zimmer-
meiſter Tietz aus Friedland und dem Maurermeiſter Neubarth aus
Wriezen hat zuſprechen wollen. Herr von Wolzogen hält dieſer
Zuſchrift gegenüber ſeine urſprüngliche, auf einen Ausſpruch Waa-
gens geſtützte Anſicht zwar aufrecht, aber doch mit einer gewiſſen
Unſicherheit, die, wir zweifeln nicht daran, beim Anblick des Ge-
bäudes ſelbſt, ſofort der feſten Ueberzeugung Platz machen würde:
dies iſt von Schinkel, und von niemand andrem. Es iſt ſehr
die Frage, ob die architektoniſchen Kräfte zweier kleiner Städte
auch jetzt ſelbſt, nachdem Schinkel eine Schule in dieſen Landen
herangebildet hat, fähig ſein würden, einen ſo originellen, alle
überkommene Schablone vielleicht nur allzuſehr verleugnenden
Bau aufzuführen, damals aber (1803) vermochten es die verein-
ten Baukräfte von Friedland und Wriezen ſicherlich nicht. Ich
neige mich ſogar der Anſicht zu, daß die originelle Verwendung
von Schlacke und Raſeneiſenſtein, eines Materials, das hierlandes
nie als Baumaterial verwendet worden iſt, dort aber zufällig zur
Hand war, allein ſchon als Beweis dafür dienen darf, daß der
Bau von Schinkel herrühren muß. Gerade in dieſer genialen Be-
nutzung des zufällig Gebotenen war er ja ſo hervorragend.
Das Ganze (ein Molkenhaus) hat die Form einer Baſilika: ein
Hochſchiff und zwei niedrige Seitenſchiffe. Wenn aber eine Baſi-
lika die prachtvolle breite Giebelwand nach vorne ſtellt, und dieſelbe
als Portal benutzt, ſo hat Schinkel bei dieſem Bau das umge-
[425] kehrte Arrangement getroffen. Er hat die Giebelwand als Hinter-
grund (woran ſich nun das Gebäude lehnt), die Apſis aber nach
vorne genommen, die nun als Eingang dient. Was alles auch ſich
gegen ſolches Baſilika-Molkenhaus ſagen laſſen mag, darüber kann
kein Zweifel ſein, daß Friedland-Wriezen damals ſolchen Einfalls
nicht fähig war.
[Neu-Hardenberg (Quilitz) ſeit 1814.]
1810, wie bereits erwähnt, war Quilitz aus den Händen
des jüngeren Prittwitz in den Beſitz der Krone übergegangen, aber
nur auf kurze Zeit verblieb es bei derſelben. Wie 1763 dem Ge-
neral von Prittwitz, ſo wurde Quilitz im November 1814 dem
Fürſten-Staatskanzler von Hardenberg als Dotationsgut verliehen,
und der alte Name Quilitz, ihm zu Ehren, in Neu-Harden-
berg umgeändert. Der Fürſt beſaß es ſammt 13 andern Gütern,
die zuſammen die „Herrſchaft Neu-Hardenberg“ bilden, bis zu ſei-
nem am 26. November 1822 in Genua erfolgten Tode; um
welche Zeit, nach dem Recht der Erſtgeburt, der geſammte Beſitz
an den Sohn des Staatskanzlers, den Däniſchen Geheimen Con-
ferenzrath Grafen von Hardenberg-Reventlow kam. Dieſer ſtarb
am 16. September 1840 ohne männliche Nachkommen, und die
Herrſchaft fiel nunmehr dem nächſten Erbberechtigten, dem Grafen
Carl Adolf Chriſtian von Hardenberg, zu. Dieſer, ein Neffe des
Fürſten Staatskanzlers, iſt der gegenwärtige Beſitzer des geſamm-
ten Gütercomplexes.
Der Fürſtſtaatskanzler war 8 Jahre lang im Beſitz von Neu-
Hardenberg; es ſcheint jedoch, wenn wir (was ohne große Schwie-
rigkeit möglich iſt) den Verlauf ſeiner letzten Lebensjahre von Mo-
nat zu Monat verfolgen, daß er nicht allzuviele Mußetage für
eine Villeggiatur auf ſeinen Gütern fand. Nur von wenigen Fäl-
len haben wir eine beſtimmte Kunde, z. B. von ſeinem Einzug
in Quilitz (wahrſcheinlich im Sommer 1816) und von der Feier
ſeines 70jährigen Geburtstages am 31. Mai 1820. Ueber den
Einzugstag leben noch einige Traditionen fort, dämmernde Bilder
von Triumphbogen und Eichenlaubguirlanden, von Spalierbilden-
[426] der Jugend und plattdeutſchen Empfangsgedichten, — die letzteren
von den zwei hübſcheſten Mädchen des Dorfs in ihrer wendiſchen
Nationaltracht vorgetragen. Aber hiermit ſchließt die Reihe der
halbverblaßten Bilder ab, die in der That nur durch den Qui-
litzer rothen Friesrock ein beſtimmtes Colorit erhalten. Mehr ſchon
wiſſen wir von dem 70. Geburtstag, wiewohl der Fürſt beſchloſſen
hatte, ihn in Stille zu feiern. Mancher Gratulant traf ein; unter
dieſen Beglückwünſchenden, freilich brieflich nur, auch Goethe.
Die Zeilen die er ſchrieb (wie wir offen geſtehen müſſen, von min-
deſtens ſchwerverſtändlicher Natur) waren folgende:
Am 13. Oktober 1817 hatte die feſtliche Einweihung der
durch Schinkel reſtaurirten Neu-Hardenberger Kirche Statt, und das
Intereſſe das der Staatskanzler von Anfang an dieſer Kirche wid-
mete (er vermachte ihr eine Dotation und fehlte nie beim Gottes-
dienſt), läßt darauf ſchließen, daß er bei dieſer Einweihung zuge-
gen war.
Auch ein anekdotenhafter Vorfall mit ſeinem Schwiegerſohn,
dem Fürſten Pückler, zeigt uns den Fürſten in ſeinem Harden-
berger Schloß. Der Park hinter dem Hauſe war bei jedem Beſuch
ein Punkt freundſchaftlichen Disputs zwiſchen Schwiegervater und
Schwiegerſohn. Das feine Auge des letztern hatte ſeit lange gegen
[427] die altfränkiſch-ſteife Anlage, die damals noch exiſtirte, proteſtirt,
und das in andrem Sinne feine Gefühl des Schwiegervaters hatte
mit gleicher Beharrlichkeit die Neuerungen abgelehnt, weil dieſe
Neuerungen gleichbedeutend waren mit Entfernung eines Dutzend
der allerſchönſten Bäume. Davon wollte der Staatskanzler nichts
wiſſen; man ſieht, er hatte auch ſeine Pietät. Der Schwiegerſohn,
da jegliche Ueberredung ſcheiterte, ſchritt endlich auf jede Gefahr
hin zur That und Abhülfe. Ein Kreis der Nächſtſtehenden war
bei Tiſch verſammelt, und in dem ſchon erwähnten Gartenſalon
aus der Prittwitz-Zeit herrſchte jene Tafelheiterkeit, an der das
Herz des Fürſten hing und auf deren Pflege und Hervorrufung
er ſich ſo wohl verſtand. Nun war das Mahl beendet und Wirth
und Gäſte traten auf die Veranda hinaus, die den Blick hat auf
Wieſe und Park und Monument. Der alte Fürſt ſtand wie ge-
troffen, — das war der Park nicht mehr, wie er noch vor drei
Stunden geweſen war, ja, deſſen große Allee er noch vor Tiſch
in heitrem Geplauder durchſchritten hatte. In der That, der Park
war während der Stunden des Diners ein andrer geworden, ein
ſolcher, wie er jetzt iſt, wie er nach des Schwiegerſohns Anſicht
werden mußte. Eine Allee war verſchwunden und wo ein Els-
bruch war, war eine Parkwieſe entſtanden, an deren Ausgang das
Waſſer des Canals blitzte. Der Fürſt, im erſten Augenblick ſicht-
lich unangenehm berührt, war doch guter Wirth und guter Schwie-
gervater genug, um gute Miene zum böſen Spiele zu machen und
die jetzigen Beſucher mögen ſich des Einfalls freuen. Wir entneh-
men dieſer kleinen Scene aber unter anderm abermals das Fak-
tum einer längeren oder kürzeren Anweſenheit des Staatskanzlers
auf ſeinem Neu-Hardenberger Schloſſe.
Gleichviel indeß, wie oft und wie lange er zu einem Aufent-
halte in Neu-Hardenberg Muße fand, jedenfalls war von Anfang
an ſein Auge, ſeine Sorgfalt dieſem neuen Beſitze zugewandt und
Schloß, Park, Kirche ſind in ihrer jetzigen Geſtalt ſeine Schöpfung.
Machen wir zunächſt einen Rundgang durch die Zimmer des
Schloſſes. Wir werden hier einer reichen Anzahl von Kunſtſchätzen
[428] begegnen, denen wir unſere Aufmerkſamkeit zuzuwenden haben.
Das Schloß erinnert, nach dieſer Seite hin, zumeiſt an Schloß
Tegel, wiewohl das letztere ſowohl der Zahl, als dem Werth der
Kunſtſchätze nach, vor Neu-Hardenberg den Vorrang behauptet. Viel-
leicht wäre dies anders, wenn das Schloß alle die Kunſtſchätze um-
ſchlöſſe, die daſſelbe umſchließen könnte und umſchließen würde,
wenn nicht eine großmüthige Laune des Staatskanzlers, dieſen um
einen derartigen Beſitz gebracht hätte.
Es hat das folgenden Zuſammenhang. Der Staatskanzler
hatte — lange bevor ihm die Herrſchaft Neu-Hardenberg zufiel —
bereits im Jahre 1804 das im Lebuſiſchen Kreiſe gelegene Gut
Tempelberg käuflich an ſich gebracht und daſelbſt ein Schloß auf-
geführt, das zu altem anererbten Hardenbergſchen Familienbeſitz
auch noch jene Fülle von Kunſtſchätzen umſchloß, die der kunſtlie-
bende Fürſt auf ſeinen Wanderungen durch Europa an ſich gebracht
hatte. *) Es war dies eine außerordentlich werthvolle Sammlung.
Das Beſte derſelben ging nach der Schlacht bei Jena verloren.
Davouſt, auf ſeinem Raub- und Siegeszuge durch die Mark, ließ
vier Wagen voll dieſer Kunſtſchätze nach Paris ſchaffen **) und als
[429] im Jahre 1814 die Rückgabe all’ deſſen erfolgte, was Napoleon in
zehn Siegesjahren mit nach Paris geſchleppt hatte, leiſtete der
Fürſtſtaatskanzler auf die Rückforderung deſſen, was ihm genom-
men worden war, Verzicht. Welche Gründe ihn dabei leiteten, iſt
nicht recht klar; doch ſcheint es, daß er in jener vornehmen Fein-
fühligkeit, die ihm allerdings eigen war, von Rückforderung des
Seinigen Abſtand nahm, um die Wiedererſtattung deſſen, was an-
deren (auch dem Staate) genommen worden war, mit um ſo mehr
Nachdruck, weil mit größerer Unbefangenheit betreiben zu können.
So blieb denn der größte Theil jener Kunſtſchätze, die einſt die
Säle von Schloß Tempelberg geſchmückt hatten, in Paris zurück,
und nur die durch Davouſt zurückgelaſſenen Reſte wurden
1814 von Tempelberg nach Neu-Hardenberg hinübergeſchafft. Al-
lerdings wurde um dieſelbe Zeit, ſo wie auch in den folgenden
Jahren bis zum Tode des Staatskanzlers, dieſe Sammlung durch
einzelne Ankäufe und Geſchenke (wir werden mehrere derſelben ken-
nen lernen) wieder erweitert, aber immerhin blieb ſie nur ein
Bruchſtück der alten Herrlichkeit.
Wir ſchreiten nun dazu, dieſe Bruchſtücke, zumal Portraits
und Bilder, in Augenſchein zu nehmen.
Im Billardzimmer.
1) Alte Familienportraits des freiherrlichen Hauſes Harden-
berg, bis zurück ins 16. Jahrhundert. Das älteſte und deshalb
intereſſanteſte dieſer Bilder iſt klein, nicht ganz handhoch und zeigt
die Jahreszahl 1558. Es ſtellt dar: Eler Hardenberg, ſeines Al-
ters 62 Jahr.
2) Portrait des Staatskanzlers; von dem franzöſiſchen Maler
Quinzon. (Naglers Künſtlerlexicon bringt dieſen Namen nicht,
auch keinen ähnlich klingenden, ſo daß ich, hinſichtlich der Recht-
ſchreibung nicht ſicher bin.)
[430]
3) Portrait des Sohnes des Staatskanzlers, damals etwa
15 Jahr alt. Ein ſehr hübſches Bild. (Chriſtian Heinrich
Auguſt Graf von Hardenberg-Reventlow, einziger Sohn des
Fürſten-Staatskanzlers aus ſeiner erſten Ehe mit Friederike Ju-
liane Chriſtiane Gräfin von Reventlow, wurde am 19. Februar
1775 geboren und ſtarb als däniſcher Hofjägermeiſter und Gehei-
mer Conferenzrath am 16. September 1840. Er war von Jugend
auf in den däniſchen Dienſt getreten. Im Jahre 1814 führte dies
zu einer eigenthümlichen Begegnung, wie ſie die Annalen der Di-
plomatie vielleicht nicht zum zweiten Male aufzuweiſen haben. Am
25. Auguſt des genannten Jahres wurde zwiſchen Preußen und
Dänemark (das bekanntlich auf franzöſiſcher Seite gefochten hatte)
der Friede zu Berlin geſchloſſen. Die Beauftragten waren Vater
und Sohn: der Staatskanzler Fürſt Hardenberg für Preußen,
der Geheime Conferenzrath Graf Hardenberg-Reventlow für Däne-
mark. Der letztere verblieb in däniſchem Dienſt und ging darin
ſo weit, daß er ſogar auf den Fürſtentitel verzichtete, als ihm,
nach dem im November 1822 erfolgten Tode ſeines Vaters, die
Herrſchaft Neu-Hardenberg zugefallen war. Man hat preußiſcherſeits
dies kühle ablehnende Verhalten getadelt, eine Ablehnung, die im
Weſentlichen ſagte: „ich zieh’ es vor, ein däniſcher Graf zu blei-
ben.“ Aber wenn es dieſem Verhalten des Sohnes allerdings an
Verbindlichkeit gegen Preußen gebricht, ſo geziemt ſich doch andrer-
ſeits die Frage: war der Sohn zu ſolcher Verbindlichkeit überhaupt
verpflichtet? Man darf wohl antworten: „nein“. Der jüngere
Hardenberg war ein geborner Hannoveraner, ſeine Mutter war eine
Dänin. Als ſein Vater (der ſpätere Fürſt) in den preußiſchen
Staatsdienſt trat, gehörte er (der Sohn) bereits mit Leib und
Leben dem däniſchen Staate an. Wenn durchaus eine Schuld ge-
funden werden ſoll, ſo liegt ſie jedenfalls nicht bei dem Sohne,
ſondern in häuslichen Verhältniſſen, die er am wenigſten ändern
konnte. 1787 oder 88 trennten ſich bereits die Eltern und die
begleitenden Umſtände, vor allem die bald erfolgende Wiederver-
heirathung des Vaters, ließen es rathſam oder ſelbſt geboten er-
[431] ſcheinen, daß der erſt 12jährige Sohn der Mutter folgte. Unter
Einfluß und Leitung des Vaters wäre er natürlich preußiſch
geworden, dieſer Leitung indeß enthoben, war es ſelbſtverſtändlich,
daß die däniſche Ausſaat auch däniſche Frucht trug.)
Neben dem Billardzimmer.
1) Die alte Burg Hardenberg im Hannoverſchen, wie ſie
noch vor etwa 150 Jahren war.
2) Die jetzige Burg Hardenberg (Ruine).
3) Ein eingerahmtes Blatt mit den oben mitgetheilten Verſen
Goethe’s, die derſelbe zum 70jährigen Geburtstag des Staatskanz-
lers an dieſen richtete.
Im Gartenſalon und dem angrenzenden Zimmer.
1) Große Malachit-Vaſe; Geſchenk des Kaiſers von Rußland.
2) Portrait Friedrich des Großen; von Bardou (ſchon er-
wähnt; vielleicht aus der Prittwitz-Zeit).
3) General von Prittwitz.
4) Portrait des Staatskanzlers aus der Zeit ſeines erſten
oder zweiten Aufenthalts in England (1772 oder 81). Ein Pa-
ſtellbild von Benjamin Weſt.
5) Napoleon; von Gerard.
6) Blücher; ein Geſchenk von dieſem ſelbſt an den Staats-
kanzler.
7) Friedrich Wilhelm III. (jung) in öſterreichiſcher Huſaren-
uniform.
8) Ein prachtvoller Moſaikkopf, der, von Hardenberg etwa
zwiſchen 1790 und 1805 angekauft, durch einen Zufall dem Auge
Davouſt’s entging und der Tempelberger Sammlung verblieb.
Von dort kam er 1814 nach Neu-Hardenberg. Es iſt eine vor-
zügliche Arbeit: ein Frauenkopf (halb Profil) von weißem Teint
und dunkelblondem Haar. Die Lippen ſinnlich, die Augen groß
und ſchwärmeriſch; dazu (als einziger Schmuck) ein Halbmond
auf der ſchönen Stirn. Ich habe nicht in Erfahrung bringen kön-
nen, welcher Zeit das Bild angehört, auch nicht, wen es darſtellt.
Doch glaube ich nicht zu irren, wenn ich es für einen Kopf der
Beatrice Cenci halte, die hier im Coſtüm der Diana auftritt.
[432]
9) Ein großes Moſaikbild: Die Tempelruinen von Paeſtum.
Ein Geſchenk, das Papſt Pius VI. etwa um 1820 an den
Fürſten-Staatskanzler machte. Das Bild iſt etwa 4 Fuß
lang und 1 Fuß hoch. Ein breiter Rahmen umgiebt es, der oben,
als beinah fußhohes Ornament, das päpſtliche Wappen trägt. Die
drei Tempelruinen nehmen die Mitte des Bildes ein; rechts Baum-
gruppen in friſcheſtem Grün, links Trümmerreſte unter wucherndem
Strauchwerk; im Hintergrund Bergzüge, vorn ein paar Geſtalten.
Das Bild wurde bei ſeinem Eintreffen in Berlin ſo ſchön gefun-
den, daß König Friedrich Wilhelm III. ein gleiches oder ähnliches
zu haben wünſchte, und deshalb in Rom unter der Hand anfragen
ließ: was der Preis eines ſolchen Moſaikbildes ſei? Die Rückant-
wort (wahrſcheinlich Niebuhrs) lautete: 6000 [...]. Als bei Hofe
über dieſe Summe geſprochen wurde, ſoll der alte General von
Rohr halb erſchrocken, halb treuherzig bemerkt haben: „aber doch
mit dem Rahmen.“
Im Eßzimmer.
1) Eine Landſchaft von Schinkel. Im Hintergrunde die
Ruinen der Burg Hardenberg. Ein Feſtzug (Landvolk, geſchmückte
Stiere ꝛc.) kommt den Hügel herab und bewegt ſich, an einer al-
ten Eiche vorbei, einem Ceres- oder Pomona-Bilde entgegen. (Eine
Copie befindet ſich in der Wagner-Gallerie zu Berlin.)
2) Eine Mondlandſchaft von van der Neer. Ein vorzügliches
Bild (braun im Ton), von Schinkel, bei ſeinen Beſuchen in Neu-
Hardenberg, immer ſehr bewundert.
3) Luther; von Holbein.
4) Katharina von Bora; von Holbein. Auf der Rückſeite
dieſes Bildes (auf Holz gemalt) befindet ſich ein zweites Bild und
zwar ein Todtenkopf. Unter demſelben ſtehen, auf einem ſauber
gemalten Zettel, folgende Worte:
„Entgen“ meint entgegen oder gegen; „ſchilt“ iſt Schild.
[433]
5) Eine Maria mit dem Kinde. Wie es heißt, von Rubens,
aber andern Bildern des Meiſters ſehr unähnlich.
6) und 7) Zwei kleine Landſchaften (ſehr blau im Ton)
vom Landſchafts-Breughel.
8) und 9) Zwei Landſchaften von Nicolaus Berghem.
10) Die Feuerprobe der Kaiſerin Kunigunde (Gemahlin des
Gegenkaiſers Rudolph); ein figurenreiches Bild von Lucas
Kranach. Der Kaiſer, ein Biſchof, Rathsherrn und Edelfräulein
ſtehen zur Seite der Kaiſerin; dieſe, als Zeichen ihrer Treue, legt
eben ihre Finger in den Rachen eines „glühenden Löwen.“
11) Violinſpieler; von van den Boſch.
12) Wirthshausſcene; von Teniers. Ein Stammgaſt der
niedrigſten Sorte legt, voll bedenklichen Einverſtändniſſes, ſeine
Hand auf die Schulter der Wirthin, einer runzlichen alten Weibs-
perſon, deren Kopf in einer Nachtmütze ſteckt. Der Stammgaſt
und wie es ſcheint Galan, hält ihr das Glas hin und ſie ſchenkt
ein. Ein Alter, muthmaßlich der Ehemann, blickt aus einem
kleinen Alkoven-Fenſter, mit ſauerſüßem Geſicht, der Scene zu. Die
Alte in der Nachtmütze iſt vortrefflich.
13) Ein Bürger- oder Rathsherrnkopf; von Rembrandt.
Das Prachtſtück der Sammlung.
14) Die Adamiten; von Rubens. Etwa 12 Weiber und
3 oder 4 Männer ſind gemeinſchaftlich, wie es die Sekte vor-
ſchreibt, im Bade. — Als im Jahre 1840, bei Uebernahme des
Schloſſes, auch die Bildergallerie gerichtlich taxirt wurde, hatte der
Wriezener Aktuarius dieſes Bild wie folgt bezeichnet: „Nackte
Weibsbilder von einem gewiſſen Rubens. 15 Sgr.“
Unſer letzter Beſuch gilt der Kirche.
Sie wurde, wie ſchon bemerkt, in den Jahren 1816 und
1817 durch Schinkel reſtaurirt und im October 1817 eingeweiht.
Schinkel ließ von dem alten Bau wohl nur die Umfaſſungsmauern
ſtehen; — der Thurm (wenigſtens die obere Hälfte deſſelben), das
Mauſoleum und die innere Einrichtung der Kirche ſelbſt, ſind ſein
28
[434] Werk. Der Thurm iſt ein Curioſum; auf dem Unterbau deſſelben,
der etwa bis an den Dachfirſt reicht, hat er eine niedrigere Etage
aufgeſetzt, dieſer Etage aber nicht die Form eines Würfels, ſondern
eines niedrigen, von zwei Seiten her zuſammengepreßten Cylinders
gegeben. Das Ganze ſieht etwa aus, und entſpricht auch ziemlich
den Proportionen, wie wenn man ein ovales Serviettenband auf
eine oblong geformte Theebüchſe ſtellt. Wie Schinkel zu dieſem
Curioſum gekommen iſt, iſt ſchwer zu ſagen. Er hielt, der bloßen
Theorie gegenüber, viel vom ausprobiren; erwieſen iſt es, daß
er Dinge, die in der Zeichnung ſeinen Beifall hatten, hinterher
änderte, weil er fand, daß ſie in Subſtanz und Wirklichkeit ſich
anders ausnahmen, als im Bilde. Dieſe oft gemachte Erfahrung
konnte ihn, in einem einzelnen Falle, leicht dahin führen, überhaupt
ſich mal auf’s Probiren zu legen und etwa zu ſagen: „ſo vieles,
was die Theorie gut heißt, macht ſich hinterher ſchlecht; ſei es des-
halb mal verſucht, ob nicht das, was die Theorie verwirft, ſich
hinterher gut präſentirt.“ So ſetzte er (wenn wir überhaupt rich-
tig erklärt haben) eine elliptiſche Etage auf einen oblongen Unter-
thurm. Aber freilich war es ein mißglückter Verſuch. Wir zweifeln
nicht, daß er ihn ſpäter ſelber als ſolchen angeſehen hat.
An der entgegengeſetzten Giebelwand der Kirche befindet ſich
das Mauſoleum. Es iſt, wie alle ähnlichen Werke Schinkels,
ein durchaus griechiſcher Bau: doriſche Säulen tragen ein Giebel-
feld. Die Anlage iſt in gewiſſem Sinne eigenthümlich und verhält
ſich zu einem frei und ſelbſtſtändig daſtehenden Mauſoleums-Bau
(etwa nach Art des Chorlottenburgers), wie ſich ein Hautrelief zu
einer vollen, plaſtiſchen Figur verhält. Der Bau ſteckt nämlich
ſcheinbar in der Kirchenwand und ſpringt aus derſelben nur zum
kleinſten Theil hervor. Es iſt die bloße Front eines Mauſoleums.
Das Innere der Kirche, — bis zu einem gewiſſen Grade
an den Berliner Dom erinnernd, und in der That genau um
dieſelbe Zeit (1817) aufgeführt, in der Schinkel die Reſtaurirung
des alten Doms leitete, — iſt hell, geräumig, lichtvoll, ein wenig
nüchtern; das Ganze mehr ein Betſaal, als ein Kirchenſchiff. Eigen-
[435] thümlich iſt der Altar. Hinter demſelben, die Kirche chorartig ſchlie-
ßend, erhebt ſich eine hohe Niſchen-Wand, deren halbkreisförmige
Fläche durch gemalte Säulen in verſchiedene Felder getheilt wird.
Es ſind ihrer fünf. Aus dem Mittelfelde ſpringt die Kanzel her-
vor, nach rechts und links hin von den vier andern Feldern flan-
kirt. In dieſen vier Feldern befinden ſich die Coloſſalfiguren der
vier Evangeliſten, und zwar Johannes und Lucas zur Linken,
Matthäus und Marcus zur Rechten der Kanzel. Die Bilder ſind
von ungleichem Werth; Matthäus, Johannes, Lucas laſſen viel
zu wünſchen übrig; der Marcus, wenn ich nicht irre, nach Michel
Angelo, iſt vorzüglich. Sie rühren von einem gewiſſen Bertini
her, den der Staatskanzler (bekanntlich ein Mäcen der ſchönen
Künſte) nach Italien ſchickte, um dieſe Bilder nach den Vorbildern
großer Meiſter zu fertigen. Sie ſind, wie geſagt, nicht alle gut,
aber auch wie ſie ſind, bilden ſie jedenfalls einen Bilderſchmuck,
wie er derart, nach der Seite des Künſtleriſchen hin, in mär-
kiſchen Dorfkirchen ſchwerlich zum zweiten Male angetroffen wird.
Der Altar der Kirche birgt noch eine andre Sehenswürdig-
keit: das Herz des Fürſten-Staatskanzlers. Auf einem Kiſſen ruht
es, von einer Glasglocke umſchloſſen. Der Schrein aber, der das
Ganze einſchließt, trägt an ſeiner Außenſeite folgende Ottaverim-
Strophe als Inſchrift:
Dieſe Strophe, die dem Andenken des Fürſten eine maßvolle
und wohlverdiente Huldigung darbringt, böte eine ſchickliche Gele-
genheit, wenigſtens den Verſuch einer Charakteriſtik zu wagen. Ich
nehme aber Abſtand davon. Was ich ſagen könnte, iſt oft geſagt;
28*
[436] Neues, Schärferes, Zutreffenderes kann nur von denen geſagt
werden, die im Vollbeſitz des Materials ſind und zu voller Ein-
ſicht in den Charakter, auch einen wirklichen direkten Einblick
in alles Geſchehene, in die Dinge und ihre Motive mitbringen.
Eine ſolche Charakteriſtik des Fürſten gehört der Zukunft an. Eines
aber möge hier, wie ein nicht abzuweiſendes Bekenntniß, ſeinen
Ausdruck finden, die Ueberzeugung, daß, ſoweit menſchliches Wiſſen
und Erkennen reicht, Hardenberg ein auserwählter Mann war, ein
Mann, dem nach dem Rath und Willen Gottes die Aufgabe zu-
fiel, die Rettung unſeres Vaterlandes glücklich durchzuführen.
Selbſt ſeine Schwächen leiſteten dieſer Aufgabe Vor-
ſchub. Ein bloßer sans peur et sans reproche (etwa wie
Stein oder Marwitz, zu denen wir freilich freudiger und geho-
bener aufblicken) hätte es muthmaßlich nicht vermocht. Der Fürſt
war kein sans reproche; ſeine Fehler liegen zu Tage. „Man
braucht kein moraliſcher Herrſchel zu ſein (wie ſein Biograph ſich
ausdrückt), um dieſe Fehler mühlos zu entdecken.“ Aber dieſe Mi-
ſchung von Edlem und minder Edlem, von Schlauheit und Offen-
heit, von Nachgiebigkeit und Feſtigkeit, war genau das, was die
Situation erheiſchte. Eigenſinn und Prinzipienreiterei hätten uns
verdorben. Sein Leben (Vorbild oder nicht) hat uns gerettet; wie
er ſelber in Beſcheidenheit hinzuſetzen würde: durch die Gnade
Gottes.
[[437]]
Friedland.
Sie ſchwimmen ſtracks herbei,
Nun einmal zu erfahren
Was in den Mauern ſei.
Uhland.’
Alt-Friedland, vormals Kloſter-Friedland, bildet die zweite
Hälfte des Beſitzes, den Markgraf Carl von Schwedt in dieſen
Gegenden, d. h. am Rande des Oderbruchs inne hatte. Die an-
dere Hälfte war Quilitz (Neu-Hardenberg) von dem wir im vo-
rigen Kapitel geſprochen.
Friedland war in alten Zeiten ein Nonnenkloſter des Ciſter-
zienſer-Ordens, deſſelben Ordens, der die erſten Anfänge der Cul-
tur in das Land zwiſchen Elbe und Oder trug, den Ackerbau
ſchuf und, wie das Land wirthbar machte, ſo auch das Volk be-
lehrte und unterwies. Was die Geſchichte dem Ciſterzienſer-Orden
im Allgemeinen nachrühmt, das traf innerhalb der Marken (d’rin
alles „wüſt und leer“ war) in verdoppeltem Maße zu. „Die
Ciſterzienſer waren frei von jener geiſtigen Zerſtreutheit,
welche damals die gewöhnliche Folge ſcholaſtiſcher Streitig-
keiten war. Sie waren ausgezeichnete Landwirthe, immer voran
mit ihrer Hände Arbeit. Aber ihrer Hände Arbeit beſtand nicht
blos außerhalb der Kloſtermauern im Ausroden des Waldes,
im Fällen der Bäume, im Umgraben der Erde, ſondern auch in-
nerhalb des Kloſters im Abſchreiben der Bücher. Sie brach-
[438] ten nicht nur das Chriſtenthum, ſie brachten auch die Cultur: ſie
bauten, ſie lehrten. Dabei waren ſie vor anderen ausgezeichnet
in der Kunſt der Bekehrung.“ So beſchreibt ſie die Geſchichte
des Ordens.
Wann Kloſter Friedland gegründet wurde, iſt nicht mehr mit
Beſtimmtheit feſtzuſtellen, da im Jahre 1300 das alte Kloſter (zum
Theil) ſammt ſeinen Urkunden verbrannte. Doch läßt ſich nachweiſen,
daß es bereits ziemlich lange vor 1271 beſtand, alſo durchaus in die
erſte Zeit der Germaniſirung dieſer Landestheile zurückreicht. Der
Evangeliſt Johannes war der Schutzheilige des Kloſters; die
Kloſterkirche war der heiligen Jungfrau geweiht.
Wahrſcheinlich in demſelben Jahre (1300), in dem das alte
Kloſter niederbrannte, wurde auch bereits mit dem Aufbau eines
neuen begonnen. In eben dieſem Jahre wurde eine Urkunde aus-
geſtellt, worin Markgraf Albrecht dem Kloſter ſeinen alten Beſitz
beſtätigte. Wir erſehen daraus, daß Kloſter Friedland damals fol-
gendes beſaß: das Städtchen (jetzt Dorf) Friedland; ferner die
Dörfer Ringenwalde, Biesdorf und Lüdersdorf; ferner Antheile
an den Dörfern Metzdorf, Löwenberg, Beiersdorf, Börnecke, La-
deburg, Klein-Barnim und Marzahne; ferner (ganz oder theil-
weis) die Alebrand-Mühle bei Friedland, die Lapenow’ſche
Mühle bei Ringenwalde und die Dornbuſch-Mühle bei Bliesdorf.
Beſonders reich aber war Kloſter Friedland an ſchönen Seen,
deren Fiſch-Ertrag für die frommen Jungfrauen ausgereicht haben
würde, wenn auch das ganze Jahr aus Faſttagen beſtanden hätte.
Das Kloſter beſaß nämlich: den Kloſter- und Kiezer-See bei
Friedland, den Großen und Kleinen Tornow-See bei Probſthagen
(jetzt Pritzhagen), den Griepen-See, den Buckow’ſchen See, den
Weißen-See und zum Theil den Großen Schermitzel-See, alle vier bei
Buckow gelegen. Dazu geſellte ſich ein Weinberg bei Wriezen
und von Seiten der obengenannten Dornbuſchmühle die Verpflich-
tung: den Nonnen zu Friedland täglich vor Sonnen-
aufgang eine warme Semmel zu liefern. Dieſe „warme
[439] Semmel“ gönnt uns Einblick in die gemüthliche Seite des Klo-
ſterlebens.
Es ſcheint indeſſen bei dieſen und ähnlichen Gemüthlichkeiten
nicht ſein Bewenden gehabt zu haben, denn die nächſte Urkunde
(freilich 85 Jahre ſpäter) iſt bereits darauf aus, durch Ordinatio-
nen und Befehle dem um ſich greifenden Sittenverfall zu ſteuern.
Es war die Zeit, wo die ſtrenge Kloſterregel überall einer „mil-
den Praxis“ zu weichen begann, ganz beſonders in der Mark, wo
die urſprüngliche, kaum gezähmte Wildheit der Bewohner, unter
der bairiſchen und luxemburgiſchen Herrſchaft, neu hervor zu bre-
chen begann. Auch die Klöſter wurden davon berührt. Einſt war
das Leben innerhalb derſelben ſtark genug geweſen, nach außen
hin bildend und ſittigend zu wirken, jetzt, ſchwach geworden, drang,
faſt ohne auf Widerſtand zu ſtoßen, der allgemeine Sittenverfall
von außen her in die Kloſtermauern ein. Das erſehen wir mit
aller Beſtimmtheit aus der zweiten Urkunde (vom 3. Juli 1381),
der Riedel die Ueberſchrift gegeben hat: „Dietrich, Biſchof von
Brandenburg, ordnet die Einrichtungen des Kloſters Friedland.“
Sie iſt die wichtigſte unter allen Urkunden, die auf das Kloſter
Bezug nehmen, weshalb wir uns ausführlicher mit derſelben be-
ſchäftigen. Es iſt dreierlei, was wir aus dieſer Urkunde erſehen:
1) das Regiment des Kloſters; 2) die Thatſache des Verfalls;
3) die Mittel und Wege dieſem Verfall zu ſteuern.
1. Die Urkunde beginnt, Einblicke in das „Regiment des
Kloſters“ gönnend, wie folgt:
Dietrich durch die Gnade Gottes und des heiligen Stuh-
les Biſchof von Brandenburg, entbietet der in Chriſto ge-
heiligten Abbatiſſin, der Priorin und dem ganzen Kloſter
der heiligen Frauen in Fredelant, ſo wie auch dem ſehr
ehrenwerthen Praepoſitus derſelben (d. h. dem Probſt)
Gruß im Herrn und ermahnt ſie unſeren Statuten, Or-
dinatorien und Mandaten feſt und treu zu gehorſamen.
Gleich dieſer erſte Satz der Urkunde belehrt uns über man-
ches Abweichende. Wir ſehen zunächſt das Kloſter unter dem
[440] Biſchof ſtehen. Dies war nicht das Herkömmliche. Wir finden in
der Geſchichte des Ciſterzienſer-Ordens folgendes: Der heilige Ste-
phan (Stephan Harding, ein Engländer) hatte mit den Biſchöfen,
in deren Diöceſen die Klöſter ſtanden, einen wichtigen Vertrag ge-
ſchloſſen. Er verſprach ihnen nämlich, daß in ihren Sprengeln nie
ohne ihre Gutheißung ein Kloſter errichtet werden ſollte, und ſie
gaben ihm ihrerſeits wiederum die Verſicherung, daß ſie freiwil-
lig auf ihr Recht hinſichtlich der Beaufſichtigung ver-
zichten wollten. So weit die Geſchichte des Ordens. Doch iſt
es möglich, daß in der Mark Brandenburg von Anfang an dieſe
Dinge ſich anders (oder wenn man ſo will, wieder im Einklang
mit den früheren Zuſtänden des Ordens) geſtalteten und die
Klöſter, ohne Ciſteaux und das franzöſiſche Herkommen zum Mu-
ſter zu nehmen, in eine Abhängigkeit von den Biſchofſitzen ein-
traten.
Das andere, was in dieſem Eingangsſatz der Urkunde auf-
fällt, iſt das Vorhandenſein — neben der Aebtiſſin und dem Prä-
poſitus — einer beſonderen Priorin, während doch die Klöſter im
Allgemeinen nur eine Aebtiſſin oder Priorin, aber nicht beides
zugleich kannten. Ja (das ſei ſchon hier bemerkt) unſer Kloſter
Friedland ſcheint in der Folge noch um einen Schritt weiter ge-
gangen zu ſein, indem wir aus dem Jahre 1486 einer andern
Urkunde begegnen, in der nicht nur von einem Präpoſitus, einer
Aebtiſſin, einer Priorin, ſondern auch noch von einer Subprio-
rin geſprochen wird. Es ſcheint faſt, daß ſich die Einrichtungen
in dieſen, vom Mittel- und Ausgangspunkte des Ordens (Ci-
ſteaux) weit abgelegenen Klöſtern, ſehr weſentlich anders geſtalte-
ten, als in Gegenden, die dieſem Mittelpunkte näher lagen.
2. Die Urkunde fährt nun (die Thatſache des Verfalls
conſtatirend) folgendermaßen fort:
Wir wiſſen und haben aus der Evidenz der Thatſachen
erfahren, daß überall, wo die Herrſchaft der Zucht verach-
tet wird, die Religion ſelber Schiffbruch leidet. Wir haben
daher Vorſorge getroffen, damit nicht durch Verachtung
[441] dieſer Zucht, an denen die ſich Chriſto verlobt haben, Un-
paſſendes wahrgenommen werde, was angethan iſt, dem
Ruhm der Tugend und Ehrbarkeit einen Makel anzuhef-
ten, oder die göttliche Majeſtät zu beleidigen. So denn
haben wir, mit Uebergehung geringerer Dinge, in Nach-
ſtehendem in Betracht gezogen, wie euer Zuſtand würdig
und angemeſſen zu reformiren ſei.
Der Zuſtand des Kloſters war alſo der Reform bedürftig.
Es ſcheint aber faſt, daß er derſelben ſogar dringend bedürftig
war, denn der letzte Satz der Urkunde (nachdem aufgezählt iſt, in
welcher Weiſe die Zucht und Sitte wieder hergeſtellt werden ſoll)
ſchließt mit folgender Androhung:
Wer aber unter euch, ſei es im Einzelnen oder in all
und Jedem, noch 12 Tage nachdem dieſe Statuten, Or-
dinationen und Befehle zu eurer [Kenntniß] gelangt ſind,
als frecher Verletzer oder freche Verletzerin ſich erblicken
läßt, erfährt die Sentenz der Excommunikation, von wel-
cher der Betroffene, es ſei denn er ſtürbe (nisi in mortis
articulo), nicht ohne unſere ſpecielle Erlaubniß abſolvirt
werden wird.
3. Den Hauptinhalt der Urkunde bildet aber die Aufzählung
der verſchiedenen Punkte, die der Reform bedürftig ſind
und die Angabe des Guten, der Ordensregel Entſprechenden, das
an die Stelle eingeriſſener Unordnung zu ſetzen iſt. Die Urkunde
ſagt darüber:
- a) So denn, nach fleißiger Berathung und Verhandlung,
ſetzen wir feſt, ordiniren und befehlen wir, in wieweit ihr
Nonnen unter feſter Clauſur zu verbleiben habt. Zu
allen Thüren, deren Eingang und Ausgang erforderlich
iſt, ſollt ihr zwei verſchiedene Schlüſſel haben, der eine,
von innenher, für euch Abbatiſſin, der andere, von außen-
her, für euch Herr Präpoſitus, ſo daß Niemand ein- oder
ausgehen kann, ohne Wiſſen und Zulaſſung von euch bei-
den. Wir ordnen dabei ferner an, daß keine der Nonnen,
[442] unter was immer für Vorwand, Erlaubniß haben ſoll,
außerhalb des Kloſters wohnende Freunde, noch auch über-
haupt draußen Lebende zu beſuchen, ſo wie wir auch be-
fehlen, daß niemand ohne ſpecielle Erlaubniß der Abbatiſſin
(von innen her) oder des Präpoſitus (von außen her)
an das Küchenfenſter (ad fenestram collationi) heran-
treten ſoll. Auch ſoll keine der Nonnen eine beſondere
Wohnung (habitaculum) oder ſonſtige Bequemlichkeit
haben, noch auch außerhalb des gemeinſchaftlichen Refek-
toriums oder eines andern gemeinſchaftlichen Eßraums
(cenaculum) zu Mittag oder zu Abend eſſen.*) Nur in
gewiſſen Fällen wird die Abbatiſſin von dieſer Anordnung
Abſtand nehmen können, aber doch immerhin ſo nur,
daß alsdann an einem andern, eigens und ſpeciell dazu
beſtimmten Orte, die Mahlzeit eingenommen werden muß. - b) Im Uebrigen, in Gemäßheit der zweiten Ordensregel und
nach alter löblicher Gewohnheit dieſes Kloſters, ſollt ihr
der Abbatiſſin in allem folgſam und gehorſam ſein. Und
wenn eine unter euch, wegen Ausſchreitung und Unterlaſ-
ſung, Mahnung oder Strafe verdient, ſo ſoll ſie dem Aus-
ſpruch der Abbatiſſin, in Gemäßheit der Ordensregel Ge-
horſam leiſten, ſoll auch nicht von irgend einer andern bei
[443] dieſen Vorgängen gegen die Abbatiſſin vertheidigt werden,
außer wenn es die Ordensregel geſtattet. - c) Und ihr ſollt ferner keine Mägde oder beſondere weltliche
Dienerinnen, weder innerhalb des Kloſters, noch auch
außerhalb deſſelben, zu dieſem oder jenem Geſchäft haben,
außer ſolche, welche durch euren Präpoſitus zugelaſſen und
zu eurer Bedienung ſpeciell erleſen ſind; noch auch ſoll
euch geſtattet ſein unter was immer für Vorgabe, irgend
eine weltliche Jungfrau in euer Kloſter auf längere oder
kürzere Zeit als Mitbewohnerin aufzunehmen, es ſei
denn auf ſpecielle Erlaubniß. Und wenn ihr in Folge un-
ſerer Erlaubniß eine ſolche unter euch aufgenommen habt,
ſo ſoll ſich dieſe Aufgenommene (suscepta) kleiden wie
ihr, in ein eben ſolches Kleid und eine graue Tunica
darüber. Und einmal aufgenommen ſoll ſie das Kloſter
nicht wieder verlaſſen, unter was immer für Vorgabe, vor
Ablauf einer vorher feſtgeſetzten Zeit, es ſei denn, daß ſie
unſere Erlaubniß dazu erhielte. Und für den Fall, daß
etwas für die Koſten ſolcher Mitbewohnerin beigeſteuert
wird, ſo ſollt ihr dies dem Präpoſitus geben oder irgend
einem andern, in den ihr Vertrauen ſetzt. — - d) Im Uebrigen ſollt ihr eine Lehrſchweſter oder Schul-
meiſterin, ſo wie auch eine Gemeindeſchule für Knaben
und Mädchen (ad omnes moniales juniores) haben,
und zwar dergeſtalt, daß die Knaben von Seiten der Lehr-
ſchweſter oder Schulmeiſterin zu beſtimmten und herkömm-
lichen Zeiten unterrichtet werden, wobei ſie (die Knaben)
nach Schul- und Lehrordnung, in allem was Zucht und
Schulwiſſenſchaft angeht, der Lehrſchweſter zu gehorchen
haben. - e) Und keine unter euch ſoll über Bedürfniß oder anders, als
durch den Präpoſitus verabreicht wird, Speiſe und
Trank fordern oder nehmen, ſondern ſoll zufrieden ſein
mit dem, was durch den Präpoſitus gegeben wird. —
[444] Außerdem ſollt ihr beſtrebt ſein, durch Tracht und Kleid
(vestitu et habitu) in Schuhen, in Haarſchleifen, in eng
ſchließenden Gürteln, in Gürtelſchnebben keinen andern
Schmuck zu haben, als ſolchen, welchen die Kirche zuläßt;
noch ſollt ihr, weil es der Scham, der Sitte und eurem
Geſchlecht widerſtreitet, Maskenſpiel und Maskenſcherze trei-
ben, noch auch ſollt ihr die Geburtstage oder andere jähr-
lich wiederkehrende Feſte beſonders halten und feſtlich be-
gehen. - f) Ebenſo, wenn es ſich trifft, daß ihr gemeinſchaftlich aus-
gehet und in Proceſſion das Cimiterium umſchreitet, ſo
werde keine von irgend wem berührt oder nach Sitte welt-
licher Frauen an Hand oder Arm geführt, vielmehr kehret
alle, nach dem Umgang in euer Kloſter zurück, ſo daß
kein anderer Zutritt zu euch offen ſteht, wie der, der oben
beſchrieben wurde. - g) Im Uebrigen, auf daß ihr aufmerkſamer den heiligen Ge-
bräuchen (divino cultui) obliegen könnt, ſollt ihr nicht
verſuchen, Brote oder Backwerk zu Hochzeiten oder andern
Feſtlichkeiten zu machen, zu kochen oder zu ſchicken.
Dann wird der Präpoſitus ermahnt, auch ſeinerſeits das
Rechte und Billige zu thun, niemand darben zu laſſen, nieman-
dem Grund zur Klage zu geben. Jedes Kloſtermitglied aber, das
alsdann noch zu Uebertretungen ſchreitet und Gehorſam weigert,
wird (wie oben ſchon wörtlich mitgetheilt) mit Excommunication
bedroht.
Ob und inwieweit dieſer Erlaß des Brandenburgiſchen Bi-
ſchofs der eingeriſſenen „milden Praxis“ ein Ziel ſetzte, das er-
fahren wir nicht. Zwar ſind es noch verſchiedene Urkunden, denen
wir auf dem langen Wege von 1381 bis zur Aufhebung des
Kloſters begegnen, aber außer den Namen einzelner Aebtiſſinnen,
Priorinnen und Pröbſte, entnehmen wir denſelben nichts weiter,
als daß gelegentlich ein Pfuel oder Wulffen eine Schenkung
machte, oder ein Ilow, ein Platen, dies oder das — meiſt Zölle
[445] und Hebungen — an das Kloſter Friedland (das immer, wie es
ſcheint, bei Kaſſe war) verpfändete.
So gingen die Dinge bis zum Jahre 1540, wo — nach
Anſchluß des Kurfürſten an die Lehre Luthers — die Säculari-
ſation von Kloſter Friedland erfolgte. Man zog die Kloſtergüter
ein, reſpektirte aber die Perſonen, d. h. beließ die Nonnen (ſpit-
telfrauenhaft) in ihren Zellen und wartete ihr Ausſterben ab.
Dies Ausſterben ließ aber lange auf ſich warten (die Luft um
Friedland herum war geſund).
Das Kloſter ging inzwiſchen, gleich in den erſten 20 Jahren,
aus einer Hand in die andere über, wobei die Nonnen, wie ein
altes Inventarium, immer mit überliefert wurden.
1568 endlich regelten ſich die Dinge in einer zufriedenſtellenden
Weiſe. Vier Jahre früher ſchon hatte Joachim von Roebel die
geſammten Kloſtergüter durch Kauf an ſich gebracht; jetzt (1568)
gelang es ihm auch, die Nonnen zu einem Aufgeben ihrer Woh-
nungs-Anſprüche zu vermögen. Eine Urkunde darüber wurde auf-
genommen, die noch exiſtirt. Es heißt darin, mit einem leiſen Vor-
wurf gegen den ſäkulariſirenden Kurfürſten:
Und dieweil hin und wieder in der Welt, ſonderlich
auch im heiligen römiſchen Reiche allerhand Permutationen
hinſichtlich der Klöſter und geiſtlichen Güter vorgefallen
ſind (Veränderungen, die wir diejenigen verant-
worten laſſen, denen es gebührt und zugeſteht),
ſo haben wir gedachtem Joachim Röbel, unſerm Schwa-
ger, Freund und Landsmann, dieſes Kloſter gegönnt und
ihm Brief, Siegel und Wohnung abgetreten.
Aus eben dieſer Urkunde lernen wir auch die Namen der-
jenigen Damen kennen, die damals noch, wie eine Hinterlaſſenſchaft
aus der katholiſchen Zeit her, als Nonnen von Kloſter Friedland
exiſtirten. Es waren:
Urſula von Barfus, Priorin. — Anna von Krum-
menſee, Schaffnerin. — Urſula von Pfuel. — Mar-
garethe von Stranz, Küſterin. — Urſula von Bar-
[446] fusII., Nonne. — Magdalene von Löwenberg. —
Urſula von Hoppenrade.
Die Letztgenannte war die Jüngſte. Sie war 42 Jahre früher
als letzte Nonne aufgenommen worden, jetzt alſo, bei Unterzeich-
nung der Urkunde, muthmaßlich eine Dame von einigen ſechzig
Jahren. Es drängt ſich unwillkürlich die Frage auf, wie alt die
älteſte geweſen ſein möge.
Kloſter Friedland blieb zwei, vielleicht nur anderthalb Jahrhun-
derte lang im Beſitz der Roebels. Etwa um die Mitte des vorigen Jahr-
hunderts kam es, wie bereits Eingangs erwähnt, zuſammen mit Quilitz,
an den Markgrafen Karl, der ſich wenigſtens vorübergehend, hier
aufzuhalten pflegte. Seine bevorzugte Geliebte, eine Mamſell Sie-
bert (der er in der Cöpnicker-Straße zu Berlin ein ſchönes Haus
bauen ließ) war eine Tagelöhnertochter aus Friedland.
Wie Friedland endlich an den General von Leſtwitz und
dadurch an die Familie Itzenplitz kam, erzähle ich im folgenden
Kapitel, unter Cunersdorf.
Die Lage Kloſter Friedlands, — auf einem ſchmalen Land-
ſtreifen zwiſchen zwei Seen, dem Kloſter- und dem Kiezer-See
— muß von nicht gewöhnlicher Schönheit geweſen ſein, als die
umgebende Bruchlandſchaft noch ihren alten Charakter hatte und
die hohen Giebel der Kloſtergebäude abwechſelnd in den einen oder
andern See ihre Schatten warfen. Aber ein ſolches Bild bietet
ſich dem Auge nicht länger dar, und die Trümmer verſchiedener
anderer märkiſcher Klöſter machen einen tieferen und mehr poeti-
ſchen Eindruck, theils, weil die Trümmer ſelber pittoresker, theils,
weil ihre Umgebungen (bei ſonſt mannigfach Verwandtem) anſpre-
chender ſind. Die Lage z. B. des zur Schwedenzeit durch Feuer
zerſtörten Jungfrauen-Kloſters zu Lindow, zwiſchen dem Wutz-
und Gudelack-See, iſt der Lage Kloſter Friedlands nahe verwandt,
aber die epheuumrankten Mauern, die Storchneſtgeſchmückten Gie-
bel, vielleicht auch die Hügel-Lage zwiſchen den Seen, leihen
jener Kloſterruine im Ruppinſchen einen romantiſchen Reiz, deſſen
Kloſter Friedland entbehrt.
[447]
Kloſter Lindow iſt ſchöner gelegen, vielleicht auch maleriſcher
in ſich ſelbſt, als Kloſter Friedland, aber dies letztere iſt beſſer er-
halten, und die Umfaſſungsmauer z. B., ferner das Haus des
Probſtes, ein Stück Kreuzgang, vor allem das Refektorium, zeigen
ſich zum Theil in noch gutem Zuſtand.
Das Refektorium, jetzt als Malzplatz benutzt, läßt ſich in
ſeinen baulichen Einzelheiten noch genau verfolgen. Es ſcheint der
Styl früherer Gothik und der Bau, wie er da iſt, dürfte der
erſten Hälfte des 14. Jahrhunderts angehören. Das alte Klo-
ſter, das 1300 großentheils durch Feuer zerſtört wurde, war
zweifellos ein romaniſcher Bau*). Der Neubau aber, der nun an
die Stelle des niedergebrannten trat, wurde höchſt wahrſcheinlicher-
weiſe in demſelben Style aufgeführt, in dem wir bis dieſen
Augenblick noch das Refektorium erblicken. Vielleicht iſt dies Re-
fektorium auch derjenige Theil des Gebäudes, der das Feuer vom
Jahre 1300 überdauerte. Die gewölbte Decke deſſelben wird von
drei Säulenpfeilern getragen. Zwei dieſer Pfeiler ſind rund, der
dritte (mittelſte) 4 oder 6eckig. Die Gewölbe, die auf den Pfei-
lern ſtehen, ſind vielgeribbt, ſo daß immer 16 Ribben auf einem
Pfeiler ruhen, oder aus demſelben palmenhaft aufwachſen. Der
Raum zwiſchen den Pfeilern iſt verſchieden, und von oben nach
unten zu abgeſchritten, bemerkt man, daß der Zwiſchenraum von
Pfeiler zu Pfeiler immer von 1 bis 2 Fuß kleiner wird. Es ſtehe
dahin, ob dies Abſicht oder Zufall iſt.
[448]
Neben dem Kloſter, und vielleicht früher in unmittelbarem
Zuſammenhang mit demſelben, ſteht die ehemalige Kloſterkirche,
jetzt die Dorfkirche. Sie iſt nicht mehr was ſie war. Der Thurm
iſt kein eigentlicher Thurm mehr, (wird jetzt neu und maſſiv
erbaut) und die Kirche ſelbſt hat unter den verſchiedenen
Umbauten, denen ſie unterworfen wurde, ihren gothiſchen
Charakter faſt völlig verloren. Sie beſitzt aber aus alter ka-
tholiſcher Zeit her noch mehrere Werthſtücke, unter denen, in
Kugler’s Kunſtgeſchichte, vor allem eines Taufbeckens Erwäh-
nung geſchieht. Ich glaube indeſſen — irrthümlich. Möglich, daß
damals, wo man ſich der Mühe des Umherreiſens, der Special-
forſchung in den Provinzen (beſonders auch in unſrer Mark) noch
wenig unterzogen hatte, ein ſolches Taufbecken, das zufällig in die
Hand eines Kunſtforſchers kam, als etwas Beſonderes angeſehen
wurde, ähnlich wie noch vor Kurzem die vergoldeten Bilder-Al-
täre, von denen einige in Berlin ausgeſtellt waren, eine gewiſſe
Verwunderung hervorriefen. Ebenſo gewiß indeß, wie nunmehr die
Exiſtenz von hunderten ſolcher Bilder-Altäre aus katholiſcher Zeit
her, nachgewieſen iſt, ebenſo gewiß giebt es auch hunderte ſolcher
Taufbecken, wie ſie die Friedländer Kirche aufweiſt.
Was aber nicht nach hunderten anzutreffen iſt, und was in
der That eine Sehenswürdigkeit in Friedland bildet, das ſind
drei reichvergoldete Abendmahlskelche, die noch, als Werth- und
Erinnerungsſtücke aus der vorlutheriſchen Zeit her, im Pfarrhauſe
aufbewahrt werden. Alle drei ſind von verwandter Form und nur
der Größe nach verſchieden. Auf einem breiten Fuß ruht ein tul-
penförmiger Kelch, in der Mitte des kurzen Stiels aber, der dieſe
Kelchtulpe trägt, legt ſich ein ſechseckiges Ornament, ringförmig
um den Stiel herum. Eins dieſer ſechseckigen Ornamente iſt hohl
und von durchbrochener Arbeit; innerhalb deſſelben klappert eine
Reliquie, ein Knochenſplitter oder der Zahn eines Heiligen. Der-
ſelbe Kelch (einer der kleineren) trägt auf ſeinem Fuß die Na-
men: Martha. Johannes. Welſickendorp. Ein anderer (der größte
[449] und ſchönſte) zeigt, ſtatt der Namen, drei ſauber einradirte Ma-
rienbilder, nach Stellen aus der Offenbarung und abwechſelnd
mit dieſen drei Radirungen, drei kleine Goldſkulpturen, hautrelief-
artig auf den Fuß des Kelches aufgelöthet. Dieſe kleine Gold-
figürchen ſtellen „Maria und Johannes zu beiden Seiten des Ge-
kreuzigten“, ferner „St. Georg, den Drachen tödtend“ und ſchließ-
lich noch ein Drittes dar, deſſen Entzifferung mir nicht gelun-
gen iſt.
Dieſe Kelche beweiſen zur Genüge (und mehr als alles an-
dere, was vom Kloſter übrig geblieben iſt), daß Kloſter Friedland
zu den reicheren Stiftungen des Landes gehörte. Es darf auch
nicht wundern: zählten doch die Barfus, die Pfuels, die
Krummenſee und Ilows, deren Töchtern wir, wie mehrfach
hervorgehoben, vorzugsweiſe im Kloſter Friedland begegnen, zu
den begütertſten und angeſehenſten Familien des Landes. Ueber
den Ort, wo die Kelche herſtammen, iſt Nichts bekannt. Man
denkt natürlich zuerſt an Augsburg oder Nürnberg; doch ſind ſie,
neben der Sauberkeit und Sorglichkeit der Ausführung, auch na-
mentlich von ſolcher Grazie der Form, daß ich annehmen möchte,
ihre Heimath liege noch weiter ſüdlich.
Wir hoben ſchon hervor, daß die Geſchichte „Kloſter Fried-
lands“ mit dem Eingehen des Kloſters nicht ihre Endſchaft er-
reichte. Die Roebels und der Markgraf Karl von Schwedt folg-
ten im Beſitz; aber keiner von ihnen hat nachträglich dem alten
ſtillen Kloſterdorf einen veränderten Charakter aufzudrücken ver-
mocht. Es konnte auch kaum anders ſein. Die Roebels lebten in
Buch (bei Berlin), das ihnen ſchon, um der Nähe der Hauptſtadt
willen, lieber ſein mußte und ſcheinen in Friedland niemals dau-
ernd Wohnung genommen zu haben. Der Markgraf war aller-
dings von Zeit zu Zeit hier anzutreffen; aber ſeine Beſuche wa-
ren doch zu flüchtig und zu ſelten, als daß der Wunſch in ihm
hätte lebendig werden können, ein Schloß an dieſer Stelle auf-
führen zu laſſen. Ein einfaches Wohnhaus genügte dem Bedürf-
niß. Dies Wohnhaus exiſtirt noch und in ihm, als ein einziges
29
[450] direktes Erinnerungsſtück an die Zeit des Markgrafen, ein trefflich
gemaltes Bildniß deſſelben (halbe Figur). Ich weiß nicht, ob an-
dere Porträts von ihm vorhanden ſind; wäre es das einzige, ſo
dürfte es ſchon um deshalb einen gewiſſen hiſtoriſchen Werth be-
anſpruchen können.
Das Bild erinnert noch an Markgraf Karl und — nicht
zu vergeſſen — ein andres noch: eine Glocke, die er der Kirche
ſeiner Zeit zum Geſchenk machte. Sie führt nicht den Namen
eines Heiligen, ſondern heißt: „Markgraf Karl.“ Ob er ſelber,
durch Beiſpiel und Mahnung, die Dörfler jemals zur Kirche ge-
rufen, iſt mindeſtens zweifelhaft (es waren nicht die Zeiten danach),
aber die Glocke thut es jetzt ſtatt ſeiner, und ſo oft ſie am Sonn-
tag Morgen erklingt, heißt es im Dorf: Markgraf Karl ruft.
[[451]]
Cunersdorf.
Daß er ein Held iſt in der Schlacht
Und hat dazu ein gläubig Herz,
Dem kann man trauen allerwärts.
Otto Roquette.’
Cunersdorf iſt Nachbargut vom Kloſter Friedland und gehört,
wie dieſes, der Itzenplitziſchen Familie an. Es iſt zunächſt, ohne
ſeinem eignen Ruhme zu nahe treten zu wollen, nicht zu verwech-
ſeln mit dem berühmteren Schlachten-Kunersdorf (zum Un-
terſchied gewöhnlich mit einem K geſchrieben), das, weiter öſtlich,
eine halbe Meile jenſeits Frankfurt gelegen iſt, während unſer
Cunersdorf dieſſeits der Oder, zwiſchen Wrietzen und Selow liegt.
Um über Cunersdorf zu ſchreiben, iſt es nöthig noch einmal
auf Kloſter Friedland und das Jahr 1763 zurückzugehn, in wel-
chem Jahre — wie ſchon früher hervorgehoben — die bis dahin
Markgraf Carl’ſchen Güter Quilitz und Friedland, an die Krone
zurückfielen. Sie blieben aber nicht lange bei der Krone, indem
der König im ſelben Jahre noch beide Güter als Dotationsgüter
an zwei ſeiner Lieblings-Offiziere verlieh. Quilitz ſchenkte er an
den damaligen Obriſtlieutenant von Prittwitz; Friedland er-
hielt der Major (oder Obriſtlieutenant) von Leſtwitz.
Noch einmal ſei hier das Wort citirt: Prittwitz a sauvé le
roi, Lestwitz a sauvé l’état.
29*
[452]
Leſtwitz beſaß nun Friedland; wie aber kam er zu Cu-
nersdorf? Das geſchah ſo.
Leſtwitz war in Zweifel darüber, ob er Friedland als Lehn oder
als Allodium erhalten habe und ſcheute ſich doch, bei dem König deshalb
anzufragen. War es Lehn, ſo fiel das Gut, da er keinen Sohn hatte,
nach ſeinem Tode an die Krone zurück. In dieſer Verlegenheit —
einerſeits von dem lebhaften Wunſche erfüllt, ſeiner einzigen Toch-
ter ein Gut als Erbe zu hinterlaſſen, und andrerſeits von der
berechtigten Vorſtellung ausgehend, daß es mißlich ſei, ohne aus-
drückliche Erklärung des Königs, Friedland als Allodium und
freien Beſitz anzuſehen — entſchied er ſich dafür, das benachbarte,
vormals von Barfus’ſche Gut Cunersdorf anzukaufen und ſich
dadurch in die Lage zu bringen, ſeiner Tochter, wie immer ſpäter-
hin auch die Anſicht des Königs ſich herausſtellen möge, doch
jedenfalls ein Gut hinterlaſſen zu können. Er kaufte alſo Cu-
nersdorf
Bald darauf ſah Leſtwitz die Nothwendigkeit ein, ſich auf
einem ſeiner Güter ſtandesgemäß einzurichten, d. h. ein Schloß zu
bauen. Da ihm der dauernde Beſitz Friedlands (dauernd über
ſeine eigene Lebenszeit hinaus) zweifelhaft war, ſo entſchied er ſich
ſelbſtverſtändlich dafür, das Schloß in dem neu erworbenen Cu-
nersdorf*) aufführen zu laſſen. Als der Bau halb fertig war,
kam der König auf einer ſeiner Inſpectionsreiſen des Weges.
„Leſtwitz, warum baut Er denn in Cunersdorf und
nicht in Friedland?“ Jetzt war der Moment der Erklärung
gekommen. Leſtwitz antwortete, daß er keine Söhne und nur eine
Tochter habe, und davon ausgegangen ſei, daß Friedland nach
ſeinem (Leſtwitz’s) Tode, an den König zurückfallen werde. „Ich
[453] weiß ja, daß Er keine Söhne hat“, antwortete der König gnädig,
„es ſoll Alles Seiner Tochter verbleiben.“
So kamen Cunersdorf und Friedland an die Familie Leſt-
witz, Friedland als freier Beſitz aus Königs Hand, Cunersdorf
durch Kauf. Friedland, das einſt eine glänzende Zeit gehabt hatte,
verlor mehr und mehr. Nur Kirchdorf blieb es. In Schloß Cu-
nersdorf aber lebten die Leſtwitze und nach ihnen die Itzen-
plitze, von denen beiden ich in Nachſtehendem zu erzählen haben
werde.
[Hans Georg Sigismund von Leſtwitz,
von 1763 — 1788.]
Leſtwitz ebenſo wie auch Prittwitz gehört in die Reihe der-
jenigen Offiziere des großen Königs, denen es, bei verhältniß-
mäßig noch jungen Jahren, vergönnt war, durch irgend eine glän-
zende Kriegsthat in die Geſchichte einzutreten, denen wir aber,
während der letzten 30 Jahre ihres Lebens, wo ſie zu hohen
Stellungen gelangten, kaum wieder begegnen, weil der andauernde
Friede jede Gelegenheit zu Thaten verbot, die der hiſtoriſchen Auf-
zeichnung werth geweſen wären. Ich gebe hier alles, was ich über
Leſtwitz habe in Erfahrung bringen können.
Hans Sigismund von Leſtwitz wurde am 19. Juni
1718 zu Kontop im Glogauſchen geboren. Sein Vater war der
ſpätere General-Lieutenant Johann George von Leſtwitz,
ſeine Mutter, Helene, geb. Freiin von Kottwitz. Die Leſt-
witze, die im Mannesſtamme, mit unſerm Hans Sigismund
ausſtarben, gehörten den vier alten ſchleſiſchen Familien an (die
Leſtwitze, die Prittwitz, Strachwitz und Zedlitz), die ſchon
bei Liegnitz in der Mongolenſchlacht gefochten hatten. Hans Si-
gismund machte ſeine Studien auf der Univerſität zu Frank-
furt a. d. O., und trat 1734 als Fahnjunker in das daſelbſt
garniſonirende Schwerin’ſche Regiment. Er machte die beiden
ſchleſiſchen Kriege mit, focht bei Molwitz, Chotuſitz (Czaslau),
Hohenfriedberg und Sorr mit Auszeichnung, und erhielt gleich in
der erſten Schlacht des 7jährigen Krieges (bei Lowoſitz) den Pour
[454] le mérite. 1757 wurde er Major im Regiment Alt-Braunſchweig.
Er war noch Major in eben dieſem Regiment, als die blutige
Schlacht bei Torgau (am 3. November 1760) ihm Gelegenheit
gab, ſich in beſonderem Grade auszuzeichnen. Eine vortreffliche
Schilderung der „Schlacht bei Torgau“ (von Graf Walderſee)
ſagt darüber im Weſentlichen Folgendes:
„Der Flügel des Königs war geſchlagen; nur vier Ba-
taillone vom Regiment Schenkendorf ſtanden noch in Reſerve;
unter ihrem Schutze ſollte ſich die Armee wieder ſammeln. Der
König fühlte ſich durch den Einfluß ſeiner Kontuſion (eine Kar-
tätſchenkugel hatte ihn beſinnungslos vom Pferde geworfen), ſo
ermattet, daß er ſich nicht mehr fähig hielt, das Commando der
Armee fortzuführen. Er trat es alſo (auch Markgraf Karl war
bleſſirt) an den General-Lieutenant von Hülſen ab. Er ſelbſt zog
ſich aus dem Getümmel zurück.
Um dieſe Zeit war es, daß einzelne Offiziere die Mannſchaf-
ten wieder zu ſammeln ſuchten. Beſonders zeichnete ſich der Major
von Leſtwitz vom Regiment Alt-Braunſchweig dabei aus. Es
war ihm bereits gelungen, einige hundert Infanteriſten von ver-
ſchiedenen Regimentern und eine Anzahl Tambours in eine Maſſe
zu formiren, als der König, in der Abſicht das Schlachtfeld zu
verlaſſen, vorüber ritt.
„Wer iſt Er und was will Er hier machen?“ fragte der
König.
„Ew. Majeſtät, ich bin der Major Leſtwitz von Alt-Braun-
ſchweig und ſammle Offiziere und Leute, um mit ihnen die Höhen
zu ſtürmen.“
„Na, Herr, das iſt brav, ſehr brav, da mache Er nur ge-
ſchwind und formire Er einige Bataillone.“
Beim Fortreiten wandte der König ſein Pferd noch einmal
um und ſagte: „Höre Er, mein lieber Leſtwitz, ſei Er verſichert,
daß ich Ihm dies nie vergeſſen werde.“
Der König mochte ſich erinnern, daß der Major von Leſt-
[455] witz, der Sohn des General-Lieutenants von Leſtwitz*) war,
den wegen der unglücklichen Capitulation von Breslau (1757)
die Ungnade des Königs und die ganze Schwere der Militair-
geſetze betroffen hatte.
Es glückte Leſtwitzen in der That, aus den Zerſprengten
drei Bataillone zu bilden, zu denen ſich nun die vier noch intakt
gebliebenen Bataillone des Regiments Schenkendorf geſellten. Dieſe
ſieben Bataillone waren es, die, als ſpät am Abend Zieten die
Süptitzer Höhen in der Front attackirte, dieſen Frontangriff durch
einen Flanken-Angriff unterſtützten und dadurch den Tag ent-
ſchieden.
Der König ſchrieb (vielleicht nicht ohne eine gewiſſe Ungerech-
tigkeit gegen Zieten, den er übrigens andern Tags unter Thrä-
nen umarmte) den Erfolg dieſes Gefechtes, nächſt dem Major von
Leſtwitz, dem Regimente Schenkendorf zu. Er vergaß auch Leſt-
witzen nicht. Unmittelbar nach dem Kriege, wie wir bereits ge-
ſehen haben, erhielt dieſer Amt Friedland, alſo die Hälfte des ehe-
mals Markgraf Karl’ſchen Beſitzes, und der König, wie um zu
zeigen, daß Prittwitz und Leſtwitz ſeinem Herzen gleich nahe
ſtänden, verfuhr bei der Theilung mit ſolcher Gewiſſenhaftigkeit,
[456] daß er z. B. dem etwas kleineren Amt Friedland noch einige
Quilitzer Höfe hinzufügte.
1765 wurde Leſtwitz Oberſt, 1766 Chef des Leib-Grena-
dier-Bataillons, 1767 Generalmajor. Er blieb ein Liebling König
Friedrichs, der ihn oft in ſeine Geſellſchaft zog. Auch das Te-
ſtament des Königs (vom 8. Januar 1769) erwähnt ſeiner we-
nigſtens mittelbar. Es heißt darin §. 28: „Einem jeden Stabs-
offizier von meinem Regiment und von Leſtwitz, wie auch von
der Garde du Corps, vermache ich eine goldene Denkmünze, die
bei Gelegenheit unſerer glücklichen Waffen und der Vortheile, die
unſere Truppen unter meiner Anführung erhalten haben, geprägt
worden.“ 1779, wahrſcheinlich unmittelbar nach dem bairiſchen Erb-
folgekrieg (an dem er noch Theil nahm) zog er ſich aus dem
Dienſt zurück. Er ſtarb 1788 am 16. Februar.
[Frau von Friedland.
1788—1803.]
Hans Sigismund von Leſtwitz war am 16. Februar
1788 zu Berlin geſtorben, ſeine Leiche aber nach Cunersdorf
übergeführt worden. Da ihm, wie wir geſehen haben, Amt Fried-
land als freies Eigenthum von Seiten des Königs verliehen wor-
den war, ſo ging nun die ganze Herrſchaft Friedland, die bereits
eine ganze Anzahl von Gütern zählte, auf ſeine Erbtochter über,
die damals ſchon den Namen „Frau von Friedland“ führte.
Mit dieſem Namen hatte es folgende Bewandtniß:
Helene Charlotte von Leſtwitz, geb. am 18. November
1754, vermählte ſich 1771 (alſo kaum 17 Jahre alt) mit
Adrian Heinrich von Borcke, Königl. Geſandten in Dresden,
ſpäter in Stockholm. Die Ehe war jedoch, durch Schuld des Ge-
mahls, keine glückliche und wurde, bald nach der Geburt einer
Tochter (Henriette Charlotte, ſpätere Gräfin von Itzenplitz)
wieder getrennt.
Da die Geſchiedene ſo wenig wie möglich an eine Ehe erin-
nert ſein wollte, die ihr eine Laſt und Kränkung geweſen war, ſo
nahm ſie unter Zuſtimmung des Königs den Namen einer Frau
[457]von Friedland an und führte das Leſtwitz’ſche Wappen fort.
Bei ihrer Trennung von Adrian Heinrich von Borcke lebten
die Eltern der Frau von Friedland noch. Dieſe kehrte nun-
mehr in das väterliche Haus nach Schloß Cunersdorf zurück und
lebte daſelbſt ausſchließlich der Erziehung ihrer Tochter und der
Ausbildung ihres eigenen Geiſtes. Nach dem Tode des Generals,
ihres Vaters, übernahm ſie ſofort die Verwaltung der beiden
Güter, und da es ihrem ſcharfen Auge nicht entging, daß die Be-
wirthſchaftung, um zu größeren Erfolgen zu gelangen, vor allem
eines größeren Betriebskapitals als bisher bedürfe, ſo verkaufte ſie
ihren Schmuck und ihre Juwelen, um ſich in den Beſitz eines
ſolchen Kapitals zu bringen.
Dieſer erſte Schritt, mit dem ſie die Verwaltung ihrer Güter
begann, zeigt am beſten, welch raſcher und energiſcher Entſchlüſſe
ſie fähig war. Es war eine ſeltene und ganz eminente Frau; ein
Charakter durch und durch. General v. d. Marwitz auf Frie-
dersdorf, der ihr Gutsnachbar war, hat uns in ſeinen Memoiren
eine Schilderung dieſer ausgezeichneten Frau hinterlaſſen. Er
ſchreibt: „Das Meiſte in der Landwirthſchaft (ungefähr alles, was
ich nicht ſchon aus der Kindheit wußte, und nachher aus der Er-
fahrung erwarb) habe ich von einer ſehr merkwürdigen Frau in
unſerer Nachbarſchaft gelernt, von einer Frau von Friedland.
Wie ich ſie kennen lernte (1802) war ſie ungefähr 12 Jahre im
Beſitz der Güter und führte Alles mit beiſpielloſer Ausdauer und
Geſchick. Es waren ſechs große Wirthſchaften, die ſie ſelbſt leitete;
Unterbeamte hatte ſie keine anderen als Bauern, die ſie ſelbſt dazu
gebildet hatte. Nicht nur war der Ackerbau im blühendſten Zu-
ſtande, ſondern ſie hatte ihre Wälder aus ſumpfigen Niederungen,
auf bisher öde Berge verſetzt, dieſe Niederungen aber in Wieſen
verwandelt, und ſo in allen Stücken. Ein ſolches Phänomen war
natürlicher Weiſe weit und breit verſchrieen. Man ſagte, ſie ritte
auf den Feldern umher (das war wahr) und hätte beſtändig die
Peitſche in der Hand, womit ſie die Bauern zur Arbeit treibe —
das war erlogen. Ich fand im Gegentheil eine wahre Mutter ih-
[458] rer Untergebenen in ihr. Wo ſie ſich ſehen ließ, und das war den
ganzen Tag bald hier bald dort, redete ſie freundlich mit ihnen,
und den Leuten leuchtete die Freude aus den Augen. Aber gehor-
chen mußte Alles. Sie war aber nicht bloß eine Landwirthin,
ſondern eine höchſt geiſtreiche und in allen Dingen unterrichtete
Frau. Ich ſchulde ihr ſehr viel; ſie hatte mir, als ich Frieders-
dorf übernahm, die nöthigen Wirthſchaftsbeamten verſchafft und
die Rechnungsbücher einrichten laſſen.“
So weit Marwitz über Frau von Friedland. Sehr ähn-
lich, aber noch lebhafter, wärmer, begeiſterter, äußert ſich Thaer
über dieſelbe, der ſie im Sommer 1801 (nachdem er ſchon 1799
ihre erſte Bekanntſchaft gemacht hatte) bei ſeinem zweiten Beſuch
in der Mark näher kennen lernte. Er ſchreibt: „auf der Grenze
ihrer Herrſchaft kam uns Frau von Friedland, eine der merk-
würdigſten Frauen, die je exiſtirt haben, in vollem Trabe entge-
gen, ſprang vom Pferde, und ſetzte ſich zu uns in den Wagen.
Nun ging es in vollem Galopp über Dämme und Gräben weg.
Wir fuhren vier volle Stunden von einem Orte zum andern.
Fünf bis ſechs Verwalter, Schreiber u. ſ. w. waren immer neben
und hinter dem Wagen, und mußten bald eine Heerde Kühe, bald
eine Heerde Schafe oder Schweine herbei holen. Da indeſſen einige
der Geſellſchaft nicht länger verhehlen konnten, daß ihnen nach
einem Imbiß verlange, ſagte Frau von Friedland: „wir ſind
ſehr bald zu Hauſe; wollen Sie aber im Freien eſſen, kann ich
Ihnen ſogleich etwas ſchaffen.“ Als wir letzteres verſicherten, ging
es ſofort in einen prächtigen Wald hinein, einen ſteilen Berg hin-
auf, wo wir erſt ein Feuer, und bald darauf eine gedeckte Tafel
erblickten, auf einem Platze, wo wir im Vordergrunde dichte Wal-
dung, zur Seite einen großen See und in der Ferne eine weite
Ausſicht in das herrliche Oderbruch hatten. Eine Menge von
Schüſſeln, die ſchönſten Weine, und ein Deſſert von Ananas,
Weintrauben u. ſ. w. ward aufgetragen. Aber ſie ließ uns zum
Eſſen und Trinken nicht eben viel Zeit. Es ging bald wieder fort,
von einer Feldflur zur andern, und ſo waren wir gewiß 15 Mei-
[459] len die Kreuz und Quer gefahren, ehe wir auf ihrem gewöhnlichen
Wohnſitze, auf Schloß Cunersdorf ankamen. Sie hat außerdem
noch 7 bis 8 völlig eingerichtete Wohnungen, wo ſie, wie es ihr
einfällt, Mittag oder Nachts bleibt. Ihre Leute wiſſen es keine
Stunde vorher, wo ſie eſſen oder ſchlafen will.“
Im weitern Verlauf der Schilderung, die Thaer von ihr
entwirft, heißt es an anderer Stelle:
„Heute von Morgens 6 Uhr an, bis jetzt, Abends 10 Uhr,
hat ſie uns nicht fünf Minuten Ruhe gelaſſen. Wir haben gewiß
vier Spann Pferde müde gefahren. So etwas von Aktivität iſt
mir noch nie vorgekommen. Sie hat über ein Dutzend Verwalter,
Schreiber und Meier, und dennoch kennt ſie jeden kleinen Garten-
fleck, jeden Baum, jedes Pferd, jede Kuh, und bemerkt jeden klei-
nen Fehler, der in der Beſtellung vorgefallen iſt, jede Lücke in
einer Hecke, jeden falſchgeſtellten Pflug. Sie hat nicht nur mehrere
große Branntweinbrennereien und Brauereien, ſondern betreibt auch
ein ſtarkes Mühlengewerbe, weshalb ſie ſich förmlich in das Mül-
lergewerk hat einſchreiben laſſen, ſo daß ſie das Meiſterrecht hat,
und Lehrburſchen ein- und losſchreiben kann.“
Dieſe Schilderungen, ſowohl die Thaer’ſchen wie die von
Marwitz herrührenden, deuten bereits den Punkt an, worin Frau
von Friedland ganz beſonders hervorragte; ich meine ihr Or-
ganiſations- und Erziehungs-Talent, ihre Gabe, Leute aus dem
Bauernſtande zu treuen und tüchtigen Verwaltern, Förſtern und
Jägern heranzubilden. Sie zeigte dabei eben ſo viel Menſchen-
kenntniß, wie ſie zugleich Gelegenheit hatte, die Bildungsfähigkeit
der hier lebenden deutſch-wendiſchen Miſchrace anzuerkennen.
Die meiſten und beſten Grundſtücke der Herrſchaft Cuners-
dorf-Friedland gehörten (und gehören noch) zu jenem Theil des
Oderbruchs, der erſt durch die von Friedrich dem Großen, während der
in den vierziger und fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts aus-
geführten Odermelioration, dem Waſſer und Sumpf abgerungen
wurde. Dieſe Grundſtücke waren nicht ſofort fruchtbar; mehrere
Decennien vergingen, ehe, bei dem damaligen mangelhaften Zu-
[460] ſtande des Ackerbaues in unſerer Provinz, dieſem eroberten Grund
und Boden ſehr mäßige Erndten abgerungen werden konnten. Hier
treten uns die ganz beſonderen Verdienſte der Frau von Fried-
land entgegen.
Aber auch verwandten Gebieten wandte ſie ihre Aufmerkſam-
keit und ihren Eifer zu. Ihre Baumſchulen, ihre Pflanzungen er-
regten Erſtaunen, ſo wie denn z. B. im Frühjahr 1803 (bei
ihrem Tode) ein Vorrath von 25 Wispeln Kienäpfel zur
Ausſaat ſich vorfand. Auch auf Verſchönerungen war ſie, feinen
Sinnes, bedacht, und die reizenden Partien zwiſchen Buckow und
Pritzhagen, die „Springe“, die „Silberkehle“ und andere Glanz-
punkte der märkiſchen Schweiz, ſind in ihrer erſten Anlage ihr
Werk.
Durch Umſicht, Sorgſamkeit und Anſpannung aller Kräfte,
über die ſie Verfügung hatte, die Schätze dieſes Bruchbodens ge-
hoben und ſeine Naturkräfte lebendig gemacht zu haben, wird im-
mer ein beſonderes, nicht leicht zu überſchätzendes Verdienſt dieſer
ausgezeichneten Frau verbleiben. Was ſie that, wurde Beiſpiel,
weckte Nacheiferung und wurde, wie ihr zum Nutzen, ſo dem gan-
zen Landestheil zum Segen. Sie ſtarb, noch nicht 49 Jahr alt,
am 23. Februar 1803 in Folge einer heftigen Erkältung, die ſie
ſich, zu raſcher Hülfe herbeieilend, bei einem, auf einem ihrer Gü-
ter ausgebrochenen Feuer zugezogen hatte. Ihr Gedächtniß lebt
ſegensreich in jenen Oderbruchsgegenden fort, die ihrem Vorbild,
ihrem Rath und ihrer Hülfe ſo viel verdanken.
[Graf und Gräfin Itzenplitz
von 1803 bis 1848.]
General Leſtwitz hatte eine einzige Tochter (die Frau von
Friedland) gehabt, an die Cunersdorf-Friedland und die dazu ge-
hörigen Güter übergegangen waren; Frau von Friedland hatte
ebenfalls eine einzige Tochter (Henriette Charlotte), die nun das
reiche Erbe antrat.
Dieſe einzige Tochter, Henriette Charlotte von Borcke,
geb. zu Potsdam am 18. Juli 1772, vermählte ſich am 23. Sep-
[461] tember 1792 mit dem eben damals zum Kriegs- und Domainen-
rath ernannten Peter Alexander von Itzenplitz (geb. am
24. Auguſt 1768 zu Groß-Bähnitz im Havelland), und in Folge
dieſer Vermählung ging das Leſtwitz-Erbe an die Familie Itzen-
plitz über, die ſich, zugleich mit älteren Familiengütern in der
Altmark und im Havellande, bis dieſen Augenblick im Beſitz der
ſchönen Herrſchaft Cunersdorf-Friedland befindet. Gleich nach ſei-
ner Vermählung trat das junge Paar eine vorzugsweiſe auch auf
landwirthſchaftliche Zwecke gerichtete Reiſe nach Holland und Eng-
land an. Während dieſes Aufenthaltes in England ſchrieb von
Itzenplitz, auf ausdrücklichen Wunſch des damaligen Miniſters
von Struenſee, verſchiedene Berichte über landwirthſchaftliche
und commercielle Fragen, worin er ſeine Beobachtungen und ſeine
Anſichten über das, was ſich ſeinem Auge dargeboten hatte, nie-
derlegte. Dieſe landwirthſchaftliche Reiſe durch die verſchiedenen
Länder Weſt-Europa’s dehnte ſich bis in’s zweite Jahr hinein aus.
Das junge Paar würde gern auch Frankreich beſucht und die
Agrikultur-Verhältniſſe dieſes Landes kennen gelernt haben, wenn
nicht die franzöſiſche Revolution, die eben damals auf ihrer Schre-
ckenshöhe ſtand, die Ausführung dieſes Planes verhindert hätte.
Uebrigens erwies ſich dieſe Reiſe (auch ohne daß Frankreich berührt
worden war) von den ſegensreichſten Folgen für die Bewirthſchaf-
tung der eigenen Güter. Beſonders waren die engliſchen Landwirth-
ſchaften als muſtergültig erkannt worden und ihnen wurde nun
als Vorbild nachgeſtrebt. Darin wurde von Itzenplitz von ſei-
ner Gemahlin unterſtützt, die den Geiſt ihrer Mutter geerbt hatte
und namentlich nach dem Tode dieſer (der Frau von Friedland)
die Verwaltung der Güter mit einer dort heimiſch gewordenen Um-
ſicht und Energie betrieb.
Von 1794 bis 1804 war von Itzenplitz Landrath des
Havelländiſchen Kreiſes. In dieſer Zeit machte er auch die Bekannt-
ſchaft Thaers, der 1799 ſeine erſte, 1801 ſeine zweite Reiſe in
die Mark antrat. Thaer lernte das junge Itzenplitz’ſche Paar
auf Schloß Cunersdorf im Hauſe der damals noch lebenden Frau
[462]von Friedland kennen und die Beziehungen wurden ſo freund-
ſchaftlicher Natur, daß im Jahre 1803, als Hannover von den
Franzoſen beſetzt wurde, Thaer ſeine Frau und Töchter zu grö-
ßerer Sicherheit nach Cunersdorf ſchicken konnte, wo ſie von dem
Itzenplitz’ſchen Ehepaar (Frau von Friedland war im Februar
deſſelben Jahres geſtorben) auf das fürſorglichſte aufgenommen
wurden. An anderer Stelle habe ich ausführlicher erzählt, wie es
vorzugsweiſe die freundſchaftliche Vermittelung Itzenplitz’s war,
die im Jahre darauf (1804) zur Ueberſiedelung Thaers von Celle
nach Möglin führte. Itzenplitz befürwortete jene günſtigen Be-
dingungen, ohne welche Thaer ſeine alte ſichere Stellung nicht
hätte aufgeben können, um eine neue, immerhin unſichere, an-
zutreten.
1804 legte von Itzenplitz ſein Landrathsamt nieder, um
ſich ausſchließlicher der Verwaltung ſeiner Güter, zu denen eben
jetzt nach dem Tode der Frau von Friedland die Herrſchaft
Friedland hinzugekommen war, widmen zu können.
1810 indeß zum Geheimen Staatsrath und General-Inten-
danten der Domainen und Forſten ernannt, gab er ſich ganz die-
ſer ſchwierigen Verwaltungsthätigkeit hin, doppelt ſchwierig und
verantwortungsvoll eben damals, wo die Kriegsdrangſale die Ver-
äußerung der Königlichen Domänen nöthig machten. Er blieb in
dieſer verantwortungsvollen, das höchſte Vertrauen bekundenden
Stellung bis 1814, wo er ausſchied, nachdem Herr von Bülow
zum Finanzminiſter ernannt worden war. Das Jahr darauf indeß
(1815) wurde er wegen ſeiner in den Kriegsjahren bethätigten,
aufopfernden Vaterlandsliebe in den Grafenſtand erhoben und auf
ſeinen und ſeiner Gemahlin Wunſch das Wappen des inzwiſchen
ausgeſtorbenen Leſtwitz’ſchen Geſchlechts mit dem Itzenplitz’ſchen
Wappen vereinigt.
Seit 1815 lebte Graf Itzenplitz auf ſeinen Gütern, nament-
lich auf Cunersdorf. Das Beiſpiel, das ſeine und ſeiner Gemah-
lin Art der Güterbewirthſchaftung, ſowohl in der Mark wie in
Pommern gab, hat in beiden Provinzen höchſt ſegensreich gewirkt
[463] und die Agrikultur weiter Diſtrikte auf eine höhere Stufe gehoben.
Aber der im beſten Sinne reformatoriſche Eifer des gräflichen
Paares beſchränkte ſich nicht auf Ackerbeſtellung und Bodenkultur,
auch die ſchwierigen Verhältniſſe der Gutsherrſchaft zu den Bauern
wurden auf den Itzenplitz’ſchen Gütern durch freies Ueberein-
kommen geregelt und die Hofedienſte in mäßige Geld- und Korn-
Abgaben umgewandelt, lange bevor an eine Geſetzgebung von 1811
gedacht wurde. Ebenſo ſind bei allen Gemeinheitstheilungen und
Servitutsablöſungen die Itzenplitz’ſchen Güter immer Muſter und
Vorbild geweſen.
Graf Peter Alexander von Itzenplitz ſtarb am 14. Sep-
tember 1834 zu Groß-Bähnitz im Havellande; ſeine Gemahlin zu
Berlin am 13. April 1848.
Die Herrſchaft Friedland ging an den zweiten Sohn, den
Grafen Heinrich Auguſt Friedrich von Itzenplitz (geb. den
23. Februar 1799), jetzigen Miniſter des Handels über.
Nachdem ich bis hierher in biographiſcher Weiſe die Perſo-
nen vorgeführt habe, die ſeit 1763 in Cunersdorf heimiſch waren,
verſuche ich nunmehr die Lokalität und anknüpfend an dieſe, die
lokalen Ereigniſſe während eines halben Jahrhunderts zu ſchildern.
Leſtwitz baute das Schloß. Wie er es baute, iſt es noch.
Eine Einfahrt von der Dorfgaſſe her bildet zugleich die Scheide-
linie zwiſchen den ausgedehnten Wirthſchaftsgebäuden zur linken
und den Wohngebäuden zur rechten Seite. Das Schloß iſt in
jenem Styl gebaut, der damals in der Mark ausſchließlich Gel-
tung hatte, und am richtigſten als „verflachte Renaiſſance“ bezeich-
net worden iſt. Ein Erdgeſchoß, eine Belle-Etage, eine Rampe, ein
geräumiges Treppenhaus, ein Vorflur, dahinter ein Gartenſalon
und von dem Salon aus ein Blick in den Park. Das Ganze
breit, behaglich, gediegen. 1765 hatte der damalige Oberſt von
Leſtwitz Cunersdorf gekauft, aber erſt 1773, wie die Jahreszahl
[464] über dem Portal beſagt, wurde der Schloßbau beendet. Bis zu
dieſem Jahre alſo haben wir unſeren Leſtwitz, kurze Beſuche be-
hufs Inſpicirung des Baues abgerechnet, ſchwerlich in Cunersdorf
zu ſuchen; ohnehin hielt ihn der Dienſt bei dem Bataillon Garde,
das er commandirte, in Potsdam feſt. Dieſer Dienſt geſtattete auch
wohl, von 1773 ab, nur kurze Beſuche, und von einem wirklichen
Beziehen des Schloſſes, von einem heimiſch werden darin konnte
wohl erſt die Rede ſein, nachdem unſer Leſtwitz (inzwiſchen zum
General-Major avancirt) den Dienſt überhaupt quittirt hatte. Dies
war 1779. Von da ab bis zum Tode des Generals (1788) ge-
hörten die Sommermonate einem Aufenthalt in Cunersdorf, wäh-
rend der Winter in der Hauptſtadt zugebracht wurde. Die Stadt-
wohnung war das wohlbekannte Nicolai’ſche Haus in der Brü-
derſtraße.
Vielleicht das wichtigſte Ereigniß, das in dieſen neun Jahren
Schloß Cunersdorf und ſeine Bewohner traf, war die große
Oderüberſchwemmung im Jahre 1785. Es war das dieſelbe Ueber-
ſchwemmung, die in dem benachbarten Frankfurt dem opfermuthi-
gen Herzog Leopold von Braunſchweig den Tod brachte. Weder
vorher (ſo weit Berichte reichen) noch nachher hat das Oderwaſſer
in dieſen Gegenden eine gleiche Höhe erreicht. Ein Pfeil am Cu-
nersdorfer Schloß zeigt noch, wie hoch damals das Waſſer ſtand.
Die Fluthen ſtrömten in die Küche ein und mit ihnen kamen al-
lerlei Fiſche, groß und klein, und plätſcherten ungefährdet und wie
zum Spott in den eingemauerten Keſſeln umher, aus denen ſie
dann bei guter Zeit ihren Rückzug antraten. Der Park ſtand unter
Waſſer und in halber Höhe der Rampe, auf der ſonſt die Equi-
pagen vorfuhren, legten die Kähne an.
Das war ein Ereigniß. Sonſt vergingen die Tage in jener
ſtillen Weiſe, die das Leben alter Militairs, vielleicht nach einem
Naturgeſetz, ſo oft kennzeichnet; der Lärm und die Leidenſchaften
des Kriegshandwerks machen ſie doppelt begierig nach der Stille
des Friedens und des Alters. So war es auch hier. Alte Kame-
raden kamen oft und waren gern geſehen; im Wort lebte wieder
[465] auf (auch wohl ausgeſchmückt), was einſt That geweſen war. Die
großen Tage wurden wieder lebendig. Ein Gang durch den Park,
ein Ritt in’s Feld, die Freuden der Tafel, auch Billardſpiel füll-
ten den Tag aus (zur Jagd war man zu alt, auch war ſie nicht
Mode unter dem großen König); der Abend gehörte dem Tarock
oder dem Geplauder. Feſttage waren die Beſuchstage in der Um-
gegend, zumal bei „Prittwitzens“ in dem nahe gelegenen Qui-
litz. Mit allen Dehors, die dem gegenſeitigen Range gebührten,
ging man dabei zu Werke; 6 Pferde (nie weniger) wurden vor
die Staatskaroſſe gelegt, der Staub auf dem ziemlich öden und
ſandigen Wege wirbelte auf und der Kutſcher beſchrieb mit mög-
lichſter Eleganz die Curve, die das langgeſpannte Gefährt auf die
Rampe des Quilitzer Schloſſes führte. Aber ſolche Beſuche fanden
nicht häufig ſtatt. Prittwitz ſpielte hoch (noch 1790 nahm er
dem Herzog von Mecklenburg 30,000 Thaler in einer Nacht ab)
und Leſtwitz war ein guter Wirth und frommer Chriſt.
So vergingen die Tage in Schloß Cunersdorf bis 1788,
vielleicht auch noch bis 1793, wo die Generalin von Leſtwitz
ihrem Gatten folgte. Von da ab wurde es anders. Sinn und
Geſchmack der Frau von Friedland lagen nach anderer Seite
hin, und ſtatt der „alten Kameraden“, die nichts hatten als ihre
Erinnerungen und nichts liebten als ihre Spielparthie, wurden
nun — gleichſam eine andere Hinterlaſſenſchaft aus der Fridricia-
niſchen Zeit her — die Berliner Savants, die Akademiker und
Philoſophen in Schloß Cunersdorf heimiſch. Zum Theil mochte
das Nicolai’ſche Haus (in welchem Frau von Friedland ihre
Stadtwohnung beibehielt) eine äußerliche Veranlaſſung dazu bieten,
was aber den Ausſchlag gab, das lag tiefer. Die Epoche der geiſt-
reichen Cirkel, die, zehn Jahre ſpäter, in der Prinz Louis Fer-
dinand-Zeit ihren Höhepunkt erreichte, war eben angebrochen;
Geburt war nicht viel (oder ſollte nicht viel ſein), Talent war
alles. Dieſe Anſchauung, damals die herrſchende, herrſchte auch in
Schloß Cunersdorf. An Stelle der Oberſten und Generale
traten mehr und mehr die Gelehrten und Akademiker in den Vor-
30
[466] dergrund; Buttmann und Bode, Engel und Spalding, Bieſter und
Nicolai waren gern geſehene Gäſte und die Vertreter berühmter
Namen galten wenig, wenn ſie nicht ihres Theils gewirkt und ge-
ſchafft und das ererbte Pfund durch eigene Kraft gemehrt hatten.
Der Tod der Frau von Friedland änderte hierin nichts
Weſentliches; die Gräfin Itzenplitz (Frau von Friedlands Toch-
ter) trat eben in jedem Sinne die Erbſchaft der Mutter an und
alles was hervorragte, ſei es in Staat, in Leben, in Wiſſenſchaft,
fand nach wie vor die gaſtlichen Thore von Schloß Cunersdorf
offen. Wenn ſich ein Unterſchied zeigte, ſo war es vielleicht der,
daß die einſeitige Bevorzugung des Talents, des Wiſſens, wie es
die Mode, die Zeitſtrömung mit ſich gebracht hatte, nunmehr einer
nach allen Seiten hin gerechteren Würdigung des Lebens und
ſeiner tauſend Kräfte Platz machte. Die perſönlichen Neigungen der
Tochter lagen im Weſentlichen nach derſelben Seite hin, wie die
der Mutter, die Wiſſenſchaften ſtanden in erſter Reihe (unter dieſen
wieder Botanik und die Naturwiſſenſchaften obenan) und Klap-
roth, Willdenow, Lichtenſtein, Ermann, beide Humboldt’s,
Leopold von Buch, dazu Savigny, Ranke, Kneſebeck,
Reden, Marwitz, Oberſt von Romberg, vor allem der alte
Oberpräſident von Vincke, waren Freunde und Gäſte des Hau-
ſes. Aber, wie ſchon angedeutet, der Kreis war doch ein weiter
gezogener als zu den Lebzeiten der Mutter, und die Kunſt, deren
erſtes Dämmern in dieſem Lande Frau von Friedland nur eben
noch erlebt hatte, fand ein eingehenderes Verſtändniß, und ſoweit
es die Zeitverhältniſſe und die Mittel eines Privathauſes überhaupt
geſtatteten, auch Pflege und Förderung bei der Tochter. Rauch,
Friedrich Tieck, Wach (der beiden Altmeiſter Schadow und
Weitſch zu geſchweigen) traten, theils menſchlich, theils künſtleriſch,
in nähere Beziehung zu dem Itzenplitz’ſchen Hauſe, und der
Verlauf dieſes Aufſatzes wird mir noch Gelegenheit geben, ihre
Werke, ſoweit ſie auf Schloß Cunersdorf Bezug haben, an dieſer
Stelle aufzuzählen.
Die eben genannten Namen haben uns bereits bis an die
[467] Grenze der Gegenwart geführt, aber noch haben wir in aller Kürze
von Tagen zu erzählen, die dem Anfange dieſes Jahrhunderts an-
gehören; ich meine die Kriegs- und die Franzoſenzeit, die ganze
Epoche von Jena bis Leipzig. Auch Cunersdorf hat ſeine Erinne-
rungen und ſogar ſeine kleinen hiſtoriſchen Momente aus jener
Zeit her.
Die Schlacht von Jena war geſchlagen und die Sieger gin-
gen wie eine Welle über das Land hin. Von dieſer erſten Kriegs-
noth ſcheint Cunersdorf wenig oder gar nicht berührt worden zu
ſein, erſt der Rückſchlag der Welle (wie er dem Frieden von Tilſit
folgte) brachte den Feind auch in dieſe Gegenden. Die Marken,
unter allerhand Vorwand, blieben okkupirt, trotzdem der Wortlaut
des Friedens alles Land öſtlich der Elbe dem beſiegten Preußen
gelaſſen hatte und von den okkupirenden Truppen kamen die be-
rühmten Kavallerie-Regimenter, die die Diviſion Nanſouty bildeten,
in die Oderbruchdörfer zu liegen. Die Wahl war gut getroffen;
wo hätten die 10,000 Pferde ſich wohler fühlen können, als in
der Kornkammer der Provinz? In Schloß Cunersdorf allein lagen
48 Franzoſen in Quartier, darunter wenigſtens zehn Offiziere.
Einzelne gehörten guten Familien an, die meiſten aber waren roh
und ungebildet und machten es der Itzenplitz’ſchen Familie un-
möglich, mit ihnen zu leben. Zehn Monate lang lag dieſe „ſchwere
Cavallerie“ (ſchwer in jedem Sinne) in den Oderbruchdörfern;
endlich rückte ſie weſtwärts. Liebesaventuren, Händel, Hazard und
Piſtolenſchießen hatten plötzlich ein Ende, und Schloß Cunersdorf
wurde gelüftet und gebadet, als wäre der Böſe darin geweſen.
Die Regimenter zogen nach Spanien, ſpäter, wenigſtens theilweis,
nach Rußland.
Aber wenn man im Oderbruch und ſpeciell in Cunersdorf
dieſer ſchweren Kavallerie nicht vergaß, ſo vergaß dieſe auch ihrer-
ſeits nicht, wie „fette Weide“ dieſe Gegenden für Roß und Reiter
geboten. Im Januar 1813 kamen Quartiermacher durch das Dorf
und gaben Zettel im Schloß und auf dem Schulzenamt ab, in denen
die nahe Ankunft der „Nanſouth’ſchen“ und ihrer Anverwandten
30*
[468] (nunmehr, wenn wir nicht irren, unter dem Oberbefehl des Ge-
nerals Sebaſtiani) faſt wie ein Wiederſehn, wie ein bevorſtehendes
freudiges Ereigniß angekündigt wurde. Aber ob nun dieſe nach-
rückenden Reiter, die meiſt keine Reiter mehr waren, eine andere
Route nahmen, oder ob dieſe Zettel nur gleichſam Bülletins im
Kleinen darſtellten, darauf angelegt, die Gegenden, durch die man
kam, noch an das Vorhandenſein der grande armée glauben zu
machen, gleichviel, die ſchwere Kavallerie kam nicht. Wer kam, das
waren andere.
Am 18. Februar, als man es freilich längſt aufgegeben hatte,
die ehemalig Nanſouty’ſchen noch zu ſehen, hielten plötzlich, unver-
muthet, unangemeldet, ſtruppige Pferde vor jedem Ausgang des
Dorfes und auf den kleinen, abgetriebenen Gäulen ſaßen ſeltſame
Leute mit Pelzmützen und Piken, wie ſie ſeit den Tagen von Zorn-
dorf und Schlachten-Kunersdorf in dieſen Gegenden nicht mehr
geſehen worden waren. Es waren Koſaken.
Damit hatte es folgenden Zuſammenhang. General Tſcher-
nitſcheff, der Führer der ruſſiſchen Avantgarde, nachdem ſeine
Vorhut unter Oberſt von Tettenborn bereits am Tage zuvor
bis Werneuchen und Alt-Landsberg vorgedrungen war, hatte am
18. in der Mittagsſtunde die Oder paſſirt. „Ein Alliirter von
Rußland her,“ ſo erzählt Friedrich Adami, „hatte ihm und
ſeinen 2000 Pferden die Brücke dazu gebaut. Die Oder trug noch
ihre Eisdecke. Wenige Stunden ſpäter, um 4 Uhr Nachmittags,
brach das Eis, auf dem drei ruſſiſche Regimenter (Koſaken, Dra-
goner und Huſaren) nebſt einigen Kanonen über die Oder mar-
ſchirt waren. Es hatte, ſo ſchien es, nur eben noch die Landsleute
des harten, nordiſchen Winters hinüber laſſen wollen. Dieſe 2000
Reiter erſchienen jetzt in den Dörfern zwiſchen Wriezen und Möglin;
Tſchernitſcheff ſelbſt übernachtete in Schloß Cunersdorf.“
In Schloß Cunersdorf ſelbſt erzählt man den Hergang etwas
abweichend. Danach erſchien Tſchernitſcheff nicht ſpät Nachmit-
tags, ſondern bereits früh am Morgen, übernachtete auch nicht
im Schloß, ſondern brach nach kurzer Raſt und nachdem alle 2000
[469] Reiter im Dorfe gefuttert hatten, in der Richtung von Straus-
berg und Herzfelde auf. Dafür, daß alle 2000 Reiter Cunersdorf
paſſirten, ſcheint allerdings der Umſtand zu ſprechen, daß, nach
einer noch fortlebenden Erinnerung, an jenem einen Vormittage
17 Wispel Hafer verfuttert wurden.
Das Jahr 1813 brachte noch einen andern Gaſt nach Schloß
Cunersdorf und mit ſeinem Beſuche ſchließen wir, wie mit einem
kleinen Idyll. Dieſer Gaſt war Chamiſſo.
Chamiſſo, bekanntlich in Folge der franzöſiſchen Revolu-
tion aus Frankreich (Schloß Boncourt in der Champagne) emi-
grirt, *) hatte als preußiſcher Offizier die unglückliche Campagne
von 1806 und ſpeciell die Kapitulation von Hameln mit durchge-
macht. Seitdem lebte er ausſchließlich den Wiſſenſchaften, beſonders
dem Studium der Botanik. Im Frühjahr 1813 waren ſeine Mit-
tel erſchöpft und Profeſſor Lichtenſtein, dem Itzenplitz’ſchen
Hauſe befreundet, empfahl den jungen Botaniker (eben unſern
Chamiſſo) nach Cunersdorf hin, wo er, nach bald erfolgtem
Eintreffen, die Anlegung einer großen Pflanzenſammlung unter-
nahm, eines Herbariums, das einerſeits die ganze Flora des Oder-
bruchs, andererſeits alle Garten- und Treibhauspflanzen des
Schloſſes ſelbſt enthalten ſollte. Chamiſſo verweilte einen Som-
mer lang in dieſer ländlichen Zurückgezogenheit, und unterzog ſich
[470] ſeiner Aufgabe mit Gewiſſenhaftigkeit. Das von ihm herrührende
Herbarium exiſtirt noch. Die Mußeſtunden gehörten aber der Dicht-
kunſt, und im Cunersdorfer Bibliothekzimmer war es, wo unſer
Chamiſſo, am offenen Fenſter und den Blick auf den ſchönen
Park gerichtet, den „Peter Schlemihl“, ſeine vielleicht bedeutendſte
und originellſte Arbeit niederſchrieb.
Einige Stellen aus Briefen, die er damals an Varnhagen
und Itzig richtete, mögen hier auszugsweiſe einen Platz finden.
Er ſchreibt an Varnhagen (Cunersdorf, den 27. Mai
1813):
„Lieber Varnhagen, thun und laſſen war für mich
gleich ſchmerzhaft; durch den Machtſpruch von Ehrenmännern
in Unthätigkeit gebannt, bring’ ich den Sommer bei dem Herrn
von Itzenplitz auf ſeinen Gütern zu (in Cunersdorf bei
Wriezen) und beſchäftige mich allein mit Botanik, wozu ich die
herrlichſten Hülfen habe. Ich helfe hier übrigens auch den
Landſturm exerciren und kommt es zu einem Bauernkrieg,
ſo kann ich mich wohl darein miſchen — pro aris et focis. —
Mit euch unterzugehen, will ich nicht verneinen.“*)
An Hitzig (Cunersdorf, Juni 1813):
„Ich arbeite immer an meinen Pflanzen, gehe mit meinem
Gärtner botaniſiren, vergleiche meine Kataloge, corrigire die fran-
[471] zöſiſchen Aufſätze der jungen Leute, unterweiſe ſie etwas in der
Botanik.... Das war ein ſchwerer Mai (Lützen und Bautzen).
Wie klingt doch ſo ſeltſam mit einem Male in mir das Wort
Fouqué’s:
O Gott, möchte er es nicht von ſich ſelber geſungen haben!
Grüß mir die Bekannten und Freunde, die Dir in den Wurf
kommen. Gott verzeihe mir meine Sünden; aber es iſt wahr:
Da haſt Du ein Thema.
An Hitzig (Cunersdorf; wahrſcheinlich im September).
„.... Du haſt nichts weniger von mir erwartet als ein
Buch! Lies das Deiner Frau vor, heute Abend, wenn Du
Zeit haſt. Wenn ſie neugierig wird zu erfahren, wie es Schle-
mihl weiter ergangen und beſonders, wer der Mann im grauen
Kleide war, ſo ſchick mir gleich morgen das Heft wieder, auf
daß ich daran ſchreibe; — wo nicht, ſo weiß ich ſchon was die
Glocke geſchlagen hat. Vom dritten Kapitel iſt das erſt der An-
fang; dies und das folgende ſind mir ſehr beſchwerlich — es
ſtehen die Ochſen am Berge.“
An Hitzig (Cunersdorf, Spätherbſt 1813).
„Dieſes zur Erinnerung, daß Du einen Freund in Cu-
nersdorf haſt, dem Du eben nicht ſehr oft ſchreibſt. Es iſt eine
ganz fatale Empfindung, wenn alle Tage der Poſtbote einläuft,
und die Austheilung der Briefe im Salon geſchieht und für
einen Jeden etwas da iſt, und für den Herrn von Chamiſſo
— niſcht niche!
[472]
.... Ich kratze immer an meinem „Schlagſchatten“, und
wenn ich’s Dir geſtehen muß, lache und fürchte ich mich manch-
mal darüber, ſo wie ich daran ſchreibe; — wenn die Andern
nur für mich nicht darüber gähnen. Mein viel gefürchtetes vier-
tes Kapitel habe ich mir, nach vielem Kauen, geſtern aus einem
Stücke, wie eine Offenbarung, aus der Seele geſchnitten und
heute abgeſchrieben. Es iſt auch ſchon eher Morgen als Nacht,
darum ade. Das Blitz-Proſa-ſchreiben wird mir ungeheuer
ſauer, mein Brouillon ſieht toller aus als alle Verſe, die ich
je gemacht.“
Bald nach dieſem Briefe ſcheint Chamiſſo nach Berlin zu-
rückgekehrt zu ſein. Es wird zwar in Cunersdorf erzählt, er habe
ſich zunächſt nach Nennhauſen hin, zu Fouqué, auf den Weg
gemacht, um dieſem ſeinen Schlemihl vorzuleſen; es liegen aber
doch wohl Monate dazwiſchen, da, wie wir aus dem letztcitirten
Briefe erſehen, bis etwa Mitte Oktober, erſt vier Kapitel von
elf beendigt waren. Uebrigens ſtand Fouqué damals auch wohl
im Felde.
So waren die Erlebniſſe von Schloß Cunersdorf, ſo waren
die Perſonen, die, während eines halben Jahrhunderts und
darüber, dort kamen und gingen.
Wir durchſchreiten jetzt zunächſt die Säle und Zimmer des
Erdgeſchoſſes und verweilen vor älteren und neueren Familienpor-
träts von zum Theil künſtleriſchem Intereſſe. Die Aufzeichnung
dieſer Bilder aber an andrer Stelle gebend (Siehe die Anmer-
kungen), wenden wir uns nunmehr dem im obern Stockwerk ge-
legenen Bibliothekzimmer zu, wo wir zunächſt den Bildniſſen derer
begegnen, die einſt Freunde des Cunersdorfer Hauſes waren:
Thaer, Wildenow, Alexander von Humboldt, Reil ꝛc.
Was aber unſer Intereſſe lebhafter in Anſpruch nimmt, das iſt
ein großer pultartiger Schrank, der in ſeinen verſchiedenen Käſten
[473] und Fächern alles das umſchließt, was ſich auf den Generalmajor
von Leſtwitz bezieht. Das ganze Arrangement erinnert mehr oder
weniger an die großen Glaskäſten, in denen man in England (im
Britiſchen Muſeum, im Greenwich-Hoſpital, in Abbotsford ꝛc.)
allerhand Erinnerungsſtücke an hiſtoriſche Perſönlichkeiten, z. B.
an Nelſon, Walter Scott oder Sir John Franklin aus-
zuſtellen pflegt. Auch unſere „Kunſtkammer“ hat ähnliches.
In dieſem Leſtwitz-Schrank, deſſen oberer Theil eben aus
einem ſolchen Glaskaſten beſteht, befinden ſich folgende Gegen-
ſtände:
1) Die beiden Degen des Generalmajors von Leſtwitz,
jeder mit Draht-umſponnenem Griff und einfacher Lederſcheide.
2) Der Schlachtplan von Torgau („der Leſtwitz-Tag“)
groß und in ſauberſter Ausführung. Dazu: Ausführlicher Be-
richt, wie die merkwürdige Schlacht bei Siptitz, ohnweit Torgau,
am 3. November 1760 geſchehn iſt. Leipzig, bei Chriſtian Gott-
lieb Hilſcher.
3) Charten und Manöverpläne, die der Generalmajor von
Leſtwitz ſelbſt gebraucht.
4) Charten, die auf den ſiebenjährigen Krieg Bezug haben
bis 1763.
5) Militairiſche Pläne und Charten ſeit 1763.
Alle unter 3, 4 und 5 angeführten Charten und Pläne be-
finden ſich in großen Mappen und ſind zum Theil für den Leſt-
witz’ſchen Privat-Gebrauch gezeichnet und getuſcht, theils im Buch-
handel erſchienen. Bei den letztern leſen wir abwechſelnd: „Zu
finden in Johann Jacob Korns Buchhandlung in Breslau“,
oder: „geſtochen von Glaßbach in Berlin.“
In demſelben Schrank finden wir noch ein anderes hiſtori-
ſches Werthſtück, das freilich nicht mehr der Leſtwitz-Zeit ange-
hört, ſondern vom Grafen Peter Alexander von Itzenplitz, von
Groß-Bähnitz im Havellande her, mit nach Cunersdorf gebracht
wurde. Es iſt dies
6) der Flötenkaſten Friedrichs des Großen, den, bald
[474] nach dem Tode des großen Königs, Friedrich Wilhelm II. an
ſeinen Miniſter Wöllner zum Geſchenk machte. Der Miniſter Wöll-
ner war mit einer Itzenplitz vermählt, wodurch dies hiſtoriſche
Werthſtück (da das Wöllner’ſche Paar kinderlos ſtarb) in die
Itzenplitz’ſche Familie kam.
Es iſt ein weißer, in der geſchmackvollſten Weiſe mit Roſen,
Erdbeeren und allerlei Blumenguirlanden bemalter Porzellankaſten,
von etwa 5 Zoll Höhe, bei 7 Zoll Breite und 11 Zoll Länge.
In dieſem Kaſten, der zwei Etagen hat, und mit rothem Sammt
ausgeſchlagen iſt, liegt die Ebenholz-Flöte des Königs. Sie beſteht
aus 8 Stücken: einem Mundſtück, einem Klappenſtück und 6 Ein-
ſatzſtücken, jedes Stück von einem Elfenbeinrande eingefaßt. Dazu
gehört noch (zugleich als Autograph von der Hand des Königs)
eine 7 Seiten lange Partitur. Die Ueberſchrift derſelben lautet:
Aria per il Paulino del Opera di Demofonté, allegro di
molto non odi consiglio. Rechts oben in der Ecke: di Fre-
derico.
Vielleicht die größte Sehenswürdigkeit von Schloß Cuners-
dorf iſt die Begräbnißſtätte für die Familie Leſtwitz-Itzen-
plitz. Dieſelbe liegt an der anderen Seite der Dorfſtraße und
die verſchlungenen Pfade eines Obſtgartens, an Blumenbeeten und
dem hohen Schilf eines kleinen Teiches vorbei, führen zu dieſer
Stätte hin. Eine hohe Schwarztanne, deren Zweige weit in den
Friedhof hineinragen, bezeichnet den Eingang. Dieſer Friedhof,
den eine ziemlich niedrige Feldſteinmauer einfaßt, erinnert zumeiſt
an die Begräbnißſtätten der Familie Marwitz in Friedersdorf
und der Familie Humboldt in Tegel. Mit beiden hat er eine
gewiſſe Eigenthümlichkeit der Anlage gemein, und wenn er viel-
leicht einerſeits hinter der chriſtlich-poetiſchen Schlichtheit des einen,
wie anderſeits hinter der klaſſiſch-äſthetiſchen Feinfühligkeit des
andern zurückbleibt, ſo übertrifft er doch beide durch Mannigfal-
tigkeit und den Reichthum des künſtleriſch Gebotenen. Die Anlage
(wenn ich nicht irre, von Frau von Friedland herrührend, die
auch hierin die Selbſtſtändigkeit ihres Weſens zeigte) iſt folgende.
[475] An der Einfaſſungsmauer entlang, aber dieſe bedeutend über-
ragend, zieht ſich, wie ein ſolider Wandſchirm, ein Stück Mauer-
werk entlang, deſſen Rückſeite glatt iſt, während die Front (der
Begräbnißſtätte zugekehrt) eine Anzahl von Niſchen zeigt. Einfache
Säulen faſſen nach links und rechts dieſe Niſchen ein und tragen
einen wenig vorſpringenden Sims. Zu Füßen jeder Niſche liegt
ein Grabſtein, während, in der Niſche ſelbſt, die Aſchenkrüge mit
den Reliefbildniſſen der Verſtorbenen oder ſonſtige Mementos ſte-
hen. Um die Grabſteine rankt ſich Epheu; Geisblatt und Immer-
grün ſteigen zu den Säulen empor. Die ganze Anlage hat den
Vortheil, daß ſie ſich ohne Mühe, durch Anbau einer nenen Niſche
erweitern läßt. Der Bau, wie er jetzt iſt, beſteht aus neun Ni-
ſchen, und die Mitglieder der Leſtwitz-Itzenplitz’ſchen Familie,
die hier ihre Ruheſtätte gefunden haben, ſind (ich gebe die In-
ſchriften wörtlich) folgende:
1) „Gruft des irdiſchen Ueberreſts von Hans Sigismund
von Leſtwitz, Königl. Preußiſchen General-Majors der Infan-
terie. Geboren zu Kontop in Schleſien am 19. Junius 1718;
geſtorben zu Berlin am 16. Februar 1788.“ Denkmal: eine
über zwei Fuß hohe Urne von grauem ſchleſiſchem Marmor; in
Front der Urne der Reliefkopf des Generals; oben auf der Urne,
Helm, Schwerdt, Handſchuh. Von Schadow zwiſchen 1790 und
1803 ausgeführt.
2) „Dies Denkmal bedeckt den ſterblichen Theil von Ca-
tharina Charlotte von Leſtwitz, geb. von Treskow. Ge-
boren zu Schlagentin im Magdeburgiſchen am 3. Januar 1734,
geſtorben zu Berlin am 14. Januar 1789.“ Denkmal: Urne
von grauſchwarzem Marmor mit Reliefbild. Ebenfalls von
Schadow.
3) „Dem thätigen Geiſte, der dieſe Fluren belebte, ordnete
und nun ſchützt, Helenen Charlotten von Friedland, ge-
bornen von Leſtwitz. Geb. zu Breslau 18. November 1754,
geſtorben zu Cunersdorf den 23. Februar 1803.“ Denkmal:
Ein Säulenabſchnitt, an dem ſich das Reliefbild der Heimgegan-
[476] genen befindet, trägt eine Marmor-Urne. Dieſe Urne zeigt am
oberen Rande, auch reliefartig, die Attribute der Landwirthſchaft:
Pflug, Egge, Senſe, Sichel, Harke. Darunter ein Genius, mit
dem Schmetterling in der Hand; im Hintergrund zwei weibliche
Figuren, von denen die eine einen Blüthenzweig, vielleicht eine
Lotosblume, oder doch eine Blume von ähnlicher allegoriſcher Be-
deutung, in der Hand hält, während die andere ſich, durch eine
Scheere in ihrer Rechten, als eine der Parzen kennzeichnet. Dies
Denkmal, von Enrigo Keller in Rom herrührend, gilt für ein
ausgezeichnetes Kunſtwerk. Die Basreliefs an der Urne ſind nach
antiken Vorbildern ausgeführt *). Ich bekenne indeß, daß ich die
hohe Schönheit ſpeciell dieſes antiken Reliefbildes (der Genius mit
dem Schmetterlinge gleicht einem Amor, den eine Biene geſtochen
hat) nicht habe empfinden können. Der unten in der Anmerkung
abgedruckte Brief Wilhelm von Humboldt’s widerlegt mich,
— ohne mich zu überzeugen.
4) „Peter Alexander Graf von Itzenplitz. Zu Groß-
Bähnitz geboren den 24. Auguſt 1769, geſtorben den 18. Sep-
tember 1834. Sein Herz, reich an umfaſſender Liebe, ſein Geiſt
voll Durſt nach Wiſſen, wirkte mit lebendiger Einſicht und be-
harrlicher Kraft, was in dauernder Frucht uns troſtvoll umgiebt.
Denkmal: Ein zugeſchrägter griechiſcher Altar, trägt zuoberſt das
Reliefporträt des Grafen. Darunter ein anderes Reliefbild, das
alte und das neue Oderbruch (d. h. den Zuſtand wie er war,
und den Zuſtand wie er iſt) allegoriſch darſtellend. Waſſer ent-
ſtrömt der Urne der Najade, und Eiche, Storch und Reiher, die
im Sumpf ihre Heimath haben, bezeichnen das alte Oderbruch.
[477] Aber das abgewandt entſtrömende Waſſer legt den Vordergrund
trocken und ein pflügendes Stiergeſpann, Apfelbaum und Garbe
verſinnbildlichen das Oderbruch, wie es jetzt iſt. — Von Rauch
herrührend.
5) „Henriette Charlotte Gräfin von Itzenplitz, Ge-
borne von Borcke, genannt von Friedland, geboren zu Pots-
dam 18. Juli 1772, vermählt zu Cunersdorf, 23. September
1792, geſtorben zu Berlin 13. April 1848.“ Denkmal: Eine
zugeſchrägte Marmortafel trägt die entſprechenden Reliefs. Gräfin
Itzenplitz ſitzt, mit dem Ausdruck heiterer Ruhe, auf einer Bank.
Neben ihr ein Fruchtkorb, auf dem die Linke ruht; in der Rechten
hält ſie ein aufgeſchlagenes Pflanzenbuch, zum Hinweis auf ihre
Vorliebe für Garten- und Pflanzenkunde. — Ebenfalls von
Rauch.
6) Gräfin von Itzenplitz, geb. Gräfin von Bernſtorff.
Denkmal: Der Engel des Todes entführt die Mutter ihren Kin-
dern; aber noch im Scheiden ſucht ſie ſchützend ihren Schleier um
alle die zu breiten, die ſie zurückläßt. — Eine vortreffliche Arbeit
von Friedrich Tieck.
7) Gräfin von Itzenplitz, geb. von Sierſtorpff. Denk-
mal: ein einfaches Marmorkreuz.
8) Gräfin von Itzenplitz, geb. von Kroecher. Denkmal:
die Sterbende preßt das Kreuz an ihre Bruſt, während ihr der
Engel des Todes den Kranz reicht. — Von Hugo Hagen.
Der Platz der neunten Niſche iſt noch frei. Graf Heinrich
von Itzenplitz, der gegenwärtige Beſitzer der Herrſchaft, hat ihn
für ſich reſervirt, um hier an der Seite der Seinen zu ruhen.
Der Friedhof ſelbſt aber, von dem wir jetzt Abſchied nehmen (und
von dem wenige wiſſen), bildet eine Sehenswürdigkeit unſerer
Mark auch nach der Seite des Künſtleriſchen hin. Die beſten bild-
neriſchen Kräfte, die unſer Land hervorgebracht, hier waren ſie
thätig: Schadow, Rauch, Tieck. Und keiner von ihnen iſt an
dieſer Stelle hinter ſich ſelbſt zurückgeblieben.
[478]
Die ſchönſte Stunde im Schloß iſt die Morgenſtunde. Noch iſt
Alles ſtill; draußen leuchtet ein klarer Septemberhimmel, Luft und
Sonne ſtrömen durch das offene Fenſter ein. Unter dem Fenſter
hin zieht ſich ein Garten, mit Raſenplatz und Blumen-Rondel.
Die Gänge ſind friſch geharkt; keine Fußſpur unterbricht die glat-
ten Furchen; nur hier und da ſieht man ein Gekräuſel im Sand,
von einem Huhn herrührend, das ſich aus dem Hof in den Gar-
ten ſtahl. Die Bosquets ſind abgeblüht; die Spätlinge des Jah-
res, meiſt rothe Verbenen, haben an der Rampenwand ein war-
mes Plätzchen geſucht; dort trifft ſie eben die volle Morgenſonne.
Hinter dem Garten ſteigt der Park auf und mitten durch den
Park hin (in gerader Linie auf das Schloß zu) zieht ſich, canal-
artig, ein breiter Teich. Die Bäume zur Rechten des Waſſers
ſtehen dicht und dunkel; aber nach links hin lichten ſie ſich, und
durch die Lichtungen hindurch, über weiße Birkenbrücken hinweg,
blicken wir weit in das offene Wieſenland hinein.
Friede ringsum. Auf das Fenſterbrett vor mir ſetzt ſich ein
Spatz und zwitſchert und ſieht mich an, als erwart’ er ſein Mor-
genbrod von mir. Er pickt die Krume auf, die ich ihm hingewor-
fen, und unterwegs ſeine Flügel in’s Waſſer tauchend, fliegt er
über die Breite des Teiches hin.
Einzelne Sträucher lachen mit rothen Beeren aus dem Un-
terholz des Parkes hervor; die große Linde, halb herbſtlich ſchon,
ſtreut bei jedem Luftzug ein gelbes Blatt auf die Gänge nieder;
aber im Fallen zögern die Blätter wieder und raffen ſich auf, als
überlegten ſie, ob ſie nicht lieber ſteigen ſollen. Vereinzelte Vogel-
ſtimmen ſingen in den Morgen hinein; ſonſt alles ſtill; nur das
Waſſer, nun faſt ein Jahrhundert ſchon, fällt an derſelben Stelle
melodiſch-einförmig über das Wehr, wie ein Ewiges, das die Bil-
der der Zeitlichkeit umſchließt.
[[479]]
Das Pfulen-Land.
Die kühn gefolgt der Größten ew’gem Schimmer.
H. v. Blomberg.’
Wie um Neuſtadt-Eberswalde herum ein „Sparren-Land“, ſo
gab es, im Lauf des 16. und 17. Jahrhunderts, um Buckow
herum ein Pfulen-Land. Hier an der Grenze zwiſchen Barnim
und Lebus hatten, von kleinen Anfängen ausgehend, die Pfuels,
die muthmaßlich mit den Askaniern in’s Land gekommen waren,
ihren Haupt-Beſitzſtand aufgebaut, einen Beſitz, der, zur Zeit der
höchſten Blüthe der Familie, bis weit in die genannten beiden
Landestheile hineinreichte und wenige Enclaven abgerechnet ſo
ziemlich einen Kreis von 2 bis 3 Meilen Durchmeſſer bildete, —
Buckow als Mittelpunkt.
Die Pfuels kamen ſo früh in’s Land, daß ſie ſchon im Jahre
1603 in einer Leichenpredigt, die beim Hinſcheiden eines der Ihri-
gen gehalten wurde, nicht nur ein „fürtreffliches“, ſondern auch
ein „uraltes Geſchlecht“ genannt werden konnten, ein Geſchlecht,
„aus welchem equestris et literati Ordinis viri, fürtreffliche
Kriegsſchilde, auch wohlgelahrte, verſtändige und verſuchte Män-
ner“ hervorgegangen ſein. Dieſem alten Ruhme hat die Familie
in den Dritthalbhundert Jahren, die ſeitdem vergangen ſind, ge-
treulich nachgelebt, und der Verlauf dieſes Aufſatzes wird verſchie-
dentlich Gelegenheit bieten, wie auf eine ganze Anzahl „fürtreff-
[480] licher Kriegsſchilde“, ſo auch auf „wohlgelahrte, verſtändige und
verſuchte Männer“ hinzuweiſen, die, wie vor ſo auch nach 1603,
dem alten Hauſe entſproſſen ſind. Einige waren „Kriegsſchilde“
und „wohlgelahrte Männer“ zugleich; keiner glänzender vielleicht
als Jener eine, der noch, als „Jüngling-Greis“, unter uns weilt
und, ein halb Jahrhundert zurück, in großen, begeiſterten
Tagen, die beſſere Kämpfe als den der Tagesmeinung kämpften,
hoffnungsreich, geliebt, bewundert, in das Leben und in die
Schlacht trat.
Aber ich habe von den Pfuels vergangener Jahrhunderte zu
berichten. Sie gehörten zu den Schloß-geſeſſenen Geſchlechtern der
Mark, inſoweit ſie Beſitzer der damals, im 15. und 16. Jahr-
hundert, feſten Schlöſſer Quilitz, Ranft und Leuenberg waren, und
ihr Anſehen war bedeutend genug, um noch am Ende des 15. Jahr-
hunderts, alſo 100 Jahre ſpäter als die Quitzows, wegen ange-
thaner Beileidigung (eine rückgängig gemachte Verlobung) eine
zehnjährige Fehde mit den Mecklenburger Herzögen führen zu
können. Dieſe Zeiten liegen zurück; der reiche Beſitz iſt zuſammen-
geſchmolzen, aber was die Familie an altem Beſitz noch inne hat,
das hat ſie an alter Stelle, in Barnim und Lebus.
In beiden Landestheilen haben die Beſitzverhältniſſe im All-
gemeinen vielfach gewechſelt; nur drei alte Familien ſind auf alter
Scholle geblieben, die Barfuſe in Ober-Barnim, die Burgsdorffs
in Lebus, die Pfuels in beiden.
Der alte Beſitz der Pfuels betrug, zur Zeit des höchſten
Glanzes der Familie, vielleicht das Zehnfache von dem, was ſie
jetzt inne haben und umfaßte, zwiſchen 1550 und 1650, folgende
Güter theils ganz, theils antheilsweiſe: Dannenberg, Leuenberg,
Steinbeck, Alt-Ranft, Schulzendorf, Hohenfinow, Prötzel, Tiefen-
ſee, Werftpfuhl, Haſenholz, Garzin, Garzau, Dahmsdorf, Obers-
dorf, Quilitz, Friedersdorff, Kinitz, Münchehofe, Jahnsfelde,
Gielsdorf und Wilkendorf.
Von dieſem ganzen reichen Beſitz ſind der Familie nur drei
Güter geblieben und zwar die drei letztgenannten: Jahnsfelde,
[481] bei Müncheberg und Gielsdorf-Wilkendorf bei Straußberg.
Der Name des alten Geſchlechtes aber lebt noch überall in den
alt-pfuliſchen Dörfern auf Grabſteinen, Bildern und Glocken fort,
ſo daß wir in Nachſtehendem von Dorf zu Dorf, von Kirche zu
Kirche, zu wandern und dabei aufzuzeichnen haben werden, was
dem Pfulen-Lande noch an Erinnerungsſtücken aus alter Zeit ge-
blieben iſt.
1. Schulzendorf.
Schulzendorf, eine halbe Meile weſtlich von Wriezen, kam bald
nach 1450 in Pfuel’ſchen Beſitz. Es blieb lange bei der Familie; erſt
1837 iſt es in andre Hände übergegangen. Die Feldſteinkirche iſt
alt und enthält außer einem weißgetünchten Schnitzaltar (die Kriegs-
knechte würfeln um Chriſti Mantel) ein großes, ſehr intereſſantes
Bild aus der Pfuel’ſchen Zeit her. Dies Bild, zu Ehren eines
Quilitzer Pfuel gemalt und aufgeſtellt, befand ſich demgemäß
urſprünglich in der Quilitzer Kirche. Nachdem indeß dieſem Zweige
der Familie Quilitz verloren gegangen und nur Schulzendorf noch
geblieben war, hatten die ſpätren Repräſentanten der Quilitzer
Linie den Wunſch, das Ehren-Bild ihres Ahnherrn nicht mehr in
einer ihnen fremd gewordenen Kirche zu ſehen. Sie erkauften da-
her das Bild und ſtellten es in der Schulzendorfer Kirche auf.
Das Bild iſt ſehr groß, wenigſtens 6 Fuß zu 4, und ſtellt eine
Kreuzigung Chriſti dar. Zu Füßen des Kreuzes kniet in blanker
Rüſtung der alte Pfuel, dem zu Ehren das Bild errichtet wurde,
und blickt betend zu dem Gekreuzigten auf. Weiter unterhalb die
Donatoren: 4 weibliche und 2 männliche Figuren. Dies wäre
das Herkömmliche. Wodurch ſich aber das Bild von dem tradi-
tionell Ueblichen unterſcheidet, das iſt der Umſtand, daß die Ge-
ſtalten des Heilands und des in blanker Rüſtung knieenden Pfuel
nicht gemalt, ſondern basreliefartig in Holz geſchnitten
und nun erſt an der ihnen zukommenden Stelle auf dem Bilde
befeſtigt ſind. Es iſt dies das erſte und einzige Beiſpiel der Art,
dem ich begegnet bin. Es iſt mehr eigenthümlich, als ſchön; man
könnte es praktiſch nennen, indem es die Aufmerkſamkeit des Be-
31
[482] ſchauers auf die beiden Geſtalten hinzwingt, auf die es an-
kommt: auf den Gekreuzigten und den betenden Pfuel. Die blanke
Rüſtung des letzteren iſt — ganz wie es ſich für eine kleine Re-
lief-Figur geziemt — nicht durch Farbe, ſondern durch Belegen
mit Silberſchaum hergeſtellt.
Das Bild hat drei Inſchriften: eine erſte, die von dem
bildlich dargeſtellten „alten Pfuel“ (Vornamen fehlen) handelt;
eine zweite, die von dem Aufſteller des Bildes in Quilitz und
eine dritte, die von der Ueberſiedlung des letztern nach Schul-
zendorf ſpricht.
Die erſte Inſchrift, am oberſten Rande des Bildes, iſt un-
leſerlich geworden.
Zweite Inſchrift: Dies Epitaphium iſt von dem edlen und
ehrenveſten Jürgen Pfulenn ſeinem ſeligen Vater zum Gedächtniß
geſetzet worden. Welchen auch (den ehrenveſten Jürgen Pful) der
Allmächtige Gott in wahrer Erkenntniß ſeines allerliebſten Sohnes
Jeſu Chriſti bis an ſein Ende erhalten wolle. Amen.
Dritte Inſchrift: Aus ſchuldiger Hochachtung vor dem
Stammvater der anitzo im Segen lebenden dreien Gebrüder, als
Heine Friedrich Wilhelm, Georg Ludwig Ditloff und Carl Chri-
ſtoph Auguſt von Pfuhll, Königlich Preußiſcher Lieutenants, iſt
dies Epitaphium von ihnen aus der Quilitz’ſchen Kirche erkaufet
und allhier zum beſtändigen Andenken aufgerichtet worden den
20. September 1747.
2. Garzin.
Garzin war bis vor Kurzem noch reich an Erinnerungsſtücken
aus der Pfuel’ſchen Zeit. Die Mehrzahl dieſer Gegenſtände (zu-
meiſt Bilder) hat indeſſen der gegenwärtige Beſitzer von Jahns-
felde, älteſter Sohn des 1846 verſtorbenen Generallieutenants von
Pfuel, käuflich an ſich gebracht und ſie ſeiner höchſt intereſſanten
Familien-Gallerie eingefügt.
Das bemerkenswertheſte, was der Garziner Kirche geblieben
iſt, iſt ſeine 1654 in Hamburg gegoſſene Glocke. Dieſelbe iſt
einerſeits durch ein tellergroßes, in die Glockenwandung eingeſchmol-
[483] zenes Medaillon das „Urtheil des Paris“ darſtellend, andrer-
ſeits durch ihre plattdeutſchen Inſchriften intereſſant. Dieſe ſind
freilich nur zum Theil verſtändlich. Die untre, einreihige Inſchrift
lautet: „Gegaten tho Hamborch Anno Domini 1654 Junius.“
Dazu:
Die obere Inſchrift iſt viel länger und ſchwer zu entziffern.
Die Zeile „daß Chriſt mit der Baß Dir baſſunen kumpt“
iſt voll originaler Kraft. — In Garzin lebte Anfang des 17. Jahr-
hunderts „Melchior von Pfuel, der Nekromant“, deſſen Bildniß
wir ſpäter begegnen werden. Es ſcheint, daß er vorzugsweiſe in
Garzin ſeine alchymiſtiſchen Verſuche machte.
3. Buckow.
Die Stadt Buckow und ihre ſchönen Umgebungen habe ich
an andrer Stelle (Vgl. S. 180 ꝛc.) ausführlich beſchrieben. Das
Schloß — gräflich Flemmingſch — enthält neben andern Sehens-
würdigkeiten einen bemerkenswerthen Speiſeſaal, eine Jugendarbeit
Schinkels. Dieſer Saal zieht ſich, nach Art einer rundgewölbten
Halle, quer durch die Mitte des Schloſſes hindurch, das an der
betreffenden Stelle, nach vorn und hinten zu, um einige Fuß vor-
ſpringt. Caſſetten ſchmücken die Decke des Saals, der mittelſt einer
großen Glaswand, die den Bau nach der Gartenſeite zu abſchließt,
das nöthige Licht empfängt. Ueber der Halle, in einem Saal von
gleichen Dimenſionen, befindet ſich die Bilder-Gallerie.
31*
[484]
Schloß Buckow, wie alles was es enthält, iſt aus verhält-
nißmäßig ſpäter (Flemming’ſcher) Zeit und nur die Buckower
Kirche, die ſich maleriſch auf einem der Hügel am Ausgang der
Stadt erhebt, weiſt noch einzelne Pfuel’ſche Reminiscenzen auf.
Links neben dem Altar, an einem der hohen Wandpfeiler *), be-
findet ſich eine große, 7 bis 8 Fuß hohe, ſogenannte „Trophäe“,
die ſich aus in Holz geſchnitzten Kanonen, Trommeln, Fahnen,
Standarten ꝛc. zuſammenſetzt und in ſeiner Mitte das Pfuelſche
Wappen trägt. Das Ganze eine ziemlich rohe, bunt bemalte Ar-
beit mit folgender Inſchrift: „Der Hochedelgeborne Herr, Herr
George Adam von Pfuel, Sr. Churf. Durchlaucht zu Bran-
denburg, hochwohlbeſtallter General-Major, Gouverneur und Ober-
hauptmann der Veſte Spandau, auch Obriſter zu Roß und Fuß,
auf Groß- und Klein-Buckow, Obersdorf, Möschen, Garzin, Sie-
versdorff, Haſenholz, Damsdorf und Münchehofe, geb. den 15. No-
vember 1618, geſtorben im Juli Anno 1672, ſeines Alters
54 Jahr weniger 5 Monat.“
Dieſer Georg Adam von Pfuel, der in der noch zugängli-
chen Gruft der Buckower Kirche ruht, machte während des 30jäh-
rigen Krieges, unter ſeinem berühmteren Oheim Adam von Pfuel
die erſte Kriegsſchule durch. Er kommandirte ſpäter ſelbſtſtändig,
[485] war ein Zeitgenoſſe Sparrs, Görtzke’s, Derfflingers, und zeichnete
ſich während des polniſchen Krieges, ſpäter während des Zuges
nach Holſtein aus. Die glänzendſte Zeit des großen Churfürſten
(von Fehrbellin an) erlebte er nicht mehr. Außer der Herrſchaft
Buckow beſaß er auch die Dörfer Dalem und Marzahne in
der Nähe von Berlin. Sein Bildniß befindet ſich in Jahnsfelde.
Durch die Tochter Georg Adams, die den ſpäter in ſächſi-
ſchen und preußiſchen Dienſten ſo berühmt gewordenen Feldmar-
ſchall Heino Heinrich von Flemming heirathete, kam Buckow
an die Flemmings, die es alſo ſeit faſt 200 Jahren beſitzen. Nach
andrer Angabe war der Feldmarſchall von Flemming ein Sohn
aus der Ehe der Pfuel’ſchen Erbtochter mit einem Flemming.
4. Wilkendorf.
Wilkendorf, eine halbe Meile nördlich von Straußberg, iſt
ſeit vor 1536, in welchem Jahre ihnen der Lehnsbeſitz bereits
erneut und beſtätigt wurde, im Beſitz der Pfuels. Das reizend am
Abhang gelegene, in eine Thalwieſe niederblickende Herrenhaus iſt
neu und unter den mannigfachen Kunſtſchätzen befindet ſich nichts,
was bis in frühere Jahrhunderte zurückreichte. Einige ältere Fa-
milienporträts ſind ohne Belang.
Die Kirche iſt alt und zeichnet ſich durch einen mit Geſchmack
und Pietät reſtaurirten Schnitzaltar aus. Das Mittelſtück beſteht
aus drei Figuren: Jungfrau Maria, mit Joſeph (oder den heili-
gen Rochus) und ihrer Mutter Anna zur Linken und Rechten.
Die Anna hält zwei Kinder auf ihren Armen, und zwar
auf dem rechten die Jungfrau Maria (ſo daß dieſe zweimal auf
dem Bilde iſt, einmal groß und einmal klein), auf dem linken
das Chriſtkind. Die Jungfrau iſt etwas größer als das Chriſtkind
und trägt, eminent puppenartig, das Kleid der Himmelskönigin.
Intereſſanter noch als dieſer Schnitzaltar iſt der aus einem
großen Granitblock ausgemeißelte Taufſtein, der vor dem Altar
ſteht. Er iſt ungewöhnlich groß und hat (die bloße Steinſchale)
über drei Fuß Höhe bei zwei Fuß Durchmeſſer. Solche granitnen
Taufſteine waren in der erſten Zeit der Chriſtianiſirung des Lan-
[486] des gewiß ſehr häufig; die überall auf den Feldern umherliegenden
Rollſteine, wie ſie das Material zu den Kirchen ſelber boten, wur-
den ausgehöhlt und die „Taufe“ war fertig. Die Bearbeitungs-
kunſt bleibt unter allen Umſtänden anſtaunenswerth, wenn man
erwägt, wie geringe techniſche Hülfsmittel damals zu Gebote ſtan-
den. Jetzt begegnet man ſolchen „Taufen“ nur ſehr ſelten noch.
Beides, Schnitz-Altar wie Taufſtein (der letztere gewiß), ſtammen
aus Pfuelſcher Zeit.
5. Gielsdorf.
Gielsdorf, nur durch den ſchönen Ihland-See und ſeine Um-
gebungen von Wilkendorf getrennt, iſt ſeit 400 Jahren im Beſitz
der Familie. In einen der alten Kirchenpfeiler wurde, mit Bezug-
nahme darauf, eine Steintafel eingemauert, die die Inſchrift trägt:
Zur Erinnerung an die 1460 unter Churfürſt Friedrich geſchehene
Belehnung des Werner Pful mit Gielsdorf und an den vier-
hundertjährigen Beſitz ſeiner Erben. Guſtav von Pfuel, 1860.“
Auch in der Gielsdorfer Kirche befindet ſich ein ausgemei-
ßelter Taufſtein, doch iſt derſelbe erſichtlich aus ſpätrer Zeit, nicht
ſo groß wie der Wilkendorfer, und ſtatt in Granit in bloßem
Kalkſtein (wahrſcheinlich aus dem benachbarten Rüdersdorf) aus-
geführt. In Front trägt der Stein ein flach gearbeitetes Kreuz,
und als Umſchrift um daſſelbe, in Form eines Kranzes, die Worte:
NON GLORIOR NISI IN CRUCE DOMINI.
Die Emporen der alten Kirche ruhen auf kurzen, grob-
geſchnitzten Holzpfeilern; in einen derſelben ſind die Worte ein-
geſchnitten: BERTRAMB V. PFUEL. ANNO MDCX. Dieſer
Bertramb von Pfuel war ein Vetter Curt Bertrams v. Pf., der
während des 30jährigen Krieges eine Rolle ſpielte und auf den
wir noch weiter unten zurückkommen.
Unter dem Altar der Gielsdorfer Kirche ſoll ein anderer Pfuel
(Chriſtian Friedrich) beſtattet ſein. Eine Stückkugel riß ihm beim
Sturm auf Kaiſerswerth (1702) den Kopf weg und Rumpf und
Glieder wurden in Gielsdorf begraben. Er war Oberſt in einem
Infanterie-Regiment. Sein Bild befindet ſich in Jahnsfelde. Ein
[487] Spruch in der Jahnsfelder Kirche gedenkt ſein. Dieſer Spruch (wie
verſchiedne andre in der eben genannten Kirche, von Friedrich La
Motte Fouqué herrührend) lautet:
Dieſes „vorbewußt“ bezieht ſich auf folgenden Vorfall, der
als Tradition in der Familie fortlebt. Am Tage vor der Schlacht
(Sturm auf Kaiſerswerth) will von Pfuel in ſein Zelt treten.
Die vor dem Zelt ſtehende Schildwacht ſalutirt nicht, erblaßt aber
ſichtlich und zeigt nur auf das Innere des Zelts; von Pfuel tritt
jetzt ein und ſieht ſich ſelber, ſchreibend, am Tiſch ſitzen. Er tritt
hinter die Geſtalt, blickt dem ruhig Weiterſchreibenden über die
Schulter und lieſt ſein Teſtament. Dann verſchwindet die Geſtalt.
von Pfuel wußte jetzt, daß er andren Tages ſterben werde. Er
ſetzte ſich auf den Feldſtuhl, auf dem eben ſein Doppelgänger ge-
ſeſſen, ſchrieb an ſeine Frau und nahm Abſchied von ihr. Andren
Tages fiel er an der Spitze ſeiner Sturmkolonne.
Es iſt ſehr wahrſcheinlich, daß dieſe Geſchichte Chamiſſo’n zu
ſeinem ſchönen Gedichte „die Erſcheinung“ Veranlaſſung gab. We-
nigſtens die Situation iſt dieſelbe. Chamiſſo war mit Fouqué be-
freundet und Fouqué ſeinerſeits kannte die Familientradition des
ihm verwandten Pfuel’ſchen Hauſes.
6. Jahnsfelde.
Jahnsfelde iſt ſeit 1449 in der Pfuel’ſchen Familie, alſo
noch elf Jahre länger als Gielsdorf. Die hübſche Inſchrift über
der Thür des Herrenhauſes nimmt Bezug darauf und lautet:
[488]
Dies Herrenhaus ſelbſt iſt neu, doch ruht es auf den Fun-
damenten eines alten Gebäudes, das hier ſtand. Der Park, der
das Herrenhaus von allen Seiten maleriſch umſchließt, iſt eine neue
Schöpfung des Generallieutenant von Pfuel, der 1846 verſtarb.
Auch der unmittelbar angrenzende Friedhof konnte mit in den
Park hineingezogen werden, da die Hinauslegung des Begräbniß-
platzes ohnehin geboten war. War doch ſchon ſeit 1244 an der-
ſelben Stelle begraben worden. Grab über Grab.
Der gegenwärtige Beſitzer von Jahnsfelde, älteſter Sohn des
Generallieutenants, hat voll hiſtoriſchen Sinnes und zugleich voll
Pietät gegen die ruhmreiche Vergangenheit ſeines Geſchlechts, die
untren Räume des Hauſes nach Art eines Familien-Muſeums ein-
gerichtet. Erinnerungsſtücke aller Art, Wappenſchilde, Waffen, zu-
mal Bildniſſe, wohl mehr als 50 an der Zahl, finden ſich hier
auf engſtem Raume zuſammen. Sie alle namhaft zu machen liegt
jenſeits der Zwecke dieſes Buchs; aber wenigſtens der älteſten und
intereſſanteſten geſchehe in Kürze Erwähnung.
1) Anna von Pfuel. Ein intereſſantes Bild aus der Gar-
ziner Kirche. Es ſtellt eine junge, reichgeſchmückte Frau dar, lebens-
groß, ganze Figur; im Haar ſcheint ſie eine Brautkrone oder
etwas derartiges zu tragen. Ort und Jahreszahl lauten: Garzin,
1594. Dies iſt das älteſte Bild der Sammlung. Die Behand-
lung, beſonders der Gewandung, iſt noch ſteif und faltenlos.
2) Heino von Pfuel im Jahre 1602. Aetatis suae 58.
Eine kriegeriſche Geſtalt in Eiſenrüſtung und hoher Halskrauſe,
dazu roth und weiße Schärpe. Die Unterſchrift des Bildes, vom
alten Maler ſelbſt herrührend, lautet:
Es heißt von ihm, daß er ein brandenburgiſches Hülfscorps
gegen die Türken kommandirt und ſich überhaupt im Felde wie
bei Hofe ausgezeichnet habe. Auch er hat ein Schild in der Jahns-
felder Kirche und auf demſelben einige Fouqué’ſche Reimzeilen.
[489]
3) Erneſte Friedrich von Phull. Wenn ich nicht irre,
ebenfalls aus der Garziner Kirche nach Jahnsfelde gebracht. Stellt
einen ältren Mann mit weißem Bart, von ernſtem, faſt ſchwer-
müthigen Geſichtsausdruck dar. Auf dem Bilde das Pfuel’ſche und
Bismark’ſche Wappen. Spruch:
Dann folgende Unterſchrift: Der edle, feſte Erneſte Friedrich
von Phull, ein Bruder Heinonis (d. h. Heino von Pfuhls),
auf Garzin, Trebnitz und der neuen Langenwiſche Erbherr, ſtarb
allhier (wo?) den 8. Oktober Anno 1613 früh, ſeines Alters
64 Jahr. Ward den folgenden 4. Novembris in das Begräbniß
geſetzet und wartet der fröhlichen Auferſtehung.
4) Melchior von Phull. Ein vortreffliches Bild, das einen
Mann in beſten Jahren, in ſchwarzer Kanzler- oder Geheimeraths-
Tracht darſtellt, mit großem, ſchönen Spitzenkragen, Handmanſchetten
und Kanzlerkette. Links (oben in der Ecke) das Pfuel’ſche Wappen,
rechts das Wappen der alten Familie von Menlishoff. Unter
dem Pfuel’ſchen Wappen leſen wir: Melchior v. Phull, Con-
siliarius Brandenburgensis. In Garzin, Garzo, Hasenholtz
et Trebnitz. Pie Obit. 18. November Anno 1609. Unter
dem Menlishoffer Wappen ſteht: „Iſt Gott mit uns, wer mag
wider uns ſein.“ Melchior ſelbſt legt ſeine rechte Hand auf ein
aufgeſchlagenes Buch mit rothem Rand; auf der weißen Seite
ſteht: „Wer meine Gebote hat und hält ꝛc. Johannes 14. V. 21.“
Anno Domini 1610. An andrer Stelle nochmals: Melchior
v. Phull Aetatis suae 35. Anno 1609. Discite mortales
fugitivam noscere vitam. Dieſer Melchior von Pfuel iſt derſelbe,
der ſich auch als Nekromant einen Namen machte.
5) Adam von Pfuel. Bruſtbild. Ein älterer Mann, ernſt,
prononcirt martialiſch. Er zählt zu den bekannteſten Mitgliedern
der Familie. Adam von Pfuel wurde 1604 geboren. Er folgte
1620 ſeiner Schweſter, einer Hofdame Marie Eleonorens (bei
[490] Vermählung dieſer mit Guſtav Adolf), nach Stockholm. Dieſe
Schweſter heirathete ſpäter den berühmten Bannier und wurde
die Ahnmutter des gleichnamigen Geſchlechts. Ihr Bruder unſer
Adam von Pfuel, trat als Page bei Guſtav Adolf in Dienſt, be-
gleitete ihn nach Deutſchland und brachte, nach der Lützener
Schlacht, des Königs Leiche von Weißenfels nach Stettin, von
wo ſie nach Stockholm eingeſchifft wurde. Seine nahen, ſchon an-
gedeuteten verwandtſchaftlichen Beziehungen zu Bannier machten
es, daß er auch in der Folge der Parthei dieſes wüſten aber ge-
nialiſchen Feldherrn zugehörte. 1634 führte er zuerſt, als Com-
mandeur eines Regiments, einen ſelbſtſtändigen Zug nach Thürin-
gen hin aus und deckte die Flanke des Heeres. Auf dieſem Zuge
war es, wo ſich der damals noch jugendliche Derfflinger ſeine
erſten Sporen im Pfuel’ſchen Regiment verdiente. Später ſtieg
Pfuel zum Avantgardenführer des ſchwediſchen Heeres auf und
eroberte ſich als ſolcher den allerdings zweifelhaften Ruhm, 800
böhmiſche Dörfer niedergebrannt zu haben. Nach Banniers Tode
war es Pfuel, der in Gemeinſchaft mit einigen andern Kriegs-
Oberſten die Schlacht bei Wolfenbüttel ſchlug. Er ſtand damals
hoch genug in Anſehn, um hoffen zu dürfen, das Ober-Commando
werde ihm übertragen werden. Er ſcheiterte aber, weil er Aus-
länder war, und Torſtenſon (ihm freilich hoch überlegen) erhielt
den Oberbefehl. Als ihm auch Lilienhoeck vorgezogen wurde, nahm
er den Abſchied. Dies war 1642. Wo er von da ab bis 1652
war, iſt unbekannt. In ſpätren Jahren kaufte er ſich die Güter
Helffte und Polleben im Mansfeldiſchen und gründete eine neue
Linie. Auf ſeinem Bilde in Jahnsfelde trägt er die goldne Kette,
die ihm Guſtav Adolf geſchenkt hatte. Er ſtarb als ſchwediſcher
Generallieutenant 1659 zu Polleben. Hat auch in der Kirche
Schild und Spruch.
6) Curt Bertram von Pfuel. Bruſtbild. Dieſer Curt
Bertram war kurbrandenburgiſcher General-Kriegs-Commiſſar wäh-
rend des 30jährigen Krieges, und wurde von Seiten George Wil-
helms mehrfach zu diplomatiſchen Sendungen verwandt, namentlich
[491] an Wallenſtein, als dieſer zuerſt an den Grenzen der Mark erſchien.
Unſer Curt Bertram war damals „Kammerjunker“. Seine erſte Miſ-
ſion an Wallenſtein fällt in das Frühjahr 1626. Es ſcheint, daß er
den Friedländer in Halberſtadt traf und ihn, im Auftrage des
Churfürſten zu bitten hatte, nicht in die Mark einzurücken. Wal-
lenſtein antwortete: „So wahr ich ein ehrlicher Mann bin, will
ich dem Kurfürſten kein Widriges erweiſen, nur bitte ich ihn um
Gottes Willen, die Mansfeld’ſche Armee (die in der Priegnitz
hauſte) auszuſchaffen, ſonſt muß ich nachrücken, um den Feind zu
ſuchen, wo ich ihn treffe.“ Im Auguſt traf Wallenſtein mit 16
Regimentern in Cottbus ein. Der Kurfürſt hatte den ſpäter ſo
berühmt gewordenen Conrad von Burgsdorf zum Marſchall
bei ihm beſtellt, und es verlautet nicht, daß unſer Curt Bertram
bei dieſer Gelegenheit weitere Verhandlungen mit Wallenſtein ge-
habt habe. Er war indeſſen einige Wochen vorher in Cottbus
geweſen, um, gemeinſchaftlich mit einem von Rochow, die Em-
pfangsvorbereitungen zu regeln. Curt Bertram ſah den Friedlän-
der erſt ſpäter wieder, und wie es ſcheint, unter ziemlich mißlichen
Umſtänden. In Prag, als er dem Gefürchteten eine Vorſtellung
zu überreichen hatte, fuhr ihn dieſer an: „ich werde ſchiefericht
(etwa das, was wir heute „nervös“ nennen würden), wenn ich
ſolche Schriften ſehe“, und im Juni 1628 berichtete Pfuel von
Frankfurt a. O. nach Berlin: er habe den General nicht ſprechen
können, denn dieſer habe juſt ſeinen Schiefer gehabt, und nicht
nur kurz vorher den Sekretair, den Kammerdiener und Edelkna-
ben abprügeln laſſen, ſondern auch das Glockenläuten verboten
und zugleich befohlen, alle Hunde von der Gaſſe zu ſchaffen. Dieſe
Miſſionen, wie wir hieraus genugſam erſehen können, waren ver-
antwortungsvoller Natur und forderten ihren Mann.
Curt Bertram, deſſen Bruder (Adam) und Neffe (Georg
Adam) direkt in ſchwediſchen Dienſten ſtanden, gehörte ſelbſtver-
ſtändlich der Anti-Schwarzenberg’ſchen Parthei an. Schwarzenbergs
Einfluß ſetzte es ſchließlich durch, daß Curt Bertram ſeiner Aemter
enthoben und ſeine Güter eingezogen wurden. Nach dem Tode
[492] Kurfürſt George Wilhelms aber wendete ſich das Blatt; er erhielt
ſeine Güter zurück und wurde auserſehn, den Adam Schwarzen-
berg gefangen zu nehmen. Später kaufte er ſich in Sachſen an
und wurde, durch weitre Verzweigung, der Stammvater der noch
blühenden Würtemberg’ſchen Linie. Das Bild Curt Bertrams be-
findet ſich in Jahnsfelde. Er iſt ein ſchöner Mann, blühend, noch
jung, voll klugen und energiſchen Ausdrucks. Seine Tracht, in
Koller und Klapphut, iſt im Weſentlichen die eines ſchwediſchen
Kriegsoberſten.
Die andern Bilder — und auch unter ihnen nur eine Aus-
wahl — geb’ ich in den Anmerkungen. Was der Jahnsfelder
Porträt-Gallerie einen Reiz verleiht und ihr unterſcheidendes Merk-
mal bildet, iſt, daß ſie das Froſtige eines ſogenannten „Ahnen-
ſaals“ durchaus vermeidet. Man ſteigt nicht erſt treppauf, man
zieht nicht erſt die verſchoßnen Gardinen zurück, man ſorgt nicht
erſt, abſtäubend und Fenſter-öffnend, für Luft und Licht, — in
Jahnsfelde lebt man mitten unter ihnen. Dieſe alten Herren
in Rüſtung oder Perrücke, hier ſind ſie nicht zu ſteifer Repräſen-
tation da, ſie ſind nicht Fremde am eignen Heerde, man hat ſich
häuslich-familiär mit ihnen eingerichtet; man kennt ſie, man
liebt ſie. Ein täglicher Verkehr hat Platz gegriffen zwiſchen denen
die waren und zwiſchen denen die ſind; Aelteſtes und Neuſtes
reichen ſich die Hand; wie ein ununterbrochener Strom wandert
das Leben weiter von Geſchlecht zu Geſchlecht. Wohl mahnen auch
hier die Bilder berühmter Ahnen an das Vergängliche alles Irdi-
ſchen, aber ſie predigen zugleich auch den Sieg des Geiſtes über
den Leib und entfalten ſtill die Fahne, auf der als Zuruf und
Richtſchnur das Dichterwort geſchrieben ſteht:
„Und ein berühmter Name nach dem Tode!“
[[493]]
Kienbaum.
Die groß und einſam übrig blieb
An flachem Wieſenſaume.
Laufkäfer haſten durchs Geſträuch
In ihren goldnen Panzerröckchen,
Die Bienen hängen Zweig um Zweig
Sich an der Edelhaide Glöckchen;
Die Kräuter blühn; der Haideduft
Steigt in die blaue Sommerluft.
Th. Storm.’
Am Ausgang der Liebenberger Haide, am linken Ufer des Flüß-
chens Loecknitz, das hier die Grenze zwiſchen dem Lande Lebus
und dem Nieder-Barnim zieht, liegt das Dorf Kienbaum.
Seinen Namen (ſo erzählt man ſich) hat es von einem
Kienbaum, der ehedem ziemlich inmitten des Dorfes ſtand und
nach Erzählung der Bewohner bis in die allerfrühſten Zeiten deut-
ſcher Coloniſirung zurückreichte. Man ließ ihn damals bei der Aus-
rodung der Waldſtelle ſtehen, und während der Kienbaum ſelber
neue Jahresringe anlegte, legten ſich neue Häuſer und Höfe um
den urſprünglichen Kern des Dorfes herum. Jahrhunderte lang
hielt man ihn, wie einen Hüter und Talisman, wie einen alten
Pathen, der dem Dorfe den Namen gegeben, in Ehren und kaum
20 Jahre mögen vergangen ſein, ſeit er umgehauen wurde. Das
ganze Dorf, das überhaupt einen guten Sinn hat, ſträubte ſich
dagegen, aber die egoiſtiſche Beharrlichkeit des Einzelnen (auf deſ-
[494] ſen Grundſtück der Baum ſtand) blieb ſchließlich doch ſiegreich und
der Kienbaum, das Wahrzeichen des Dorfes, fiel. Leute im Dorfe
haben mir den Baum beſchrieben; ſie empfinden es wie eine
Schuld, daß er nicht mehr da iſt. Es war eine alte knorrige Kie-
fer, noch aus der Zeit her, wo man die Bäume nicht ſchwächlich-
ſchlank heranzog, ſondern ſich knorrig-original entwickeln ließ.
Der Stamm war nur wenig über mannshoch, aber von über drei
Ellen Umfang; dabei lag er ſchräg und ſein flaches, ineinander
geflochtenes Zweigwerk bildete einen korbartigen grünen Schirm.
Sein Inneres war ausgehöhlt; nur die Kienſtellen hatten ſich ge-
halten, und als man ihn der Länge nach durchſägte, bildete jede
Hälfte eine Art Trog oder Mulde.
Dorf Kienbaum hat ſein Wahrzeichen verloren, aber es iſt
doch immer noch ein intereſſantes Dorf. Es zählt zu jenen ſtillen
Haidedörfern, um die ein ganz beſondrer Zauber waltet, jenes an-
heimelnde Stück Romantik, das in der Oede und Abgeſchiedenheit,
vor allem aber in dem Hospiz-Charakter dieſer Dörfer begründet
liegt. Es ſind die geborgnen Plätze in der Wildniß, und jeder,
den ſein Weg irgend einmal, zumal in naßkalten Spätherbſttagen,
über Wald und Haide geführt hat, muß dieſen Zauber an ſich
ſelbſt empfunden haben. Es iſt vielleicht im November, der Ne-
bel ſprüht und die Haide, ſo dünkt Dir’s, nimmt kein Ende. Erſt
Kuſſeln, dann Kiefern, nun wieder Kuſſeln. Jedes leiſeſte Strei-
fen an Baum oder Buſch ſchüttet ein Schauerbad über Dich aus
und das naſſe, vergilbte Haidekraut, durch das Du hindurch mußt,
ſpottet der feſteſten Sohle und macht Dich frieren bis auf’s Mark.
Nichts begegnet Dir außer einem ſchiefſtehenden Wegweiſer, der
ſeine müden Arme ſchlaff zu Boden hängen läßt, oder eine Krähe,
die den Kopf in das naſſe Gefieder einzieht und ſich trübſelig matt
beſinnt, ob ſie auffliegen ſoll oder nicht. So geht es ſtundenlang.
Endlich lichtet ſich’s und Du trittſt auf eine offne Stelle hinaus,
eine kümmerliche Sandſcholle, die freilich wenig mehr als hundert
Schritt mißt und hinter der Du die dunkle Kiefernwand ſich aber-
mals aufrichten ſiehſt. Aber auf dem freien Stück Felde, unter
[495] Ebreſchenbäumen, an denen noch die letzten rothen Büſchel hängen,
ſteht ein Dutzend Lehm- und Fachwerkhäuſer, um die herum ſich
ein brauner Weg mit tief ausgefahrenem Geleiſe ſchlängelt. Das
erſte Haus iſt eine Schmiede; Dein fröſtelnd Herz ſieht wie mit
hundert Augen in die ſprühende Gluth hinein und das Picken und
Hämmern, gedämpft durch die nebelfeuchte Luft, klingt märchenhaft
leiſe zu Dir her. Ein Gefühl beſchleicht Dich, als träteſt Du in
ein Feen- und Wunderland, als läge die Inſel der Glücklichen
vor Dir. Das iſt der Zauber eines „Dorfes in der Haide“.
Solch ein Dorf (ſie werden immer ſeltner) iſt Kienbaum,
Grund genug, ihm einen kurzen Beſuch zu machen. Was uns
aber heute, noch um die Sommerzeit, dieſem Haidedorfe zuführt,
das iſt nicht die Poeſie ſeiner ſtillen Häuschen, auch nicht das
Verlangen, den Baum zu ſehen, oder doch von ihm zu hören, der
einſt dem Dorfe den Namen gab, das iſt vielmehr der Umſtand,
daß Dorf Kienbaum vor hundert Jahren und drüber eine Art
Congreßort war, wo die märkiſchen Bienenzüchter, jeden-
falls aber doch die Bienenwirthe von Lebus und Barnim, ſo wie
der Neumark und der Lande Beeskow-Storkow, zur Berathung
ihrer Angelegenheiten zuſammenkamen.
Was dieſem kleinen Dörflein die Ehre einbrachte, ein ſolcher
Congreßort zu ſein, iſt nicht mehr mit Beſtimmtheit zu ſagen;
wahrſcheinlich wirkte Verſchiednes zuſammen, unter andern auch
ſeine günſtige Lage, ziemlich genau in der Mitte der Provinz.
Gleichviel indeß, was es war, alljährlich im Monat Auguſt oder
September kamen hier die „Beutner und Zeidler“ zuſammen und
alle Höfe im Dorf, beſonders aber der Schulzenhof, der durch
Jahrhunderte hin ein Hauptbienenhof war, öffneten gaſtlich ihre
Thore. Ueber das, was auf dieſem Convent verhandelt wurde, er-
fährt man an Ort und Stelle nur wenig Beſtimmtes, zum Theil
Widerſprechendes. Alle dieſe Dinge klingen nur eben noch halb
ſagenhaft in Kienbaum fort, wobei ſich dann wie immer die Be-
merkung wiederholt: „ja, wenn die alte Kettlitzen oder die alte
Stengelbergen noch lebte, die wußte es ganz genau“. Aber „die
[496] alte Stengelbergen“, auf welchem Gebiet es auch immer ſein mag,
iſt jedesmal todt.
Stelle ich nachſtehend alles zuſammen, was ich theils in
Kienbaum mündlich erfahren, theils aus Büchern erſehen konnte,
ſo erſcheint es, daß der Charakter dieſes Bienenconvents im Lauf
der Jahrhunderte wechſelte, und während es ſich in den früheren
Jahrhunderten ſehr wahrſcheinlich um allerhand geſchäftliche
Regulirungen handelte, war dieſer Convent, im vorigen Jahrhun-
dert, theils eine Art Ausſtellung, theils eine Fachmänner-Verſamm-
lung (nach Art moderner Verſammlungen der Art), wo man ſich
Produkte zeigte, Reſultate mittheilte und über Bienenzucht, nach
gemachten Erfahrungen, wiſſenſchaftlich-praktiſch berieth.
Dieſer totale Wechſel, der vielleicht mit Anfang des vorigen
Jahrhunderts eintrat, hatte muthmaßlich darin ſeinen Grund, daß
um die genannte Zeit der Honigbau ein freies, nach Wunſch der
Regierung von jedem Bauer und Koſſäthen zu betreibendes Ge-
werbe wurde, während er bis dahin als ein beſondres Recht an
einem beſtimmten Grund und Boden gehaftet und alle diejenigen,
die als Pächter dieſes Grund und Bodens den Honigbau betrie-
ben, in ein Abhängigkeits-Verhältniß von dem betreffenden Grund-
herrn gebracht hatte.
Dieſe Zins- und Pacht-Verhältniſſe waren es nun wahr-
ſcheinlich, die in früheren Jahrhunderten — in denen man nur
die Waldbienenzucht kannte — in Kienbaum geſchäftlich regulirt
wurden. Man einigte ſich über allgemeine Sätze und Normen,
über das, was man pachten könne und was nicht; neben dem All-
gemeinen aber waren es auch die ſpeciellen Verhältniſſe Kienbaums,
die zur Sprache kamen, und mit dieſen beſchäftigen wir uns hier
ausſchließlich.
Kienbaum gehörte in alten Zeiten zu Kloſter Zinna, ſpäter,
nach der Säkulariſation, zu Amt Rüdersdorf; Amt Rüdersdorf
war alſo Grundherr. Dieſer Grundherr nun, wie er in an-
dern Dörfern neben Ackerland Viehweide verpachtete, verpach-
tete in Kienbaum Bienenweide, d. h. einen Wald, auf dem die
[497] Bienen der Kienbaumſchen Beutner und Zeidler weiden konnten.
Selbſtverſtändlich gehörte dazu auch das Recht, das Reſultat dieſer
Weide, den Honig, auf hergebrachte Weiſe zu erbeuten. (Die
Kunſt der Beutner beſtand darin, den in die hohlen Bäume ge-
legten Honig, die ſogenannte Honigbeute, zu gewinnen.) Dieſe
Beutner oder Zeidler nun ſtellten ſich wahrſcheinlich an einem be-
ſtimmten Tag im Jahre bei ihrem Kienbaumer Lehnſchulzen ein,
der als eine Art Beauftragter des „Amts“ handelte. Sie kündig-
ten oder erneuten ihre Pacht, äußerten ihre Wünſche und Be-
ſchwerden (oder nahmen ſolche entgegen) und bezahlten ihren Zins,
theilweis in Geld, theilweis in Honig. So hatten ſie unter an-
derm für ihre Bienen- oder Zeidelweide am „Gerichtstage“ eine
Tonne Honig zu entrichten, wogegen das Amt die Pflicht hatte,
ſie an dieſem Tage mit einem Hammel, einer Tonne Bier und
einem Scheffel Brod zu verpflegen. Später wurde der Pachtzins
wahrſcheinlich ausſchließlich in Geld geleiſtet, weshalb wir von
einer Kaſſe ſprechen hören, die ſich auf dem Schulzenhof in Kien-
baum befand und daſelbſt verwaltet wurde. Dieſe Kaſſe entſprach
alſo zunächſt einer kleinen Rentamtskaſſe, deren Erträge von
Zeit zu Zeit einfach an das Amt ſelber abgeführt wurden. Dane-
ben aber, wenn man dem Geplauder der lebenden Kienbaumer
trauen darf, ſcheint dieſe „Kaſſe im Schulzenhof“ vor allem auch
eine Darlehns- und Prämien-Kaſſe geweſen zu ſein. Wer
den beſten Honig vorzeigen konnte, der wurde prämirt, und wer
die nöthigen Garantien bot, der erhielt Darlehne, um irgend etwas
Neues, von dem er ſich Reſultate verſprach, in’s Werk zu ſetzen.
Das iſt alles, was ich aus Mund und Schrift über die Kienbau-
mer Bienenconvente habe in Erfahrung bringen können. So wenig
es iſt, es ſpricht ſich Leben, Eifer und ein gewiſſes Organiſations-
talent darin aus.
Die Bienenzucht in Kienbaum, darüber ſcheint kein Zweifel,
war von beſonderer Vorzüglichkeit, und dieſer Umſtand, neben der
günſtigen Lage des Dorfes, hatte wohl Theil daran, daß Kien-
baum zu einem regelmäßigen Sammelort der Bienenwirthe wurde.
32
[498]
Dieſe Vorzüglichkeit der Bienenwirthſchaft nun war das na-
türliche Reſultat einer vorzüglichen Bienenlokalität, d. h. einer
andauernden, nie erſchöpften Bienenweide. Solche Lokalitäten,
wenn man die höchſten Anforderungen ſtellt, ſind nicht eben allzu-
häufig, da es ſich darum handelt, durch faſt volle 6 Monate hin
den Bienen immer Pflanzen zu bieten, aus denen ſie ſammeln
können. Wo Raps blüht, da iſt für die Bienen während des Mai
und Juni, und wo die Linden blühn für den Juli geſorgt; aber
erſt aus dem Vorhandenſein mannigfachſter Bäume, die ſich im
Blühn unter einander ablöſen und vom April bis in den
September hinein eine immer wechſelnde Bienennahrung bieten,
erſt aus dem Vorhandenſein ſolcher Mannigfaltigkeit ergiebt ſich
das eigentliche Bienen- und Honig-Terrain. Ein ſolches Terrain
nun war Kienbaum in eminenter Weiſe. Ein viele Quadratmeilen
großer Kiefern-Forſt ſchloß es ein, und mitten durch dieſen Forſt
hindurch ſchlängelte ſich die Loecknitz, *) ein Flüßchen, das auf Mei-
len hin Wieſen und honigreiche Wieſenblumen zu ſeiner Rechten
und Linken hatte. Unmittelbar das Flüßchen entlang zogen ſich
Werft und Haſelbüſche, die den Bienen, im März und April
ſchon, eine bevorzugte Nahrung boten; im Mai dann begannen
ſommerlang die Wieſen zu blühn, bis endlich, vom Auguſt an,
die weiten Strecken voll Haidekraut, gelegentlicher weißer Kleefelder
zu geſchweigen, eine nicht auszunutzende Nahrungsquelle boten.
Die Erträge waren zu Zeiten ſehr bedeutend, und das Dorf,
das faſt aus lauter Zeidlern und Beutnern beſtand, erfreute ſich
trotz ſeiner Ackerarmuth einer gewiſſen Wohlhabenheit. Der Schul-
[499] zenhof hatte 99 Stöcke und ſo, im Verhältniß, bis zum Büdner
und Tagelöhner herab. Ein Stock entſprach in guten Jahren einem
Eimer voll Honig. Den Eimer zu 10 Quart gerechnet, hätte alſo
der Schulzenhof in guten Jahren 990 Quart Honig gewonnen.
Von dieſer Höhe iſt nun Kienbaum ſeitdem herabgeſtiegen.
Der Bienenconvent tagt nicht mehr inmitten des Dorfs, und der
Schulzenhof, der es ſonſt bis auf 99 Körbe brachte, begnügt ſich
jetzt mit 9. Der gewonnene Honig hat längſt aufgehört ein Han-
delsartikel und eine beſondere Einnahme zu ſein, er ſpielt nur
noch die Rolle eines Surrogats. Er vertritt den Zucker und die
Butter, welche letztere in einem armen Sand- und Haidedorf, das
ſeinen Viehſtand ſchwer über eine Schafheerde hinaus bringt, be-
greiflicherweiſe zu den Luxusartikeln zählt.
Das alte Wahrzeichen Kienbaum’s iſt hin und ſeine Bienen-
herrlichkeit nicht minder, aber an die letztre erinnert doch noch vie-
les. Die Lokalität, die ich oben zu beſchreiben ſuchte, iſt eben im
Weſentlichen dieſelbe geblieben. Noch ſteht der Wald, noch blüht
das Haidekraut roth über die Haide hin, noch ſchlängelt ſich die
Loecknitz durch das grüne Wieſenband hindurch, und die größte
*)
32*
[500] und bunteſte dieſer Wieſen führt bis dieſen Tag noch den Namen
der Zeidelwieſe. Vielleicht, daß auch dies bald anders wird.
Schon iſt die Zeidelwieſe nicht mehr die alte Zeidelwieſe von vor-
mals, man hat ſie halbirt und die eine Hälfte zu einer Art Kü-
chengarten gemacht. Aber wenn auch Name und Sache ganz ver-
ſchwinden ſollten, das Dorf in der Haide, das abſeits liegt, und
in ſeiner Armuth niemanden auffordert, das Sand- und Haide-
land in den großen Verkehr hineinzuziehen, wird noch lange ein
Plätzchen bleiben, deſſen ſtill aufſteigender Rauch den Reiſenden
nach ſtundenlanger Oede anheimeln und deſſen erſtes „Mütterchen
am Zaun“ ihn dankbar empfinden laſſen wird:
[[501]]
Anmerkungen.
Von Frankfurt bis Schwedt.
[Eine Correktur.] S. 11, wo von der „Inſtruktion“ geſprochen
wird, die Friedrich II. nach der Kunersdorfer Schlacht in Reitwein auf-
ſetzte, muß es nicht heißen: „ebenfalls an Finkenſtein gerichtet“ ſondern:
„an General Fink gerichtet.“
Tamſel.
- Benutzt: K. v. Schoenings Leben des Feldmarſchalls Hans Adam
v. Schoening. K. v. Schoening, Papiere die Familie v.
Schoening betreffend (als M. S. gedruckt). Das Tamſler Archiv.
Ungedruckte Memoiren der Gräfin Schwerin, geb. Gräfin
v. Dönhoff. Mündliche und briefliche Mittheilungen.
1. Die Beſitzverhältniſſe Tamſels ſeit 1510.
Tamſel war Ordensgut (des Johanniter-Ordens) und gehörte zur
Commende Quartſchen. Die Familie von Schoenbeck beſaß Tamſel und
Warnick (Nachbargut) bereits 1510; von dieſem Jahre datirt ſich ein Lehn-
brief. Sie hatten es zu Lehn vom Orden.
Die Schoenbecks bleiben im Beſitz von Tamſel und Warnick bis
zum 16. Mai 1653. An dieſem Tage kauft es Hans Adam v. Schoe-
ning (zum Unterſchied Hans Adam I. genannt) von ſeinem Stiefvater
Asmus von Schoenbeck. Von 1653—65 beſitzt es Hans Adam I. — Von
1665—96 beſitzt es Hans Adam II. (der Berühmte, der Türkenbeſieger).
Bis 1685 beſaß er nur halb Tamſel zu Lehen und die andere Hälfte ſowie
Warnick pfandweiſe. Auf ſeine Vorſtellung aber, daß er zur Verbeſſerung
der Güter mehr angewandt habe, als ſie vorher werth geweſen ſeien, wird
[502] er nun mit dem Ganzen beliehen. (1693 wird durch den Herrenmeiſter
Carl Philipp zu Brandenburg das Recht zur Belehnung in weiblicher
Deſcendenz ausgeſprochen.) Von 1696—1714 beſitzt es Hans Ludwig v.
Schoening, der Sohn des Berühmten. 1714 geht es an Hans Ludwigs
einzige Tochter, an Luiſe Eleonore v. Schoening, vermählte v. Wreech über.
Sie wird 1724 belehnt, laut des durch den Herrenmeiſter Carl Philipp
zu Brandenburg 1693 ausgeſprochenen Rechts: „wenn keine männlichen
Lehnserben mehr am Leben, dann fallen die Lehne an die Deſcendenten
weiblichen Geſchlechts.“ Frau v. Wreech ſtirbt 1766. Von 1766—1785
Hofmarſchall Friedr. Wilh. Theodor v. Wreech. Von 1785—1796 Domherr
Ludwig Alex. v. Wreech. (Der letzte Wreech.) Graf Ludwig v. Wreech hatte
Tamſel und Warnik an den Grafen Bogislaus v. Dönhoff auf Dönhoff-
ſtädt, den einzigen Sohn ſeiner Schweſter, einer vermählten Gräfin Dönhoff
vermacht, der ſeinerſeits eine Schwerin zur Frau hatte. Von den 5 Töch-
tern des Grafen B. v. Dönhoff war wiederum eine an einen Schwerin
(Graf Hermann Schwerin-Wolfshagen) verheirathet. Durch dieſe Verheira-
thung kam Tamſel an die Schwerins. Der gegenwärtige Beſitzer, Graf
Bogislav, iſt ein Sohn des Grafen Hermann Schwerin-Wolfshagen.
2. Der Tamſler Park.
Ueber die ſchöne Lage Tamſels habe ich ſchon S. 15 einige kurze An-
deutungen gegeben. In früheren Zeiten hieß es die „Oaſe in der Wüſte“
und noch jetzt hat es Anſpruch auf jede rühmende Bezeichnung, wenn auch
freilich die dem Ackerbau und wenigſtens dem üppigſten Wieſewachs ge-
wonnenen Gegenden des Warthebruchs, für die Umgebung Tamſels die Be-
zeichnung „Wüſte“ nicht länger zuläſſig erſcheinen laſſen.
Das Terrain, auf dem Tamſel liegt, hat viel Aehnlichkeit mit den
ſchönen Oderbruch-Parthieen zwiſchen Falkenberg und Freienwalde. Im
Rücken eine Bergwand, mehr oder weniger ſteil, hier und dort durch eine
Schlucht durchbrochen und überall mit Laub- und Nadelholz beſtanden;
am Fuß dieſer Bergwand ein Dorf und zu Füßen des Dorfs ein Wieſen-
grund, oft überſchwemmt und immer von Flußarmen durchzogen. So iſt
das Freienwalder Terrain; ſo iſt auch die Landſchaft um Tamſel her.
Das Dorf Tamſel zieht ſich unmittelbar am Fuß des Hügels hin, zu
Anfang und Ende wie ein Querſack ſich ausbreitend, in ſeiner Mitte aber
zu einer ſchmalen Straße ſich verengend, weil eben hier der Park mit
Schloß und Kirche ſich einſchiebt. Eigentlich theilt der Park, der in
einen Außen- und Innenpark zerfällt, das Dorf in eine öſtliche und weſt-
liche Hälfte, eine Theilung, die aber wenig bemerkt wird und noch weniger
ſtört, da der Dorfverkehr unbehindert am Park entlang oder auch durch
dieſen hindurch geht. Ein ſolches Zuſammengewachſenſein von Dorf und
Schloß thut immer wohl und jeder Theil, zunächſt nur maleriſch genom-
men, hat den Vortheil davon. Der Park kommt der Dorfſtraße und dieſe
[503] wiederum dem Park zu Gute. Der Park giebt Schönheit und empfängt
Leben und Heiterkeit zurück.
Der Park, wie ſchon angedeutet, zerfällt in einen Außen- und Innen-
Park.
Der Außen-Park iſt jene Waldparthie, die vom Fuß des Hügels
an bis zur Kuppe deſſelben aufſteigt und die Schlußcouliſſe des ganzen
Bildes, den Hintergrund für ganz Tamſel bildet. Auf der Höhe des Hügels
erhebt ſich einer jener griechiſchen Tempel, wie ſie die Roccoco-Zeit zu
bauen liebte, während weiter abwärts eine Schlucht die Hügelwand durch-
bricht, eine Thalrinne, durch welche der Weg nach Zorndorf führt. In
dieſer Schlucht war es, wo in den 80er Jahren dem Prinzen Heinrich zu
Ehren, die Erſtürmung oder Forcirung des Paſſes von Gabel (die letzte
Kriegsthat des Prinzen) noch einmal, bei bengaliſchem Feuer, friedlich in
Scene geſetzt wurde. Die Schlucht wurde zu dieſem Behufe überbrückt;
Minerva (die ſchöne 20jährige Gräfin Dönhoff) führte den Prinzen mit
begeiſternder Anrede über die Brücke, an deren anderem Ende der Prinz
von drei Johanniter-Rittern (von Schack, Graf Dönhoff, Graf Tauenzien) in
voller Ordenstracht begrüßt und mit den ſchon an anderer Stelle mitge-
theilten Worten empfangen wurde:
Alſo etwa:
Zur Erinnerung an dieſen Tag wurde gleich nach der Feſtlichkeit
ſelbſt ein Obelisk an eben der Stelle aufgerichtet, wo die drei Johanniter den
Prinzen begrüßt hatten und dieſem Obelisk die Inſchrift gegeben: En
Memoire du Passage de Gàbel en Bohème par le Prince Henri de Prusse,
le 31. Juillet 1778. Darunter:
Dieſer Obelisk ſteht noch.
Der Innen-Park iſt ſehr reich an Statuen und Gedenkſteinen
und ſoll, vor nicht allzu langer Zeit, noch viel reicher daran geweſen ſein. Auch
hier wieder iſt Prinz Heinrich der vor Allem Gefeierte. In einer der Ecken des
Parks erhebt ſich ein Altar mit den beiden Büſten des „Prince Henri“
und des großen Kurfürſten, und franzöſiſche und deutſche Verſe wetteifern,
theils in unmittelbarer Huldigung gegen den Prinzen, theils (mittelbar) in
[504] Vergleichen und Parallelen, die ſie zwiſchen dem Ahn und dem Enkel zieh’n.
„Il a tout fait pour l’etat“ heißt es an erſter Stelle; aber dem einfachen
Ausſpruch folgen Verſe (des Chevaliers de Boufflers) auf dem Fuß:
Nun beginnen die Parallelen mit dem großen Kurfürſten. Zuerſt
franzöſiſch:
Dann folgen deutſche Diſtichen:
Endlich (im lapidarſten Lapidarſtil) machen lateiniſche Worte den
Schluß. Zuerſt (dem Kurfürſten geltend): Fridericus Guilielmus
vere Magnus. Civium Parens. Hostium Victor. Libertatis Germanicae
Vindex. Fidei Exulis Perfugium. — Dann (dem Prinzen geltend):
Henricus Militum Amor. Hostium Terror. Gallicae Gentis Deliciae.
Musarum Altor. Ad Freibergam Victor.
Hiermit ſchließen die Inſchriften zu Ehren des Prinzen Heinrich ab,
aber nicht die Denkſteine und Inſchriften überhaupt. „Rose elle a vécu ce
que vivent les roses, — l’espace d’un matin“, ſo lauten die Worte auf
einem halb unter Raſen verborgenen Sandſtein, der zugleich den Namen
der Frühgeſchiedenen trägt: Liſette Tauenzien. Weiter abwärts die Gänge
des Parks begegnen wir einem Epitaph mit Bild und Urne „dem Ge-
dächtniß ſeiner zwei Geſchwiſter errichtet von Grafen Ludwig Alexander
Wreich.“ (Complaints de Louis Alexandre Comte de Wreich sur la perte
de sa soeur et de son frère.) Darunter folgende Verſe:
[505]
Noch weiter abwärts erhebt ſich das Denkmal, das ebenfalls Graf
Ludwig Wreich dem Andenken ſeines Lehrers Fahndorff errichtete, deſ-
ſelben, der am 24. Auguſt 1758 von den plündernden Ruſſen ermordet
und unter die Bäume des Parks geworfen wurde.
Noch vieles andere iſt an Tafeln und Inſchriften da, aber wir ver-
weilen dabei nicht länger und wenden uns vielmehr der Stelle zu, wo im
Mittelpunkt des Parks, en vue des Schloſſes, vom Grafen Hermann
Schwerin der große Denkſtein errichtet wurde, deſſen ich ſchon S. 59
flüchtig erwähnte. Mir bleibt hier nur noch übrig, das Denkmal ſelber
ausführlicher zu beſchreiben. Es iſt ein Stein-Obelisk von etwa 30 Fuß
Höhe, der ſich auf einem gegliederten Poſtamente erhebt und ſeinerſeits
wieder eine vergoldete Victoria trägt. An den Seiten und der Rückfront
des Poſtamentes befinden ſich drei, auf den Küſtriner Aufenthalt des
Kronprinzen Bezug nehmende Basreliefs: ein Studirzimmer mit Büchern,
Noten und Karten; ein ſtrahlender Jüngling, der den Wagen zur Sonne
lenkt; Küſtrin mit der alten Oderbrücke; während die Vorderfront fol-
gende Inſchrift trägt:
Weitere Inſchriften, am Obelisken ſelbſt befindlich, knüpfen ebenfalls
an den Aufenthalt des Kronprinzen in Küſtrin und Tamſel an.
- Vorderfront: Hier fand Friedrich II. als Kronprinz von Preußen
in ſeinem Duldungsjahre 1731 erwünſchte Aufheiterung in länd-
licher Stille. - Rückfront: Es iſt ein göttlich Ding einem Manne, daß er das Joch
in ſeiner Jugend trage. Klagelieder Jeremiä 3, 27.
An einer der Seitenfronten befinden ſich die Worte, die auf die Er-
richtung des Denkmals Bezug nehmen: „Dem erhabenen Verklärten Anno
1840, nach 100 Jahren ſeiner Thronbeſteigung, geweiht vom Grafen Herr-
mann von Schwerin.“ Ein Gitter und Roſenbüſche faſſen das Denkmal
ein. Es iſt an derſelben Stelle errichtet worden, an der (laut Ausſage
alter Fiſchersleute) der Kronprinz, wenn er im Tamſler Park ſpatzieren
ging, vorzugsweiſe gern zu verweilen und unterm Laubdach der Bäume
zu leſen pflegte. Die Enthüllung des Denkmals war ein Feſt für die
ganze Gegend. Friedrich Wilhelm III. (der 7 Tage ſpäter ſtarb) hatte noch
den größten Antheil daran genommen und acht Invaliden, aus der
friedricianiſchen Zeit, zur Erhöhung des feſtlichen Eindrucks, nach Tamſel
geſchickt. Die Uniformirung war eigens nach Angaben des Königs erfolgt.*)
[506]
3. Die Kirche in Tamſel.
Die Tamſler Kirche ſteht ebenfalls im Park. Es iſt ein alter, gothi-
ſcher Bau, der durch Schinkel reſtaurirt und — wenn ſich auch nicht
Alles loben läßt — doch jedenfalls zu einem Bau umgeſtaltet wurde, der
ſich ſehr maleriſch in die Landſchaft einfügt. Dies maleriſche
Element, das Beſtreben, einer ſterilen Landſchaft aufzuhelfen oder eine
hübſche Landſchaft noch hübſcher zu machen, ſpielt bei allen Schinkelſchen
Dorfkirchen eine ſehr weſentliche Rolle.
Die Kirche iſt eine einfache Kreuzkirche. Das linke Querſchiff iſt eine
mit Statuen und Waffentrophäen geſchmückte Ruhmeshalle für die Schoe-
nings. Hier befinden ſich, in einer Doppelniſche, die überlebensgroßen
Steinbilder des Feldmarſchalls Hans Adam v. Schoening
und ſeiner Gemahlin. Zur Linken beider ſteht die Marmorbüſte des Soh-
nes (Johann Ludwig † 1713) und trägt folgende Inſchrift: „Der Hoch-
wohlgeborne Herr, Herr Johann Ludwig v. Schoening, des St. Jo-
hanniter Ordens Ritter und deſignirter Commendator zu Lago, Sr. Königl.
Majeſtät in Polen und churfürſtlichen Durchlaucht zu Sachſen geweſener
Kammerherr, Herr zu Tamſel, Warnick, Groß und Klein Kamin, Birck-
holz und Schönhoff, iſt geboren zu Küſtrin den 25. Dezember St. vet.
anno 1675 und auf dem adligen Gute zu Neuendorf in dem Für-
ſtenthum Halberſtadt anno 1713, den 29. Oktober, ſelig in dem Herrn
entſchlafen, ſeines Alters 37 Jahr, 10 Monate und 10 Tage.“
Andere Statuen enthält die Kirche nicht, wohl aber zwei Oelbilder
zur Rechten und Linken des Altars. Das eine, von Wach gemalt, iſt eine
„Himmelfahrt“; das andere, ein „Chriſtus am Kreuz“, wurde von Wach
reſtaurirt. Dies zweite Bild iſt weſentlich beſſer und gilt für werthvoll.
Es heißt „der Feldmarſchall habe es nach ſeinem Türkenſiege aus Ungarn
mitgebracht“, doch iſt das mindeſtens höchſt unwahrſcheinlich. Alles was
ſich in den Schlöſſern und Kirchen unſerer „Türkenbeſieger“ vorfindet,
(wie ich das in dem Kapitel „Lichterfelde“ ausführlicher gezeigt habe) iſt
allemal „aus Ungarn mitgebracht.“ Ich halte mich überzeugt, daß auch
die S. 16 bereits erwähnten, berühmten Stuckarbeiten im Tamſeler Schloß
einfach von Berliner Künſtlern herrühren, an denen unter der Regierung
Churfürſt Friedrichs III. (des ſpätern Königs Friedrich I.) in der bran-
denburgiſchen Hauptſtadt durchaus kein Mangel war. Der „Chriſtus am
Kreuz“ konnte allerdings damals von keinem Berliner Maler gemalt
*)
[507] werden und ſtammt wahrſcheinlich aus Dresden, wo, wie wir geſehen
haben, (vergl. S. 36) Feldmarſchall Schoening von 1691 an lebte und
1696 ſtarb.
Die Kirche hat zwei Erbbegräbniſſe; das eine, ein neurer
Anbau, hinter dem Chor der Kirche, das andere eine gewölbte Gruft
aus der Zeit der Schoenings und noch früher.
Der neuere Anbau iſt das Dönhoff’ſche Erbbegräbniß. Es wur-
den darin beigeſetzt: 1) Graf Dönhoff (an den, nach dem Tode des letz-
ten Wreech, Tamſel als Frauenerbe fiel); 2) Gräfin Dönhoff, geb. Gräfin
Schwerin; 3) und 4) zwei junge Grafen Dönhoff, von denen der eine als
Kind ſtarb, der andere, kaum 21 Jahr alt, von ſeinem Freunde, dem
Grafen Saldern, im Duell erſchoſſen wurde. Das Duell fand in Göttingen
ſtatt (1816), wo Beide ſtudirten. Graf Dönhoff hatte in den Kriegsjahren
als Garde du Corps-Offizier die Campagne mitgemacht. — Außer dieſen
vier Särgen befinden ſich noch zwei ältere in dem Erbbegräbniß, und zwar die
Särge des Freiherrn Dodo Heinrich v. Inhauſen und Knyphauſen
(Erbherr der Herrlichkeit Jenelt und Visquet) und ſeiner Gemahlin, einer
gebornen Baroneſſe v. Wreech. Er, der Freiherr, war am 5. Auguſt 1729
geboren und ſtarb am 31. Mai 1789.
Die Gruft ſcheidet ſich in zwei gewölbte Räume. In der ältern,
mehr zurückgelegenen Gruftkammer befinden ſich die Särge der Familie
Schoenbeck und anderer Vorbeſitzer Tamſels. In dem andern Gewölbe
ſtehen elf zum Theil ſehr prachtvolle Särge, darunter der der ſchönen
Frau v. Wreech (Luiſe Eleonore)*), der beiden letzten Wreechs und des
[508] Feldmarſchalls Hans Adam v. Schoening. Der Sarg der ſchönen Frau
v. Wreech hat keine Inſchrift, wohl aber befinden ſich ſolche auf den
Särgen ihrer beiden Söhne, der „beiden letzten Wreechs.“
Dieſe Inſchriften lauten:
1) Friedrich Wilhelm Feodor, Freiherr von Wreich, Sr. K.
Majeſtät von Preußen wirklicher Kammerherr und Hofmarſchall bei Sr. K.
Hoheit des Prinzen Heinrich von Preußen, ſind geboren zu Berlin den 29.
Januar 1733 und geſtorben zu Berlin den 23. Mai 1785.
2) Ludwig Graf v. Wreich, der letzte ſeines Stammes, Königl.
Preuß. Kammerherr und Hofcavalier Sr. K. Hoheit des Prinzen Heinrich
von Preußen, Erb- und Gerichtsherr auf Tamſel ꝛc., Ritter des Johanniter-
Ordens und Domherr des Stifts zu Magdeburg, ward geboren im Jahre
1734 zu Kyritz in der Altmark und ſtarb den 20. Juni 1795 zu Ra-
thenow im 61. Jahre ſeines ruhmwürdigen Lebens.
Der Sarg des Feldmarſchalls Hans Adam v. Schoening iſt ſehr
groß und prächtig, und ganz von Kupfer. Ein goldenes (oder ſilbernes)
Crucifix liegt oben auf; das Wappen befindet ſich oberhalb, der Namens-
zug unterhalb dieſes Crucifixes. Die Seitenwände basreliefartig mit Fah-
nen geſchmückt; dazwiſchen folgende Inſchrift: „Der hochwohlgeborne Herr,
Herr Hans Adam v. Schoening auf Tamſel, Warnick, Birkholz, Chur-
fürſtl. Sächſiſcher wohlbeſtallt geweſener General-Feldmarſchall, wirklich Gehei-
mer und Geheimer Kriegsrath, Obriſter der Leibgarde zu Fuß, wie auch über
ein Regiment Cüraſſiers und ein Regiment Dragoners, ward geboren zu
Tamſel den 1. Oktober 1641, ſtarb ſelig zu Dresden den 28. Auguſt 1696.“
Die Rückſeite dieſes Sarges enthält die Bibelſtelle: Pſalm 18, Vers
32—36. — Der Deckel iſt feſt aufgelöthet und macht ein Oeffnen ſehr
ſchwierig. Zu Lebzeiten des Generals und Hiſtoriographen der Armee,
Kurd v. Schoening, der alljährlich, am Geburtstag ſeines berühmten
Ahnherrn, in Tamſel zu erſcheinen und in der Gruft daſelbſt zu verweilen
liebte, war öfters von Oeffnung des Sarges die Rede, aber ſie unterblieb
jedesmal, einmal weil die Sache große Schwierigkeit hatte und andrerſeits
*)
[509] weil man ſich ſcheuen mochte, die ſo wohlverwahrte Ruhe des Todten zu
ſtören. Handelte es ſich dabei doch ohnehin nur um Befriedigung einer
freilich verzeihlichen Neugier. Man wollte nämlich in Erfahrung bringen,
ob er mit dem mit Diamanten beſetzten Degen, den ihm Kaiſer Leopold
nach der Einnahme von Ofen zum Geſchenk machte, begraben ſei oder
nicht. Dieſer Degen war bis jetzt nirgends zu finden.
4. Das Schloß.
Es iſt, ſeinen Umfaſſungsmauern nach, noch das alte Schloß, wie
es von Feldmarſchall von Schoening gebaut wurde. Auch in der innren
Einrichtung hat ſich noch manches erhalten, z. B. das Treppenhaus und
der Ahnenſaal (die Bildergallerie). Selbſt von den berühmten Stuckarbeiten
des Schloſſes, die namentlich in der Bildergallerie höchſt merkwürdig durch
die Kühnheit ihrer Befeſtigung geweſen ſein ſollen, befindet ſich noch ein
Ueberbleibſel in einem der kleinen Seitengemächer. Sonſt iſt ein völliger
Um- und Ausbau vor etwa 20 Jahren vorgenommen worden, bei welcher
Gelegenheit das ſchräge, gothiſche Dach der Schoening’ſchen Zeit beſeitigt
und nach Aufſetzung eines neuen Stockwerks, durch ein Flachdach erſetzt
wurde. Der Charakter des Hauſes iſt dadurch natürlich ganz verändert
worden.
Das Schloß iſt reich an Bildern und Skulpturen aller Art; wir ver-
weilen jedoch nur bei den hiſtoriſch-intereſſanteſten, wie ſie ſich im Billard-
zimmer und im Ahnenſaal vorfinden.
Im Billardzimmer.
1) Portrait Friedrich des Großen. (Knieſtück.) Vorzügliches
Bild; wenn nicht von Pesne ſelbſt herrührend, ſo doch wahrſcheinlich unter
ſeiner Leitung gemalt. Es erinnert wenigſtens in Ton und Auffaſſung an
andre Friedrichsporträts dieſes Meiſters. Der König iſt auf dieſem Bilde
etwa 30 Jahr alt; er trägt weißgepudertes, natürliches Haar; um das
noch volle Kinn herum bemerkt man einen bläulichen Bartton. Neben ihm
liegt ein Hermelinmantel und ein mit Lorbeer geſchmückter Helm. Er trägt
einen eleganten blauen Rock mit rothem Futter und Goldbrokat-Beſatz,
weiße Aermel, die unter den kurzen Rockärmeln hervorkommen, den Stern
und das Orangeband des ſchwarzen Adlerordens, Küraß und Schärpe.
2) Porträt des Prinzen Heinrich. Der Prinz in Generals-
Uniform, die Aermelaufſchläge von Tigerfell. Neben ſich den Plan der
Schlacht bei Freiberg (die Prinz Heinrichs-Schlacht); im Hintergrunde
die Schlacht ſelbſt.
3) Das Schloß zu Cölln an der Spree im Jahre 1602.
Höchſt intereſſantes Bild; 5 Fuß hoch, 6 Fuß breit; der Name des Ma-
lers nicht bekannt. Das Bild zeigt die der Breiten- und Brüder-Straße
zugekehrte Front; kaum irgend etwas auf dem Bilde erinnert an die
Schloß-Façade, wie ſie jetzt dem Auge ſich darbietet. Der Bau iſt noch
durchaus mittelalterlich; in Front zeigen ſich vier gothiſche Giebel, wie an
[510] Privathäuſern. In der Mitte der Façade und in Höhe des erſten Stocks
bemerkt man einen eigenthümlich geformten, kunſtreich gegliederten Bal-
kon. In Höhe des Erdgeſchoſſes zieht ſich an der ganzen Front hin eine
Colonnade, nach Art der noch jetzt exiſtirenden Stechbahn. Dieſe Co-
lonnade iſt von röthlichem Stein; der Reſt des Bildes zeigt einen grauen
Ton. — König Friedrich Wilhelm IV., als er bei ſeinem Beſuche in Tamſel
(etwa 1845) dies Bild ſah, nahm das größte Intereſſe daran und ließ
eine Copie anfertigen, die ſich jetzt im Berliner Schloß befindet. Das Ori-
ginal wurde vor etwa 25 Jahren nur durch einen glücklichen Zufall vom
Untergange gerettet; man fand es verſtaubt, geſchwärzt, zerriſſen auf einem
Boden oder Seitengelaß des Schloſſes.
Im Ahnenſaal.
Unter den verſchiednen Porträts, die ſich hier vorfinden, ſind die fol-
genden die wichtigſten:
1) Hans Adam von Schoening, der Türkenbeſieger. Großes Bild,
9 Fuß hoch, 10 Fuß breit. Hans Adam ſitzt zu Pferde und trägt (wie
es ſcheint) einen gelbledernen Waffenrock, rothe Gamaſchen, eine kurze
braune Perrücke, Dreimaſter mit weißen Straußenfedern und Galanterie-
Degen. Die rothe Satteldecke iſt reich mit Gold und Silber geſtickt.
2) Die Gemahlin Hans Adams von Schoening. Das Pendant
zum vorigen Bilde, alſo ebenſo groß. — Die Feldmarſchallin iſt noch
jung, mit weißgepuderten Locken und Perlen darin. Sie trägt ein weißes
Atlaskleid mit Goldſtickerei; eben ſolche Schuhe. Vier Kinder ſpielen um
ſie her, ein fünftes ruht auf ihrem Schooß. Das älteſte der Kinder, ein
junges Mädchen, iſt im Diana-Koſtüm, ein Windſpiel ihr zur Seite; ein
andres Kind trägt ein Füllhorn, ein drittes ſpielt mit einem Lamm; da-
zwiſchen Windſpiele und Bologneſerhündchen. Links in der Ecke des Bildes
Genien mit Kränzen und Palmen. Im Hintergrunde Schloß Tamſel
vor 1686.
3), 4), 5) Drei Bilder des Generals von Wreech, des Gemahls
der ſchönen Luiſe Eleonore.
6) und 7) Die Bilder des Miniſters von Brandt (wahrſcheinlich
des bekannten Euſebius von Brandt) und ſeiner Gemahlin.
8) Frau von Wreech (Luiſe Eleonore). Knieſtück. Sie iſt auf die-
ſem Bilde 28 bis 30 Jahr alt, alſo ein Bild, das noch zu Lebzeiten ihres
Gemahls gemalt wurde. Sie iſt noch ſehr hübſch, friſch, üppig, die Augen
voll Leben und Klugheit. Sie trägt ein weißes Brokatkleid, mit natürli-
chen Blumen aufgeſteckt, dazu eine hellblaue, ſilber- oder weißgeſtickte Ueber-
jacke; Granatblumen im weißgepuderten natürlichen Haar und Perlen-
Ohrgehänge.
9) Frau von Wreich im Witwenkleide; halbe Figur. Sie iſt auf
dieſem Bilde etwa 38 bis 40 Jahr alt. Sie trägt ein ſchwarzes Kleid, und
über dem ſchönen Nacken einen weißen, durchſichtigen Tüllkragen, mit einer
[511] kleinen Halskrauſe daran. Die ſchwarze Schnebbe der Witwenhaube geht
bis tief in die Stirn; an der Haube hängt der ſchwarze Witwenſchleier.
10) Frau von Wreich (drittes Porträt). Bruſtbild, lebensgroß.
Sie iſt auf dieſem Bilde etwa 40 bis 41 Jahr alt, und ſcheint daſſelbe
um die Zeit gemalt zu ſein, wo ſie die Witwentrauer ablegte. Sie trägt
ein ausgeſchnittenes, weißes Atlaskleid, kurze Aermel, breite Fall-Unter-
ärmel, eine Halskrauſe (trotz des tief ausgeſchnittnen Kleides) und eine
ſchwarze Sammetjacke, mit buntem Futter, über die eine Schulter geworfen.
In der Hand hält ſie eine Tabatière. Dies Bild macht einen ſehr ange-
nehmen Eindruck: eine vornehme, zugleich anſpruchslos-hausmütterliche
Dame, noch hübſch, aber ohne beſondere Schönheit. — An Kunſtwerth iſt
ihr zweites Porträt (im Witwenkleid) das beſte; auch tritt ſie einem auf
eben dieſem Bilde am meiſten als „ſchöne Frau“ entgegen.*)
11) Generalfeldmarſchall Graf Kurt von Schwerin (der
bei Prag fiel). Knieſtück. Sehr gutes Bild, lebensvoll; der Geſichtsaus-
druck freundlich, klug, feſt und ſchlicht. Er iſt in volle Rüſtung gekleidet
(mehr Ritter als Küraſſier) und trägt über der linken Schulter als bloße
Drapirung einen Purpur-Sammet-Ueberwurf, auf dem der ſchwarze Adler-
orden ſichtbar iſt.
Dies Bild, das ſich früher im Beſitz des Generals Kurt von Schoe-
ning (in Potsdam) befand, kam auf folgende Weiſe nach Tamſel.
General Kurt von Schoening, bei ſeinen gelegentlichen Beſuchen in
Tamſel, hatte nie verſäumt, ſeines Ahnherrn Hans Adam von Schoe-
nings Bild (den Reiter mit den blutrothen Gamaſchen) mit lebhaftem
Intereſſe zu betrachten, und Graf Herrmann Schwerin nahm deshalb Ver-
anlaſſung, eine Copie des großen Bildes anfertigen zu laſſen und dieſe
dem General von Schoening zum Geſchenk zu machen. Ein Schwerin
alſo hatte einem Schoening das Bildniß des berühmteſten Schoening’ſchen
Ahnherrn überreicht. Jahre vergingen; General von Schoening ſtarb. Bei
Oeffnung ſeines Teſtaments fand man in demſelben folgendes: „§. 12. Das
Bild vom Generalfeldmarſchall Grafen Schwerin erhält der liebenswürdige,
edle Herr Graf Schwerin auf Tamſel. Nur wenn derſelbe eher als ich
das Zeitliche ſegnen ſollte, erhält es das Schloß von Tamſel, in Aner-
kennung der treu-bewahrten Alt-Schoening’ſchen Erinnerungen über und
unter der Erde.“ So kam das Bild nach Tamſel. Ein Schoening hatte
nunmehr einem Schwerin das Bildniß des berühmteſten Schwerin’ſchen
Ahnherrn, als Gegengeſchenk überreicht.
[512]
Ich habe geglaubt bei Aufzählung alles deſſen, was Tamſel, wie an
hiſtoriſchen Erinnerungen, ſo auch an Kunſtſchätzen (Bilder, Statuen, In-
ſchriften) aller Art bietet, ausführlicher verweilen zu dürfen, weil dieſem
ſchönen Landſitz, durch länger als ein Jahrhundert hin, die Rolle zufiel,
nicht nur ein hiſtoriſcher Schauplatz, ſondern auch eine Pflegeſtätte
für die Künſte zu ſein. Wir haben Punkte in unſrer Provinz, die,
vorübergehend, wenn ich mich des Ausdrucks bedienen darf, ein inten-
ſiveres Leben geführt und glänzender debütirt haben, aber was dem
Ruhme Tamſels an Intenſität abgehen mag, das erſetzt er durch Dauer,
durch ein conſequentes ſich halten auf hohem, wenn auch freilich nicht
höchſtem Niveau. Es giebt eine ganze Anzahl von märkiſchen Schlöſſern,
aus denen berühmtere, oder doch eben ſo berühmte Feldherrn als Feld-
marſchall von Schoening, aus denen ſchönere Frauen als Frau von Wreech
und glänzendere Poeten als Graf Ludwig Wreech oder Graf Herrmann
Schwerin hervorgegangen ſind, aber es giebt in der Mark wohl keinen
zweiten Landſitz, der, wie Tamſel, durch ſechs Generationen hin, in be-
wußter Pflege und Ausübung jeglicher Kunſt, ſich immer gleich geblie-
ben wäre.
Schloß Rheinsberg (mit dem es überhaupt vieles gemeinſam hat) ſteht
ihm hierin am nächſten, da die Zeit ſeiner Blüthe 70 Jahre umfaßt; alle
übrigen Punkte aber, die hierlandes den ſchönen Künſten das Thor öffne-
ten, ſei es um die Kunſt ſelber zu üben, oder ihr ein Hausrecht einzu-
räumen, ſahen die Muſe nur zeitweilig in ihren Mauern. Sie kam und
ging. Tegel (die Humboldts), Blumberg (Canitz), Wiepersdorf (Achim von
Arnim), Nennhauſen (Fouqué), Madlitz und Ziebingen (Tieck) — ſie alle
hatten ihre Zeit und die literariſche Bedeutung deſſen, was in ihnen ge-
boren wurde, ging weit über das hinaus, was Tamſel hervorbrachte. Aber
dilettantiſch wie alles ſein mochte, was Tamſel entſtehen ſah, klein wie
das Feuer war, es loſch nie aus. Der Beſitz wechſelte vielfach und ging
durch Erbſchaft auf immer neue Namen über, jeder folgende aber empfand
ſich ſtets als Erbe gewiſſer Traditionen, und die Schoenings, die Wreechs,
die Dönhoffs, die Schwerins, wie verſchieden ſonſt auch, ſie waren einig
in Pflege der Kunſt. Dieſe Eigenthümlichkeit Tamſels zur Geltung zu
bringen, bedurfte es einer Aufzählung des reichen Materials, das ſich da-
ſelbſt in Schloß und Park und Kirche zuſammenfindet.
5. Briefe des Kronprinzen Friedrich an Frau v. Wreech.
1731—32.
(Lettres et Vers de certain grand prince.)
I.
Madame. Je Vous ai trop d’obligations pour ne pas Vous en té-
moigner ma reconnaissance. Vous êtes la cause que tout le monde ne
parle que de Tamsel, Vous pouviez bien croire que ce n’est pas tant
[513] par rapport à l’endroit, que par rapport à l’aimable hôte, et l’incompa-
rable hôtesse de ce lieu. S’il dependroit de moi plus vite que ces lignes,
je mes rendrois en personne chez Vous et je Vous marquerois Madame,
le plaisir que j’ai à Vous rendre mes devoirs. Au premier jour je me
laisserai pourtant vaincre par ce penchant et comme Vous avez eu la
bonté de me le permettre, je puis le faire impunément je crois que je
vôlerai plutot par ce chemin que ne marcherai; l’impatience, le desir
d’arriver, la joie que l’on se promet et plus que tout la satisfaction de
voir des personnes qui Vous sont chères, encouragent en pareille occa-
sion, on surmonte les plus terribles montagnes, dont Natzmer dit que
l’on s’y peut casser le cou comme une vieille femme. Mais gare alors!
Vous savez Madame que l’homme est un animal de coutume et comme
je suis de ce genre, je m’accoutumerai si bien chez Vous qu’il faudra
me chasser comme les chiens de l’église. Mes complimens, s’il Vous
plait, à Mr. Votre époux. Si les oreilles ne Vous cornent pas à tous
deux, il faut que Vous ayez perdu l’organe de l’ouie, car les verres car-
rilloneront ce midi à Vos santés, que cela sera une bénédiction. Voilà
tout ce que nous pouvons faire pour Votre service — ce n’est pas
grand chose à la vérité mais d’un mauvais payeur il faut prendre ce
que l’on peut. Il faut regarder au coeur — pour le miens je Vous en
réponds, il est rempli de beaucoup de bonnes intentions, accom-
pagnées de beaucoup d’impuissance. A propos du coeur, il faut
se souvenir de sa promesse. Je me resouviens Madame de la mienne
et je n’attends que Vos ordres pour la mettre en éxécution. Si Vous
voulez ma figure en grand, en milieu ou en miniature? L’original
est entièrement à Votre disposition. Pour les copies je crois que la plus
petite miniature sera la meilleure car un petit mal vaut mieux qu’un
grand. Il ne tiendra pourtant qu’à Vous à disposer et je saurai obéir à
condition que Vous me fassiez toujours le plaisir de croire que je suis
avec une affection et une estime particulière, Madame Votre parfait ami
à Vous servir Fréderic.
II.
Madame. Les sauterelles qui désolèrent ce pays ont toujours eu
assez d’égards pour Vous, qu’elles ont ménagé Vos terres. Un nombre
innombrable d’insectes plus vilains et plus dangereux que celles-ci de-
vant nommées, vont se rendre chez Vous, Madame et non contens de
déserter le pays, ces animaux auront la hardiesse de Vous attaquer jusque
dans Votre propre château. On les appelle „Vers“, ils ont quatre pieds,
des dents aigues, un corp fort long et une certaine cadence fait leur
premier principe et leur donne la vie. Ceux-ci sont de fort mauvaise
race, ils sont venus tout rècemment du parnasse, où le bon gout les a
chassés. Je suis persuadé qu’ils auront un sort égal à Tamsel, endroit
que les 9 muses et Apollon même pourraient choisir afin de s’y faire
33
[514]juger et dont le jugement seroit certainement juste. Je me réjouis fort
cependant de voir que le soin paternel du Sieur Apollon se réveille et
qu’il prend aprésent soin de purger le Parnasse des mauvaises produc-
tions faites par des chetifs poêtes. Je crois que cela lui doit aller fort
bien, quand avec une grande chambrière, il se met à chasser ces monstres
poëtiques. Comme je suis du nombre de ceux qu’il a étrillés, je peux
Madame, Vous en donner des nouvelles. J’assure qu’à le voir il étoit
l’ébauche vivante d’un de ces gens, qui chassent les chiens des églises.
Ce n’est pas par rancune que je lui donne cette épith èthe, quoiqu’en
quelque façon j’aye lieu d’en avoir, car mes intentions depuis que je me
mêle de la poëtique ont été pour l’ordinaire de priser la beauté des
dames, d’y mêler un peu de tendre et je crois que cette manière fait
que l’on a beaucoup de support pour la rime. Soit ce qu’il en soit, je
lui pardonne les coups et tout. Mais comme la récompense du bien ac-
compagne toujours la punition du mal, je suis persuadé, Madame, que
les beaux progrès que Vous avez fait dans ce même art, ne reste-
ront pas sans être recompensés. Je suis de plus persuadé, que les
doctes soeurs Vous adopteront pour dixième. Gare seulement que Vous
ne leur donniez trop de jalousie, car si elles avoient l’honneur de Vous
connoitre comme je l’ai, Votre esprit, Votre mérite, Votre beauté, qui
les surpasse de beaucoup, seroit l’unique raison qui pourroit altérer ce
projet. En cas que Vous profitiez de leur ignorance je Vous supplierois,
Madame, de faire des remonstrances au Sieur Appollon de ses manières
d’agir — dites lui s’il Vous plait qu’il ne sied pas bien à un directeur
des arts et sciences de maltraiter une personne d’honneur et que ses
coups de „gaule?“ n’étoient point du tout polis. Je lui suggérerois
volontiers un moyen de me punir dorénavant de façon qui ne me fera
aucune peine ni à tout autre poête. Qu’il crée un ordre de Chevallerie.
Il pourra les nommer „Chevaliers de la mauvaise rime.“ En
nous en donnant les insignes, il dépendra de lui de nous étriller comme
bon lui semblera, et l’honneur de la chevallerie nous fera endurer les
coups patiemment. J’ai la confiance en Vous, Madame, que Vous me
ferez ce plaisir, ou si Vous voulez me tirer de cette difficulté Vous le
pouvez sans peine. — Permettez seulement que j’ose faire mes vers sans
Vos auspices et que je puisse Vous invoquer pour les faire. Lors je ne
pourrai rien faire de mauvais au nom d’une personne si parfaite. J’at-
tends mon arrêt, Madame, sur ma prière, je l’attends avec impatience
mais aussi avec résignation. Faites et disposer comme il Vous plaira
mais permettez moi seulement d’oser Vous assurer que je serai, tant en
prose qu’en vers, avec beaucoup d’estime et de vénération Madame Votre
parfaitement fidèle ami et serviteur Fréderic.
[515]
33*
[516]
Auf der leeren Rückſeite dieſer Ode finden ſich folgende Verſe von
der Hand der Frau von Wreich — wahrſcheinlich Abſchrift oder
brouillon ihrer Antwort.
Dieſe dunkle Stelle wird ſo wohl am beſten erklärt: Ich wollte das
Opfer bringen, Dir nicht zu antworten, aber Mutter und Gemahl
verlangten es, und ſo ſcheint mir gehorchen beſſer als Opfer bringen.
III.
Madame. M’allant promener hier aux bords de notre Oder et rê-
vant à la beauté et au mérite des divins objets qui avoit été ma moitié
la fête dernière, je m’entendis apeller et dans un buisson, proche de
l’endroit où j’étoit, j’aperçus la muse Uranie, qui me dit que j’étois in-
sensé et allemand de louer des choses dans le fond de mon âme qui
[517] meritoient de l’être de l’univers entier. Je lui repartis que la beauté
dont j’avois le coeur rempli n’avoit besoin que de son propre mérite
pour recevoir un concert d’aplaudissements universels. Sur quoi, elle me
dit, que je devois me distinguer de la multitude et exprimer mes pen-
sées qui paroitroient avec plus de grace, si elles étoient embellies de la
rime. Je ne cherche lui disois-je aucune beauté ni agrémens de mes
vers, que venant par reverbération de l’objet qui me les cause; sur quoi
la muse me dit: „Je sais que Votre faible voix n’est pas proportionnée
à la beauté de l’objet que Vous voulez chanter. J’y suppléerai. Mais
prenez un crayon et écrivez.“ Je fis ce qu’elle me dit, et voici Madame
les vers qu’elle me dicta où je n’ai rien de propre que les pensées.
IV.
Je mériterois bien d’être puni de la manière la plus énorme, d’avoir
blasphemé Votre présence par ma bêtise, si je n’avois d’assez bonnes ex-
cuses, et qui je crois sont valables. Mr. le Comte m’ayant dit beaucoup
de choses qui ne me faisoient nullement plaisir et que je ne pouvois
digérer si vite. J’ai donc bien raison de Vous demander pardon ma char-
mante cousine, de m’avoir conduit si sottement. Vous me permettrez
de reparer ma dernière visite par une autre, où je tâcherai, s’il m’est
possible d’effacer mon sot maintien. J’aurois lieu de Vous demander en-
core mille excuses si je n’étais pleinement convaincu de Votre support
et de Votre condescendance. Permettez-moi donc pour cette fois de finir
en Vous priant de faire mes complimens à Madame Votre mère et de
croire que je suis avec beaucoup de passion et d’estime Madame, ma
très chère Cousine, le très-humble et parfait ami, cousin et serviteur
Fréderic.
[518]
V.
Comme je crois que Vous êtes une de mes meilleures amies de ces
cantons je n’ai pas voulu omettre de Vous communiquer un plan qui se
dresse actuellement sur mon entrée à Berlin. Il est à peu près tel que
j’aurai l’honneur de Vous dire. Premièrement je serai précédé d’un trou-
peau de cochons, qui auront ordre de crier de toutes leurs force selon
que leur instinct leur suggère. Ce troupeau sera mené par un de mes
laquais respectifs, qui aura soin de leur éducation, chemin faisant. En-
suite de quoi viendra un troupeau de brebis et de moutons mené de
même par un de mes valets. Ceux-ci seront suivis d’un troupeau de
boeufs de Podolie, qui me précédera immédiatement. Mon équipage sera
tel: Monté sur un grand âne dont le harnois sera simple au possible.
Au lieu de pistolets j’aurai deux sacs remplis de diverses semences à
leur place. Au lieu de selle et de housse j’aurai un sac de farine où
ma noble figure sera assise dessus tenant au lieu de fouêt un gauli
dans la main et ayant au lieu de casque un chapeau de paille en tête.
A chaque côté de mon âne au lieu d’estafier seront une demie douzaine
de paysans tant avec des faux que des charues et autres instrumens de
l’agriculture qui marcheront en cadence avec la gravité requise. Succes-
sivement après viendra, perché sur un grand chariot de fumier, l’héroique
figure du Sieur de Natzmer, qui crainte d’accident sera tirée par quatre
boeufs et une jument. Après lui l’on remarquera au haut d’un chariot
de foin, l’effrayante figure du terrible Rovedel, qui tiendra le Crinomènon
d’une et le Criterion de l’autre main. Cette marche sera conclue par le
Sieur de Wolden qui aura la bonté de passer son tems sur un chariot
rempli d’orge et de froment. Je Vous supplie ma très digne Cousine,
de vouloir assister à cette rare cérémonie. En mon particulier, j’aime
toujours mieux, que l’on se mocque de moi avec connoissance de cause
que de subir les huées d’une multitude de peuple effrenée. Je prépare
tout ce qu’il faut pour cette entrée et n’attends que les ordres pour les
mettre en oeuvre.
Dernièrement j’ai été à Lebus, où en revenant, j’ai essuyé
chez le Sieur de Borsdorf, une multitude terrible d’incivils com-
plimens. L’on voulait me garder à souper. Mais l’échantillon de
leur eccessive politesse, qu’ils me donnoient, m’en dégouta si bien que
je me serois plutôt fait couper les deux oreilles que d’y rester. Je mé-
ditai donc quelqu’honnête retraite et en ayant trouvé je louai Dieu de
m’avoir sauvé d’un déluge de pareilles civilités mal digérées. Le Prince
Carle a été hier ici. L’on a peu bu, mais en revanche fait beaucoup de
bruit, cassé quelques fenêtres, brisé quelques fourneaux etc. etc. Un petit
non plus ultra, a arrêté mon voyage de Sonnenburg. Je ne m’en soucie
guères, espérant de mieux employer mon temps. Je ne puis
[519] toujours mieux l’employer qu’en Vous assurant ma très-chère cousine
que je suis et serai jusqu’au tombeau, avec une constante et parfaite
estime Votre très parfait ami, cousin et serviteur Fréderic.
Mille excuses de fautes d’écriture, mais
la raison en est que j’ai écrit au lit.
VI.
Der folgende Brief, auch ganz ohne Ort und Datum, iſt aber offen-
bar nach einem Aufenthalt in Berlin, an die Frau von Schoening,
die noch lebende Mutter der Generalin Wreich, nach Tamſel hin adreſſirt.
Aller Wahrſcheinlichkeit nach, wurde er, gleich nach der Verſöhnung in Berlin in
den erſten Tagen des Decembers 1731, bei ſeiner Rückkehr nach Küſtrin ge-
ſchrieben. Die glänzenden Hoffeſte, deren er erwähnt, und bei denen die
ſchöne junge Frau gewiß nicht fehlen konnte, bezeichnen wohl unverkennbar
die Vermählungs-Feierlichkeiten ſeiner Schweſter. In keinem drückt ſich
ſein Gefühl ſo unverkennbar aus.
Madame. J’ai eu le plaisir de voir Madame Vôtre fille, à Berlin.
Je l’ai vu, Madame, mais sans pouvoir à peine lui dire bonjour et bon
chemin. Cependant elle sait que Vous et sa fille se portent bien. Elle
se distinguoit par dessus toutes les dames qui forment la cour — et
quoiqu’il y eut une foule de princesses qui la surpassoient en magnifi-
cence, je Vous assure qu’elle effaçoit tout cela par sa beauté, son air
majestueux, son port et enfin par toutes ses manières. J’étois alors un
vrai Tantale, toujours tenté de parler à une si divine personne et néans-
moins toujours obligé de me taire. Enfin sa beauté a triomphé de toutes
celles qui s’étoient assemblées du Nord et du West, et tous ceux de la
cour d’une voix unanime ont avoué que Madame de Wreich emportait le
prix de la beauté, de l’air, des manières etc. etc. Je crois que tout ceci
Vous doit flatter agréablement — parceque cette aimable personne Vous
appartient de si près. Mais, Madame, je Vous assure que Vous ne pouvez
y prendre plus de part que moi qui aime tout ce qui appartient à cette
charmante famille et qui suis et serai toujours, Madame, Votre parfait
ami, Neveu et serviteur
Fréderic.
VII.
Je serois bien ingrat si je ne Vous témoignois ma reconnoissance
de la peine que Vous avez prise de venir à Tamsel et je devrois bien
Vous remercier encore pour les charmans vers que Vous avez eu la bonté
de me faire. J’aurois cru faire un pêché, si, me dérobant un moment
de Vôtre aimable entretien, je l’eusse employé à lire Vos vers. Hier au
soir solitaire j’eus le plaisir de les admirer à mon aise, et sans être
empêché de rien au monde. M’en voilà, Madame, aux redites, car tout
[520] ce que Vous faites oblige à admirer tant Votre esprit que Votre poli-
tesse. Je coupe court sur cette matière — il me semble déjà que Vous
rougissez et pour épargner Votre modestie je change de matière et pour
Vous donner encore une preuve de mon obéissance aveugle je Vous en-
voie, ce que Vous m’avez demandé. J’espère que cela servira au moins
à Vous faire quelquefois souvenir de moi et que Vous direz: „C’étoit un
assez bon garçon, mais il me lassoit, car il m’aimoit trop, et me
faisoit souvent enrager avec son amour incommode!“ Que je seroit heu-
reux, Madame, si Vous me connoissiez autant et que si persuadée de la
constance éternelle de mes sentimens, Vous me faites toujours la justice
de me croire avec une estime sincère et avec beaucoup de passion Votre
parfaitement fidèle ami, Cousin et serviteur Fréderic.
Dieſer Brief mit den ihm beigefügten Verſen und der Sendung des
Portraits ſcheint mir offenbar ein Abſchiedsbrief und der letzte in der
Reihe ſein zu müſſen.
6. Briefe König Friedrichs an Frau v. Wreech. 1758—61.
I.
Je suis venu ici après la bataille du 25. J’ai trouvé la
désolation dans ce pauvre endroit. Vous pouvez être assurée que je ferai
ce qui sera possible pour conserver ce qu’il-y-a encore. Mon armée a
été obligée de fourager ici, et quoique dans les facheuses circonstances où
je me trouve je ne sois guère en état de bonifier le mal que l’ennemi a
fait, je ne veux du moins pas qu’il soit dit que j’ai contribué à la ruine
[521] de personnes que mon devoir m’oblige de rendre heureuses. Je crois que
Vous pouvez Vous même manquer du nécessaire et cette considération
m’a engagé surtout à Vous bonifier incessement le tort que nous Vous
avons fait par nos fourages. J’espère que Vous prendrez cette attention
comme une marque de l’estime avec laquelle je suis, Madame, Votre
affectionné ami
Féderic.
II.
J’ai reçu avec plaisir Votre lettre du 1er de ce mois, par laquelle
Vous me témoignez Votre reconnaissance de la somme que je Vous ai
fait remettre en dernier lieu à titre d’indemnisation et quoique je sou-
haiterois d’aider dès à présent Vos paysans pour les remettre en train,
selon que Vous m’en priez, je me vois cependant obligé de différer la-
dessus mes bonnes intentions, jusqu’à ce que les Russes soyent entière-
ment hors du pays, après quoi je ferai pour eux ce que mes facultés
voudront pour lors me permettre. Sur ce je prie Dieu, qu’il Vous ai en
sa sainte et digne garde. A Schönfeld près de Dresde ce 17. de Sep-
tember 1758.
Féderic.
III.
La lettre que Vous avez voulu me faire le 8. de ce mois m’est
bien parvenue. Vous pouvez être persuadée, que je suis véritablement
pénétré de la situation où Vous vous trouvez et que je ressentirois la
plus sensible satisfaction, si je pouvois Vous soulager autant que je le
souhaiterois. Mais je Vous donne à penser, si, pendant que je suis hors
d’état de faire payer les appointements et les pensions de l’état civil, je
puis avoir des capitaux à placer sur intérêts. Si j’avais de l’argent à
avancer, Vous pouvez compter que je Vous fournirois la somme que
Vous demandez, non à deux pour cent, mais sans aucun intérêt. Les
fraix de la guerre présente me lient trop les mains de sorte que ma
bonne intention ne sauroit être secondée des effets. Le soulagement de
la nouvelle Marche en général et de la ville de Cüstrin, m’a déjà couté
les derniers efforts et je suis hors d’état de pouvoir pousser plus avant.
Selon mon avis, je crois que Vous feriez bien de ne songer pendant les
circonstances présentes qu’à faire vivoter Vos gens, pour ainsi dire du
jour à la journée et tâcher d’ensemencer Vos terres sans penser à d’autres
rétablissemens mais de les suspendre entièrement jusqu’à la conclusion
de la paix. Sur ce je prie Dieu qu’il Vous ait en sa sainte et digne
garde.
à Breslau le 14. Janvier 1759.
Darunter eigenhändig:
Vous vous représentez Madame les choses bien différentes qu’elles
ne sont. Songez que depuis un an je ne peux payer ni gages ni pen-
[522] sions, songez aux provinces qui me manquent, à celles qui sont rava-
gées, à la dépense énorme que je suis obligé de faire et j’espère qu’alors
Vous n’attribuerez mes refus qu’à l’Impuissance où je suis de Vous ren-
dre service — si cependant les choses changent, je ferai pour Vous ce
qui me sera possible.
Fr.
IV.
J’ai ressenti une vraie douleur à la lecture de Votre lettre du
29. Décembre dernier. Je connoissois sans cela toute l’étendue des maux
que les conjontures des tems avoient attiré sur Vos terres, et nous sommes
tous dans le même cas. J’y suis d’autant plus sensible que les circon-
stances ne paroissent point conseiller et même permettre d’y porter
encore quelque remède, ou, que tout ce que je pourrois faire actuelle-
ment à ce sujet, ne seroit qu’à pure perte, les affaires étant encore si
fort sujettes à l’aventure. Il faudra donc indispensablement attendre, jus-
qu’au retablissement de la paix, où Vous pouvez compter que je ferai
pour Vous ce que je ferai pour tout autre, selon que l’état de mes af-
faires le pourra permettre. Sur ce etc. etc.
Féderic.
V.
Madame, je suis faché de ne pouvoir pas faire pour Vous tout ce
que je desire, ni ce que Vous souhaitez. Mais j’ai ordonné à Köppen de
Vous remettre ce qui s’est trouvé en mon pouvoir. Je Vous prie de
l’accepter comme une marque de l’estime avec laquelle je suis Votre sin-
cére ami
Féderic.
Zorndorf.
- Benutzt: Varnhagen’s Leben des Generals v. Seidlitz. Schlachtbericht.
Mündliches.
Blumenthal.
- Benutzt: Prediger Lehmanns in Prötzel Bericht über die „Stadtſtelle
im Blumenthal“. Mündliches.
(Wüſtgewordene Flecken und Dörfer) giebt es in der Mark
ſehr viele und um ſo mehr muß es überraſchen, daß Klöden, der beſſer
als jeder andre davon wiſſen konnte, ſich ſo beharrlich ſträubte, eine „wüſt-
gewordene Stadt Blumenthal“ im Blumenthal-Walde anzunehmen. Dieſe
[523] „wüſte Stadt- oder Dorfſtelle“ iſt ſogar nicht die einzige im „Blumen-
thal“; — auch Bieſow, ein Dorf, das eine halbe Meile nördlicher gele-
gen iſt, wurde wüſt. Der jetzt dieſen Namen führende Ort liegt an andrer
Stelle wie das alte Bieſow. Als Regel kann man aufſtellen, daß überall
da, wo einem auf einem Ackerfelde eine Stelle gezeigt wird, die den Namen:
wüſte Heiners- oder Sievers- oder Dietrichsdorf führt, dieſe Bezeichnung
ſoviel ausdrückt als wie: „an dieſer Stelle hat einmal ein Dorf dieſes oder
jenes Namens geſtanden“. Oft haben ſich die Dörfer (dann gemeinhin an
andrer Stelle, eine Viertel- oder halbe Meile von der alten entfernt)
wieder belebt; ebenſo oft aber ſind ſie ganz verſchwunden und es
exiſtirt eben nur noch der Name. „Der Pflug geht drüber hin“.
Der Ober-Barnim, vielleicht weil er durch den Huſſiten-Zug ganz be-
ſonders zu leiden hatte, iſt reicher an ſolchen „wüſten Stellen“ wie andre
Landestheile. Es mögen wohl ein Dutzend vorhanden ſein; vielleicht noch
mehr. Drei Perioden waren dieſem Landestheile beſonders verderblich: der
ſchwarze Tod (etwa 1350), die Huſſiten (1430) und der dreißigjährige
Krieg. Kaprow, Karutz, Richardsdorf, Kunkendorf, Sonnenburg und Stein-
beck wurden wahrſcheinlich um 1350, Bieſow und Kensdorf um 1430,
Tempelfelde zwiſchen 1630 und 48 zerſtört; einzelne dieſer Dörfer wurden
an andrer Stelle wieder aufgebaut, andre blieben wüſt.
Predikow.
- Benutzt: v. Barfus-Falkenberg Biographie des Feldmarſchalls
Hans Albrecht v. Barfus. K. v. Schoenings Leben des
Feldmarſchalls Hans Adam v. Schoening. Graf Chriſtoph
Dohna’s Memoiren. Poellnitz’s Memoiren. Mündliche
und briefliche Mittheilungen.
Coſſenblatt.
- Benutzt: v. Barfus-Falkenberg Biographie des Feldmarſchalls
Hans Albrecht v. Barfus. Berghaus Landbuch der Mark
Brandenburg. Mündliche und briefliche Mittheilungen.
Friedrich Wilhelm I. in Coſſenblatt.
„Vom Jahre 1736 an hat Friedrich WilhelmI. bis zu ſeinem
Tode alljährlich ſich einige Zeit in Coſſenblatt aufgehalten, zum
letzten Male im November 1739. Bei dieſem Aufenthalt hier hat der König
dann auch die Kirche beſucht und dem Gottesdienſt beigewohnt, hat auch
mit kritiſchem Ohre die Predigt gehört, worüber einige Notizen vorliegen.
[524] Am 13. Sonntage nach Trinitatis im Jahre 1736 (26. Auguſt) hat der
König in der hieſigen Kirche eine Predigt von dem damaligen Prediger in
Wulfersdorf (ſtellvertretend für den hieſigen, welcher krank geweſen iſt)
gehört, welche ſeine höchſte Unzufriedenheit erregt hat; — und da er nicht
lange vorher mit einer in Rheinsberg gehörten Predigt ebenfalls unzufrie-
den geweſen iſt, ſo haben dieſe beiden Prediger nach Berlin kommen und
über vorgeſchriebene Texte predigen müſſen. Auch hat der König einen
Cabinetsbefehl erlaſſen, in Folge deſſen ſämmtliche Prediger aus der Alt-
mark, Priegnitz, Mittel-, Uker- und Neumark durch das Conſiſtorium nach
Berlin berufen worden ſind, „um ein Monitorium und Instructorium zu
vernehmen“. Zugleich ſind durch neue Befehle die Inſpectoren (Superin-
tendenten) angewieſen worden, jährliche Conduitenliſten über die Prediger
ihrer Diöceſen einzureichen. Am 23. Sonntage nach Trinitatis (9. Nov.)
1738 iſt der König wiederum mit einer Predigt des damaligen hieſigen
Predigers unzufrieden geweſen und hat auf einen ihm gemachten Vorſchlag
den Prediger aus Teupitz kommen laſſen; — aber auch dieſer hat ihn
nicht zufriedenſtellen können.“ (Mittheilung des Predigers Stappenbeck in
Coſſenblatt.)
(Ein großes Gemälde in der Kirche) feſſelte ſofort beim Ein-
treten meine Aufmerkſamkeit, weil ich darin eine Copie des großen
Familienbildes in der Meſeberger Kirche (Vgl. Band I. S. 129) zu
erkennen glaubte. Nur Nebenſächliches — z. B. die Hintergrunds-Architec-
tur — wich ab. Auf meine eingezogenen Erkundigungen habe ich nun aber
erfahren, daß ſich die Sache umgekehrt verhalten und daß das Bildniß
in der Meſeberger Kirche eine Copie dieſes Coſſenblatter
ſein ſoll. General v. Barfus, der das Bild ſehr genau kennt und für
ſeine Reſtaurirung Sorge getragen hat, ſchreibt darüber (nachdem ich mir
Anfangs einen leiſen Zweifel erlaubt und das Groebenſche Bild in Meſe-
berg als Originalbild angeſehen hatte):
„Meiner Anſicht bleibe ich getreu: das Bild in der Kirche zu Coſſen-
blatt ſtellt vor George v. Oppen, Kurbrandenburgiſchen Oberkämmerer,
und ſeine Gemahlin, eine geb. v. Maltitz, dazu die 12 Kinder beider.
Unter den Töchtern befand ſich Katharina v. Oppen, ſpäter die Gattin
Ditlofs v. Barfus auf Möglin und Reichenow, des berühmten Reiter-
Oberſten und Großvater des Feldmarſchall Johann Albrecht v. Barfus.
Eine andre Tochter vermählte ſich mit Herrn v. d. Groeben auf Meſe-
berg, welcher letztre das Coſſenblatter Familienbild, aus Pie-
tät gegen ſeinen Schwiegervater copiren ließ.“
Königs-Wuſterhauſen.
- Benutzt: Die Memoiren der Markgräſin von Baireuth. Fr. Förſter’s
Friedrich Wilhelm I. Mündliches.
[525]
Teupitz.
- Benutzt: Berghaus Landbuch. Fidicin’s Teltow. Mündliches.
Mittenwalde.
- Benutzt: Fidicin’s Teltow. Victor Strauß’ Paul Gerhardt.
Förſter’s Friedrich Wilhelm I.Droyſens Leben Yorks.
Steinhöfel.
- Benutzt: G. Heſekiels Biographie des Generals Valentin v. Maſſow.
Oeuvres de Frederic le Grand (Tome XXI.) Mündliche und
briefliche Mittheilungen.
(Bilder im Steinhöfler Schloß.)
- 1) Miniſter von Blumenthal.
- 2) Feldmarſchall von Flanß.
- 3) General von Maſſow aus der Zeit Friedrich Wilhelms I.
- 4) von Maſſow, Miniſter unter Friedrich II.
- 5) Seine Gemahlin.
- 6) von Maſſow, Obermarſchall unter Friedrich Wilhelm II. und III.
- 7) Seine Gemahlin.
- 8) von Maſſow, Hausminiſter.
- 9) Seine Gemahlin.
- 10) Generallieutenant Valentin von Maſſow, als junger Mann in Civil.
In den Sälen des Schloſſes findet ſich noch eine große Anzahl andrer
Bilder und Porträts, z. B. eine Büſte (mit kunſtvollem Marmorſchleier)
und ein andres ſehr liebliches Bildniß der Königin Luiſe. Dieſe wenigen,
die ich hier namhaft gemacht habe, zeichnen ſich entweder durch künſtleriſche
Vortrefflichkeit aus, oder ſind Familienbilder im engeren Zirkel.
(Der Waffenſchrank.)
1) Säbel des Generallieutenants Valentin von Maſſow, den der-
ſelbe, 13 Jahr alt, als Junker bei Rudorff-Huſaren (1806) führte.
2) Säbel eben deſſelben, im Kriege gegen Frankreich, in Spanien
1812 und in den Befreiungskriegen 1813—15.
3) Säbel des Hausminiſters von Maſſow, den er als Offizier im
erſten Garde-Regiment 1813, 14 und 15 geführt hat.
4) Büchſe und Schärpe von Carl von Maſſow, der 15 Jahr alt als
freiwilliger Jäger mit auszog, bei Lützen und Bautzen focht, und bei
Leipzig (16. Oktober) durch einen auffliegenden Pulverwagen ſeinen Tod fand.
[526]
Buckow.
- Benutzt: Berghaus Landbuch. Mündliches.
(Ein Erdfall.) S. 183 habe ich von den „Erdfällen“ in der Mark
geſprochen und dabei den Ausſpruch einer geognoſtiſchen Autorität citirt,
„daß die Natur bei der Bildung von Erdfällen nur erſt ſelten auf
friſcher That ertappt worden ſei.“ Es hat inzwiſchen, ſeit-
dem ich den Aufſatz über „Buckow“ und über Erdfälle in dieſen
Gegenden ſchrieb, wirklich ein ſolcher Erdfall ſtattgefunden; zwar
nicht unmittelbar in der Mark, aber doch in unſerer Nachbarſchaft,
in Thüringen. Aus Sachſenburg wurde neuerdings berichtet: Hier
hat am 11. September ein „Erdſturz“ alle Gemüther erſchreckt. Nach-
mittags 3 Uhr verſank auf einem Raſenplatze in der Nähe der Kirche,
unter donnerartigem Krachen, ein Stück Erde, und unmittelbar darauf
ſchlugen die Waſſer aus der Tiefe in die Höhe. Am Abend betrug die
Länge der eingeſtürzten Fläche bereits 18 Fuß und die Breite 16 Fuß;
ſeitdem vergrößert ſich die Verſenkung täglich. Die Tiefe des entſtandenen
Loches mißt 174 Fuß und das Waſſer ſtand 160 Fuß. Man iſt ſehr be-
ſorgt um die neugebaute Kirche, welche etwa 150 Fuß von dem einen Ende
des Erdſturzes entfernt iſt. Der Communicationsweg zwiſchen Bilzingsleben
und Sachſenburg iſt bereits erfaßt, ſo daß er an dieſer Stelle — wenig-
ſtens mit Fuhrwerk — nicht ohne Gefahr paſſirt werden kann.
Der große und kleine Tornow-See.
Der Schnitz-Altar in der Bollersdorfer Kirche.
Der ſchöne alte Schnitz-Altar in der Bollersdorfer Kirche, deſſen Re-
ſtaurirung (durch den Maler Holbein) ganz vor Kurzem durch den Grafen
Itzenplitz veranlaßt wurde, zeigt in ſeinem Mittelſtück, dem ſogenannten
„Schrein“, die Kreuzigung, jedoch nur mit Maria, Johannes und Magda-
lena. Der landſchaftlich gemalte Hintergrund mußte, da nur unverſtänd-
liche Ueberreſte vorhanden waren, neu erfunden werden. Die beiden Flügel
des Altars zeigen in ihrer obern Reihe hier Petrus und Paulus, dort
Johannes und St. Georg, die der untern die vier Evangeliſten mit ihren
Symbolen. Sonderbarer Weiſe ſtammt das Ganze nicht aus einer und der-
ſelben Zeit. Der größere Theil, die Kreuzigung ſammt den 4 Evangeliſten,
zeigt nämlich den manierirten Stil, der ſich in der zweiten Hälfte des 16.
Jahrhunderts durch den Einfluß der italieniſchen Kunſt in Deutſchland
bildete, während die anderen vier Heiligen ziemlich gute Arbeiten deutſchen
Kunſthandwerks vom Anfange deſſelben Jahrhunderts ſind. Wie dieſe Ver-
bindung heterogener Theile entſtanden und ob dieſe älteren Figuren gleich
[527] bei der Anfertigung des neuen Altars oder erſt ſpäter in denſelben auf-
genommen, muß zwar dahingeſtellt bleiben; jedenfalls iſt aber die
Thatſache bemerkenswerth, daß man hier, noch in ſehr ſpäter
Zeit und nach Einführung der Reformation, dieſe Technik in
Anwendung brachte und dabei keinen Anſtand nahm, dieſe ältern, vielleicht
aus einem verfallenen Altare herrührenden Statuetten zu benützen, obgleich
ſich unter ihnen neben Apoſteln auch der etwas problematiſche und jeden-
falls auf einem evangeliſchen Altare bedeutungsloſe St. Georg befand.
Das Oderbruch.
- Benutzt: Beckmann hiſtoriſche Beſchreibung der Chur und Mark
Brandenburg. Buchholtz, Verſuch einer Geſchichte der Chur-
mark Brandenburg. Berghaus Landbuch. Chriſtiani „das
Oderbruch.“ Wehrmann die Eindeichung des Oderbruchs.
Mündliche und briefliche Mittheilungen aus Letſchin, Guſow,
Quilitz, Friedersdorf, Groß-Neuendorf, Neu-Barnim ꝛc.
(Die letzten Wenden-Reſte in Sachſen und Preußen.)
Ueber die letzten Wendenreſte brachte die National-Zeitung im
September d. J. folgende intereſſante Zuſchrift aus Bautzen, dem alten
wendiſchen Budiſſin. „Ein ſeinem ſicheren Untergange zutreibender Reſt
eines ehemals großen, mächtigen Volkes hat immer etwas Tragiſches und
verdient auch die Theilnahme des Siegers. Dieſem Untergange gehen jetzt
ſichtlich und ſicher die ſächſiſchen und preußiſchen Wenden zu, deren ohn-
mächtige Agitation in neueſter Zeit vorwiegend durch die panſlaviſtiſchen
Umtriebe und zuletzt durch die polniſche Revolution Urſprung und Nah-
rung erhielt. Vor wenigen Tagen waren die ſlaviſchen Gelehrten Graf
Euſtachius Tyſchkewitſch und Antonius Drugalsky aus Wilna und der
ſlowakiſche Profeſſor Michael Chrastek aus Neuſohl in Ungarn, in unſerer
alten Wendenſtadt („Budiſſin“), die auch in ihrem finſteren Aeußern noch
bis heutigen Tag ihren nationalen Urſprung nicht verleugnen kann. Jene
drei Gelehrten ſind Männer von Ruf in der ſlaviſchen Literatur und ka-
men, um nach ihren Brüdern zu ſehen, die, in Enclaven um Bautzen und
öſtlich von Görlitz mitten in dem ſie umgebenden Deutſchland, das letzte
Jahrhundert des Wendenthums erleben.
Wie ein verlöſchendes Licht noch einmal aufflackert, ſo ſind in jüng-
ſter Zeit wendiſche Geſangvereine, Blätter, Geſellſchaften entſtanden und
doch wird dies den Prozeß nicht aufhalten.
Ein Stück nach dem andern reißt das Deutſchthum an ſich. Der wen-
diſche Vater ſchickt ſeine Töchter in die Stadt, damit ſie dort deutſch ler-
nen, und ſchon nach kurzer Zeit legen ſie die nationale Tracht ab, ver-
[528] leugnen ihre Sprache und ſind froh, wenn ſie es ſprachlich dahin gebracht
haben, daß man ihnen die wendiſche Abkunft nicht mehr anmerkt.
In der Ober-Lauſitz leben nach Angabe eines wendiſchen Gelehrten
ungefähr noch 101,000 Wenden; von dieſer Zahl kommen etwa 56,100
Köpfe auf Sachſen, 45,000 auf Preußen. In der Nieder-Lauſitz giebt es
ungefähr noch 50,000 Köpfe. In Sachſen geht die Wendei von Löbau
nordwärts über Bautzen bis Kamenz. Bis in die neuere Zeit waren die
Schulen faſt nur Anſtalten zur Erlernung der deutſchen Sprache und die
Pflege der übrigen Elementargegenſtände mag darunter wohl vielfach ge-
litten haben. Es hat deshalb die Regierung angeordnet, daß der Religions-
Unterricht wendiſch ertheilt werde, Leſen und Schreiben aber ſowohl wen-
diſch wie deutſch zu treiben iſt.
Unter den gebildeten Wenden regte ſich zuerſt mit der allgemeinen
dem Jahre 1848 vorangehenden Gährung die Liebe zur nationalen Sache
und Sprache, und ſo entſtand ſchon im Jahre 1846 die „Macica Serbska“,
ein Verein nach Art des Zwickauer Volksſchriftenvereins mit dem Zweck,
weitere Kreiſe mit lehrreicher Unterhaltungslektüre zu verſorgen. Der Buch-
handel hatte dem Bedürfniß nach wendiſcher Lektüre bisher faſt gar nicht
Rechnung getragen.
Seit dem Beſtehen der Macica ſind 35 dergleichen Schriften, in einer
Auflage von 500 Exemplaren von derſelben herausgegeben und vertrieben
worden, einige ſogar in zweiter Auflage erſchienen. Außer den Volksſchrif-
ten, zu denen auch ein wendiſcher Kalender in einer Auflage von gegen
4000 Exemplaren gehört, giebt die Macica auch eine gelehrte Zeitſchrift,
jährlich 2 Hefte, unter dem Titel „Caſopis“ heraus, welche hiſtoriſche, lin-
guiſtiſche, archäologiſche, naturwiſſenſchaftliche ꝛc. Aufſätze enthält; eben ſo
ferner ein Wörterbuch, deſſen wendiſch-deutſcher Theil (63 Bogen) faſt voll-
endet iſt.
Sodann enthält die Geſellſchaft jetzt beſondere Sektionen, und zwar
eine Sektion für wendiſche Sprachforſchung, eine archäologiſch-hiſtoriſche
Sektion, eine naturwiſſenſchaftliche und eine belletriſtiſche Sektion.
Was die wendiſche Literatur im engeren Sinne anlangt, ſo haben die
Wenden aus den früheren Jahrhunderten eine ſolche nicht aufzuweiſen, ein
genügendes Zeichen, daß wir es hier mit dem Reſt eines Volkes zu thun
haben, welches nur die Waffen und den Pflug führte, und heute die Bil-
dung ſeiner Enkel durchaus dem Deutſchthum verdankt. Außer Bibel, Ge-
ſangbuch, Katechismus, frommen Hauspoſtillen und einer Anzahl Erbau-
ungsſchriften gab es bis auf die neuere Zeit keine wendiſchen Bücher. Auch
hier hat die Macica neben Buchhändlern und einzelnen Privatperſonen ſich
das Verdienſt erworben, nach allen Richtungen hin eine junge Literatur
ins Leben zu rufen, ſowohl im Gebiet der Proſa als Poeſie. Das Meiſte
iſt natürlich Ueberſetzung. Unter den neueren Erſcheinungen ſind Gedichte
und Liederſammlungen, Geſchichtsbücher, Grammatiken, Chreſtomathien und
[529] Leſebücher, geographiſch-ſtatiſtiſche Abriſſe der Wendei zu nennen. Die ſäch-
ſiſche Regierung, welche den nationalen Prozeß ſich ruhig vollziehen laſſen
kann und den Vorwurf der gewaltſamen Germaniſirung deshalb nicht auf
ſich zu laden braucht, hat aus eigenem Antriebe die Herausgabe wendiſcher
Schulbücher in die Hand genommen. So erſchien bereits vor mehreren
Jahren eine „Bibliſche Geſchichte.“
Was die periodiſche Literatur der Wenden betrifft, ſo iſt die Haupt-
zeitung die „Serbske Noviny“, welche in Bautzen in einer Auflage von
ungefähr 1200 Exemplaren erſcheint, und neben dem politiſchen Theil auch
Unterhaltendes und Belehrendes giebt. Hierneben beſtehen noch drei Mo-
natsſchriften „Luzican“, für die Gebildeten geſchrieben und zu Bautzen in
300 Exemplaren erſcheinend, und das wendiſche Miſſionsblatt „Miſſionski
Poſot“ und ſein konfeſſioneller Konkurrent der (katholiſche) „Katholski
Poſot.“ Außerdem verſorgen der „wendiſch-lutheriſche Bücherverein“ (serbske
lutherske knihowne towarstwo) und der „Verein zum heiligen Cyrillus
und Methodius“ (towarstwo SS. Cyrilla a Methodija) ihre Gemeinden
mit Gebet- und Erbauungsſchriften.
Um nun aus der Iſolirung herauszutreten, ſind in neuerer Zeit auch
Verbindungen mit Literaten anderer ſlaviſcher Stämme von Seiten der
wiſſenſchaftlich gebildeten Wenden angeknüpft worden, und dieſe haben die
Genugthuung, daß man ihnen mit großer Liebe und zugleich Achtung, wie
einem verlaſſenen Bruderſtamm die Hand gereicht hat. Die Achtung aber
baſirt weſentlich auf den tüchtigen etymologiſchen und ethnographiſchen
Arbeiten, welche die obgengenannten wendiſchen Monatsſchriften aus-
zeichneten.
Die Wenden ſind über das neue Aufflackern ihrer Nationalität nur
ungern gegen Deutſche mittheilſam. Sie geſtehen ſich ſelbſt, daß, um ein
originales Bild eines Wenden hier wieder zu geben, „ihre Nationalität,
Sitte und Sprache dem Felſen Helgoland gleiche, von deſſen Geſtade die
umgebenden Wogen (des Deutſchthums) alljährlich ein Stück nach dem an-
dern an ſich riſſen, bis die unglückliche Inſel verſchlungen ſei.“
Der Vernichtungsprozeß beſchleunigt ſich aber beſonders dadurch, daß
alle Söhne der gebildeten Wenden auf den deutſchen höheren Schulen
durch die deutſche Wiſſenſchaft binnen kurzer Zeit germaniſirt werden,
da den wendiſchen Enclaven eine höhere wendiſche Bildungsanſtalt ganz
fehlt. So dringen denn auch von Jahr zu Jahr mehr deutſche Wörter in
die wendiſche Sprache, ſelbſt in die gewöhnliche Umgangsſprache. Die wen-
diſchen, zum Theil ſehr maleriſchen Trachten und Sitten verſchwinden
mehr und mehr, und es koſtete beim Beſuch des ſächſiſchen Kronprinzen
vor einigen Jahren den Bautzener Behörden viel Mühe, ein Brautpaar
zur Hochzeitsfeier nach altwendiſchem Brauch in ganz wendiſchen Trachten
zu bewegen.
Der gebildete Wende ſieht ſchweigend dem Abſchluß der Geſchichte ſei-
34
[530] ner Nation zu, einer Nation, die ſchon im 6. Jahrhundert im nördlichen
und öſtlichen Deutſchland ſeßhaft war von der Elbe längs der Oſtſee bis
zur Weichſel, ſüdwärts bis an Böhmen ſich erſtreckte, in Mecklenburg
herrſchte, in Oſtpreußen und den brandenburgiſchen Marken einen tapferen
Widerſtand gegen Albrecht den Bären leiſtete und in einzelnen Theilen
Deutſchlands den jahrhundertlangen Kampf gegen die gewaltſame Vernich-
tung trotz ungleicher Waffen zäh aushielt. Das gewöhnliche Volk ahnt die
Zukunft und kennt recht wohl ſeinen Vergewaltiger. Der in der Wendei
Reiſende muß ſich deshalb immer auf eine falſche Berichtung des etwa er-
fragten Weges oder auf einen Schabernak gefaßt machen, den der Wende
dem Deutſchen beſonders dann gern ſpielt, wenn ſich Letzterer nach wen-
diſchen Worten und Redensarten erkundigt. Er erhält alsdann arglos von
dem gemeinen dummpfiffigen Wenden die gemeinſten Ausdrücke angelernt.
Die Sprache der Wenden iſt überaus bildungsreich, melodiſch und
kräftig, ſie klingt im Geſang beſonders ſchön. Im 30jährigen Kriege ſuchte
man ſie gewaltſam zu unterdrücken und gab den Gemeinden nur noch
deutſche Prediger, erſt die humanere neuere Zeit hat hier Gerechtigkeit ge-
übt und das angeſtammte Recht der nationalen Sprache wieder hergeſtellt.
Da das Deutſchthum ſich wie ein Keil zwiſchen die Wenden-Ueberreſte
gedrängt hat, ſo ſind bereits Dialekte entſtanden mit neuen Wort- und
Satzformen, welche das Verſtändniß der zerſprengten Poſten ſchon zu er-
ſchweren beginnen.
Als die Ruſſen in den Freiheitskriegen hier plötzlich eine verwandte
Sprache fanden, war ihre Freude ſo exaltirt und zugleich naiv, daß ſie
ſpäter die deutſchen Dörfer ſchlecht behandelten, in der Meinung, die
deutſche (ſächſiſche, damals im Bunde mit Frankreich) Bevölkerung wolle
ſie nur aus Feindſeligkeit gegen die Verbündeten nicht verſtehen!
Was die rohe Gewalt nicht vermocht hat, das wird in kürzerer Zeit
die Uebermacht unſrer Kultur vollbringen. Ein Jahrhundert noch, und die
Wenden haben aufgehört zu exiſtiren. Uns ziemt, obwohl wir die Sieger
ſind, immerhin einige Theilnahme, denn es geht ein einſtmals mächtiges
Volk ſeinem Ende entgegen!“
(„Die Unnererdſchken“ eine Sage aus Alt-Reetz. Vgl. S. 211.)
Im Montag’ſchen Hauſe in Alt-Reetz — ſo erzählen ſich die Reetzer
— trug ſich folgendes zu: An einem Weihnachtsabend waren alle, außer
der Hausfrau, welche im Wochenbette lag, nach der Kirche gegangen. Plötz-
lich vernahm dieſe von ihrem Himmelbette aus ein ſummendes Geräuſch,
und indem ſie die Gardinen zurückzog, ward ſie zwiſchen Ofen und Wand
viele kleine Geſtalten gewahr, welche ſich anſchickten, Stühle an den Tiſch
zu rücken, dieſen zu decken und kupferne Schüſſeln, reichlich gefüllt, zin-
nene Teller, Krüge und Löffel aufzutragen. Hierauf erſchienen, hinter dem
Ofen hervorkommend, 20 bis 30 Perſonen paarweiſe, als ob irgend ein
[531] Feſt gefeiert werden ſollte, hielten einen Umzug und begannen das Mahl.
Man hatte zwar kein Licht auf die Tafel geſtellt, doch war das Zimmer
ſo erhellt, daß man jeden Gegenſtand ganz deutlich erkennen konnte, und
es ſchien, als ob die Helle den Geräthen entſtrömte. Die Wöchnerin ſah
dies Alles mit pochendem Herzen an, denn ſie wußte wohl, was man ſich
erzählte, daß häufig Kinder, beſonders Säuglinge, verſchwunden waren,
von denen es hieß, daß die „Unnererdſchken“ ſie geraubt hätten. Ein Raub
ihres Säuglings erſchien ihr um ſo unvermeidlicher, als das Kind eben
jetzt zu ſchreien anfing. Die Unnererdſchken horchten auf, beriethen ſich und
ſchienen in Zank zu gerathen, wahrſcheinlich, weil eine Partei das Kind
entführen, die andere es dagegen der Mutter belaſſen wollte. Endlich be-
ruhigten ſie ſich wieder und ſpeiſten weiter. Inzwiſchen war eine geraume
Zeit verfloſſen, ſo daß die Kirchgänger zurückkehrten. Die Zwerge vernah-
men ihre Annäherung und dachten an Rückzug. Einige aber eilten nun an
das Himmelbett und wollten die Gardinen auseinanderziehen, um, während
die andern die Sachen einpackten, das Kind zu rauben und mitzunehmen.
Die Frau hielt aber die Gardinen feſt zuſammen. Endlich waren alle hin-
ter dem Ofen verſchwunden; nur einige leere Schüſſeln hatten ſie in der
Eile ſtehen laſſen, die man viele Jahre lang in dem Hauſe aufbewahrte.
Zu Anfang dieſes Jahrhunderts ließen die Hausbewohner eine Ofenthür
daraus machen, die noch jetzt vorhanden iſt.
Moeglin.
- Benutzt: Koerte’s Albrecht Thaer, ſein Leben und Wirken. Mündliche
und briefliche Mittheilungen.
Freienwalde.
- Benutzt: Thomas Philipp von der Hagen Beſchreibung der Stadt
Freienwalde. Dr.Heydecker’s Beſchreibung des Geſundbrun-
nens und Bades zu Freienwalde. Bekmann’s Hiſtoriſche
Beſchreibung der Chur und Mark Brandenburg. Freien-
walde und ſeine Umgegend (Berlin, bei Schropp). von Rei-
chenbach Statiſtiſch-topographiſche Alterthumskunde der
Stadt Freienwalde. Mündliche und briefliche Mittheilungen.
Ein Hexen-Prozeß in Freienwalde.
(1644.)
Freienwalde hatte im 17. Jahrhundert eine ganze Anzahl von Hexen-
prozeſſen. Von vieren wiſſen wir mit Beſtimmtheit. 1) Kurz vor 1628
34*
[532] wurde eine Frau Pfennig als Hexe verurtheilt und verbrannt. 2) Anno
1628 wurden Judith Hoppe und ihre beiden verheiratheten Töchter
Anna Liebenwall und Gertrud Puhlmann verurtheilt und hin-
gerichtet. 3) Kurz nach 1628 wurde eine Anna Koch als Hexe verur-
theilt; ob verbrannt iſt ungewiß. 4) Anno 1644 wurde Urſula Henſel
als Hexe verurtheilt. Sie ſtarb unter der Tortur.
Ueber den erſten und dritten Fall fehlen alle näheren Details; da-
gegen hat ſich über den zweiten und vierten Prozeß allerhand Sa-
genhaftes und Hiſtoriſches erhalten.
Der Fall mit der Judith Hoppe und ihren beiden Töchtern (1628)
war wahrſcheinlich der intereſſanteſte und dramatiſchſte unter allen.
Das Aktenſtück darüber, das lange Zeit aufbewahrt wurde, iſt ſchließlich
verloren gegangen. Die eine Tochter (Gertrud Puhlmann) ſtarb ſchon wäh-
rend der Prozedur auf der Folter. Gegen die beiden andern, d. h. gegen
Judith Hoppe und Anna Liebenwall, wurde von Seiten der
Frankfurter Rechts-Fakultät das Urtheil gefällt. Es lautete dahin: „daß
Judith mit glühenden Zangen auf beiden Brüſten gezwickt und verbrannt,
Anna aber mit Feuer vom Leben zum Tode gebracht werde.“ Beide
Urtheile wurden beſtätigt und dem Amtsſchreiber der Befehl zur
Ausführung gegeben. Judith Hoppe (die Mutter) ſtarb unter den Mar-
tern; Anna Liebenwall wurde wirklich verbrannt an der Stelle, wo
jetzt, eine Strecke vor der Stadt, dicht an der Berliner Chauſſee, die ſo-
genannte Brandfichte ſteht. Anna Liebenwalls letzte Worte waren: „Im
Angeſicht des Todes betheure ich meine Unſchuld. Zum Beweiſe deſſelben
ſoll aus der Aſche dieſes Holzſtoßes ein Keim aufgehen, wachſen, grünen.
Gott, nimm mich gnädig auf.“ In der That erwuchs der Brandſtätte an-
dern Jahres ſchon ein Reis, und der wachſende Baum wurde „Brand-
fichte“ genannt. Der jetzige iſt nicht der alte, der morſch wurde und end-
lich zuſammenbrach, ſondern ein an derſelben Stelle gepflanzter Erſatz-
mann.
Ueber den Prozeß der Urſula Henſel exiſtirt noch im Freienwal-
der Stadtarchiv ein ziemlich umfangreiches Aktenſtück. Leider iſt es nicht
mehr vollſtändig; ſehr Weſentliches fehlt darin. Intereſſant aber iſt die
vom Freienwalder Rathsſchreiber gefertigte Darſtellung des Sachver-
halts, die an die Juriſten-Fakultät in Frankfurt a. O. eingeſchickt
wurde. Mit dieſer „Darſtellung“ beginnt das Aktenſtück und ich laſſe dieſelbe,
nur unweſentlich abgeändert, hier folgen. Einzelnes in dieſer Darſtellung
iſt häßlich und nichts weniger als eine angenehme Lektüre. Der Leſer
darf aber eben nicht vergeſſen, daß es ſich hier um einen Hexenprozeß
handelt, alſo um eine Angelegenheit, die man nicht mit Lawendelwaſſer
abwaſchen darf, um ſie hübſch und ſauber erſcheinen zu laſſen.
„Edle, wohlehrenfeſte, großachtbare, hochgelehrte und hochbenahmete
Herrn Decane und Doctores facultatis juridicae der hochlöblichen Univer-
[533] ſität zu Frankfurt a./O., neben Entbietung unſeres freundlichen Grußes
und ſtets willigſter Dienſte, müſſen wir, Amtſchreiber, Richter und Schöp-
pen allhier in Freienwalde, tragenden Amtes halber, Euch zu vernehmen
geben, wie daß ein Geſchrei und Gerüchte allhier ausgebrochen, als ſollte
ein Weib am Oſtermontage, nachdem ſie das geſegnete Brod empfangen,
ſelbiges hinter dem Altar wieder ausgeſpuckt haben.
Darauf wir denn, auf angeſtellte Inquiſition, von Urſula Seiden-
ſchwanz, Hans Berlins Ehefrau, ſowie von Gertrud Braatz, Hans Krau-
ſens Hausfrau allhier, den 2. Mai vernommen, daß ſie beide, nachdem ſie
auch am Oſtermontage zum Tiſch des Herrn gegangen, mit ihren Augen
angeſehen, daß Urſula Heinrichs, Hans Henſels, Bürgers und
Krämers allhier eheliche Frau, da ſie hinter dem Altar kommen, ſtark von
ſich geſpucket. Wir haben darauf alsbald gedachte Urſula Heinrichs (oder
Henſel) den 4. Mai, um ſie darüber zu vernehmen, zu Rathhauſe fordern
laſſen.
Weil ſie aber nicht zu Hauſe geweſen, iſt ſie alsbald wie ſie heimge-
kommen und erfahren, daß ſie zu Rathhaus wäre gefordert worden, zum
Bürgermeiſter ins Haus kommen und hat zu erfahren begehret, was ſie zu
Rathhauſe thuen ſolle. Darauf ſie auf Montag wieder zu Rathhaus ge-
fordert, wobei ſie wohl würde inne werden, warum ſie dahin beſchieden.
Den 5. Mai, Sonntags Misericordias Domini, nachdem ſie die Predigt
angehöret, hat unſer Herr Diaconus auf der Kanzel ſolche Sünde mit dieſen
formalibus taxiret: „Wie hoch ich auch erfreuet bin, daß ich ſeit Sonntag
Palmarum bis heutgen Sonntag Misericordias Domini auf der guten
Weide des heilgen Sacraments des hochwürdigen Abendmahls 172 Schäflein
geweidet, alſo hoch und vielmehr betrübe ich mich, daß ich erfahren muß,
als ſollte ein ſtinkender Bock unter ſolchen 172 Schäflein ſein erfunden
worden, der das geſegnete Brod hinter dem Altar wieder ſoll ausgeſpucket
haben.“ Urſula Heinrichs höret ſolches, zeucht ſich ſolches an, gehet nach
geendeter Predigt zum Herrn Diaconus ins Haus und ſetzet ihn zur Rede,
warum er ſie auf der Kanzel alſo angegriffen? er hätte ſie damit gemeinet,
daß ſie den wahren Leichnam ausgeſpucket. Sie hätte aber böſe Zähne, da-
ran ſie nichts leiden könne und hätte mit der Zungen daran geſtoßen, in-
dem ſie den Oblat hätte herunter ſchlucken wollen. Darüber habe ſie ſo viel
Schlamm im Mund bekommen, und hätte ſie nicht ausgeſpieen, ſo hätte
ſie brechen müſſen. Dieſes ſie auch zum Bürgermeiſter (zudem ſie alsbald,
wie ſie vom Herrn Diacono weggegangen, gekommen und geklaget,) ebener-
maßen ausgeſaget hat.
Als ſie nun den 6. Mai herüber auf dem Rathhauſe war und vor
dem Rath Zurede geſetzt worden, hat ſie ſich anfangs hoch vermeſſen, ſie
wäre unſchuldig. Jeſus Chriſtus hätte auch unſchuldig gelitten, dem wollte
ſie ſolches befehlen und leiden und Gott um Geduld bitten; daneben aber
geſtanden, daß ſie am Oſtermontage, als ſie zum Tiſch des Herrn gegan-
[534] gen und das geſegnete Brod empfangen, hinterm Altar ausgeſpieen. (Nun
folgt, unter Zuthat einiger ſehr häßlicher Details, eine Wiederholung ihrer
vor dem Diaconus gemachten Ausſagen, d. h. alſo Aufzählung der Gründe,
weßhalb ſie nicht umhin gekonnt habe, die Oblate auszuſpeien.)
Darauf ſie, wie ſie vom Rathhauſe gelaſſen worden, angefangen: „wenn
ſie ihren Sohn nicht bedächte, ſo wollte ſie h.... weiſe oder ſchelmiſch-die-
biſcherweiſe aus der Stadt laufen; denn ihr Mann wollte ſich ihrer nicht
annehmen.“
Als ſie folgenden Tages, den 7. May, wiederumb zu Rathhauſe
gefordert worden, ſeind ihr beide Zeugen, ſo es geſehen, daß ſie (die Krä-
merin) hinterm Altar ausgeſpucket, gegenüber geſtellt worden.
Es iſt ihr auch vom Bürgermeiſter vorgehalten, warum ſie des vorigen
Tages auf dem Rathhauſe geſaget: „wenn ſie es ihres Sohnes halber nicht
thäte, ſo wollte ſie h.... weiſe davon laufen;“ worauf ſie ſolcher Worte
auch jetzt noch geſtändig geweſen iſt und geantwortet hat „darumb, daß
ſich ihr Mann ihrer nicht wollte annehmen.“
Hierauf haben wir ſie alsbald den 7. Mai gefänglich einziehen und in
Fußeiſen auf unſerm Stad Keller mit bürgerlicher Wache verwahren laſſen.
Da ſie denn alsbald, wie ſie geſponnen, ſich hinter den Tiſch geſetzet,
angefangen zu ſpucken und etzliche mal zu ſich geſagt: „ſpucke, ſpucke u. ſ w.“
und auch geredet „wenn zehn Büttels über ſie kämen, wollte ſie nichts
bekennen.“
Da auch der Mann zu ihr gekommen und Eſſen gebracht, ihn angefah-
ren: „Du lahmer Hund, ich begehre dein Eſſen nicht, du haſt Schuld da-
ran, daß ich hier ſitze; du willſt dich meiner nicht annehmen.“ Hat ſich
auch von einem Weibe laſſen einen Kubben (Kübel) in der Stuben brin-
gen, darinnen ſie reverenter excerniret; hernach mit dem Vorderfinger um-
gerühret, darin dreimal geſpuckt und wegtragen laſſen. —
Da ſich denn dieſes in der Wahrheit und nicht anders alſo verhält,
zudem auch berührte Urſula Heinrichs außer dieſem, vor etzlichen Jahren,
der Zauberei halber bei jedermann verdächtig und berüchtiget geweſen iſt,
auch aus vielen Dingen nochmals verdächtig gehalten wird, als daß ſie
1) Mit vielen Leuten ſich gezanket und daher ſich faſt ein jeder vor ihr
gefürchtet.
2) ehrliche Leute, welchen ſie nicht gewogen, nicht gegrüßet, noch wo ſie
gegrüßet wird, ſich bedanket, ſondern wol auf einen Gruß einen garſtigen
Strepitum fahren laſſen, daß es über die ganze Gaſſe erſchollen, und etzlichen
Leuten in den Fußtapfen nachgeſpucket.
3) Ehrlichen Leuten, denen ſie nicht gewogen, oftmals vor Geld nicht
laſſen wollen, was ſie doch zu Kauffe gehabt, und wenn die Betreffenden
dann andrer Leute Geſinde oder Frauen abgeſchicket (da man vermeinet,
ſie würde es dann nicht verſagen,) hat ſie alßbald gewußt, wem ſie’s holen
wollten und geſagt „gehe nur, du holeſt es dem und dem, ich laſſe dir’s
nicht.“
[535]
4) Velten Sternbecks, Baders allhier Söhnlein, Gottfried genannt,
ungefähr anno 1636, Oſter-Kuchen gegeben. Wie das Kind mit dem
Kuchen zu Hauſe kommt, fanget es an zu ſchreien und klaget, der Bauch
thu ihm wehe. Wie die Mutter des Kindes erfahret, daß das Kind den
Kuchen von der Kramerin bekommen, gehet ſie zu ihr und hält ihr vor,
daß ihr Mann ſchelte und ſage, das Kind habe die Wehetage von ihrem
Kuchen bekommen. Darauf ſie, die Krämerin, geantwortet, es wäre Honig
und Mandeln in dem Kuchen geweſen, das würde das Kind nicht vertra-
gen können, ſie ſollte ihm einen venediſchen Theriack eingeben, es würde
wohl beſſer werden. Wie nun die Mutter vor einen Groſchen Theriack von
der Krämerin gekauft und dem Kinde eingegeben, ſchlaget das Kind aus,
daß es ſo bunt auf dem Leibe wurde, wie eine Kröte.
5) eine Thabel, (d. i. Kober) ſo feſte zugebunden geweſen, ihres Soh-
nes damaliger Braut gegeben, die ſie mit nach Oderberg nehmen ſollen;
ſelbigen Kober hat ſie bei dem Bader eingeſetzet und gebeten, weil ſie noch
etwas zu beſtellen hätte, ſollte man unterdeſſen die Thabel zu Kahne tragen.
Wie man nun die Thabel zu Kahne tragen wollen, hat ſie keiner von der
Stelle heben können, wie denn noch Leute am Leben, ſo es verſuchet, alſo
daß auch das Strick zerriſſen und die Thabel müßen ſtehn laſſen. Da aber
ihres Sohnes Braut die Thabel angefaſſet, hat ſie dieſelbe können unterm
Arm nehmen, und dem Schiff zutragen.
6) Mit ihrem eigenen Sohne ohngefähr vor 6 oder 7 Jahren, dergeſtalt
wegen eines Ringes, ſo ſie ihm verehrte und er ihr denſelben ſollte wieder-
geben, in Haß gelebet, daß ſie nicht einmahl zu ſeinem Kinde, wie es ſo
ſehr krank geweſen, daß es weder leben noch ſterben können und er ſie da-
rum gebeten, nicht Kommen wollen, er habe ihr denn den Ring wiederge-
geben und iſt das Kind alsbald, wie ſie bei ihm kommen, ſanft abge-
ſchieden.
7) Auf einem Sonntag Anno 1640 an Herrn Michael Mielentzes
Pfarrers (ſo ſich allhier aufgehalten) Thür, des Morgens gar früh, wider
ihre Gewohnheit — da ſie in großem Haß mit ihm gelebet und zu ſeiner
Thür niemals kommen — etzliche mal angeklopfet und wie ſie die Magd
anſichtig worden, gefraget, was ſie (die Magd) ihrer Henne gethan hätte,
da ſie nicht hätte legen können; ſie hätte auch eine Ente, der es gleich
alſo ginge. Wie die Magd in der Stuben gangen zu der Ehefrau, ſo vorigen
Tages eines Söhnleins geneſen und es ihr angeſaget: daß die Kramerin
vor der Thür wäre und hätte nach ſolcher Sache gefraget, iſt die Frau
erſchrocken und wie ſie ihre Schweſter hinausgeſchickt die Kramerin einzu-
laſſen, iſt die Kramerin ſchon etzliche Haus weit davon gewehſen und da
hinter ihr hergerufen worden, ſich umgeſehen und fortgangen. Darauf die
Kindesbetterin Nachmittag ſo unvermögend worden, alſo daß man keine
Vernunft bei ihr ſpüren können. So bald aber die Kramerin zu ihr kom-
men, ſie an’s Bein getaſtet und geflüſtert, iſt die Kindesbetterin ſtill wor-
[536] den, hat ſich auch wieder vernehmen laſſen, daß ſie, die Kramerin, kommen
könne, und iſt hernach beſſer mit ihr worden. —
8) ohngefähr An. 1635 hat der Herr Amtsſchreiber alhier, Johannes
Nebentiſch, ihr, der Kramerin, Flachs, den ſie in der heißen Stuben deſſel-
bigen gehabt, nehmen und in die Amtſtube bringen laſſen; da ſpringet aus
dem Flachs ein lang Gewürmb, wie eine Blindſchleiche, heraus, läuft in
der Stuben herum und wie ſie danach ſchlagen, kriecht es wieder in den
Flachs; darauf ihr der Amtſchreiber den Flachs wieder ins Haus bringen
laſſen und nichts mit ihr wollen zu thun haben, weil das Gerücht zu der
Zeit ſo groß von ihr geweſen, daß ſie des Sontags unter der Predigt
einmahl einen ſchwarzen Bock vor dem Spinde geſpeiſet und eben auch ſehr
unruhige Zeit geweſen.
9) ohngefähr An. 1638, der damahligen Frau Amtſchreiberin allhier,
ſo noch lebet, eine Schüſſel voll Mohn gebracht. Wie ſie nun den Mohn,
ſo in einem Reibenapf weggeſetzet worden, beſah, ſitzet eine große Kröte
im Mohn, welche mit einem ſpitzigen Stock durchſtochen, aufgeſpießet und
mit dem Stock hinter der Hütten aufgeſtecket worden. Nicht lange darnach
wie ſie wieder zum Mohn kommen, ſitzet wieder eine große Kröte auf dem
Mohn, darob ſie ſich verwundern und hingehn, zu ſehn ob die aufgeſteckte
Kröte noch vorhanden. Und ſiehe, ſie finden zwar den Stock noch ſtecken,
aber die Kröte iſt davon.
10) ohngefähr vor 4 Jahren des Nachts in ihrem Hauſe, da ſie ganz
allein darin geweſen, in die Hände geklopfet und geſungen: domica dondei,
domica dondei, ſo ſie etzliche Male wiederhohlet, und nicht anders von
einer Magd und Weib (ſo hart an ihrer Schlafkammer, das nur ein klei-
ner Gang dazwiſchen geweſen) angehöret worden, als wenn ſie geſprungen
und getanzet hätte.
11) Vor etzlichen Jahren Planken in Baders Zaun aufgeriſſen, da-
durch ihre Schweine in des Baders Garten kommen; wie nun der Bader
ſich mit ihr gezanket und die Schweine mit einem Hopfſtangen heraus ja-
gen wollen, iſt er ſo oft bei’m Zuſchlagen auf das Geſicht niedergefallen
und hat die Schweine gar nicht treffen können.
Und dieſes alles nun ihr kann dargethan und bewieſen werden. Alſo
ergehet hiermit an die Herrn Decane und Doktores ꝛc. unſer dienſtfreund-
liches Suchen und Bitten, uns hiernach Rechtens zu belehren, ob die be-
meldete Urſula Heinrichs mit hartem Gefängniß anzugreifen und wie fer-
ner mit ihr zu verfahren.
Freienwalde den 10. Mai 1644.
Erhardt Kühnemann
Amtsſchreiber.
Baltzer
Richter-Schöppe.
Justus Schorr (?)
Richter.
Noch zwei Schöppen.
Johannes Heinrich
Schöppe.
Andreas Fischer
Schöppe.
Joachim Heinrich
Schöppe.
[537]
Dieſes Anklage-Stück des Freienwalder Amtsſchreibers giebt ein ziem-
lich trauriges Bild damaliger Zuſtände. Die Freienwalder Tage von 1644
müſſen weniger heiter und harmlos geweſen ſein, als die heutigen. Erſicht-
lich war Urſel Heinrichs ein böſes, zänkiſches, verbittertes altes Weib und
weiter nichts. Der Reſt iſt Nachbars- und Barbier-Klatſch. Im Lauf des
Prozeſſes ergiebt ſich, daß der Bader immer aufs Geſicht fiel und beim
Zuſchlagen die Schweine nicht treffen konnte, — weil er betrunken war.
Dennoch kam Urſel auf die Folter.
Der Schloßberg bei Freienwalde und die Uchtenhagens.
- Benutzt: von der Hagen’s Freienwalde. Riedel’s Codex diplomat. Bran-
denb. — W. Melcher’s Neu-aufgefundener Stammbaum des
Geſchlechts derer von Uchtenhagen. (Ein Aufſatz von Dr. W.
Melcher im Ober-Barnimer Kreis-Anzeiger.) Rindfleiſch
Sagen von Freienwalde. Mündliche und briefliche Mitthei-
lungen.
Drei Sagen von den Uchtenhagens.
1) Der Fluch.
Der erſte Uchtenhagen hatte dem Markgrafen große Dienſte geleiſtet
und ſo verſprach ihm dieſer: er (der Uchtenhagen) ſolle ſo viel Land zu
Lehn beſitzen, als er zu Roß an einem Tage umreiten könne. Uchtenhagen
ritt mit Sonnenaufgang von Freienwalde aus; mit Sonnenuntergang kam
er bei dem Dorfe Neu-Wubiſer (jenſeit der Oder) an, als der Hirt eben
ſeine Heerde nach Hauſe trieb. Dieſen erſtach er, um ſpäter beweiſen zu
können, wie weit er auf ſeinem Ritte gekommen ſei. Aber von dieſem Au-
genblicke an ruhte auf den Uchtenhagens der Fluch, der ſich an dem letzten
ihres Hauſes erfüllen ſollte. Dieſer ſtarb, ein Kind noch, einer Wahrſagung
gemäß, in die der Fluch ſpäterhin ſich kleidete, an Gift, und ſo ſühnte
denn die Kindes-Unſchuld des letzten des Geſchlechts, die Blutſchuld, die
der erſte begangen.
2) Werners von Uchtenhagen unſeliges Ende.
Im Jahre 1575 belehnte Werner von Uchtenhagen, laut einer noch
vorhandenen Urkunde, in Gemeinſchaft mit ſeinem Bruder Hans, den ehr-
ſamen Rath von Freienwalde, mit der halben Dorfſtätte Torgow, jetzt
Torgelow genannt. Noch in demſelben Jahre theilte er ſich mit ſeinem
Bruder in die Güter des Vaters, wonach er Neuenhagen, Hans aber
Freienwalde erhielt. Die Schiedsrichter bei dieſer Angelegenheit waren
Otto von Krummenſee (auf Krummenſee), Euſtachius von Schönebeck (auf
Döltzig), Jochen von der Schulenburg (auf Löckenitz), Jochen von Buch
[538] (auf Stolpe), Matthias von Arnim (auf Bieſenthal). An dem noch vor-
handenen Theilungsvertrags-Briefe vom 18. März 1575 ſind die Ecken
eines jeden Blattes, der größeren Sicherheit wegen, umgeklappt und mit
einem Siegel befeſtigt. Werners Ende war betrübender Art: er gerieth
mit ſeinem Schwager in Streitigkeiten und erſtach ihn, wurde aber dabei
ſo ſchwer verwundet, daß er wenige Stunden ſpäter ebenfalls verſchied.
Man erzählt ſich über Werners Ende folgendes:
Werner von Uchtenhagen war ein ehrſamer, ſehr frommer Mann.
Einmal (es war auf Tag und Stunde ein Jahr vor ſeinem Tode) war
er beim Gebet; da tropften plötzlich drei Tropfen Bluts von ſeiner Stirn
und fielen auf das Gebetbuch, auf deſſen aufgeſchlagenem Blatt ſie ein
ſchreckenerregendes Zeichen bildeten. Wie dies Zeichen war, das weiß nie-
mand; aber es ſtand von jetzt an Tag und Nacht vor Werners Seele und
peinigte und ängſtigte ihn. Es bildete ſich in ſeinem Innern eine Ahnung
von kommendem Unheil, und dieſe Ahnung hatte Recht. Ein Jahr, nach-
dem er jenes Zeichen geſehen, beging ſeine Schweſter das Feſt ihrer Ver-
mählung. Werner war auch unter den Gäſten. Am dritten Tage des Feſtes
ſaßen Werner und ſein neu-vermählter Schwager bei einander, und beide
ſcherzten und lachten und ſprachen dem Weine gut zu. Die Sinne beider
waren ſchon berauſcht, da fiel es Werners Schwager ein, über einige Glau-
bensſätze der chriſtlichen Kirche ſpöttiſche Bemerkungen zu machen. Hier-
durch verletzt, ſprang Werner von Uchtenhagen auf, ein lauter Wortwechſel
entſtand, zuletzt ein Zweikampf. Der Weinrauſch machte, daß ſie unſichere
Hiebe führten, von beiden Seiten ward blind zugeſchlagen, bis Werner
eine tödtliche Wunde erhielt. Aber faſt in demſelben Augenblicke durch-
bohrte er ſeines Schwagers Bruſt, der nun leblos zu Boden ſtürzte. Als
die Gäſte herbei eilten, war es zu ſpät. Werner ſtarb ſelben Tages noch
in bitterſter Reue, die Neuvermählte bald darauf vor Gram. Zu derſelben
Stunde aber, als Werner ſeinen Schwager durchbohrte, geſchah in einer
Stadt, die ſechs Meilen von Freienwalde entfernt iſt, etwas Wunderbares:
ein junges Mädchen ſprang plötzlich von ihrem Lager auf, und ihre Hand
nach Freienwalde hin ausſtreckend, rief ſie: „Seht, wie ſie mit gezückten
Schwertern auf einander rennen und ſich beide morden!“ Dies hörten
ihre Eltern, aber ſie verſtanden es nicht. Die Stadt, wo das Mädchen
dieſe Worte ſprach, war wahrſcheinlich Sonnenburg, das geraume Zeit den
Uchtenhagens gehörte. All dies geſchah aber um 1580.
3. Der große Kurfürſt und der alte Uchtenhagen bei
Freienwalde.
Auf dem Schloßberge hat Uchtenhagen’s Schloß geſtanden; noch jetzt
ſieht man die alten Keller oben und die vielen Verwallungen an den Ge-
hängen der Berge. Einer davon heißt der Räuberberg, da waren die Höh-
len für ſeine Leute. Er iſt nämlich ein Räuberhauptmann geweſen und
[539] der „große Kurfürſt“ hat ihn freigegeben. Wie der nämlich gegen die
„Ruſſen“*) zu Felde lag, kam Uchtenhagen zu ihm und ſagte, er wolle
die Feinde ſchlagen, wenn er ihn freigebe. Da hat ihn der Kurfürſt ge-
fragt, wie viel Leute er denn hätte. Uchtenhagen hat geſagt: „ein und
ſechzig.“ Da hat ſich der Kurfürſt verwundert, daß er es unternehmen
wollte, es aber ihm verſprochen, wenn es ihm gelänge. Nun hat Uchten-
hagen ſeine Leute in der Nacht zuſammengerufen und iſt über die Ruſſen
hergefallen, hat ihnen die Kanonen vernagelt und dann ſich an ſie ſelbſt
gemacht. Wie es Morgen geworden, iſt der Kurfürſt gekommen und hat
ſich gewundert über das furchtbare Blutbad, der Feind iſt aber ſchon auf
der Retraite geweſen. Das Feld heißt noch heut zu Tage das rothe
Land, es liegt vom Freienwalder Brunnen nach Dorf-Sonnenburg zu.
Lichterfelde.
- Benutzt: Koenig’s Otto Chriſtoph v. Sparr. v. Moerner, mär-
kiſche Kriegsoberſten. Fiſchbach, Topographie. Fidicin,
Ober-Barnim. Mündliche und briefliche Mittheilungen.
(Die Brüder Chriſtoph und Arendt v. Sparr), von denen
der letztere der Vater des ſpäteren Feldmarſchalls Otto Chriſtoph v.
Sparr war, beſaßen Lichterfelde Ausgangs des 16. und Anfang des 17.
Jahrhunderts.
Das alte Lichterfelder Kirchenbuch, das von 1599 bis 1604 regelmäßig
und wie es ſcheint gewiſſenhaft geführt wurde (nachher kommen Lücken,
die ſich über ganze Jahrzehnte ausdehnen), enthält verſchiedene Angaben,
die ſich auf jenes Brüderpaar beziehen.
[540]
Auf Chriſtoph v. Sparr beziehen ſich 5 Notizen, aus denen wir
Folgendes erſehn:
- a) Er und ſeine Frau laſſen zweimal taufen.
- b) Seine Frau ſteht Gevatter beim Geiſtlichen.
- c) Sein Töchterchen Anna ſtirbt.
- d) Er ſelber ſtirbt.
Die Notizen ſelbſt ſind folgende:
1) 1599, den 15. April Herrn Chriſtoph Sparrens Sohn
Adam geboren, den 22. hujus getauft. Pathen: Hans v. Uchtenhagen,
Joachim v. Sparr von Greiffenberg, Jürgen v. Trotta, Caſpar Sparrens
Wittib von Trampe, Arendt Sparrens Hausfrau, Levin Trottens Hausfrau
und Bürgermeiſter Johann Sorge von Neuſtadt-Eberswalde.
2) 1600, 30. September, geboren Chriſtoph v. Sparrens
Tochter Sophia, den 15. Oktober getauft. Pathen: Joachim v. Krum-
menſee, Hans v. Bredows Wittibe, v. Holzendorfs Wittibe, Jakob Pfuels
Hausfrau, Chriſtoph Lindſtedts Hausfrau und Jungfrau Anna v. Sparr
auf Trampe.
3) Anno 1600 hat auch Herr Paſtor Petrus Hartwig taufen laſſen.
Unter den Gevattern befindet ſich „Herrn Chriſtoph Sparrens Ehe-
liebſte.“
4) 1600, den 22. Martii iſt Chriſtoph v. Sparrens Tochter Anna
v. Sparr verſtorben.
5) 1604, den 16. Oktober iſt Chriſtoph Sparr im Herrn entſchlafen
und den 20. zur Erde, nach ſeinem adlichen Stand, ehrlich und zierlich be-
ſtattet und von vielen Adelsperſonen, Junkern, Frauen und Jungfrauen
begleitet worden. (Nach v. Moerner iſt er 1609 geſtorben.)
Auf Arendt v. Sparr bezieht ſich nur eine Notiz, aus der wir
erſehen, daß er 1604 eine Tochter taufen ließ. Die betreffende Stelle lautet:
1604 den 11. Mai iſt Arendt v. Sparrens Tochter Edele (Adele)
geboren. Compatres waren: Hans Jürgen v. Ribbeck, Levin Trotta, Herrn
Ernſt Sparrens Frau von Trampe, Dietrich v. Holzendorfs Wittibbe,
Hans v. Bredows Hausfrau, Alexander v. Bredows Hausfrau und Bür-
germeiſter Johann Sorge.
Lichterfelde und die Groebens.
Lichterfelde, nachdem es Jahrhunderte lang ein Sparrſches Gut gewe-
ſen war, kam 1620 an die Groebens. Dieſer Zweig der Groebens war
eigentlich im Ruppinſchen anſäſſig und beſaß daſelbſt das ſpäter an die
Wartensleben, noch ſpäter an den Major v. Kaphengſt (vgl. Bd. I. S. 129)
übergehende ſchöne Gut Meſeberg; als damaligen Erbjägermeiſtern
des kurfürſtlichen Hofes aber mochte den Groebens wohl daran gelegen ſein,
in der unmittelbaren Nähe der großen Waldreviere (der Grimnitzer und
Werbelliner Forſten) begütert zu ſein, in denen die Kurfürſten vorzugsweiſe
[541] zu jagen liebten. So erſtanden die Groebens Lichterfelde, deſſen Feldmark
wenigſtens damals an jene Waldreviere grenzte.
In der Kirche befinden ſich noch drei Groebenſche Todten-Banner oder
Gedächtnißfahnen, die erſte zur Erinnerung an Otto v. d. Groeben,
† 1655, die zweite zur Erinnerung an Hans Ludwig, † 1669, die
dritte zur Erinnerung an Friedrich Otto v. d. Groeben, Obriſter und
Erbjägermeiſter, † 1697.
Dieſer letztre hat auch ein Grabdenkmal links zur Seite des Altars,
in Sandſtein. Dies Denkmal, von ziemlich bedeutender Größe, beſteht aus
zwei Hälften, von denen die eine Hälfte blos eine Inſchrift und den Namen
ſeiner Gemahlin (Maria v. d. Loe), die andre Hälfte die Portraitſtatue
(Hautrelief und buntbemalt) Friedrich Ottos v. d. Groeben zeigt. Er
trägt Küraſſier-Uniform, Feldbinde, Perrücke, Commandoſtab. Dazu Sprüche
und Inſchriften. — Die Groebens beſaßen Lichterfelde bis 1721.
Am Werbellin.
- Benutzt: Fiſchbach, Topographie. Beckmann, Churmark. F. Bru-
nold, „Abſeits vom Wege“ (ein Aufſatz in einem der Bar-
nim’ſchen Anzeiger). Mündliches.
Friedersdorff.
- Benutzt: General v. d. Marwitz, Memoiren. Papiere des v. d Mar-
witz’ſchen Familien-Archivs. Mündliches.
Auguſt Ludwig v. d. Marwitz.
- Benutzt: General v. d. Marwitz, Memoiren. Pertz Leben Steins.
Mündliches.
Alexander v. d. Marwitz.
- Benutzt: Marwitz’s Memoiren. Rahels Briefe. Papiere des v. d.
Marwitz’ſchen Familien-Archivs. Droyſen Leben Yorks.
Programme des „grauen Kloſters“ von 1804 und 1805.
Mündliches.
Eberhard von der Marwitz.
Anton Eberhard Conſtantin von der Marwitz wurde am 2. Decem-
ber 1790 zu Berlin geboren. Er befand ſich als Schüler (kaum 16 Jahre
alt) in der école militaire, als der unglückliche Ausgang der Jenaer
Schlacht die Franzoſen nach Berlin führte. Der Gouverneur der Anſtalt
[542] ſchoß ſich todt, der Vicegouverneur verlor den Kopf und überantwortete
ſich und ſeine Anſtalt (die er ohne Mühe noch hätte retten können) der
Gnade der Sieger. Dieſe ſchwankten, wie ſie ſich den halberwachſenen Schü-
lern dieſes Militärinſtituts gegenüber verhalten ſollten, zogen aber ſchließ-
lich das Sichere vor und machten ſie zu Gefangenen. Unter dieſen war
Eberhard von der Marwitz. Er wurde ſtreng bewacht, Urlaub nur gegen
Ehrenwort gegeben. So galt es denn zu fliehen. Er und ein befreundeter
Mitſchüler brachen zuſammen auf. Vorher ſchon hatten ſie ſich ein Pferd
zu verſchaffen gewußt und paſſirten glücklich das Thor. Ohne alle Raſt
ſetzten ſie ihren Weg fort, immer abwechſelnd der eine zu Fuß, der andere
zu Pferde, ſo daß ſie ſchon nach vierundzwanzig Stunden die zwanzig
Meilen bis Lenzen an der Elbe und über die mecklenburgiſche Grenze zurückgelegt
hatten. Nach kurzem Aufenthalt wanderten ſie weiter ins Holſtein’ſche. Erſt
hier waren ſie in Sicherheit, aber das Pferd auch ſo ruinirt, daß ſie es verſchen-
ken und beide zu Fuß gehen mußten. In Kiel fanden ſie ein Fiſcherboot, vertrau-
ten ſich in demſelben dem Meere an und trafen, ſechs Tage nachdem ſie Berlin
verlaſſen hatten, trotz dieſes weiten Umweges, auf der Inſel Rügen ein,
wo Eberhards älteſter Bruder eben in der Errichtung eines Freicorps be-
griffen war. Er trat in daſſelbe als Lieutenant ein. Bei der bald erfol-
genden Auflöſung des Corps nahm er den Abſchied, aber nur, um im
folgenden Jahre nach Oeſterreich zu gehen, wo alles auf die baldige Wieder-
aufnahme eines Krieges gegen den Eroberer hindeutete. Er trat als Cornet
(Standartenjunker) in das berühmte Chevauxlegersregiment Klenau ein
und avancirte in kürzeſter Friſt. Bei Regensburg (am 20. April) zeichnete
er ſich aus, bis der mörderiſche Tag von Aspern ſeiner ſo früh und ſo
brav begonnenen Laufbahn ein Ziel ſetzte. Er erhielt an dieſem denkwür-
digen Tage gleich zu Beginne der Schlacht den Auftrag, mit einer Abthei-
lung von zwanzig Reitern an das vom Feinde beſetzte Dorf Aspern heran-
zujagen. Er gehorchte und machte die Attake. Vierzig Schritte vor dem
Dorfe traf ihn eine Kanonenkugel, tödtete ſein Pferd und verwundete ihn
ſchwer am rechten Oberſchenkel.
Man brachte ihn als Gefangenen nach Nikolsburg in Mähren. Sein
Schickſal weckte Theilnahme und die liebevollſte Pflege ward ihm zu Theil,
beſonders nachdem ſein Bruder Alexander Berlin verlaſſen hatte, um in
daſſelbe Regiment einzutreten. Es ſchien auch eine Zeitlang, als werde
er dem Leben erhalten werden, der zertrümmerte Knochen hatte ſich bereits
handbreit erneuert, da ſtellte ſich ein Zehrfieber ein und nahm ihn fort.
Am 9. Oktober ſtarb er, am 10. wurde er beerdigt. Eine Compagnie des
30. franzöſiſchen Infanterieregiments gab bei der Gruft drei Salven und
der Stadtkommandant, ſowie vierzig franzöſiſche und mehrere verwundete
öſterreichiſche Offiziere geleiteten ihn zu Grabe. Er ruht auf dem Kirchhofe
zu Nikolsburg in Mähren, „hingeopfert dem unſinnigen Befehle eines
ſchwachköpfigen Untergenerals.“ So lauten die entrüſteten Worte ſeines
[543] älteſten Bruders. Die irdiſchen Ueberreſte des ſo jung Hingeſchiedenen ſind
der fremden Erde geblieben, ſeinem Andenken aber hat Auguſt Ludwig auf
dem ſtillen Begräbnißplatz der Familie einen Denkſtein errichten laſſen,
der die Inſchrift trägt: „Anton Eberhard Conſtantin von der Marwitz,
geb. zu Berlin den 2. December 1790, widmete ſich früh den Waffen, ſah
den Fall ſeines Vaterlandes 1806, kämpfte für dasſelbe, ſah es in Sklaverei
und floh, den Kampf für deutſche Freiheit ſuchend, 1808; fand ihn (den
Kampf) 1809 mit Ruhm bei Regensburg den 25. April, fiel bei Aspern
den 21. Mai 1809, duldete unausſprechlich bis zum 9. Oktober in Nikols-
burg in Mähren, wo er ſtarb, von den Seinigen betrauert, von den Fein-
den geehrt.“
Quilitz oder Neu-Hardenberg.
- Benutzt: v. Prittwitz-Gaffron „Leben Joachim Bernhards v.
Prittwitz und Gaffron.“ (Soldatenfreund, Märzheft 1863.)
Schadow’s Biographie, unter dem Titel: „Kunſtwerke und
Kunſt-Anſichten Gottfried Schadows.“ v. Wolzogen, „aus
Schinkels Nachlaß.“ Dorows Denkwürdigkeiten. Kloſe’s
Leben des Staatskanzlers Fürſten Hardenberg. Mündliches.
(Joachim Bernhard v. Prittwitz und Gaffron.)
Joachim Bernhard v. Prittwitz wurde am 3. Februar 1726 auf ſei-
nem väterlichen Gute Laſerwitz bei Stroppen in Schleſien geboren.
Sein Vater war Hauptmann in preußiſchen Dienſten. Joachim Bernhard
beſuchte bis zu ſeinem 15. Jahre das Gymnaſium zu Oels; als aber
Friedrich der Große Schleſien erobert und der proteſtantiſchen Partei zum
Siege verholfen hatte, verließ der junge Prittwitz, deſſen proteſtantiſche
Familie, mit ſehr wenigen Ausnahmen, den Kaiſerlichen Dienſt ſtets ver-
ſchmäht hatte, das Gymnaſium, um in die preußiſche Armee einzutreten.
Noch während des erſten Schleſiſchen Krieges, 1741, wurde er in das
Cadettenhaus in Berlin aufgenommen, trat aber ſchon im November deſ-
ſelben Jahres als Fahnenjunker in das Dragoner-Regiment von Poſa-
dowski, bei welchem er den Winterfeldzug nach Mähren, im Jahre 1742,
mitmachte. Im zweiten Schleſiſchen Kriege focht er 1745 als Fähnrich in
der Schlacht bei Hohenfriedberg gegen die Oeſtreicher und Sachſen, in deren
Reihen ſein einziger Bruder, bei Strigau ſchwer verwundet, ſeinen Tod
fand. Als Fähnrich hatte Joachim Bernhard, nach damaligen Verhältniſſen,
Offizierrang, Lieutenant wurde er erſt 1751, nach zehnjähriger Dienſtzeit.
Im ſiebenjährigen Kriege wurde er in der Schlacht bei Collin 1757
verwundet, außer ihm drei andre Prittwitze. Noch in demſelben Jahre zum
Stabsrittmeiſter ernannt, erkämpfte er ſich bei Zorndorf den Orden pour
[544] le mérite. Den 20. December 1758 wurde er als Rittmeiſter und Chef der
erledigten Escadron des gefallenen Oberſt v. Seel, auf den Wunſch des Gene-
rals v. Zieten, in deſſen Huſaren-Regiment verſetzt, das den größ-
ten Theil ſeines Ruhms, nächſt Zieten, ihm verdanken ſollte. Mit Zieten-
ſchen Huſaren begleitete er 1759 den General v. Wobersnow bei ſeinen
Zügen nach Polen und nahm an dem Gefecht bei Kay Theil. Es folgte
dann die Schlacht bei Kunersdorf, in der es ihm (vgl. S. 417) vergönnt
war, ſich durch Rettung des Königs einen unvergänglichen Ruhm zu er-
werben. In dem folgenden Jahre 1760 nahm Joachim Bernhard an der
Schlacht bei Liegnitz am 15. Auguſt und bei Torgau am 3. November
thätigen Antheil und rückte dann im Winter 1761 an der Spitze von 300
Zietenſchen Huſaren zu dem Detachement des Oberſten v. Loellhoefel, wel-
cher mit drei Frei-Bataillonen und zwei Reiter-Regimentern den Raum
zwiſchen der preußiſchen Armee in Sachſen und der Armee der Alliirten
bei Göttingen ausfüllen ſollte. Joachim Bernhard beſtand ein ſiegrei-
ches Gefecht bei Schlotheim in der Nähe von Sondershauſen und wurde
Major. Hervorragenden Antheil nahm er an dem Gefecht bei Langen-
ſalza, das am 15. Februar gegen 9 Bataillone Sachſen unter Graf Solms
geſchlagen wurde und ganz Thüringen den Preußen überlieferte. Einen
ähnlich glücklichen Kampf beſtand er im April gegen einzelne Detachements
der Reichsarmee in der Nähe von Saalfeld. Es waren klugberechnete
und kühnausgeführte Attacken nach der Zietenſchen Art. Außer dieſen De-
tachirungen, bei denen Joachim Bernhard ſelbſtſtändig commandirte,
war er bei den zahlreichen und glänzenden Gefechten des Zietenſchen Hu-
ſarenregiments ſelbſt, in dieſem und dem folgenden Jahre zugegen. Details
darüber fehlen. Am 7. November 1762 lieferte er den Oeſtreichern ein
glänzendes Gefecht am Landsberg und wurde in Anerkennung dafür
zwei Tage ſpäter und außer der Tour zum Oberſt-Lieutenant und
Commandeur des zehn Schwadronen ſtarken „Leib-Huſaren-Regi-
ments von Zieten Nr. 2“, das vor allen andern Huſaren-Regimentern
rangirte, ernannt.
Am 16. December 1762 vermählte er ſich, in Berlin, mit der ver-
wittweten Frau Marie Eleonore v. Parzewski-Temzin, geborenen Freiin
v. Seherr-Thoß, die damals erſt 23 Jahr alt war.
Nach dem Hubertsburger Frieden, am 27. März 1763, hatte, wie
Kurd v. Schoening erzählt, die Reſidenz Berlin das glänzende Schauſpiel, das
berühmte Zietenſche Huſaren-Regiment, von ſeinem Chef (dem „alten Zieten“)
und vom Commandeur v. Prittwitz geführt, unter Pauken und Trompeten-
ſchall und bei unermeßlichem Jubel des Volkes, einziehen zu ſehn. Joachim
Bernhard blieb mit ſeinem Regimente zu Berlin in Garniſon. (Die alte
Kaſerne in der jetzigen „Alexandrinen-Straße“ und die Stallgebäude am
Belle-Alliance-Platz gehörten dem Zietenſchen Huſaren-Regiment.)
[545]
1768 wurde Joachim Bernhard zum Oberſten, 1774 zum General-
Major und 1775 zum Commandeur en chef des Regiments Gensd’armes
ernannt. Dies ſtolze Cüraſſier-Regiment, das bis 1740, wo das Regiment
Garde du Corps formirt wurde, das erſte Regiment der Hausgarden ge-
weſen war und im ſiebenjährigen Kriege mit großem Ruhme gekämpft
hatte, rangirte in der Kavallerie gleich nach dem Regiment Garde du Corps
und hatte in der Hauptſtadt ſeine Garniſon.
Erſt 1785 wurde Joachim Bernhard zum General-Lieutenant und
1789 zum General der Kavallerie ernannt. 1790 nahm er ſeinen Abſchied;
er ſtarb am 4. Juni 1793. — An der Reiterſtatue Friedrichs des Großen
in Berlin ſteht er lebensgroß in Huſaren-Uniform, im Geſpräch mit Leſtwitz,
dem Beſchauer halb den Rücken zukehrend. Am bekannteſten iſt er durch den
Kupferſtich geworden, der die Rettung des Königs durch Zietenſche Huſaren
am Tage von Kunersdorf darſtellt.
(Die Frauen und Kinder des Fürſten Hardenberg.)
Der Fürſt war dreimal vermählt:
- a) mit Friederike Juliane Chriſtiane, Gräfin v. Reventlow, am
11. Juni 1774 vermählt; getrennt 1787; geſtorben 1792 in Re-
gensburg. - b) mit Sophie v. Lenthe, geb. v. Heßberg, 1787. Lebte nach
vielen Abenteuern erſt in Genua, dann in Neapel, und iſt auch
wahrſcheinlich dort geſtorben, - c) mit Charlotte Langenthal, geb. Schönemann (Schauſpie-
lerin).
Er lebte mit ihr etwa ſeit 1800. Wann er ſich mit ihr
vermählte, habe ich nicht finden können. Doch wurde die Ehe 1821 durch
privates Uebereinkommen getrennt. Nach dieſem Uebereinkommen hatte ſie
jährlich 6000 [...] und Glinike bei Potsdam als Wittwenſitz. Man rühmt
ihr einen unintereſſirten Charakter nach und erzählt, daß ſie auf einen we-
ſentlichen Antheil ihrer Anſprüche freiwillig verzichtete.
Der Fürſt hatte nur zwei Kinder, beide aus ſeiner erſten Ehe mit
der Gräfin Reventlow:
- a) den Grafen Hardenberg-Reventlow, (Chriſtian Auguſt Heinrich, geb.
19. Februar 1775); ſiehe den Aufſatz S. 430. - b) Anna Luzie Chriſtine Wilhelmine v. Hardenberg, geb. am 9. April
1776. Vermählt- α) mit dem bairiſchen Grafen Pappenheim am 26. Juni 1796.
- β) mit dem Fürſten v. Pückler-Muskau am 9. Oktober 1817.
Auch dieſe zweite Ehe wurde getrennt.
Ein Nekrolog des Fürſten-Staatskanzlers ſteht in der „Preußi-
ſchen Staatszeitung“ vom 17. December 1822.
35
[546]
Friedland.
- Benutzt: RiedelsCodex diplomaticus Brandenburgensis.Fidicin
Ober-Barnim. Geſchichte des Ciſtercienſer-Ordens. Mündliche
und briefliche Mittheilungen.
Cunersdorff.
- Benutzt: Pauli’s Leben großer Helden. Graf Walderſee’s Schlacht
bei Torgau. Adami’s „vor fünfzig Jahren“. Hitzig’s Leben
Chamiſſo’s. Mündliche und briefliche Mittheilungen.
(Johann George v. Leſtwitz), der Vater unſeres Johann
Sigismund v. Leſtwitz auf Friedland und Cunersdorff, wurde 1688 in
Schleſien geboren, machte unter den beiden erſten Königen den ſpaniſchen
Erbfolgekrieg und den Krieg in Pommern mit. Beim Sturm auf die Con-
treſcarpe von Stralſund (1715) wurde er ſchwer verwundet. Während der
beiden ſchleſiſchen Kriege zeichnete er ſich aus, beſonders bei Keſſelsdorf
1745 ward er Generalmajor; 1746 Chef des Schwartz-Schwerinſchen Re-
giments; 1754 Generallieutenant und Ritter des ſchwarzen Adlerordens.
Der König, der ihm beſonders gnädig war, hatte ihm ſchon vorher eine
Präbende im Jülichſchen und die Amtshauptmannſchaft zu Lyck in Oſt-
preußen verliehn. Bei Ausbruch des 7jährigen Krieges rückte er mit in
Sachſen ein und focht im nächſten Jahre (1757) bei Prag, Collin und Rei-
chenberg. Beſonders in letzterer Schlacht zeichnete er ſich aus und entſchied ſie. (?)
Der König ernannte ihn darauf zum Kommandanten von Breslau,
deſſen Belagerung durch die Oeſterreicher unmittelbar folgte. Leſtwitz konnte
jedoch die weitläuftige Stadt mit ſeiner ſchwachen Garniſon nicht halten
und übergab ſie daher den Oeſtreichern nach einer den 24. November ge-
ſchloſſenen Kapitulation, vermöge welcher er nebſt ſeiner Beſatzung freien
Abzug erhielt, ſich aber verbinden mußte, im damaligen Kriege wider die
Kaiſerin-Königin nicht weiter zu dienen. Der König war mit dieſer Ueber-
gabe ſehr unzufrieden und Leſtwitz (ähnlich wie General Fink nach der
Kapitulation von Maxen) fiel in Ungnade. Nur Fink’s Loos war freilich
härter und unverdienter, er hatte dem Könige viel näher geſtanden und
die Zeichen der Mißachtung trafen ihn viel entſchiedener. Leſtwitz (wie
S. 455 erzählt) kam noch erträglich davon. Er ſtarb 80 Jahre alt, nach
63jähriger Dienſtzeit, am 27. Juli 1767.
Portraits in Schloß Cunersdorff.
- 1) Portrait des Generallieutenants Johann George v. Leſtwitz;
(deſſen, der nach der Kapitulation von Breslau in Ungnade fiel). - 2) Seiner Gemahlin, einer geb. v. Kottwitz.
[547]
- 3) Portrait des Generalmajors Hans Sigismund v. Leſtwitz;
(des Siegers von Torgau). - 4) Seiner Gemahlin, einer geb. v. Treskow.
- 5) Frau v. Friedland; Paſtellbild, en profile.
- 6) Staatsminiſter Adrian v. Borcke; (Gemahl der Frau v. Friedland).
- 7) Graf Peter Alexander v. Itzenplitz.
- 8) Gräfin Itzenplitz (geb. v. Borcke). Sie trägt nicht Frauentracht,
ſondern — bei kurzem, gekräuſeltem Haar — einen blauen, weiten Sammt-
Hausrock mit Pelz beſetzt und hochſtehendem Pelzkragen, über den noch eine
getollte Fraiſe hinausragt. Das Ganze ſehr eigenthümlich. - 9) Ein Portrait von Albrecht Thaer.
Der künſtleriſche Werth dieſer Portraits iſt nicht groß; kleinere
Bilder, nach denen die größeren Oelportraits ausgeführt wurden (zum
Theil vom alten Profeſſor Weitſch) ſind meiſt beſſer. Am meiſten Werth
dürften die Portraits der jüngeren Frau v. Leſtwitz, geb. v. Treskow,
und des Staatsminiſters Adrian v. Borcke haben.
Das Pfulen-Land.
(Portraits im Herrenhauſe zu Jahnsfelde.)
- Ernſt Ludwig v. Pfuel, Generalmajor (1718—1789).
- Ernſt Ludwig v. Pfuel, General-Lieutenant (1714—1803).
- Johanne v. Pfuel (geſt. 1782).
- Adelheid v. Pfuel geb. v. Belzig.
- Clara v. Pfuel geb. v. Rochow.
- Friedrich Ehrenreich v. Rochow (1722—1771).
- Friedrich v. Pfuel, Generallieutenant (1781—1846).
- Arthur Heino Julian v. Pfuel. (Geb. 5. Mai 1815, geſt. zu Carls-
ruh in Baden den 31. December 1844.)
Außerdem noch viele andre Bildniſſe. Unter den hier angeführten ſind
die Damenportraits und das des Friedrich Ehrenreich v. Rochow, das
mit Eleganz und einer gewiſſen Bravour gemalt iſt, die beſten.
Die Porträts in Wilkendorf ſind zum Theil aus der alten, nun-
mehr ausgeſtorbnen v. Brieſt’ſchen Familie. Der letzte Sproß der Familie,
eine Tochter, war an Friedrich de la Motte Fouqué vermählt. (Landrath
v. Brieſt, auf Nennhauſen im Havelland, bekannt durch den klugen Bei-
ſtand, den er der Armee des großen Kurfürſten erſt bei der Ueberrumpe-
lung von Rathenow und dann ſpäter auf ihrem Marſche nach Fehr-
bellin leiſtete.)
[548]
Kienbaum.
(Dorf und Kloſter Kagel.)
In nächſter Nähe von Kienbaum, am Liebenberger See, liegt das
alte Dorf Kagel (früher, wie Kienbaum, dem Kloſter zu Zinna zugehö-
rig), das in neuerer Zeit zu einer intereſſanten Controverſe Veranlaſſung
gegeben hat. Nach Anſicht der Einen wäre es dies alte Dorf Kagel, in
dem ſich das allererſte märkiſche Kloſter befunden hätte und zwar ein
ſogenanntes „Feldkloſter“, das im Jahre 1160, ſo meinen ſie, durch den
zum Chriſtenthume übergetretenen Wendenfürſten Jaczko gegründet und
mit Ciſtercienſer-Mönchen beſetzt wurde. Die Mönche dieſes Feldkloſters in
Kagel waren es dann, die 11 Jahre ſpäter (1171) das neugegründete, grö-
ßere und beſſer dotirte Kloſter in Zinna beſetzten. v. d. Hagen und Berg-
haus theilen dieſe Anſicht; Fidicin hingegen will von der Priorität
eines „Kloſters Kagel“ nichts wiſſen und meint, daß die betreffende
Stelle im Zinnaer Erbregiſter von v. d. Hagen falſch ausgelegt worden ſei.
Appendix A
Druck: Kislingſche Buchdruckerei in Osnabrück.
[][][]
bei den Fußtruppen, die, unter dem Oberbefehl General Görtzke’s, den
Reiterregimentern nachrückten.
Europa ein Gefühl freudigen Dankes. Aus Rom wurde berichtet: „der
Papſt habe mit lauter Stimme und unter den Dankesthränen der Car-
dinäle das Gebet verrichtet.“ Ueberall wurden Feſte gefeiert (in Genua,
Madrid, Brüſſel ꝛc. drei Tage lang) und der Kurfürſt ſchrieb, „daß er die
vergnügte, für die geſammte Chriſtenheit ſo importante Nachricht während
des Gottesdienſtes in Potsdam empfangen und dem Allerhöchſten für die
Beſiegung eines ſo blutdürſtigen Feindes öffentlich gedankt habe.“ Man
empfand die Abwendung einer Gefahr, die das Chriſtenthum überhaupt
bedroht hatte.
dem Orden des goldenen Vließes, vor dem Zelte des Obergenerals, des
Herzogs Karl von Lothringen, zur Schau geſtellt. Windlichter umſtanden
den Sarg und alles drängte ſich herbei, den Gefallenen zu ſehen. — Karl
von Derfflinger war derſelbe, bei deſſen Todesnachricht der alte Feldmar-
ſchall die bekannten Worte: „Warum hat ſich der Narr nicht beſſer in
Acht genommen!“ geſprochen haben ſoll. Wilhelm von Oranien ſagte
nach der Schlacht an der Boyne, als ihm der Tod des Biſchofs von Derry
gemeldet wurde: „Ganz recht, warum war er auch, wo er nicht hin gehört!“
Es iſt ſehr wahrſcheinlich, daß dieſe Wendung, etwas verändert, auf Derff-
linger übertragen worden iſt.
Emmetah Uellah, fünfzig Jahre ſpäter in Preußen eine Rolle. Im Jahr
1766 kam der bekannte Lord Marſhall, der letzte „Freund“ des Königs
nach Potsdam und lebte in dem nach ihm genannten Hauſe in Sans-
ſouci. Ihn begleitete ſeine Pflegetochter Emmetah Uellah, die Tochter eines
Janitſcharenhauptmanns, welche ſein Bruder, der Feldmarſchall Keith, im
Jahre 1737 bei der Erſtürmung der Feſtung Oczakow, vor ſicherem Tode
gerettet hatte. Emmetah Uellah („die Barmherzigkeit Gottes“) war eine
auffallende Schönheit, ſorglich von ihrem Pflegevater gebildet und in hohem
Grade liebenswürdig. Schon 1747, als ſie mit dem damals noch kaiſerlich
ruſſiſchen Feldmarſchall zum erſtenmal nach Berlin kam, hatte ſie allge-
meines Aufſehen durch ihre eigenthümliche Schönheit und Lebhaftigkeit er-
regt, dann auf den Geſandtſchaftsreiſen ihres Pflegevaters ſich ſo vortheil-
haft ausgebildet, daß ſie mit ungezwungenſtem Anſtand die Honneurs des
Hauſes machen konnte. D’Alembert erzählt von ihr, Lord Marſhall, ob-
gleich ſchon im Greiſenalter, habe eine leidenſchaftliche Neigung für ſie ge-
faßt, ſei aber nicht erhört worden. Emmetah erwiederte auf den Antrag des
Lords: „Ich bin deine Sklavin, und du kannſt mit mir ſchalten, wie du
willſt; aber du würdeſt mich ſehr unglücklich machen, wenn du von dei-
nem Rechte Gebrauch machen wollteſt. Ich liebe dich wie eine zärtliche
Tochter ihren Vater nur lieben kann, mehr aber verlange nicht von mir!“
Lord Marſhall dachte viel zu edel, um der Unterwürfigkeit einer Sklavin
zu verdanken, was die Liebe des Mädchens ihm verſagte, und ſelbſt die
giftigſte Zunge unter den Tiſchgenoſſen Friedrichs hat es nicht gewagt,
das Verhältniß zwiſchen beiden zu verdächtigen. Der König, welcher nicht
liebte, Frauenzimmern in Sansſouci zu begegnen, ſah ſie nur bei ſeinen
Beſuchen in Lord Marſhalls Hauſe, wo ſie in den erſten Jahren die lie-
benswürdigſte Wirthin zu machen wußte. Emmetah war wohl vorzüglich
Potsdamer Garniſon geſucht und umgeben ſah, die er dann für die ſpa-
niſche und engliſche Literatur, namentlich für den damals in Deutſchland
noch wenig bekannten Shakeſpeare zu intereſſiren ſuchte.
bitterung herrſchte damals überhaupt in der brandenburgiſchen Armee, und
Schöning, was neben manchem andern ihn entſchuldigen mag, war all
die Zeit über gereizt. Vielfach wurden ihm die Honneurs verſagt, beſon-
ders ſeitdem Feldmarſchall Schomberg bei der Armee war. Graf Dohna
z. B., der — ein Anhänger Schombergs und ein Gegner Schönings —
als Obriſtlieutenant bei den Grands Musquetaires ſtand, rief den Offi-
zieren zu, als Schöning ihre Reihen paſſirte: „Meine Herren, daß Sie
nicht grüßen! Ich verbiete es Ihnen.“
ſtändig gerieth, unverſchuldet. General von Promnitz wollte ſich mit ihm
ſchießen, weil Schöning ſtatt ſeiner das Commando zur Verfolgung Horns
erhalten hatte, und General Beauvais d’Espagne nahm 1687 den Ab-
ſchied, „weil er es nicht ertragen konnte, daß man dem General Schöning,
der nach dem ungariſchen Feldzug ein Liebling des großen Kurfürſten ge-
worden war, den Vorzug einräumte.“
rend derſelben mag er mir noch erlauben, davon in ſeinem Dienſte Ge-
brauch zu machen.“
die Landſchaft gezogene Linie die Schönheit des Bildes weſentlich erhöhen
die Havel zieht. Der Blick von Babelsberg erhält erſt dadurch ſeinen
vollen Reiz.
über die „Stadtſtelle“, die es beſtreiten, daß hier eine Stadt geſtanden
habe. Er nimmt an, daß es eine heidniſche Begräbnißſtätte gewe-
ſen ſei und findet in den Steinreihen nichts als eine Art Feldſtein-Um-
zäunung oder Einfriedigung dieſer Stätte. Er irrt darin ganz unbedingt.
Hätte er die Stelle geſehen, wie ſie jetzt daliegt, ſo hätte er ſich auf den
flüchtigſten Blick von ſeinem Irrthum überzeugen müſſen.
nur kurz „der Blumenthal“ genannt.
vielleicht, ſicherlich aber in der Mark, völlig typiſch auf. Es giebt Gruppen,
Rubriken. Jede Rubrik hat ihre beſtimmte Anzahl von Nummern. Rubrik
„Teufelsſee“ acht Nummern, „heiliger See“ acht Nummern. Dazu geſellen
ſich noch folgende Rubriken: ſchwarze Frau, weiße Frau, erſtochener Bru-
der, ſtummer Mönch, frommer Abt, der über den See ſchreitet ꝛc. Die
Rubriken „Unterirdiſcher Gang“ und „vergrabener Schatz“ haben, wie
überall, die meiſten Nummern.
Stelle ihrer Memoiren: „ich war all die Zeit über ſo leidend, daß ich
verſichern darf, zwei Jahre lang von nichts anderem als Waſſer und
trocken Brot gelebt zu haben“. Es ſcheint faſt, daß ſie die Entſagung, die
ihr ihr Krankheitszuſtand auferlegte, der Kärglichkeit der Königlichen Tafel
zur Laſt legen will. Es iſt nicht ſehr wahrſcheinlich, daß es ſo knapp in
Wuſterhauſen hergegangen ſein ſollte. Der König war ein ſehr ſtarker
Eſſer, und alle Perſonen von gutem Appetit haben die Maxime: „leben
und leben laſſen“. Außerdem liegen glaubhafte Berichte vor, aus denen
ſich ganz genau erſehen läßt, was an Königs Tiſch geſpeiſt wurde. Es
gab: Suppe, geſtovtes Fleiſch, Schinken, eine Gans, Fiſch, dann Paſtete.
Dazu ſehr guten Rheinwein und Ungar. In Wuſterhauſen kamen noch
(weil es die Jahreszeit mit ſich brachte), Krammetsvögel, Leipziger Lerchen
und Rebhühner hinzu, beſonders auch Früchte zum Deſſert, darunter die
ſchönſten Weintrauben. Das klingt ſchon einladender, als die Beſchreibung
der Prinzeſſin.
wurde, befindet ſich noch jetzt ein ſteinernes Monument, welches den Hirſch
in liegender Stellung darſtellt.
an der Mittenwaldner Kirche, hat die lateiniſchen Diſtichen in folgenden
Alexandrinern wiederzugeben verſucht:
in Weſel geſprochen. Als der König mit dem Degen auf den Kronprinzen
eindrang, warf ſich M. dazwiſchen und rief: „Sire, durchbohren Sie
mich, aber ſchonen Sie Ihres Sohnes“. Ueberhaupt zeigen die Vorgänge
jener Zeit, daß hoher Muth an gefährlicher Stelle am beſten gedeiht.
ſeiner Frau, ſeinen Kindern nicht wieder erkannt. Aber das Vögelchen im
Käfig flatterte wie vor Freuden hoch auf und ſank dann todt hin“.
weiſt mehr Erinnerungen an die Wulffen’ſche Zeit auf, als Stein-
hoefel. Außer einem Epitaphium zu Seiten des Altars, befinden ſich noch
6 Wulffenſche Grabſteine in der Kirche, die im Mittelſchiff liegen und faſt
den halben Raum deſſelben einnehmen. Näheres über dieſe Grabſteine und
ihre Inſchriften ſiehe in den Anmerkungen. Einer derſelben zeichnet ſich
durch eine ganz beſondre Sinnigkeit aus. Luiſa Lucretia von Wulffen
aus dem Hauſe Steinhöfel, war an einen von Wulffen in Tempelberg
vermählt und ſtarb 1720, wahrſcheinlich im Kindbett. Am Ober-Ende des
Grabſteins bemerkt man zwei Bäume, die ihre Wipfel, wie in Zärtlichkeit,
bindet uns“. Zu unterſt des Steines (nachdem der Tod der jungen
Frau gemeldet) ſteht ein Baum, darunter die Inſchrift:
Ein ſiebenter Grabſtein, der eine Zeitlang auch im Kirchenſchiffe lag,
ſteht jetzt an einem der Wandpfeiler. Es iſt dies der Grabſtein der Frau
Anna Lucretia von Goelnitz, einer gebornen von Goetze. Sie lebte,
als Wittwe, in dem ihr befreundeten Wulffenſchen Hauſe und wurde, als
ſie in Tempelberg ſtarb, in der Tempelberger Kirche beigeſetzt. Sie hatte
aber keine Ruhe unter den Wulffens (trotzdem ſie ſo befreundet mit ihnen
war) und ſehnte ſich zu den Goetzes zurück. Es begann im Tempelber-
ger Schloß zu ſpuken und Margarethe von Wulffen, die Freundin der
Verſtorbenen, hörte allnachts ein Klopfen und Rufen, und ſo oft ſie in
die Kirche trat und nach dem Grabſtein hinüberſah, war es ihr als ob
dieſelbe Stimme riefe: „Grete, mach’ auf“. Man nahm endlich den ſchwe-
ren Grabſtein fort und ſtellte ihn an die Wand. Seitdem ward es ruhig.*)
von Berlin, berichtet; es iſt das die Geſchichte vom „franzöſiſchen Tambour“.
Das betreffende Dorf gehörte damals (1813) der alten Familie v. H. — Vater und Sohn
(der älteſte) ſtanden im Felde; die Mutter und die jüngeren Geſchwiſter aber lebten,
ſeit dem Tage von Großbeeren, in der nahen Hauptſtadt. So war das Herrenhaus
verwaiſt. Der älteſte Sohn, unmittelbar nach der Schlacht bei Dennewitz, nahm Ur-
laub und kam herüber, um auf dem väterlichen Gut, das viel Einquartierung gehabt
hatte, nach dem Rechten zu ſehn. Er traf ſpät Abends ein. Bei ſeiner Ankunft baten
ihn die Leute, nicht im Schloß ſondern im Wirthſchaftshauſe zu ſchlafen: „im Schloſſe
ſpuke es ſeit 14 Tagen“. Herr v. H. nahm natürlich keine Notiz davon und bezog, wie
immer, ſeine Giebelſtube im Herrenhaus. Um Mitternacht wurde er durch Trommel-
wirbel geweckt und als er aufſprang, hörte er deutlich, daß durch das ganze öde Schloß
hin, treppauf treppab die franzöſiſche Reveille geſchlagen wurde. In der nächſten Nacht
wiederholte es ſich. Herr v. H. ſtellte nun Nachforſchungen an und man entdeckte zuletzt
in einem der Keller des Hauſes, die Trommel neben ſich, einen franzöſiſchen Tambour,
der todt unter Werg und Hobelſpähnen lag. Er hatte eine tiefe Kopfwunde. Wie er dort
hinkam, wußte niemand zu ſagen. Er erhielt nun ein ehrlich Begräbniß und das Trom-
meln wurde nicht länger gehört.
der Jordan-See auf der Inſel Wollin. Still, dunkel, einſam, von
Kiefern eingeſchloſſen, lag er da. Braune, halbverfaulte Baumſtämme
überragten hier und da ſeine Fläche, ſo daß es war, als richteten ſich Kro-
kodile auf und ſögen mit zurückgebogenem Kopf die Nachtluft ein. Die
Blätter und Stiele der Nymphäen machten den See unpaſſirbar. Guter
Wille und wenig Geſchmack haben dies koſtbare Stück Natur zerſtört.
Die Baumſtümpfe ſind fort und die Nymphäen auch; ſtatt ihrer iſt ein
Kahn da, der nun über die glatte, proſaiſch gewordene Fläche hingleitet,
als wär’ es ein See wie jeder andre.
freilich noch nicht an bewährter Freiheitsliebe, (das ſoll noch erſt
kommen), den Dithmarſchen verwandt. Die ausgehobenen Rekruten
gelten jedesmal als ein beſonders treffliches Material. Mit dem Bewußt-
ſein hiervon geht allerdings viel Uebermuth Hand in Hand und die Brücher,
zumal auf den Canton-Verſammlungen, lieben es, die „hungrigen Kerle
von der Höhe“ zu tyranniſiren. Einer (ein Angermünder Poſtillon), der
mir davon erzählte und ſeinerzeit unter dieſer Tyrannei gelitten haben
mochte, fügte hinzu: es wäre mitunter nicht auszuhalten, wenn nicht die
Ukermärker wären; „die bringen alles wieder zurechte.“
ſchall Illo ſchrieb ſich eigentlich Ilow, oder Ylow, auch Ihlow (alle
wegs aus Böhmen oder Croatien, ſondern aus dem Sternbergiſchen
Kreiſe in der Neumark gebürtig. Dorf Ihlow im Oberbarnim aber iſt
muthmaßlich das Stammgut der Familie. Noch jetzt iſt das Ihlowſche
Wappen, ſo wie ein Ihlowſcher Leichenſtein in der Kirche des letztgenann-
ten Dorfes zu finden. Kein andres Land war übrigens während des
30jährigen Krieges ſo ergiebig an Generalen und Kriegsoberſten als die
Mark. Ich nenne hier nur folgende: Hans Georg von Arnim, von Kö-
nigsmark, Otto Chriſtoph von Sparr, Ernſt Georg von Sparr, Götz,
Illo, Adam von Pfuel, Joachim Ernſt von Goertzke und vieler andrer
(Klitzing, Rochow, Kracht ꝛc.) zu geſchweigen.
kenmarſche, der der Schlacht von Zorndorf vorherging (vgl. Zorndorf)
bereits Vortheile von der veränderten d. h. mehr paſſirbaren Geſtalt des
Bruchs gezogen. Dies iſt jedoch höchſt wahrſcheinlich eine zu Ehren des
Bruchs und ſeiner Melioration erfundene Geſchichte, da die Zorndorfer
Schlacht am 25. Auguſt ſtattfand, alſo zu einer Jahreszeit, wo das Bruch
immer trocken und paſſirbar zu ſein pflegte.
dörfern vorkommenden wendiſchen Bevölkerung ſchreibt man mir aus einem
dieſer Dörfer: „Man giebt hier im Allgemeinen dem Charakter der wen-
diſchen Bevölkerung vor dem der deutſchen Coloniſten den Vorzug. Die
Wenden ſind allerdings ſchwerfällig, abergläubiſch und geiſtig weniger
begabt als die „Pfälzer“ (die allgemeine Bezeichnung für die Deutſchen),
aber an Kraft, Fleiß und Ausdauer ſind ſie den Deutſchen gleich, während
ſie dieſelben an Treue und Zuverläſſigkeit übertreffen. Die Männer haben
Mädchen und jungen Frauen hingegen zeigen vollere Formen, friſche Far-
ben (nicht den Pergament-Teint andrer Luch- und Bruchgegenden) und
ſind oft ſehr hübſch; die dunklen Augen voll Feuer und Leben.“
Rubehn in Groß-Neuendorf, der dankenswerthen aber freilich ſchwierigen
Aufgabe unterzogen, der wendiſchen Vorgeſchichte des Oderbruchs nachzu-
ſpüren und Material dafür zu ſammeln. Dies Material, in das mir ein
Blick geſtattet war, iſt reich und inſtruktiv; der Sammler indeß ſcheint
mir darin irre zu gehn, daß er geneigt iſt, den Sprüchen und Sagen,
deren er viele zuſammengetragen hat, ein größres Alter beizumeſſen, als
ihnen zukommt. Mit andern Worten, er vermuthet da wendiſch-urſprüng-
liches oder im Oderbruch gewachſenes, wo nur deutſch-importirtes
vorliegt. Die Sagen, die ich ſeiner Mittheilung verdanke, finden ſich, faſt
ohne Ausnahme, in den Landestheilen (Pfalz, Schwaben, Niederſachſen)
wieder, aus denen die Coloniſirung des Oderbruchs erfolgte. Eine unter
dieſen Sagen indeß, wiewohl ſicherlich ebenfalls deutſch, mag um ihrer
ſelbſt willen einen Platz an dieſer Stelle finden. Es iſt das die Geſchichte
vom „Rothmützeken“:
Bei einem Reetzer Fiſcher vermiethete ſich einſt ein Knecht, der immer eine rothe
Mütze trug, weshalb er im Dorf „Rothmützeken“ genannt wurde. Alle Sonn-
tag, wenn die andern Leute zur Kirche gingen, ſtieg er auf den Stallboden, wo
allerlei kleine Männer, die „Untererdſchken“, zu ihm kamen und Spiel und Lärm
und lautes Lachen mit ihm vollführten. Wenn dann die Hausleute aus der Kirche
zurückkamen, kam „Rothmützeken“ wieder vom Stallboden herunter und war mun-
ter und guter Dinge. Das dauerte eine ganze Zeit, wohl über Tag und Jahr.
Eines Sonntags, es war der Sonntag nach Weihnachten, ſtieg er auch wieder auf
den Stallboden, während die andern nach der Kirche waren und das Lärmen und
Poltern und Lachen nahm wieder ſeinen Anfang wie früher, nur viel wilder und
lauter. So ging es wohl eine Stunde; als aber der Prediger auf der Kanzel eben
Amen geſagt hatte, da gab es einen Knall, der die Kirche und alle Häuſer im
Dorf erſchütterte, und als die Leute nach Hauſe ſtürzten, fanden ſie die Stallboden-
thür weit auf die Straße geſchleudert, Rothmützeken aber an einem Kreuzbalken er-
hängt. Sie begruben ihn in eine Ecke des Kirchhofs. Er hatte aber nicht Ruh im
Grabe. Immer in der Sonntagsnacht nach Weihnachten erſchien er auf dem Kirch-
hof und die Hirten, die damals (wo im Sommer das Bruch unter Waſſer ſtand)
oft noch um die Weihnachtszeit ihr Vieh auf die Weide trieben, ſahen ihn dann,
dürr wie ein Skelett, aber er trug immer noch die rothe Mütze. Daran hatten ſie
auch erkannt, daß es kein andrer ſein konnte als „Rothmützeken.“
damals folgende Ortſchaften: Guſow, Kienitz, Platkow, Quappendorf,
Quilitz (jetzt Neu-Hardenberg), Rathſtock, Sachſendorf, Tucheband, Manſch-
now, Gorgaſt, Golzow, Zechin, Werbig, Letſchin, Genſchmar, Langſow,
Hathenow, Sietzing, Wuſchewir, Friedland, Metzdorf, Kunersdorf, Blies-
dorf, Ortwig, Neuendorf, Hacknow, Werder, Wollup (berühmt durch Koppe,
der es 30 Jahre lang bewirthſchaftete). Dieſe Ortſchaften ſind ſeitdem an
Reichthum und Bedeutung gewachſen (Letſchin allein hat gegen 4000 Ein-
wohner), aber ihre Zahl hat ſich, ein paar Ausnahmen abgerechnet, nicht
erweitert. Die vorhandenen Dörfer wuchſen in ſich, aber es kamen nicht
neue hinzu.
nung verſchieden, doch iſt es fraglich, ob ſich dieſe Verſchiedenartigkeit auf
etwas Nationales zurückführen läßt. Vielleicht ſind die Gründe nur
lokaler Natur. Das Vorhandenſein oder das Fehlen eines Waſſers,
anderer Zufälligkeiten zu geſchweigen, mag ſolche Unterſchiede geſchaffen
haben. Neu-Barnim (Pfälzer-Dorf) iſt langgeſtreckt, und eine Baum-An-
lage, die ſich mitten durch die breite Dorfſtraße zieht, theilt dieſe in drei
Längs-Theile, in zwei Fahrwege, rechts und links, und einen Baumgang
zwiſchen denſelben. Neu-Trebbin iſt ähnlich, wenn wir nicht irren. Neu-
Lewin (das mit Polen beſetzte Dorf) präſentirt ſich maleriſcher. Die Dorf-
ſtraße entlang läuft ein Fließ, das auf ſeiner ganzen Länge von ſchräg
oder auch terraſſenförmig anſteigenden Gärten eingefaßt iſt. Zwiſchen den
Häuſern und dieſen Gärten zieht ſich rechts und links der Fahrweg. Die
Häuſer ſelbſt haben vielfach Lauben und Veranden und der Fußwanderer,
der hier an einem Sommerabend des Weges kommt und vor den Häu-
ſern das Singen hört, während die dunklen, ſchöngewachſenen Mädchen
mit den klappernden Eimern zum Brunnen gehen, der vergißt auf Augen-
blicke wohl, daß er das verſpottete Sumpf- und Sand-Land der Mark
Brandenburg durchreiſt.
des Kreiſes in Händen der Barfuſe geweſen zu ſein, da es heißt, daß auf
einem 1720 abgehaltenen Kreistage nur zwei Stimmen nicht barfuſiſch
geweſen ſeien. Dieſe zwei waren: v. Jena und v. Pfuel.
ſchaft“ iſt allerdings theilweis eine Compilation, aber es iſt keine
Ueberſetzung. Thaers Arbeit iſt aus der gründlichen Kenntniß und
Benutzung von mehr als 100 engliſchen Werken hervorgegangen. Die
engliſche landwirthſchaftliche Literatur lieferte ihm das Material, eine Fülle
von Details; das Zuſammenfaſſen, Ordnen, Aufbauen — das Licht hin-
eintragen in das Chaos, iſt Thaers Verdienſt.
50jährige Feſt ſeines Beſtehens gefeiert hatte, iſt das Inſtitut eingegan-
gen. Es war das, bei total veränderten Zeitverhältniſſen, das Verſtändigſte,
was geſchehen konnte. Der gegenwärtige Beſitzer von Moeglin (Landes-
ökonomierath A. Thaer, der jüngſte Sohn ſeines Vaters) hatte die Aka-
demie wie eine Ehren-Erbſchaft angetreten und hielt es, durch dreißig
Jahre hin, für ſeine Pflicht, die Schöpfung ſeines Vaters, ſelbſt mit
Opfern, aufrecht zu erhalten. Es kam aber endlich die Zeit, wo das Ge-
fühl, durch ähnliche Inſtitute, die der Staat mit reichen Mitteln ins Le-
ben gerufen hatte, überflügelt zu ſein, ſich nicht länger zurückweiſen
ließ und wo die Wahrnehmung eines wachſenden Mißverhältniſſes zwiſchen
Aufgabe und Opfer endlich den Rath eingab, dieſe Opfer einzuſtellen.
Das iſt nun geſchehen. Es wird der Moegliner Akademie nicht nur das
Verdienſt verbleiben, als erſtes Inſtitut derart und als Muſter aller
folgenden in Deutſchland dageſtanden zu haben, es wird ſich zu dieſem
Verdienſt auch die Ehre geſellen: zu rechter Zeit vom Schauplatz abgetre-
ten zu ſein. 773 Landwirthe haben im Lauf eines halben Jahrhunderts
ihre wiſſenſchaftliche Ausbildung in Moeglin empfangen, und was die
Landwirthſchaft in unſren alten Provinzen jetzt iſt, das iſt ſie zum großen
Theil durch Thaer und ſeine Schule. Natürlich ſind „die Jungen immer
klüger als die Alten“ und der „überwundene Standpunkt“ ſpielt auch
hier ſeine Rolle; aber ſelbſt unter den Fortgeſchrittenſten wird niemand
ſein, der undankbar genug wäre, die ſchöpferiſche Bedeutung Thaers und
mittelbar auch ſeiner Akademie in Zweifel zu ziehen.
Gegenſtände innerhalb derſelben ſtammen von Herkulanum und Pompeji.
walde damals, wie überall im Lande, noch vollauf Gelegenheit gegeben.
Denn der Sinn für „ſchöne Natur“ iſt, wie die „Landſchaftsmalerei“
(bekanntlich die jüngſte Tochter der Malerkunſt), von ſehr modernem Da-
tum, namentlich aber in der Mark. Die eigentliche märkiſche Bevöl-
zeugen kann, der an hübſchgelegenen Orten einer Vergnügungspartie mär-
kiſcher Stadt- und Dorfbewohner beiwohnt. Sie ſind ganz bei ihrem
Vergnügen, aber gar nicht bei der „Landſchaft“, der ſie in der Regel
den Rücken zukehren. Der Berliner „Sommerwohner“ iſt nicht deshalb
ſo beſcheiden in ſeinen Anſprüchen, weil ihm die märkiſche Natur nichts
bietet, ſondern weil es ihm ſchließlich gar nicht darauf ankommt, ob die
Sache ſo oder ſo iſt.
zu bezweifeln, ſo wirft der hier erzählte Vorgang ein intereſſantes und
in Berlin. 1706 ſtürzte am Schloß der von Schlüter (freilich gegen ſeinen
Rath) erbaute Münzthurm ein und von da ab begann die ſiegreiche Ka-
bale ſeiner Gegner. Das Verfahren gegen Schlüter iſt immer als hart
und ungerecht verurtheilt worden. Bringt man nun aber andererſeits in
Anſchlag, daß faſt unmittelbar darauf, im Sommer 1707, das „Münz-
thurm-Malheur“ ſich in Freienwalde wiederholte, ſo erſcheint das
harte Verfahren gegen Schlüter um vieles verzeihlicher. Die Kabale bleibt
verwerflich, aber der König urtheilte nach dem Augenſchein. (Neue Arbeiten
Profeſſor Adlers haben aus den damaligen Berliner Bauakten ohnehin
dargethan, daß Schlüter, bei all ſeiner Größe und Genialität, doch keines-
wegs ſchuldlos war und daß er in allem, was conſtruktive Kenntniß an-
ging, allerdings hinter ſeinem, ihm ſonſt in keiner Weiſe ebenbürtigen
Rivalen, Eoſander von Goethe, zurückblieb.)
wohl erhalten bis auf den heutigen Tag. Es wird noch bewohnt und
bietet, wie wir nicht zweifeln, einen beſſeren Aufenthalt, als mancher mo-
derne Bau. Die alten Uchtenhagen-Räume dienen den verſchiedenſten öko-
nomiſchen Zwecken: das Burgverließ iſt ein Wirthſchaftskeller, die große
Halle eine Waſchküche geworden; ein anderes Zimmer (man verzeihe die-
ſen Excurs), drin ein ſchwediſcher Oberſt in der Nach-Uchtenhagenſchen
Zeit den Amtmann von Neuenhagen über Strohfeuer röſten ließ, um die
verborgenen Schätze zu erkunden, diente noch vor kurzem als Schlafzim-
mer der jetzigen Beſitzer des Hauſes. Was aber beſſer als alles andre er-
halten iſt und mehr als alles andre intereſſirt, das iſt ein gewölbter
Raum, der jetzt als Amtsſtube dient, die ehemalige Schloßkapelle der
Uchtenhagens. Die Altarwand (noch vollkommen gut erhalten) iſt ein um-
fangreiches, aus verſchiedenen Theilen zuſammengeſetztes Stuck-Relief, das
(nach Art ſolcher Stuckbilder) nicht einen freiſtehenden Schrein bildet,
ſondern in das Mauerwerk ſelber, wie eine Wandverzierung, eingelaſſen
blicken; dies Hauptſtück des Bildes ruht aber auf einer Art Fries, in
deſſen Feldern wir die ſymboliſchen Figuren des Hahns, des Greifen, des
Pelikans und des Wiedehopfs erblicken. Ich habe dieſe Beſchreibung in
verhältnißmäßiger Ausführlichkeit gegeben, um (ganz abgeſehen von den
Uchtenhagens) die Aufmerkſamkeit auf ein Kunſtwerk zu lenken, das, ohne
dem Urtheil von Kennern vorgreifen zu wollen, wenigſtens in der Mittel-
mark leicht als ein Unicum befunden werden dürfte. — In der Kirche zu
Neuenhagen befindet ſich noch ein gut erhaltener Grabſtein aus der Uchten-
hagener Zeit. Seine Inſchrift lautet: „Das Blut Jeſu Chriſti reiniget
uns von allen unſren Sünden. Johannes 3. Anno Domini 1592 den
13. Dezember. Hier ruhet … die viel tugendreiche Hippolyta von Uch-
tenhagen in Gott ſeliglich entſchlafen.“ Hippolyta, dem Bilde nach etwa
40 Jahr, war eine ledig gebliebene Schweſter von Hans von Uchtenhagen.
nigfachen kleinen Strapatzen, womit das Hinaufſteigen in alte Thürme
und das Hinabſteigen in alte Grüfte verbunden iſt, ſteht das Glocken-
inſchrift-Leſen obenan. Ohne „Licht und Leiter“ geht es eigentlich kaum,
aber beide ſind nie zur Hand und ſo fällt einem das Loos zu, ſich zu
helfen ſo gut es geht. Das erſte iſt, daß alle Schalllöcher geöffnet werden,
den. Den vom Treppenſteigen Erhitzten läuft es dabei wie der Tod über
den Rücken. Nun ſind die Schalllöcher auf und das Licht dringt ein, aber
entweder die Diſtance oder die gothiſchen Buchſtaben oder gar der Schwal-
ben-Guano ſpotten noch immer der Entzifferungskunſt des unten Stehenden,
der ſich nun genöthigt ſieht, die Reſte ſeiner Turnerſchaft hervorzuſuchen.
Erſt ein Griff nach dem Oberbalken, dann ein Schwung in das Kreuzge-
bälk hinein, — ſo, halb hängend, halb ſtehend, beginnt die Lektüre. Iſt
nun der Küſter mit in den Thurm hinaufgeſtiegen, dem ſich dann Wort
für Wort diktiren läßt, ſo iſt das Schlimmſte überſtanden, hat er aber,
aus dieſem oder jenem Grunde, ſeine kleine Tochter mit hinaufgeſchickt, ſo
bleibt einem ſchließlich nichts andres übrig, als ſich, wie der Glöckner
von Notre-Dame, ſeitwärts auf die Glocke zu werfen und die „große
Marie“ feſt umarmend, auf dem erzenen Nacken derſelben die Inſchrift
abzuſchreiben.
Grimnitz-See gelegen und faſt als ein drittes der Werbellin-Schlöſſer an-
zuſehen, war ebenſo der bevorzugte Aufenthalt Otto’s IV., des ſogenannten
Markgrafen mit dem Pfeil, wie Schloß Breden und Schloß Werbellin
die bevorzugten Plätze Markgraf Waldemars waren. „Hier war es wohl,
ſo erzählt F. Brunold, wo Markgraf Otto mit ſeiner kühnen Gemahlin
Heilwig von Holſtein am Schachbrett ſaß, von Spielleuten umgeben, wie
es uns ein Bild in der Maneſſiſchen Sammlung der Minneſänger noch
heute zeigt.“ — 1529 wurde auf Schloß Grimnitz ein Friede zwiſchen
nitz heißt, und 1549 brach hier Kurfürſtin Hedwig, die Gemahlin Joachims II.
(nicht die „ſchöne Gießerin“ wie andre erzählen), durch den morſch gewor-
denen Fußboden des erſten Stockes, wobei ſie auf die Hirſchgeweihe der
darunter befindlichen Halle niederſtürzte, und ſo ſchweren Schaden nahm,
daß ſie von der Zeit ab an Krücken gehen mußte.
es die Bewohner, die Cormorans zum Fiſchfang abzurichten. Sie be-
dienen ſich dazu der allereinfachſten Vorrichtung, indem ſie dem Cormo-
ran, nachdem ihm die Flügel geſtutzt wurden, einen Ring um den Hals
legen, der die Kehle des Thieres halb zuſchnürt. Nun beginnt der
Cormoran, mit gewohntem Geſchick, ſeinen Fiſchfang, da er aber, der
halbzugeſchnürten Kehle halber, die Fiſche nicht herunterſchlucken kann, ſo
wirft er ſie großmüthig in neben ihm befindliche kleine Boote, wo ſie die
Fiſcher in Empfang nehmen.
hört, ſo iſt es ihr vorbehalten geweſen, auch durch drei Generationen hin,
ihren Namen mit der Geſchichte des Landes zu verweben, und zum Ruhme
deſſelben beizuſteuern. In 150 Jahren gingen mehrere hundert Offiziere
aus dieſer Familie hervor, darunter acht Generale. Nur wenigen Geſchlech-
tern (fünf) war es vergönnt die Marwitze nach dieſer Seite hin zu über-
flügeln: die Kleiſt weiſen 14 auf, die Schwerin 11, die von der Goltz 10,
die Bork und die Bredow 9.
aus einer Refugiésfamilie) oft zur königlichen Tafel gezogen. Der König
fragte ihn einſt über Tiſch: „Was hat Er denn eigentlich mitgenommen,
als Er das Schloß des Grafen Brühl plünderte?“ worauf Quintus
Jcilius replicirte: „Das müſſen Ew. Majeſtät am beſten wiſſen, wir
haben ja getheilt.“
ſchwägert und Guſow war eine Zeitlang, und zwar unmittelbar nach dem
Tode des alten Derfflinger, Marwitzſcher Beſitz.
Ritterſchaft feierlich geſchworen, denjenigen, der ſich künftig weigern werde,
richtige Schulden prompt zu bezahlen, für einen Unmann, Schelm und
Böſewicht zu halten und mit ihm weder eſſen noch trinken zu wollen.
Verſündigung am Vaterland, Höhnung des Gottesdienſtes, grobe Inſolenz,
muthwilliger Bankerott ſollten der ritterſchaftlichen Vorrechte verluſtig
machen und den Gutsbeſitz auf den würdigeren Agnaten bringen. In ſol-
chem wahrhaft ritterlichen Sinne hatten der pommerſche und brandenbur-
giſche Adel ihre Kinder meiſt in ſpartaniſcher Genügſamkeit für den Dienſt
des Königs erzogen, und die Schlachtfelder, auf denen Preußen ſeine
Ebenbürtigkeit mit den großen Mächten errungen, hatten dem Stande den
erſten Rang nach dem regierenden Hauſe gegeben. (Pertz, Leben Steins.)
Marwitz ſelbſt ſchreibt über denſelben Gegenſtand: „In der That hat
es niemals eine Inſtitution gegeben, in welcher das Ritterthum ähnlicher
wieder aufgelebt wäre, als in dem Offizierſtande Friedrichs des Zweiten.
Dieſelbe Entſagung jedes perſönlichen Vortheils, jedes Gewinnſtes, jeder
Bequemlichkeit, — ja, jeder Begehrlichkeit, wenn ihm nur die Ehre blieb;
dagegen jede Aufopferung für dieſe, für ſeinen König, für ſein Vaterland,
für ſeine Kameraden, für die Ehre der preußiſchen Waffen. Im Herzen
Pflichtgefühl und Treue, für den eigenen Leib keine Sorge.“
Verfahren daraus, daß der Juſtizminiſter Kircheiſen eine „Creatur Har-
denbergs“ geweſen ſei. Die eigentliche Erklärung, wie überhaupt [die] Er-
klärung alles deſſen, was an Rechtsverunglimpfungen vorausgegangen
war, liegt aber wohl darin, daß in der allgemeinen Anſchauung des Volks,
an der eben jeder mehr oder weniger theilnahm, ein ſtändiſcher Staat
oberſten Regierungsgewalt eine Art geduldetes Daſein geführt; die Könige
waren ſo viel und die Stände ſo wenig geweſen, daß, als der Moment
kam, wo die unzweifelhaft in ihrem Recht gekränkten Stände wieder etwas
ſein wollten, niemand mehr einen rechten Glauben an die Rechtmäßigkeit
ihres Rechtes hatte.
grauen Kloſters: „von Staël-Holſtein, aus Paris, empfahl ſich die kurze
Zeit, daß er die erſte Klaſſe des Gymnaſiums beſuchte, durch ein geſittetes
Betragen und einen lobenswerthen Fleiß. Der unerwartete Tod ſeines
Großvaters, des ehemaligen Finanzminiſters Necker, veranlaßte ſeine Mut-
gramm entnehme ich auch eine Notiz über die Dichtungen, die Michae-
lis 1804 und 1806 bei Gelegenheit der öffentlichen Prüfung von den
Schülern der Oberklaſſen deklamirt wurden. Es waren: 1) Monolog des
Brutus aus der Voltaire’ſchen Tragödie „Cäſar“. 2) Elegie an Roſalie,
von Tiedge. 3) Der Führer, ein Gedicht von Luiſe Brachmann. 4) Arion,
von A. W. von Schlegel. 5) Kaſſandra, von Schiller. 6) Der Taucher,
von Schiller. 7) Die Macht des Geſanges, von Schiller. 8) Hero und
Leander, von Schiller. 9) Schillers Tod, eine Elegie.
merken abgelehnt, daß er zuvor mehr ſehen und lernen wolle. Nur in
Zeiten wie die damaligen, wo nichts ſo niedrig ſtand wie das Ancienne-
tätsprincip, waren ſolche Dinge möglich.
liſſimus berühmt geworden iſt.
rungsſtücken der Art, auf dem Stadtſchloß zu Potsdam gezeigt. Das Etui
(Gold und Emaille) hat die Form einer Schachtel und ſteckt in einem
mit Sammt gefuttertem Gehäuſe. Die Kugel iſt ganz platt gedrückt.
und Stiche, hatte er in früheren Jahren ſchon in England gekauft, an-
dres rührte aus der Zeit ſeiner Anspach-Baireuther Verwaltung her. Es
iſt bekannt, mit welchem Eifer er die Archive jener Landestheile durchfor-
ſchen ließ; von allem nahm er Abſchrift; eins der wichtigſten Reſultate
dieſer Unterſuchungen war die Auffindung der „Memoiren der Markgräfin
von Baireuth.“ Ein feiner, literariſch-aeſthetiſcher Sinn, ein Sinn für
das Sammeln hiſtoriſcher Erinnerungsſtücke, oder auch bloßer Curioſitäten,
begleitete ihn durchs Leben. In ſehr charakteriſtiſcher Weiſe zeigte ſich dies
im Jahre 1786, unmittelbar nach dem Tode Friedrichs des Großen, wo
er (damals in Dienſten des Herzogs Ferdinand von Braunſchweig) das
in Braunſchweig deponirte Teſtament des Königs nach Berlin brachte und
ſich als Belohnung lediglich eins der Windſpiele des großen Königs
erbat.
mag es erklären, daß er ſich mit der Wegführung glänzender, als werth-
voll in die Augen ſpringender Kunſtwerke begnügte und die 16,000 Bände
zählende Bibliothek in Tempelberg zurückließ. Ebenſo entging ſeinem Auge
bliothek und Kupferſtich-Mappen befinden ſich noch im Neu-Hardenberger
Schloß.
um ſo ſchwieriger durchzuführen), als alle ſolche Klöſter, die, wie Kloſter
Friedland, nur eine lokale Bedeutung hatten, oder einem lokalen Bedürf-
niß entſprachen, wie von ſelber, aus einem kirchlichen, zugleich auch zu
einem geſellſchaftlichen Mittelpunkt des Kreiſes wurden. Die Pfuels
und die Ilows, die Eickendorps und die Hoendorps, die Strantze, Bar-
fuſe und Wulffens, wie ſie ihre Güter in nächſter Nähe um Kloſter
Friedland herum hatten, ſo hatten ſie ihre Töchter in demſelben. Die
einfache Folge davon war, daß das Kloſter, im beſten Sinne des Worts,
zu einem Rendezvous-Platze wurde, wohin die adligen Inſaſſen des Krei-
ſes ihre Neuigkeiten trugen, um ſie gegen andere umzutauſchen. Die Welt
innerhalb und außerhalb der Kloſtermauern war dieſelbe. Alles war ver-
ſippt, verſchwägert und die Cordialität, die Familien-Zugehörigkeit mußte
natürlich die Aufrechthaltung der Disciplin erſchweren.
Ringenwalde, eine alte, im romaniſchen Style aufgeführte Feldſtein-
kirche, die ſich bis dieſen Tag trefflich erhalten hat und — wie ſie muth-
maßlich uns veranſchaulicht, wie die alte Kloſterkirche zu Friedland war
— zugleich als Muſter dafür dienen kann, wie vor 600 Jahren von den
Chriſtenthum und Cultur bringenden Ciſterzienſern, märkiſche Dorfkirchen
gebaut wurden. Alles zeigt noch durchaus den Charakter der „geiſtlichen
Burg“: hoch hinaufgehende Feldſteinmauern, dann, ziemlich dicht un-
term Dach, kleine, rundgewölbte Fenſter, mit Oeffnungen wie Schieß-
ſcharten.
Herrenhaus, aber weder geräumig genug, noch ausreichend in ſeiner Ein-
richtung. Dies alte Barfus’ſche Herrenhaus exiſtirt noch (es ſteht dem
Schloß gegenüber) und veranſchaulicht ſehr gut, wie der Adel vor 200
Jahren lebte.
Sohn überragte) war durch die Capitulation von Breslau (1757) in Un-
gnade gefallen und wurde durch den erzürnten König auf die Feſtung ge-
ſchickt. Er verblieb indeſſen, vielleicht mit Rückſicht auf ſein hohes Alter
(er war bereits 70), nur kurze Zeit in eigentlicher Haft und erhielt von
da ab bloßen Stadtarreſt. Er durfte nunmehr in Berlin leben, war
aber durch Ehrenwort verpflichtet, nie das Stadtviertel zu verlaſſen, das
durch die Koch- und Zimmerſtraße gebildet wird. Hier ſtarb er auch (1767)
Nur einmal erhielt er Urlaub. Als ſein Sohn, der ſpätre General-
major, zum erſten Male nach Amt-Friedland reiſte, um von dem ſchönen
Gute Beſitz zu nehmen, durfte ihm der alte Leſtwitz dahin folgen, um
Zeuge von dem Glück ſeines Sohnes zu ſein. Der König, der ein Inter-
eſſe an dieſem Ereigniß nahm, hatte ihm eigens zwei Adjutanten mitge-
geben, damit der Alte, an dieſem Ehrentage ſeines Sohnes, auch ſeiner-
ſeits in allen Ehren eines General-Lieutenants erſcheinen könne. Anderen
Tages kehrte der 76jährige Herr nach Berlin zurück und trat wieder ſeinen
„Stadtarreſt zwiſchen Koch- und Zimmerſtraße“ an.
und Karl) waren Leibpagen im Dienſte LudwigsXVI. und Karl
war unausgeſetzt um die Perſon des unglücklichen Monarchen in deſſen
bedrängteſten Lagen, namentlich am 10. Auguſt 1792. Bei einem Auflauf
zerſchlagen und verwundet, wurde Karl von Chamiſſo nur mit Mühe
gerettet. Der König verkannte das Verdienſt nicht, das ſich der Page um
ihn erworben hatte und fand Gelegenheit, ihm einen Degen zuzuſtecken,
den er, der König, in glücklicheren Jahren getragen hatte. Zu gleicher Zeit
ſchrieb er auf einem nur etwa thalergroßen Zettelchen: „Ich empfehle
Herrn von Chamiſſo, einen meiner treuen Diener, meinen Brüdern.
Er hat mehrere Male ſein Leben für mich auf das Spiel geſetzt. Lud-
wig.“ Dies Zettelchen und der Degen befinden ſich bis dieſen Tag in
Händen der Familie; der älteſte Sohn (preußiſcher Offizier) Adalbert
von Chamiſſos beſitzt Beides.
knüpften, ſo ganz als Deutſcher, daß er im Jahre 1818 bei ſeiner Rück-
kehr von der „Reiſe um die Welt,“ die er unter Otto von Kotzebue
an Bord des „Rurik“ gemacht hatte, auf der Rhede von Swinemünde
ſchreiben konnte:
In ſeiner Seele tief bewegt der Wanderer;
Er legt von ſich den Stab und knieet nieder,
Und feuchtet deinen Schooß mit ſtillen Thränen,
O deutſche Heimath! — Woll’ ihm nicht verſagen
Für viele Liebe nur die eine Bitte:
Wann müd’ am Abend ſeine Augen ſinken,
Auf Deinem Grunde laß den Stein ihn finden,
Darunter er zum Schlaf ſein Haupt verberge.
plitz’ſche Familie aufgefordert, die Anfertigung eines Grabdenkmals, am
beſten durch einen italieniſchen Künſtler, zu vermitteln. Humboldt un-
terzog ſich gern dieſer Aufgabe und ſchrieb an Enrigo Keller: „Auf
der Urne wünſcht man ein allegoriſches Basrelief, wozu das bekannte Bas-
relief von dem Genius und dem Schmetterlinge und zwei andern
allegoriſchen Figuren, das ſich auf der Vaſe im Palaſt Chigi befindet,
das beſte und ſchicklichſte wäre.“
in gleicher Höhe mit den Emporen der Kirche, der ehemalig Pfuelſche
Chorſtuhl oder Kirchenſitz. An ſeiner Vorderwandung bemerken wir drei
oder vier in einander verſchlungene Goldbuchſtaben, die aller Entzifferung
ſpotten, höchſt wahrſcheinlich aber einen Pfuelſchen Namenszug darſtellen.
Der Kirchenſtuhl ſelbſt — der ſich geräumig, nach Art eines Zimmers —
hinter dieſem Namenszug befindet, hat etwas unheimlich Geheimnißvolles.
Die Fenſter ſind ausgenommen und wenn man auf die Brüſtung einer
der Neben-Emporen ſteigt, um von der Seite her hineinzulugen, ſo er-
blickt man nichts als einen roſtigen Kamin, Spinneweb und verſtaubte
Gewölbekappen, die unter den aufgeriſſnen Dielen ſichtbar werden. Der
Aufgang zu dieſem Chorſtuhl iſt vermauert (man erkennt noch die Stelle,
wo die Treppe mündete) und wie die Jahre wachſen, ſo wächſt der Reiz
der Frage: Wer hat dieſe Dielen aufgeriſſen? Wer bangte vor dieſem
Platz? Wer hat ihn vermauert?
(wie z. B. die Nuthe, die Notte, die Finow, der Stobber oder Stobberow),
die, plötzlich aus einem See oder Luch tretend, auf die kurze Strecke ihres
Laufes hin ein grünes Wieſenband maleriſch durch das Sand- und
Haideland ziehn. Keines unter allen dieſen Wäſſerchen iſt vielleicht reiz-
voller und unbekannter zugleich als die Loecknitz, die, aus dem rothen
Luche kommend, in einem der Seen zwiſchen „Erkner“ und den Rüders-
dorfer Kalkbergen verſchwindet. Die Loecknitz iſt nur 4 Meilen lang, aber
auf ihrer ganzen Länge führt ſie einen ſich ſchlängelnden Streifen von
wie eine Terraſſe langſam anſteigt. Immer dieſelben Requiſiten, wenig
Wechſel im Material und doch, wer hier am ſpäten Nachmittag an der
Grenzlinie zwiſchen Wald und Wieſe hinfährt, dem eröffnet ſich eine Reihe
der reizendſten Landſchaftsbilder. Hier dringt der Wald von beiden Sei-
ten hervor und ſchafft eine Schmälung, hier tritt er zurück und der ſchmale
Wieſenſtreifen dehnt ſich entweder zu einer Waldwieſe aus oder das Flüß-
chen ſelber wird zu einem Teich, auf dem im Schimmer der untergehen-
den Sonne die ſtillen Nymphaeen ſchwimmen. Dann und wann eine
Sägemühle, ein rauſchendes Wehr, dazwiſchen Brücken, die den bequemen
Wald- und Wieſenweg bald vom rechten auf’s linke und wieder vom
linken auf’s rechte Ufer führen. Selbſt die Ortsnamen werden poetiſch:
Liebenberg und Alt-Buchhorſt, Klein-Wall und Gottesbrück, daneben der
Werl- und Möllen-See. Unmittelbar dahinter beginnt ſchon wieder die
Proſa und der nächſte See heißt beiſpielsweiſe „der Dämeritz“. Freilich
auch „Loecknitz“ ſelber könnte wohlklingender ſein, aber freuen wir uns
wenigſtens des ck und adoptiren wir nie die Ausſprache der Anwohner
des Fluſſes, die breit und häßlich „die Loeknitz“ ſprechen.
bahn-Damm aus geſehn werden kann, der dicht bei Tamſel das Bruch durchſchneidet,
aber hatte dies Denkmal wohl, als in der Nacht vom 21. auf den 22. Oktober 1861
König Wilhelm I., von ſeiner Krönung in Königsberg zurückkehrend, im Eilzuge an
Tamſel und ſeinem Park vorüberfuhr. Signale (vom Eiſenbahn-Damm aus) wurden
gegeben und in demſelben Augenblick, in dem der Zug an der Park-Lichtung vorüber-
glitt, ſtrahlte das Victoriabild des Obelisken in bengaliſchen Feuern. Dahinter ſtiegen,
einen Moment nur, die Umriſſe des Schloſſes auf; dann ſank alles wieder in Nacht.
Jahr ihrer Geburt und ihrer Verheirathung, abweichende Angaben vorkommen, ſo laſſe
ich hier nachſtehendes folgen: Luiſa Eleonora v. Schoening wurde (dem Küſtriner Kirchen-
buch zufolge) durch den Küſtriner Hofprediger am 6. Juli 1721 in Tamſel zum heiligen
Abendmahl admittirt, ihres Alters vierzehn Jahre, ſowie durch denſelben am
25. Mai 1723 mit dem Oberſten Adam Friedrich v. Wreech (geſt. 1746) copulirt. Sie
war alſo bei ihrer Verheirathung 16 Jahr alt und 24 Jahr bei dem erſten Beſuch des
Kronprinzen in Tamſel. Aus ihrer Ehe mit dem Oberſten v. Wreech hatte ſie wenigſtens
ſieben Kinder, wahrſcheinlich aber mehr. Das Küſtriner Kirchenbuch nennt folgende
fünf:
- 1) Eleonore Charlotte Amalie, geb. den 21. Dezember 1724.
- 2) Juliane Luiſe, geb. den 22. März 1726.
- 3) Friedrich Ludwig, geb. den 31. Juli 1727. (Getauft den 7. Auguſt; zählt
unter ſeinen Pathen den König, den Kronprinzen und den Fürſten von Anhalt-Deſſau). - 4) Carl Albrecht Adam; geb. den 27. November 1728.
- 5) Sophie Friederike; geb. den 28. Mai 1730. (Zählt unter ihren Pathen die
Prinzeſſin von Anhalt-Zerbſt, die Feldmarſchälle Graf v. Wartensleben und v. Natzmer).
Sie war es, die ſich am 7. September 1752 mit dem Grafen Stanislaus Gerhardt
v. Dönhoff (ſpäter, in zweiter Ehe, mit dem Baron Dodo von Knyphauſen) vermählte,
durch welche erſtre Vermählung Tamſel zunächſt an die Dönhoffs, dann an die Schwe-
rins kam.
Fr. Förſter ſpricht noch von einer am 27. Mai 1732 gebornen Tochter, doch iſt
28. Mai 1730 geborene Tochter (Sophie Friederike) meint. Auf dieſe Tochter bezieht ſich
auch die Stelle eines etwa Mitte Dezember 1731 geſchriebenen Briefes des Kronprinzen
an Frau v. Schoening, die Mutter der Frau v. Wreech: „Je l’ai vu, Madame, votre
fille (Frau v. Wreech) et elle sait que Vous et sa fille (eben jene Sophie Friederike)
se portent bien.“
Nach dieſer Zeit, d. h. in Jahren, die der Anweſenheit des Kronprinzen (1731)
folgten, wurden jedenfalls noch zwei Kinder geboren:
- 6) Friedrich Wilhelm Feodor v. Wreech, geb. 1733, geſtorb. 1785; und
- 7) Ludwig Alexander v. Wreech, geb. 1734, geſtorb. 1795. (Nach einer andern
Angabe ſchon 1794.)
Dieſe beiden ſind im Küſtriner Kirchenbuch nicht verzeichnet. Es iſt nicht unwahr-
ſcheinlich, daß die Zahl der Kinder der ſchönen Frau noch größer war.
erwähnt, die jahrelang zu Frau v. Wreech in freundſchaftlichen Beziehungen ſtand. Die
Karſchin war längere Zeit in Tamſel zu Beſuch. Im Tamſler Archiv befinden ſich ver-
ſchiedne Gedichte der Karſchin, an Frau v. Wreech gerichtet, und Briefe (gewöhnlich in
Verſen), die beide Damen wechſelten. Leider bot ſich mir nur Gelegenheit, dieſe Papiere
zu leſen, nicht ſie zu benutzen; — ſie geben ein vortreffliches Zeitbild.
liegende Perſönlichkeiten ſtets angeknüpft wird (ſo äußert ſich Prof. W. Schwartz,
der obige Sage erzählt), iſt bekannt. So zieht alſo dieſe Verſion der Uchtenhagen-Sage
den großen Kurfürſten hinein, während ſie ſonſt gewöhnlich in weit frühere Zeit geſetzt
wird. Wenn die Sage im Ruppiner Lande ſpielte, würden ferner in ihr unbedenklich
die Schweden als die Feinde auftreten, hier aber in den Odergegenden hat die Ruſſen-
zeit des ſiebenjährigen Krieges in der Tradition ihre Spur zurückgelaſſen, und da das
Volk ſchwer die Zeiten auseinanderhält, figuriren die Ruſſen ganz ruhig ſo neben den
Franzoſen im Gedächtniß als Feinde überhaupt. Als ich ein altes Mütterchen fragte,
woher die Ruinen auf dem Capellenberge ſtammten, gab ſie mir die in jeder Hinſicht
naive Antwort: „Das iſt noch ſo aus alten Zeiten, da ſind ſie immer hinaufgeklettert,
um zu ſehen, ob die Ruſſen oder Franzoſen kämen“. Dieſe Vermiſchung der Zeiten tritt
überall in der Tradition hervor. So gab neulich ein ſonſt gebildeter Mann die gefeſſelten
Männer am Piedeſtal der Statue des großen Kurfürſten zu Berlin für „alte Wenden-
fürſten“ aus, der große Kurfürſt wurde ihm zu einer Art von Markgraf Gero. Selbſt
ein tüchtiger, noch jüngerer Dorfſchullehrer ſagte mir neulich, die böhmiſche Gemeinde
der Nachbarſchaft ſei zur Zeit der „großen Völkerwanderung“ hier eingewandert.
- License
-
CC-BY-4.0
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- Citation Suggestion for this Edition
- TextGrid Repository (2025). Fontane, Theodor. Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bhqq.0