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Zeitvertreib
und
Unterricht
fuͤr Kinder

vom dritten bis zehnten Jahr
in kleinen Geſchichten.

Zweytes Baͤndchen.

Leipzig: ,
bey Weidmanns Erben und Reich. 1783.

[][]

Vorerinnerung.


Hier das zweyte Baͤndchen des Zeit-
vertreibes fuͤr Kinder. Das erſte
hat bey Maͤnnern von Einſicht und Erfah-
rung Beyfall gefunden. Einem großen
Paͤdagogen unſrer Zeiten hat das Geſchicht-
chen vom Klapperſtorch, in der Art der
Ausfuͤhrung
, ſehr gefallen. Keine ge-
ringe Ermunterung fuͤr mich, das zweyte
zu ſchreiben.


Darinn hab’ ich mich abermal bemuͤhet,
die Kinderſprache zu reden; doch ſo, wie
ich hoffe, daß ſie nie ins Niedrige und Poͤ-
belhafte gefallen iſt. Ich weiß es aus der
Erfahrung, daß man wenig bey Kindern
ausrichtet, wenn man ſich nicht, auf eine
2mun-
[] muntere und luſtige Art, an ihre Sprache
zu gewoͤhnen ſucht. Meine Kinder haben
ein Hiſtoͤrchen zwey- bis dreymal geleſen:
bloß, weil Bauz! Baf! Batter, Batter!
— darinn vorkam. Man laſſe ſie. Sie
leſen doch das andre mit.


Um bey der Kinderſprache ſicher zu ge-
hen, hab’ ich eher kein Stuͤck in Druck ge-
geben, als bis es alle Kinder verſtanden
haben. Waren unverſtaͤndliche Ausdruͤcke
drinn, ſo mußten ſie ſelbſt andere und deut-
lichere waͤhlen. Dieſe behielt ich. Und
ſo kann ich ſagen, daß das Ganze ſelbſt
von Kindern nach ihrem Ton korrigirt iſt.
Folglich muß es auch andern verſtaͤndlich
ſeyn.


Die Geſchichtchen, Geſpraͤche, Erzaͤh-
lungen, was es iſt, ſind mehr abgekuͤrzt,
weil ich gefunden habe, daß die Kinder eben
dadurch gereizt werden, das Folgende zu le-
ſen. So z. E. gleich bey dem erſten Stuͤck
S. 10,
[] S. 10, da der Vater abbrach. O! hieß
es, nur noch ein Bischen von den wilden
Maͤdchen. Wie kams denn mit ihnen?
— Und das dritte wurde ausgeleſen.


Die Geſpraͤche hab’ ich immer am
nuͤtzlichſten gefunden, beſonders wenn Kin-
der darinn redend aufgefuͤhret wurden.
Meine fragen bey jedem Geſpraͤch, ehe ſie
es anfangen: ſind auch Kinder drinn? Un-
ter allen iſt ihnen das Kindergeſpraͤch
vom Fruͤhlinge
No. V. das angenehmſte
geweſen, und ich weiß, daß es das eine
kleine Maͤdchen, Dorchen, das darinn ſelbſt
eine zaͤrtliche Rolle ſpielt, bis zum Aus-
wendiglernen geleſen hat.


Poeſien hab’ ich wenig eingeſchaltet;
am wenigſten ſolche, wodurch ſich Kinder
das Taͤndeln und Empfindeln, welches zu-
letzt auf unausſtehliche Zierereyen hinaus
laͤuft, angewoͤhnen.


3Dem
[]

Dem Aberglauben, beſonders in na-
tuͤrlichen Dingen, hab’ ich abermal entge-
gen gearbeitet, und zwar ſo, daß die dabey
vorkommenden Geſchichtchen und Erzaͤh-
lungen nunmehro Kindern vom 7ten bis
9ten Jahre nuͤtzlich und angenehm werden
koͤnnen. Vorzuͤglich ſucht’ ichs ſo einzu-
richten, daß die falſchen Begriffe in den
Gemuͤthern der Kinder getilgt wuͤrden, die
ſonſt immer eine Quelle unrichtiger Hand-
lungen bleiben.


Hin und wieder hab’ ich ſchon einige an-
genehme Naturſachen eingeſtreuet. Im
dritten Baͤndchen werden mehrere vorkom-
men. Meines Erachtens fehlt man in der
Methode, Kindern Naturkenntniſſe auf ei-
ne leichte und angenehme Art beyzubringen.
Syſteme und Namenregiſter machen ſie
verdruͤßlich. Warum nicht gleich aus der
Natur ſelbſt?


Wenn
[]

Wenn ich meinen Kindern, die einen
todten Maulwurf, den ſie eben gefangen
haben, begraben wollen, ſage: Gebt Ach-
tung! da will ich gleich aus der Luft Tod-
tengraͤber beſtellen, die ihn begraben ſollen,
ſo wird alles aufmerkſam; ſo guckt alles in
die Luft, ob ſie nicht bald kommen; ſo wird
alles Natur und That ſelbſt. Und davon
halt’ ich ſehr viel. Bey der Gelegenheit
kann ich ihnen ja zugleich ſehr viel Artiges
ſagen, was zur Luft, Erde, zur Natur des
Maulwurfs und der Kaͤfer, die ihn begra-
ben, gehoͤrt.


Man darf ſich bey Kindern eben nicht
an eine beſtimmte Ordnung binden, wenn
man ſie mit der Natur — ihren Produk-
ten, Begebenheiten und Wirkungen, be-
kannt machen will. Wie die Sachen vor-
kommen, erzaͤhle man ſie. Und warum
eben immer Naturgeſchichte? Warum
nicht lieber Natur ſelbſt? Und zwar die
4gemein-
[] gemeinſten, gewoͤhnlichſten Dinge zuerſt,
mit denen ſie taͤglich umgeben ſind.


Ich war neulich einmal an einem Orte,
wo die Kinder den Umlauf des Bluts im
Koͤrper recht pedantiſch hererzaͤhlen muß-
ten, wie ſie es auswendig gelernt hatten.
Es war Wortkraͤmerey, und weiter nichts.
Ich fragte hierauf: Wie wird denn die But-
ter
— die Tinte gemacht?


Die Kinder ſahen mich ſtarr an, und
lachten — meynten, das zu wiſſen, waͤre
nicht noͤthig. Da erzaͤhlte ichs ihnen, in-
ſonderheit von der Tinte. Wie viel Arti-
ges koͤnnt’ ich ihnen dabey von den Gall-
aͤpfeln
, von den Fliegen, die ſie machen,
vom Vitriol, vom Gummi u. ſ. w. ſa-
gen! Das gefiel den Kindern ſo wohl, daß
ich ſie den ganzen Abend nicht los werden
konnte.


Nach dieſer Methode werd’ ich im drit-
ten und vierten
Baͤndchen viel Nuͤtzliches
und
[] und Artiges aus der Natur, auf eine, die
Kinder beluſtigende Art, anzubringen ſu-
chen, ſo daß man dieſen beyden Baͤndchen
fuͤglich den Titel: Natur und Sitten
fuͤr Kinder
, geben koͤnnte.


Es giebt genug Leſebuͤcher aus der Na-
turgeſchichte fuͤr Kinder; ſie ſind mir aber
alle zu gelehrt. Ich habe die Probe ge-
macht, und Kinder, die nach Raffs Na-
turgeſchichte unterrichtet waren, ſich mit
meinen Kindern uͤber verſchiedene Dinge
aus der Natur unterreden laſſen. Bey
jenen war Syſtem, Gedaͤchtnißkram,
Zwang — bey meinen Natur, Begriff
und Freude uͤber die Sachen. So konn-
ten meine von Milch, von den Schafen,
Brode, Froͤſchen, Schwalben, Spechten,
Blaͤttern, Roſen, Gewittern, Regenbo-
gen, u. ſ. w. viel Artiges und Nuͤtzliches er-
zaͤhlen, was ſie ſelbſt geſehen und erfahren
hatten, wovon jene nur die Eintheilungen
5und
[] und Namen wußten. Wiſſen die Kinder
nur erſt recht viel aus der Natur; das Sy-
ſtem koͤnnen ſie hernach bald faſſen.


Ich tadle keinesweges was andere thun;
ich ſage nur, wie ichs mache. Inſonder-
heit ſehe ich drauf, daß ich Kindern in den
veraͤchtlichſten, oft ekelhafteſten und
verworfenſten
Dingen, die weiſeſten Ein-
richtungen Gottes fuͤrs Ganze, und zum
Beſten der Menſchen, zeige.


Im dritten Baͤndchen werden auch ei-
nige Religionsſachen von Chriſto, und
andern bibliſchen Dingen, vorkommen, in
ſo fern ſie ſich fuͤr Kinder ſchicken, und ih-
nen gute Geſinnungen beybringen koͤnnen.


Ueberhaupt iſt mein Buch eigentlich kein
Buchſtabier- und Leſebuch fuͤr Kinder.
Wenn daher gleich auf dem Titel ſteht:
fuͤr Kinder vom dritten bis zehnten
Jahre
— und mancher denken moͤchte:
wie koͤnnen das Kinder vom dritten bis fuͤnf-
ten
[] ten Jahre gebrauchen? ſo erklaͤre ich mich
alſo. Kindern, die noch nicht leſen koͤn-
nen, ſuche man die leichteſten Hiſtoͤrchen
vorzuerzaͤhlen, katechiſire ſie daruͤber; ſo
werden ſie bald Luſt bekommen, ſie ſelbſt leſen
zu lernen. Meine Kinder konnten ſie ſchon
im vierten und fuͤnften Jahre leſen.


Wem es auffallen ſollte, daß im erſten
Baͤndchen No. 25 ſchon das dankbare Kind
vorgeſtellt iſt, und im zweyten No. 22-25
das undankbare und dankbare Kind noch
einmal vorkoͤmmt; der darf dieſe Stuͤcke
nur vergleichen. Dank und Undank kann
Kindern nie zu oft geſagt werden. Wenn
die Kinder zu den Aeltern bald Sie, meh-
rentheils aber du ſagen; ſo koͤmmts auf
den Grad der Vertraulichkeit an, darinn
ſie reden.


Nun noch ein paar Verbeſſerungen fuͤrs
erſte Baͤndchen.


S. 67
[]
  • S. 67 von unten Z. 3 ſtatt ſchnipſch l.
    ſchnipſche.
  • S. 114 Z. 3 ſtatt Quadeau l. Gnadau.
  • S. 163 Z. 14 ſtatt Reinlichkeit l. Un-
    reinlichkeit.
  • S. 263 Z. 1 ſtatt verpanſtert l. ver-
    panzert.

Uebrigens kann ich der Vorſehung des
beſten Vaters im Himmel fuͤr den Se-
gen nicht genug danken, den ich von dem
erſten Baͤndchen, beſonders in Abſicht der
Tilgung des Aberglaubens, bey vielen Kin-
dern, ſelbſt bey Großen und Erwach-
ſenen
, die noch Kinder am Verſtande wa-
ren, und dadurch gebeſſert ſind, geſehen
habe.



[]

Inhalt.
I. Die Wohlthat einer guten Erziehung.
Seite 1


  • II. Fortſetzung. 6
  • III. Fortſetzung. 10
  • IV. Fortſetzung. 13
  • V. Kindergeſpraͤch vom Fruͤhlinge. 19
  • VI. Fortſetzung. 24
  • VII. Fortſetzung. 29
  • VIII. Vom nahe Aufſehen. 35
  • IX. Viel gelernt, und ſchlechte Sitten. 41
  • X. Es iſt nicht alles ſo, wie es ſcheint. 45
  • XI. Der Bauer und die Nachtigall. 53
  • XII. Die Maus und die Katze, eine Fabel. 56
  • XIII. Der Traum. 59
  • XIV. Fortſetzung. 65
  • XV. Fortſetzung. 70
  • XVI. Kleine Urſache und großer Laͤrm. 76
  • XVII. Das Oſterfeuer. 82
  • XVIII. Das ſchreckhafte Kind. 87
  • XIX. Weihnachtsbrief eines Vaters an ſein
    fuͤnfjaͤhriges Kind. 91
  • XX. Eine Reihe gewoͤhnlicher Kinderfehler.
    Seite 94
    XXI. Das gefraͤßige Kind. 100
  • XXII. Das undankbare Kind. 106
  • XXIII. Fortſetzung. 111
  • XXIV. Fortſetzung. 116
  • XXV. Das dankbare Kind. 121
  • XXVI. Das mitleidige und gutherzige Kind. 128
  • XXVII. Das leichtſinnige Kind. 136
  • XXVIII. Das unhoͤfliche und unbeſcheidene
    Kind. 139
  • XXIX. Einige Tiſchregeln. 144
  • XXX. Das verfuͤhrte Kind. 146
  • XXXI. Fortſetzung. 151
  • XXXII. Der Leichvogel. 156
  • XXXIII. Fortſetzung. 162
  • XXXIV. Der feurige Drache. 169
  • XXXV. Fortſetzung. 174
  • XXXVI. Fortſetzung. 180
  • XXXVII. Der Donnerkeil. 187
  • XXXVIII. Das Alpdruͤcken. 196
  • XXXIX. Gefaͤhrliches Naſchwerk und Spiel-
    zeug der Kinder. 204
  • XL. Gefaͤhrliche Kinderſpiele. 210
  • XLI. Fortſetzung. Seite 218
  • XLII. Verzeichniß einiger gefaͤhrlichen Kin-
    derſpiele. 222
  • XLIII. Am Geburtstage der Mutter von ei-
    nem guten Kinde. 224
  • XLIV. Man muß ſich Zeit nehmen, wenn man
    was lernen will. 225
  • XLIII. Ein luſtiges Geſpenſterhiſtoͤrchen. 228
  • XLIV. Das kluge Kind mit Manier und Ar-
    tigkeit. 232
  • XLV. Vom Stricken Naͤhen und Spinnen. 233
  • XLVI. Fortſetzung. 239
  • XLVII. Fortſetzung, oder Frau Orgon. 243
  • XLVIII. Das artig geweſene, und wieder un-
    artig gewordene Kind. 246
  • XLIX. Ungehorſam ſtraft ſich ſelbſt. 252
  • L. Das Blutwaſſer. 256
  • LI. Fortſetzung. 261
  • LII. Fortſetzung. 266
  • LIII. Der gottloſe Knabe. 271
  • LIV. Fortſetzung. 277
  • LV. Das erſte Veilchen, oder die Geſchich-
    te zweyer zaͤrtlichen Schweſtern. 281
  • LVI. Fortſetzung. 288
  • LVII. Die Langſchlaͤferinn. Seite 291
  • LVIII. Beſondere Proben der goͤttlichen Vorſe-
    hung in Beſchuͤtzung der kleinen Kinder. 298
  • LIX. Fortſetzung. 305
  • LX. Fortſetzung. 310
  • LXI. Die alte Schuld, oder das vierte Ge-
    bot. 312
  • LXII. Fortſetzung. 316
  • LXIII. Fortſetzung. 319
  • LXIV. Der alte Mann. 323
  • LXV. Fortſetzung. 329
  • LXVI. Fortſetzung. 333
  • LXVII. Fortſetzung. 337
  • LXVIII. Fortſetzung. 341
  • LXIX. Todesgedanken fuͤr Kinder. 347
  • LXX. Der Gottesacker. 353
  • LXXI. Die Grabſchrift eines guten Kin-
    des. 357
I.
[[1]]

I.
Die Wohlthat einer guten Er-
ziehung.


Wie groß die Wohlthat einer guten Er-
ziehung
ſey, kann man an dem Exem-
pel ſchlecht erzogener Kinder ſehen.


Ein guter ehrlicher Bauerknabe, Namens
Toͤffel, kam neulich mit ſeinem Vater zum
erſtenmale in die Stadt. Er war wohl ſchon
zehn Jahre alt. Der Vater nahm ihn mit in
das Haus, wo er Pacht bezahlen wollte, und
worinn ein Haͤufchen artiger wohl erzogener
Kinder war.


II Theil. AAls
[2]

Als er in die Stube trat, gieng Fritze
um ihn herum, und beſahe ihn, wie ein Meer-
wunder. „Wo koͤmmſt du her?“ Von Doͤrpe,
war die Antwort. „Wie heißeſt du denn?“
Eck — Eck? hete Toͤffel. Da lachte Fritze
erſchrecklich, und rief die andern Kinderchen.
„Kommt, kommt geſchwinde, wenn ihr was
„ſehen wollt.“ Was denn, Bruͤderchen? frag-
te Hannchen. „Was recht Luſtiges. Ihr
„lacht euch krank.“


Mit großen Augen kamen ſie in des Va-
ters Stube. Da ſaß der Bauerjunge da, wie
ein Stock, und gaffte alles an. Denn es war
ihm alles neu: der große Spiegel, die Wand-
uhr, und dergleichen. Die Kinder betrachte-
ten ihn von allen Seiten — thaten hundert
Fragen an ihn, die er aber nicht verſtand.


Die Mutter gab ihm eine Semmel; die
aß er, wie gewiſſe Thierchen im Stalle. Da-
bey ſchnaubte er auf, daß mans in der ganzen
Stube
[3] Stube hoͤren konnte. Die Naſe wiſchte er ſich
mit dem Rockaͤrmel ab, und mit den Fingern
ſchnaubte er ſich aus. Als ihm noch eine Sem-
mel angeboten wurde, ſagte er: Eck mag nich
meh. Da lachten die Kinder gewaltig. Das
verdroß ihn, und er ſchalt ſie aus. Da lach-
ten ſie noch mehr.


Der Vater aber ſagte: Ja! dat is by uns
nich anders. Wei koͤnnt de Kinger nich ſo
klauk erteien — Fritze holte ein Buch, und
der Junge ſollte leſen. Er konnte aber kaum
ein Paar Buchſtaben nennen. Das Spiel
wurde zu arg, und der Vater mußte ſeine
Kinder aus der Stube gehen heißen.


Als Toͤffel weg war, ließ der Vater ſeine
Kinder wieder in die Stube kommen, und
ſagte: War das wohl recht, daß ihr den ar-
men Jungen ſo auslachtet? Was kann der
dafuͤr, daß er ſo ſchlecht erzogen iſt? Seine
Aeltern wiſſen es nicht beſſer. Waͤret ihr von
A 2Bauern
[4] Bauern geboren, ſo waͤret ihr auch Bauern-
kinder — ſo waͤreſt du, Fritze, nichts an-
ders, als was Toͤffel iſt, den du ſo zum
Beſten hatteſt.


Da koͤnnt ihr nun ſehen, was es fuͤr
eine Wohlthat ſey, daß ihr nicht im Bauern-
ſtande geboren ſeyd, und daß ihr ſo gute
Aeltern habt, die ſo viel an eure Erziehung
wenden.


Solche Leute aber, als die Bauersleute,
muͤſſen auch ſeyn. Sonſt muͤßten wir ſelbſt alle
grobe Arbeit thun, die ſie fuͤr uns verrichten.
Es iſt denn doch angenehm, wenn ein ſolcher
Mann da in ſeinem leinenen Kittel, und ei-
nem großen Dornſtocke in der Hand, ein hun-
dert Thaͤlerchen in ſchoͤnen blanken Piſtoletten
bringt, die er uͤbrig hat von ſeinen mir ab-
gepachteten Aeckern, welche er mit ſaurem
Schweiß hat pfluͤgen, duͤngen und beſaͤen
muͤſſen.


Thut
[5]

Thut das nicht wieder, einen dummen
Bauerjungen auszulachen. Eher ſolltet ihr
Mitleiden mit ihm haben, als ſeiner ſpotten.
Denn das verdient er nicht. Das verdient
ein Stadtkind weit eher, wenn es eine gute
Erziehung hat, aber doch faul, unreinlich,
nachlaͤßig und unhoͤflich iſt, oder die gute
Erziehung uͤbel anwendet. Manches Bauer-
kind hat oft ein weit beſſer Herz, und iſt ſei-
nen Aeltern gehorſamer, als manches wohl
erzogene Stadtkind, welches das viele Gute
nicht erkennet, das an ihm geſchiehet.


Bedenkt einmal, wenn ich und eure Mut-
ter bald ſtuͤrben, und ihr muͤßtet unter andere
Leute. Vermoͤgen laſſe ich euch nicht. Das
wißt ihr. Ich wende alles an eure Erziehung.
Wie wuͤrde es euch denn gehen? Wuͤrdet ihr
nicht bald Toͤffel werden?


Wohl erzogene Kinder muͤſſen Bauerkin-
der, oder andere ſchlecht erzogene Kinder nicht
A 3aus-
[6] ausſpotten, oder verachten; ſondern vielmehr
daraus die Wohlthat ihrer guten Erziehung,
mit deſto groͤßerem Dank, erkennen.


II.
Fortſetzung des erſten Stuͤcks.
Von der Wohlthat einer guten
Erziehung.


Was machten nun wohl die Kinder, da
ſie das von dem Vater gehoͤrt hatten?
Sie wurden dadurch ſo ſehr geruͤhrt, daß ſie
dem Vater um den Hals fielen, und ihm fuͤr
alles Gute herzlich dankten. Ja! Dorchen
wurde ſo wehmuͤthig, daß es hinter Toͤffeln
herlaufen, und es ihm abbitten wollte.


Des Abends nach Tiſche kamen ſie wieder
auf Toͤffeln zu reden. Der Vater ſetzte ſich
aufs
[7] aufs Kanapee, und die Kinder traten um ihn
herum, weil ſie merkten, daß der Vater Luſt
hatte, was zu erzaͤhlen.


Kinder! ſagte der liebe Vater, ich will
euch was erzaͤhlen: eine ganz ſonderbare
Hiſtorie von zwey kleinen wilden Maͤdchen,
daraus ihr noch mehr lernen ſollt, daß eine
gute Erziehung fuͤr euch die allergroͤßte
Wohlthat ſey
.


Da horchten die Kinder hoch darauf, als
ſie von den wilden Maͤdchen hoͤrten.


Es war einmal ein Edelmann in Frank-
reich, bey Chalon in Champagne, wo die
Marne fließt — Fritze, du kannſt es mor-
gen auf deiner Landcharte aufſuchen — Es
hat ſich wirklich zugetragen. Dieſer Edel-
mann gehet auf die Jagd an dem Fluſſe her-
unter, und ſiehet in der Ferne im Rohre
zwey ſchwarze Dinger auf- und niedertauchen.
Er ſchießt hin. Huſch ſind die Dinger unter
A 4das
[8] das Waſſer, kommen aber an einem andern
Ende wieder vor. Da dachte er, es waͤren
Waſſerhuͤhner.


Wie erſchrak er aber, als die Dinger ans
Ufer hinplatſchten! Er verſteckte ſich im Buſch-
werke, und ſchlich ſich naͤher heran. Da ſahe
er, daß es zwey wilde Maͤdchen von ohnge-
faͤhr zehn Jahren waren.


Fritze fiel hier ins Wort, und ſagte: Das
waren dir wohl ſolche Dinger, wie du Lotte.
Denn du biſt auch nicht ſachte, wenn du gehſt.
„Ja! du magſt dich hermachen. In zwey
Saͤtzen die Treppe herunter. Du hoͤrſt ja
wohl, daß die Maͤdchen im Waſſer, und ganz
wild waren. Das bin ich doch nicht.“


Wenn ihr ſo wollt, ſagte der Vater; ſo
muß ich aufhoͤren. „O nein! Vaͤterchen, rie-
fen ſie alle. Wir wollen gerne ſtille ſeyn.“


Die beyden wilden Maͤdchen konnten euch
ſchwimmen, wie die Fiſche. Am Ufer fraßen
ſie
[9] ſie die Fiſche, die ſie gefangen hatten. Sie
hatten ſchwarze krauſe Haare auf dem Kopfe,
und ſahen auch ganz ſchwarz von Moder aus.
Zuweilen gaben ſie einen hellen Laut von ſich,
wie die Waſſervoͤgel.


Konnten ſie denn nicht ſprechen? fragte
Fritze.


Das wirſt du hernach wohl hoͤren. Jetzt
gieb nur Achtung auf das, was ich er-
zaͤhle.


Bey den Fiſchen veruneinigten ſie ſich.
Das eine ſchlug das andere mit einer kurzen
dicken Keule auf die Hand; dieſes aber ſchlug
das andere mit ſeiner Keule gerade vor den
Kopf, daß das Blut herunterlief, und es an
die Erde fiel. Als es das ſahe, mochte es ihm
doch leid thun. Geſchwinde liefs nach dem
Waſſer, holte Froͤſche, riß die Haut ab, und
legte ſie auf die Wunde, das Blut zu ſtillen.
Das geſchlagene erholte ſich, und gieng wie-
A 5der
[10] der ins Waſſer; das andere nach einem nahe
gelegenen Dorfe.


Fuͤr diesmal aber genug, und gute Nacht.
Morgen Abend will ichs auserzaͤhlen.


Die Kinder haͤtten gerne noch zugehoͤrt;
aber der Vater ſagte: Ihr habt hieran heute
genug zu uͤberlegen, ob ihrs beſſer habt, als
dieſe beyden armen wilden Maͤdchen.


III.
Fortſetzung des zweyten Stuͤcks.
Von der Wohlthat einer guten
Erziehung.


Als der Abend kam, und bald abgegeſſen
war, ſahen die Kinder den Vater ſchon
darauf an, ob ſie noch nicht aufſtehen woll-
ten. Endlich erſcholl das angenehme Wort:
Aufge-
[11] Aufgeſtanden. Da flog alles nach dem Vater
zu, und ſie trugen ihn bald hin zum Kanapee,
wie die Kinder im Robinſon den Vater nach
der Laube ſchleppten.


Das eine Maͤdchen, ſagte ich doch zuletzt,
gieng in ein nahe gelegenes Dorf. Da dach-
ten die Leute, es waͤre ein Spuk, und hetzten
einen großen Hund mit einem Stachelhals-
bande auf daſſelbe los. Baf! kriegte er mit
der Keule eins vor den Kopf, daß er da lag.


I! riefen die Kinder, uͤber das beherzte
Maͤdchen!


Hierauf lief es wieder aus dem Dorfe
nach dem Fluſſe zu, und kletterte am Ufer auf
einen hohen Baum. Dieſer wurde mit Wache
beſetzt, und des andern Morgens, da es der
Hunger heruntertrieb, nahm man es gefan-
gen.


Sechs ſtarke Maͤnner hatten genug zu
thun, ehe ſie es zwingen und binden konn-
ten.
[12] ten. Es war euch kein Affe, ſondern ein wah-
res Menſchenkind. Als es gefangen wurde,
heulte es, wie ein Wolf im Walde. Es lag
wohl ſechs Tage gebunden, und grunzte im-
mer vor ſich hin. Da man glaubte, daß es
durch Hunger zahm geworden waͤre, band
mans los, und zeigte ihm was zu eſſen. Es
fiel gierig druͤber her; brach es aber wieder
weg, weil es warm und gekocht war. Nun
gab man ihm rohe Fiſche. Dieſe bekamen
ihm wohl. Es ſoll doch nachher wieder ent-
wiſcht, und davon gelaufen ſeyn.


Man hat aber auf keine Weiſe erfahren
koͤnnen, wie dieſe beyden Maͤdchen in die
Wildniß gerathen waren. Doch muß es fruͤh
in der erſten Kindheit geſchehen ſeyn, weil ſie
der Wildheit ſchon ſo gewohnt waren. Spra-
che, Verſtand, alles fehlte ihnen. Denn ſie
hatten nie reden gehoͤrt. Es waren alſo nichts
anders, als Thiere in Menſchengeſtalt.


Was
[13]

Was ſagt ihr nun, lieben Kinder: was
denkt ihr bey dieſer Geſchichte? Ich gebe euch
Zeit bis morgen Abend, euch davon unter
einander zu unterreden. Dann wollen wir
weiter davon ſprechen.


IV.
Fortſetzung des dritten Stuͤcks.
Von der Wohlthat einer guten
Erziehung.


Vater.


Was meynſt du, Lottchen? Du biſt juſt
zehn Jahre alt. Wollteſt du dich wohl
mit dieſem wilden Maͤdchen aufgenommen
haben?


Lottchen. Ich zittre und bebe, lieber
Vater! wenn ich nur an das Waſſer, an die
Fiſche,
[14] Fiſche, an den großen Hund gedenke: oder,
wenn ich eine Nacht ohne Kleider, unter freyem
Himmel, auf einem hohen Baum zubringen
ſollte.


Dorchen. Ich friere ſchon vor dem bloßen
Gedanken.


Fritze. Ja! du auch. Du biſt ſo wie But-
termilch. Das wollte ich noch wohl aushalten.


Vater. Seht mir doch den Held an. Nu,
den muß ich feſt halten. Fritze, Fritze, wie
ſtehts aber ums Herz, wenn der große Hund
kaͤme, oder wenn das Herrchen in die Elbe
wandern ſollte?


Dorchen. Stille, ſtille! Daran hatte mein
Fritzchen nicht gedacht.


Vater. Fritze ſoll uns doch ſagen, was
dies wilde Maͤdchen vor euch — und was
ihr vor ihm voraus habt?


Fritze. Das will ich ihnen gleich ſagen.
Es konnte nackend gehen — rohe Fiſche
eſſen
[15] eſſen — in dem tiefſten Waſſer ſchwimmen
und zurechte kommen — Tag und Nacht un-
ter freyem Himmel liegen — auf die hoͤchſten
Baͤume klettern, wie eine Katze — Froſt und
Kaͤlte — — alles ertragen — Es hatte vor
nichts eine Furcht, ſchlug den großen Hund
todt — Das alles kann ich nicht. Auch nicht
eins von allen. Wills nur geſtehen.


Dorchen. Ha! ha! ha! Da kommen
wir her. Das dachte ich wohl, daß es ſo
kommen wuͤrde, wenn dir der Vater naͤher
auf die Haut gienge.


Vater. Getroffen, recht gut getroffen,
Fritze. Das iſt wahr. Das alles hat das
wilde Maͤdchen vor euch voraus; aber woher
mag das kommen?


Fritze. Das weiß ich nicht.


Lottchen. Das weißt du nicht? I, weil
es von Kindheit an in der Wildniß geweſen
war. Da mußte es ſich wohl nach Nahrung
umſehen.
[16] umſehen. Da probirte es alles. Da lernte
es auch alles aus purer Noth. Da wurde
es ſo hart, daß es alles ausſtehen konnte,
alles gewohnt wurde. Und da wurde es auch
ſo wild, daß es nichts fuͤrchtete. So ſtelle
ich mir die Sache vor.


Vater. Weil es keine Gefahr kannte,
willſt du ſagen. Ganz recht, meine Tochter.
Fritze, kannſt du das nicht begreifen?


Fritze. O ja! nun recht gut.


Vater. Wollteſt du aber wohl mit dem
wilden Maͤdchen tauſchen? Es iſt doch ſchoͤn,
wenn man ſo alles ertragen kann, immer ge-
ſund iſt, ſich vor nichts fuͤrchten darf, und
alles hat, was man braucht.


Fritze. Das iſt es wohl; aber ich mag
doch nicht tauſchen. Es war denn doch bey
dem allen ein elendes wildes Maͤdchen, und
aͤrger als ein Thier.


Vater.
[17]

Vater. Nein! mein Sohn. Es war ja
ein Menſch, wie du biſt.


Fritze. Aber ich bin doch ein ganz anderer
Menſch, wenn ich gleich das alles nicht kann.


Vater. Warum denn das, lieber Fritze?
das moͤchte ich wohl von dir hoͤren, und wuͤr-
de mich freuen, wenn du es traͤfeſt.


Lottchen. Laſſen Sie mich, Vater! Laſſen
Sie mich.


Fritze. Nein! ich wills ſagen.


Vater. Von dir, Lottchen, glaub’ ichs
ſchon; aber laß Fritzen einmal ſeine Weisheit
auskramen. Sage an.


Fritze. Darum bin ich ein ganz anderer
Menſch, weil ich ſprechen, leſen, ſchreiben
kann, und viel verſtaͤndiger bin, als das
dumme Maͤdchen. Waͤre ich in ſeiner Stelle
geweſen, ich waͤre nicht auf den Baum, ſon-
dern gleich wieder ins Waſſer gegangen. Sie
haͤtten mir wohl ſollen vom Leibe bleiben.


IITheil. BLottchen.
[18]

Lottchen. Ein Woͤrtchen, lieber Vater!


Vater. Was denn?


Lottchen. Sie wollten doch eigentlich
wiſſen, was wir vor dem wilden Maͤdchen
voraus haͤtten? Ach! die gute Erziehung,
und den Verſtand
. Wenn die Leute im Dor-
fe nicht Verſtand gehabt haͤtten, ſo haͤtten ſie
das wilde Ding nicht einmal fangen koͤn-
nen.


Vater. Da haſt du Recht, meine Toch-
ter! und ich bitte euch gar ſehr, lieben Kin-
der! lernt ja die Wohlthat einer guten Er-
ziehung
recht dankbar erkennen. Ohne Er-
ziehung waͤchſt der Menſch auf wie ein Thier,
wie ihr an dem wilden Maͤdchen ſehet. Er
kann nicht einmal ſeine Zunge und Sprache
gebrauchen. Der Verſtand kann nicht auf-
kommen. Er bleibt ein Thier.


Lottchen. Herzensvater! wir wollen das
Gute nicht vergeſſen, das ſie an uns thun.
Ach!
[19] Ach! Gottlob, daß wir durch unſere lieben
Aeltern vernuͤnftige Menſchen ſind!


Fritze. Und durch ſie ſo viel Gutes ler-
nen — ſo viele Wohlthaten der Kleidung, ge-
ſunder Speiſen, Bequemlichkeit, und ſo viele
andere Freuden haben.


Dorchen. Gott vergelte es ihnen.


V.
Kindergeſpraͤch vom Fruͤhlinge.


Fritze.


Das iſt doch Schade, daß es nicht mehr
ſo recht ſchneyen und frieren will. Ich
bin dem Winter gar zu gut.


Dorchen. Das wollte ich wohl rathen,
warum du dem Winter ſo gut biſt: daß du
brav ſchlickern und auf dem Schlitten fahren
kannſt? Sonſt wuͤßte ich doch eben nicht,
B 2warum
[20] warum du den Winter ſo lobeſt. Ich freue
mich auf den ſchoͤnen May. O! wenn er doch
nur erſt da waͤre!


Fritze. Wie kannſt du doch meine Gedan-
ken errathen? Juſt das wars. O! geh mir
mit deinem May. Da lauft ihr Maͤdchen
nach den Blumen, nach der Nachtigall, und
nach ſolchen Poſſen. Da muß ich ſchon fruͤ-
her aufſtehen, als ſonſt. Und das liebe Bet-
te — Wenns Mittag wird, da donnerts
wohl gar, daß ich in den Keller kriechen moͤch-
te. Ich lobe mir den Winter. Der iſt noch
einmal ſo gut. Wenn ihr da in den Ofen krie-
chen wollt, ſo ſpanne ich mich mit einer Rot-
te Jungen vor den Schlitten. Heyſa! da
gehts uͤber Stock und Block.


Lottchen. Mich wunderts, Dorchen!
daß du dich mit dem unempfindlichen Jungen
abgiebſt. Er weiß nichts von dem, was ſchoͤn
und angenehm iſt. Stiefeln, ein Paar rauhe
Hand-
[21] Handſchuh, Peitſche und Schlitten — das
iſt was fuͤr ihn. Fritze, du moͤchteſt nur ein
Poſtillion werden.


Fritze. Was gehts dich an, Lotte?
Bleib du bey deinen Puͤppchen. Kuͤſſe du dei-
ne Maͤrzbluͤmchen und Veilchen, ſo viel du
willſt. Ich kuͤſſe mir meinen Schlitten.


Lottchen. Auch den Schnee, wenn du
manchmal hineinpurzelſt.


Fritze. Ja! da wuͤrdeſt du dich anſtel-
len. Das moͤchte ich wohl einmal ſehen: Ha!
ha! ha!


Dorchen. Ich goͤnne dir deine Luſt ger-
ne, lieber Fritze: auch daß du dem Winter
ſo gut biſt. Du haſt eine ſchoͤne warme Stu-
be, ein weiches Bette, ganze Struͤmpfe und
Stiefeln, gute Winterkleider — und, wenn
du des Abends von deiner Schlittenfahrt
koͤmmſt, ein warmes Suͤppchen. Nicht wahr?
Da hat denn das Herrchen gut thun.


B 3Fritze.
[22]

Fritze. Soll ich das nicht haben? Bin
ich nicht ſo wohl Kind im Hauſe, wie du?
Was mag das Maͤdchen wollen?


Dorchen. Warum das nicht? Ich will
dirs nicht nehmen. Wenn du aber ein armes
Kind waͤreſt, — keine ganze Schuhe, Struͤm-
pfe und Kleider — oft kein Hemde auf dem
Leibe haͤtteſt — wenn du dich des Abends mit
Brod, Kaͤſe und kaltem Waſſer behelfen —
und denn noch dazu auf dem Boden auf Stroh,
unter ein Paar alten Lumpen ſchlafen muͤßteſt,
wo der Wind brav durchſauſet, und dir der
Schnee um die Ohren floͤge — Burr! da
wuͤrde mein Fritze ganz anders ſprechen, und
den Winter nicht ſo loben.


Fritze. Was gehen mich die armen Kin-
der an? Die laß frieren.


Dorchen. O Fritze!


Lottchen. Sagte ich dir nicht, Dorchen, du
ſollteſt ihn laufen laſſen? Er hat ein hartes Herz.


Dorchen.
[23]

Dorchen. Pfuy! ſchaͤme dich, Fritze,
in deine Seele. Wer wird gegen arme Kinder
ſo unbarmherzig ſeyn? Sinds nicht ſo wohl
Menſchen, als wir? Und der Vater ſagt uns
immer: wir ſollen keinen verachten. Aber
eins will ich dir nur noch ſagen. Da biſt du
geſtern Abend wieder auf dem Teiche geweſen,
und haſt geſchlickert. Ich weiß alles. Der
Vater hat dirs ſo oft verboten. Wie leicht
kann das Eis brechen! ſo biſt du weg. Wirſt
du das nicht bleiben laſſen, ſo muß ichs dem
Vater ſagen. Diesmal aber will ichs noch
nicht thun.


Fritze. O! bitte, bitte, liebes Dorchen,
ſag’ es doch nicht. Ich wills nicht wieder
thun.


Lottchen. Seht doch, wie er nun bitten
kann.


Fritze. Wenn ihr ſonſt nichts wollt, als
mich angeben, ſo koͤnnt ihr laufen. Fort! Es
B 4ſcheint,
[24] ſcheint, als ob es thauen wollte. Noch ein-
mal muß ich recht Schlitten fahren.


VI.
Fortſetzung des fuͤnften Stuͤcks.


Dorchen.


Wenn wir doch koͤnnten erſt wieder in den
Garten kommen! Bald, bald wird der
Schnee weg ſeyn.


Lottchen. Ich bin ſchon drinn geweſen,
und habe Maͤrzbluͤmchen gepfluͤckt.


Dorchen. Ach! die allerliebſten Bluͤm-
chen! Und haſt mir keine davon gegeben?


Lottchen. Du weißt, Schweſterchen!
daß ich dir von allem gebe, was ich habe.
Aber dieſe hatte ich fuͤr unſere liebe Mutter
gepfluͤckt, und ihr ein Straͤuschen davon ge-
bunden. Ach! ich habe ja ſonſt nichts, was
ich
[25] ich ihr fuͤr ihre Treue gegen mich wiedergeben
koͤnnte. Wir haben eine gar zu gute Mutter.


Dorchen. O! das haͤtt’ ich auch gerne
gethan. Nicht fuͤr mich haͤtt’ ich ſie haben
wollen. Haͤtteſt du mir nur ein Paar gegeben.
Du haſt dir eine große Freude, mir aber eine
große Traurigkeit gemacht.


Lottchen. I, das dauert mich denn
doch. Komm, liebes Kind, wir wollen zu-
ſehen, ob nicht noch ein Paar da ſind.


Dorchen. Was kann mir das nun hel-
fen? Du haſt doch die Freude zuerſt gehabt.
Daß ich doch daran auch nicht eher gedacht
habe!


Lottchen. Gieb dich zufrieden. Die Mut-
ter wirds eben ſo gut aufnehmen, als haͤtteſt
du ihr die Bluͤmchen mit mir zugleich gebracht.


Dorchen. Nun das iſt ſchoͤn. Komm,
komm nach dem Garten. Da ſtehen denn doch
noch ein Paar. Ueber die niedlichen Bluͤm-
B 5chen!
[26] chen! Ich bin den Dingern gar zu gut. Sie
ſtehen da ſo friſch im Schnee — weiß, wie
der Schnee, und fuͤhlen keine Kaͤlte. Andere
Blumen koͤnnen das nicht ertragen. Und es
ſind die erſten, ach die erſten! Dann iſt der
Winter bald, bald vorbey. Die rechten Fruͤh-
lingsbothen. Dann koͤmmt der ſchoͤne Som-
mer. Heyſa! luſtig, da wollen wir recht
ſpringen. Ach wenn ſich doch Muͤtterchen nur
noch ein Bißchen uͤber meine Bluͤmchen freuen
moͤchte!


Lottchen (zur Mutter heimlich).


Liebes Muͤtterchen! Dorchen iſt herzlich
betruͤbt, daß ich Ihnen die erſten Bluͤmchen
gebracht habe. Es hat aber noch ein Paar
gefunden. Die wird es Ihnen gleich bringen.
O! freuen Sie ſich doch daruͤber. Hoͤren Sie
wohl? Thun Sie es mir zu Gefallen.


Mutter. Das gute Kind! Und du, lie-
bes Lottchen, komm her, laß dich kuͤſſen, daß
du
[27] du Dorchen auch noch eine Freude goͤnnen
willſt. Ich will mich recht freuen. Sorge
nicht. Du ſollſt es ſehen.


Dorchen. Da, liebſtes Muͤtterchen! noch
ein Paar von den erſten Bluͤmchen fuͤr Sie.
Aber ich komme leider zu ſpaͤt. Bloß fuͤr Sie
habe ich ſie gepfluͤckt. Nehmen Sie hin, beſte
Mutter! Ich wollte Ihnen auch gerne dank-
bar ſeyn, fuͤr das viele Gute, das Sie an
mir thun. Habe ſonſt nichts, gar nichts,
ich armes Kind!


Mutter. Gieb her, liebes Maͤdchen! Sie
ſind mir ſo lieb, als die erſten, die Lottchen
brachte. Dein gutes dankbares Herz koͤmmt
mir nicht zu ſpaͤt. Gleich, Sophie, ein Glas
mit Waſſer her, daß ich ſie einſetze, und dem
Vater zeige. Wie doch der liebe Gott fuͤr
dieſe Bluͤmchen im Schnee geſorget, und ſie
erhalten hat! So ſorgt er noch durch mich
fuͤr dich. Deine Dankbarkeit iſt mir ſehr lieb.
Du
[28] Du wirſts auch wohl gegen Gott ſeyn, der
nun bald wird den ſchoͤnen Sommer kommen
laſſen, daß du dich recht freuen kannſt. Aber
zur Belohnung, daß du ſo dankbar an mich
gedacht haſt, ſollt ihr heute Nachmittag zu-
ſammen in den Garten vor dem Thore gehen.


Dorchen. Nun bin ich zufrieden, Lott-
chen. Freue dich mit mir. Muͤtterchen hat
meine Bluͤmchen nicht verachtet. Wir ſollen
in den Garten gehen, und die Kleinen mit-
nehmen. Hanne ſoll auch mitgehen.


Lottchen. Ich bin ſchon da. Fritze,
willſt du auch mit? Kommt, Ludchen und
Riekchen, ihr ſollt auch mit. Ach! was ich
froh bin, daß ich einmal wieder in die freye
Luft komme. Macht fort, kommt doch. Lauf
hin, Hanne, ſchließ auf, daß wir, batter!
batter! batter! nachkommen.


VII.
[29]

VII.
Beſchluß des ſechsten Stuͤcks.


Dorchen.


Ich muß doch einmal nachſehen, was meine
im Herbſt gepflanzte Baͤumchen machen.
O! ſieh doch, Lottchen! Da ſtehen ſie ſo
friſch, als wenn kein Winter geweſen waͤre.
Der liebe Gott hat ſie auch erhalten.


Fritze. Und ich will ſehen, ob ſchon
Maykaͤfer und Froͤſche da ſind.


Dorchen. Wo wollen die ſchon herkom-
men. Es iſt ja noch nicht im May. Du
fragſt doch bloß darnach, damit du was zu
quaͤlen haſt.


Fritze. Recht will ich die braunen Huſa-
ren dreſſiren, wenn ſie nur erſt da ſind.


Ludchen. Da hucket en Foſch.


Fritze. Wo? wo? Warte, dich will ich
belauren.


Lottchen.
[30]

Lottchen. O! thue ihm nichts, Fritze!
ich bitte dich gar zu ſehr. Das arme Thier
hat dir ja nichts gethan. Es iſt kaum erſt
wieder lebendig worden, und ſoll ſchon wie-
der ſterben.


Fritze. Er ſoll ſterben — Schau her.
Ratſch! ratſch! wie ich ihn mit der Gerte zer-
haue. Da haͤngen die Gedaͤrme heraus. Er
huckt doch noch fort. Warte, willſt du
kuſchen!


Dorchen. Das arme Thier! Nu, Ge-
duld! Das werde ich dem Papa ſagen, daß
du immer noch ſo grauſam gegen die Thiere
biſt. Haſt du ſchon vergeſſen, was der Papa
neulich ſagte, da du eine Maus ſo quaͤlteſt?
Wer gegen die Thiere grauſam iſt, der wird
es auch einmal gegen die Menſchen ſeyn. Du
haſt uns unſere ganze Luſt verderbt.


Lottchen. Komm, Dorchen! Es iſt ein
haͤßlicher Junge. Mir thut das Herz im Leibe
weh.
[31] weh. Ich kann den Anblick nicht laͤnger er-
tragen. Hat der liebe Gott darum den Froſch
den Winter durch erhalten, und wieder auf-
leben laſſen, daß du ihn ſo martern und zer-
hauen ſollſt?


Fritze. Laß die Kroͤte liegen. Was iſt
doch an einem Froſche gelegen?


Lottchen. Wenn du mehr an den lieben
Gott daͤchteſt, der die Thiere zum Nutzen der
Menſchen ſo wunderbar erhaͤlt; ſo wuͤrdeſt
du nicht ſo ſprechen. Doch mit dir iſt nichts
anzufangen. Komm, Dorchen! wir wollen
ein Bißchen ans Waſſer gehen.


Dorchen. Du ſagteſt ja vorher: der
Froſch waͤre wieder lebendig geworden. Iſt
er denn todt geweſen?


Lottchen. Du wareſt nicht dabey, als
uns neulich Abend unſer Lehrer ſo viel Arti-
ges von der Fuͤrſorge des lieben Gottes fuͤr
die Thiere im Winter erzaͤhlte, daß ich bis in
die
[32] die Nacht haͤtte zuhoͤren wollen. Da ſagte
er auch, daß die Froͤſche im Winter unten
auf dem Boden im Waſſer laͤgen, und todt
waͤren.


Dorchen. Wie koͤnnen ſie denn wieder
aufleben?


Lottchen. Nicht ganz todt; ſondern, als
wenn ſie ſchliefen. Im Fruͤhlinge aber, wenn
das Eis weg waͤre, wachten ſie wieder auf,
und wuͤrden lebendig.


Dorchen. I! das iſt doch artig. Nun
dauert mich der arme Froſch da noch mehr.


Lottchen. Einige Schwalben ſollen es
auch ſo machen, und ſich im Herbſt haufen-
weiſe ins Waſſer ſtuͤrzen; andere aber weg-
ziehen.


Dorchen. Horch! da oben uͤber uns.
Siehe da! Willkommen, das erſte Schwaͤlb-
chen! Wo mag das geſteckt haben? Schli-
wick! da fliegt es hin.


Riekchen.
[33]

Riekchen. Kommt einmal hierher. Was
da an der Laube ſitzt? Eine koſtbare Fliege.


Lottchen. Stille, ſtille! Das iſt die
ſchoͤne blau- und rothe Goldfliege. Dich hab’
ich laͤngſt gerne in mein Kaͤſtchen haben wollen.


(Fritze ſchlaͤgt mit dem Huthe darnach,
und ſagt: da haſt du ſie, und lacht
ſie aus).


Lottchen. Es iſt ein rechter Schaden-
froh. Wo er einem Tort thun kann, das
thut er nicht mehr, als gerne. Wie wuͤrde
dir das gefallen? Wir werden dieſen Abend
genug zu erzaͤhlen haben.


Dorchen. Komm, Lottchen! wir wol-
len nach Hauſe gehen, und ihn niemals wie-
der mitnehmen.


Mutter. Kommt ihr denn ſchon wieder,
lieben Kinder? Es iſt doch wohl nichts vor-
gefallen? Ihr ſeht mir aber nicht ſo recht
luſtig aus.


IITheil. CLottchen.
[34]

Lottchen. Das wuͤßte ich eben nicht.


Dorchen. Ich auch nicht, liebe Mutter!


Mutter. Nein! das iſt nicht richtig.
Nur heraus damit. Gewiß hat euch Fritze
wieder alle Luſt verderbt. Der Boͤſewicht!


Lottchen. O Herzensmutter! aͤrgern Sie
ſich doch nicht. Sie wiſſen, daß wir nicht
gerne angeben: haͤtten auch nichts geſagt,
wenn Sie es nicht befohlen haͤtten. Er hat
einen Froſch elendiglich zerhauen — die ſchoͤ-
nen Fliegen verjagt, die wir fangen wollten,
und uns allen Tort gethan.


Dorchen. Ja! ich muß es auch geſtehen [...]
Fragen Sie nur Hannen.


Mutter. Wo iſt Fritze? Was haſt du
heute wieder fuͤr gottloſe Streiche gemacht?
Dieſen Abend geht der Herr ohne Eſſen zu
Bette, und morgen wird ihm ſein Huͤndchen,
ſein Vogel, ſein Schlitten, und alles weg-
genommen.


Fritze.
[35]

Fritze. Ach Mama! warum denn? ich
bin grauſam hungrig. Ich habe ja nichts
gethan. Die Maͤdchen luͤgen.


Mutter. Fragſt du — luͤgſt du noch
lange? Wie dir das gefallen wird; ſo gefaͤllts
den armen Maͤdchen, wenn du ihnen ihre
Fruͤhjahrsluſt verdirbeſt.


VIII.
Vom nahe Aufſehen.


Es iſt ein großer Fehler, wenn ſich die Kin-
der bey dem Leſen und Schreiben ſo ge-
woͤhnen, daß ſie zu nahe oder zu dichte auf-
ſehen, und mit den Augen auf dem Papiere
liegen. Sie haben davon einen doppelten
Schaden
. Erſtlich, daß ſie ſich die Bruſt
zuſammendruͤcken, welches uͤberaus ſchlimme
C 2Folgen
[36] Folgen hat. Zweytens, daß ſie ſich gar bald
kurzſichtig gewoͤhnen.


Denn wenn man mit den Augen zu dichte
aufliegt, und ſich gewoͤhnt, alles nur ganz
nahe nahe zu beſehen; ſo oͤffnet ſich der Stern,
oder die Pupille im Auge zu ſtark. Und wenn
das zu oft geſchiehet; ſo bleibt ſie zu weit of-
fen ſtehen, daß man die Dinge in der Ferne
nicht deutlich mehr erkennen, und bloß nur
in der Naͤhe ſehen kann.


Das ſieht erſtlich ſchlecht aus, wenn man
alles ſo dichte vor die Augen halten muß. Das
iſt zweytens ſehr beſchwerlich und unangenehm,
wenn man in der Folge nur halb ſehen kann,
und, wenn man mit einem uͤber die Straße
geht, immer fragen muß: wer iſt das, der
da herkoͤmmt, oder der da im Fenſter ſitzt?
Das bringt einen drittens um manches Ver-
gnuͤgen der ſchoͤnen Natur, welches diejeni-
gen genießen, die gut in die Ferne ſehen koͤn-
nen.
[37] nen. Denn dieſe ſehen zwanzigmal mehr
Schoͤnes auf dem Felde, als diejenigen, welche
kaum drey Schritte vor ſich was erkennen
koͤnnen.


O Kinder! glaubt das eurem Vater, dem
es Niemand in ſeiner Jugend geſagt hat, und
der mit Schaden klug geworden iſt. Euch
wirds geſagt. Ihr werdet gewarnet. Huͤtet
euch, daß ihr euch durch dieſen ſchlimmen
Gewohnheitsfehler nicht muthwillig um eure
geſunden Augen bringet. Ihr gaͤbet hernach
wohl viel drum, wenn ihr eure Augen wieder
gut machen koͤnntet. Aber dann iſt es zu ſpaͤt.
Dann iſt es nicht mehr zu aͤndern.


Ich bitte dich gar zu ſehr, ſagte der Vater
oft zu Karln: lege dich nicht ſo dichte mit
den Augen drauf, wenn du lieſeſt, oder ſchrei-
beſt. Kannſt du denn etwa nicht mehr ſehen?


Karl. O ja! dort an der Stubenthuͤr
will ichs leſen.


C 3Vater.
[38]

Vater. Wenn du das kannſt, warum
liegſt du denn ſo dichte auf? Deſto mehr biſt
du ſchuldig, deine geſunden Augen zu er-
halten.


Karl. Verderbe ich ſie denn durchs dich-
te Aufſehen?


Vater. Allerdings. Du wirſts gewiß
bereuen, wenn du nicht folgeſt. Siehe einmal
Bernhards Fritzen an. Der arme Junge
hat ſich nun einige Jahre ſchon ſo gewoͤhnt,
daß er auf zwanzig Schritte faſt gar nichts
mehr erkennen kann. Iſt das nicht traurig?


Karl. Das ſollte ich gemerkt haben.
Ich gieng geſtern mit ihm uͤber die Straße.
Da ſaß gegen uͤber ein Huͤndchen im Fenſter.
Gleich nahm er den Huth ab. Als ich fragte:
wen gruͤßeſt du denn? „Da gegen uͤber ſitzt
einer im Fenſter.“ Es iſt ja ein Hund, ſag-
te ich. Da wurde er ganz roth im Geſicht.
Das ſoll mir eine Warnung ſeyn.


Vater.
[39]

Vater. Als wir neulich den Springern
auf dem Markte zuſahen, fragteſt du mich:
Warum ſo viele junge Herren, die bey uns
herumſtanden, durch die Glaͤſer guckten? Bloß
deswegen, weil ſie ſich in der Jugend durch
das dichte Aufſehen die Augen ſo verdorben
haben, daß ſie nun Glaͤſer gebrauchen muͤſ-
ſen, wenn ſie etwas deutlich in der Ferne ſe-
hen wollen. Haben ſie nun einmal das Glas
vergeſſen; ſo haben ſie auch das Auge zu
Hauſe gelaſſen.


Karl. O Vater! das iſt ſchlimm. Ich
wills gewiß nicht wieder thun.


Vater. Als wir neulich auf der Jagd
waren, ſo ſtellte ich dich an einen Baum. Da
kam der Jaͤger, und ſagte: Er haͤtte wohl
auf hundert Schritte einen Hirſch mit zwoͤlf
Spitzen an ſeinem Geweihe geſehen: der alſo
zwoͤlf Jahre alt waͤre. So weit und ſcharf
konnten wir nicht einmal ſehen.


C 4Karl.
[40]

Karl. Ja! ich beſinne mich. Ich wun-
derte mich noch ſehr daruͤber, daß der Jaͤger
ſo weit ſehen konnte.


Vater. Dieſe Leute gewoͤhnen ſich von
Jugend auf, alles in der Ferne zu ſehen. Da-
her koͤnnen ſie auch von weitem alles deutlicher
erkennen, als viele andere. Du ſieheſt daraus,
daß man das Auge gewoͤhnen und verwoͤhnen
kann, wie man will.


Karl. Nu, nu! Sie ſollen ſehen, daß
ich meine Augen gewiß nicht mehr verderben
will.


Vater. Das thue doch ja, lieber Sohn!
um dein ſelbſt willen. Das Auge iſt ja der
edelſte Theil deines ganzen Koͤrpers. Es iſt
des Leibes Licht. Ein blinder Menſch iſt der
elendeſte unter der Sonne. Schone ja deiner
geſunden Augen, und verdirb ſie nicht muth-
williger Weiſe, durch das dichte Aufſehen.


IX.
[41]

IX.
Viel gelernt, und ſchlechte Sitten.


Lorenz hatte einen uͤberaus guten und faͤhi-
gen Kopf. Er konnte in kurzer Zeit alles
faſſen und begreifen. Leſen, Schreiben und
Rechnen war ihm wie nichts. Er lernte fleißig
und gern. Er lernte viel, und mehr, als
andere Kinder in ſeinen Jahren.


Das war gut, und ſehr zu loben. Aber
eins fehlte ihm. Bey allem ſeinem Lernen hatte
er ſehr ſchlechte Sitten, und eine recht grobe
bauernmaͤßige Auffuͤhrung. Er legte ſich al-
lerwegen, wo er war, auf die Stuͤhle, und
mit den Armen auf die Tiſche. Wenn Leute
da waren, hieng er ſich an ſie, oder uͤber ſie
her. Nichts Beſcheidenes, Sittſames und
Hoͤfliches war an ihm. Ueber Tiſche gab er
gar nicht Achtung auf ſich ſelbſt; ſondern
hatte immer den Kopf voll Grillen. Das
C 5Fleiſch
[42] Fleiſch riß er mit den Fingern entzwey, leckte
die Finger ab, und ſperrte das Maul weit
auf, wenn es ihm aufſtieß, daß der Schall
fein hoͤflich herausfuhr. Ueberdies war er
unreinlich und ſaͤuiſch. Haͤnde und Geſicht
ſahen immer aus, als haͤtte er in der Erde
gewuͤhlt, und an ſeinem Munde konnte man
noch ſehen, was er geſtern gegeſſen hatte.


Kurz, Lorenz hatte uͤberaus ſchlechte
Sitten, und war gar kein angenehmes Kind.
Daher mochten ihn andere Leute auch nicht
gerne leiden, wenn er gleich was gelernt hat-
te. Denn er ſchlug das, was er gelernt hat-
te, durch ſeine ſchlechten Sitten ſelbſt wieder
nieder, weil er alles ſo plump, ſo grob, ſo
unhoͤflich an den Tag gab, daß mans nicht
ausſtehen konnte.


Heinrich, ſein Bruder, war ein ganz
anderes Kind. Er lernte auch ſehr gut, aber
nur langſamer; doch lange ſo viel nicht, als
jener.
[43] jener. Dagegen aber hatte er ſehr feine und
artige Sitten. Beſcheiden, hoͤflich, gegen
Jedermann freundlich und gefaͤllig: reinlich,
ordentlich: bey Tiſche ſittſam und maͤßig.
Sich ſelbſt, und ſeinen Koͤrper wußte er ſo
artig zu tragen, daß es nicht zierig, ſondern
natuͤrlich war. Jedermann mochte ihn gerne
um ſich haben. In Geſellſchaft war er kei-
nem zur Laſt, und in ſeinem ganzen Betragen
hatte er ſo viel Angenehmes, daß man ihn
recht lieb hatte.


Welches Kind hatte nun wohl den Vor-
zug? Was hilft alles Lernen und Wiſſen, wenn
es nicht auch die Sitten verbeſſert, daß man
in der Welt fortkommen kann? Dadurch wirds
erſt Weisheit.


Beyde Bruͤder ſollten bey einem Kaufmann
in die Lehre gebracht werden. Von beyden
ſollte er ſich den ausſuchen, den er behalten
wollte. Was geſchahe? Lorenz wurde zu-
ruͤckge-
[44] ruͤckgeſchickt, und Heinrich blieb da. Der
Kaufmann ſchrieb dabey:
„Obgleich Ihr Sohn Lorenz weit mehr
„gelernt hat, als Heinrich: auch Eng-
„liſch und Franzoͤſiſch verſteht; ſo kann
„ich ihn doch wegen ſeiner ſchlechten
„Sitten nicht behalten: Heinrich iſt
„mir viel lieber und brauchbarer. Ich
„kann ihn doch unter Leute ſchicken.“


Das heißt denn wohl recht: Viel gelernt,
und ſchlechte Sitten
.


X.
[45]

X.
Es iſt nicht alles ſo, wie es
ſcheint.


Lernt das ja bey Zeiten, lieben Kinder! es
iſt eine Sache nicht allezeit ſo, wie ſie
ſcheint. Der Schein iſt ſehr betruͤglich, und
diejenigen kommen manchmal ſchlecht weg,
die ſich durch den aͤußerlichen Schein verfuͤh-
ren laſſen.


Karl und Fritze wollten ſich einmal eine
Schachtel ſuchen. Sie ſtoͤrten in einem alten
Kuͤchenſchranke herum. Da fanden ſie ein
Schaͤchtelchen mit einem weißen Pulver. Ha!
ha! ſagte Karl, das iſt Zucker. Gleich wur-
de gekoſtet, und alles aufgenaſcht. Nicht lan-
ge nachher bekamen die Kinder grauſames
Reißen im Leibe. Denn es war Arſenik oder
Rattenpulver geweſen. Der bloße Schein hat-
te ſie geblendet. Denn dieſes Gift ſieht accurat
wie
[46] wie Zucker aus. Sie kamen kaum mit dem
Leben davon.


Womit ſpielſt du denn da, Guſtchen,
fragte der Vater? „I! mit ſchoͤnen Gold-
pfennigen.“ Es waren gelbe Zahlpfennige.
Dem Kinde, das den Werth einer Sache noch
nicht verſteht, iſt es einerley: es ſpielt mit
Zahlpfennigen, oder mit Goldſtuͤcken, wenn
ſie nur gelb ausſehen, wie Gold. Iſt aber
der bloße gelbe Schein, oder die Farbe das,
was das Gold zum Golde macht? Nein! nicht
der Schein, ſondern der innere Werth. Da-
her pflegt man auch im Spruͤchwort zu ſagen:
Es iſt nicht alles Gold, was glaͤnzt, oder
wie Gold ausſieht
.


So iſt es mit vielen Dingen in der Natur.
Wenn du in der Allee ſtehſt, Fritze, und
ſiehſt herunter, ſo laͤßt es, als ob ſie unten
ſpitz zuſammenliefe. Wenn du oben vom Thur-
me
[47] me herunter ſieheſt, ſo laſſen die Leute unten
viel kleiner, als du biſt. Wenn du ins Waſ-
ſer ſiehſt, ſo praͤſentiren ſich alle Thuͤrme,
Haͤuſer und Baͤume verkehrt. Wenn du des
Abends auf dem Felde biſt, daß die Sonne
untergehen will, ſo iſt der Schatten des Thurms
wohl zehnmal laͤnger, als der Thurm ſelbſt
iſt. Dein gruͤnes Kleid ſieht des Abends bey
Lichte blau, und dein blaues gruͤn aus.


Was ſind das fuͤr Glaͤſer, ſagte Dorchen
zu Fritzen, die da mit Waſſer auf der Bank
ſtehen?


Fritze. Der Vater hat ſie dahin geſetzt.
Sie ſollen rein werden. Bleib ja davon.


Dorchen. Da unten in dem einen liegt
ein ſchoͤnes Kaͤferchen. Fritze, hol es doch
mit deinem Stocke heraus.


Fritze. Das will ich wohl thun.


Dorchen. Wo willſt du doch mit dem
krummen Stocke das Ding heraus kriegen?


Fritze.
[48]

Fritze. Was ſprichſt du da? Mein Stock
iſt ſo gerade, als er ſeyn kann.


Dorchen. Es iſt nicht wahr. Er iſt ſo
krumm, wie mein Ellbogen.


Fritze. I! ſo ſiehe doch her. Da hab’
ich ihn herausgezogen. Wo iſt er denn nun
krumm?


Dorchen. Nu! das begreife ich doch
nicht. Was hab’ ich denn geſehen? Im Waſ-
ſer war er dir ganz krumm. Du kannſts
glauben.


Fritze. Wer weiß, was du geſehen haſt?


Dorchen. Thue mir den Gefallen, Fritze,
und ſtecke den Stock noch einmal ins Waſſer.


Fritze. Da ſteckt er.


Dorchen. Nun, ſo komm doch her. Ich
habe doch recht. Iſt er nicht ſo krumm, wie
ein Fidelbogen?


Fritze. Ja! wirklich auch. Aber der
Stock iſt doch gerade.


Dorchen.
[49]

Dorchen. Da koͤmmt der Vater. Hoͤren
Sie doch! Fritze will mir das abſolut ab-
ſtreiten. Der Stock da im Waſſer waͤre nicht
krumm. Sehen Sie nur, wie krumm er iſt!


Fritze. Er iſt doch gerade, du magſt ſa-
gen, was du willſt.


Vater. Kinder! ihr habt beyde Recht.
Der Stock iſt eigentlich gerade. Da hat Fritze
Recht. Im Waſſer aber iſt er krumm. Da
hat Dorchen Recht.


Fritze. Wie geht denn das aber zu?


Vater. Das ſcheint nur ſo; iſt aber nicht
wirklich ſo.


Fritze. Das ſcheint nur ſo, ſagen Sie?
Aber ich ſehe ihn doch krumm, und was ich
ſehe, muß doch wahr ſeyn.


Vater. Nein! mein Sohn. Das wirſt
du kuͤnftig in der Welt noch oft erfahren, daß
das nicht alles wahr iſt, was nur ſo ſcheint.
Jetzt verſtehſt du das noch nicht. Daß du
IITheil. Dden
[50] den Stock im Waſſer krumm ſieheſt, das
koͤmmt von der Brechung des Lichts im Waſ-
ſer gegen den Stock und dein Auge her. Da-
her konnteſt du ihn auch nicht eher krumm ſe-
hen, bis du dahin trateſt, wo Dorchen ſtand.
So eben bringt Marie kleine Fiſche. Laß dir
einmal ein Paar geben. Wir wollen ſie in
dies Glas thun. Da ſtehen ſie nun unten im
Glaſe auf dem Boden. Nicht wahr?


Fritze. Ja! Vater.


Vater. Nun tritt einmal hierher. Wo
ſiehſt du ſie nun?


Fritze. Oben am Waſſer.


Vater. Da ſind ſie aber nicht wirklich.
Das ſcheint auch nur ſo. Du ſollſt es gleich
ſehen. Ich will nur das Glas ein Bißchen
ſchuͤtteln, ſo werden ſie gleich von unten her-
aufkommen.


Fritze, Sieh doch! ſieh doch! Das laͤßt
ja poſſirlich.


Vater.
[51]

Vater. Dergleichen Dinge giebt es noch
mehr in der Welt, die einen falſchen Schein
haben, und die wir bloß durch unſern Ver-
ſtand muͤſſen unterſcheiden lernen. Daher laſ-
ſen ſich Kinder noch ſo oft durch den falſchen
Schein verfuͤhren, weil ſie noch nicht viel ge-
lernt haben. Komm einmal mit herein. Ich
will dir ein vieleckig geſchliffenes Glas weiſen.
Gucke einmal herein.


Fritze. Ich ſehe mein Geſicht wohl hun-
dertmal. O! das iſt ja was ſcharmantes.


Vater. Lerne daraus, mein Sohn! daß
du kuͤnftig ja nicht nach dem bloßen aͤußer-
lichen Scheine urtheileſt. Du wirſt noch man-
ches Unangenehme in der Welt erfahren. Das
ſcheint dir Ungluͤck und lauter Boͤſes zu ſeyn.
Und es iſt doch lauter Gutes, weil es Gott
ſo kommen laͤßt. Gottes Wege ſcheinen uns
oft ſo krumm zu ſeyn, wie der Stock im Waſ-
D 2ſer,
[52] ſer, und ſie ſind eigentlich doch gerade, hei-
lig und gut.


Es war einmal ein armer, armer Knabe,
der fruͤh Vater und Mutter verloren hatte.
Er ſchien von allen verlaſſen zu ſeyn, und
wußte nicht, wie er durchkommen wollte. Und
ſiehe, es kam ganz anders, als es ſchien. Der
Anfang ſeines Lebens ſchien ſehr krumm. Es
nahm ihn ein reicher Herr zu ſich. Der ſtarb.
Nun kam er zu einem Kaufmann. Der ſtarb
auch. Doch hatte er da Leſen, Schreiben
und Rechnen gelernt. O wie kuͤmmerlich
mußte er ſich manchmal durchhelfen! Er half
ſich aber ehrlich, ohne Trug, Diebſtahl und
verbotene Mittel durch. Er war fleißig und
maͤßig — fieng mit drey Groſchen einen klei-
nen Handel an, und iſt nun ein reicher wohl-
habender Mann. Der Ausgang war gerade,
wie der aus dem Waſſer gezogene Stock.


Iſt
[53]

Iſt nun noch alles ſo, lieber Fritze, wie
es ſcheint?


XI.
Der Bauer und die Nachtigall.


O! koͤmmſt du, liebe Nachtigall?

Mit dir koͤmmt Freud und Luſt.

Du ſingeſt Freuden uͤberall

In meine frohe Bruſt.

Wo Menſchen ſind, da biſt du gern,

Recht wie ein Menſchenfreund:

Wenn irgend in der Naͤh’ und Fern

Ein armer Bruder weint.

Da ſingſt du denn ſo mild und ſchoͤn,

Daß einem’s Herze quillt,

Und ſich gar bald im Ummeſehn

Die Thraͤnenquelle ſtillt.

D 3Juͤngſt
[54]
Juͤngſt weint ein armer Landmann ſehr —

Er hatte kaum noch Brod —

Der Frohnvogt grauſam hinterher —

Ach ſprach er: lieber Gott!

Gieng traurig in den nahen Wald,

Wo er mit Thraͤnen ſaß;

Da hoͤrt er dich, daß er gar bald

Des Weinens ganz vergaß.

Du, ſprach er, liebes Voͤgelchen!

Das unſer Herr Gott ſchuf,

Biſt luſtig, wie ein Engelchen,

Wie elend mein Beruf!

Doch zage nicht, du armes Herz!

Hier iſt noch eine Hand.

Hau ab das Holz. Weg iſt der Schmerz!

Denn Arbeit iſt mein Stand.

Baf! Baf! giengs muthig an den Stamm,

Die Spaͤne ſtoben ſchon.

Die
[55]
Die Nachtigall geflogen kam,

Mit ihrem Freudenton.

Sah zu, wie ſaur’s dem Bauer ward,

Und wie ſein Schweiß hinfloß;

Sang lieblicher nach ihrer Art:

Sein Muth ward froh und groß.

Noch mal ſo gern arbeit ich hier,

Du machſt mirs Herze froh.

Wer fuͤr dich ſorget fuͤr und fuͤr,

Dem trau ich eben ſo.

Der dir das liebe Kehlchen gab,

Giebt Rettung in der Noth:

Nahm mir ſchon manche Sorge ab:

Sey Lob dem lieben Gott!

XII.
[56]

XII.
Die Maus und die Katze.


Es war einmal ein Maͤuschen in einer
Kinderſtube, das nur des Abends vor
kam, und die Kruͤmchen von dem Butterbrode
der Kinder aufſuchte.


Ein großer Kater lag auch immer in die-
ſer Stube den ganzen Tag auf den Betten
herum, und pflegte ſich recht gut, wie ein
Faulenzer. Des Mittags fraß er ſein Suͤpp-
chen ſo gut, wie es die Kinder hatten. Denn
er war unverſchaͤmt genug, mit den Kindern
in der Aeltern Stube zu Tiſche zu gehen. Wenn
nun des Abends ſich das arme Maͤuschen nur
blicken ließ, ſo paßte er auf, und wollte es
fangen.


Dies war aber ſo ſchlau, daß es ſich nicht
weit vom Loche verſtieg. Daher der Kater
manchen vergeblichen Sprung that, daß die
Kinder
[57] Kinder was zu lachen hatten. Endlich, da
er auch einmal das Maͤuschen ins Loch gejagt
hatte, und vor dem Loche lauerte, kehrte ſich
dies um, und ſagte:
„Du Grauſamer! was habe ich dir ge-
than, daß du mir ſo nach dem Leben
trachteſt? Ich thue hier keinem was
zu Leide. Was nehme ich dir? Ich
behelfe mich bloß mit den Kruͤmchen,
die an der Erde liegen, und keinem zu
Gute kommen. Wie gut haſt du es!
Und nun goͤnnſt du mir nicht einmal
die Kruͤmchen, die du doch nicht magſt;
ſondern trachteſt mir auch nach dem
Leben. Iſt das wohl Recht?“


Der Kater ſtreichelte ſich den Bart, leckte
ſeine Pfoten, und ſprach: Du dumme Maus!
Das verſtehſt du nicht beſſer. Das iſt meiner
Natur, meinem Beruf gemaͤß, daß ich dich
D 5freſſe.
[58] freſſe. Komm nur heraus, ſo ſollſt du es
bald erfahren.


Iſts unter Kindern wohl anders? Wie
manches Kind, das es recht gut hat, wird
durch die zu guten Tage faul und neidiſch,
wie dieſer Kater, und goͤnnt den andern die
Luft und Brodkrumen nicht!


Wie manches Kind, das vornehmer und
reicher iſt, als andere, wird grauſam und
hart gegen arme und geringere, und denkt:
Das iſt meinem Stande gemaͤß!


XIII.
[59]

XIII.
Der Traum.


Es war einmal ein Vater, der hatte ſieben
Kinder: vier Soͤhne, Auguſt, Jacob,
Lorenz
und Heinrich, und drey Toͤchter,
Dorchen, Lottchen und Albertine.


An einem ſchoͤnen Sommerabend gieng der
Vater mit ſeinen ſieben Kindern ſpatzieren. Es
war eine angenehme Wieſe, wo ein ſanfter
Bach herunterfloß. Da ſetzte ſich der Vater
an den Bach, und ſahe zu, wie die muntere
Jugend, wie die kleinen Heuſchrecken, im Gra-
ſe herumhuͤpfte. Nun, ſprach er bey ſich
ſelbſt, will ich doch einmal Achtung geben,
was ſie vornehmen. Vielleicht hab’ ich hier
Gelegenheit, ihre Neigungen und Geſinnun-
gen zu erforſchen.


Auguſt lief hinter die Schmetterlinge her,
konnte ſich ſehr uͤber ein Bluͤmchen freuen,
nahm
[60] nahm hernach ein Buch, ſetzte ſich auch an
den Bach, und las. Jacob ſchnitt ſich Ru-
then, hieb die Blumen ab, und peitſchte Froͤ-
ſche todt. Lorenz legte ſich ins Gras, ſtarrte
den Himmel an, empfand nichts, und wollte
ſchlafen. Heinrich ſchlich herum, bald zu
dieſen, bald zu jenen, und ſuchte den andern
heimlichen Tort zu thun. Dorchen hatte ihr
Strickzeug bey ſich, war fleißig, wandelte
mit langſamen Schritten am Bache herunter,
und vergnuͤgte ſich beſonders an dem Fleiß
der emſigen Bienen, die von einem Bluͤmchen
zum andern flogen, und ihre Hoſen recht dicke
voll gefuͤllet hatten. Lottchen flatterte hier
und da herum, und wußte ſelbſt nicht, was
es wollte. Albertine aß beſtaͤndig Roſinen
und Mandeln aus der Ficke, und bekuͤmmer-
te ſich ſonſt um nichts.


Der Vater ſaß ganz ſtille, und beobach-
tete die Handlungen ſeiner Kinder. Als es
Zeit
[61] Zeit war, giengen ſie nach Hauſe, und legten
ſich zu Bette. Der Vater aber lag noch eine
geraume Zeit, und konnte nicht einſchlafen.
Er bat Gott, daß er doch ſeine Kinder ſegnen,
und im Guten erhalten wolle. Da kam ihm
auf einmal der Gedanke ein: Was wird doch
aus allen den ſieben Kindern in der Welt wer-
den: wo werden ſie hinkommen, und wie wirds
ihnen gehen? Mit dieſem Gedanken ſchlief er
ein, und hatte folgenden Traum.


Es kam ihm vor, als waͤre er noch auf
der Wieſe, wo er den Tag vorher mit den
Kindern geweſen war. Da trat eine ſchoͤne
Frauensperſon zu ihm, die wie die Geſund-
heit ausſah. Sie gab ihm die Hand, und
er wunderte ſich, daß ſie ſo hart war, wider
die Gewohnheit der meiſten Frauenzimmer.


Folge mir, ſprach ſie, und nun fuͤhrte ſie
ihn durch verſchiedene Gegenden in ein ange-
nehmes
[62] nehmes Luſtwaͤldchen, eben da die Sonne auf-
gieng. Sie aber verſchwand.


Voll Verwunderung gieng er da eine Wei-
le herum, und es war ihm alles unbekannt.
Endlich begegnete ihm ein Prediger mit vier
geſunden und muntern Kindern. Er gieng
ihm naͤher, und fragte, wo er waͤre? „Sie
ſind im Thuͤringiſchen, ſagte der Mann, mit
einer ungemeinen Freundlichkeit, nicht weit
vom Schwarzwalde, und ſteckte das Buch
ein, wo ich nicht irre: Sulzers Unterredun-
gen uͤber die Schoͤnheiten der Natur, worinn
er geleſen hatte.


Und was machen ſie denn ſchon ſo fruͤh
hier, fragte er den Prediger? Auch die Kin-
derchen da — koͤnnen denn die ſchon ſo fruͤh
aufſtehen? „Ich, ſagte der Prediger, habe
hier eine ſehr maͤßige Landpfarre; aber durch
meinen Fleiß erhalte ich mich und meine Kin-
der ſehr gut. Denn man braucht wenig, um
vergnuͤgt
[63] vergnuͤgt und zufrieden zu ſeyn. Schen ſie
meine Haͤnde, wie hart ſie ſind! Kinder! zeigt
einmal eure Haͤnde.“ Die waren auch zur
Arbeit gewoͤhnt. „Und der liebe Gott erhaͤlt
uns geſund. Alle Morgen gehe ich mit Auf-
gang der Sonne mit meinen Kindern hierher.
Da ſtaͤrken wir uns erſt zur Arbeit, und lo-
ben den lieben Gott, daß er in ſeinen Werken
ſo viel Schoͤnes und Gutes fuͤr uns bereitet
hat. Die Kinder laufen denn hinter die bun-
ten Schmetterlinge her, fangen ſich welche,
ſammlen ſie ſich in Kaͤſtchen, wie ich es ſonſt
in meiner Jugend machte; ich aber erklaͤre
ihnen dabey, wie der liebe Gott ſo gut und
vaͤterlich gegen alle ſeine Geſchoͤpfe ſey. Da
leben wir denn zuſammen recht vergnuͤgt.“


Um Vergebung, fragte der Vater den Pre-
diger, wie heißen ſie denn? „Ich? Auguſt
Gottlieb ****“ Wo ſind ſie denn her, und
wer war ihr Vater? Er ſagte es ihm auch.
Da
[64] Da ſtand der Vater wie verſteinert. Denn es
war ſein Auguſt, der auf der Wieſe hinter
die Schmetterlinge herlief. Er wollte ihn um-
armen; allein er erwachte, und hatte das
Kopfkuͤſſen im Arm.


Doch ſchlief er bald wieder ein. Da er-
ſchien ihm abermal das Frauenzimmer mit
den harten Haͤnden, und ſagte: Ich bin der
Fleiß. Darum habe ich ſo harte Haͤnde.
Deinem Auguſt wirds wohl gehen. Denn er
iſt fleißig. Und er wird das werden, wie du
ihn geſehen haſt.


XIV.
[65]

XIV.
Fortſetzung des dreyzehnten Stuͤcks.


Gleich nachher kam es ihm vor, als waͤre
er im Kriege auf einem Schlachtfelde.
Da war ein Trommeln, Schießen, Kanoni-
ren, Rufen und Schreyen, daß es erſchreck-
lich war. Da lagen ſo viele Todte und Ver-
wundete, daß er ſich der Thraͤnen nicht ent-
halten konnte. Er lief weg von dem Schlacht-
felde; ſah aber an einem Berge einen Ver-
wundeten liegen, dem eine Kanonenkugel das
rechte Bein weggenommen, und der ſich ſehr
uͤbel hatte.


Er hob ihn auf, und trug ihn ins naͤchſte
Dorf. Es war ein junger wackrer Menſch.
„Ach! ſagte er, haͤtt’ ich meinen Aeltern gut
gethan, ſo waͤr’ ich nicht in dies Ungluͤck ge-
kommen. Ich war von Kindheit auf grauſam
gegen die Thiere. Dadurch wurde ichs auch
IITheil. Egegen
[66] gegen die Menſchen. Mein ganzer Sinn ſtand
nach Krieg und Morden. Ich kam unter die
Soldaten, und nun iſt mirs ſo ergangen.“


Mein Gott! ſagte der Vater, ich ſollte ihn
ja kennen. Die Stimme iſt mir ſo bekannt.
„Ich heiße ſo und ſo“ — Da wars ſein Ja-
cob
, der auf der Wieſe die Froͤſche ſo zerhieb.
Er that einen lauten Schrey, und erwachte.


Da er bald wieder einſchlief, ſo traͤumte
er weiter: er waͤre in einem großen praͤchtigen
Hauſe. Da wurde an einer langen Tafel ge-
ſpeiſt; hernach geſpielt, getanzt, muſicirt; und
es war da nichts, dem Scheine nach, als lauter
Freude. Im Saale aber ſaß ein junger un-
geſunder kraͤnklicher Menſch, in einem großen
Lehnſtuhle, mit Kuͤſſen bedeckt, der dem allen
mit der traurigſten Miene zuſah, und alle
Augenblicke vor Schmerzen aufſchrie. Die
Bedienten brachten ihm ganze beſchriebene Bo-
gen, die er zur Erde warf, und mit Fuͤßen trat.


Er
[67]

Er konnte ſich das alles nicht erklaͤren, bis
ein alter verſtaͤndiger Mann zu ihm kam, und
ihn bey Seite zog. „Sie ſind, ſagte er, wie
es ſcheint, hier fremd, und wundern ſich uͤber
die Wirthſchaft. Der kranke Herr dort iſt der
faulſte Menſch von der Welt, der auch gar
nichts thut, als eſſen, trinken, ſchlafen. Er
wurde bettelarm. Da that er von ſeinem
Onkel aus Oſtindien eine reiche Erbſchaft.
Aber nun wurde er ein dummer Verſchwender,
ſoff und fraß ſich krank, wie ſie ſehen. Den-
noch muß das Wohlleben fortgehen. Andere
zehren ihn aus, und er hat ſchon ſo viele
Schulden, daß alle Augenblicke bogenlange
Rechnungen kommen, die er vor Unmuth mit
Fuͤßen tritt.“


Was iſt er denn fuͤr Herkommens, frag-
te der Vater? Der Mann nannte ſeinen Na-
men, und ſetzte hinzu: Sein Vater ſoll ein bra-
ver Mann geweſen ſeyn. Gott! wie erſchrak
E 2der
[68] der Vater, da er erfuhr, daß es ſein Lorenz
war, der auf der Wieſe im Graſe lag, und
ſich vor Faulheit nicht laſſen konnte. Er wollte
hin zu ihm nach dem Stuhle, ſtolperte aber
uͤber eine Schwelle, und erwachte.


Er ſchlief noch einmal ein, und nun traͤum-
te ihm, daß er in einer großen Stadt die oͤf-
fentlichen Haͤuſer beſaͤhe. Er kam auch ins
Zuchthaus. Da ſahe er allerley Elende und
Boͤſewichter. Unter andern einen jungen Men-
ſchen, der bey der Arbeit faſt immer Schlaͤge
bekam. Warum ſchlaͤgt er denn den Menſchen
noch? fragte er den Zuchtmeiſter. Er thut ja
ſeine Arbeit. „O! ſagte dieſer, das iſt mir
der rechte. Das iſt ein Erzboͤſewicht, der es
nicht laſſen kann, unter der Arbeit und den
haͤrteſten Strafen andern Tort zu thun. Sehen
ſie nur, da hat er dem einen Knechte die
Struͤmpfe und Stiefeln zerſchnitten. Da hat
er Schwefel angelegt, und das Haus wollen
in
[69] in Brand ſtecken. Da hat er das Raſpeleiſen
eingefeilt, daß es brechen muß. So hat ers
von Kindheit auf getrieben. Seinen Aeltern
iſt er davon gelaufen, und endlich, da er al-
len Menſchen Tort gethan, iſt er ins Zucht-
haus gekommen, wo man ihn noch nicht baͤn-
digen kann.„


Wie heißeſt du denn, fragte er ihn, wo-
bey es ihm kalt uͤber die Haut lief, als ob
ihn was ahndete. Er ſagte ſeinen Namen,
und er fiel in Ohnmacht. Denn es war ſein
Heinrich, der auf der Wieſe herumſchlich,
und allen Kindern Tort that. Als er erwach-
te, lag er zu den Fuͤßen im Bette.


XV.
[70]

XV.
Fortſetzung des vierzehnten Stuͤcks.


Vor Unruhe ſchlief er wieder ein, und nun
war er auf einem ſchoͤnen Landgute, wo
alles in der beſten und herrlichſten Ordnung
war. Er gieng in den großen Garten, und
es wollte Abend werden. Da begegneten ihm
in der einen Allee der Herr und die Frau des
Hauſes — Arm in Arm geſchlungen — und
muntere Kinder huͤpften um ſie her. Die Frau
war uͤberaus reinlich gekleidet, hatte ihre
Schluͤſſel und Strickzeug an ſich, und die
Kinder trugen ein Koͤrbchen mit Buͤchern.


Sie redeten ihn freundlich an, und die
Frau ſagte: Sie wollen ſich gewiß in unſerem
Garten beſehen. Leben ſie aber auch ſo gluͤck-
lich, als ich? Ich habe den beſten Mann von
der Welt. Da kuͤßte ſie ihn. Das thaten die
Kinder auch unter einander. Meine Neigung
war
[71] war von jeher nach dem Landleben. Ich lieb-
te daher Fleiß, haͤusliche Wirthſchaft, Ord-
nung und Reinlichkeit ſehr. Daneben aber
konnt’ ich mich uͤber die ſchoͤne Natur nicht
genug freuen. Gott hat meinen Wunſch er-
fuͤllt, und mich hierher gefuͤhrt, daß ich ſo
gluͤcklich geheyrathet habe. Ich hatte nichts
von meinen Aeltern; aber dieſer Geliebte ſah
auf mein Herz, auf meine Tugend, und auf
meinen Fleiß. Er liebt die ſchoͤne Natur, als
ein Freund Gottes, eben ſo ſehr. Da haben
wir ſo eben etwas aus Sanders Großem und
Schoͤnem in der Natur geleſen.


Er konnte ſich nicht enthalten zu fragen:
wer denn ihre Aeltern geweſen waͤren? Auf
ihre Antwort fiel er ihr um den Hals. Denn
es war ſein Dorchen, das er immer vor allen
andern ſo lieb hatte. Indem ſchlug ſeine Uhr
am Bette, und er erwachte zu ſeinem groͤßten
Verdruß.


E 4Er
[72]

Er wuͤnſchte wieder einzuſchlafen, und es
geſchah. Da war er im Traum auf der Land-
ſtraße. Es begegnete ihm ein nachlaͤßig ge-
kleidetes wildes Maͤdchen. Woher, und wo-
hin? rief er ſie an. „Da vom Amte, war die
Antwort. Da kann ich nicht bleiben. Die
Amtmaͤnninn iſt ein naͤrriſches Weib. Das
praͤtendirt den ganzen Tag nichts, als Ord-
nung und Arbeit. Wer kann das ausſtehen?“
Und darauf lief es fort.


Er gieng weiter. Da kam der Schulmei-
ſter aus dem Orte hinter ihm her. Er erkun-
digte ſich bey ihm nach dem Maͤdchen, das
ihn eben verlaſſen hatte. „Ja, ſagte der, das
iſt mir die rechte. So ein flatterhaftes tolles
Maͤdchen hab’ ich in meinem Leben noch nicht
geſehen. Es iſt auch gar nichts mit ihm an-
zufangen. Auf dem Amte gieng es ihm recht
gut. Es war Kammermaͤdchen, Ausgeberinn,
und alles im Hauſe. Aber es konnte nicht
bleiben.
[73] bleiben. Denn das ſind ordentliche Leute,
merken Sie wohl. Alles verdarb es. Alles
vergaß es. Alles machte es verkehrt. Da
haben ſie es laufen laſſen. Es kann bey kei-
ner Herrſchaft bleiben, und hat wohl ſchon
zehn Herren gehabt.“


Wo iſt es denn her, fragte er weiter, und
hoͤrte, daß es ſein flatterhaftes leichtſinniges
Lottchen war, das ſich zu nichts hatte be-
quemen wollen, und bey dem er immer ſo
viele Faulheit und Unordnung bemerkte. Er
wollte hinterher laufen; der Schulmeiſter aber
hielt ihn beym Rocke, und fragte, was ihm
fehlte. Da erwachte er.


Zuletzt traͤumte ihm: er waͤre in Pommern
bey einem guten Freunde, den er in vielen
Jahren nicht geſehen hatte. Als ſie nun recht
vergnuͤgt zuſammen ſaßen, kam der Bediente,
und ſagte: es waͤre eine Frauensperſon drauſ-
ſen, die bettelte, und wollte ſich nicht abwei-
E 5ſen
[74] ſen laſſen. Sie giengen heraus, und fragten,
was ſie wolle?


„Ach! ſagte ſie, das iſt mir bey der Wie-
ge nicht geſungen, daß es mir noch ſo gehen
ſollte. Aber ich bin leider ſelbſt Schuld daran.
Ich hatte brave Aeltern, und heyrathete auch
einen guten Mann. Aber meine Unordnung,
und mein naſchiches Weſen, das ich mir von
Kindheit an angewoͤhnt hatte, brachten mich
bald in Armuth. Mein Mann graͤmte ſich
bald todt, und nun muß ich betteln gehen.
Erbarmen Sie ſich doch uͤber mich. Ich bin
genug geſtraft.“


Wer waren denn eure Aeltern, fragte er?
Als ſie ihren Namen ſagte, fuhr er ſo zuſam-
men, daß er aus dem Bette fiel, und erwach-
te. Denn es war ſeine naſchiche Albertine.


Der Vater ſtand nach dieſen Traͤumen
auf, und war ſo unruhig, daß er ſich nicht
zu laſſen wußte. Ach Gott! ſprach er: ſo
ſollte
[75] ſollte es meinen Kindern gehen? Das verhuͤte
doch Gott! Er hat mich gewarnt, und ich
will meine Kinder wieder warnen, und ihnen
bey Zeiten die Fehler abgewoͤhnen, die ſie zu
dem Ungluͤck bringen koͤnnten, das mir von
ihnen getraͤumt hat.


Kaum war es Tag geworden, ſo ließ er
die Kinder zuſammenkommen, und erzaͤhlte
ihnen ſeinen Traum, den er von jedem gehabt
hatte. Die Kinder weinten, fielen ihm um
den Hals, und verſprachen ſich in allem zu
beſſern. Sie richteten ſich auch alle nach Au-
guſts
und Dorchens Exempel, und entgien-
gen dem Ungluͤck, das dem Vater getraͤumt
hatte. Denn es war noch nicht wirklich da,
ſondern nur ein Traum.


XVI.
[76]

XVI.
Kleine Urſache, und großer Laͤrm.


Die Unwiſſenheit in ſolchen Dingen, die
ganz natuͤrlich zugehen, macht den Leu-
ten oft viel vergebliche Furcht und Schrecken
Wenn ſie ſich denn dergleichen Erſcheinungen
nicht erklaͤren koͤnnen, ſo koͤmmt der Aberglau-
be mit ſeinen hochgelehrten Anmerkungen da-
zu. Und dann giebts poſſierliche Auftritte.
Wie gut iſts daher, Kinder recht fruͤhzeitig
mit den Wirkungen der Natur bekannt zu
machen, damit ihnen manche Dinge nicht ſo
wunderbar und ſchreckhaft vorkommen. Denn
es kann oft eine kleine Urſache einen großen
Laͤrm machen
.


„Wie meynen Sie das, Vater? ſagte
Moritz: das verſtehe ich noch nicht: Kleine
Urſache, und großer Laͤrm?
“ Du ſollſts
gleich erfahren. Hoͤrt zu, Kinder! Ich will
euch
[77] euch davon ein gar luſtiges und laͤcherliches
Hiſtoͤrchen erzaͤhlen, das ich ſelbſt erlebt habe.
J! Dorchen, du mußts noch wiſſen. Denn
du erklaͤrteſt hernach die ganze Sache.


Wir ſaßen einmal vor einigen Jahren des
Abends ganz ruhig in der Stube. Es war
ſo zu Ende des Octobers. Da entſtand in
der Nachbarſchaft ein entſetzlicher Laͤrm: in
des Sattlers Stalle waͤre Feuer. Die Leute
liefen zu, und die Spritzen kamen angefah-
ren. Ich gieng gleich heruͤber, und konnte
erſt vor dem Volke nicht durchkommen. Der
Mann war des Todes. Ich fragte: wo iſt
denn das Feuer? „Hinten im Stalle ſolls
brennen, und doch ſehen wir weder Rauch,
noch Flamme.“ Ich draͤngte mich durch. Als
ich in den Stall kam, brannte hinter dem
Futterkaſten ein allerliebſtes blaugruͤnes Licht-
chen, ganz ſcharmant anzuſehen. Das war
nun die ganze Sache.


Ich
[78]

Ich hatte nur genug zu thun, den Tumult
erſt zu ſtillen, und die Leute zu bedeuten, daß
es kein brennendes Feuer waͤre, das Schaden
thaͤte. „He ſiht doch wol, ſagte ein grober
Knecht, dat et brennt. Water her.“ Klatſch!
goß ers druͤber her. Und in einem Weilchen
brannte das Lichtchen ruhig fort.


„Dat geit nich von rechten Dingen tau,
ſagte eine alte Frau. Da ſteit wißlich en
Schatz, un de Boͤſe het dabi ſyn Speel.“


„Schmeißt doch ein Tuch drauf, ſagte ein
anderer. Sonſt ſinkt der Schatz.“


Leute, ſprach ich hierauf, ſeyd doch ruhig,
und bringt den Mann nicht ins Ungluͤck. Er
hat ja ſo ſchon Schaden genug im Hauſe von
dem vergeblichen Laͤrm. Es iſt nichts, gar
nichts. Ihr ſollts ſehen. Seyd nur ruhig,
und geduldet euch einen Augenblick. Ich will
mein kleines Maͤdchen holen. Das ſoll euch
die ganze Sache erklaͤren.


Geſchwind
[79]

Geſchwind holte ich dich, Dorchen, weißt
du noch wohl? brachte dich in den Stall, und
ſagte: Was iſt das, was da brennt? O! ſtil-
le, ſtille! ſagteſt du. Ich wills kriegen. Und
baz! warſt du mit der Hand drauf. Die Leu-
te erſchraken uͤber deine Dreiſtigkeit, und du
ſagteſt zu ihnen: kommt herein in die Stube.
Da will ichs euch weiſen.


„Es iſt ein kleines Wuͤrmchen, wie eine
Made, mit ſechs Fuͤßen. Am ganzen Leibe
lauter Ringe. Und unten ſind zwey von den
letzten Ringen, die leuchten ſo ſchoͤn. Es iſt
ein Johanniswuͤrmchen. Ich habe ſie oft
ſchon des Abends draußen im Graſe geſehen.
Aber die fliegenden Maͤnnchen in der Luft
ſolltet ihr erſt ſehen. Wie tauſend Sternchen.
O! das ſieht ſcharmant aus. Wie tauſend
Lichterchen um einen Buſch herum — Kommt
nur erſt in die Stube.“


Die
[80]

Die Leute ſahen das Kind an, wie es da
perorirte, und ſein Haͤndchen dicht zuhielt.
Sie giengen mit in die Stube. Nun gebt
mir, ſagte Dorchen, ein Blatt weißes Papier.
Da that es das Stroh, und was es mit der
Hand im Stalle aufgenommen hatte, auf das
Papier. Siehe, da lag das Wuͤrmchen, und
da das Licht weggeſetzet wurde, leuchtete es
noch eben ſo ſchoͤn, als im Stalle.


Da ſchuͤttelten die Leute den Kopf. „Wißt
ihr, ſagte Dorchen, wie es in den Stall ge-
kommen iſt? mit dem Heue fuͤrs Pferd.“ Da
lachten die Leute, ſchaͤmten ſich, und giengen
ſachte aus einander.


So mußte ein ſechsjaͤhriges Kind alte Leu-
te bekehren! War das nicht eine kleine Ur-
ſache, und großer Laͤrm?


Faſt eben ſo giengs einmal auf einem Dor-
fe mit einer alten Frau. Die findet alle Mor-
gen ihr Strickzeug in der Stube zerfreſſen.
Sie
[81] Sie legts in den Schrank, und ſchließt ihn
zu. Des andern Morgens iſts wieder zer-
freſſen. Und ſo geht das wohl acht Tage. Es
wird daruͤber ein gewaltiger Laͤrm im Hauſe.
Bald wirds dieſem, bald jenem Schuld gege-
ben, der ihr habe Tort thun wollen. Ja!
man gabs fuͤr Hexerey aus.


Endlich koͤmmts heraus, daß es große
Weſpen
gethan hatten. Die wollten im Gar-
ten ein Neſt bauen, und holten ſich dazu aller-
ley Materialien. Das grobe Strickzeug der
Bauerfrau kam ihnen recht gelegen. Und da
es in den Schrank gelegt war, krochen ſie
durchs Schluͤſſelloch.


Das war wieder eine kleine Urſache, und
großer Laͤrm
.


IITheilXVII.
[82]

XVII.
Das Oſterfeuer.


Was ziehen denn die Leute ſo nach dem
Thore, fragte Fritze ſeinen Lehrer? Es
iſt ja heute der erſte Oſtertag, und das Wet-
ter nicht allzuangenehm. Dazu ſchon Abend.
Es iſt doch wohl kein Ungluͤck? Sehen ſie nur
den Schwarm an.


Lehrer. Ich wollte wuͤnſchen, lieber
Fritze! daß ich dir das nicht ſagen duͤrfte.
Es macht unſerer Stadt, und den Leuten, die
dahin ziehen, nicht viel Ehre.


Lottchen. Hi! Hi! Hi! O! was das
jetzt da unten mit unſern Leuten fuͤr ein Laͤrm
war, Fritze! Ich habe mich bald krank gelacht.
Da kamen dir alle unſere Leute zum Papa, ſo
demuͤthig, als ob ſie die groͤßte und wichtigſte
Sache auf dem Herzen haͤtten.


Fritze. Sie hatten ſich gewiß gezankt?


Lottchen.
[83]

Lottchen. O nein! ganz was anders.


Lehrer. Die wollten gewiß mit nach dem
Oſterfeuer?


Lottchen. Das wollten ſie. Hoͤre nur,
Fritze! was ſie ſagten, als der Papa fragte:
was ſie wollten? „Ach lieber Herr! kams gar
klaͤglich heraus: laſſen ſie uns doch nur ein
Stuͤndchen mit nach dem Oſterfeuer gehen!
Nur ein Stuͤndchen, lieber Herr!“


Fritze. Nach dem Oſterfeuer? Davon
hab’ ich ja in meinem Leben noch nichts ge-
hoͤrt. Vom Oſterwaſſer wohl. Davon ſteht
was im Zeitvertreibe fuͤr die Kinder. Aber
Oſterfeuer? — Nu, das weiß ich nicht.
Gewiß aber wird dabey eben ſo viel Aber-
glaube ſeyn, als bey dem Oſterwaſſer. Ließ
denn der Papa die Leute nicht hingehen?


Lottchen. Das ließ er ſchoͤn bleiben.
Sie bekamen einen derben Ausputzer. Wenn
ihr Heyden ſeyn wollt, ſagte der Papa, ſo
F 2koͤnnt
[84] koͤnnt ihr hingehen; aber dann geht ihr auch
zugleich aus meinem Dienſte. Seyd ihr aber
Chriſten, und wollt mir, eurem Herrn, einen
Gefallen thun, ſo bleibt ihr zu Hauſe. Da
habt ihr einen halben Gulden. Spielt drum.
Ihr koͤnnt euch doch eine Luſt machen, ohne ſol-
chen heydniſchen Greueln beyzuwohnen. Gebt
nur Achtung, was wir morgen fruͤh fuͤr ſchoͤ-
ne Saͤchelchen hoͤren werden, und was dabey
alles vorgefallen iſt. Ihr werdet mirs noch
danken, daß ich euch nicht habe hingehen
laſſen.


Fritze. Der Tauſend! das war eine ſchar-
fe Strafpredigt. Wenn ich wie der Papa ge-
weſen waͤre, ich haͤtte die Leute immer hinge-
hen laſſen.


Lehrer. Nein! mein lieber Fritze, man
muß ſolche Leute nicht in ihrem Aberglauben
ſtaͤrken, ſondern ihnen ſolchen zu benehmen,
und ſie zu beſſern ſuchen.


Lottchen.
[85]

Lottchen. Die Leute waren auch mit ih-
rem halben Gulden wohl zufrieden, und blie-
ben huͤbſch zu Hauſe.


Fritze. Iſts denn wirklicher Aberglaube,
was ſie da mit dem Oſterfeuer vornehmen?
Ich denke, ſie thun es nur zur Luſt.


Lehrer. Freylich wiſſen die meiſten Leute
ſelbſt nicht, warum ſie es thun. Denn es ſind
die niedrigſten und allergemeinſten: Knechte,
Maͤgde, ruchloſe Knaben, luͤderliches Geſin-
del, die ſich damit abgeben. Urſpruͤnglich
aber koͤmmt es doch aus dem Heydenthum
her.


Fritze. Wie denn ſo?


Lehrer. Ehedem wurden hier, im ach-
ten Jahrhundert, vor Karls des Großen Zei-
ten, in den Gegenden des Harzes, allerhand
heydniſche Gottheiten, als: Krodo, die Ir-
menſaͤule
, u. ſ. w. verehret, vor welchen man
oft ſolche Opferfeuer brennen ließ. Davon
F 3iſt
[86] iſt die Gewohnheit geblieben. Sollten das
nun wohl Chriſten thun, wenn ſie es wiſſen?
zumal am Oſterfeſte, da Chriſtus erſchienen
iſt, daß er durch ſeine Lehre und Leben die
Werke des Teufels, Abgoͤtterey, Unwiſſen-
heit, Aberglauben und Bosheit, zerſtoͤre.


Fritze. Wenn das ſo iſt, ſo verdenke
ichs dem Papa nicht, daß er die Leute nicht
hat herausgehen laſſen.


Lehrer. O! es iſt auch ein rechter Sam-
melplatz von Wildheit und Ruchloſigkeit.
Stelle dir nur vor: die Knechte bringen alle
alte Theertonnen; die Jungen aber die Kno-
chen von der Aaskule zuſammen. Das ſtecken
ſie an, und tanzen um das Feuer herum.
Muß das nicht einen feinen Geruch geben?
Da giebts denn auch Gelegenheit zu Dieb-
ſtaͤhlen, Schlaͤgereyen, und allen Arten der
Ruchloſigkeit, und es iſt ſchon mancher dabey
zu Ungluͤck und Schaden gekommen.


Lottchen.
[87]

Lottchen. O was ſich heute unſere Leu-
te freuen! Da haben ſie ſich draußen geſchla-
gen, beſtohlen, betrunken, Arm und Bein zer-
brochen. Viele liegen unter den Haͤnden der
Wundaͤrzte. Viele ſitzen im Gefaͤngniß. Viele
Herrſchaften haben ihr Geſinde abſchaffen muͤſ-
ſen, und dergleichen mehr.


Lehrer. Aberglaube und Ruchloſigkeit
koͤnnen keine andere Folgen haben.


XVIII.
Das ſchreckhafte Kind.


Ein beſchwerlicher und unangenehmer Feh-
ler, wenn ſich die Kinder allzuſchreckhaft
gewoͤhnen. Die ſchwaͤchlichen, weichlichen und
kraͤnklichen ſind dazu am meiſten geneigt. Doch
koͤnnen auch die ſtaͤrkſten und geſuͤndeſten durch
Ziererey verwoͤhnt werden.


F 4Gemei-
[88]

Gemeiniglich haben alle die Kinder den
Fehler an ſich, denen vom Anfang an zu viel
fuͤrchterliches und ſchreckhaftes Zeug vorge-
ſagt iſt, oder die von den Waͤrterinnen bey
allen Kleinigkeiten zu fuͤrchten gemacht wer-
den. Oder ſie haben es von andern ſo geſehen
und angenommen, die bey der geringſten
Sache zuſammenfahren, aufſchreyen, und ſich
anſtellen, als ob das groͤßte Ungluͤck geſchehen
waͤre.


Geſtaͤrkt wird dieſer Fehler, wenn man
den Kindern das ſchreckhafte Weſen ſo hinge-
hen laͤßt, ſie bedauert, und mit ihnen quen-
gelt, wenn ſie ein Bißchen erſchrocken ſind.
„Du armes Kind! biſt du ſchon wieder er-
ſchrocken? Es wird dir ja nichts ſchaden.“
Dann meynen die Kinder, es ſey recht, und
ſie muͤßtens thun.


Dorchen war ein ſo ſchreckhaftes Kind.
Bey der geringſten Kleinigkeit fuhr es zuſam-
men.
[89] men. Wenn das Meſſer vom Tiſche fiel,
ſchrie es laut auf. An einem Abend fuhr ein-
mal der Kork aus der Bierbouteille mit einem
ſtarken Knall heraus. Da haͤtte man das
Leben ſehen ſollen. Wenn von ohngefaͤhr ein
Schuß geſchah, oder ein Gewitter kam, konn-
te man gar nichts mit ihm anfangen. Wenn
ein Froſch im Graſe war, oder eine Spinne
an es kam, ſo ließ es alles fallen, was es in
Haͤnden hatte.


Dorchen war mit ſeinem Fehler ſich und
andern beſchwerlich.


Durch ſein Schreyen und ungebaͤrdiges An-
ſtellen hatten die Aeltern ſelbſt manchen Schreck
davon, und konnten es ihm nicht erſt abge-
woͤhnen. Endlich aber gab ſichs von ſelbſt.
Es wurde von andern Kindern immer ausge-
lacht und zu fuͤrchten gemacht. Hernach tha-
ten auch die Aeltern bey ſchreckhaften Dingen,
wenn was fiel, oder ein Glas zerbrochen wur-
F 5de,
[90] de, als ob es nicht geſchehen waͤre, achteten
nicht darauf, und lachten druͤber, wenn das
Kind erſchrak, und ſich peinlich hatte. In-
ſonderheit achteten ſie auf ſein Erſchrecken gar
nicht mehr. Dadurch verlor ſich der Fehler
allmaͤlig, und es kann jetzt ſelbſt eine elektri-
ſche Piſtole und Kanone abſchießen. Da es
groͤßer wurde, ſah es die Sache ſelbſt ein,
daß es Ziererey waͤre, vor allen Kleinigkei-
ten zu erſchrecken, und dankte denen ſehr,
die ihm dieſen Fehler abgewoͤhnt hatten.


Ein Kind, das vor allem erſchrickt, wird
eine elende Kreatur in der Welt. Dumm-
dreiſt, unverſchaͤmt, vermeſſen und vorwitzig
iſt ein Fehler; aber zu bloͤde, furchtſam und
ſchreckhaft iſt auch ein Fehler. Mit keinem
von beyden koͤmmt man in der Welt fort. Und
kein Kind kann wiſſen, wo es noch einmal
hinkoͤmmt, und was aus ihm werden wird.


So
[91]

So gieng es dem Junker von ****. Da
er Faͤhnrich wurde, und zu dem Bataillon kam,
fuhr er zuſammen, wenn die Trommel gieng,
und hielt beyde Ohren zu, wenn geſchoſſen
wurde. Wie er da andern zum Spott und
Gelaͤchter wurde, koͤnnt ihr leicht denken. Er
mußte abdanken.


So ungluͤcklich kann man durch eine uͤble
Gewohnheit werden!


XIX.
Weihnachtsbrief eines Vaters an ſein
fuͤnfjaͤhriges Kind.



Mein Herzliebes Dorchen!

Du ſagſt immer, es ruͤhrt dich, wenn ich
dich ſo nenne. Aber du verdienſt es,
weil du bisher ein recht artiges Kind geweſen
biſt,
[92] biſt, und mir und deiner lieben Mutter durch
deinen Fleiß viele Freude gemacht haſt.


Ich kann nun ſchon einen Brief an dich
ſchreiben. Und den kannſt du ſelbſt leſen.
Sollte mir das nicht Freude ſeyn? Viele Kin-
der von fuͤnf Jahren koͤnnen das noch nicht.
Wem haſt du das zu danken? Frage dich
einmal.


Willſt du mir nun eine rechte Freude ma-
chen, und mir ein recht liebes Dorchen ſeyn,
ſo lerne auch immer beſſer ſchreiben, damit
du bald ſelbſt ein Briefchen an mich ſchreiben
kannſt. O! was wuͤrde mir das fuͤr eine
Freude ſeyn! Noch einmal ſo gern wuͤrde ich
dir ein ſchoͤnes Buch, ein neues Tintefaß von
Gnadau, ein Schreibtaͤfelchen, ein Bilder-
kalenderchen geben, wenn du erſt darum ſelbſt
in einem Briefchen baͤteſt. Was meynſt du
dazu?


Noch
[93]

Noch eins will ich dich bitten — ich
koͤnnte ſagen: befehlen — aber ich will dich
bitten, weil ich weiß, daß du ohne Befehl
alles gerue thuſt, was ich haben will. Mache
mir alſo nicht allein durch dein fleißiges Ler-
nen Freude, ſondern auch nun durch gute
artige Sitten
. Denn ein Kind, das viel
lernt, und ſchlechte Sitten hat, iſt lange
nicht ſo angenehm, als ein Kind, das fleißig
lernt, und auch artig in ſeiner Auffuͤhrung
iſt.


Zur Belohnung deines Fleißes und deiner
Artigkeit, ſchenken wir dir hier allerley nied-
liche Sachen. Auch in dieſem Briefe einen
blanken Gulden, dafuͤr du dir allerhand nuͤtz-
liche Saͤchelchen kaufen kannſt. Wollteſt du
davon auch wohl einem armen Kinde, das
nichts zu eſſen hat, an dieſem Freudenfeſte,
da du ſo viel haſt geſchenkt bekommen, eine
Freude machen?


Sey
[94]

Sey ferner deinen guten Aeltern, die dir
ſo viel Gutes thun, dankbar, und bitte den
lieben Gott, daß er ſie und dich geſund er-
halte. Liebe dein Schweſterchen, und thue
ihm nichts zu Leide.


Mache ferner viele, recht viele Freude
deinem getreuen Vater.


XX.
Eine Reihe gewoͤhnlicher Kinder-
fehler.


Es iſt ein Fehler, wenn Kinder ſo unvor-
ſichtig
ſind, daß ſie bald hier einen
Stuhl umſtoßen, bald dort ein Glas zer-
brechen.


Es iſt ein Fehler, ſich ſelbſt zu loben.
Das macht hochmuͤthig und eitel.


Es
[95]

Es iſt ein Fehler, wenn ein Kind andere
tadelt, wenn ſie ein Wort nicht recht aus-
ſprechen. Das ſchickt ſich nicht; das iſt naſe-
weiß, und wider die Beſcheidenheit.


Es iſt ein Fehler, wenn ein Kind einem
armen Kinde was gegeben hat, und es andern
wieder erzaͤhlt, oder davon viel Gerede macht.
Das heißt Großthun und Prahlen. Dann
hoͤrt es auf, ein Almoſen oder eine Gutthat
zu ſeyn.


Es iſt ein Fehler, wenn Kinder mit lachen,
wenn große verſtaͤndige Leute lachen, oder mit
einſprechen, wenn dieſe reden.


Es iſt ein großer Fehler, wenn ein Kind
beym Spiele immer auf ſeinem Kopfe beſteht,
und haben will, daß andere nur ſo ſpielen
ſollen, wie es will. Dadurch macht es andere
verdruͤßlich, ſich verhaßt, und wird ein Spiel-
verderber
.


Es
[96]

Es iſt eben ein ſo großer Fehler, wenn
Kinder andere ſo gern angeben, und ſich freuen,
wenn ſie Verdruß haben. Das iſt Schaden-
freude
.


Es iſt ein Fehler, wenn ein Kind der Mut-
ter vorſchreiben will, von allen Leuten, die
was zu Kaufe bringen, was zu kaufen. Das
ſchickt ſich nicht. Und Gutmeynen ohne Ver-
ſtand, iſt auch ein Fehler.


Es iſt ein großer Fehler, wenn ein Kind
alles, was auf den Tiſchen ſteht, anfaßt und
benaſcht. Dadurch lernt es ſtehlen.


Es iſt ein eben ſo großer Fehler, wenn
ein Kind ſich an ſeinem Leibe nicht alles will
thun laſſen, was zu ſeiner Geſundheit und zu
ſeinem Beſten dient; oder das Geſinde bey
dem An- und Ausziehen vexirt und verdruͤßlich
macht.


Es iſt ein großer Fehler, wenn Kinder
nicht alles eſſen wollen, was vorkoͤmmt. Das
koͤnnen
[97] koͤnnen ſie ſich einmal in der Welt nicht
halten.


Es iſt ein Fehler, wenn Kinder bey Tiſche
kein Brod eſſen, und zu wenig trinken. Da-
durch werden ſie ſchwach und kraͤnklich.


Es iſt ein Hauptfehler, wenn ſich Kinder
gar zu weichlich gewoͤhnen, nicht in der Kaͤlte
ſchlafen wollen, und zu viel Warmes trinken.
Dadurch werden ſie erſt recht ſchwaͤchlich.


Es iſt ein gewaltiger Fehler, wenn Kin-
der ohne Vorwiſſen und Erlaubniß der Ael-
tern mit andern weglaufen. Dadurch koͤn-
nen ſie leicht zu Schaden, oder in boͤſe Geſell-
ſchaft kommen.


Es iſt ein großer Fehler, wenn die groͤßern
Kinder die kleinen ſchlagen, oder ihnen Tort
thun. Das iſt unbillig und ungerecht.


Es iſt ein ſuͤndlicher Fehler, wenn Kinder
alte einfaͤltige Leute vexiren und zum Beſten
IITheil. Ghaben,
[98] haben, oder lahme, blinde, taube Leute ver-
ſpotten, und uͤber ihr Elend lachen. Sie ver-
ſpotten Gott ſelbſt.


Es iſt ein Hauptfehler, wenn ein Kind
der Mutter nicht eben ſo gehorſam iſt, als
dem Vater.


Es iſt ein hoͤchſt beſchwerlicher Fehler,
wenn ein Kind keine Geduld haben kann.


Es iſt ein Fehler, wenn ein Kind nicht
manchmal vor ſich, mit ſich ſelbſt ſpielen will,
ſondern verlangt, daß ſich die Aeltern beſtaͤn-
dig mit ihm abgeben ſollen. Das iſt unbillig
und undankbar.


Es iſt ein Fehler, wenn ein Kind, das
ſonſt fleißig iſt und gerne lernt, nicht auch
will ſtricken, naͤhen und ſpinnen lernen.


Es iſt ein großer Fehler, wenn das Kind
alles beſſer wiſſen will, als andere. Das iſt
naſeweiß.


Es
[99]

Es iſt ein Fehler, wenn Kinder nicht gleich
auf das erſte Wort gehorſam ſind, ſondern
ſich eine Sache zehnmal verbieten laſſen.


Es iſt ein Fehler, wenn Kinder fuͤr ſich
leſen, und dabey immer ſachte ausſprechen,
was ſie leſen. Das klingt haͤßlich, und hin-
dert andere.


Es iſt ein großer Fehler, wenn Kinder
erſt durch Schaden klug, oder durch Schlaͤge
artig werden wollen.


Es iſt ein unangenehmer Fehler, wenn
Kinder uͤber Kleinigkeiten auffahren, ſchreyen,
und großen Laͤrm machen.


Es iſt ein Fehler, wenn Kinder das, was
ſie ſagen wollen, zu geſchwind, zu heftig,
und nur mit halben Worten ſagen.


In dieſen Kinderſpiegel moͤgen diejenigen
Kinder ſehen, welche dergleichen Fehler an
ſich haben, und ſich ſchaͤmen; diejenigen aber
G 2ſich
[100] ſich freuen, welche ſie abgelegt, und ſich ge-
beſſert haben.


XXI.
Das gefraͤßige Kind.


Cathrine.


Ja! er iſt todt. Todt iſt er, der arme Fritze.
Ach der niedliche Junge! Er dauert mich
gar zu ſehr, daß ich weinen muß.


Dorchen. Wer waͤre todt? Fritze da ge-
gen uͤber? Ich glaube, du traͤumſt, Cathrine.
Geſtern Abend haben wir noch zuſammen ge-
ſpielt. Wer weiß, was du gehoͤrt haſt? Stel-
le dir vor, Guſtchen! Fritze da druͤben ſoll
todt ſeyn.


Guſtchen. Ich habe es auch ſchon ge-
hoͤrt, und vorher war ein greuliches Geſchrey
im Hauſe.


Cathrine.
[101]

Cathrine. Kinder! ihr koͤnnts glauben.
Ich habe ihn ſchon auf dem Strohe liegen ge-
ſehen. Ach Gott! wo waren die rothen Backen?
Der ſcharmante Junge.


(Sie weint, und die Kinder auch.)


Mutter. Was iſt denn da einmal vor?
Was weint ihr zuſammen? Ihr auch Cathri-
ne? Wer hat euch was gethan? Habt ihr
euch gezankt? Das will ich doch nicht hoffen?


Dorchen. Nein, liebe Mutter! Fritze
druͤben, der niedliche Fritze, iſt todt. Cathri-
ne ſagts. Darum weinen wir alle. Ach der
luſtige muntere Junge!


Mutter. Ich weiß auch nicht, Cathrine!
was ihr immer fuͤr Poſten ins Haus bringt,
und die Kinder zu fuͤrchten macht. Ich habe
ihn heute um zehn Uhr noch aus der Schule
kommen ſehen.


Cathrine. Sie koͤnnen es glauben, Frau
Raͤthinn. Es iſt leider wahr genug. Er liegt
G 3ſchon
[102] ſchon auf dem Stroh. Wollte Gott, daß es
nicht wahr waͤre! Ich wollte gerne gelogen
haben. Die Aeltern ſind ganz untroͤſtlich.


Mutter. Nun, ſo ſagt doch, wie iſt
denn das zugegangen? Iſt er gefallen, oder
wie iſt es ſonſt gekommen? Das begreife ich
nicht. Er iſt wohl nicht recht todt.


Cathrine. Ach todt genug! Wie es aber
eigentlich zugegangen iſt, das weiß ich noch
nicht recht. Von den Aeltern konnte ich nichts
erfahren. Der Vater rang die Haͤnde. Die
Mutter riß ſich die Haare aus dem Kopfe.
Es war ein erſchrecklicher Zuſtand. So viel
hab’ ich nur gehoͤrt: er waͤre nach Tiſche um-
gefallen, und todt geblieben.


Mutter. Das muß ich wiſſen. Ich will
gleich heruͤber gehen. Cathrine, bleibt derweile
bey den Kindern. Gebt euch zufrieden, Kin-
der! er wird ſich wohl noch einmal erholen.


Dorchen.
[103]

Dorchen. Ach! Mutter, kommen Sie
ſchon wieder? Nu, wie iſt es? Sie haben ja
auch rothe Augen. Gewiß iſt und bleibt er
todt. Du lieber Gott!


Mutter. Ja wohl, leider! iſt und bleibt
er todt. Da haben wirs nun. Wie iſt er ge-
ſtorben, und woran iſt er geſtorben, und zwar
ſo ploͤtzlich? Von nichts, als ſeiner Gefraͤßig-
keit
, davor ich euch taͤglich ſo herzlich warne.
Da hat er ſo vielen heißen Klump uͤber Tiſche,
und vorher ſo vielen warmen Kuchen gefreſſen,
daß es ihm das Herz abgeſtoßen hat. Ich
bitte euch um Gottes willen, wenn ihr eure
Geſundheit und euer Leben lieb habt, ſo ge-
woͤhnt euch nicht ſo heißhungrig und gefraͤßig.
Ihr kriegt ſatt; aber was ich euch nicht gebe,
dient euch auch nicht. Das muß ich beſſer
wiſſen. Ich kann nicht immer hinter euch ſeyn.
Eſſet ihr heimlich, ohne mein Vorwiſſen, an-
derswo Kuchen, und dergleichen zu viel, oder
G 4zu
[104] zu warm, ſo kann es euch bald eben ſo, wie
dem ungluͤcklichen Fritzen, gehen. Spiegelt euch
an ſeinem Exempel. Und ihr, Cathrine! wenn
ihr euch nicht ſagen laßt, und den Kindern
heimlich mehr zu eſſen gebt, als ihnen dient,
ſo habt ihrs vor Gott zu verantworten. Denn
es iſt nichts anders, als ein Todtſchlag. Da
druͤben hatte die alte Kindermuhme dem armen
Jungen ſeinen Willen gethan, und ihm zu
viel gegeben. Da liegt er nun, und ſie hat
ihn ſo gut wie todtgeſchlagen.


Cathrine. Ach Gott! ich will mich wohl
huͤten, und ihnen nichts von Kuchenwerk oder
Kluͤmpen geben, wenn das ſo ſchaͤdlich iſt.


Mutter. Wenn die Kinder auch nicht
gleich davon ſterben, ſo werden ſie doch krank,
elend und ungeſund. Von vielen kluͤmprigen
Mehlſpeiſen wird das erſte Wurmneſt durch
vielen Schleim bereitet, und uͤberdem werden
durch alle ſolche klebrichte ſchwere Speiſen die
Ver-
[105] Verdauungskraͤfte der Kinder ungemein ge-
ſchwaͤcht, daß ſie im Wachsthum gehindert
werden, und die engliſche Krankheit kriegen.
Huͤtet euch doch ja, und toͤdtet doch die Kin-
der nicht durch eine gutmeynende thoͤrichte
Liebe.


Guſtchen. O Mutter! wir wollen Ihnen
gerne folgen.


Dorchen. Ja! ja! Fritze wird mir, ſo
lange ich lebe, immer vor Augen ſtehen, wenn
ich Klump und Kuchen ſehe.


Guſtchen. Der hieß auch Fritze, der in
Campens Sittenbuͤchlein, wie Guthwill er-
zaͤhlt, ſich an gebackenem Obſt und heißen
Kloͤſen zu todte gefreſſen hatte.


Mutter. Ihr ſeht alſo, was aus der
Gierigkeit entſtehen kann. Maͤßigkeit erhaͤlt,
aber Unmaͤßigkeit und Gierigkeit toͤdtet. Und
uͤberdem iſt die Gefraͤßigkeit eine Sache, die ſich
nicht fuͤr Menſchen ſchickt, ſondern fuͤr die Thiere
G 5gehoͤrt,
[106] gehoͤrt, die doch wirklich nicht mehr freſſen,
als ihnen dient, und viele Menſchen be-
ſchaͤmen.


XXII.
Das undankbare Kind.


Vater.


Kinder! wenn ihr was Gutes, und Wohl-
thaten, die man euch gethan hat, ver-
geſſen koͤnnt, ſo ſeyd ihr ſchon halb verloren,
und im Stande, alles Boͤſe zu thun. Denn
der Undank iſt eine Quelle von allen Laſtern.
Inſonderheit wenn Kinder ihren Aeltern un-
dankbar ſeyn koͤnnen, und das viele Gute
nicht achten — die vielen Sorgen, welche
die Aeltern fuͤr ſie haben, von Kindheit an,
da ſie ſelbſt nicht wiſſen, wie viel Gutes ihnen
geſchiehet, und da ſie ohne alle Huͤlfe ver-
ſchmach-
[107] ſchmachten muͤßten, wenn ſich die Aeltern nicht
ihrer mit ſolcher Treue und Liebe annaͤhmen —


(Der Vater weint.)


Dorchen. Ach liebſter Vater! Sie wei-
nen. Ich muß mit weinen. Du lieber Gott!
Sie ſagen uns ſo oft, daß wir ſollen dankbar
ſeyn, daß es mir durch die Seele geht. Es
ruͤhrt mich ſo ſehr, daß ich mich der Thraͤnen
nicht enthalten kann. Wie ſollten wir denn
das viele Gute vergeſſen koͤnnen, das Sie und
unſere liebe Mutter an uns thun? Denken Sie
doch ſo was nicht von uns.


Vater. Von dir wohl nicht, mein liebes
Dorchen. Du biſt recht dankbar, und be-
weiſeſt es durch deinen Gehorſam, Fleiß und
Artigkeit, daß du deine Aeltern darum lieb
haſt, weil ſie dir Gutes thun. Aber bleibe
ja kuͤnftig bey den guten Geſinnungen, und
behalte das feine dankbare Herz auch gegen
andere, die dir Gutes thun. Das menſch-
liche
[108] liche Herz iſt bald zu verfuͤhren. Aber, du
da, Karl und Charlotte! fuͤr euch bin ich
bange. Ihr ſeyd uns gar nicht ſo recht dank-
bar, wie ich wuͤnſchte. Sonſt wuͤrdet ihr
folgſamer ſeyn.


Dorchen. Schaͤmt euch, daß der Vater
ſo was ſagen muß.


Karl. Lieber Vater! ich wills kuͤnftig
gerne thun.


Charlotte. Ich auch, lieber Vater!


Vater. O Kinder! ihr ſagt das wohl;
aber ihr ſeyd mir ſo kalt dabey. Ihr thut es
bloß zum Schein. Wenn ich den Ruͤcken
wende, ſo weiß ich gewiß, ihr denkt an keine
Wohlthaten mehr, die ihr taͤglich bey euren
Aeltern habt, und ſinnet wohl gar ſchon auf
Mittel, wie ihr Dorchen einen rechten Tort
thun wollt, weil ichs gegen euch gelobt und
euch zum Exempel vorgeſtellt habe.


Dorchen (mit blutender Naſe, und weinend).


Ach
[109]

Ach Vater! lieber Vater, ich bitte, bitte:
vergeben Sie es ihnen doch.


Vater. Wem denn, mein Kind? Wem
denn? Biſt du etwa gefallen.


Dorchen. Ach nein! ſie haben mich von
der Treppe geſtoßen, daß ich mir das Geſicht
blutig gefallen habe. Aber vergeben Sie es
ihnen doch. Ich bitte Sie nochmals.


Vater. Wer hat dich von der Treppe ge-
ſtoßen? Wer? Sage an.


Dorchen. Karl und Charlotte haben es
gethan.


Vater. Warum denn? Sie habens wohl
nicht gerne gethan? Sie haben dich wohl
nur angeſtoßen? Du gehſt auch immer ſo
wackelicht.


Dorchen. Nein! lieber Vater, ſie ſagten
dabey: Das iſt dafuͤr, daß dich der Vater
immer ſo lobt, und uns verachtet. Aber ver-
geben
[110] geben Sie es ihnen. Sie werden es nicht
wieder thun.


Vater. Ach Gott! was fuͤr boͤſe Herzen!
Die Boͤſewichter — Das werden ſchoͤne
Fruͤchtchen werden, da ſich Undank, Neid,
Rache und Bosheit ſchon ſo aͤußern, wenn
ich nicht bey Zeiten vorbaue. — Wo ſind
ſie? Was habt ihr gemacht?


Karl und Charlotte. Vater! wir habens
nicht gerne gethan. Dorchen luͤgt. Glauben
Sie es nicht.


Vater. So? ihr ungerathnen Kinder!
Iſts euch nicht genug, undankbar zu ſeyn?
Ihr muͤßt auch nun durch Luͤgen euren Neid
und eure Bosheit zu bemaͤnteln ſuchen? Was
wird aus euch einmal werden? Wenn ihr ſo
in Undank fortfahret, ſo werdet ihr euch ein-
mal kein Gewiſſen machen, euch an euren ei-
genen Aeltern zu vergreifen, und allen, die
euch Gutes thun, den aͤrgſten Tort und Scha-
den
[111] den zu erweiſen, wenn ich nicht in Zeiten vor-
komme. — Fort mit euch, vier Wochen
in die Geſindeſtube bey Waſſer und Brod,
damit ihr erſt lernt, was Wohlthaten ſind,
und — mir in der Zeit nicht wieder vor die
Augen.


XXIII.
Fortſetzung des zweyundzwanzigſten
Stuͤcks.


Als acht Tage vorbey waren, konnten ſie
es nicht laͤnger aushalten. Sie wurden
krank. Da ließen ſie Dorchen bitten, einmal
herunter zu kommen. Der Vater erlaubte es.


„Ach liebes Schweſterchen! ſagten die ge-
ruͤhrten Kinder, was haben wir gethan! Wie
haben wir unſere gute Aeltern und dich belei-
diget! O wie erkennen wir nun unſern Un-
dank!
[112] dank! Ach wir haben dieſe Strafe und noch
mehr verdient. Nun wiſſen wir erſt, was
Wohlthaten ſind, die wir bisher gar nicht ge-
achtet haben. O Gott! nichts als Waſſer
und Brod, und — auf purem Stroh liegen!
Wir ſind bald hin, und muͤſſen ſterben. Er-
barme dich uͤber uns. Vergieb es uns, und
bitte doch den Vater, daß er uns auch ver-
gebe, uns wieder als ſeine Kinder annehme,
und uns alle Wohlthaten, die wir nicht ge-
achtet haben, wieder zukommen laſſe.


Das gute Dorchen fiel ihnen um den Hals,
weinte mit ihnen, herzte und kuͤßte ſie, und
ſagte: O! Karl und Charlotte, ich habe euch
alles ſchon vergeben. Seht, das koͤmmt vom
Undank. Ich will aber gleich zum Vater gehen.


Vater. Nun, was wollen die Boͤſewich-
ter? Nicht wahr: ſie ſind des Lebens ſatt?


Dorchen. O lieber beſter Vater! ich um-
arme Sie. Ich laſſe Sie nicht los, bis Sie
mir
[113] mir meine Bitte gewaͤhren. Ich bitte mit
Thraͤnen fuͤr die armen Suͤnder unten. Ver-
geben Sie es ihnen doch. Sie ſollten ſie nur
ſehen. Ach thun Sie es doch. Sie ſind wie
die Schatten. Es wuͤrde Sie gewiß jammern.
Der liebe Gott vergiebt ja auch. Wollen Sie,
Vaͤterchen? Beſte Mutter! helfen Sie doch
bitten. Ach ja! thun Sie es. Laſſen Sie
mir die Freude, ſie herauf zu holen.


Vater (weint). Nun, ſo gehe hin, beſtes
Kind! Um deinetwillen vergebe ich ihnen. Hole
ſie her. Ich will ſehen, ob ſie ſich beſſern werden.


(Karl und Charlotte blaß, wie der Tod —
koͤnnen vor Schluchzen und Weinen
nicht reden — fallen dem Vater zu
Fuͤßen, und ſagen gar nichts.)


Dorchen. Hier ſind ſie, Vater! hier lie-
gen ſie.


(Kann auch vor Weinen nichts ſagen.
Die Mutter geht weg.)


IITheil. HVater
[114]

Vater (weint auch, erholt ſich, und ſagt:)


Steht auf, und werdet wieder meine Kin-
der. Durch Undank hoͤrtet ihr auf es zu ſeyn
— hoͤrtet auf, Menſchen zu ſeyn — wurdet
Ungeheuer, und aus Neid und Bosheit an
andern zu Moͤrdern, wie ihr an Dorchen be-
wieſen habt, das doch ſo ſehr fuͤr euch gebe-
ten hat. O was hat das fuͤr ein Herz gegen
das eurige!


Karl. Ach Vater! vergeben Sie doch.


Charlotte. Nur dießmal vergeben Sie.
Wir wiſſen nun erſt, was Wohlthaten ſind.


Vater. Da ſie euch entzogen ſind, wiſſet
ihrs. Aber iſt dadurch ſchon euer Herz gebeſ-
ſert? Iſt euer Dank, den ihr vorgebt, nicht
erzwungen? Wollet ihr kuͤnftig euren Neid,
eure Tuͤcke und Bosheit ablegen? Dann ſollt
ihr wieder meine Kinder ſeyn. Werdet ſelbſt
ſo gut geſinnt, wie Dorchen, ſo duͤrft ihrs
nicht beneiden.


Karl.
[115]

Karl. Ach ja! Herzensvater. Ja!


Charlotte. Sie ſollens ſehen.


Vater. Nun, ich werde ſehen. Da habt
ihr meine Vaterhand. Ich vergebe euch. Und
nun geht hin, und bittet es Dorchen ab. Was
meynt ihr, wenn ſich das Kind todtgefallen
haͤtte? Wie wirds euch einmal gehen, wenn
ihr das kuͤnftig an andern thut? Doch ruft
erſt die Mutter.


(Karl und Charlotte kuͤſſen erſt Vater und
Mutter die Haͤnde mit vielen Thraͤ-
nen — fallen Dorchen um den Hals
— und es weint alles in der Stube.)


Vater. Geht nun hin, und laſſet euch
weiß anziehen. Ihr ſollt dieſen Abend wieder
mit uns eſſen. Gottlob! daß ich wieder Kin-
der habe.


Dorchen. O! ich gehe mit euch. Kommt,
Bruͤderchen und Schweſterchen! wir wollen
uns nun recht lieb haben, recht einig leben,
H 2und
[116] und unſern guten Aeltern immer dankbarer wer-
den. Kommt! kommt! Alles vergeben. Alles
vergeſſen.


XXIV.
Beſchluß des dreyundzwanzigſten
Stuͤcks.


(Sie kommen zuruͤck, und ſetzen ſich zu
Tiſche. Karl und Charlotte ſind aber
ſehr ſtille und betruͤbt.)


Vater.


Wenn ihr darum ſo ſtille und betruͤbt ſeyd,
daß euch euer Undank leid thut, ſo iſt
mirs ſehr lieb. Seht, was das boͤſe Gewiſ-
ſen iſt. Ich will euch noch eine Geſchichte
erzaͤhlen, wie weit der Undank den Menſchen
bringen kann. Ich habe die Sache ſelbſt erlebt.


Es
[117]

Es war einmal ein armer Holzhauer, der
bey meinem ſeligen Vater, eurem Großvater,
den ihr aber nicht gekannt habt, das ganze
Jahr hindurch Holz hackte. Ein rechter ehr-
licher, braver, guter und fleißiger Mann.
Der hatte einen Sohn von ohngefaͤhr ſech-
zehn Jahren, den er fleißig zur Arbeit anhielt,
und es aus dem Munde erſparte, ihn was
lernen zu laſſen. Wenn er manchmal in un-
ſerm Hauſe ein Stuͤckchen Fleiſch, Kuchen oder
Braten bekam, ſo aß ers nicht auf, ſondern
ſagte: Ich muß nieinem Gottlieb was auf-
heben. So gut meynte es dieſer arme Vater
mit dem Jungen.


Dieſer war aber ein Taugenichts, der al-
les Gute nicht achtete, was der Vater an ihm
that. Hoͤrt nur, Kinder! was er machte.
Mir erſtarrt das Blut in den Adern, wenn
ich noch daran gedenke. Ach Gott! wozu
kann der Undank ein Kind bringen!


H 3Der
[118]

Der Vater wurde manchmal botenweiſe
uͤber Feld geſchickt, und wegen ſeiner Ehrlich-
keit wurde ihm auch Geld anvertrauet. Da
gieng er nun einmal im Winter wohin, Geld
zu holen. Er ſagte es zu Hauſe vorher, daß
es der Junge und die Tochter, die er noch
hatte, hoͤrten. Der Weg betrug etwa vier
Meilen, und auf der Haͤlfte mußte er durch
einen dicken Wald.


An dem Tage, da er wiederzukommen ver-
ſprochen hatte, ſagte der Sohn des Morgens:
er wolle dem Vater bis ins Holz entgegen ge-
hen, und ihm das Buͤndel abnehmen. War
das nicht gut? Aber hoͤrt nur weiter.


Er geht fort und nimmt des Vaters Hand-
beil mit ſich. „Was willſt du denn damit,
fragt die Schweſter?“ Er giebt vor: er wol-
le ſich einen Axenſtiel aushauen. Mitten im
Holze begegnet ihm der Vater, und freuet
ſich, den Sohn zu ſehen. Er nimmt ihm das
Buͤndel
[119] Buͤndel ab, und ſo gehen ſie ein ganz Weil-
chen mit einander.


Endlich ſagt der Boͤſewicht: Vater! was
liegt denn da unter dem Buſche? Er buͤckt
ſich, um hinzuſehen. Baf! ſchlaͤgt er ihn mit
dem Beile in den Nacken, daß er niederfaͤllt,
ſich aber noch einmal klaͤglich nach dem Moͤr-
der umſieht.


Dorchen. O Vater! Va — Va — ter!
ich bitte Sie um Gottes willen, hoͤren Sie auf.


Vater. Wie wird euch dabey zu Muthe,
Karl und Charlotte?


(Beyde fallen dem Vater abermal zu
Fuͤßen.)


Vater. Hierauf giebt er ihm noch ein
Paar Schlaͤge, ſchleppt ihn in den Buſch,
nimmt das Geld, und geht gerade nach Hauſe.


„Warum koͤmmſt du allein?“ fragt die
Schweſter. „Wo bleibt denn der Vater?“ Er
antwortet: Er habe ihn nicht geſehen. Er
H 4werde
[120] werde wohl noch nicht abgefertiget ſeyn. Eini-
ge Tage nachher wird der Erſchlagene gefun-
den. Der Sohn iſt indeſſen ganz getroſt —
geht in die Schenke — ſaͤuft und ſpielt nach
Herzensluſt. Endlich koͤmmt es bey dem
Schnupftuche heraus, das der Vater mitgenom-
men hatte. Das ſieht die Schweſter, und fragt:
wie er dazu gekommen waͤre? Da verſtummt
er — wird eingezogen, und geſtehet die er-
ſchreckliche That.


Wie es ihm gieng, koͤnnt ihr leicht denken.
Er wurde von unten auf geraͤdert, und ſein
Leib aufs Rad geflochten. Vorher hat er noch
geſtanden, daß ihm das gar nicht aus den
Gedanken und vor den Augen wegkaͤme, da
ſich der Vater bey dem erſten Schlage noch
einmal ſo klaͤglich nach ihm umgeſehen habe,
als ob er ſagen wollen: Sohn! undankba-
rer, unmenſchlicher Sohn! kannſt du das an
deinem eigenen Vater thun?


Nun,
[121]

Nun, meine Kinder! was denkt ihr da-
bey? War das nicht ein recht dankbarer
Sohn?


Karl. Ach Vater! ich habe genug.


Charlotte. Ich auch. Ach wir wußten
ja nicht, daß der Undank einen Sohn zum
Vatermoͤrder machen koͤnne. Wir wollen
ganz anders werden.


Vater. Das gebe Gott! Das gebe Gott!


XXV.
Das dankbare Kind.


Es war ein Vater, der hatte vier Kinder:
zwey Soͤhne, und zwey Toͤchter, zwi-
ſchen ſechs und zehn Jahren. Er hatte ſie
des Abends eben bey ſich, als die ungluͤckliche
Stadt, Gera, gaͤnzlich abgebrannt war, und
ſie in der Ferne die Gluth noch ſehen konnten.


H 5Dem
[122]

Dem Vater giengen bey dem Anblick die
Augen uͤber, und die Kinder weinten mit. Ach!
ſagte der Vater, weinet nicht darum, weil ihr
mich weinen ſehet, ſondern weil durch dieſen
Brand ſo viele arme und ungluͤckliche Menſchen
werden. Des andern Tages kam eine traurige
Nachricht uͤber die andere: wie da die Leute
unter freyem Himmel herumlaͤgen, und kein
Hemde, kein Brod, nichts mehr haͤtten: wie
die Aeltern ihre Kinder, und dieſe ihre Aeltern
verloren haͤtten.


Da ſagte der Vater zu ſeinen Kindern:
Das iſt wieder eine Gelegenheit, wo ſich viel
Gutes und Boͤſes offenbaren wird. Da wer-
den gewiß viele Aeltern mit abgebrannt und
arm geworden ſeyn. Da werden viele Kinder
derſelben an andern Orten ſeyn, und ihren
verarmten Aeltern beyſtehen und Gutes thun
koͤnnen, wenn ſie wollen. Da werden aber
auch manche Kinder ihre Aeltern nicht mehr
kennen
[123] kennen wollen, weil ſie arm ſind. Kinder!
was meynt ihr? wenn ich mit eurer Mutter
jetzt in Gera mit abgebrannt waͤre, und nichts,
gar nichts mehr haͤtte, als das bloße Leben:
keine Kleider, keinen Rock, kein Hemde, keine
Schuhe, keine Struͤmpfe, kein Brod, keinen
Pfennig Geld — waͤre noch dazu krank vor
Gram und Elend — muͤßte andere Leute an-
ſprechen, und betteln gehen — Hoͤrt wohl
zu! Ihr aber wohntet auswaͤrts, und waͤret
alle wohl verſorgt. Du, Franz! waͤreſt ein
reicher Amtmann. Und du, Karl! ein Pre-
diger. Du, Charlotte! haͤtteſt einen Cantor
auf dem Dorfe, und nicht viel uͤbrig, und
du, Lore! waͤreſt auch ziemlich wohl verhey-
rathet. Was wuͤrdet ihr denn wohl gegen
eure ungluͤckliche, abgebrannte und nun ganz
arme Aeltern thun? Fragt einmal hierbey euer
Herz? — Und Thraͤnen fielen dem Vater aus
den Augen.


Da
[124]

Da weinten die Kinder ſehr, fielen Vater
und Mutter um den Hals, und ſagten, was
ſie in dem Falle thun wuͤrden.


Lorchen fieng zuerſt an: Ich wollte ihnen
geben, was ich haͤtte, ſollte ich auch kein Hem-
de auf dem Leibe behalten. Sie haben mirs
ja erſt gegeben.


Charlotte ſagte: Ich wollte mich gleich
aufmachen, zu ihnen laufen, meine Kleider
ausziehen, und ſie ihnen anziehen.


Du haͤtteſt aber ſelbſt nicht viel, mein
Kind? fiel ihm der Vater in die Rede. „Des-
wegen wollte ich ihnen doch alles herzlich ger-
ne geben, und lieber ſelbſt hungern, bis ich
wieder was verdient haͤtte.“


Edle Seele! antwortete der Vater. Gott
ſegne dich, und dich auch, Lorchen! Aber,
Karl! was wuͤrdeſt du thun?


„Ich wuͤrde, wenn ich auf dem Lande
Prediger waͤre, von allen meinen Bauern
Brod,
[125] Brod, Kleider, und was ich kriegen koͤnnte,
zuſammenbringen, und damit hinfahren.“


Auch gut, mein Sohn! erwiederte der
Vater.


Endlich kam die Reihe an Franzen, der
bisher ganz ſtille geſeſſen hatte, und der aͤlteſte
war.


„Alles das, ſagte er, waͤre nicht noͤthig.
Ich, als Amtmann, ſchickte ſogleich meine
Kutſche und Pferde hin, ritte ſelbſt mit, und
holte meine Aeltern zu mir. Da haͤtte ich die
dankbare Freude, meine guten Aeltern zeitlebens
bey mir zu behalten, und ſie ſelbſt zu verſor-
gen. Dann ſollten ſie ſich nicht mehr unter
andern Leuten herumquaͤlen. Und ich haͤtte
erſt die beſte Gelegenheit, ihnen das viele
Gute zu vergelten, das ſie an mir und an
euch gethan haben.“


O! laß dich kuͤſſen, lieber Junge! ſagten
Vater und Mutter. Das wollteſt du doch
thun?
[126] thun? Und ſo dankbar wolltet ihr alle ſeyn,
ihr guten Kinder! und eurer Aeltern nicht ver-
geſſen, wenn ſie auch arm waͤren? Wie wirds
euch ſo wohl gehen!


Dafuͤr will ich euch noch ein anderes Hiſtoͤr-
chen erzaͤhlen, das ich ſelbſt erlebt habe. Wie
euch das gefallen wird?


Es waren auch einmal arme Aeltern, ehr-
liche gute Handwerksleute. Die hatten einen
Sohn, an den ſie alles wendeten, und ihn ſtudi-
ren ließen, daruͤber aber ſelbſt verarmten. Der
Sohn bekam eine vornehme Bedienung, und
wurde ſehr reich, weit von Hauſe. Als der
alte Vater das hoͤrte, dacht’ er: Du mußt doch
einmal hinreiſen, und deinen Sohn beſuchen.
Wie wird ſich der freuen, wenn er ſeinen al-
ten Vater ſieht! Der gute Vater! Wie ſehr
betrog er ſich!


Er machte ſich auf, und that die weite
Reiſe von einigen dreyßig Meilen zu Fuße.
Unter-
[127] Unterweges troͤſtete er ſich immer noch mit den
Gedanken: er wird dir doch in deiner Armuth
wieder was geben, da du alles an ihn gewen-
det haſt?


Als er hinkam in das Haus, gab er ſich
zu erkennen, und ließ ſich durch einen Bedien-
ten mit Gold und Silber anmelden, bekam
aber zur Antwort: er haͤtte keinen Vater mehr,
der ſo aufgezogen kaͤme. Doch wurde er in
die Geſindeſtube gebracht, wo man ihm et-
was zu eſſen gab. Nachher ſchickte ihm der
Sohn, der an dem Tage hoch traktirte, ein
Paar Thaler, und ließ ihn ſo wieder gehen,
ohne ihn ſelbſt geſehen und geſprochen zu
haben
.


Wie gefaͤllt euch das, Kinder? Das war
wohl ein recht dankbarer Sohn?


Als der alte Vater mit Noth und Kummer
wieder nach Hauſe kam, zu der ebenfalls al-
ten und armen Mutter, freuete ſich dieſe herz-
lich,
[128] lich, und ſagte: Nun, du wirſt es wohl recht
gut bey unſerm Sohn gehabt haben. Er
wollte antworten, konnte aber nichts weiter
herausbringen, als dieſes: O Gott! welcher
Sohn! Da ruͤhrte ihn der Schlag, und er
fiel todt zur Erde.


XXVI.
Das mitleidige und gutherzige
Kind.


Vater.


So gefaͤllt euch denn die Geſchichte von dem
gutherzigen und mitleidigen Wilhelm
ſo ſehr, die in Campens Sittenbuͤchlein
ſteht?


Karl. Ach allerliebſt, ganz allerliebſt.
Den moͤcht’ ich zum Bruder haben. So lieb
hab’ ich ihn.


Vater.
[129]

Vater. Was hilft das lieb haben? Folge
ſeinem Exempel nach. Ach Gott! wenn ich
doch lauter ſolche Kinder haͤtte, die bey Zei-
ten die Noth anderer Menſchen fuͤhlten und
linderten!


Mutter. Sage das nicht, mein Lieber!
Du haſt ſolche Kinder, wenn du es gleich nicht
denkſt. Und das iſt noch beſſer, daß du es
nicht weißt. Ich bin dahinter gekommen,
und kann dir von unſerm gutherzigen Dorchen
eine uͤberaus ſchoͤne That erzaͤhlen.


Vater. Von meinem Dorchen? Warum
wirſt du ſo roth, mein Kind? Einer guten
That darf man ſich nicht ſchaͤmen.


Dorchen. O Herzensmuͤtterchen! warum
verrathen Sie mich? Sie haben mir ja ſelbſt
geſagt: man ſolle im Verborgenen Gutes
thun, und nicht viel Redens davon machen.
So hats der gute Wilhelm gemacht. Und
nun ſagen Sies Vaͤterchen doch.


IITheil. IVater.
[130]

Vater. Du irrſt dich, liebes Kind! Wenn
das Gute, das man gethan hat, auf ſolche
Art erfahren wird, wie die Mutter ſagt, ſo
iſt es keine Heucheley und Prahlerey. Du haſt
es ja nicht auspoſaunt, dich groß damit zu
machen. Und es iſt ſchon eine Belohnung fuͤr
dich, daß deine Aeltern Urſache haben, ſich
uͤber dein gutes Herz zu freuen. Aber ich
moͤchte es doch wohl naͤher wiſſen. Du ſollſt
nun ſelbſt die Ehre und Freude haben, es mir
zu erzaͤhlen. Komm aber erſt her, liebe See-
le! und laß dich von deinem erfreuten Vater
herzlich kuͤſſen.


Dorchen. Nein! Vater, das kann ich
nicht. Das kann ich unmoͤglich. Verſchonen
Sie mich damit.


Vater. Das war recht, mein Toͤchter-
chen! Ich ſagte es auch bloß, dich auf die
Probe zu ſtellen. Das Gute, das wir ge-
than haben, muͤſſen wir nicht ſelbſt erzaͤhlen.
Das
[131] Das moͤgen andere thun. Und wenn es auch
keiner weiß. Nichts daran gelegen. So weiß
es doch Gott, der ins Verborgene ſiehet, und
das Herz oder unſere Abſicht kennet. Die
Mutter ſoll es uns erzaͤhlen, und zwar dieſen
Abend nach Tiſche, wenn alle Kinder dabey
ſind.


Dorchen. So erlauben Sie mir, daß
ich in der Zeit ein Bißchen in die Nachbar-
ſchaft bey Hannchen gehe.


Mutter. O ja, recht gerne! Die Sache
war ſo. Vor einigen Wochen, da es ganz
entſetzlich regnete, kam ein blutarmer Menſch
die Straße herunter und rief: Die Leute ſoll-
ten doch große und kleine Feuerſteine kaufen.
Einen ganzen Sack voll. Ach! er war ſo
naß, daß ihm das Hemde auf dem Leibe
klebte. Ja! wie es ſchien, hatte er nicht ein-
mal eins an.


I 2Mich
[132]

Mich jammerte des armen Menſchen. Ich
ließ ihn hereinkommen, und kaufte ihm was
ab, was ich doch nicht brauchen konnte. Da
traten die Kinder um ſeinen Sack herum, den
ich wiegen ließ, um ſeine Schwere zu wiſſen.
Da hatte er einige vierzig Pfund.


„Du lieber Gott! ſagte der arme Mann:
Sie ſollten meinen Ruͤcken ſchen. Da iſt alles
von der Laſt und den ſcharfen Steinen mit
Blut unterlaufen. Aber muß man nicht,
wenn man weiter nichts hat? Winter iſt es
auch. Zu verdienen iſt nichts. Ich bin
ein armer Kohlenbrenner vom Harze. Sechs
Kinder liegen zu Hauſe und haben die Pocken.
Eine kranke Frau dazu. Da bat ich heute
den lieben Gott: er ſollte mir doch eingeben,
was ich thun ſollte, um nur das Brod zu
verdienen. Ich gieng aufs freye Feld. Da
ſah ich Raben fliegen. O! dacht’ ich: der
dem Vieh ſein Futter giebt — den jungen
Raben,
[133] Raben, die den Herrn anrufen — Lieber
Gott! ich rufe dich an. Du wirſt ja meine
armen Kinder zu Hauſe nicht verhungern laſ-
ſen. Da kam ich auf einen Acker, wo viele
Feuerſteine lagen. Gleich packte ich meinen
Sack voll, und dachte: die willſt du nach der
Stadt tragen, wenn du auch nur einige Gro-
ſchen dafuͤr nach Hauſe bringeſt.“


Dieß ruͤhrte mich ſo ſehr, daß ich dem
armen Manne den ganzen Sack abkaufte, und
ihm noch dazu Wurſt und Brod einſtecken
ließ.


Inzwiſchen war unſer Dorchen unſichtbar
geworden. Was meynen Sie, Vater! was
das liebe Kind gethan hatte? Es war in die
Kuͤche gegangen, und hatte von Cathrinen
acht Groſchen geborget. „Die, ſagt es, will
ich dir gleich wieder geben, ſobald ich zu mei-
ner Sparbuͤchſe kommen kann. Du mußt es
aber ja der Mutter nicht ſagen.“ Was will
I 3ſie
[134] ſie denn damit? Das darf ich nicht thun.
„O gieb her. Geſchwind, ehe der arme Mann
weggeht. Ich bitte dich gar zu ſehr, gieb
her. Ich koͤnnte ſonſt dieſen Abend nichts
eſſen. Du ſollteſt ſeine Noth nur wiſſen. Du
gaͤbeſt ihm ſelbſt was. Denke nur: ſechs Kin-
der an den Pocken, und kein Brod!“


Als ihm Cathrine die acht Groſchen gab,
und es vorkam, ſahe ich wohl, daß es aͤngſt-
lich war, und rothe Augen hatte. Ich be-
kuͤmmerte mich aber nicht weiter drum. Der
Mann war auch ſchon weg. Da laͤuft es
geſchwind nach der Hinterthuͤr im Garten,
ruft ihn zuruͤck, und giebt ihm die acht Gro-
ſchen fuͤr ſeine kranken Kinder.


So hab’ ichs nachher alles von Cathrinen
erfahren. Es fragte zwar bisher oft, ob ich
nicht bald vor den Schrank gienge, wo ſeine
Sparbuͤchſe ſtuͤnde. Warum? ſagte ich. Da
ſchwieg es ſtille. Indeſſen hab’ ich Cathrinen
die
[135] die acht Groſchen ſchon lange wiedergegeben,
und etwas druͤber, weil ſie es dem Kinde zu
einer ſo guten That nicht verſagt hatte.


Bey dieſen letzten Worten kam Dorchen
eben zur Stube herein.


Dorchen. O liebe beſte Mutter! nun iſt
meine Freude aus. Nein! Cathrine muß Ih-
nen die acht Groſchen wiedergeben. Ich muß
ſie ihm aus der Sparbuͤchſe geben. Sonſt
haben Sie, und nicht ich, dem armen Manne
Gutes gethan.


Vater. Da haſt du auch recht, mein Kind?
Gleich laß Cathrinen kommen. Und Sie,
Mutter! holen die Sparbuͤchſe. Da ſollſt
du Cathrinen gleich die acht Groſchen wieder-
geben.


Dorchen. O ja! lieber Vater, ſo machen
Sie es gut. Sehen Sie wohl, Muͤtterchen?
Nun habe ich die Freude doch.


XXVII.
[136]

XXVII.
Das leichtſinnige Kind.


Karoline war ein uͤberaus leichtſinniges
Maͤdchen. Sie hatte die Augen immer
am Himmel, und nie vor den Fuͤßen. Ueber
alles ſah ſie ohne Ueberlegung weg, und gab
auf nichts Achtung — kehrte ſich auch an
keine Warnungen der Aeltern und Lehrer. Da-
durch wurde ſie ſicher, vorwitzig und unvor-
ſichtig. Aber wie wurde ihr Leichtſinn ge-
ſtraft!


Karoline gieng mit dem Vater und den
andern Kindern nach einem benachbarten Dor-
fe in die Kirſchen. Da kamen ſie an einen
kleinen Graben, uͤber welchen ein alter Wei-
denbaum gelegt war, uͤber den man auch recht
gut weggehen konnte, wenn man ſich nur ein
Bißchen in Acht nahm, und zuſah, wie man
gieng. Die andern Kinder kamen recht gut
daruͤber.
[137] daruͤber. Als ſie nun auch heruͤbergehen woll-
te, ſagte der Vater zum Ueberfluß: Karoline!
ſey nicht leichtſinnig. Siehe zu, wo du geheſt.


Sie aber, nach ihrer Gewohnheit, hatte
die Augen oben an den Weidenbaͤumen, die
am Waſſer ſtanden, und trat vorbey. Bauz!
lag ſie im Moder begraben. Da haͤtte man
das Geſchrey hoͤren ſollen. Zum Gluͤck war
der Graben nicht tief. Der Vater konnte ſie
leicht herausziehen. Aber Geſicht, Kleid, al-
les war mit Moder uͤberzogen.


Weißt du nun, ſagte der Vater, was
Leichtſinn iſt? Du haͤtteſt oben drein noch
Strafe verdient. Doch du biſt geſtraft genug.
Und nun kamen die muntern Knaben zuruͤck.
Die traten um ſie her, und lachten ſie brav
aus. Seht da, hieß es, Karoline iſt ein
Schornſteinfeger geworden. Sie mußten am
Graben herunter gehen, mit den Huͤthen Waſ-
ſer ſchoͤpfen, und ſie uͤber und uͤber begießen,
I 5damit
[138] damit ſie nur erſt den Moder vom Geſichte
abſpuͤlten.


Indeſſen ſtand Karoline da und zitterte
vor Froſt wie ein Eſpenlaub. Sie mußte nun
doch in dem Aufzuge bis nach dem Dorfe ge-
hen. Auf dieſem Wege erzaͤhlte der Vater den
Kindern, zur Warnung vor dem Leichtſinn,
folgende Geſchichte.


Es war einmal ein Schieferdecker, der
bey ſeiner gefaͤhrlichen Profeſſion am wenig-
ſten haͤtte ſollen leichtſinnig ſeyn. Er beklet-
terte die hoͤchſten Thuͤrme mit einer wahren
Tollkuͤhnheit, und gab ſich ſelten die Muͤhe,
einmal nachzuſehen, ob Kloben, Stricke und
Kaſten in rechtem Stande waren. Ehe er
ſichs nun verſahe, gieng der Strick an dem
einen Ende des Kaſtens los. Rutſch war er
herunter. Gottes Vorſehung aber behuͤtete
ihn recht ſichtbar. Er fiel auf ein von ohn-
gefaͤhr unter dem Thurme abgeladenes Fuder
Stroh.
[139] Stroh. Er achtete aber dieſen augenſchein-
lichen Schutz Gottes ſo wenig, daß er gleich
in die Schenke gieng, ſich betrank, auf die
Bank legte, von derſelben herunterfiel, und
den Arm brach.


War das nicht ein leichtſinniger Menſch?


XXVIII.
Das unhoͤfliche und unbeſcheidene
Kind.


Hoͤflichkeit und Beſcheidenheit gehet vor
Schoͤnheit. Das heißt: wenn ein Kind
noch ſo ſchoͤn ausſiehet; wenn es einen noch
ſo ſchoͤnen Koͤrper, Geſicht und Kleider haͤt-
te; es waͤre aber gegen andere nicht hoͤflich
und beſcheiden: ſo wird es doch Niemand
achten.


Wenn
[140]

Wenn aber ein Kind noch ſo haͤßlich aus-
ſaͤhe, daß die Pocken z. E. ſein Geſicht ganz
verdorben haͤtten; waͤre es auch ein armes.
Bettelkind in zerriſſenen und zerlumpten Klei-
dern; es waͤre aber hoͤflich und beſcheiden: ſo
wuͤrde es doch vor dem vornehmſten und
ſchoͤnſten Kinde den Vorzug haben, wenn ſich
dieß unhoͤflich und unbeſcheiden auffuͤhrte.


Der Junker Franz von Schoͤnhauſen war
ein bildſchoͤnes Kind — hatte praͤchtige und
mit Treſſen beſetzte Kleider — war aber ge-
gen andere Kinder, beſonders buͤrgerliche, ein
rechter Grobian. Denn der Adelſtolz ſteckte
ihm ſchon im Kopfe. Seine Unhoͤflichkeit und
Unbeſcheidenheit zeigte ſich dann am meiſten,
wenn Fremde da waren. Er gruͤßte ſie nicht.
Er dankte ihnen nicht. Er ſahe ſie kaum beym
Wege an, zumal wenn es keine Adeliche waren.


Sie haben wohl zu Weihnachten ſchoͤne
Sachen bekommen, junger Herr? fragte ihn
neulich
[141] neulich die Frau Paſtorinn, die bey ſeiner
Mama einen Beſuch ablegte. Er kehrte ihr
den Ruͤcken zu, und antwortete nicht. Hoͤrſt
du nicht, Franz? ſagte die Mama. So kehre
dich doch um, wenn die Leute mit dir ſprechen.
„Ich will nicht. Sie da — kann ſich um
ſich bekuͤmmern.“ Nun ſetzte er den Huth auf,
und begegnete den andern Kindern, die zu ihm
gekommen waren, ſo entſetzlich grob, daß ſie
alle weggiengen.


Der aͤlteſte Sohn des Predigers ſagte:
O kommt, Kinder! wer kann das ausſtehen?
Als ſie uͤber den Hof giengen, begegnete ihnen
der Kutſcher. Der fragte: warum ſie ſchon
weggehen wollten? Da klagten die Kinder uͤber
Franzens Unhoͤflichkeit. Ja! ſagte der: dat
is unſe Junker Grobian.


Fritze war allerwegen als ein unhoͤfli-
cher, unbeſcheidener und haͤßlicher Junge be-
kannt. Man nennte ihn nur den kleinen Bauer.
Keiner
[142] Keiner konnte ihn leiden, und kein Kind wollte
mehr mit ihm umgehen. So blieb er in ſeinen
Worten, in ſeinen Gebaͤrden, in ſeinem gan-
zen Betragen. Als er groß wurde, und von
Univerſitaͤten kam, konnte er unter hoͤflichen
und artigen Leuten gar nicht fortkommen. Er
wurde Informator; aber wie lange? Die
Kinder lernten nichts als Grobheiten von
ihm. Da wurde er bald abgeſchafft. Und
ſo giengs von einem zum andern, bis er ſich
zuletzt auf einem Dorfe einmiethen mußte, und
unter den Bauern ſein Leben endigte.


Lottchen hatte ſonſt den Ruhm eines arti-
gen und fleißigen Kindes gehabt; aber ſeit
einiger Zeit ſich viele unhoͤfliche Manieren,
inſonderheit bey Tiſche, angewoͤhnt. Es ließ
auch ſchon gegen andere mehr Unbeſcheidenheit
blicken, als ſonſt; und, was das aͤrgſte war,
ſogar gegen ſeine Aeltern. Die Mutter hatte
neulich das kleine Kind auf dem Schooße.
Da
[143] Da ſagte ſie zu Lottchen: Reiche mir einmal
dort das Schnupftuch vom Tiſche her. Erſt
that es, als hoͤrte es nicht. „Lotte! hoͤrſt du
nicht? das Schnupftuch da.“ Da nahm es
das Tuch, und warf es der Mutter ſo hin,
als wenn man einem Hunde was hinwirft.


Pfuy! mußte ſelbſt das Kindermaͤdchen
ſagen: das war auch ſehr unbeſcheiden.


Nach einiger Zeit merkte Lottchen, daß es
nicht mehr ſo geachtet wurde, wie ſonſt. Es
klagte es der Mutter: Ich weiß nicht, wie es
zugeht, daß mich die Leute nicht mehr ſo lieb
haben. Das will ich dir wohl ſagen, ſprach
die Mutter: weil du jetzt ſo unhoͤflich und un-
beſcheiden biſt.


XXIX.
[144]

XXIX.
Einige Tiſchregeln.


  • 1) Sitze gerade, und mit den Fuͤßen
    ſtille.
  • 2) Sey beſcheiden und hoͤflich, beſonders wenn
    Fremde da ſind.
  • 3) Iß reinlich, und lege alles huͤbſch auf den
    Teller.
  • 4) Spiele nicht mit dem Brode, und verkru-
    me nichts.
  • 5) Fordre nichts, ſondern ſey zufrieden mit
    dem, was du bekoͤmmſt. Das heißt
    Aufſtippen.
  • 6) Schiele nicht neidiſch nach dem Teller der
    andern, ob eins ein Bißchen mehr be-
    koͤmmt.
  • 7) Sprich nicht eher, als bis du gefragt
    wirſt, und falle andern nicht in die Re-
    de, wenn ſie ſprechen.

8) Lege
[145]
  • 8) Lege dich nicht mit den Haͤnden oder Armen
    auf den Tiſch.
  • 9) Wenn du trinkſt, ſo wiſche dir erſt den
    Mund ab.
  • 10) Lauf nicht eher vom Tiſche, als bis dirs
    erlaubt wird.
  • 11) Iß nicht gierig und heißhungrig, ſondern
    langſam.
  • 12) Spiele nicht mit Meſſer und Gabel.
  • 13) Lecke die Finger nicht ab, oder habe ſie
    nicht immer im Munde.
  • 14) Lege Meſſer, Gabel und Serviette ordent-
    lich zuſammen, wenn du aufſteheſt.
  • 15) Schmatze nicht ſo, wenn du iſſeſt, daß
    man glauben muß, man ſey bey gewiſ-
    ſen Thierchen im Stalle.
  • 16) Bete lieber gar nicht, als daß du aus
    Gewohnheit und ohne Andacht beteſt.

IITheilXXX.
[146]

XXX.
Das verfuͤhrte Kind.


Ach! lieber Herzensvater, ich bitte Sie gar
zu ſehr, ſchlagen Sie mich doch nicht.
Ich kann nichts dafuͤr. So kam Moritz
nach Hauſe geſchrien, und ſah aus, wie ein
Schornſteinfeger. Ganz ſchwarz, mit Koth
und Moder uͤberzogen.


Der Vater erſchrak, als er ihn ſah. Denn,
haͤtte er ihn nicht an der Stimme erkannt, ſo
wußte er nicht, wer es war. Herr Gott!
Moritz, ſagte der Vater, wie ſiehſt du aus?
Wo haſt du geſteckt? Gehe mir vor den Augen
weg, und erwarte deine Strafe.


Moritz gieng voll Furcht und Angſt weg.
Er wußte ſich nicht zu helfen, noch zu rathen,
bis ſich die eine Magd uͤber ihn erbarmte, und
ihn vor dem Brunnen rein abwuſch. Da zit-
terte und bebte der arme Schelm. Nun wur-
de
[147] de er trocken angezogen und ins Bette ge-
legt.


Unter der Zeit kamen zwey Fiſcher und
wollten den Vater ſprechen. Was bringt ihr
mir, ihr guten Leute? ſagte er. „Wir wollten
uns von dem Herrn ein Trinkgeld holen, daß
wir ſeinen Sohn han aus dem Graben gezo-
gen. Er ſtack ſchon ſo tief drinn, daß wir
nur den Schwanz noch ſahen. Dabey han
wir ihn rausgetreckt. Ein Augenblickelken ſpaͤ-
ter, ſo war he weg. Er hadde kein Leben
meh, da er herauskam, bis wir ihn auf den
Kopf ſtellten, daß ihm das Waſſer aus dem
Halſe lief.“


Nun erſchrak der Vater erſt recht. Denn
vorher meynte er nur: Moritz haͤtte ſich in
der Goſſe umgekehrt. Ach! ihr guten Leute,
ſagte er, da habt ihr was fuͤr eure Muͤhe,
und noch vielen Dank, daß ihr mir meinen
Sohn gerettet habt. Aber ſagt mir doch, wie
K 2iſt
[148] iſt es denn gekommen, und wo iſts ge-
ſchehen?


Ja! antworteten die Leute, das wiſſen
wir ſelbſt nicht recht. Draußen im Stadt-
graben iſts geſchehen, der halb abgelaſſen iſt,
wo wir eben fiſchten. Da waren noch mehr
kleine Jungen im Kahne. Und da ſchrien ſie
auf einmal. Da liefen wir zu. Denn wir
waren ganz unten. Da ſtack der aber ſchon
drinn.


Nun ließ der Vater Moritzen kommen, und
ſagte: Haͤtteſt du nicht empfindliche Strafe
verdient? Was haſt du gemacht? Wo biſt du
geweſen? Ich denke, du biſt in der Schule.
Und nun biſt du auf dem Graben. Ich weiß
ſchon alles. Wirſt du mir nicht alles ehrlich
erzaͤhlen, oder wirſt du noch dazu luͤgen, ſo
ſollſt du deine Strafe nicht wiſſen.


Ach lieber Vater! ſchluchzte dieſer. Ver-
geben Sie mirs doch. Ich kann nichts da-
fuͤr.
[149] fuͤr. Was? rief der Vater, gottloſes Kind!
du willſt dich noch entſchuldigen? Du koͤnnteſt
nichts dafuͤr? Warum biſt du ohne mein Vor-
wiſſen aus der Schule gelaufen? Hoͤren Sie
doch nur, lieber, lieber Vater! Nur ein Woͤrt-
chen, daß ich nichts dafuͤr kann. Als ich in
die Schule gieng, begegnete mir Chriſtian,
und ſagte: Draußen auf dem Graben wird
gefiſcht. Komm mit. Die andern gehen auch
mit. Es iſt keine Schule. Da gieng ich mit.
Sehen Sie wohl, daß ich nichts dafuͤr kann.
So kams.


Du bleibſt doch noch bey deinen vier Au-
gen; aber erzaͤhle weiter.


Als wir heraus kamen, ſagte Chriſtian:
Komm, ich will dich kahnen. Da ſtieg ich in
das Kahn, und er kahnte fort. Nun gab er
mir die Stange in die Hand, und ſagte: Da,
ſtecke die hinein, ſo wirds recht gehen. Ich
that das. Da gieng der Kahn unter mir weg,
K 3und
[150] und ich lag drinn. Weiter weiß ich nicht,
wie mir geſchehen iſt, bis ich mich erholte,
und die Fiſcher bey mir ſtanden. Chriſtian
aber und die andern waren uͤber alle Berge.
Ich kann nichts dafuͤr. Chriſtian iſt an allem
Schuld. Vergeben Sie mirs doch. Wollen
Sie, lieber Vater?


Ja! das will ich, weil dich Gott aus ei-
ner ſo augenſcheinlichen Todesgefahr errettet
hat. Ach Gott! wie bald konnteſt du weg
ſeyn, wenn die Fiſcher nicht da waren! Elen-
diglich haͤtteſt du im Moraſte erſticken muͤſſen.
Aber unſchuldig biſt du nicht. Ach Vater!
rief Moritz noch immer, Chriſtian, der boͤſe
Chriſtian, hat mich verfuͤhrt.


So? der hat dich verfuͤhrt? erwiederte
der Vater. Alſo meynſt du, daß du deswegen
unſchuldig waͤreſt? Doch davon wollen wir
morgen weiter ſprechen. Jetzt gehe zu Bette,
und
[151] und danke Gott, daß er dich ſo gnaͤdig erret-
tet hat.


XXXI.
Fortſetzung des dreyßigſten Stuͤcks.


Vater.


Nu, wie iſts, Moritz? Haſt du nachgedacht?
Biſt du noch ſo unſchuldig?


Moritz. Chriſtian hat mich verfuͤhrt. Er
ſagte: es waͤre keine Schule.


Vater. Warum haſt du dich denn aber ver-
fuͤhren laſſen? Mußteſt du ihm gleich glauben?
Konnteſt du nicht erſt zum Lehrer gehen und
fragen?


Moritz. Ja! das haͤtt’ ich thun koͤnnen.
Aber ich dachte nicht daran. Und das Fiſchen
auf dem Graben —


Vater. Das ſtack dir im Kopfe. Daruͤber
vergaßeſt du allen Gehorſam. Warum kamſt
K 4du
[152] du aber nicht erſt zu mir? Biſt du nicht ohne
mein Vorwiſſen allein herausgegangen? Haͤt-
teſt du mich erſt um Erlaubniß gebeten, ich
waͤre wohl ſelbſt mitgegangen, und haͤtte dir
dieſe Luſt gemacht. Dann waͤrſt du gewiß zu
dem Ungluͤck nicht gekommen.


Aber ſo gehts, wenn Kinder ohne Auf-
ſicht, ohne Vorwiſſen ihrer Aeltern herumlau-
fen. Dann folgt ihnen die Strafe auf dem
Fuße nach. Dann kommen ſie zu Ungluͤck,
daß ſie nicht wiſſen, wie? Dann kommen ſie
oft elendiglich ums Leben. Denkſt du nicht
mehr an den kleinen Ertrunkenen in Deſſau?*)
Kannſt du noch nichts dafuͤr?


Moritz. Ach ja! beſter Vater, nun er-
kenne ichs, daß ich gefehlt habe. Ich haͤtte
dem Chriſtian nicht folgen ſollen.


Vater. Siehſt du wohl, daß es nun ganz
anders klingt? So gehts aber, wenn die Kin-
der
[153] der denken: ſie waͤren ſelbſt ſchon klug und
verſtaͤndig genug, ſich zu fuͤhren und in Acht
zu nehmen. Merkſt du denn nicht, daß der
boͤſe Bube, Chriſtian, die Abſicht hatte, dich
zu verfuͤhren, daß du ſollteſt ins Waſſer
fallen?


Moritz. Nein! Vater, das ſehe ich noch
nicht. Er ſagte nur: ich ſollte mich auf die
Stange legen.


Vater. Das war es eben, wodurch er
dich verfuͤhrt hat. Wenn du dich vorn auf
die Stange legteſt, ſo gieng der Kahn unter
dir weg. Bauz! lagſt du drinn, wie auch
geſchehen iſt.


Moritz. Ja! ſo kam es. Ich war aber
nicht Schuld daran.


Vater. Wer denn? Haͤtteſt du nicht ge-
folget, ſo waͤreſt du nicht gefallen. Muß man
denn an gefaͤhrlichen Orten gleich alles thun,
K 5was
[154] was entweder boͤſe Buben, oder unverſtaͤndige
Kinder ſagen?


Der Verfuͤhrte hat ſo wohl Schuld,
als der Verfuͤhrer
.


Verſtehſt du das nun, Moritz?


Moritz. Ach ja, Vater! Ich hab’ es
erfahren.


Vater. Das daͤcht’ ich auch. Wenn dir
Jemand ein Meſſer gaͤbe, und ſagte: Stich
damit deine Schweſter todt, und du thaͤtſt es:
haͤtteſt du keine Schuld? Koͤnnteſt du ſagen:
Warum hat er mir das Meſſer gegeben? Oder
wenn dir Jemand ſagte: Da haſt du bren-
nenden Schwefel, ſtecke deines Nachbars Haus
an; du thaͤtſt es, und wollteſt dich hernach
damit entſchuldigen, daß er dir dazu den
Schwefel gegeben haͤtte? Oder Chriſtian kaͤme,
und gaͤbe dir einen Stock, und ſagte: Schla-
ge alle Huͤhner auf deines Vaters Hofe todt.
Koͤnnteſt du ſagen: Ich kann nicht dafuͤr.
Er
[155] Er hat mir den Stock dazu gegeben. Siehe,
ſo iſt es auch mit dem Kahne.


Moritz. Ach lieber Vater! ich ſehe nun
ein, daß ich in allem Unrecht habe. Ich werde
mich nicht ſo leicht wieder verfuͤhren laſſen.
Vergeben Sie mir nur dießmal.


Vater. Das hab’ ich dir verſprochen.
Damit du aber einen Denkzettel deiner Ver-
fuͤhrung haſt, und dich kuͤnftig beſſer in Acht
nimmſt, ſo habe ich den Fiſchern, die dich ge-
rettet haben, alles Geld aus deiner Spar-
buͤchſe, uͤber zwey Thaler, gegeben — Und
das Kleid, womit du im Moder geſteckt haſt,
mußt du ſo lange tragen, als ein Stuͤck daran
iſt, es mag ausſehen wie es will.


XXXII.
[156]

XXXII.
Der Leichvogel.


Marie.


Da ſchreyet einmal der fatale Vogel wieder.
Der wird gewiß einen holen wollen.
Hoͤre nur einmal einer an, wie die Kroͤte kik-
kert — recht, als ob er lachte und ſich freue-
te. Das hat nun ſchon einige Naͤchte ſo ge-
waͤhrt. Mir grauet, daß ich ſoll zu Bette
gehen. Aber mich ſoll doch wundern, wen
es bedeuten wird?


Wilhelm. Was ſagſt du da, Marie,
von Holen? Wer will denn einen holen? Der
Vogel ſoll einen holen? Was fuͤr ein Vogel?


Marie. J, Wilhelmchen! hoͤrſt du denn
den Vogel nicht ſchreyen? Horch doch — das
Leichhuhn! Wenn das ſchreyet, ſo wird ge-
wiß einer in der Nachbarſchaft ſterben. Und
wenn wo ein Kranker liegt, und es fliegt ans
Fenſter,
[157] Fenſter, der mag ſich dem lieben Gott befeh-
len; der koͤmmt gewiß nicht davon.


Wilhelm. Hoͤre einmal, Marie! du
ſprichſt wunderliches Zeug. Sage mir nur
erſt, was das fuͤr ein Vogel iſt? — Leich-
huhn? Leichvogel?
Das verſtehe ich nicht.


Marie. Was weiß ichs, was es fuͤr
eine Kroͤte iſt? Es ſoll ein kleiner grauer Vo-
gel ſeyn, wie die Leute ſagen, wie ein jung
Huhn. Wenns mit der Kroͤte richtig waͤre,
ſo koͤnnte er huͤbſch bey Tage kommen; aber
ſo ſchreyet er nur des Nachts. Genug, wenn
er ruft, ſo muß einer ſterben, und das trifft
immer ein.


Wilhelm. Du biſt dem Vogel erſchreck-
lich gut. Das hoͤre ich wohl. Denn du nennſt
ihn immer die Kroͤte. Aber ſage mir nur, wie
kann denn der Vogel das wiſſen, wenn einer
ſterben will, oder, wie du ſagſt, einen ho-
len?


Marie.
[158]

Marie. Ja! da fragſt du mich zu viel.
Das weiß ich nicht. Genug, es iſt wahr. Es
ſtirbt allemal einer, wo ſich die Kroͤte hoͤren
laͤßt.


Wilhelm. Wenns nur dich nicht bedeu-
tet? Du biſt alt genug. Ich moͤchte es wohl
einmal ſehen, wenn dich der Vogel holte, wie
du dich anſtellen wuͤrdeſt?


Marie. Ja! ſpotte du nur. Ach du lie-
ber Gott! nimm mich nicht weg in der Haͤlfte
meiner Tage.


Wilhelm. J! Marie, du biſt ja uͤber
ſtebenzig Jahre alt, und haſt einen grauen
Kopf.


Marie. Das iſt das einzige Spruͤchelchen,
das ich beten kann. Weiter habe ich nichts
gelernt. Ach es iſt mir recht ſchwer auf dem
Herzen!


(Wilhelm ſitzt bey Tiſche immer in Ge-
danken.)


Mutter.
[159]

Mutter. Was fehlt dir, Wilhelm? Sitzeſt
du doch, wie im Traume.


Albertine. Er iſt in Angſt, der Leich-
vogel wird ihn holen.


Wilhelm. Ich haͤtte bald was geſagt.
Bekuͤmmere dich um dich.


Mutter. Sachte, ſachte! Kannſt du dei-
ne Schweſter nicht beſſer anfahren? Wer hat
dir wieder was in den Kopf geſetzt? Es iſt
doch gar zu ein leichtglaͤubiger Junge. Alle
Poſſen glaubt er. Alles laͤßt er ſich aufbinden.
Und es ſchadet dir nichts, wenn du dich vor
allen alten Weiberhiſtoͤrchen fuͤrchteſt. Was
iſt das einmal wieder mit dem Leichvogel?


Albertine. Marie ſprach heute Abend da-
von unten in der Stube. Ich habe aber nicht
einmal recht darauf gehoͤrt.


Wilhelm. Da riefe des Abends und
Nachts ein Vogel, ſagte Marie. Es muͤſſe
denn einer in der Nachbarſchaft ſterben, wenn
er
[160] er ſich hoͤren ließe — und er hole die Leute.
Das hab’ ich jetzt ſo bey mir bedacht, obs
wohl wahr waͤre?


Mutter. I, das wundert mich, daß
du daran noch zweifelſt. Das hat dir ja Herr
Erich, dein Lehrer, ſchon oft genug geſagt.
Das haſt du ja von deinen Aeltern und an-
dern verſtaͤndigen Leuten ebenfalls ſchon ge-
hoͤrt.


Wilhelm. Sie, Herr Erich, haͤtten mir
das geſagt? Nein, liebe Mutter! ich habe es
noch von keinem Menſchen gehoͤrt. Ich kenne
auch den Vogel nicht.


Erich. (lacht) Merkſt du denn nicht, Wil-
helm! wo die Mutter hin will? Weil du es
weder von deinen lieben Aeltern, noch von mir
und andern verſtaͤndigen Leuten, ſondern al-
lein von Marien gehoͤrt haſt, ſo mag die Sa-
che wohl eben nicht ſo ſehr richtig ſeyn. Ma-
riens Philoſophie iſt nicht weit her, und es
ſollte
[161] ſollte mir leid thun, wenn mein Wilhelm und
Albertine nicht kluͤger waͤren, als Marie mit
ihrem Aberglauben.


Wilhelm. Lieber Herr Erich! thun Sie
mir doch den Gefallen, und ſagen mir, wie
es mit dem Leichvogel eigentlich iſt. Ich will
Ihnen gerne glauben.


Albertine. O ja! Herr Erich. Ich bit-
te auch drum. Ich hoͤre ſo was gar zu gern,
wovor ſich die alten Weiber kreuzigen und
ſegnen.


Mutter. Und ich werde auch zuhoͤren,
da ich in meiner Jugend ſo viel von dem Zeu-
ge gehoͤrt habe.


Oder wollen wirs laſſen, bis dieſen Abend?
So haben wir einen angenehmen Zeitvertreib,
da ohnehin der Vater verreiſt iſt. Ich weiß
das recht gut, daß alles dabey natuͤrlich zu-
gehen muß; aber wie es eigentlich damit iſt,
das wuͤnſchte ich denn doch wohl zu wiſſen.


IITheilXXXIII.
[162]

XXXIII.
Fortſetzung des zweyunddreyßigſten
Stuͤcks.


Erich.


Der Aberglaube pflegt in der Natur alles
zu ſeinem Vortheil auszulegen. Und da
ſind auch die armen unſchuldigen Voͤgel nicht
einmal frey geblieben. Denen giebt man auch
genug Schuld, woran die armen Dinger nie
denken, denken koͤnnen, und gedacht haben.
Wilhelm! was hatten wir doch neulich aus
der Acerra philologica von dem Fluge der
Voͤgel bey den alten Roͤmern?


Wilhelm. Daß ſie aus dem Fluge der
Voͤgel Gluͤck oder Ungluͤck wahrſagen wollten.


Erich. Noch jetzt macht man die armen
Eulen gar zu Todespropheten.


Mutter. O! das iſt es noch nicht alles.
Zu meiner Zeit hieß es: Wenn des Nachts die
Eulen
[163] Eulen ſchrien, die Katzen ſich biſſen, die Hun-
de heulten, ſo muͤßte entweder einer ſterben,
oder es wuͤrde Feuer entſtehen, oder Krieg
werden. Viel Wind ſolle auch Krieg be-
deuten.


Erich. Ja! die Sache iſt ſo weit gekom-
men, daß der Vogel einen ordentlichen Namen
bekommen hat, und der Leichvogel heißt,
weil er durch ſein Geſchrey anzeige, daß bald
wo in einem Hauſe eine Leiche, oder ein Tod-
ter ſeyn wuͤrde.


Albertine. Davon heißt er auch wohl
das Leichhuhn?


Erich. Ja! eben davon.


Wilhelm. Wenn ich nur erſt wuͤßte, was
es fuͤr ein Vogel waͤre! Gehoͤrt hab’ ich ihn
wohl, daß er rief: Ki! Ki! Ki! aber noch
nie geſehen.


Erich. Wenn ich dir aber ſage, Wilhelm!
daß du den Vogel wirklich ſchon lebendig und
L 2todt
[164] todt geſehen, aber nicht gewußt haſt, daß es
der Leichvogel ſey? Was meynſt du dazu?


Wilhelm. Wo waͤre denn das geweſen?


Erich. Beſinne dich nur. Als wir neulich
Abends an dem kleinen Fluſſe an den Weiden
herunter giengen, da flog ein grauſprenklicher
Vogel heraus, der ſchrie: Kiki! Kiki! Weißt
du das nicht mehr? Du liefſt ja noch hinter-
her, da er nach der alten Steinwarte auf dem
Berge flog.


Wilhelm. Die kleine Eule?


Erich. Ja! das war der Leichvogel.
Da haſt du ihn lebendig geſehen. Und neu-
lich in Zerbſt, in dem Langhavelſchen Kabinet,
haſt du ihn ausgeſtopft geſehen.


Wilhelm. Das waͤre der Leichvogel?


Erich. Ja! ja! das iſt er, und kein
anderer. Die kleinſte Art von Eulen hier zu
Lande, die man auch den Kauz, das Kaͤuz-
lein
nennet. Dieſer Vogel wohnt in hohlen
Weiden,
[165] Weiden, in alten Thuͤrmen, Scheunen und
Gebaͤuden. Im Herbſt und Fruͤhjahr kom-
men ſie gern in die Staͤdte, und ſchreyen des
Nachts den Leuten die Ohren voll. Nun aber
frage ich dich: Kann der Vogel wohl wiſſen,
anzeigen und offenbaren, wenn einer ſterben
ſoll?


Wilhelm. Nein! das kann wohl kein
Vogel. Das weiß ja nicht einmal ein Menſch
von dem andern.


Erich. Siehſt du wohl? Woher ſollte
das auch ein unvernuͤnftiger Vogel wiſſen?
Wenn es wahr waͤre, ſo muͤßte er den beſon-
ders anzeigen koͤnnen, der ſterben ſollte, und
der muͤßte denn auch gewiß ſterben. Der
dumme Vogel weiß ſeinen eigenen Tod nicht
einmal. Als ich noch in meiner vorigen Kon-
dition war, da ſchrie mir auch einer einmal
alle Abend vor meinem Kammerfenſter auf der
Scheune, daß ich nicht ſtudiren konnte. Ich
L 3holte
[166] holte die Windbuͤchſe, und ſchoß ihn herunter.
Da lag er, und ich lebe noch.


Mutter. Zuweilen ſoll es aber doch zu-
treffen, daß der Kranke ſtirbt, wo der Vogel
vor dem Fenſter ſchreyet. Ich habe das ſelbſt
bey meinem ſeligen Vater erlebt, daß er ans
Fenſter geflogen kam, und ganz toll war, da
er in letzten Zuͤgen lag. Es kann das aber
andere Urſachen haben, und ganz natuͤrlich
zugehen.


Erich. Darauf will ich gleich hernach
antworten. Jetzt aber ſage ich nur ſo viel: Es
kann wohl ſeyn, daß etwan einmal hier oder
da einer in der Gegend oder Straße geſtor-
ben iſt, da der Vogel rief. Das trifft wohl
zuſammen. Aber ſage mir einmal, Wilhelm,
ob du glauben kannſt, daß der Vogel daran
Schuld ſey, und daß ſein Schreyen nichts
anders, als den Tod des Menſchen, bedeutet
habe?


Wilhelm.
[167]

Wilhelm. Das kann ich freylich nicht.


Erich. Alſo ſiehſt du, wie wenig Grund
ein ſolches Geſchwaͤtz hat. Der Menſch waͤre
doch wohl geſtorben, wenn auch kein Vogel
dahin gekommen waͤre. Ein andermal ruft
er vor oder in dem Hauſe eines Kranken, bey
dem man aufs Ende wartet. So weiß ichs,
daß er einmal vierzehn Tage hinter einander,
Tag und Nacht oben in der Bodenluke einer
alten Frau ſaß, und unaufhoͤrlich ſchrie. Die
Frau war einige ſiebenzig Jahre alt, und hat-
te ſchon uͤber ein Vierteljahr gelegen. Da
ſagten alle Leute: Nu! die wird gewiß reiſen
muͤſſen. Und ſie lebt noch. Alſo triffts unter
hundertmalen nicht einmal ein.


Wilhelm. Aber was ſagen Sie zu dem
Exempel, das die Mutter vorher anfuͤhrte?


Erich. Das laͤßt ſich bald erklaͤren. Der
Vogel gehoͤret unter die Aasvoͤgel, und hat
eine erſtaunlich ſtarke Witterung. Das heißt:
L 4er
[168] er kann ſolche Dinge, die ſtark riechen, als
todtes Aas, Arzeneyen, und Kranke, die an
Faulfiebern, Frieſeln, u. ſ. w. — auch die
in letzten Zuͤgen liegen, und ſchon inwendig
anfangen zu faulen, ſehr weit riechen. Der
Geruch der Krankenſtuben zieht ihn beſonders
herbey. Da koͤmmts denn, wenn er hungrig
iſt, daß er oft an das Fenſter fliegt, wo ſol-
che Kranke liegen, die ſchon aashafte Aus-
duͤnſtungen von ſich geben. In den Kranken-
ſtuben iſt auch die ganze Nacht Licht, und er
fliegt auch gerne nach dem Lichte. Das geht
denn alles ſehr natuͤrlich zu, und ſolche Kran-
ke haͤtten denn ohnehin bald ſterben muͤſſen.


Mutter. Das war meiſterhaft erklaͤrt,
Herr Erich!


Wilhelm. Nun bekomme ich auch ganz
andere Gedanken von der Sache. Meinethal-
ben mag er nun ſchreyen, ſo viel als er will.
Mich ſoll er gewiß nicht holen.


Erich.
[169]

Erich. Ja! es waͤre auch eine traurige
Sache um der Menſchen Leben, wenn jeder
Vogel, oder jedes pickende Wandwuͤrmchen,
mir meinen Tod anzeigen ſollte. Das wußte
David in der Bibel beſſer: Meine Zeit ſtehet
in deinen Haͤnden
.


XXXIV.
Der feurige Drache.


Anne.


Ach! geſtern Abend, was ich da geſehen
habe, das darf ich faſt keinem Menſchen
ſagen.


Cathrine. Alſo mir auch wohl nicht.
Denn ich bin auch ein Menſch. Das muß
denn was recht Sonderbares geweſen ſeyn.


Anne. Das war es auch. Da zogs vom
Himmel herunter — ach! Gott ſey bey uns!
L 5und
[170] und hatte einen Schwanz — wohl zehn Ellen
lang. Lauter Feuer — lauter Funken, wie
ein Drache. — Gerade da nach dem Schorn-
ſteine der — hin. Ich mag ſie nicht berufen.
Da gabs denn heute fruͤh brav Butter, Kaͤſe
und Eyer, Speck und Wuͤrſte — in ſchwe-
rer Menge vor der Thuͤr. Wo wollte die
Frau das ſonſt her kriegen, wenns ihr nicht
der Drache braͤchte? Ich habs mein Tage ſo
weit nicht bringen koͤnnen. Was ſollten ſonſt
auch die rothen Augen des Weibes bedeuten,
wenn ſie nicht den feurigen Drachen ſo oft
ſaͤhe? — Die alte boͤſe Hexe!


Cathrine. Anne! Anne! Was ſprecht
ihr da? Redet euch ja nichts uͤber den Hals.
Ich will euch nicht verrathen. Wenn das
aber die Frau wuͤßte, ſie wuͤrde euch be-
hexen, daß euch weder Sonne noch Mond
beſchiene. Ich meyne da unter dem Rathhauſe
in dem Stuͤbchen unter der Erde.


Anne.
[171]

Anne. Ich wollte es ihr ſchon beweiſen.
Mit meinen Augen hab’ ich ihn in den Schorn-
ſtein hineinfahren geſehen. Ich habe Zeugen
druͤber.


Cathrine. Wen denn?


Anne. Wen denn? Als wenn ſie’s nicht
gehoͤrt haͤtte? Den Drachen, wenn ſie es wiſ-
ſen will.


Cathrine. Wer weiß, was ihr geſehen
habt? Laßt euch ja nichts merken, daß es die
Kinder nicht hoͤren. Ihr duͤrftet ſonſt von
unſerer Frau einen derben Ausputzer kriegen.
Ich glaube aber, ſie hats lange ausgeſchwatzt,
und die Kinder wiſſen ſchon was davon.


(Dorchen ruft und ſchreyet des Abends
ganz erſchrecklich im Bette. Ach
Mutter! Hu! hu! hu! Mutter,
kommen Sie mir zu Huͤlfe, Er will
mich freſſen.)


Cathrine.
[172]

Cathrine. Da haben wirs. Das dacht’
ich wohl.


Mutter. Cathrine! geht doch einmal
herein, und ſeht, was dem Kinde fehlt.


Cathrine. Schlaf ſie ein, Dorchen. Wir
ſind alle hier. Es thut ihr keiner was. Es
hat ihr getraͤumt.


Dorchen. Ach Cathrine! Mutter! Ich
muß heraus. Ich kann nicht bleiben. Da
war er am Bette. Lauter Feuer.


Mutter. Kind! was denn? Wer war
da? Fuͤrchte dich nicht. Wir ſind ja hier.


Dorchen. O! nehmen Sie mich doch
mit. Ach! der feurige Drache kam da her-
unter und wollte mich verſchlingen.


Mutter. Moͤchte man ſich nicht todt
aͤrgern! Wer mag nun dem Kinde wieder was
in den Kopf geſetzt haben?


Cathrine. Ich nicht, Frau Doktorn.


Mutter.
[173]

Mutter. Kind! wer hat dir denn das
geſagt?


Dorchen. Ach! Anne ſagte geſtern Abend,
der Drache ſey in den Schornſtein gefahren.
Da kam mirs vor, wie ich einſchlafen wollte,
als ob er zu mir ins Bette kaͤme.


Mutter. Ganz gewiß muß ich das Weib
ihres Aberglaubens wegen noch abſchaffen.
Es verdirbt mir alle Kinder. Glaube du das
nicht, liebes Dorchen! Es giebt keinen feuri-
gen Drachen, der den Leuten was zu Leide
thut. Morgen will ich dir alles erzaͤhlen, wie
es damit iſt. Schlaf du nur ganz ruhig.


Cathrine. Ich habe es ihr genug geſagt,
ſie ſollte den Kindern nichts vorſchwatzen.
Aber es war ſchon geſchehen.


Mutter. Nun, morgen ſoll ſie fort.
Denn ſie iſt nicht zu beſſern. Sie lebt und
ſtirbt bey ihrem Aberglauben. Aber ich muß
es doch dem Vater und Herrn Liebmann ſa-
gen.
[174] gen. Was meynen Sie wohl? ſo iſts geſtern
Abend mit Dorchen im Bette ergangen. Ich
habe bald den Tod vor Schreck gehabt. Und
daran iſt keiner Schuld als Anne.


XXXV.
Fortſetzung des vierunddreyßigſten
Stuͤcks.


Vater.


Gleich ſollen alle Kinder kommen, und Dor-
chen auch. Mein Kind! haſt du dich
denn geſtern Abend ſo vor dem Drachen ge-
fuͤrchtet? Da muͤßt’ ich dich doch recht aus-
lachen.


Dorchen. Ja, Vater! Anne hat ihn
ſehen in den Schornſtein fahren.


Vater. Das kann wohl ſeyn. Und das
iſt doch kein feuriger Drache — kein lebendi-
ges
[175] ges greuliches Thier, das dir was zu Leide
thut. Das glaube du mir auf mein Wort.


Liebmann. Und auch auf mein Wort,
liebes Dorchen. Ihr andern aber werdet doch
wohl nicht mehr darinn Einen Glauben mit
Annen haben?


Franz. Nein, gewiß nicht, Herr Lieb-
mann
.


Karl. Erzaͤhlen Sie uns doch was da-
von.


Albertine. Die alte Anne haͤlt die Frau
fuͤr eine Hexe, in deren Schornſtein der Dra-
che gefahren waͤre.


Liebmann. Das koͤnnt ihr glauben, lie-
ben Kinder! daß das der einfaͤltigſte Aber-
glaube iſt, der nur ſeyn kann. Was der ſonſt
in der Welt fuͤr Schaden gethan hat, und
was der fuͤr unmenſchliche Grauſamkeiten an
den unſchuldigſten Leuten, wenn ſie als Hexen
angeklagt wurden, veruͤbt hat, das iſt mit
Worten
[176] Worten nicht auszuſprechen. Aber erſt noch
was von dem feurigen Drachen. Komm
her, mein Dorchen! ſetze dich hier auf meinen
Schooß, und hoͤre zu.


Als wir neulich Abend am Johannistage
draußen im Buſche waren, wie wars da um
die Buͤſche herum, und in der Luft?


Franz. Als wenn die Buͤſche brennten,
und die Luft voll Sternchen waͤre.


Liebmann. Da fuͤrchtetet ihr euch wohl
recht?


Karl. Ja, anfaͤnglich; aber hernach nicht
mehr. Da wurden wir ſo dreiſt, daß wir die
leuchtenden Dingerchen ſelbſt fiengen. Es
waren Johanniswuͤrmchen, die ein ganz
ſcharmantes Licht von ſich gaben, und doch
nicht brannten. Da war alle Furcht weg.


Liebmann. Haſt du die nicht auch ge-
ſehen, Dorchen?


Dorchen.
[177]

Dorchen. O ja! es waren gar zu nied-
liche Wuͤrmchen.


Liebmann. Das gieng denn doch ſehr
natuͤrlich zu. Als wir aber den Abend gegen
zehn Uhr uͤber die Wieſe nach Hauſe giengen —
da der feurige Strahl am Himmel durchzog —
da unſer Bedienter ſagte: Es ſchnuppt oder putzt
ſich ein Stern — da waret ihr wohl recht in
Furcht?


Franz. Nein, gar nicht, Herr Lieb-
mann
. Sie ſagten uns ja, daß der Schein
viele hunderttauſend Meilen von den Sternen
weg waͤre. Es ſey nichts als eine Entzuͤn-
dung ſchweflichter Duͤnſte in der Unterluft.
Wenn nun der Strich ausgebrannt waͤre, und
weiter nichts mehr vorhanden ſey, ſo hoͤre es
auf zu leuchten, und habe ſich verzehrt.


Liebmann. Du haſts gut behalten. Eben
als wenn wir am Freyſchießen einen Strich
mit Pulver machen, und den vorn anſtecken,
IITheil. Mſo
[178] ſo laͤuft das Feuer bis ans Ende, und da
hoͤrts von ſelbſt auf. Dorchen! du haſt ja
die Sternſchnuppe auch geſehen, wie es die
Leute nennen?


Dorchen. Ja, recht gut, und fuͤrchtete
mich nicht.


Liebmann. Nun, ſo glaube doch auch
der alten einfaͤltigen Anne nicht mehr, wenn
ſie dir vom feurigen Drachen was vorſchwatzt,
der in den Schornſtein gefahren waͤre. Glaube
mir und deinen Aeltern mehr, als dem alten
Weibe. Was ſie da geſehen hat, iſt nichts
anders, als eben eine ſolche Lufterſcheinung,
die ſich entzuͤndet hatte. Mehr als hundert-
mal hab’ ich dergleichen des Nachts am Him-
mel auf dem Poſtwagen, auf meinen Reiſen
geſehen.


Dorchen. Aber er iſt ja in den Schorn-
ſtein gefahren?


Liebmann.
[179]

Liebmann. Auch das geht ſehr natuͤrlich
zu. Weil die Schornſteine enge, und oben
offen ſind, ſo haben ſie einen ſtarken Zug.
Daher ziehen dieſe feurigen Strahlen gerne
dahin. Wo ſie durchgezogen ſind, da laͤßt es,
als ob ſie einen langen Schwanz hinter ſich
haͤtten. Daher ſie auch die dummen Leute fuͤr
Drachen mit langen Schwaͤnzen anſehen.


Dorchen. Nun will ich mich auch nicht
mehr davor fuͤrchten. Aber Anne ſagte noch:
er braͤchte Eyer, Butter und Kaͤſe in den
Schornſtein, und denen er was braͤchte, das
waͤren Hexen. Das verſtehe ich nur nicht.


Liebmann. Morgen mehr, liebes Kind!
Gehe du jetzt ganz getroſt zu Bette.


XXXVI.
[180]

XXXVI.
Fortſetzung des fuͤnfunddreyßigſten
Stuͤcks.


Liebmann.


Haſt du gut geſchlafen, mein Dorchen? Hat
dir der feurige Drache nichts gethan?


Dorchen. O nein! gar nichts. Ich dach-
te wohl dran; aber ich fuͤrchtete mich nicht
mehr. Wiſſen Sie wohl, daß Anne ſchon
fort iſt?


Liebmann. Das iſt recht gut, mein Kind!
Die einfaͤltige Frau haͤtte euch durch ihren
Aberglauben alle verdorben, und zeitlebens
ungluͤcklich gemacht.


Dorchen. Aber, Herr Liebmann! von
den Hexen.


Alle. O ja! von den Hexen. Davon
moͤchten wir gerne von Ihnen was hoͤren;
aber nicht von Annen.


Liebmann.
[181]

Liebmann. O danket Gott, liebſten Kin-
der! daß wir in beſſern Zeiten leben, da Dumm-
heit und Aberglaube nicht mehr herrſchen, und
ihr beſſer unterrichtet werdet!


Was Anne von Butter, Kaͤſe und Eyern
erzaͤhlt hat, iſt bloßer Neid und Luͤgen. Da
durfte ſich vor zweyhundert Jahren etwan ei-
ne Frau durch Fleiß und Ordnung ein Biß-
chen in Nahrung ſetzen, ſo hieß es gleich: der
Drache braͤchte es ihr. Und wenn denn das
von ohngefaͤhr dazu kam, daß in ihren Schorn-
ſtein ein ſolcher Feuerſtrahl zog, ſo war es
richtig, daß ſie eine Hexe war, und mit den
boͤſen Geiſtern Umgang hatte. Kinder! das
glaubt ihr gar nicht, was damals die Men-
ſchen ungluͤcklich waren! Da durfte eine ſol-
che Kreatur, wie Anne, nur zur Obrigkeit
kommen, und ſagen: Die und die iſt eine Hexe.
Ich habe den Drachen in ihren Schornſtein
fahren ſehen. Gleich wurde ſie eingezogen,
M 3wenn
[182] wenn ſie auch noch ſo unſchuldig war, und
durch den Scharfrichter ſo lange gemartert,
bis ſie vor Schmerz und Angſt Dinge bekann-
te, die ſie nie gethan hatte, um nur der Qual
abzukommen. Und dann wurde ſie lebendig
verbrannt.


Albertine. Ach! das muͤſſen ja erſchreck-
liche Zeiten geweſen ſeyn! Jetzt ſind doch die
Leute ſo dumm nicht mehr.


Liebmann. Zuweilen noch dumm genug.
Nur der Aberglaube hat die Macht nicht mehr,
die er ſonſt hatte. Denn damals glaubten die
Obrigkeiten und Geiſtlichen ſelbſt ſolch Zeug
noch. Als ich mich neulich einige Tage in
Q **** aufhielt, hab’ ich auf dem Rathhauſe
Hexenakten geſehen von 1570, 1578, 1579,
1581, und von 1663, alſo noch vor hundert-
undzwanzig Jahren. Da war ein alt Weib,
das wurde als eine Hexe angegeben. Es haͤt-
te es der Knecht nicht mit uͤbers Waſſer auf
dem
[183] dem Wagen nehmen wollen. Da habe es die
Pferde berufen — den Kobold ins Haus ge-
bracht — Kinder behext, daß ſie Loͤcher in
die Beine bekommen, und wie der Tag ver-
gangen waͤren.


Karl. Herr Gott! uͤber das Zeug!


Liebmann. Ja! das iſt noch nicht alles.
Die alte Frau wird in den Stall gebracht,
wo der Kobold, oder ein boͤſer Geiſt laͤrmte,
polterte, und mit Steinen warf. Da wurde
ſie geſchlagen, daß ſie den Kobold wieder weg-
ſchaffen ſollte, ſie ſchrie, und hatte ſich ſehr
uͤbel, ſagte auch: ſie wuͤßte von nichts. Das
half aber alles nichts. Da mußte der Scharf-
richter kommen, und ihr drohen, wie er ſie
martern wolle. Die Sache kam auch vor die
Obrigkeit, ſie wurde ins Gefaͤngniß gebracht,
und verhoͤrt. Sie aber wußte von nichts. Die
Obrigkeit ſchrieb nach Magdeburg und Leipzig
M 4an
[184] an die Gerichtsſtuͤhle, daß die ein Urtheil ſpre-
chen ſollten. Da hieß es:
Man ſollte ſie in die Torturkammer brin-
gen, und ſie mit den Marterinſtrumen-
ten ſchrecken.

Das arme Weib konnte nichts geſtehen. Denn
es wußte nichts.


Dann kam wieder ein Urtheil: man ſolle
es auf der Tortur peinigen und martern laſ-
ſen. Wuͤrde es dann bekennen, und bey dem
Bekenntniß bleiben, ſo ſolle man es lebendig
verbrennen laſſen.


Indeſſen baten die Leute, wo der Kobold
reſidirte — das war aber lauter Betrug von
ſchelmiſchen Leuten — man moͤchte das Weib
wieder in den Stall bringen laſſen. Denn ſo
lange es da waͤre, ſey der Kobold ſtille.


Was geſchahe? Das arme unſchuldige
Weib, das wußte, was es noch vor Marter
auf der Tortur ausſtehen ſollte, erhieng ſich
ſelbſt
[185] ſelbſt an einem Stricke — Da hatte der Pro-
zeß ein Ende.


Franz. Ach in welchen gluͤcklichen Zeiten
leben wir!


Liebmann. Das Schrecklichſte war, daß
damals alles dieſem Aberglauben ergeben war.
Gelehrte und Ungelehrte — Vornehme und
Niedrige. In den Akten ſieht: Der Doktor,
der bey den behexten Kindern gebraucht waͤre,
haͤtte ſelbſt geſagt: die Krankheit koͤnne von
nichts anders herruͤhren, als von boͤſen Leu-
ten, welche die Kinder berufen haͤtten. Ja es
ſteht ſogar darinn: daß man auf den Kan-
zeln
fuͤr das Haus gebeten haͤtte, wo der Ko-
bold waͤre: daß doch Gott die Leute von dem
boͤſen Geiſte befreyen moͤchte!


Mutter. J! das iſt ja ganz erſchrecklich.
Da wird einem angſt und bange, wenn man
nur an die Zeiten denkt.


M 5Lieb-
[186]

Liebmann. Es gieng ſo weit, daß un-
ter dem Schein des Aberglaubens und der
Hexerey, alle Bosheit und Rache gegen die
unſchuldigſten Leute ausgeuͤbt wurde. Wenn
einer wider den andern was hatte, ſo durfte
er nur ſagen: Ich habe den Drachen auf ſei-
nem Hauſe geſehen; oder: Ich habe ihn auf
dem Brocksberge geſehen, von dem man glaub-
te, daß ſich in der Walpurgisnacht, oder in
der Nacht auf den erſten May, alle Hexen
und boͤſen Geiſter auf demſelben verſammle-
ten; gleich war er ſchuldig, verbrannt zu
werden.


Ich ſage noch einmal, lieben Kinder! dankt
Gott, daß ihr in beſſern Zeiten lebt.


Dorchen. Schade fuͤr den Drachen. Fort
mit den Hexen. Heyſa! mich ſoll keine alte
Anne mehr zu fuͤrchten machen.


XXXVII.
[187]

XXXVII.
Der Donnerkeil.


Chriſtian.


Nun weiß ichs mit einemmale, Vater!
warum ſich Lotte und Fritze wieder ſo
vor dem Gewitter fuͤrchten. Aber wer haͤtte
an ſolch Zeug denken ſollen?


Vater. Das iſt mir ſehr lieb, mein Sohn!
daß du es ausgekundſchaftet haſt. Nun wer-
den wir ihnen eher wieder beykommen, und
ſie von der Furcht befreyen koͤnnen. Was iſt
es denn?


Chriſtian. Donnerkeile — Donner-
keile
, die bey dem Gewitter mit dem Blitze
herunterfielen, und die Leute todtſchluͤgen.
Koͤnnen Sie ſich das vorſtellen?


Vater. So lange es die armen Kinder
nicht beſſer wiſſen, ſo lange glauben ſie auch
alles, was ihnen andere vorſagen, zumal
wenn
[188] wenn es nur ein Bißchen ſonderbar und wun-
derlich klingt. Aber auf die Donnerkeile waͤr’
ich ſelbſt nicht gefallen. Wer mag ihnen denn
das weiß gemacht haben?


Chriſtian. Wir waren doch neulich Abends
in der Muͤhle, wo das letzte Gewitter in die
Pappel geſchlagen hatte. Da war unter dem
Baume ein Loch in der Erde. Da fragte
Fritze und Lotte: was das waͤre. Die Leute,
ſagte der Knappe, haben die Donnerkeile aus-
graben wollen. — Und nun erzaͤhlte er ihnen
viel von Donnerkeilen, die mit dem Blitze
herunterfielen, daß die Kinder Maul und Naſe
aufſperrten. Und ſeit der Zeit fuͤrchten ſie ſich
wieder. Ich moͤchte doch ſelbſt gerne wiſſen,
wie es mit den Dingern beſchaffen waͤre, ob
ich gleich nicht glaube, daß ſie aus den Wol-
ken mit dem Blitz herunterfallen. Der Knap-
pe ſagte: er habe oft welche im Acker gefun-
den.


Vater.
[189]

Vater. Stille! ſtille! heute Mittag wol-
len wir ſie kriegen, und ihnen die Furcht bald
benehmen. Dann ſollſt du auch erfahren,
was die Donnerkeile eigentlich ſind. Fang du
nur davon an.


Chriſtian. Lieber Vater! wiſſen Sie was?
Lotte und Fritze fuͤrchten ſich vor den Don-
nerkeilen.


Vater. Das will ich doch nicht hoffen,
daß ihr euch deswegen auch wieder vor dem
Gewitter fuͤrchtet? Es koͤmmt mir aber bald
ſo vor.


Fritze. Ja! Vater; aber denken Sie ein-
mal, wenn einem ein ſolch Ding auf den Kopf
kaͤme?


Lottchen. Es ſollen boͤſe Dinger ſeyn.


Vater. Habt ihr ſchon welche geſehen?


Fritze. Nein! aber die Leute ſagens
doch.


Vater.
[190]

Vater. Wir wollen davon ein andermal
ſprechen. Lauf aber jetzt einmal auf meine
Stube. Da ſteht eine Schachtel auf dem Tiſche.
Die hat mir geſtern ein guter Freund mit ar-
tigen Sachen geſchickt, und die will ich euch
heute zeigen.


Fritze. Hier iſt die Schachtel. Sie iſt
aber ſehr ſchwer.


Vater. Seht einmal, was das fuͤr ku-
rioͤſe Dinger ſind! Da haſt du eins, Fritze,
und du auch, Lotte.


Fritze. Das ſind ja ſchwarze Steine, wie
ein Beil, oder wie ein Hammer.


Lottchen. Sieh doch, Fritze! in jedem
ein Loch.


Vater. Das ſoll es auch ſeyn. Chriſtian!
nun hoͤre zu. Wißt ihr nun, Lotte und Fritze,
was ihr da in der Hand habt?


Fritze. Steine mit Loͤchern.


Vater. Das ſind Donnerkeile.


Fritze.
[191]

Fritze. Donnerkeile? Ueber die Streiche.
Es ſind ja Steine. Hab’ ich mir doch darun-
ter ganz andere Dinge vorgeſtellt.


Lottchen. Ich auch. Ich dachte, es waͤ-
ren feurige Kugeln, oder ſo was, was der
Blitz mitbringe.


Vater. Das iſt gar zu ſchlimm, daß
ihr immer dem Schwatzen anderer Leute mehr
glaubt, als wenn euch verſtaͤndige Leute was
ſagen. Daher koͤmmts auch, daß ihr euch
die Dinge ganz anders vorſtellt, als ſie ſind,
und daruͤber in unnuͤtze Furcht gerathet.


Fritze. Ja! die Dinger fallen doch mit
dem Blitze vom Himmel herunter.


Vater. Das laſſen ſie wohl ſchoͤn blei-
ben. Wer hat denn das ſchon geſehen?


Lotte. Alſo kaͤmen ſie nicht aus den
Wolken?


Vater. Nein! ſchlechterdings nicht. Laßt
euch nun aber ſagen, wie es damit iſt.


Es
[192]

Es iſt falſch, ganz falſch, daß ſolche
ſchwere Steine, wie dieſe ſind, in der Luft
fliegen, oder ſich darinn halten koͤnnten.
Schwere Steine kann die Luft nicht tragen.
Und wie wollten auch dergleichen Steine in
die Hoͤhe kommen? Die Sonne kann wohl
Regenduͤnſte in die Hoͤhe ziehen; aber keine
Steine. Das begreift ihr doch wohl.


Fritze. Wo kommen ſie denn aber her,
die Donnerkeile?


Vater. Dieſe Steine heißen nur bey den
einfaͤltigen Leuten ſo. Es giebt gar keine Don-
nerkeile. Wenn der Blitz in einen Baum ſchlaͤgt,
ſo zerſplittert das Holz, wie du an der Pappel
geſehen haſt. Das koͤnnen ſolche Steine nicht
thun. Das ſtellen ſich nur die gemeinen Leute
ſo vor, weil ſie nichts davon wiſſen, wie ein
Gewitter entſteht, und wie der Blitz einzu-
ſchlagen pflegt.


Fritze.
[193]

Fritze. Vater! ſagen Sie doch nur erſt,
wo ſie herkommen, dieſe Steine?


Vater. Kannſt du denn keine Geduld ha-
ben? Koͤmmt dirs aber nicht ſonderbar vor,
daß dieſe Steine unten ſo ſcharf zugeſchliffen
ſind, und in der Mitte ein Loch haben? Die-
ſer hier, ſieht er nicht aus wie eine Axt? Und
der da, accurat wie ein Hammer? Koͤnnen ſie
das wohl in der Luft bekommen?


Fritze. Nein, Vater! das begreife ich
ſehr gut. Aber wo kommen ſie denn her?


Vater. Endlich werd’ ichs denn wohl ſa-
gen muͤſſen. Ihr ſeht, Kinder! daß dieſe
Steine muͤſſen in Menſchenhaͤnden geweſen
ſeyn, weil ſie ſo ordentlich gemacht ſind, und
das Loch ſo glatt durchgebohrt iſt. Es ſind
die haͤrteſten Feuerſteine, womit man Feuer
pinken kann. Lotte! hole einmal einen Feuer-
ſtahl, da vom Tobacksteller. Seht, wie die
Funken ſtieben, wenn ich pinke.


IITheil. NLotte.
[194]

Lotte. Ja! wirklich auch.


Vater. Dieſe Steine werden nun an man-
chen Orten in Deutſchland haͤufig in der Erde
gefunden, und von den Knechten ausgepfluͤgt.
Da kann es nun ſeyn, daß der Blitz einmal
hat in den Acker geſchlagen, und ein Loch auf-
geriſſen. Als nun die Leute weiter nachgegra-
ben haben, ſo haben ſie ſolche Steine gefun-
den. Daraus machten ſie denn gleich nach
ihrer Einbildung Donnerkeile, und glaubten,
daß ſie mit dem Blitze heruntergefallen waͤren.


Fritze. Sie ſagten ja aber vorher: ſie
waͤren in Menſchenhaͤnden geweſen?


Vater. Nu! ſo hoͤrt wohl zu. Die alten
Deutſchen vor zweytauſend Jahren hatten noch
keine ſolche eiſerne Waffen, wie wir jetzt haben.
Da ſchliffen ſie ſich ſolche Steine zu Hammern
und Aexten. In die Loͤcher ſteckten ſie Stiele,
und ſchlugen ſich damit im Kriege die Koͤpfe
ein.


Fritze.
[195]

Fritze. Der Tauſend! ich mag meinen
Kopf nicht hinhalten.


Vater. Ich auch nicht. Die Stiele ſind
lange verfault, aber die Steine ſind geblieben.
Wo nun vormals eine Schlacht gehalten iſt,
da findet man ſie noch ſehr haͤufig. Ich habe
bey einem guten Freunde, ohngefaͤhr drey
Meilen von hier, in ſeinem Naturalienkabi-
nete, wohl einige hundert ſolche Steine von
allerley Figuren geſehen, die alle da in der
Gegend gefunden waren. Und ein anderer,
eine Meile davon, hat einen Todtenkopf, oben
mit einem Hiebe in der Hirnſchaale, und in-
wendig klappert der Stein noch, womit er er-
ſchlagen iſt.


Fritze. Alſo ſind die Donnerkeile nichts
anders, als die Streitaͤxte der alten Deut-
ſchen? Da werde ich mich ſchoͤn nicht mehr
davor fuͤrchten.


N 2Vater.
[196]

Vater. Die mit dem Gewitter gar nichts
zu thun haben.


XXXVIII.
Das Alpdruͤcken.


Daß doch die Leute immer ganz natuͤrliche
Wirkungen unnatuͤrlichen Urſachen zu-
ſchreiben! Daraus entſteht viel Aberglaube
und unnuͤtze Furcht. Wenn ſie die Sache
nicht gleich natuͤrlich erklaͤren koͤnnen, ſo muͤſ-
ſen es Geiſter, Kobolde, und Geſpenſter gethan
haben. Es knackt ein Bret. Es reißt ein
Tiſch von friſchem Holze, oder der Leim laͤßt
nach, ſo heißt es gleich: was wird das be-
deuten? Das geht nicht von rechten Dingen
zu!


So iſt es auch mit dem Alp, oder
mit dem Alpdruͤcken
.


Ein
[197]

Ein unter den gemeinen Leuten ſehr gemei-
ner, aber hoͤchſt dummer und unvernuͤnftiger
Aberglaube. Sie glauben: es kaͤme des Nachts
ein gewiſſes Ding zu ihnen, lege ſich uͤber ſie
her, und druͤcke ſie ſo entſetzlich, daß ſie keine
Luft bekommen koͤnnten, ſondern bald erſticken
muͤßten. Es kniffe ſie braun und blau, daß
ſie des andern Morgens noch die Blutflecke
an ſich haͤtten. Fragt man ſie, was iſt
denn der Alp? ſo wiſſen ſie es ſelbſt nicht.
Genug, die Sage haben ſie von Großmutter
und Aeltermutter geerbt. Und dabey bleibt
es. Es iſt der Alp, oder die Marte, wie
ſie ſagen, die ſie gedruͤckt hat. Die armen
Leute! Wie ſind ſie zu bedauern? Doch ſie
verdienen es beynahe nicht, weil ſie es nicht
beſſer haben, und andern verſtaͤndigen Leuten
nicht glauben wollen, wenn ſie es ihnen auch
erklaͤren.


N 3Da
[198]

Da hoͤrten die Kinder ſehr fleißig zu, als
der Vater das alles bey Tiſche erzaͤhlte, und
ſagten: Vater! Sie ſind ja ſehr boͤſe auf den
Alp. Was iſt denn das fuͤr ein Ding? Nichts,
gar nichts iſt es, erwiederte der Vater, wie
ſichs die Leute vorſtellen. Kein ſolches Ding,
das durch verſchloſſene Thuͤren kaͤme, uͤber
die Leute herfiele, und ſie bald zu Tode druͤck-
te. Das glaubt niemals, Kinder! Das iſt
Maͤhrchen, Fabel, und dummer Aberglaube.


Aber, ſagten die Kinder, woher koͤmmt
denn das, daß die Leute wirklich im Schlafe
ſo gedruͤckt werden, und des andern Morgens
braune und blaue Flecke haben?


Das geht ganz natuͤrlich zu, antwortete
der Vater, und ich wills euch gleich erklaͤren.
Das iſt kein ſolch wunderliches und erdichte-
tes Ding, wie der Alp ſeyn ſoll, ſondern das
ruͤhrt von ganz andern Urſachen her. Hoͤrt
davon ein artiges Geſchichtchen.


Ich
[199]

Ich ſchlief einmal auf einem Amte, wo
der Amtmann mein ſehr guter Freund war.
Des Nachts wurde vor meiner Stube, wo
ich lag, ein gewaltiger Laͤrm. Ich ſtand auf,
ſteckte mein Licht an, und gieng heraus. Da
waren es die Maͤgde in der Geſindekammer.
Da hoͤrte ich allerley Stimmen. „Ach der
verdammte Alp! Wo mag das Unthier einmal
wieder herkommen? Hoͤre einmal einer an, wie
das arme Menſch krunkt — wie ers druͤckt
und peiniget! — Und doch ſieht man nichts.
Marie! hoͤrſt du nicht? Wache doch auf?
Und ſo weiter —


Eine andere Magd ſagte: Du wirſt gewiß
den Anwurf nicht uͤbergekettelt haben, daß
das Unthier hereingekommen iſt. Ja! ant-
wortete die andere: freylich hab’ ichs gethan.
Nun, ſo verſtehe ichs nicht, ſprach die erſte,
wo das Ding, Gott ſey bey uns! wieder her-
gekommen iſt. Es iſt lange nicht da geweſen.


N 4Inzwi-
[200]

Inzwiſchen hoͤrte ich die Magd ganz ent-
ſetzlich krunken und aͤchzen, als wenn ſie im-
mer erſticken wollte. Ich klopfte darauf an
die Thuͤr, und ſagte: ſie ſollten aufmachen,
ich waͤre es. Indem kam der Amtmann auch,
der den Laͤrm gehoͤrt hatte. Als die Kammer
aufgemacht wurde, ſo ſahen wir, daß die
beyden Maͤgde vor dem Bette der dritten ſtan-
den, die beynahe halb todt war. Ach! ſagten
ſie, Herr Amtmann! wir koͤnnen hier nicht
mehr ſchlafen. Wir haben alles zugekettelt,
und doch iſt das Beiſt wieder hereingekommen.
Wer iſt hereingekommen? fragte der Amtmann,
der mit ſeinem Stocke ſchon unter den Betten
herumſtoͤrte. Ach! der verdammte Alp, ſag-
ten ſie, der Marien ſo druͤckt.


Wir fiengen beyde an laut zu lachen, und
die Leute ſahen uns ſtarr an. Wir giengen
zu Marien vors Bette, und ſahen einen klaͤg-
lichen Anblick. Der Schaum ſtand ihr vor
dem
[201] dem Munde. Die Augen waren offen und
ſtarr, und die Bruſt hob ſich entſetzlich. Sie
war nicht zu ermuntern. Was mag das ſeyn?
fragte mich der Amtmann. Das Menſch be-
koͤmmts oft des Nachts. Was wills ſeyn,
ſagten die andern, als der gottloſe boͤſe Alp?
Haltet das Maul, fuhr der Amtmann auf,
mit eurem verwuͤnſchten Alp!


Richtet doch das Maͤdchen auf, ſagte ich,
daß es mit dem Kopfe hoͤher zu liegen koͤmmt.
Denn es lag erſtaunend tief, dazu auf dem
Ruͤcken. Hierauf erholte es ſich, that einige
Seufzer, erkannte uns, wußte aber nicht,
wie ihm geſchehen war. Ich ließ ihm ein
Fußbad machen, und ein Paar Taſſen Thee
geben. Da erholte es ſich voͤllig, und legte
ſich wieder zu Bette, doch ſo, daß es mit dem
Kopfe hoch liegen mußte.


Des andern Morgens, als es herunter
kam, waren die Arme braun und blau, und
N 5große
[202] große Blutflecken darauf. Hierauf mußte es
erzaͤhlen, wie ihm geweſen waͤre. Als ich
mich hingelegt hatte, ſagte es, und eben ein-
ſchlafen wollte, kam mirs vor, als ob etwas
wie ein ſchwerer Sack auf mich fiele, daß mir
die Luft entgieng. Und nun wußte ich weiter
von meinen Sinnen nicht. Der Chirurgus
mußte ihr noch den Morgen zur Ader laſſen.
Da verloren ſich die Flecke auf den Armen.


Was war nun die ganze Sache? Alles
ganz natuͤrlich. Es geht ſo zu. Wenn ein
Menſch mit dem Kopfe ſehr tief liegt, und
dazu auf dem Ruͤcken, ſo ſchlaͤft er ſchon ſehr
aͤngſtlich. Denn das Blut kann nicht frey
umlaufen, und das Herz wird ſehr gepreßt.
Dieſe Perſon war ſehr vollbluͤtig, und hatte
juſt die Lage gehabt. Furcht, Einbildung
und Schreck vor dem Alp war dazu gekom-
men. Mit Furcht war ſie eingeſchlafen, weil
ſie es ſchon oft gehabt hatte. Durch den gar
zu
[203] zu ſtarken Zufluß des Bluts nach dem Herzen,
in der niedrigen Lage, war es ihr vorgekom-
men, als waͤre ihr ein Sack auf die Bruſt
gefallen. Und von dem Stocken des Bluts,
und der innern Furcht, waren die braunen
Flecke auf den Armen entſtanden.


Seht alſo, lieben Kinder! wie durch den
Aberglauben von dem Alp eine ganz natuͤr-
liche Sache falſch vorgeſtellet wird.


Da wir der Perſon alles vernuͤnftig er-
klaͤrten, und ſie des Abends nicht zu viel aß,
auch ſich nicht mehr ſo tief mit dem Kopfe,
und auf den Ruͤcken legte, hat ſie nachher kein
Alp wieder gedruͤckt.


XXXIX.
[204]

XXXIX.
Gefaͤhrliches Naſchwerk und Spiel-
zeug der Kinder.


Woher mag es doch kommen, daß mehren-
theils alle Kinder nach Weihnachten
krank ſind? So fragte neulich ein Vater den
Herrn Doktor Menſchlieb, als er zu ihm
kam. Von meinen Kindern kann ich das nicht
ſagen. Die ſind nach Weihnachten ſo munter
als vorher. Wenn ich aber andere Kindere an-
ſehe — ſo weiß, gruͤngelb, wie die Schatten.


Das will ich Ihnen wohl ſagen, antwor-
tete der Arzt. Das geht ſehr natuͤrlich zu.
Die Aeltern ſind ſelbſt Schuld daran, und
thun ihren Kindern den groͤßten Schaden —
aus naͤrriſcher Liebe, weil ſie glauben, ſie
machten ihnen ſonſt nicht Freude genug, wenn
ſie ihnen nicht zu Weihnachten ſo viel Kuchen-
werk und andere Freſſereyen gaͤben. Beſon-
ders
[205] ders das gefaͤhrliche Naſchwerk, das der
Geſundheit ganz offenbar ſchaden muſt.


Bedenken Sie nur. Wo will das hin?
Was eſſen die Kinder nicht an den Feſttagen
fuͤr eine Menge Kuchen? Iſt es nicht bey den
Aeltern — doch gewiß bey der Tante und
Großmama. Das ließe ich denn noch hin-
gehen, ob es gleich den Kindern hoͤchſt ſchaͤd-
lich iſt. Was bringt das nicht fuͤr eine Men-
ge Schleim und Kleiſter in den Magen und
in die Gedaͤrme, worinn ſich die Wuͤrmer ſehr
wohl befinden, und nach Belieben vermehren
koͤnnen. Aber nun koͤmmt das Aergſte. Die
vielen ranzigen Mandeln und Roſinen, die
oft mit einem weißen Staube uͤberzogen ſind.
Das iſt ausgeſchlagener Zucker, heißt es. Das
ſchmeckt gut, Kinderchen. Eßt doch. Eßt
doch. — Nein! es ſind unzaͤhlige Milben,
die man mit bloßen Augen nicht ſchen kann.


Da
[206]

Da giebts Zuckerpuppen mit allerhand
Farben bemalt — hoͤlzerne beſchmierte Pup-
pen, gefaͤrbte Bruſtkuchen — Das Schlimmſte
ſind die mit Goldſchaum oder Zinnplaͤttchen
dick beſchmierten Marzepanſtuͤcken. Das wird
denn alles in den Feſttagen durch einander
heruntergewuͤrget.


Iſt denn das fuͤr die Geſundheit ſo ge-
faͤhrlich, fragte der Vater?


Allerdings, ſagte der Arzt. Glauben Sie
nur, mir moͤchten manchmal die Augen uͤber-
gehen, wenn ich ſehen muß, wie offenbar da-
durch eine ganze Nachwelt gemordet, oder
doch wenigſtens ungeſund, ſchwach, elend
und unbrauchbar gemacht wird. Wenn ich
auf meinen Vortheil, und nicht auf der Kin-
der Leben ſehen wollte, ſo wuͤrde ich ſchwei-
gen. Denn ich habe zu keiner Zeit mehr zu
thun, als nach Weihnachten. Aber ich ſehe
auf mein Gewiſſen. Und die Arzneykunſt wird
offenbar
[207] offenbar proſtituirt. Denn wie iſts moͤglich,
da zu kuriren und geſund zu machen, wo
man muthwillig ſelbſt die Geſundheit verdirbt,
und alle Mittel unwirkſam macht? Die Obrig-
keit ſollte billig alle dergleichen Dinge bey Stra-
fe verbieten. Denn es iſt ein ſubtiles Gift,
das die Kinder langſam verzehret.


Ey! das waͤre doch erſchrecklich! ſagte
der Vater.


Ja! freylich iſt es das, fuhr der vernuͤnf-
tige Arzt fort. Hoͤren Sie nur. Was ſitzt
nicht an den Zuckerpuppen fuͤr dicke Farbe?
Wie ſaugen nicht die kleinen Kinder an den
hoͤlzernen Puppen die dicke ſchmierichte Farbe
ab! Wie viele miethige Mandeln und Roſi-
nen — gefaͤrbte Bruſtkuchen, und derglei-
chen, werden gegeſſen! Der ſchwere Mandel-
teig von Makronen — und der noch ſchaͤd-
lichere ranzige Marzepanteig — was fuͤr ein
Klumpen in dem ſchwachen Kindermagen!
Inſonder-
[208] Inſonderheit der unaͤchte Goldſchaum von
Kupfer an demſelben. Die Kinder eſſen noch
nicht Zuckerwerk genug. Man muß es noch
dazu faͤrben und mit Metall ſchmuͤcken, da-
mit ſie deſto mehr Appetit bekommen moͤgen.
Iſt das nicht abſcheulich? Erwaͤgen Sie nur,
was das fuͤr ein Miſchmaſch in dem Magen
werden muß?


Vor ein Paar Tagen wurde ich in ein
vornehmes Haus gerufen. Da war ein rech-
tes Lazareth. Faſt alle Kinder lagen zu Bet-
te, und klagten, daß ſie ſo uͤbel waͤren, und
ſich immer brechen wollten, und daß es ſie
entſetzlich im Magen druͤcke. Die andern, die
noch nicht lagen, krochen auf allen Stuͤhlen
herum, und ſahen aus wie Kaͤſe. Ich gab
ihnen allen ein kleines Brechmittel. Da ka-
men alle die herrlichen Sachen: Farbe, Gold-
ſchaum, und ganze Klumpen Marzepan, mit
dickem Schleim uͤberzogen, wieder zum Vor-
ſchein.
[209] ſchein. Wenn das nun oͤfters ſo koͤmmt, wie
muß das den Magen ſchwaͤchen! Aber man
prediget tauben Ohren.


Von dem doppelten Ungluͤck wiſſen Sie
doch, das in unſerer Stadt paſſirt iſt? Hof-
raths Kind am Thore, von anderthalb Jahren,
wird ploͤtzlich krank, bekoͤmmt erſchreckliche
Zuckungen, und ſtirbt nach ein Paar Tagen.
Mein ganzer Verſtand ſtand mir ſtille, daß
gar nichts anſchlagen wollte. Auf Befehl des
Hofraths mußte ich das Kind aufſchneiden.
Da hatte es einen metallenen Hemdeknopf
im Magen, der ſchon ganz gruͤn ausſah,
und ſtark angefreſſen war. Vermuthlich hat-
te die Waͤrterinn nicht Achtung gegeben, daß
das Kind damit geſpielt und ihn eingeſchluckt
hatte. Iſt das nicht gefaͤhrliches Spielzeug?


Das andere Exempel iſt faſt noch trauri-
ger. Amtmanns kleiner Heinrich bekoͤmmt ei-
nen Degen zum Weihnachtsgeſchenke. Er will
IITheil. Odie
[210] die Treppe heruntergehen; der Degen koͤmmt
ihm zwiſchen die Beine, und er faͤllt ſo ungluͤck-
lich, daß ſich der Degen vor die Bruſt ſtaͤmmt,
und ihm gerade durchs Herz gehet.


Stellen Sie ſich vor, was die Aeltern
moͤgen fuͤr Weihnachten gehabt haben!


XL.
Gefaͤhrliche Kinderſpiele.


Wenn ihr dieſes leſet, lieben Kinder, Kna-
ben und Maͤdchen, ſo nehmt doch daran
ein Exempel, und huͤtet euch vor gefaͤhrlichen
Kinderſpielen
, die euch um eure Geſundheit,
um eure geſunde Glieder, ja ums Leben brin-
gen koͤnnen. Ihr habt ja andere nuͤtzliche,
angenehme und ermunternde Spiele genug, die
euch eure guten Aeltern und eure Lehrer mit Ver-
gnuͤgen goͤnnen. Warum waͤhlt ihr denn im-
mer
[211] mer die gefaͤhrlichſten, die euch ungluͤcklich
machen koͤnnen?


Es iſt eine recht traurige Geſchichte von
ſolchen Kindern, die durch gefaͤhrliche Spiele
theils zeitlebens ungluͤcklich wurden, theils
gar ums Leben kamen.


Jacob war der erſte von dieſen ungluͤck-
lichen Kindern. Alles, was er ſahe, mußte
er vorwitzig nachmachen; alles probiren, was
er noch nicht kannte, ohne zu fragen: Kann
mir das wohl Schaden thun?


Da war er nun einmal mit auf dem Schieß-
platze beym Freyſchießen. Als es Abend war,
kamen ſeine Kameraden zuſammen, und ſag-
ten: Laßt uns nun Raketen und Schwaͤrmer
fliegen laſſen. Hier ſind welche. Die gaben
denn viele tauſend Feuerfunken von ſich, wenn
ſie platzten. Das war eine Luſt Fuͤr Kinder
aber immer gefaͤhrlich.


O 2Noch
[212]

Noch gieng alles gut. Nun wurden von
angefeuchtetem Pulver Feuermaͤnnerchen ge-
macht und angeſteckt. Die ſprudelten denn
das Feuer ſo luſtig umher, daß die Kinder
huͤpften und ſprangen.


Aber nun kam es. Einer that den Vor-
ſchlag: Wir wollen einmal eine Feuerſchlange
machen. Da ſollt ihr erſt ſehen, was das
fuͤr eine Luſt iſt! Es wurde auf einem Brete
ein langer Strich von Pulver hingeſtreuet,
und ein Stuͤckchen brennender Schwamm dar-
an gelegt. Aber es wollte nicht gleich angehen.
Da lief Jacob hin, hielt das Geſicht druͤber,
und blies immer auf den Schwamm los. Mit
einemmale fuhr ihm das Pulver ins Geſicht,
daß er ruͤcklings niederfiel. Da lag nun der
arme Junge wie todt. Die andern liefen da-
von, und ſo wurde er ſeinen Aeltern vor die
Bude gebracht. Das war ein Anblick! Das
ganze Geſicht kohlſchwarz. Alles verbrannt.
Die
[213] Die Augen dicht und feſt zu. Es wurde zwar
gleich ein Wundarzt geholt, als er aber ab-
gewaſchen wurde, gieng Haut und Haare
herunter. Das ganze Geſicht war roh Fleiſch.
Darauf wurde nun eine Brandſalbe drauf ge-
legt, und man trug ihn nach Hauſe.


Wenn nur dieß das ganze Ungluͤck gewe-
ſen waͤre! Des andern Tages erfuhr man das
noch groͤßere. Beyde Augen waren weg,
und voͤllig verbrannt, daß er in ſeinem Leben
keinen Stich wieder ſehen konnte. Ach wie
hatten ſich da ſeine Aeltern ſo uͤbel! Es war
kaum zu beſchreiben.


Nach vier Wochen wurde er ſo ziemlich
wieder zurechte — aber wie er aufſtand und
blind war — wie er bald von einem Bruder,
bald von einer Schweſter kuͤmmerlich gefuͤh-
ret wurde — wie das ausſah? was er da-
bey empfand? was ſeine Aeltern dabey litten?
was das fuͤr ein Elend, Jammer und Weh-
O 3klagen
[214] klagen war? — das moͤgt ihr euch ſelbſt vor-
ſtellen, lieben Kinder, die ihr dieß leſet, und
euch ja vor dergleichen gefaͤhrlichen Spielen
mit Pulver warnen laſſen.


Philipp war faſt eben ſo ungluͤcklich. An
einem ſchoͤnen Fruͤhlingstage nahm er mit
ſeinen Schulkameraden die Abrede, daß ſie
draußen zum erſtenmale Ball ſchlagen wollten.
Nun war eben ein ſtarker Wind, und die Luft
ziemlich warm. Philipp, der immer gegen
den Wind lief, erhitzte ſich dergeſtalt, daß er
ſchon auf dem Platze heftige Seitenſtiche be-
kam, und ſich mußte nach Hauſe bringen
laſſen.


Ach! ſagte der Vater, du boͤſes Kind!
koͤmmſt du mir ſo nach Hauſe. Ich goͤnne
dir ſolche Luſt und Bewegung gerne; aber du
kannſt dich gar nicht maͤßigen. Die andern
haben doch auch geſpielt. Haben ſich die wohl
ſo entſetzlich erhitzt, als du gethan haſt? Da
haſt
[215] haſt du es nun weg, und vielleicht auf deine
ganze Lebenszeit. Ich armer Vater!


Philipp war die Nacht ſehr krank, hatte
ſtarke Hitze, und ſpie des andern Morgens
Blut. Der Arzt that alles Moͤgliche, um die
Hitze und Lungenentzuͤndung zu daͤmpfen. Er
lag aber doch wohl acht Wochen, ehe er ſich
erholte. Nachher behielt er beſtaͤndig einen
kurzen Huſten, bekam Engbruͤſtigkeit, und
konnte kaum eine Treppe ſteigen, ſo war ihm
der Odem weg. Der Arzt konnte nicht recht
klug werden, und ſagte: Es muß noch mehr
dahinter ſtecken. Wir haben gewiß nicht alles
erfahren, was damals beym Ballſpiel geſche-
hen iſt.


Philipp kraͤnkelte ſo einige Jahre hin. Da
bekam er einmal ein heftiges Blutſpeyen. Der
Arzt zuckte die Achſeln, und ſagte: Beſinne
er ſich doch einmal, ob ſonſt damals bey dem
Ballſchlagen nichts vorgefallen iſt. Ach nichts
O 4weiter,
[216] weiter, ſagte Philipp, als daß ich in die
Muͤhle gieng, da ich erſchrecklich heiß war,
und mich da recht ſatt trank. Von dem Au-
genblick an wurde mir uͤbel. Ich bekam Sti-
che und Beklemmungen, und ſo iſt es auch
geblieben. Das dacht’ ich wohl, war die
Antwort. Das koͤmmt von ſolchen heftigen
Erhitzungen und ploͤtzlichen Erkaͤltungen durchs
Trinken. Ach lieber Herr Doktor! ſagte Phi-
lipp mit vielen Thraͤnen, thun Sie doch, was
Sie koͤnnen. Ich moͤchte gar zu gerne noch
leben. — Der Vater kehrte ſich um, und
mußte zur Stube herausgehen.


O wie mancher junger Menſch, ſagte der
Arzt, hat ſich dadurch ſchon um ſein junges
Leben gebracht! Darum kann ich ſolche ge-
faͤhrliche Spiele gar nicht leiden, wobey ſich
die Kinder ſo erhitzen, und hernach uͤber das
Trinken herfallen. Haͤtte er doch gleich alles
von ſich geſagt. Ich will mein Moͤglichſtes
thun.
[217] thun. Aber er wird wohl immer einen Kalen-
der an ſeiner Bruſt behalten, und gewiß ans
Ballſpielen denken.


Ja! wohl mußte der arme Philipp zeit-
lebens an das Ballſpiel gedenken. Denn er
bekam die voͤllige Schwindſucht. Sein Koͤr-
per wurde wie ein Gerippe. Die Augen lagen
ihm tief im Kopfe. Die Knochen ſtanden her-
vor. Tag und Nacht ließ ihm der Huſten
keine Ruhe. Sein Auswurf war Blut und
Materie. Ein erbaͤrmliches Leben! Kaum
konnte er noch in der Haut haͤngen. Und ſo
brachte er noch ſechs volle Jahre zu — dieſer
einzige Sohn des Vaters — bis er im acht-
zehnten Jahre ſeinen Geiſt aufgab.


Ob er wohl ſo freudig ſterben konnte, als
wenn er ſich dieſen ſeinen fruͤhzeitigen Tod
nicht ſelbſt zugezogen haͤtte?


XLI.
[218]

XLI.
Fortſetzung des vierzigſten Stuͤcks.


Lottchen waͤre es bald eben ſo ergangen. Der
Vater wollte ihr an ihrem Geburtstage ei-
ne Freude machen, und hatte heimlich einige
gute Kinder dazu gebeten. Des Abends fuͤhr-
ten ſie ihre Bruͤder in den Garten. Da war
das Gartenhaͤuschen ſo helle, daß ſich Lott-
chen
verwunderte. Mit einemmale gieng die
Thuͤr auf, und ſie wurde mit einer lieblichen
Muſik empfangen. Da ſprangen alle Kinder-
chen auf ſie zu, und gratulirten ihr zu ihrem
Geburtstage. Nun wurde getanzt. Lottchen
war ganz außer ſich vor Freuden, und hatte
ſich ſo erhitzt, daß ſie nicht bleiben konnte.


Es war ſchon ziemlich ſpaͤt, und kuͤhle.
Da lief ſie in den Garten, und riß ſich die
Bruſt auf, um ſich abzukuͤhlen. Halb ohn-
maͤchtig kam ſie wieder ins Zimmer, und
mußte
[219] mußte ſich gleich zu Bette legen. Des andern
Morgens hatte ſie ſchon ein boͤſes Bruſtfieber,
und waͤre um ein Haar dran geſtorben.


Eben ſo gefaͤhrlich ſind die ploͤtzlichen Er-
kaͤltungen
nach vorhergegangenen erhitzenden
Kinderſpielen. Wie manches Kind, wie man-
cher Knabe und Maͤdchen, hat nicht ſchon
vom Tanzplatze, vom Kegel- und Ballſpiel,
den Tod gehabt!


Albertine hatte noch ein trauriger Schick-
ſal. Da ſpielten einmal die Kinder in des
Nachbars Hauſe auf dem Boden blinde Kuh.
Hier war nun eine Thuͤr, die auf den Hof
gieng, das Heu heraufzubringen. Albertine
war eben blinde Kuh, und mußte die andern
Kinder ſuchen. Dieſe zerſtreueten ſich auf dem
Boden herum; Albertine aber tappte ſo lan-
ge herum, bis ſie an die Thuͤr kam, die nur
angeſchoben war. Harre! dachte ſie, da ſind
ſie in die Kammer gelaufen. Da willſt du ſie
wohl
[220] wohl kriegen. Und — Bauz! war ſie zwey
Stockwerk hoch herunter. Zum Ungluͤck ſtand
ein Wagen unten auf dem Hofe. Sie, recht
mit dem Kopfe auf den Rand des Hinter-
rades, und — ach Kinder! ich kanns kaum
hinſchreiben — den Kopf gerade von einan-
der, daß Blut und Gehirn herumſpruͤtzten.


Franz lief immer mit der Armbruſt. Der
Vater hatte ihm dieß gefaͤhrliche Spiel oft
verboten, aber er kehrte ſich nicht dran. Ein-
mal ſchießt er mit andern Knaben auf dem
Hofe nach einem Ziel an der Gartenthuͤr. Da
ihn eben die Reihe trifft, ſo koͤmmt juſt die
Magd mit einem Korbe Gras aus der Thuͤr,
und ihr der Bolzen gerade ins linke Auge, daß
es gleich aus dem Kopfe lief. Franz hatte
zeitlebens ein trauriges Gemuͤth, wenn ers
gleich nicht mit Vorſatz gethan hatte.


Moritz war draußen auf einem Platze,
wo viel Bauholz lag. Da waren wilde Kna-
ben,
[221] ben, welche einen Balken queer uͤber das auf-
gethuͤrmte Bauholz legten, daß er auf der ei-
nen Seite hoch in die Hoͤhe, auf der andern
niedergieng. Auf jede Seite ſetzte ſich einer,
wie auf ein Pferd, und ſo ſchaukelten ſie ſich.


Der Tauſend! das iſt ein ſcharmantes
Spiel, dachte Moritz. Das mußt du auch
einmal probiren. Gleich ſaß er drauf. Da
er des Dinges aber nicht gewohnt war, ſo
wurde er ſchwindlicht. Der andere Junge
merkte das, und aus Tuͤcke drehete er den
Balken etwas von der Seite, juſt da Moritz
hoch in der Luft ſchwebte. Bauz! war er
herunter, und der rechte Arm morſch entzwey.


Lorenz war ein großer Freund von Sprin-
gen. Laßt uns einmal uͤber einen Stock ſprin-
gen, ſagte er zu den andern. Wenn ſie noch
den Stock in der Queere wo angebunden haͤtten.
Aber ſo ſteckten ſie ihn gerade in die Erde,
und er war auch dazu oben ſpitz. Einige ka-
men
[222] men gut daruͤber. Lorenz aber ſprang ſo
ungluͤcklich, daß er auf den Stock zu ſitzen
kam. Dieſer war ihm in den Unterleib ge-
gangen, und hatte das Netz zerſtoßen, wel-
ches die Gedaͤrme umgiebt. Da mußte er
nun zeitlebens ein eiſernes Bruchband tragen.


O Kinder! wenn ihr manchmal blinde,
lahme, ſchwindſuͤchtige und andere gebrech-
liche Menſchen ſehet, ſo fragt ſie einmal, wo-
von ſie das haben. Die meiſten werden euch
antworten: Ach das haben wir in der Jugend
von gefaͤhrlichen Kinderſpielen bekommen.


XLII.
Verzeichniß einiger gefaͤhrlichen
Kinderſpiele.


  • 1) Das allzuviele Blaſen mit dem Blaſe-
    rohr, wobey die Lunge ſehr ange-
    griffen wird.

2) Das
[223]
  • 2) Das Schlickern auf dem Eiſe, auf Tei-
    chen und Fluͤſſen.
  • 3) Das Kahnen auf dem Waſſer, wenn kein
    Verſtaͤndiger dabey iſt.
  • 4) Das Buſchbaumſchießen uͤber Kopf, da-
    bey man ſich leicht das Genicke einſtuͤr-
    zen kann.
  • 5) Das Nachmachen der Springer und Seil-
    taͤnzer.
  • 6) Das Schaukeln in Seilen und Stricken
    vor den Fallthuͤren.
  • 7) Das Grabenſpringen.
  • 8) Das fruͤhe Reuten auf wilden Pferden.
  • 9) Das Frange- und Kampfſpiel.
  • 10) Das Spielen mit Schießpulver, Schluͤſ-
    ſelbuͤchſen, Terzerolen, Piſtolen, und
    Schießgewehren.

XLIII.
[224]

XLIII.
Am Geburtstage der Mutter, von
einem guten Kinde.


Der aus dem Schooß der Muttererden

Die ſchoͤnen Bluͤmchen laͤſſet werden:

Der laß dich ſo viel Jahre ſehn,

Als Bluͤmchen hier im Garten ſtehn.

O! der ſie alle mit Entzuͤcken

So ſchoͤn und herrlich weiß zu ſchmuͤcken:

Der nehme dich ſo gut in Acht,

Wies Bluͤmchen, das er hier bewacht.

Ders an den Bluͤmchen kann erfuͤllen,

Der gebe dir, nach ſeinem Willen,

Geſundheit, Leben — ach ſo ſchoͤn,

Als wir die Liljen vor uns ſehn!

So ſchoͤn und roth die Roſen bluͤhen,

Und hier mit Fleiß die Bienen ziehen:

So, laß mich, Gott! durch Tugend rein,

Durch Fleiß, der Mutter Freude ſeyn.

XLIV.
[225]

XLIV.
Man muß ſich Zeit nehmen, wenn
man was lernen will.


Wie machſt du es denn, Dorchen! fragte
Franz, daß du ſchon ſo huͤbſch ſchrei-
ben, und ſo ſchoͤne Zahlen machen kannſt?
Ich bin wohl zwey Jahre aͤlter, als du. Bald
muß ich mich doch ſchaͤmen.


„Gieb einmal dein Schreibbuch her.“


Das ſah aus, als wenn die Huͤhner darinn
gekratzt haͤtten. Krumm und ſchief. Kein
Buchſtabe wie der andere. Und ſo auch die
Zahlen.


„Wie geht denn das zu, Fraͤnzchen? Du
haſt gewiß keine Luſt zum Schreiben?“


O ja! recht große Luſt.


„Nu, ſo muß es woran anders liegen.
Komm einmal her, wir wollen was ſchreiben.
Schreib einmal hin: Wenn du fromm biſt,
IITheil. Pſo
[226] ſo biſt du angenehm, wie ich dirs hier vorge-
ſchrieben habe. — Und dann einmal dieſe
Zahlen: 8, 749, 632.“


Er ſchriebs, aber wie? Huſch! in einer
Minute war er fertig. Aber nicht geſchrieben,
ſondern gekritzelt, daß es kein Menſch leſen,
oder erkennen konnte, was es ſeyn ſollte.


„Nein! ſagte Dorchen, liebes Fraͤnzchen!
das geht nicht. So lernſt du alle mein Lebetage
nicht ſchreiben. Man wird dirs gewiß ſchon
geſagt haben, daß du dabey viel zu hitzig und
geſchwinde biſt. Mir giengs im Anfange eben
ſo. Ich hielt die Feder viel zu weit nach der
Rechten. Da kam ich denn auch immer den
Berg in die Hoͤhe, und konnte nicht auf der
Linie bleiben. Wenn ich nur fertig war, ſo
war ich zufrieden, es mochte ſeyn wie es
wollte.“


„Mich duͤnkt, du ſiehſt auch nicht fleißig
nach der Vorſchrift. Da mußt du Buchſtaben
vor
[227] vor Buchſtaben ſo nachmalen, wie er da ſteht.
Juſt ſo machte ichs auch. Und da wurde kein
Buchſtabe recht.“


„Weiter, mußt du oft ſchreiben, und dich
fleißig uͤben. Vor allen Dingen merke dir das:
Wenn du dich auch nach dem allen noch ſo
genau richteſt, was ich dir geſagt habe, ſo
wird doch nichts draus, wenn du dir nicht
Zeit nimmſt
, jeden Buchſtaben, und jede
Zahl ordentlich zu machen.“


Ha! ha! ſagte Fraͤnzchen, nun merke ich
erſt, woran mirs bisher gefehlt hat. Ich ha-
be mir keine rechte Zeit dazu genommen, und
wollte gleich alles ſo geſchwinde ſchreiben, wie
der Papa ſchreibt. Ich will noch einmal das
Vorige ſchreiben, und mir Zeit nehmen.


„Siehſt du? Das iſt ſchon viel beſſer.“


Fraͤnzchen lernte nun in kurzer Zeit recht
gut ſchreiben. Es hilft manchmal mehr, wenn
P 2ein
[228] ein Kind dem andern was ſagt, als wenn es
Aeltern und Lehrer thun.


XLIII.
Ein luſtiges Geſpenſterhiſtoͤrchen.


Auf einem Dorfe kehrte einmal ein junger
muthiger Student in dem Wirthshauſe
ein, das dem Kirchhofe gerade gegen uͤber
lag. Des Abends kamen in der Gaſtſtube
einige Bauern zuſammen, und ſagten: No,
wi helt et, Herr Wirth? Let ſeck dat witte
Dinges op dem Kerkhope nich wedder ſein?
„Seit vier Tagen nicht,“ ſagte der Wirth.


Da ſpannte der Student, als er vom
weißen Dinge hoͤrte. Das ſoll gewiß ein Ge-
ſpenſt ſeyn, ſagte er. O wie bedaure ich euch,
ihr guten Leute! daß ihr euch vor ſolchen Poſ-
ſen fuͤrchtet! Wir Gelehrten muͤſſen euch herz-
lich auslachen.


Indem
[229]

Indem gieng der eine Bauer heraus, kam
aber bald wieder, und ſagte: Wenn he denn
ſo klauk is, ſo ſegge us mal, wat et is? Da
ſteit et wedder an der Kerchhopsmure —
lank, lank in der Hechte, un het beye Henne
uteſpannt.


Was? wo iſts? wo ſtehts? rief der Stu-
dent. Sie giengen heraus. Es war heller
Mondſchein. Und das weiße Ding ſtand wirk-
lich da. Nun will ichs euch bald zeigen, was
es iſt, ſprach der Student. Wo iſt mein
Degen?


Die Leute baten ihn ſehr, er ſolle ja nicht
hingehen. Er koͤnne ungluͤcklich werden, und
der Boͤſe, Gott ſey bey uns! ließe ſich nicht
vexiren. Man muͤſſe es ſtille ſiehen laſſen, ſo
thaͤte es keinem was.


Er aber beſtand darauf, und gieng mit
dem Degen gerade drauf los. Die Leute kreu-
zigten und ſegneten ſich, und ſprachen unter
P 3einan-
[230] einander: No! dem ſein letzte Brod wird wohl
gebacken ſeyn.


Als der Student naͤher hinzukam, ſo rief
er doch erſt: Wer da? ehe er zuſtach. Statt
der Antwort aber bekam er von dem Geſpenſt
einen Schlag vor den Kopf, daß er ruͤcklings
zu Boden fiel. Als er fiel, fiengen die Leute
an zu ſchreyen, ſchlugen die Fenſter zu, und
krochen alle in einen Winkel. Einige ſagten:
Dat dachte we wol, dat et ſau komen werre.
Andere wollten ſchon geſehen haben, wie er
von dem Geſpenſt waͤre in der Luft wegge-
fuͤhrt worden.


Was doch Furcht und Einbildung thun
kann!


In einer halben Stunde aber erklaͤrte ſich
die ganze Sache. Der Student erholte ſich
von ſeinem Schreck und Fall, und als er um
ſich ſah, lag das lange weiße Geſpenſt dicht
bey ihm.


Was
[231]

Was mochte es wohl ſeyn? Wers rathen
kann, der lege jetzt das Buch weg, und rathe,
oder laſſe die andern rathen.


Es war ein langes weißes Hemde, das
ein anderer Bauer auf einer Harke oder Rechen
dahin geſtellt hatte, um es zu trocknen.


Wie mochte aber der Student den Schlag
bekommen haben? — Wieder weg mit dem
Buche, und gerathen.


Er trat vorne auf die Zinken der Harke.
Dadurch wurde ihm der Stiel entgegen ge-
ſchnellt. Bauz! bekam er eins auf den Kopf.


Als ers nun ſo gefunden hatte, kam er
in vollem Triumph vor das Bauerhaus, wo
man ihn nicht erſt einlaſſen wollte. Da ruͤhm-
te er denn ſeine Herzhaftigkeit mehr, als er
wohl eigentlich Urſache hatte.


XLIV.
[232]

XLIV.
Das kluge Kind mit Manier und
Artigkeit.


Dorchen wußte ein- fuͤr allemal, daß es
bey Tiſche nichts fordern durfte. Denn
es bekam das ſchlechterdings nicht, was es
forderte. Zuweilen wurde ihm auch ein Biß-
chen Wein gegeben. Zuweilen wurde es mit
Fleiß vergeſſen, und bekam keinen, um zu
ſehen, wie es ſich dabey verhalten wuͤrde.


Da geſchah es nun einmal, als einige
gute Freunde bey den Aeltern zu Tiſche waren,
daß es auch keinen Wein bekam. Man konnte
es ihm anſehen, daß es gern ein Bißchen ge-
habt haͤtte. Fordern wollte es nicht, durfte
auch nicht. Wie fieng es aber die Sache an?
Es ſagte das Verschen her:


Nein! mein Schoͤpfer, vaͤterlich

Sorgſt du taͤglich auch fuͤr mich.

Mir muß auch die Saat gedeihn:

Mir giebt auch die Traube Wein.

Und
[233]

Und bey den letzten Worten wies es auf ſein
Glaͤschen, das mit auf dem Tiſche ſtand;
ſprach auch das letzte ſo nachdruͤcklich aus,
daß es allen ins Lachen fiel. Das hieß alſo
nicht gefordert; aber doch mit Manier und
Artigkeit geſagt: daß es gern ein Bißchen
Wein haben moͤchte.


Alle Gaͤſte baten fuͤr das Kind, und es
bekam ſein Bißchen Wein.


Wenn Kinder mit Manier und Artigkeit
eine Sache fordern, ſo werden ſie ſolche weit
eher bekommen, als wenn ſie trotzen, und auf
ihrem Kopfe beſtehen.


XLV.
Vom Stricken, Naͤhen und
Spinnen.


Du wollteſt nicht ſtricken, naͤhen und ſpin-
nen lernen? ſprach der Vater zu Dor-
chen
. Wie geht das in aller Welt zu, mei-
P 5ne
[234] ne Tochter? Deine Mutter klagt daruͤber,
und das geht mir ſehr nahe. Das muß ich
dir ſagen, da du ſonſt in allen Stuͤcken ein
ſo folgſames und gehorſames Kind biſt.


Siehe Fiekchen an. Das iſt noch nicht
einmal ſo alt, als du, und hat ſich ſchon ſelbſt
Strumpfbaͤnder, Kopfbinden, und dergleichen
geſtrickt — hat ſich ſchon einige Tuͤcher ge-
ſaͤumt, und kann recht niedlich ſpinnen. Soll-
teſt du das nicht eben ſo gut koͤnnen, wenn du
wollteſt? Es muß alſo an deinem Willen lie-
gen, und das iſt mir eben nicht lieb zu hoͤren.


Das iſt wohl wahr, lieber Vater! ant-
wortete Dorchen, daß Fiekchen das kann,
was Sie da ſagen; aber es kann auch noch
nicht leſen, ſchreiben und rechnen. Und das
kann ich doch ſchon. Das iſt aber zehn-
mal beſſer, als Stricken, Naͤhen und Spin-
nen. Ich muß es Ihnen nur ehrlich ſagen,
daß ich dazu gar keine rechte Luſt habe. Sonſt
koͤnnte
[235] koͤnnte ichs ſchon. Ueberhaupt gefaͤllt mir die
Hausarbeit und die Kuͤche gar nicht. Viel
lieber ſitze ich bey einem huͤbſchen Buche, leſe
oder ſchreibe mir ein Hiſtoͤrchen, rechne mir
ein Exempel, oder gehe in den Garten, und
ſehe nach, ob meine Kreſſe, Lattuke, Levko-
jen, Aurikeln, oder was ich ſonſt gepflanzt
habe, gut bekommen ſey.


So iſt das? ſagte der Vater. Nun weiß
ich doch deines Herzens Gedanken, und die
wahre Urſache, warum du immer vor der.
Hausarbeit einen ſolchen Abſcheu haſt. Das
iſt nicht gut, mein Kind! daß du von dieſen
Dingen ſo denkſt. Du irrſt dich ſehr. Denn
wovon willſt du einmal in der Welt dein Brod
haben, und deine Haushaltung fuͤhren? Von
Leſen, Schreiben, Rechnen kannſt du das
allein nicht. Studiren kannſt du auch nicht.
Das iſt nur fuͤr Mannsperſonen. Dieſe Din-
ge, zu denen du jetzt keine Luſt haſt, ſind dir
in
[236] in der Folge ſo nuͤtzlich, als Leſen, Schreiben
und Rechnen. Ich daͤchte, du haͤtteſt nach-
gerade ſelbſt den Verſtand, das einzuſehen.
Daher waͤre es dir keine ſonderliche Ehre,
wenn dich die Mutter zwingen mußte, dieſe
nuͤtzlichen Dinge zu lernen. Ein Kind zum
Lernen zu zwingen, davon halte ich nicht viel,
weil es dann nichts mit Luſt, und aus eige-
nem Triebe thut — nicht weil es will, ſon-
dern weil es muß. Es wird ihm noch zwey-
mal ſo ſchwer, und was es mit Zwang hat
lernen muͤſſen, das behaͤlt es auch nicht lan-
ge. Das ſiehſt du ſchon an dir ſelbſt, wie
ſauer dir das Stricken wird, weil du keine
Luſt dazu haſt.


Aber laß nun einmal uͤber die Sache ver-
nuͤnftig mit dir reden.


1) Kannſt du gewiß glauben: Alles, was
dich dein Vater und deine Mutter lehren, und
wollen lernen laſſen, das muß dir nuͤtzlich ſeyn,
wenn
[237] wenn du es gleich jetzt noch nicht einſieheſt.
Sonſt wuͤrden ſie es nicht thun. Ich daͤchte,
ſchon deswegen muͤßteſt du zu allem Luſt ha-
ben, und es mit Vergnuͤgen thun, was dir
deine Aeltern zu lernen anrathen.


2) Bedenke das einmal recht, was ich
dir nun ſagen will. Wie ſauer biſt du deiner
Mutter geworden, vom erſten Anfang deiner
Kindheit an! — da du noch nicht gehen
konnteſt. Wie hat ſie dich aus ihrer Bruſt
gefuͤttert und getraͤnkt! Wie viele ſchlafloſe
Naͤchte hat ſie deinetwegen gehabt! Wie man-
che Sorge, wenn dir das Geringſte fehlte!
Und nun, da du ſo weit biſt — wollteſt du
ihr fuͤr das alles gar nicht dankbar ſeyn? Soll
ſie alſo — die treue Mutter — kuͤnftig im
Hausweſen gar keine Huͤlfe von dir haben?
Soll ſie Sachen, die im Hauſe koͤnnen ge-
ſtrickt, genaͤhet und geſponnen werden, als
Struͤmpfe und Hemden fuͤr dich und die Klei-
nen,
[238] nen, — ſoll ſie das immer allein thun, die
arme Mutter, oder fuͤr Geld von andern thun
laſſen? Koͤnnteſt du das vor deiner treuen
Mutter, die dich ſo lieb hat — vor deinem
Vater, vor Gott, und deinem Gewiſſen ver-
antworten? Waͤre das der Dank fuͤr alle
Treue deiner guten Mutter, daß ſie Kinder
haͤtte, und ſich doch immer allein quaͤlen
muͤßte? Und —


O Vater! rief Dorchen mit naſſen Augen,
hoͤren Sie auf, ich bitte Sie. Das kann
ich nicht mehr ertragen. Ich will gern, herz-
lich gern, in allen Stuͤcken der Mutter zu
Huͤlfe kommen. So hab’ ich die Sache noch
nicht bedacht.


Gut, mein Kind! antwortete der Vater,
damit bin ich zufrieden. Ich muß dir aber
noch einige Punkte vorſtellen.


XLVI.
[239]

XLVI.
Fortſetzung des fuͤnfundvierzigſten
Stuͤcks.


3) Waͤre es wohl recht, daß die Mut-
ter fuͤr ſolche Sachen noch Geld ausgeben
muͤßte, die du ſelber machen koͤnnteſt? Kann
ſie das Geld nicht zu deinem und der andern
Kinder Beſten anwenden? Je groͤßer ihr wer-
det, deſto mehr braucht ihr. Iſt es nicht bil-
lig, daß ihr auch nachgerade ſelbſt etwas
verdienen lernt, und euren Aeltern die Sorgen
und Ausgaben erleichtert? So wills auch der
liebe Gott haben nach dem vierten Gebot.
Oder kann die Mutter nicht auch die Zeit,
die ſie auf das wenden muͤßte, was doch dei-
ne Haͤnde ſchon machen koͤnnten, zu andern
nuͤtzlichen Arbeiten verwenden?


Bedenke das alles einmal recht, ſo wirſt
du dich bald beſinnen.


4) Will
[240]

4) Will ich dir einmal die Folgen davon
vorſtellen, wenn du ſo aufwuͤchſeſt, und keine
nuͤtzliche Hausarbeiten gelernt haͤtteſt.


Wie wuͤrde dirs gehen, wenn du groͤßer
wirſt, von uns wegkoͤmmſt, oder wenn wir
ſtuͤrben? Du ſollteſt ſelbſt nun einmal dei-
ne Haushaltung anfangen — und koͤnnteſt
weder ſtricken, naͤhen, noch ſpinnen? —
koͤnnteſt in der Haushaltung, in der Kuͤche
ſelbſt nichts, gar nichts machen?


Dann wuͤrden dich deine Maͤgde ausla-
chen, und du wuͤrdeſt allen Reſpekt gegen ſie
verlieren. Es iſt nicht leicht eine der gering-
ſten Dienſtmaͤgde, die nicht ſollte ſtricken,
naͤhen und ſpinnen koͤnnen.


Wie viel Geld wuͤrdeſt du haben muͤſſen,
das alles außer dem Hauſe machen zu laſſen,
was der Mann, du ſelbſt, kuͤnftig als Fran,
und deine Kinder, an Struͤmpfen, Hemden,
und dergleichen gebrauchen!


Es
[241]

Es iſt auch immer fuͤr den Mann eine un-
angenehme Sache, wenn die Magd das Eſ-
ſen und andere Dinge beſſer machen kann,
als die Frau.


Was meynſt du ferner? Wenn deine Kin-
der groͤßer wuͤrden: ſollen die etwan auch nicht
ſtricken, naͤhen und ſpinnen lernen, weil es
die Mutter nicht kann? Wenn die aber das
alles beſſer koͤnnen: muß ſich die Mutter nicht
vor ihren eigenen Kindern ſchaͤmen?


5) Iſt es immer recht ſehr gut, daß du
am Leſen, Schreiben und Rechnen viel Ver-
gnuͤgen findeſt. Muß man aber darum an-
dere nuͤtzliche Dinge des menſchlichen Lebens
verſaͤumen? Es iſt wahr, durch Leſen, Schrei-
ben und Rechnen mußt du dich erſt recht ge-
ſchickt machen, deine kuͤnftige Haushaltung
mit Nutzen zu fuͤhren. Aber das allein zu
koͤnnen, und weiter nichts, das machts noch
nicht aus. Mit einer bloß gelehrten Frau,
IITheil. Qdie
[242] die den ganzen Tag bey den Buͤchern ſitzt,
und die Leute im Hauſe ſchalten und walten
laͤßt, wie ſie nur wollen, ſich aber ſelbſt nicht
um Kuͤche, Keller und Haushaltung bekuͤm-
mert, iſt einem Manne nichts gedient. Da-
bey wird er gewiß auf keinen gruͤnen Zweig
kommen, ſondern bald zu Grunde gehen.


Siehe, mein Kind! das ſind die Folgen
davon, wenn du nicht wollteſt ſtricken, naͤ-
hen und ſpinnen lernen. So wuͤrd’ es ohn-
gefaͤhr kommen. Was meynſt du dazu?


Hierauf antwortete Dorchen: O mein
lieber Vater! das habe ich mir niemals ſo
vorgeſtellt, wie Sie mirs jetzt geſagt haben.
Ich danke Ihnen recht ſehr, daß Sie mich ge-
warnt haben. Die ungluͤcklichſte Perſon waͤre
ich geworden. Sie haben mir nun rechte Luſt
gemacht. Noch heute des Tags will ich mit
Vergnuͤgen anfangen. Muͤtterchen! wo ſind
Sie?
[243] Sie? Kommen Sie, wir wollen ſtricken.
Alles, alles will ich gerne lernen.


Damit du aber ſieheſt, mein Kind! daß
das alles wahr ſey, was ich dir geſagt habe,
ſprach der Vater, ſo will ich dir ein Hiſtoͤr-
chen von der Frau Orgon erzaͤhlen.


XLVII.
Fortſetzung des ſechsundvierzigſten
Stuͤcks.


Frau Drgon.


Dieſe gute Frau hatte in ihrer Jugend auch
nicht ſtricken, naͤhen und ſpinnen ler-
nen wollen. Von Kochen, Haushaltung,
und dergleichen wußte ſie gar nichts. Sie
hatte weiter nichts gethan, als ſich geputzt,
neue Moden gemacht, einen Roman geleſen,
ein Bißchen auf dem Klavier geſpielt, in Ge-
Q 2ſellſchaft
[244] ſellſchaft gegangen, ein Lomberchen gemacht,
und des Morgens bis neun Uhr geſchlafen.


Als ſie heyrathete und ſelbſt eine Haus-
haltung bekam, ſo kam es nun auch ſo, wie
es kommen mußte. Ihr Mann war ein Foͤr-
ſter, und konnte Amts wegen nicht viel zu
Hauſe ſeyn. Beſonders mußte er im Som-
mer des Morgens um vier Uhr ſchon im Holze
ſeyn.


Da lag denn die Frau Orgon bis um neun
Uhr in den Federn. In der Zeit konnte das
Geſinde machen, was es wollte. Da wurde
Koffee getrunken, und manches Suͤppchen ver-
zehrt, davon die Frau Orgon nichts wußte.
Denn ſie wußte mein Lebetage nicht, wie viel
Butter, Eyer, Kaͤſe, und dergleichen da war.
War das nicht eine huͤbſche Haushaltung?


Wenn ſie aufgeſtanden war, mußte die
Koͤchinn kommen, und nun wurde berath-
ſchlagt, was zu Mittage ſollte gegeſſen wer-
den.
[245] den. Sie ſelbſt gieng nie in die Kuͤche, um
nur einmal nachzuſehen. Sie haͤtte ſich etwan
einen Finger ſchwarz machen koͤnnen. Wenn
ſie Koffee getrunken hatte, las ſie allerhand
ſchlechte Buͤcher. Dann wurde gegeſſen. Die
Leute mochten zuſehen, wo ſie was bekamen.
Sie ſahen aber auch zu, wo ſie was bekamen.
Nach Tiſche hielt ſie Mittagsruhe, und dann
gieng ſie in Geſellſchaft, bis des Nachts um
eilf und zwoͤlf Uhr. Kam der Mann nach
Hauſe, ſo fand er immer das ledige Neſt.


Alles, was der Mann, ſie ſelbſt, und die
Kinder an Leinwand, Hemden, Struͤmpfen
und Kleidungsſtuͤcken gebrauchten, wurde außer
dem Hauſe gemacht. Ob die Leute des Abends
was thaten, oder faulenzten, darnach wurde
nicht gefragt. Kurz, ſie gab fuͤr alle dieſe
Dinge, die ſie ſelbſt haͤtte machen koͤnnen,
mehr Geld aus, als der Mann einnahm. Sie
machte Schulden, griff die Kaſſengelder des
Q 3Man-
[246] Mannes an, und in wenig Jahren gieng die
ganze Haushaltung zu Grunde.


XLVIII.
Das artig geweſene, und wieder un-
artig gewordene Kind.


Wie ungluͤcklich iſt ein Kind, das artig
geweſen iſt, und von neuem unartig
wird! Seiner vorigen Artigkeit wird gar nicht
mehr gedacht. Sie gereicht ihm vielmehr zu
einem deſto groͤßeren Vorwurfe, daß es artig
geweſen, und doch wieder unartig geworden
iſt.


Lottchen war bis ins ſechste Jahr ein
recht artiges Kind, und der Aeltern wahre
Freude. Durch Gehorſam, Fleiß, ſanftes
und beſcheidenes Weſen das angenehmſte und
gefaͤlligſte Kind. Die Luſt und das Vergnuͤ-
gen
[247] gen anderer guten Menſchen. Die Ehre und
der Ruhm der halben Stadt. Wenn man ein
recht artiges, liebes Kind beſchreiben wollte,
ſo wurde Lottchen genannt. Es wurde oft
in Geſellſchaften gebeten, weil es die Leute
gar zu gern bey ſich haben und leiden moch-
ten. Andere Kinder mußten es oft von ih-
ren Aeltern hoͤren, daß ſie nicht ſo artig als
Lottchen waͤren.


Aber das Ding kehrte ſich gewaltig um.
Lottchen wurde mit einemmale wieder ſo un-
artig, daß es alle Tage eine neue uͤble Ge-
wohnheit annahm, und durch ſeine ſchlechte
Sitten und Auffuͤhrung jetzo deſto unleidlicher
wurde, je artiger es vorher geweſen war.


Woher mochte das wohl kommen? Ganz
gewiß zuerſt davon, daß man das Kind zu viel
gelobt
, und durch das viele Loben verdorben
hatte. Denn nun dachte es ſchon, es ſey voll-
kommen, es ſey artig genug, und duͤrfe nicht
Q 4beſſer
[248] beſſer und artiger werden. Sein kleines Herz
wurde eitel. Die Eigenliebe blendete es,
daß alle ſeine uͤblen Sitten, und ſchlechten Ge-
wohnheiten, Artigkeiten waͤren, und recht
huͤbſch ließen. Dadurch wurde es ſicher,
und eben dadurch von Tage zu Tage unarti-
ger, als es je geweſen war.


Seine Unarten waren eben keine Boshei-
ten, aber doch Ungezogenheiten. Wenn dieſe
aber bleiben und zunehmen, ſo werdens gar
bald Untugenden. Z. E. es knapperte mit den
Zaͤhnen, ſog mit den Lippen, wollte immer
alles beſſer wiſſen, kletterte auf den Stuͤhlen
herum, oder legte ſich druͤber her — wider-
ſprach den Aeltern, fiel andern in die Rede,
pinkte mit den Augen, verzerrte ſein Geſicht,
war bey Tiſche ungeſittet, wurde wild, grob
und unbeſcheiden. Kurz, gar nicht mehr das
angenehme gefaͤllige Kind, das es ſonſt war.
Von allem jetzt gerade das Gegentheil.


Welche
[249]

Welche traurige Veraͤnderung! Seine Ael-
tern mußten den ganzen Tag an ihm predigen
und verbieten. Sie betruͤbten ſich ſehr, und
es machte ihnen deſto mehr Kummer, je arti-
ger das Kind vorher ſchon geweſen war.


Was waren die Folgen davon? Der Leh-
rer brachte alle Tage das ſchwarze Buch,
worinn ſein uͤbles Verhalten angezeichnet war.
In das ſchoͤne blanke Buch kam faſt gar
nichts mehr. Es verlor die Liebe ſeiner Ael-
tern, und ſie machten ſich nichts mehr aus
ihm. Hatten ſie ihm ſonſt ſo viele Freuden
gemacht, ſo fielen die auch weg, weil es ih-
nen keine Freude mehr machte. War es ſonſt
bey andern Leuten beliebt und angenehm ge-
weſen, ſo ſahen es dieſe nicht mehr beym
Wege an. Es durfte faſt nirgends mehr hin-
kommen. Das ſchwarze Buch wurde allen
Menſchen gewieſen. Seine vorige Artigkeit
wurde ihm oft vorgeworfen. Es hatte jetzt
Q 5nichts,
[250] nichts, als Schimpf und Schande. Und der
Ruhm ſeiner vorigen Artigkeit war gaͤnzlich
verloren. Nirgends hieß es mehr das artige
Lottchen, ſondern die Leute ſagten: Wie hat
ſich das Kind veraͤndert! Was iſt aus dem
Kinde geworden?


Das gieng ſo wohl einige Monate hin.
Da fieng es ſelbſt an, es zu fuͤhlen, daß es die
Aeltern nicht mehr ſo lieb hatten wie ſonſt —
daß es viel weniger Freude hatte, als ſonſt —
daß es von andern gar nicht mehr ſo geachtet
wurde, als ſonſt. Dieß gieng ihm ſehr nahe.
O! ſagte es einmal vor ſich, was mag
doch daran Schuld ſeyn, daß ſich mei-
ne Aeltern ſo umgekehrt haben, und mir
nicht mehr ſo gut ſind, als ſonſt?

Was ſprichſt du da vor dich, ſagte die Mut-
ter? Und es mußte es noch einmal ſagen.


So? war die Antwort. Wir haͤtten uns
umgekehrt? Du haſt dich umgekehrt, und biſt
nicht
[251] nicht mehr ſo artig, als du ſonſt geweſen biſt.
Beſſere dich, ſo haſt du unſere erſte Liebe wie-
der. Wer iſt alſo Schuld?


Das Kind fieng an erbaͤrmlich zu weinen.
O! ſagte es, wie traurig iſt doch das, nicht
mehr geliebt und geachtet zu werden — keine
Freude mehr zu haben! Ich wollte lieber nicht
leben. Ich will mich von nun an beſſern,
und das liebe Kind wieder werden, das ich
ſonſt geweſen bin.


Ein Umſtand machte, daß die Beſſerung
gluͤcklich zu Stande kam. Der Vater hatte
den andern Kindern verſprochen, ſie mit aufs
Vogelſchießen zu nehmen. Wie freudig huͤpf-
ten ſie um Vater und Mutter herum! An
Lottchen kehrte ſich keiner. Es wurde ihr
nichts geſagt. Ach! rief ſie, mein Vater,
ſoll ich denn die Freude nicht mit haben?
Was Freude? ſagte der Vater. Du
biſt keiner Freude mehr werth. Daß

du
[252]du uns durch deine Unart die ganze
Luſt verduͤrbeſt! Das waͤre mir eben
recht. Du bleibſt zu Hauſe, wenn
ſich deine Geſchwiſter freuen. Sonſt
machte ich dir wohl Freude; aber jetzt
nicht mehr.

O! wie hatte ſich Lottchen da ſo uͤbel! Nun
erkenne ich erſt, daß ich Unrecht habe, und
mich ſelbſt um ſo manche Freude bringe. Pfuy
uͤber die Unart! Fort damit. Ich will mich
wieder beſſern, ſo kann ich wieder Freude
haben.


Und das geſchah denn auch.


XLIX.
Ungehorſam ſtraft ſich ſelbſt.


Drey Kinder bekamen von ihrer Mutter die
Erlaubniß, nach den Lehrſtunden in den
Garten zu gehen, und zu ſpielen.


Daß
[253]

Daß ihr mir ja aber, ſagte die Mutter,
kein Obſt abreißt, noch weniger das unreife
unter den Baͤumen anruͤhrt, oder eſſet. Ich
will ſchon nachkommen, und euch geben, was
euch dient.


Sie verſprachen es aufs heiligſte. Den
beyden groͤßern, Gottlieb und Minchen,
fiel es nicht einmal ein, das Verbot der Mut-
ter zu uͤbertreten. Aber der kleine Anton
konnte der Begierde zu naſchen nicht wider-
ſtehen. Da lagen unter dem Malvaſierbaume
gar zu praͤchtige gelbe Birnen.


„O! die ſollten nicht reif ſeyn, die
ſchoͤnen Birnen? dachte er bey ſich
ſelbſt. Die Mutter hat ja nur das
unreife Obſt verboten. Was koͤnnte
dir ein ſo ſchoͤnes gelbes Birnchen
ſchaden? Sie ſiehts ja nicht. Und
Gottlieb und Minchen ſind ja auch
weit weg.“


Er
[254]

Er machte einen langen Hals nach den
beyden hin, und — huſch! buͤckte er ſich, und
nahm ein Birnchen auf. Schuͤchtern ſah er
nach der Gartenthuͤr, und hurtig biß er hinein.


So machens alle Kinder, die etwas wider
das Verbot ihrer Aeltern thun. Sie thun es
allemal ſchuͤchtern und mit Furcht. Denn ſie
koͤnnen es nicht mit gutem Gewiſſen thun.


Der Biß war kaum in die Birne geſche-
hen, ſo dachte er, er ſollte vor Schmerz um-
kommen, und erhob ein entſetzliches Geſchrey.
Die beyden Kinder kamen gelaufen, und die
Mutter auch.


Was iſt dir denn, Anton? rief die Mutter
voll Angſt, und fragte die andern, was ihm
widerfahren waͤre? Wir wiſſen es nicht, lie-
bes Muͤtterchen! ſagten dieſe. Wir gehen da
herum. Da faͤngt er auf einmal an ſo greu-
lich zu ſchreyen. So ſag doch, Antonchen!
was fehlt dir denn?


Antonchen
[255]

Antonchen aber konnte nicht reden, ſon-
dern ſperrte das Maul weit auf, ſteckte die
Zunge aus, und rieb ſie. Da flog ihm eine
große gelbe Weſpe aus dem Maule. Dieſe
freſſen ſich tief in die ſuͤßen Malvaſirbirnen
ein. Da er nun hineingebiſſen hatte, ſo ſteckte
die Weſpe noch in dem Stuͤcke, und ſtach ihn
in die Zunge, daß ſie ſchon dick aufgeſchwol-
len war.


Die Mutter merkte den ganzen Handel,
ſagte aber weiter nichts, als: Du biſt fuͤr
deinen Ungehorſam genug geſtraft
. Da
dachteſt du: ſieht es doch keiner, und haſt
wider mein Verbot genaſcht, und in die Bir-
ne gebiſſen. Ein kleines veraͤchtliches Thier-
chen hat dich geſtraft, und deinen Ungehor-
ſam, den du ſo heimlich hielteſt, doch verrathen.


Der arme Anton ſtand ein Paar Tage ge-
nug an ſeiner geſchwollenen Zunge aus. Denn
ein Weſpenſtich iſt gefaͤhrlich, weil die Weſpe
ein
[256] ein ſubtiles Gift mit einfließen laͤßt, und der
Stachel ſtecken bleibt, daß er ausſchwaͤren
muß.


Die Mutter durfte es ihm nachher nicht
wieder verbieten, ſondern nur ſagen: Denke
an die Weſpe
.


L.
Das Blutwaſſer.


Es kam einmal im Fruͤhjahre, gegen Pfing-
ſten, das Geſchrey in die Stadt: es
haͤtte Blut geregnet
, und das Waſſer haͤtte
ſich draußen in der Pferdeſchwaͤmme, im Tei-
che und in verſchiedenen Graͤben in Blut ver-
wandelt. Da lief alles hinaus, was laufen
konnte. Ein Jeder wollte das Blut ſehen.


Die alten Weiber ſtanden haufenweiſe bey
einander auf den Straßen. O! wie ſeufzten
ſie uͤber die boͤſe Welt, da ſie ſelbſt die boͤſe
Welt,
[257] Welt, naͤmlich ſo viel Neid und Haß gegen
andere, im Herzen hatten! Sie machten auch
viele Kreuze vor ſich, damit ihnen nichts Boͤ-
ſes begegnen moͤchte.


Denn das iſt eben der rechte aberglaͤu-
biſche Mißbrauch von dem Zeichen des Kreu-
zes. Dieß ſoll das Kreuz Chriſti bedeuten.
Dem ſchreiben ſie die Kraft zu, wenn ſie dieß
Zeichen mit den Fingern dreymal vor den Kopf
und vor die Bruſt machen, daß ihnen dann
die Geſpenſter, Hexen und boͤſen Geiſter nichts
thun koͤnnten.


Wie iſt doch das ſo gerade wider alle ge-
ſunde Vernunft, daß es auch ein Kind begrei-
fen kann! — ſo ganz wider alle Abſicht des
Kreuzestodes Chriſti! Der iſt dazu geſchehen,
daß er die Menſchen von ihren Suͤnden erloͤ-
ſete, und daß wir von ihm lernen ſollen, der
Wahrheit und dem Guten, wie er, getreu zu
bleiben.


IITheil. RNun
[258]

Nun wieder auf die aberglaͤubiſchen Leute
zu kommen, die ſich da kreuzigten und ſegne-
ten. Ach! hieß es, was wird das bedeuten?
Was anders, ſagte die andere, als daß der
liebe Gott ſtrafen muß, und davon ſchon durch
den Blutregen die Vorbedeutung gegeben hat,
daß die Leute ſollen Buße thun. Das wird
ein Blutvergießen werden. Krieg und Ster-
ben, Peſtilenz und theure Zeit wird uͤber die
Menſchen kommen. Ach! der liebe Gott wende
es doch ab. Denn die Menſchen ſind gar zu
gottlos. Sie gehen gar nicht mehr in die lie-
be Kirche, kommen in keine Betſtunde, und
ſingen nicht einmal mehr, wenns donnert.
Nein! ich halte es noch immer ſo, wie meine
ſelige Mutter, und verſaͤume keine Betſtunde.
Aber, meine Nachbarinn, die boͤſe Frau! die
thut nichts, als arbeiten, hat fuͤnf Kinder,
die gehen, wie die Docken. Es fehlt ihr an
nichts.
[259] nichts. Ich mag nicht richten; aber wer
weiß, wo ſie es herhaben mag?


So ſprachen die Leute unter einander.
Da war nun auch ein Vater, der hatte fuͤnf
Kinder, die er immer ſchon ſehr vernuͤnftig
unterrichtet, und vor allem Aberglauben ſorg-
faͤltig gewarnt hatte. Die Kinderchen kamen
geſprungen, und brachten die Nachricht nach
Hauſe: „Vater! draußen vor dem Thore ſoll
alles Waſſer Blut geworden ſeyn. Laſſen Sie
uns doch herausgehen. Das moͤchten wir
auch ſehen. Anne Marie ſagt: Es bedeute
Krieg. Der liebe Gott wolle ſtrafen. — Aber
das glauben wir nicht. Der liebe Gott iſt viel
zu gut. Er braucht ja das nicht erſt anzuzei-
gen, wenn Krieg kommen ſoll.


Ja! ſagte der Vater, der mit der Natur
dieſes vermeynten Wunders ſchon viel zu be-
kannt war, das iſt doch was Beſonders, Kin-
der. Blutwaſſer? Das muͤſſen wir ſehen.
R 2Sollte
[260] Sollte ſich wohl das Waſſer wirklich in Blut
verwandelt haben? Und ſollte der liebe Gott
wohl das den Menſchen zur Strafe gethan
haben?


Wir wollen aber doch herausgehen. Ihr
aber, Georg, Moritz und Karl, haltet die
Glaͤſer parat, die wir immer mitnehmen, wenn
wir uns Thierchen aus dem Waſſer holen.
Und du, Lotte! vergiß das Netzchen nicht.
Dorchen! du kannſt die Kelle nehmen. Die
Kinder huͤpften vor Freuden vor dem Vater
her, und ſo gieng der Zug fort. In der Thuͤr
riefen ſie nochmals alle zur Mutter. Liebes
Muͤtterchen! auf den Abend bekommen wir
doch ein Paar Eyer, und ein friſches Sallat-
chen? Nicht wahr, du liebes beſtes Muͤtter-
chen? Lauft nur hin, ſagte dieſe: ihr ſollt
nicht hungrig zu Bette gehen.


LI.
[261]

LI.
Fortſetzung des funfzigſten Stuͤcks.


Als ſie herauskamen, ſtanden ſchon viele
Leute bey der Pferdeſchwaͤmme, und be-
wunderten das Blutwaſſer. Da gieng nun
der Vater naͤher mit den Kindern, und ließ
ſich erſt mit den Leuten ins Geſpraͤch ein.


Leute! ſagte er, glaubt ihr denn wirklich,
daß ſich dieß Waſſer in Blut verwandelt ha-
be? J! hieß es, das kann man ja ſehen.
Denn es iſt oben alles roth. „Iſt denn aber
alles Blut, was roth ausſieht? Ihr ſollt gleich
ſehen, daß nicht alles ſo iſt, wie es ſcheint.“


Ach! rief ein altes Muͤtterchen aus dem
Haufen, das iſt auch ein Unglaͤubiger —
ich hoͤre es ſchon — der Gottes Gerichte nicht
erkennen will. Komm! ſagte der Vater, alte
gute Mutter! Du ſollſt mit uns gehen, nur
da uͤber die Wieſe, wo das Waſſer fließt.
R 3Ich
[262] Ich bin nicht boͤſe auf dich, wenn du mich
auch einen Atheiſten nenneſt. Wenn du mir
da im Fluſſe ein Troͤpfchen Blut zeigen kannſt,
ſo will ich dir glauben, daß der liebe Gott
das Waſſer in Blut verwandelt habe. Komm!
komm! Du mußt mit. Sie wollte erſt nicht;
aber die andern ſchoben ſie fort. Da lachten
die Kinder, und ſprangen vorweg. Und der
Haufe zog nach.


Als ſie an den Fluß kamen, lief das Waſ-
ſer klar und rein dahin, und es war kein
rothes Troͤpfchen zu ſehen. „Was ſagſt du
nun, alte Mutter? Weiſe mir doch das Blut!“
Ja! rief ſie, der liebe Gott will uns nicht auf
einmal verderben. „Aber, wenn er ſtrafen
wollte, ſo muͤßte er doch dieß Waſſer im Fluſſe
am erſten in Blut verwandelt haben. Denn
das brauchen wir zum Kochen und Brauen,
das andere aber nicht. Das iſt faul und
unrein.“


Die
[263]

Die andern Leute lachten ſie aus. Und
nun giengs wieder nach der Schwaͤmme.
„Halt! Vater, ſagte Georg, nun wollt ichs
nachgerade bald rathen, was es waͤre.“ Vori-
gen Herbſt, da unten am Graben, holten wir
einmal Waſſer — Stille, ſtille! ſagte der
Vater. Wir werdens bald ſehen.


Sie traten nun an die Schwaͤmme, und
es ſah in der That aus, als waͤre alles Waſ-
ſer Blut. Die ganze Oberflaͤche blutroth.
„Gieb einmal die Kelle her, Dorchen! und
du, Karl! ein Glas.“ Da ſteckte der Vater
die Kelle an ſeinen Stock, und ſchoͤpfte oben
ab ins Glas, bis es voll war. Nun hielt
ers in die Hoͤhe gegen das Licht, und zeigte
es den Leuten.


Was war es nun? Unten im Glaſe alles
klar und helle; aber obenauf? Sehn Sie
doch, Vater! riefen die Kinder, da kribbelt
und wibbelt ja alles von rothen Thierchen.
R 4O!
[264] O! wie liefen die Leute zuſammen, und woll-
ten das auch ſehen! — ſahen es, und ver-
wunderten ſich ſehr. „Komm her, altes Muͤt-
terchen! ſagte der Vater, und ſiehe hier deine
Strafen Gottes, die uns nicht viel thun wer-
den.“ Ja! antwortete dieſes, wer weiß,
wer die da hineingebracht hat? „Ich hoͤre
wohl, erwiederte der Vater, du meynſt: das
haben die Hexen gethan. Lauf hin, du biſt
nicht zu bekehren.“


Die andern Leute aber freueten ſich, und
die Kinder noch mehr, daß es alles ſo natuͤr-
lich zugieng. Der Vater fuͤllte noch einige
Glaͤſer voll von den recht rothen Stellen. Und
die waren wie Blut.


Da fragten nun die Kinder, was das
fuͤr Thierchen waͤren, und wie ſie dahin
kaͤmen?


Es ſind lauter Waſſerfloͤhe, antwortete
der Vater. Seht einmal, was ſie fuͤr Fuͤhl-
hoͤrner
[265] hoͤrner haben, wie kleine Zweige und Aeſte!
Wie ſie damit im Waſſer rudern und ſich fort-
helfen! Dieſe haben ſich nun hier in dieſem
Fruͤhjahre ſo entſetzlich vermehrt, daß ihre
unzaͤhlige Menge das Waſſer obenauf blut-
roth gemacht. So iſt es auch mit dem Waſ-
ſer im Teiche, und in den Graͤben, wo das
Waſſer ſtille ſteht; aber in keinem Fluſſe wer-
det ihr dieſe Thierchen finden. Denn da koͤn-
nen ſie ſich wegen der Bewegung des Waſſers
nicht halten. In den Brunnen, wenn ſie
noch ſo tief ſind, giebts auch dergleichen; aber
eine andere Art, ſchneeweiß.


Die Leute hoͤrten das mit Vergnuͤgen,
giengen froͤhlich aus einander, kamen zur Stadt,
breiteten es aus, und das aberglaͤubiſche Ge-
rede hatte bald ein Ende.


O! es iſt ein recht gutes Werk, die Leute
vom Aberglauben zu befreyen. So machte es
Chriſtus auch.


R 5Des
[266]

Des Abends ſprecht ihr: es wird
ein ſchoͤner Tag werden, denn der
Himmel iſt roth. Und des Mor-
gens ſprecht ihr: es wird heut Un-
gewitter ſeyn, denn der Himmel iſt
roth und truͤbe
.


LII.
Fortſetzung des einundfunfzigſten
Stuͤcks.


Indeſſen gieng der Vater mit ſeinen Kindern
weiter. Laßt uns noch einmal dahin ge-
hen, ſagte er, wo es ſo moraſtig iſt. Es iſt
die rechte Jahrszeit dazu. Vielleicht finden
wir da noch was, was euch ſehr vergnuͤgen
wird. Ich wuͤnſchte, daß wirs faͤnden. „Was
denn, Vaͤterchen? Was denn?“ Ich wills
euch nicht ſagen, bis wirs finden.


Sie
[267]

Sie kamen hin an den Ort, wo ein großer
Moraſt, und am Ufer deſſelben recht dicker,
ſchwarzer, glatter Moder war. Da ſahe
Georg ſchon in der Ferne viele große Blut-
flecke
. O das iſt ſchoͤn, ſagte der Vater. Das
wollte ich eben haben. Nun aber ſtille, ganz
ſachte. Keiner geſprochen. Leiſe hingeſchli-
chen. Die Kelle parat. Die Kinder waren
wie die Maͤuschen.


Als ſie naͤher kamen, waren alle Blut-
flecke weg. Hier, ſagte der Vater, muͤſſen
wir lauern und aufpaſſen. Gleich waren wie-
der welche da. So wie ſie ſich aber nur ruͤhr-
ten, waren ſie auch wieder weg. Das iſt doch
ſchnurrig, ſagte Moritz. Was muß das
ſeyn? Die vexiren uns recht.


Wir wollen ſie wieder vexiren, ſagte der
Vater, ſteckte die Kelle an den Stock, und,
ſo wie ſich wieder ein Blutfleck zeigte —
huſch! war er mit der Kelle drunter, hob ſie
mit
[268] mit dem Moder aus, und that es ins Glas.
Und ſo einigemal, bis es voll war.


Ach! ſagte Lotte und Dorchen, was
wollen Sie denn mit dem garſtigen Dreck?
Der ſtinkt ja. „Geduld! bis wir nach Hauſe
kommen. Da ſollt ihr alles ſehen — daß
auch der garſtigſte Dreck nicht leer von Ge-
ſchoͤpfen Gottes iſt.“


Er ſtopfte das Glas zu, ſpuͤlte es ab,
ſteckte es ein, und ſo giengen ſie vergnuͤgt
nach Hauſe. „Morgen fruͤh, ſagte der Va-
ter, werdet ihr Wunder ſehen. Das Glas
muß die Nacht durch ſtille ſtehen.“


Die Kinder waren damit zufrieden, und
ſahen ſich nach der Kuͤche um. Liebes Muͤt-
terchen! hieß es, wo biſt du? Wenn du wuͤß-
teſt, wie hungrig wir waͤren! „Kommt, kommt,
meine Lieben! es iſt ſchon alles aufgetragen.“
Da paſſirte ein ſchoͤnes Ruͤhrey mit Sallat.
Heh! das ſchmeckte. Die Kinder erzaͤhlten
der
[269] der Mutter alles, was ſie geſehen hatten. Un-
ter andern ſagte Lottchen: Ich freue mich
noch, daß das alte Muͤtterchen mit ihrem
Aberglauben ſo ſchlecht weg kam.


Des andern Morgens waren ſie fruͤh bey
der Hand, und lauerten vor des Vaters Stu-
be. „Sachte, ſachte, ſagte er, muͤßt ihr
nach dem Glaſe hingehen — ja nicht hart
niedertreten — da werdet ihr ſehen, was
geſtern draußen im Moder die Blutflecke ge-
macht hat.“


Das ſind ja rothe Wuͤrmer, rief Georg.
Sieh einmal, Karl! wie ſie ſich drehen und
ſchlaͤngeln? Sie ſtecken ja alle mit den Koͤpfen
im Schlamm, und ſtellen den Leib in die Hoͤhe.
Warum moͤgen ſie das thun?


Das iſt ihrer Natur gemaͤß, ſprach der
Vater. Darum heißen ſie Roͤhrenwuͤrmer,
weil ſie mit dem Kopfende in der Schlamm-
roͤhre ſtecken. Man nennt ſie auch Schlamm-
wuͤrmer.
[270]wuͤrmer. Seht, wie ſie ſo roth ſind! Sind
ihrer nun viele Tauſend beyſammen auf einem
Flecke, wie draußen, ſo ſiehts wie Blut aus.
Nun gebt einmal Achtung. Georg! tritt ein-
mal mit dem Fuße hart auf den Erdboden,
daß es ſchuͤttert. Huſch! waren ſie weg, und
jeder in ſeine Schlammroͤhre zuruͤck. Vater!
ſagte Georg, ſo machten ſie es geſtern draußen
auch. Da waren die Blutflecke weg.


Wenn das nun einfaͤltige aberglaͤubiſche
Leute ſehen, ſo halten ſie es fuͤr Blut, und
prophezeihen daraus viel Boͤſes. Iſt es nicht
gut, wenn man weiß, wie ſo was zugeht?


In Frankreich waren einmal in einer Stadt
faſt alle Haͤuſer, Daͤcher und Waͤnde mit
Blutflecken bedeckt. Da ſchrie das Volk: es
haͤtte Blut geregnet
; bis ein Gelehrter
druͤber kam, und zeigte, daß viele tauſend
Schmetterlinge ausgekommen waͤren, und
ihren
[271] ihren roͤthlichen Reinigungsſaft, wie ſie beym
Auskommen thun, von ſich gegeben haͤtten.


LIII.
Der gottloſe Knabe.


Ich meyne hier den hohen Grad von Gott-
loſigkeit
, wenn Kinder im Stande ſind,
armen Bettlern, alten und ſchwachen Leuten,
inſonderheit Blinden, Lahmen und Gebrech-
lichen, allen moͤglichen Spott, Tuͤcke und
Bosheit zu beweiſen.


Ich wuͤnſchte, daß dieß alle die boͤſen
Buben, die dieſe abſcheuliche Bosheit aus-
uͤben koͤnnen, beſſern moͤchte, wenn ſie es
leſen werden! Gutartige Kinder, die ein
menſchliches Herz haben, gehet dieß nicht an.
Die ſind von ſolcher Gottloſigkeit weit entfernt.


Fritze, eines Muͤllers Sohn, war der
gottloſe Knabe, den ich hier andern zum Ab-
ſcheu
[272] ſcheu vorſtellen will. Er war ſchlecht erzogen,
und hatte immer viele boͤſe Exempel geſehen,
wie ſich die Leute unter einander gezankt, und
ſich alle Tuͤcke erwieſen hatten. Daher wurde
er auch ſo. Weil er aber einen guten natuͤr-
lichen Verſtand hatte, aber zum Boͤſen an-
wendete, ſo wurde ſeine Bosheit eben dadurch
deſto mehr geſchaͤrft. Er gieng recht drauf
aus, ſcharfſinnige Bubenſtuͤcke auszudenken,
andern Tort zu thun. Den Muͤhlknappen
ſchlug er Naͤgel in die Stiefeln, daß ſie ſich
die Fuͤße zerriſſen. Neben an hatte ein Mann
aus der Stadt einen Garten, und eine koſt-
bare Nelkenflor. Da nahm er ein Blaſerohr,
gieng auf den Boden, und ſchoß die beſten
Nelken ab. Es kamen zwar bey den Aeltern
Klagen uͤber Klagen; aber ſie hoͤrten nicht
darauf, ſondern freueten ſich uͤber den Kna-
ben, daß er ſo kluge Streiche machen koͤnnte.
Das
[273] Das war denn wohl das rechte Mittel, dieſen
Boͤſewicht zu beſſern?


An den Armen und Bettlern begieng er
wahre Grauſamkeiten. Es kam einmal ein
armer Mann in die Muͤhle und bat um eine
Gabe. Setzt nur euren Sack hierher, ſagte
Fritze, und kommt mit mir in den Stall. Da
will ich euch was geben. Der Arme that das.
Gleich machte er den Stall zu, nahm das
Brod aus dem Sacke, gabs den Schweinen,
und that ihm Steine hinein. Nun ließ er
ihn wieder heraus. Als der Mann ſeinen
Sack aufnehmen wollte, waren Steine drinn.
Da weinte er bitterlich. Denn das war ſein
ganzer Reichthum. Dem Boͤſewicht aber freu-
te das Herz im Leibe, als er den armen Mann
weinen ſah.


Koͤnnt ihr euch eine groͤßere Bosheit vor-
ſtellen? Er gab ihm nicht nur nichts, ſondern
er nahm ihm ſein Bißchen Brod noch dazu.
IITheil. SUnd
[274] Und als ſich der Arme beſchwerte, ſo ließ er
den Hund los, der ihm noch ein Paar Loͤcher
ins Bein biß. War das nicht ein Boͤſewicht?


Er machte es aber mit andern Elenden und
Gebrechlichen noch viel aͤrger. Den Lahmen
nahm er die Kruͤcken weg, und hatte ſeine in-
nige Freude daran, wenn ſie nicht fort konn-
ten, oder an der Erde zappelten. Es kam ein-
mal ein Blinder hin, den ein Kind fuͤhrte.
Dieſes lockte er in den Garten, und nun ſetzte
er Troͤge, Schemel, Holz, und ſo was hin.
Dann rief er: Kommt nur hierher, ich will
euch was geben. Wenn denn der arme Menſch
uͤber die Dinge herſtolperte, und ſich Maul
und Naſe zu Schanden fiel, ſo wollte er ſich
todt lachen. Ein andermal fuͤhrte er einen
Blinden auf den Steg uͤbers Waſſer, und mit-
ten auf demſelben ließ er ihn ſtehen. Geht nur
zu, ſagte er, ihr koͤnnt nun nicht fehlen. Da
fiel der arme Menſch ins Waſſer, und waͤre
ertrunken,
[275] ertrunken, wenn ihn nicht andere Leute wieder
herausgezogen haͤtten.


Was da fuͤr erſchreckliche Wuͤnſche, Fluͤ-
che und Worte von denen uͤber den gottloſen
Buben ausgeſtoßen wurden, die er geneckt,
gehoͤhnt, verſpottet und ſo gemißhandelt hat-
te, das koͤnnt ihr euch leicht vorſtellen. Ich
will zwar nicht ſagen, daß die Fluͤche und
Verwuͤnſchungen anderer uͤber die, welche ih-
nen Unrecht gethan haben, eintreffen; denn
Gott ſagt: Die Rache iſt mein, ich will ver-
gelten. Aber das goͤttliche Wiedervergeltungs-
recht bleibt doch nicht aus, wie ihr aus der
Geſchichte von Joſeph und ſeinen Bruͤdern
wiſſet. Und bey ſolchen Geſinnungen, wie
der gottloſe Fritze hatte, konnte es ihm auch
nimmermehr wohl gehen.


Er wurde groß. Der Vater ſtarb, und
er bekam die Muͤhle. Weil er hart, tyran-
niſch und grauſam gegen andere war, ſo war
S 2er
[276] er auch ein Wagehals gegen ſich ſelbſt, und
begab ſich muthwillig in Gefahr. Da wollte
er nun einmal im Winter das Eis vor den
Muͤhlraͤdern losmachen, und trat auf ein
glattes Bret. Rutſch! war er herunter, und
kam unter die Raͤder, mit zerbrochenen Armen
und Beinen aber wieder heraus. Kaum hatte
er das Leben behalten.


Das war erſt eins. Der viele Mehlſtaub
und das Brannteweinſaufen mochte ſeinen
Augen geſchadet haben. Kurz, er wurde in
ſeinen beſten Jahren mit beyden Augen blind,
und dazu ein elender Kruͤppel.


Da gieng er in ſich, und bereuete ſeine
Jugendſuͤnden. Wenn nun ein Lahmer oder
Blinder kam, ſo dachte er mit Schrecken an
die Stellen, wo er dieſe ſonſt ſo oft gemißhan-
delt, und ſo grauſam mit ihnen umgegangen
war. Ach! rief er oft voll Verzweiflung aus,
das hab’ ich an euch verdient, daß ich krumm
und
[277] und lahm bin, und kein Tageslicht mehr ſehen
kann. O! es muͤſſen alle gottloſe Kinder, die
dergleichen noch thun, an mir ein Exempel
nehmen, und ſich ja vor ſolchen Bosheiten
huͤten. Denn Gott laͤßt ſich nicht ſpotten,
wie ich erfahren habe.


LIV.
Fortſetzung des dreyundfunfzigſten
Stuͤcks.


Als der Informator, Herr Ernſt, dieſe
Geſchichte mit ſeinen Untergebenen las,
wurde der Junker Ferdinand ganz blaß im
Geſichte. Warum verwandelt ſich denn der
junge Herr ſo ſehr? ſprach der brave Mann
zu ihm. Hat er etwa kein gutes Gewiſſen?
Mir deucht, er iſt auch ein ſolches Fruͤcht-
chen, wie des Muͤllers Fritze war. Er er-
S 3ſchrickt.
[278] ſchrickt, wie ich ſehe. Nicht wahr? bloß vor
dem Ungluͤck, das Fritzen getroffen hat; aber
nicht vor ſeiner Bosheit und Gottloſigkeit. Ich
weiß alle ſeine Streiche, wie er noch geſtern
mit dem lahmen Stallknecht und der blinden
Fieke umgegangen iſt. Er weiß, daß ich die
Gewalt habe, ihn fuͤr ſeine gottloſe Streiche
zu zuͤchtigen. Ich koͤnnte ihn ſchlagen. Ich
koͤnnte ihn krumm ſchließen. Ich koͤnnte ihn
ein Paar Tage in den Keller ſtecken, damit er
wuͤßte, wie den Lahmen und Blinden zu Mu-
the waͤre. Was wuͤrde aber das alles helfen,
wenn er nicht ſein Herz und ſeine Geſinnungen
beſſert, und mehr Menſchenliebe annimmt?


Spiegle er ſich an den Gerichten Gottes,
die uͤber Fritzen kamen. Denn es kann ihm
nimmermehr wohl gehen, wenn er ſo bleibt.
Gott iſt kein Luͤgner, und der hat ausdruͤck-
lich in der Bibel geſagt:
Du
[279]Du ſollt dem Tauben nicht fluchen.
Du ſollt vor dem Blinden kein An-
ſtoß ſetzen. Denn du ſollt dich vor
deinem Gott fuͤrchten
.


Denk’ er einmal, wenn ſein vortrefflicher
Vater, der als ein wahrer Menſchenfreund
den lahmen Stallknecht und die blinde Fieke
ernaͤhret, ſeine Streiche wuͤßte? Welche Ehre
fuͤr ſeinen Stand, ein Menſchenfreund zu ſeyn,
und in die Fußſtapfen ſeines wuͤrdigen Vaters
zu treten, der von ſo vielen Elenden, denen
er Gutes thut, geſegnet wird! Iſt es beſſer,
von den Elenden, Lahmen und Blinden, die
in ſeines Vaters Brod ſind, geſegnet, oder
verflucht zu werden? Iſt es nicht ſchrecklich,
wenn dieſe Elenden den Vater ſegnen, und
den Sohn verfluchen? Wenn er ſo fortfaͤhrt,
wird er denn einmal auf ſeinem Sterbebette,
wie Hiob, und wie ſein wohlthaͤtiger Vater,
ſagen koͤnnen:
S 4Ich
[280]Ich war des Blinden Auge, und
des Lahmen Fuß. Ich war ein
Vater der Armen
.


Weiß er, Ferdinand! was das heißt?
Wenn man dem Blinden und Lahmen zu Huͤlfe
koͤmmt und ſein Elend erleichtert, ſo iſt man
des Blinden Auge, und der Fuß des Lahmen.
Wer aber ſolcher Elenden ſpottet, und ihnen
wohl gar Tort erweiſet, der ſpottet des Schoͤ-
pfers ſelbſt.


Der Junker wurde bey dieſer Rede ſo
weich, daß er dem Informator um den Hals
fiel, und verſprach, ſich zu beſſern. Auch die
andern Kinder wurden ſo geruͤhrt, daß ſie den
Junker baten, nicht mehr ſo tuͤckiſch und gott-
los gegen andere zu ſeyn.


Nun, ich werde ſehen, ſagte Ernſt, ob er
ſein Wort halten wird. Denn es iſt mir nicht
gleichguͤltig, ob es ihm kuͤnftig wohl gehe,
oder nicht. Nimmermehr aber kann es ihm wohl
gehen,
[281] gehen, wenn er der Elenden Haß, Fluch und
Thraͤnen auf ſich ladet.


LV.
Das erſte Veilchen,
oder
die Geſchichte zweyer zaͤrtlichen Schweſtern.


Erſtes liebes Veilchen! ſey mir willkom-
men — ſey mir geſegnet, angenehmes
Fruͤhlingsbluͤmchen! Wie lange hab’ ich mich
auf dich gefreuet — auf dich gewartet! Da
biſt du wieder. Willkommen, ſag’ ich noch
einmal, du Herold des Fruͤhlings! Was ſoll
ich mit dir anfangen? Soll ich dich ſtehen
laſſen, oder ſoll ich dich an meinen Buſen
ſtecken?


So ſprach Dorchen, da es das erſte
Veilchen im Garten erblickte.


S 5Lottchen.
[282]

Lottchen. J! Dorchen, hab’ ich dich
doch lange ſo vergnuͤgt nicht geſehen. Was
haſt du denn da gefunden, liebes Kind! wor-
uͤber du dich ſo ſehr freueſt?


Dorchen. Herzensſchweſterchen! Sieh
doch nur, das erſte Veilchen. O! wie es ſo
friſch, ſo ſchoͤn, ſo niedlich da ſteht! Ich
moͤchte es kuͤſſen. Es iſt mir das allerliebſte
Bluͤmchen, weil es ſo unſchuldig iſt, und ſo
ohne alle Kunſt aufwaͤchſt. Ich ziehe es der
großprahleriſchen Tulpe weit vor.


Lottchen. Ey! die iſt doch auch nicht zu
verachten.


Dorchen. Was hat ſie denn? Nichts,
als ihr Bißchen Schoͤnheit. Das iſts alles.
Aber wie erquickend ſchoͤn riecht mein liebes
Veilchen! Und iſt doch auch nicht haͤßlich. Ein
Straͤuschen davon koͤnnte einen aus der Ohn-
macht bringen. Die Tulpe riecht ordentlich
haͤßlich.


Lottchen.
[283]

Lottchen. Da haſt du wohl recht, meine
Liebe! Deine Lobrede auf das Veilchen bewegt
mich faſt, daß ich dir eine Freude vorſchlage,
die ich dir und mir machen will.


Dorchen. J! was denn, liebes Schwe-
ſterchen? Du haſt immer ſo gute Einfaͤlle.


Lottchen. Nu! ſo hoͤre, was ich vor-
habe. Wir wollen dir ein Paar Straͤuschen
von den erſten Veilchen binden, und heute
Mittag Vaͤterchen und Muͤtterchen zur Dank-
barkeit auf den Teller legen, weil es die erſten
ſind. Nicht wahr?


Dorchen. Ach ja! ſcharmant. Das wol-
len wir thun.


Lottchen. Geſchwind will ich laufen und
unſern Lehrer bitten, daß er uns ein Paar
Verschen dazu macht. Ich wills ihm ſchon
ſagen, was er hineinbringen ſoll. Binde in-
deſſen die Straͤuschen.


Dorchen. Hier ſind die Straͤuschen.


Lottchen.
[284]

Lottchen. Und hier ſind die Verschen.
Den erſten und dritten lerne ich, und den
zweyten und vierten mußt du gleich noch ler-
nen. Friſch! luſtig! Strenge dein Koͤpfchen
an. Es ſind ſcharmante Verschen. Hi! wie
wird ſich Vaͤterchen und Muͤtterchen freuen!


Als nun der Mittag kam, da gedeckt
wurde, legten die beyden zaͤrtlichen
Schweſtern, jede ihr Straͤuschen,
Vater und Mutter auf den Teller,
traten von ferne, und warteten mit
einer edlen Beſcheidenheit, bis ſich
Vater und Mutter geſetzt hatten.


Lottchen zu Dorchen ſachte: Kannſt du
auch dein Verschen?


Dorchen. Recht gut.


J! was finde ich denn da fuͤr ein aller-
liebſtes Veilchenſtraͤuschen auf meinem Teller?
ſagte der Vater mit großer Freundlichkeit.
Gewiß die erſten, die in unſerm Gaͤrtchen
vorge-
[285] vorgekommen ſind — und ſah die Mutter
liebreich an, als wollte er ſich bedanken, daß
ſie es hingelegt haͤtte.


Indem hob dieſe ihre Serviette auf, und
fand auch ein Straͤuschen. Da ſahen ſich
Vater und Mutter einander an; — aber nun
blickten ſie nach den beyden lieben Maͤdchen
hin, die am Fenſter ſtanden, und dieſen Blick
mit ſchmachtender Sehnſucht erwarteten. Eine
ſanfte Roͤthe, welche die Empfindung uͤber
die Freude ihrer Aeltern hervorbrachte, mit
ſtiller Beſcheidenheit vermiſcht, uͤberzog ihre
Wangen, und ſie bekamen beyde hier die ſanf-
te Unſchuld und Schoͤnheit der Veilchen.


Da! da! ſagte die Mutter zum Vater —
da ſtehen die lieben Geberinnen, die uns dieß
erſte Gartengeſchenk gemacht haben. Siehſt
du es ihnen nicht an, mein Lieber! daß ſie es
gethan haben? Ihr ganzes gutes Herz liegt
jetzt auf ihren Wangen. Kommt her, ihr
guten
[286] guten Kinder! und laßt euch kuͤſſen. Ihr
konntet uns nichts liebers ſchenken. Denn
auf jedem Bluͤmchen liegt euer Herz und eure
Dankbarkeit.


Die Kinder ſprangen herbey, kuͤßten Va-
ter und Mutter die Hand, und baten, ſo
vorlieb zu nehmen.


Lottchen aber trat etwas zuruͤck, und ſagte:


Dieſe Bluͤmchen aus dem Garten

Wollten nun nicht laͤnger warten:

Wollten, wenn ſie noch ſo klein,

Durch uns ihr Geſchenke ſeyn.

Die Aeltern wollten eben reden, als Dor-
chen
anfieng:


Garten! Bluͤmchen! dieſe Fluren

Zeigen uns der Vorſicht Spuren.

Sind nicht unſer, ſind nicht mein.

Vater! Mutter! ſie ſind dein.

Lottchen fuhr fort:


Wir, wir koͤnnen nichts verſchenken.

Was wir haben, was wir denken:

Abends,
[287]
Abends, Mittags, ſpaͤt und fruͤh,

Haben wir allein durch Sie.

Dorchen beſchloß alſo:


Sehn Sie nicht auf dieſe Gaben,

Die wir von uns ſelbſt nicht haben:

Nur aufs Herz, bey dieſer That,

Das ſo gern gegeben hat.

O ihr Lieben! ſagte Vater und Mutter,
ſetzt euch. Nun wollen wir noch einmal ſo
vergnuͤgt ſeyn. Ihr habt uns eine große
Freude gemacht. —


Und die Kinder konnten beynahe vor Freu-
den nichts eſſen. Wenn Vater oder Mutter
das Straͤuschen beſahen, oder dran rochen,
ſo ſahen ſich die Kinder einander freudig an.
Siehſt du wohl, Dorchen! ſprach Lottchen,
daß mein Einfall gut geweſen iſt? Dir ge-
buͤhrt aber doch die erſte Ehre, weil du dich
zuerſt uͤber die lieben Veilchen ſo freuteſt. O!
antwortete dieß: ich haͤtte kaum gedacht, daß
ſich
[288] ſich unſere lieben Aeltern ſo uͤber dieſe Kleinig-
keit freuen wuͤrden.


LVI.
Fortſetzung des fuͤnfundfunfzigſten
Stuͤcks.


Vater.


Ihr ſeht es ſelbſt ein, liebſten Kinder! daß
dieß Straͤuschen eine Kleinigkeit iſt. Die
armen Waiſenkinder tragen ſie herum, ein
Straͤuschen drey Pfennige. Aber haͤtten wir
wohl die Freude gehabt, wenn wir uns von
denen ein Straͤuschen gekauft haͤtten? Oder
iſt dieſe Freude groͤßer geweſen, da ihr uns
dieſe erſten Veilchen mit einer ſo guten Art,
und mit ſo zaͤrtlichen Herzen gebracht habt?
Das Herz, die Geſinnung, die Abſicht, mit
der einer dem andern was giebt, giebt auch
allein der Sache und dem Geſchenk ſeinen
Werth.


Mutter.
[289]

Mutter. Das iſt wohl wahr, mein Lie-
ber! Das weiß ich von Chriſto ſelbſt, dem
ein gutes Herz lieber als alles war, und der,
beſonders gegen gute Kinder, ein ſo gutes
Herz hatte.


Er ſtand einmal im Tempel vor dem Got-
teskaſten, da die Leute ihre Gaben einlegten.
Da kamen die reichen Phariſaͤer und warfen
viel hinein, mit einer Art, daß es alle Leute
recht ſehen und ſie hoch ruͤhmen ſollten.


Da kam aber auch eine arme, arme Witt-
we, und legte ihr Scherflein — nur ein We-
niges — hinein; aber mit einer guten Abſicht,
und mit dem redlichſten Herzen. O! dieß
Scherflein war Chriſto lieber, als alle die
andern reichen Gaben. Denn er ſah aufs
Herz, und ſprach:


Dieſe arme Wittwe hat mehr in den
Gotteskaſten gelegt, denn alle, die einge-
legt haben. Denn ſie haben alle von ihrem

IITheil. TUebrigen
[290]Uebrigen eingelegt; dieſe aber hat von ih-
rem Armuth alles, was ſie hat, ihre gan-
ze Nahrung, eingelegt
.


Lottchen. Nu! wenns aufs Herz an-
koͤmmt, ſo darf ich mich vor dem Herrn Chri-
ſto nicht ſchaͤmen.


Dorchen. Ich auch nicht.


Vater. O denkt euch alſo Chriſtum hier
bey uns, lieben Seelen, daß er eure Herzen
kennt! Eure Straͤuschen ſind ihm der Heller
der armen Wittwe. Er wird euch ſegnen,
wenn ihr ſo bleibt. Und nun muß eure Freude
noch groͤßer ſeyn.


Lottchen. Ach ja! liebes beſtes Vaͤter-
chen, wir hatten nichts Beſſers, was wir
Ihnen geben konnten, als unſer dankbares
Herz.


Dorchen. Wir freuen uns gar zu ſehr,
daß Sie es ſo gut aufgenommen haben.


Mutter.
[291]

Mutter. Bleibet, ihr Lieben! wie dieſe
Bluͤmchen, voll ſtiller Unſchuld und innerer
Tugend. Auf die merkt Gott, und es iſt ihm
Freude, wie es uns heute geweſen iſt.


LVII.
Die Langſchlaͤferinn.


Das lange Schlafen iſt der Geſundheit hoͤchſt
ſchaͤdlich, macht den Koͤrper matt, an-
ſtatt ihn zu ſtaͤrken, und bringt die Kinder
um viele Freuden.


Karoline war und hieß die Langſchlaͤ-
ferinn
. Denn ſie war des Morgens gar nicht
aus dem Bette zu bringen. Wenn die andern
Kinder, Franz, Karl, Jettchen, ſchon eine
Stunde und laͤnger aufgeweſen waren, ſich
gewaſchen und angezogen hatten, dann kam
ſie erſt aus den Federn gekrochen — rieb ſich
die Augen, gaͤhnte wie einer, der nicht aus-
T 2geſchla-
[292] geſchlafen, und einige Naͤchte durchgewacht
hatte — und war ſo erſchrecklich muͤrriſch
und verdruͤßlich, daß nicht mit ihr auszu-
kommen war.


Die andern hingegen waren ſo munter,
ſo friſch, ſo luſtig, huͤpften und ſprangen,
wie die jungen Rehe, und wie die Laͤmmer,
wenn der Thau noch auf den Blaͤttern liegt.
Warum? ſie waren zu rechter Zeit aufgeſtan-
den, und hatten ſich mit kaltem Waſſer alle
Schlaͤfrigkeit vertrieben.


Karoline aber konnte kaum gehen. Sie
ſchleppte nur ihren Koͤrper fort, ſo traͤge
war ſie — fiel von einem Stuhle auf den
andern — gaͤhnte, ſtreckte ſich mit den Ar-
men, und hatte doch wohl manchmal zwey
bis drey Stunden laͤnger geſchlafen, als die
andern. Ueber alles, was ihr in den Weg
kam, knurrte und brummte ſie. Bald ſtanden
die Schuhe nicht recht. Bald waren die Sem-
meln
[293] meln zu warm. Dann war wieder das Waſch-
waſſer zu kalt. Beym Anziehen murrte ſie mit
allen, die ihr helfen wollten. Die andern
muntern Kinder aber huͤpften um ſie herum,
lachten ſie aus, daß ſie ſo verdruͤßlich war —
machtens ihr nach, wenn ſie noch ſo ſchlaͤfrig
that. Karoline! ſieh einmal: ah ha ha —
ſo ſperrſt du das Maul auf — und vexirten
ſie. Da gabs denn immer was zu zanken.
Kam der Vater dazu, und fragte: wer Schuld
waͤre? ſo hieß es: Die da, die Langſchlaͤ-
ferinn
.


So giengs nun ein und alle Tage. Was
war doch wohl die Urſache, daß Karoline
alle Morgen ſo verdruͤßlich und muͤrriſch war?
Die andern Kinder waren es doch nicht. Was
anders, als das lange Schlafen? Denn da-
von wird man nicht munter, ſondern immer
traͤger und ſchlaͤfriger; alſo auch immer ver-
druͤßlicher, unleidlicher und unertraͤglicher.


T 3Lang-
[294]

Langſchlaͤfer wollen immer noch mehr
ſchlafen.


Iſt alſo das lange Schlafen dem Koͤrper,
der Geſundheit zutraͤglicher oder nicht? Macht
das muͤrriſche verdruͤßliche Weſen angenehm
oder nicht? Das moͤgt ihr ſelbſt, lieben Kin-
der! aus eurer eigenen Erfahrung beantwor-
ten, die ihr Karolinens uͤble Gewohnheit
noch an euch habt.


Aber um wie manche Freude bringt nicht
auch das lange Schlafen!


Eines Abends ſagte der Vater: Morgen,
Kinder! ſeyd fruͤh bey der Hand. Wir wol-
len erſt auf den Berg ſteigen, und die Sonne
aufgehen ſehen; hernach aber zu dem Herrn
Magiſter aufs Land ſpatzieren, wo ihr ſo
gerne ſeyd, und wo es ſo ſchoͤne Kirſchen
giebt.


Es hatte kaum drey geſchlagen, ſo waren
die andern Kinder da — angezogen, fix und
fertig.
[295] fertig. Karoline wurde zehnmal geweckt, war
aber nicht zu ermuntern. Alle Kinder kamen
vors Bette, zogen, zerrten, neckten ſie, um
ſie munter zu machen. Aber da war an kein
Aufſtehen zu gedenken.


Wo iſt, Karoline? fragte der Vater, als
ſie gehen wollten. O! riefen die Kinder, die
liegt noch feſt — die kann kein Menſch aus
den Federn bringen. Wir haben ſie ſo viel
gerupft und gezupft, aber es hilft nichts.


Nu, ſo mag ſie liegen, bis zu Mittage,
ſagte der Vater, und ward boͤſe. Schließt
das Haus zu, und kommt. Daß ihr aber
keiner was zu eſſen hinſetzt. Das ſag’ ich
euch, Sophie! Denn ihr ſollt auch mitgehen,
und Karln zuweilen tragen. Sie giengen,
und Karoline blieb liegen.


Als es zwoͤlf Uhr ſeyn mochte, krappelte
ſie auf — ſaß noch ein Weilchen im Bette —
ſah ſich weit und breit um. Da war alles
T 4ſtille,
[296] ſtille, das Haus ledig, und alles ausgeflogen.
Endlich gieng ſie herunter, und meynte, das
Fruͤhſtuͤck ſtuͤnde parat. Aber da paſſirte
nichts. Alles war verſchloſſen.


Himmel! wie erſchrak das Maͤdchen —
heulte und ſchrie, daß es die Nachbarn hoͤr-
ten. Sie kamen ans Fenſter, und fragten,
was ihr fehle? Ach! ſagte es, ich armes
Kind! ſitze hier ganz allein, ganz verlaſſen,
und habe nichts zu eſſen.


Wo ſind denn die andern? fragte Nach-
bars Lotte. Ach! ſie ſind heute fruͤh aufs
Land gegangen, und haben mich liegen laſſen
„Auch nicht geweckt?“ ſagte die andere. Ach
ja! oft genug, ich konnte aber nicht heraus-
kommen. Da ſind ſie fortgegangen. Was
wills denn ſchlagen?


Schlagen? ſprach Lotte. Es geht auf ein
Uhr. So lange haſt du gelegen, Maͤdchen?
O! ich muͤßte mir die Augen aus dem Kopfe
ſchaͤmen.
[297] ſchaͤmen. „Ach! gieb mir nur ein Bißchen
Brod ins Fenſter. Sie haben alles zugeſchloſ-
ſen. „Das iſt deine gerechte Strafe. Doch ich
will dir was holen.“


Ach ja! liebes Lottchen, thue es doch.
Erbarme dich uͤber mich. Nun, du boͤſer
Schlaf! du ſollſt mich nicht wieder betruͤgen.
Du verwuͤnſchtes Bette! haſt mich ſchon um
ſo manche Freude gebracht.


Die andern kamen des Abends herzlich
vergnuͤgt wieder. Karoline konnte die Augen
nicht aufſchlagen. Der Vater ſah ſie nicht
an. Der loſe Fritze ſagte nur: Karoline!
ich dachte, wir wuͤrden dich noch im Bette
finden. Sie konnte vor Scham nicht antwor-
ten. Die andern aber ſteckten ihr doch heim-
lich Birnen und Kirſchen zu.


Von dem Tage an hat ſie ſich das
lange Schlafen abgewoͤhnt.


LVIII.
[298]

LVIII.
Beſondere Proben der goͤttlichen Vor-
ſehung in Beſchuͤtzung der kleinen
Kinder.


Daß der liebe Gott auf die Kinder eine ganz
beſondere Aufſicht, und in der Welt alle
Umſtaͤnde zu ihrer Erhaltung und Beſchuͤtzung
eingerichtet habe, beweiſet folgendes Exempel.


Minchen, ein Kind von vier Jahren, war
ins Waſſer gefallen; aber auf eine ſo ſonder-
bare Art errettet, daß man dabey die Fuͤgun-
gen und Spuren der Beſchuͤtzung Gottes ſehr
deutlich ſehen konnte.


Dieß war es, was der erfreute Vater des
Abends drauf ſeinen Kindern vorſtellte. Ihr
wiſſet, ſagte er, was heute geſchehen, und
wie unſer Minchen aus dem Waſſer gerettet
iſt. Aber die wunderbare Art, wie es eigent-
lich zugegangen iſt, wiſſet ihr nicht. Die
Fiſcher
[299] Fiſcher ſelbſt haben ſich druͤber verwundert,
und Gott mit mir gedankt.


Das Kind gieng doch heute fruͤh mit Marien
nach dem Bleicheplatze. Da ſteht nun Marie,
ihrer Gewohnheit nach, und ſchwatzt, ſieht
ſich aber nicht nach dem Kinde um. Dieß
laͤuft auf dem gruͤnen Platze herum, und iſt
herzlich vergnuͤgt — laͤuft aber immer weiter
fort bis ans Ufer des Fluſſes. Da ſtehen un-
ten ein Paar Bluͤmchen, die will es holen.
Der Kopf wird zu ſchwer. Bauz! liegts
drinnen.


Das haͤtte nun nicht einmal ein Menſch
gewußt, wenn nicht die Raben, die in der
Gegend geweſen, uͤber dem Waſſer herumge-
flogen waͤren, und erſchrecklich geſchrien haͤt-
ten. Dadurch werden die Leute aufmerkſam,
ſehen nach den Raben und nach der Gegend
im Fluſſe, uͤber welcher ſie herumſchwaͤrmen.
Da werden ſie gewahr, daß mitten im Stro-
me
[300] me ein Kind ſchwimmt. Und nun koͤnnt ihr
euch Marien vorſtellen, da ſie merkt, daß es
Minchen iſt. Da wurde ein Gerufe durch
einander. Herr Gott! da ſchwimmt ein Kind.
Huͤlfe, Huͤlfe! Fiſcher her! Rettet, rettet.


Haͤtten aber die Raben, die juſt auf
der andern Seite des Fluſſes am Ufer
ſaßen, als das Kind vorbeyſchwamm,
nicht zuerſt Laͤrm gemacht, ſo waͤre
es uͤber alle Berge geweſen, ehe es ein
Menſch gemerkt haͤtte.


Was ſagt ihr dazu? War das nicht eine
beſondere Probe von Gottes Vorſehung, die
das Kind erhalten wollte?


Dorchen. Ach! nun bin ich den Raben
noch einmal ſo gut, daß ſie mein Schweſter-
chen gerettet haben.


Gottlieb. Hatte denn der liebe Gott die
Raben dahin geſtellt, daß ſie lauern mußten,
bis Minchen ins Waſſer fiel, und dann Laͤrm
machten?
[301] machten? Der liebe Gott haͤtte es lieber gar
nicht ſollen ins Waſſer fallen laſſen.


Vater. So mußt du dir die Sache nicht
vorſtellen. Gott thut keine Wunder durch ſei-
ne Allmacht, ſo wenig, wenn er etwas hin-
dern will, als wenn er etwas zulaͤßt, und
nicht hindert. Sonſt muͤßte er alle Augen-
blicke Wunder thun. Er hat aber alles vor-
hergeſehen, wie eine Sache kommen wird,
und darnach alle Umſtaͤnde eingerichtet; nicht,
daß es ſo kommen ſoll, und alſo keiner ſeinem
Schickſal entgehen koͤnne, wie die Leute zu
ſagen pflegen, und ſich damit entſchuldigen,
wenn ſie was Boͤſes gethan haben: das ſollte
ſo ſeyn: das iſt ſo uͤber mich verhaͤngt ge-
weſen — Nein! ſondern Gott hats ſo einge-
richtet, wie es nach ſeinen Abſichten kommen
ſoll, und zwar immer zum Beſten der Men-
ſchen. Es koͤmmt alſo nichts, gar nichts von
ohngefaͤhr, ſondern ohne Gottes Willen faͤllt
auch
[302] auch kein Sperling vom Dache. Das iſt
eben ſeine Vorſehung und Kegierung.


Gottlieb. Aber mit den Raben?


Vater. Weil Gott Minchen erhalten woll-
te, ſo waren dazu ſchon alle Umſtaͤnde vorher
gefuͤget, wie ſie der liebe Gott vorhergeſehen
hatte, daß es juſt zu der Zeit geſchahe, da
eben Raben am Ufer ſaßen. Dieſe wurden
durch das Hineinfallen des Kindes ins Waſ-
ſer erſchreckt, flogen auf, ſahen das Kind
fortſchwimmen — dachten, es waͤre ein Stuͤck
Fleiſch fuͤr ſie — ſchwaͤrmten uͤber dem Kinde
herum, und ſchrien, bis es die Leute hoͤrten.
Die Raben ſelbſt aber thaten das gar nicht in
der Abſicht, daß die Leute das ſchwimmende
Kind ſehen und retten ſollten, ſondern ſie tha-
ten das bloß nach ihren natuͤrlichen Trieben.


Aber nach den Abſichten Gottes wur-
de dieſer Umſtand ein Mittel ſeiner
Vorſehung, die Leute aufmerkſam zu

machen,
[303]machen, daß ſie herzueilten, das Kind
zu retten.


Vielleicht thats auch Gott um euretwillen,
Marie, daß er die Raben ſchickte, damit ihr
das Kind ſehen ſolltet. Ihr waͤret doch ſonſt
in eurem Leben nicht wieder froh geworden.


Marie. Ach! Herr Magiſter, ich kann
mich noch nicht beſinnen. Ich bitte Sie nur
um Gottes willen, vergeben Sie mirs dieß-
mal. Ich weiß gar nicht, wie mir das Kind
aus den Augen gekommen iſt.


Vater. Laßt euch das zur Warnung die-
nen, und laßt die Kinder an Oertern, wo
Waſſer iſt, nicht von der Hand und aus den
Augen. Dießmal hat der liebe Gott das Un-
gluͤck recht ſichtbar abgewandt. So oft ihr
kuͤnftig einen Raben ſeht, ſo danket Gott.


Dorchen. O! wie kams denn weiter?
Wie bekamen ſie denn das arme Kind wieder
aus dem Waſſer?


Vater.
[304]

Vater. Das Rufen der Raben allein
haͤtte doch nichts geholfen, wenns der liebe
Gott nicht auf andere Weiſe vor dem Erſau-
fen und Untergehen beſchuͤtzt haͤtte.


Dorchen. Mag das Kind nicht eine Angſt
ausgeſtanden haben!


Vater. Was geſchah aber? Die Leute
riefen zwar die Fiſcher; aber ehe die mit den
Kaͤhnen kamen, waͤre Minchen ſicher ſchon er-
trunken, oder eine halbe Meile weggeweſen.


Ihr wißt doch die Bruͤcke? Vor derſelben
ſtehen im Waſſer, mitten im Strom, ein Paar
hoͤlzerne Dinger, wie Daͤcher, auf welche das
Eis im Winter hinaufgetrieben wird, daß es
bricht, und die Bruͤcke nicht einſtoͤßt.


Gottlieb. Ja! ja! die Eisbrecher.


Vater. Auf ein ſolches Dach wird das
Kind ſachte vom Strome hinaufgeſchoben.
Zum Gluͤck ſteht recht oben ein großer Nagel
heraus. An dem bleibt es mit dem Roͤckchen
haͤngen,
[305] haͤngen, faßt ſich mit den Armen um den
Pfahl, und ſo bleibts ruhig ſitzen, bis die
Fiſcher kommen und es abholen.


War das nicht eine beſondere Probe der
treuen Vorſehung Gottes, wie er unſer Min-
chen erhalten und beſchuͤtzet hat?


LIX.
Fortſetzung des achtundfunfzigſten
Stuͤcks.


Dorchen.


Aber warum thut das der liebe Gott nicht
immer? So waͤren ja alle Kinder ſicher.


Vater. Liebes Kind! das verſtehſt du
noch nicht. Gott hat dabey ſeine beſondern Ur-
ſachen, wenn er hier oder da ein Kind wun-
derbar erhaͤlt und errettet, wie unſer Minchen;
ein andermal aber zulaͤßt, daß eins verun-
gluͤckt, ſich todtfaͤllt, wenn ſichs nicht in Acht
IITheil. Unimmt,
[306] nimmt, wie neulich der kleine Junge, der in
den offenen Brunnen fiel, und den Hals brach.
Das koͤnnen wir nicht begreifen, warum das
der liebe Gott ſo mache. Es iſt doch aber
alles ſehr gut, wie ers geſchehen laͤßt.


Dorchen. In Acht nehmen? ſagen Sie.
Ich daͤchte, das brauchten wir nicht, wenn
uns der liebe Gott beſchuͤtzte?


Vater. J! ſo brauchteſt du auch keine
Augen, Haͤnde und Fuͤße, keinen Verſtand,
wenns auf das bloße allmaͤchtige Beſchuͤtzen
Gottes ankaͤme. Merkt euch das aber recht
wohl: ihr ſollt Gott auch nicht verſuchen.
Wenn Gott gleich manches Kind wunderbar
beſchuͤtzt und errettet, ſo muͤſſen deswegen die
Kinder doch nicht vorwitzig und unvorſichtig
ſeyn, und von ihren Waͤrterinnen weglaufen.
Waͤre Minchen huͤbſch bey Marien geblieben,
ſo waͤre es nicht ins Waſſer gefallen. Waͤre
der kleine Junge nicht ſo vorwitzig geweſen,
und
[307] und haͤtte uͤber den Balken des offenen Brun-
nens weglaufen wollen, um ſich ſehen zu laſ-
ſen, ſo waͤre er nicht zu Tode gekommen.


Gottlieb. Ich denke aber, der liebe Gott
habe mir einen Schutzengel zugegeben, ich
mag machen, was ich will.


Vater. Da haͤtte der liebe Gott was zu
thun, wenn er jedem muthwilligen Knaben
einen Engel zugaͤbe, der hinter ihm herliefe,
daß er nicht zu Schaden kaͤme. Ich moͤchte
der Engel nicht ſeyn. Der haͤtte es gewiß
ſchlimmer, — als irgend einer.


Du mußt dir das ſo nicht vorſtellen, als
wenn hinter jedem Kinde ein Engel hergienge,
der es beſchuͤtzte, wie die Leute ſagen. Wenn
das ſo waͤre, ſo wuͤrde kein Kind zu Schaden
kommen, wie doch oft geſchiehet. Der be-
ſondere Schutz Gottes, den er den Frommen
verſpricht, heißt in der Bibel Gottes Engel.
U 2Das
[308] Das iſt die ganze Sache. Denn von dem
Schutze der Engel wiſſen wir nicht viel.


Dich aber, Dorchen! und uns, Vater und
Mutter, hat der liebe Gott auch ſchon einmal
aus einer großen Gefahr errettet. Davon
weißt du nicht einmal recht viel.


Dorchen. O Vater! erzaͤhlen Sie doch.


Vater. Wie du drey Jahre alt wareſt,
waren wir auf dem Lande bey der Tante, und
wollten des Nachmittags wieder wegfahren.
Es war entſetzlich heiß, und der Himmel voll
Gewitter. Die Kutſche war ſchon angeſpannt.
Aber was geſchah? Indem kam der Knecht
mit einem Fuder Korn, und fuhr gerade vor
die Luke in den Thorweg. Er wußte nicht, daß
wir fahren wollten, und unſer Fuhrmann
wußte nicht, daß der Knecht kam. Da muß-
ten wir warten, bis das Fuder abgeladen
war; waren aber ſehr verdruͤßlich, daß wir
aufge-
[309] aufgehalten wurden, weil wir uns vor dem
Gewitter fuͤrchteten.


Und eben dieſer Umſtand — dieſe halbe
Stunde, die wir warten mußten, war unſer
groͤßtes Gluͤck. Waͤren wir gleich fortgefah-
ren, ſo waͤren wir in das allererſchrecklichſte
Hagelwetter gekommen, wobey der Sturm die
groͤßten Baͤume mit der Wurzel ausgeriſſen,
und Wagen und Pferde auf der Landſtraße
umgekehrt hatte. Denn als wir nach Hauſe
kamen, erfuhren wir ein Ungluͤck uͤber das
andere. War das nicht eine beſondere Probe
des goͤttlichen Schutzes, daß wir aufgehalten
wurden?


Morgen Abend will ich euch davon noch
ein beſonderes Geſchichtchen erzaͤhlen.


LX.
[310]

LX.
Fortſetzung des neunundfunfzigſten
Stuͤcks.


Es war einmal ein Vaͤcker, der ſchlief mit
ſeiner Frau auf einer Kammer uͤber den
Backofen. Die Frau hatte des Nachts ihr
ſaugendes Kind bey ſich im Bette. An der
einen Seite der Wand, recht neben dem Bet-
te, war im Boden ein viereckiges Loch, das
des Abends aufgemacht wurde, damit die
Waͤrme von unten heraufziehen konnte.


Nun traͤumt einmal der Mutter was
Fuͤrchterliches: Es wolle ſie ein Hund beißen,
oder es ſey ein anderes Thier bey ihr im Bet-
te. Und — baz! ſchmeißt ſie ihr Kind aus
dem Bette. Als ſie erwachte, koͤnnt ihr euch
vorſtellen, wie ſie erſchrak, da das Kind weg
war. Sie rief entſetzlich, ſprang aus dem
Bette, und war ganz außer ſich.


Der
[311]

Der Mann erwachte auch, ſtand auf, und
ſie ſuchten das Kind allerwegen. Da war
kein Kind zu finden. Endlich koͤmmt der Va-
ter an das Loch. Ach! rief er, daß Gott er-
barme! da iſt es gewiß durchgefallen, und
wir werden es unten finden, daß es den Hals
eingeſtuͤrzt hat. Geſchwind liefen ſie herunter
in die Stube. Da war auch kein Kind.


Auf einmal ſah der Vater in die Hoͤhe,
nach dem Loche. Da war unter dem Loche
ein Kannruͤck, mit Haken. Das Kind war
dicht an demſelben heruntergeſchurrt. Der
Haken hatte das Windelband gefaßt, und an
dem Haken hieng das Kind, und ſchlief in
guter Ruhe.


Welche Probe der gnaͤdigſten Beſchuͤtzung
Gottes!


LXI.
[312]

LXI.
Die alte Schuld, oder das vierte
Gebot.


Ich wuͤnſchte, meine lieben Kinder, daß
euch folgende Geſchichte eben ſo ſehr ruͤh-
ren moͤge, als ſie mich geruͤhrt hat.


Ich traf einmal im Felde einen armen
Arbeitsmann an, der bey einem Stuͤck trocke-
nen Brods, und bey einem Trunk Waſſer aus
der friſchen Quelle die ſchwereſte Arbeit ver-
richtete, wobey allen Weichlingen die Haut
ſchauern moͤchte.


Guter fleißiger Mann! ſagte ich zu ihm.
Ihr laſſet es euch ja recht herzlich ſauer wer-
den. Wie viel verdient ihr denn wohl taͤglich
mit eurem ſauren Schweiß? Sechs Dreyer,
lieber Herr! war ſeine Antwort. Aber davon
darf ich nicht mehr, als nur zwey, verzehren —
ja nicht mehr, lieber Herr! Denn ich muß
mich
[313] mich kuͤmmerlich und knappe — knappe be-
helfen.


Ich konnte euch das nicht begreifen, lie-
ben Kinder! wie ein Menſch bey ſo erſchreck-
lich ſaurer Arbeit von ſechs Pfennigen leben
koͤnnte. Setzt euch einmal an ſeine Stelle.
Wie viel braucht ihr — wie viel vernaſcht
ihr in einem Tage! Solltet ihr wohl mit ſechs
Pfennigen auskommen? Der arme Mann
mußte aber davon leben, und noch dazu ſo
ſaure Arbeit thun, daß ihm die Haͤnde aufge-
ſprungen waren. Habt ihr nicht Mitleiden
mit dem armen Manne, der doch ſowohl ein
Menſch iſt, als ihr?


Ich fragte alſo den Mann, wie das moͤg-
lich waͤre, daß er von zwey Dreyern leben
koͤnnte? Wo laßt ihr denn die uͤbrigen viere?
„Ja! lieber Herr, die muß ich ſorgfaͤltig ein-
theilen. Zwey davon hebe ich auf als einen
Nothpfennig, und mit zweyen muß ich eine
U 5alte
[314] alte Schuld bezahlen, die mich ſehr auf dem
Herzen druͤckt.“


Du ehrliches Blut! dachte ich bey mir
ſelbſt. Du haſt ſelbſt kaum das liebe Brod,
und denkſt doch daran, eine alte Schuld zu
bezahlen? Ich war ſehr begierig, zu wiſſen,
worinn doch die alte Schuld beſtehen moͤchte.
Ich konnte nicht anders vermuthen, als daß
er etwa fuͤr Bier, oder ein Paar Schuh, noch
etwas ſchuldig geblieben waͤre.


Ehe ich weiter erzaͤhle, ſo bitte ich euch,
lieben Kinder! ſetzt euch hin, leſet nicht wei-
ter, ſondern verſucht es, ob ihr wohl rathen
koͤnnt, was das fuͤr eine alte Schuld gewe-
ſen ſey, die dem armen Tageloͤhner ſo auf dem
Herzen lag, daß er ſich zwey Dreyer taͤglich
vor dem Munde abzog, und ſie zur Bezah-
lung derſelben anwendete. Wer es raͤth, der
ſoll auch die Freude haben, morgen einem
armen
[315] armen Menſchen aus ſeiner Sparbuͤchſe zwey
Dreyer zu geben.


Indeſſen ſagte ich zu ihm: Das wird wohl
ſo etwas zu bedeuten haben. Da habt ihr
was, guter Mann! ich wuͤrde mich freuen,
wenn ihr ſie damit ganz bezahlen koͤnntet, eure
alte Schuld.


Dem Mann liefen die Thraͤnen aus den
Augen. Ach dankenswerth, lieber Herr! Tau-
ſendmal Gottes Lohn! Nun kann ich doch
auch einmal ein halb Maͤßchen Bier zu mei-
ner Erquickung trinken. Gott vergelts dem
Herrn tauſend — tauſendmal. Aber meine
alte Schuld, lieber Herr! hat viel, viel zu
bedeuten. Sie iſt groͤßer, als Sie denken.
Ach du lieber Gott! wenn Sie es nur erſt
hoͤren werden?


Nu! Kinder, wie ſtehts? Was meynt
ihr? Kanns keiner errathen? Nu! ſo ſag’ ichs
auch noch nicht.


LXII.
[316]

LXII.
Fortſetzung des einundſechzigſten
Stuͤcks.


Ich kam gar auf die Gedanken, er haͤtte
dieſe alten Schulden vormals etwan in
Branntwein, oder beym Spiel gemacht. Wie,
ſagte ich, lieber Mann! das iſt doch wohl
nicht ſo ein Jugendſtuͤckchen, davor ihr jetzt
noch buͤßen muͤßt?


Die Miene vergeſſe ich in meinem Leben
nicht, mit der mich der Mann anſah. Seine
Unſchuld ſprach aus ſeinen Augen, und es
dauerte mich, daß ichs geſagt hatte.


Ach lieber, lieber Herr! ſagte er: Ihr
Wort in Ehren. Aber Sie denken wohl, ich
ſey ſonſt ein luͤderlicher Kerl geweſen, der ge-
ſoffen und geſpielt habe — Davor hat mich
der liebe Gott wohl bewahrt. Nein! meine
alte Schuld iſt von ganz anderer Art. Und
Sie ſollens gleich hoͤren, lieber Herr!


Nun
[317]

Nun horchte ich hoch auf. Thuts auch,
lieben Kinder! Nehmts wohl zu Herzen. Der
ehrliche Mann ſagte: — O! daß es doch
alle undankbare Kinder der Welt hoͤren moͤch-
ten! — Er ſagte:
Er braͤchte die letzten zwey Dreyer
alle Tage ſeinen beyden alten Ael-
tern, die nicht mehr arbeiten, und
ſich nicht mehr ernaͤhren koͤnnten
.


Warum aber, fragte ich weiter, nennt
ihr denn das eure alte Schuld? Ich that
dieſe Frage bloß an ihn, um meine Thraͤnen
zu verbergen. Denn ich konnte mir kaum
vorſtellen, daß unter einem ſo armſeligen Kit-
tel eine ſolche Tugend, Ehrlichkeit und Dank-
barkeit wohnen koͤnnte.


Alte Schuld? rief er laut, wie koͤnnen
Sie noch darnach fragen, lieber Herr? Warum
ich das ſo nenne, was ich meinen alten Ael-
tern ſchuldig bin? Haben ſie denn von mir
keine
[318] keine Laſt und Sorgen gehabt? Haben ſie
mich nicht ſo weit gebracht, daß ich mir nun
mein Stuͤckchen Brod ſelbſt verdienen kann,
ſo kuͤmmerlich es auch iſt? Sollte ich nun
nicht auch mit meinen geſunden Knochen fuͤr
ſie arbeiten, da die ihrigen ſtumpf ſind? Waͤre
ich nicht der undankbarſte Menſch, wenn ich
ſie nun im Alter vergaͤße?


Nein! ſo lange ihr lebet — und da legte
er ſeine Hand auf den Spaden, und ſchwur
zu Gott im Himmel — und ſo lange ich lebe,
bin ich — bleib ich euer Schuldner, gute
Aeltern! Verdiente ich mehr, ſo gaͤb ich mehr.
Aber ſo kann ich nicht. Das iſt mir Kum-
mers genug, und ich eſſe mein elendes Brod
manchmal mit Thraͤnen, daß es davon ganz
weich wird, ehe ichs in den Mund ſtecke. —
Verſtehen Sie nun, lieber Herr! meine alte
Schuld?


Welches
[319]

Welches Kind dieß ohne Thraͤnen leſen
kann, deſſen Herz wuͤrde mir nicht gut
vorkommen
!


O! hoͤrt auf, rief ich, guter Mann! hoͤrt
auf. Gott wird euch ſegnen. Mehr konnte
ich vor Weinen nicht ſagen, und gieng fort.


Ja! rief er hinter mir her: Das ſpuͤre
ich ſchon, weil mich der liebe Gott geſund er-
haͤlt. Sonſt koͤnnte ich weder mir, noch mei-
nen alten Aeltern was verdienen. Aber noch-
mals fuͤr die reiche Gabe tauſend —


Mehr konnte ich nicht vernehmen, weil ich
ſchon zu weit von ihm weg war.


LXIII.
Fortſetzung des zweyundſechzigſten
Stuͤcks.


Ich machte, daß ich fort kam, und gieng
ſogleich zu dem Herrn von Gutherz,
dem
[320] dem die Dorfſchaft gehoͤrte, und bey dem ich
ſehr wohl bekannt war. Dieſer Herr fuͤhrte
den Namen mit der That. Ein wahrer Men-
ſchenfreund, der ſich ein Tagebuch uͤber alle
guten Handlungen ſeiner Unterthanen hielt!


Als ich ihm die Geſchichte erzaͤhlte, ſtutzte
er, und ſagte: Sollte ein ſo ehrlicher Sohn
in meinem Gebiete ſeyn, den ich nicht kennete?
Ich ſagte ihm den Ort, und das Haus, wo
die alten Aeltern wohnten, wie mirs der Sohn
beſchrieben hatte. Er holte ſein Regiſter, und
zu ſeiner groͤßten Verwunderung ſtanden ſie
nicht darinn.


Gleich mußte ein Bedienter nach dem Hau-
ſe gehen, und ſich nach den alten Leuten er-
kundigen. Er brachte die Nachricht, daß ſie
ſich kaum erhalten koͤnnten, wenn ihr fleißiger
Sohn ihnen nicht alle Tage zwey Dreyer
abgaͤbe.


Nun,
[321]

Nun, ſagte der Herr von Gutherz, das
iſt edler, als wenn ich ihnen taͤglich einen
Thaler gaͤbe. Bleiben Sie dieſen Mittag bey
mir zu Tiſche. Ich danke Ihnen ſehr fuͤr dieſe
Nachricht. Keine groͤßere Freude konnten Sie
mir an meinem heutigen Geburtstage machen.
Gleich aber ſoll einer hinausgehen, und den
armen Kerl herein holen. Ich will Ihnen wie-
der eine Freude machen.


Indem kam ſeine Gemahlinn mit den Kin-
dern ins Zimmer. Denen wurde die Geſchich-
te erzaͤhlt, und es floſſen mitleidige Thraͤnen.


Wir ſetzten uns zu Tiſche. Der arme
Tageloͤhner wurde gemeldet. Er ſtutzte ge-
waltig, als er ins Zimmer trat, beſonders
da er mich ſah.


Peter! fragte ihn der Herr, ich hoͤre, du
haſt Schulden. Iſt das wahr? Ja! gnaͤdig-
ſter Herr, ſagte er mit Zittern und Beben;
aber keine weiter, als ich da dem lieben
IITheil. XHerrn
[322] Herrn — und wies auf mich — geſagt ha-
be — meinen alten Aeltern.


„Wie viel giebſt du ihnen denn alle Ta-
ge?“ Von meinen ſechs Dreyern zwey. Lie-
ber Gott! ich gaͤbe gerne mehr; aber —


Ich verſtehe dich ſchon, Peter! fuhr der
Herr fort. Aber hoͤre einmal: Wie waͤre es,
wenn ich dieſe alte Schuld kuͤnftig fuͤr dich
bezahlte? Waͤreſt du damit wohl zufrieden?


Er fiel auf die Knie, und ſagte: Ach!
gnaͤdigſter Herr, ſo wollte ich Ihnen tauſend
Gottes Lohn wuͤnſchen, wenn Sie meinen ar-
men Aeltern die zwey Dreyer geben wollten.
— Allen ſtiegen die Thraͤnen in die Augen —


„Nein, Peter! ſo meyn ich das nicht. Ich
will dirs ſagen. Du biſt ein ehrlicher Kerl.
Du haſt zu dieſem Herrn geſagt: deine alte
Schuld an deine arme Aeltern abzutragen,
das ſey dein viertes Gebot. Nun ſollſt du auch
ſehen,
[323] ſehen, daß der liebe Gott noch wahr rede im
vierten Gebot: Auf daß dirs wohl gehe.“


„Da du ſo dankbar biſt gegen deine Ael-
tern, ſo wirſt du es auch gegen mich ſeyn.
Ich mache dich von jetzt an zu meinem
Gaͤrtner, und deine Aeltern verſorge ich,
bis ſie ſterben
. Gehe nun herunter, und laß
dir zu eſſen und zu trinken geben. Morgen
ſollſt du auch ein neues Kleid haben.“


„Siehe! nun iſt deine alte Schuld
mit einemmale bezahlt.“


Wer kann aber die Empfindungen dieſes
guten Sohns beſchreiben?


LXIV.
Der alte Mann.


Georg.


Was leſen Sie denn da der Mutter vor,
lieber Vater? Wie alt waͤre der Mann
geworden?


X 2Vater.
[324]

Vater. Es iſt gut, mein Sohn! daß du
darauf gemerkt haſt. Da las ich eben in den
Zeitungen, daß in Dublin — wo das liegt,
will ich dir auf der Landcharte weiſen — ein
Mann geſtorben waͤre, von hundert und neun-
zehn Jahren.


Minchen. O bewahre! hundert und neun-
zehn Jahre. Ich bin bald acht Jahre alt.
Wenn ich ſo alt werden ſollte, ſo muͤßte ich
noch hundert und eilf Jahre leben.


Jacob. So alt werden wohl wenige Leu-
te mehr. Nach der Bibel aber ſind die Leute
recht alt geworden.


Vater. Das gilt jetzt nicht mehr, ſondern
es heißt: Unſer Leben waͤhret ſiebzig Jahr,
nnd wenn es hoch koͤmmt, ſo ſinds achtzig.
Darum iſt es eben ſo merkwuͤrdig, daß der
Mann hundert und neunzehn Jahre alt gewor-
den iſt.


Georg.
[325]

Georg. Das moͤcht’ ich aber wiſſen, wie
der Mann das gemacht habe. Das muß wohl
ein recht reicher Mann geweſen ſeyn, der ſich
alles hat zu Gute thun koͤnnen, was er ge-
wollt hat.


Jacob. Der hat gewiß auch nicht viel
gearbeitet, ſondern ſich recht ſchonen koͤnnen.


Minchen. Ganz gewiß hat er alle Tage
ſo viel Zuckerplaͤtzchen, Roſinen und Mandeln
eſſen koͤnnen, als er nur gewollt hat. Und
davon mußte er wohl ſo alt werden.


Vater. So meynt ihr das? Ein jeder
hat alſo ſeine Meynung geſagt, wodurch der
Mann ſo alt geworden ſey. Wir wollen doch
ſehen, obs wahr iſt. Da, Georg! lies uns
die Zeitung vor.


Georg. „Dublin. Vor einigen Tagen
ſtarb allhier ein gewiſſer Peter
Derry im hundertundneunzehn-
ten Jahre ſeines Alters.“


X 3Es
[326]

Es ſteht aber nicht dabey, wer er eigent-
lich geweſen iſt.


Vater. Daraus ſeht ihr ſchon, daß es
ein geringer und gemeiner Mann geweſen ſey,
aus dem man nichts wuͤrde gemacht haben,
wenn er nicht hundert und neunzehn Jahre alt
geworden waͤre.


Man hat mehr Exempel von alten Leuten
in der Welt. Gemeiniglich aber ſind es ge-
meine Leute, oder Hirten, Schaͤfer, Foͤrſter,
Jaͤger, Soldaten und dergleichen geweſen,
die nicht viel in der Stube ſtecken, ſondern
die meiſte Zeit ihres Lebens immer in freyer
Luft geweſen ſind. Nu lies weiter.


Georg. „Er iſt in ſeinem Leben nur zwey-
mal krank geweſen, und bis an
ſein Ende geſund und munter ge-
blieben.“


Vater. Iſt das nicht viel, Kinder? In
hundert und neunzehn Jahren nur zweymal
krank
[327] krank geweſen? — Nur zweymal? Und die
ganze uͤbrige Zeit geſund, bis an ſeinen Tod.
Wie oft ſeyd ihr ſchon krank geweſen! Wie
oft habt ihr euch ſelbſt krank gemacht! —
Und ſeyd noch nicht einmal zehn Jahre alt!
Der Mann hatte doch wohl recht eigentlich
gelebt. Lies nun fort, Georg!


Georg. „Noch den Tag vor ſeinem Tode
war er auf der Hochzeit ſeiner
Ur — Ur — wie ſoll das heiſ-
ſen? — Urenkelinn geweſen.“


Das verſtehe ich nicht.


Vater. Kennſt du deiner aͤlteſten Schwe-
ſter Kind, das kleine Riekchen? Siehe, das
iſt meine Enkelinn. Wenn das groß wuͤrde,
und ein Kind bekaͤme, ſo waͤre Riekchens Kind
meine Großenkelinn. Und wenn ich der ihre
Kinder erlebte, ſo waͤre ich Aeltervater. Aber
nun wieder ein Kind von dieſen letztern, das
waͤren mir Urenkel. Alſo bis ins vierte Glied.
X 4Verſtehſt
[328] Verſtehſt du mich nun? Eine ſolche Urenkelinn
hatte der alte Mann. Und denkt nur, er war
auf der Hochzeit derſelben. Als dieſe wieder
heyrathete, ſo lebte er noch. Das iſt ganz
was Unerhoͤrtes. Und haͤtte er noch ein Jahr
gelebt, ſo konnte er ſeine Ururenkel ſehen.


Georg. Wer weiß, ob ſich der alte Mann
da nicht zu viel gefreuet hat?


Vater. Das kann moͤglich ſeyn. Allzu-
große Freude kann eben ſowohl den Tod brin-
gen, als allzugroßer Schreck oder Traurig-
keit. Vor gar zu großer Freude kann er auch
dießmal wohl ein Bißchen zu viel gegeſſen oder
getrunken haben.


Gebt aber wohl Achtung, Kinder!
was nun koͤmmt. Das wird euch
allen in eurem kuͤnftigen Leben ſehr
nuͤtzlich ſeyn.


LXV.
[329]

LXV.
Fortſetzung des vierundſechzigſten
Stuͤcks.


Georg. „Man hat alle Urſache, ſein
hohes und geſundes Alter ſeiner
Maͤßigkeit und Arbeitſamkeit
zuzuſchreiben. Sein —


Vater. Halt ein, Georg! Hier, Kinder!
nehmt alle eure Aufmerkſamkeit zuſammen,
wenn ihr noch ein Bißchen Liebe zu euch ſelbſt,
und fuͤr euer junges Leben habt. Wie wird
des Mannes Alter hier beſchrieben, Minchen?
Sag’ einmal.


Minchen. Sein hohes Alter.


Vater. Noch ein Woͤrtchen ſteht dabey,
Jacob.


Jacob. Wars nicht ſo: hohes und ge-
ſundes Alter?


Vater. Ja! meine Kinder, ſo war es:
hohes und geſundes Alter. O das merkt
X 5wohl.
[330] wohl. Ein hohes Alter von hundert und neun-
zehn Jahren machts allein nicht aus. Ohne
Geſundheit ſo lange zu leben, ach lieber Gott!
das waͤre gewiß kein ſonderlich Gluͤck. Wie
quaͤlt ſich mancher nur einige Wochen auf
dem Krankenbette! Wenn ihr nur ein Paar
Tage krank ſeyd, wie uͤbel iſt euch dann zu
Muthe! Geſchweige hundert und neunzehn
Jahre. Aber ein hohes und geſundes Alter,
das iſt Leben, das iſt Freude, das iſt Wohl-
that von Gott.


Georg. Warum giebt denn das der liebe
Gott nicht allen Menſchen, daß ſie ſo lange
leben, und geſund bleiben? Das moͤcht’ ich
wohl haben.


Vater. J! das glaub’ ich wohl. Das
iſt bald geſagt. Das moͤchten wohl alle Men-
ſchen ſo haben. Aber ſie ſind ſelbſt Schuld
dran, daß ſie kein hohes und geſundes Alter
erreichen. Was kann doch der liebe Gott da-
fuͤr,
[331] fuͤr, wenn ſich die Menſchen ſelbſt durch Faul-
heit, Unmaͤßigkeit in Eſſen und Trinken, durch
Zorn, Erhitzung, Vorwitz, und tauſend ande-
re Dinge, vor der Zeit um ihre Geſundheit
und Leben bringen? O gewiß! viele Men-
ſchen, inſonderheit viele Kinder, koͤnnten ihr
Leben hoͤher bringen, wenn ſie nur wollten.
Aber die Hauptſache moͤchte ich gerne wiſſen,
wie es der gute Mann angefangen habe, daß
er ſo alt geworden ſey. Es ſteht noch was
da, von der Urſache ſeines hohen und geſun-
den Alters. Das ſag uns einmal, Georg!


Georg. Seine Maͤßigkeit und Arbeit-
ſamkeit
.


Vater. So war das? Das ſind ja ganz
andere Urſachen, als ihr vorher angabt, wo-
durch der Mann ſo alt geworden ſey. Da
ſeht ihr, daß es nicht drauf ankomme, reich
zu ſeyn, ſich was zu gute zu thun, koſtbare
Speiſen, Wein, Zuckerwerk, und dergleichen,
zu
[332] zu eſſen, in ſchoͤnen Haͤuſern zu wohnen, in
weichen Betten zu ſchlafen, oder viele Arze-
neyen zu gebrauchen, wenn man lange leben
und geſund bleiben will. Ganz und gar nicht.
Das alles hatte der alte Mann nicht. Viel-
mehr hat er ſich nichts von der Art zu gute
thun koͤnnen. Er hat ſich auch nicht geſchont,
ſondern viel gearbeitet, und iſt doch hundert
und neunzehn Jahre alt geworden. Bloß durch
Maͤßigkeit und Arbeitſamkeit. Zwey rechte
Goldworte! Beſſer denn Gold und Silber.
Kaufe dir einmal die Geſundheit, Georg!
fuͤr tauſend Thaler, wenn du ſie nicht haſt.


Georg. O Minchen und Jacob! Da
ſind wir mit unſerer Weisheit ſchlecht wegge-
kommen.


LXVI.
[333]

LXVI.
Fortſetzung des fuͤnfundſechzigſten
Stuͤcks.


Vater.


Das waren alſo die Folgen von ſeiner
Maͤßigkeit, daß er geſund blieb; —
die Folgen von ſeiner Arbeitſamkeit, daß er
ſo lange lebte. O merkt euch das, Kinder!
Wer faulenzt und gar nichts thun will, wie
lange wird der geſund bleiben? Zur Geſund-
heit gehoͤrt, daß wir das Eſſen gut verdauen,
und das Blut friſch umlaͤuft, und nicht dicke
wird — und daß man auch immer geſunde
Speiſen ißt.


Georg. Ja! das iſt wohl wahr. Wenn
ich da druͤben die vornehmen Kinder anſehe,
ſo mag ich nicht tauſchen. Die liegen des
Morgens bis um neun Uhr. Dann trinken
ſie ſo viel Koffee, Schokolate, Thee, u. ſ. w. —
thun den ganzen Tag nichts — eſſen nicht
einmal
[334] einmal ein Stuͤckchen ſchwarz Brod. Wenn
ich mit meinem Salzbrod vor der Thuͤr ſtehe,
koͤmmt immer der Junker geſchlichen: Gieb mir
doch ein Bißchen von deinem Brod, ich will
dir dafuͤr ein Stuͤckchen Kuchen oder Torte
geben. — So ekelt ihnen ſchon vor dem ewi-
gen ſuͤßen Zeuge. Und wie ſehen ſie auch aus?
Wie die Schatten. Wenn wir manchmal mit
einander ſpatzieren gehen, da koͤnnen ſie nicht
fort — legen oder ſetzen ſich alle Augenblicke
hin — koͤnnen keinen Berg ſteigen. Bey uns
aber gehts uͤber Berg und Thal, durch Dicke
und Duͤnne — halbe Meilen weit — in Schnee
und Regen — und werden nicht einmal muͤde.


Vater. Siehſt du wohl, daß ich euch nicht
zu viel thue, wenn ich euch ſo erziehe, daß ihr
geſund bleibt? Da ſeht einmal den Faulenzer
und Weichling, wie ſteif ſeine Glieder werden,
weil er ſie nicht gebraucht! Wie dicke ſein
Bauch wird, daß er ſich nicht mehr behelfen
kann!
[335] kann! Unſer Nachbar da, der Schmidt, der
brav auf den Amboß ſchlaͤgt, daß die Funken
herumfahren — wie ſtark, wie flink ſind ſeine
Arme! Den werdet ihr uͤber nichts klagen hoͤ-
ren. Aber wie klagt der dicke Bierbrauer,
uͤber den ihr oft ſelbſt lachen muͤßt! Bald
fehlt ihm dieß, bald das. Er iſt keine Stun-
de geſund. Wenn das Waſſer lange ſtille ſteht,
ſo wirds faul und ſtinkt. So iſts auch mit
dem Menſchen.


Georg. Vater! iſts nicht die Ameiſe,
die ſo fleißig arbeitet?


Vater. Ja, mein Sohn! das haſt du
gut gemacht. Zu der wird ſchon in der Bibel
der Faule hingewieſen. Gehe hin, du Fauler!
ſagt der weiſe Salomo, zur Ameiſe, und ler-
ne ihre Weiſe. Aber wir muͤſſen unſern alten
Mann nicht vergeſſen. Es war noch eins,
wodurch er ſich geſund erhalten hatte. Wer
hat das behalten?


Alle.
[336]

Alle. Durch Maͤßigkeit.


Vater. Ja wohl durch Maͤßigkeit! Wenn
ihr von den geſundeſten Sachen zu viel eſſet
und trinket, wie iſt euch dann zu Muthe? Wie
unluſtig, wie traͤge! Alle Freude weg. Ge-
ſchweige, wenn ihr zu viel ungeſunde Speiſen,
Zuckerwerk, Kuchen und dergleichen eſſet.
Denkt nun, wenn das oft koͤmmt, wie lei-
det da nicht der Magen und andere Theile!
Durch Unmaͤßigkeit ſterben gewiß die meiſten
Menſchen zu fruͤh, und haͤtten laͤnger leben
koͤnnen. Juſt nicht in Eſſen und Trinken;
man kann auch in andern Dingen — in der
Freude, in der Traurigkeit, in der Arbeit,
im Schlafen, in Sorgen u. ſ. w. unmaͤßig
ſeyn, und ſich ungeſund machen.


Aber laßt uns doch weiter leſen, ob wir
nicht noch manches Gute in dem Leben des
alten Mannes finden?


LXVII.
[337]

LXVII.
Fortſetzung des ſechsundſechzigſten
Stuͤcks.


Georg. „Sein gewoͤhnliches
Getraͤnk
war Waſſer, und die ungekuͤnſtelt-
ſten Speiſen ſeine Koſt. Wein
und Bier genoß er nur dann und
wann, als Medicin.“


Vater. Verſtehſt du das, Georg?


Georg. Nicht alles. Was ſind das, un-
gekuͤnſtelte Speiſen?


Vater. Wenn eure Mutter ein gut Ge-
ruͤcht braunen Kohl kocht, und ihr eſſet da
euren Teller voll ab, und ein Stuͤck gutes
Brod dazu. Das iſt ungekuͤnſtelt. Aber Paſte-
ten, Ragous, Frikaſſees, und dergleichen,
wo hunderterley durch einander koͤmmt, dazu
viele fremde Gewuͤrze, das ſind gekuͤnſtelte
Speiſen. Kann ein ſolcher Miſchmaſch wohl
geſund ſeyn?


IITheil. YGeorg.
[338]

Georg. Der alte Mann hat auch lauter
Waſſer getrunken. Das kann doch aber eben
nicht geſund ſeyn. Es iſt einem davon ſo kalt
im Leibe.


Vater. Was fehlt euch denn bey eurem
Waſſertrinken? Das geſundeſte Getraͤnk iſt
reines kaltes Waſſer, weil es mit nichts ver-
miſcht iſt, und durch ſeine Kaͤlte ſtaͤrkt. Wenn
du ſauren Kohl gegeſſen haſt, und Bier drauf
trinkſt, ſo macht das eine Gaͤhrung, und es
wird dir uͤbel. Nach reinem Waſſer aber nicht.
Das wußte der alte Mann wohl. Er kam
dabey nicht von Kraͤften, wie viele Leute glau-
ben. Viele Menſchen, die kein Waſſer trin-
ken, ſondern Bier, Wein, und dergleichen,
und die koͤſtlichſten Speiſen genießen, ſind
weit weichlicher, und koͤnnen lange die Arbeit
nicht thun, als ein gemeiner Bauer bey Waſ-
ſer und Brod.


Georg.
[339]

Georg. Er hat aber doch zuweilen auch
Wein und Bier getrunken.


Vater. Aber was ſteht dabey? als Me-
dicin
. Das wurde ihm denn auch Bier und
Wein, weil ers nicht alle Tage trank. Denn
ſonſt wirds der Koͤrper gewohnt, daß ers nicht
mehr fuͤhlt, und alſo die Sache nicht mehr
wirken kann. Wollten wir alle Tage Arzeney
nehmen, ſo wuͤrde ſie nichts mehr helfen, weil
wirs zu gewohnt wuͤrden.


Georg. Sie geben uns doch manchmal
ein Bißchen Wein.


Vater. Ja! das thue ich mit Fleiß; aber
nicht zu oft, auch nicht zu viel. Dann iſt er
euch eben das, was er dem alten Mann war,
eine Medicin.


Jacob. Ich mag dieſe Medicin lieber,
als Pillen.


Vater. Wer maͤßig lebt, braucht gar
keine Pillen. Merkt euch das vor allen Din-
Y 2gen:
[340] gen: Je mehr ihr euch in Eſſen und Trinken,
und in eurer kuͤnftigen ganzen Lebensart, nach
der Natur richtet, deſto geſuͤnder werdet ihr
bleiben, und auch deſto laͤnger leben.


Georg. Was heißt das, nach der Na-
tur
leben?


Vater. Wie der alte Mann leben. Nichts
anders eſſen und trinken, als was das aller-
natuͤrlichſte iſt, was der Natur des Koͤrpers
und der Geſundheit am zutraͤglichſten iſt. Das
natuͤrlichſte iſt Maͤßigkeit und Fleiß. Dir,
Georg! kann ich nachgerade ein Woͤrtchen
Latein ſagen. Du haſt doch ſchon einige Brie-
fe des gelehrten Roͤmers Cicero geleſen. Der
giebt das fuͤr die beſte Lebensregel aus: Se-
quere Naturam
.Ob du das wohl ſchon uͤber-
ſetzen kannſt?


Georg. J! das heißt: Folge der Natur.
Iſt der Imperativus von Sequor, ich folge.


Vater.
[341]

Vater. Bravo! das war ſchoͤn. Aber
wir ſind mit dem Leben des alten Mannes
noch nicht fertig. Mich ſoll doch wundern,
ob von ſeiner Jugend nichts geſagt iſt. Denn
wer ſich in ſeiner Kindheit und Jugendjahren
verdirbt, oder ungeſund macht, der kann im
Alter nicht geſund ſeyn.


LXVIII.
Fortſetzung des ſiebenundſechzigſten
Stuͤcks.


Georg. „In ſeiner Jugend ſchlief er
nie uͤber ſechs Stunden, und in
ſeinem Alter nie uͤber acht Stun-
den.“


Vater. Das wird eben nichts fuͤr euch
ſeyn, Jacob und Minchen. Ihr ſchlaft gar
zu gern. Glaubt doch aber ja nicht, daß das
zu viele und lange Schlafen geſund ſey. Der
Y 3alte
[342] alte Mann ſchlief in ſeiner Jugend nie uͤber
ſechs Stunden. Das war von zehn Uhr an
des Abends bis fruͤh um vier Uhr. Und ihr
ſchlaft oft von acht Uhr an des Abends bis fruͤh
um acht Uhr. Das ſind auf zwoͤlf Stunden.
Wenn ihr nur einmal um ſechs Uhr aufſtehen
ſollt, wie ſauer wird euch das! Wie verdruͤß-
lich ſeyd ihr! Und wenn ihr bis acht Uhr ge-
legen habt, wie traͤge und unluſtig den gan-
zen Tag! Wollt immer noch mehr ſchlafen.
Das koͤmmt vom langen Schlafen.


Jacob. Ja, Vater! es iſt auch manch-
mal ein Bißchen zu fruͤh, wenn wir aufſtehen
ſollen.


Vater. Da denkt ihr, Wunder! wie hart
man gegen euch ſey, und was euch fuͤr Un-
recht geſchehe, wenn man euch nicht ſo lange
ſchlafen laͤßt. Ihr wißt aber nicht, daß euch
dadurch die groͤßte Wohlthat geſchieht. Und
ſo iſt es mit mehrern Dingen, als mit dem
vielen
[343] vielen warmen Getraͤnke des Morgens. Wenn
ihr doch erſt einmal glauben wolltet, daß wirs
gut mit euch meynen, und alles zu eurem Be-
ſten thun! Lies weiter.


Georg. „Seine mehreſten Reiſen that er
zu Fuß, und wo er hinkam, war
er vergnuͤgt.“


Vater. Seht ihr wohl? Er hatte ſich
nicht weichlich gewoͤhnt. Zu Fuße gehen iſt
allemal eine gute Bewegung des Leibes, und
erhaͤlt die Geſundheit ſehr. Daher iſt es ſehr
gut, wenn Kinder viel zu Fuße gehen, und
nicht immer auf den Stuͤhlen herumſitzen.


Georg. Das freuet mich, daß er auch
immer vergnuͤgt war. Das bin ich auch.
Ich moͤchte manchmal vor Freude uͤber Tiſch
und Baͤnke ſpringen.


Vater. Woher kam das? Weil er immer
geſund war. Denn bey dem Krankſeyn iſt
nicht viel Freude. Aber das war es nicht
Y 4allein,
[344] allein, was ihn vergnuͤgt machte. Nur
weiter.


Georg. „Und ſuchte andere durch Wohl-
thun

und Leutſeligkeit vergnuͤgt
zu machen.“


Vater. Der gute Mann! Ob wir ihn
gleich nicht gekannt haben, ſo muͤſſen wir ihm
doch noch nach ſeinem Tode gut ſeyn, weil
er gegen andere ſo gut war. Wodurch wohl?


Georg. J! durch Wohlthun und Leut-
ſeligkeit
. Aber Leutſeligkeit? Was iſt das?


Vater. Daß er gegen alle Leute ſo gut
und freundlich war. Er that alſo immer
Gutes. Das machte ihn auch immer ſo ver-
gnuͤgt. Und das heißt, ein gutes Gewiſſen
haben. Wer Boͤſes thut, der kann ſich nicht
freuen, ſondern iſt immer voll Furcht und
Unruhe, daß es herauskoͤmmt, und daß er
geſtraft wird, wie ihrs an euch ſelbſt merken
werdet. Das iſt denn das boͤſe Gewiſſen.


Er
[345]

Er that Gutes gegen ſich ſelbſt, durch
Maͤßigkeit und Fleiß; aber auch gegen ande-
re
, durch Wohlthun und Freundlichkeit. Er
hatte ſelbſt nicht viel, und gab doch andern
was davon. Was das fuͤr ein guter Mann
war! Und da er gegen andere immer ſo leut-
ſelig, freundlich und dienſtfertig war, —
keinen anfuhr, gegen keinen verdruͤßlich, grob
und muͤrriſch war, ſo hatten ihn auch alle
Leute recht lieb. Darum hatte ihn auch der
liebe Gott recht lieb — ließ ihn lange geſund
leben, und viele, viele Freude an ſeinen Kin-
dern, Kindeskindern und Urenkeln erleben —
bis ins vierte Glied. Darum heißt es weiter:
Georg. „Er hinterlaͤßt an Kindern und
Kindeskindern zwey und dreyßig
Nachkommen, und die ganze
Stadt bedauert ſeinen Verluſt.“


Vater. War das nicht eine ſchoͤne Ge-
ſchichte? Ein ſehr ſchoͤner Lebenslauf? Seht!
Y 5das
[346] das ſind die Folgen der Maͤßigkeit, des Fleißes,
des Wohlthuns, der Leutſeligkeit und Men-
ſchenliebe. O ihr meine liebſten Kinder! wer-
det ja maͤßig, arbeitſam, fleißig, gutherzig,
mitleidig, freundlich, dienſtfertig gegen alle
Leute, ſo werdet ihr eben ſo gute Folgen ha-
ben; und der liebe Gott wird auch an euch
die Verheißung erfuͤllen: Auf daß dirs wohl
gehe, und du lange lebeſt auf Erden
.


Jacob. Auch hundert und neunzehn Jah-
re alt werden?


Vater. Das folgt wohl eben nicht. Wir
koͤnnen Gott nichts vorſchreiben. Und wenn
ihr denn auch nicht hundert und neunzehn
Jahre alt werdet, ſo lebt nur ſo, daß ihr am
Ende — waͤrens auch nur neunzehn Jahre —
ſagen koͤnnt: Wir haben Gott zur Ehre, uns
ſelbſt zur Freude, und andern Menſchen zum
Wohlgefallen gelebt. Denn das heißt eigent-
lich, gelebt haben.


LXIX.
[347]

LXIX.
Todesgedanken fuͤr Kinder.


Es gieng einmal ein Vater mit ſeinen Kin-
dern ſpatzieren. Die Hitze des Tages
war groß geweſen. Blumen und Kraͤuter
hiengen ihr Haupt. Auch die ſchoͤnſten ſchon
verwelkt.


Die Kinder bedauerten die ſchoͤnen Bluͤm-
chen. Nehmt hier ein Exempel, lieben Kin-
der! ſagte der Vater, an der Vergaͤnglichkeit
der Blumen. So iſt auch das Leben der Kin-
der. Eben ſo bald vergeht es auch, wie eine
Blume verbluͤhet.


Und ihr ſeyd ſo ſorglos, ſo vorwitzig, ſo
unvorſichtig, daß ihr gar nicht an den Tod
gedenkt? Wie wenig ſchont ihr eurer Geſund-
heit und eures Lebens! Ihr erhitzt euch, und
trinkt drauf. Ihr ſpringet, klettert, balget,
ſtoßt und rauft euch. Wie bald iſts um euer
junges Leben geſchehen!


Seht
[348]

Seht dieſe Bluͤmchen an. Heute Morgen
haben ſie noch ſo ſchoͤn gebluͤhet. Und nun?
Alle Schoͤnheit, alles Leben weg. So bald
kann auch ein bluͤhender Knabe, ein ſchoͤnes
munteres Maͤdchen dahin ſeyn! Seyd fromm,
tugendhaft, maͤßig, vorſichtig, fleißig, ſo
ſeyd ihr auch immer bereit. Denn ihr ſeyd
keinen Augenblick vor dem Tode ſicher. Denkt
an dieſe Blumen, und vergeßt nicht, daß Gott
auch oft ſeine guten Urſachen habe, Kinder
fruͤhzeitig ſterben zu laſſen. Erinnert euch
nur, daß neulich in einer Stadt uͤber vier-
hundert Kinder an den Pocken geſtorben
ſind.


Die Kinder waren hierbey ſehr aufmerk-
ſam, und ſahen immer die verwelkten Bluͤm-
chen an. Unter dieſen Geſpraͤchen kamen ſie
bey dem Gottesacker vorbey. Ich daͤchte,
ſagte der Vater, wir giengen einmal dahin,
und beſuchten die Todten. Es iſt Kindern
nichts
[349] nichts heilſamer, als ſich oft ihrer Sterblich-
keit zu erinnern.


Glaubt es mir, liebſten Kinder! — glaubt
es eurem Vater, der ſchon ſo viele Erfahrun-
gen des menſchlichen Lebens hat — es hat
mich in meiner Kindheit und Jugend nichts
mehr vom Boͤſen zuruͤckgehalten, als wenn
ich dachte: Du koͤnnteſt in dieſem Augenblicke
ſterben. Wollteſt du wohl in und mit einer
boͤſen That ſterben?


Es hat mich auch nichts mehr zum Gu-
ten, zum Gehorſam gegen meine Aeltern und
Lehrer, zur Maͤßigkeit, zur Vorſichtigkeit, zur
Ehrlichkeit und Treue, und zu einer unge-
heuchelten Gottesfurcht ermuntert, als wenn
ich dachte: Wenn du ſo ſtuͤrbeſt, ſo koͤnnte
dich der liebe Gott doch nicht abweiſen. Du
duͤrfteſt dich nicht vor ihm fuͤrchten, und haͤt-
teſt ein gutes Gewiſſen.


Damals
[350]

Damals war ein Knabe aus der Nachbar-
ſchaft von zwoͤlf Jahren. Der ließ ſich von
andern boͤſen Buben verfuͤhren, mit aufs
Dorf in die Schenke zu gehen. Da wurde
geſpielt, geſoffen, geflucht, gelaͤrmt. Und
der arme Junge hatte ſo viel Branntwein
ſaufen muͤſſen, daß es ihm das Herz abſtieß,
und er todt ſeinen Aeltern ins Haus gebracht
wurde. Was der Tod dieſes jungen Men-
ſchen damals fuͤr einen Eindruck in mein
Herz machte, Kinder! das kann ich euch gar
nicht beſchreiben. Gott! dachte ich bey mir
ſelbſt, das iſt doch ganz erſchrecklich, ſo recht
in ſeinen Suͤnden — ſo recht durch das Boͤſe
ſelbſt, das man thut, zu ſterben, oder ſich
durchs Laſter zu toͤdten!


Es hat mich nichts mehr zur Geduld, zur
Gelaſſenheit, zur Zufriedenheit ermuntert, als
die oͤftere Vorſtellung des Todes. Es waren
mir einmal ein Paar Bruͤderchen geſtorben.
Ein
[351] Ein Paar allerliebſte bildſchoͤne Kinder. Ihr
Bild iſt mir noch immer vor den Augen.


Da dachte ich oft, wenn ich ſah, daß ſich
andere Kinder ſo ſchoͤn geputzt hatten, und
ſich wohl gar was drauf einbildeten: Wie
bald kann doch der Tod aller Schoͤnheit ein
Ende machen!


Da dachte ich oft, wenn mir bey meinem
Spielzeuge was entzwey gieng, oder wenn
nicht alles nach meinem Kopfe gehen wollte:
Es iſt vergaͤnglich, dacht’ ich, und wir muͤſ-
ſen alles hier laſſen, wenn wir ſterben.


So lernte ich in der Schule des Todes
das rechte A B C der Geduld, Demuth und
Zufriedenheit. Darinn lernte ich, wie ich
mein Herz nie zu ſehr an eine Sache haͤngen
ſollte, die mir lieb war. Hier lernte ich, wie
ich meine Begierden maͤßigen muͤßte, daß ſie
nie zu heftig wuͤrden.


O Kin-
[352]

O Kinder! das hat mir auf meine ganze
Lebenszeit gut gethan. Folget dem Exempel
eures Vaters, und denkt fleißig an den Tod.
Es wird euch eben ſo wohl thun, und ihr
werdet dadurch erſt lernen, wie ihr leben muͤſ-
ſet, wenn euch der Tod nicht fuͤrchterlich ſeyn
ſoll.


Kommt, nun laßt uns auf den Kirchhof
gehen.


LXX.
[353]

LXX.
Der Gottesacker.


Sie giengen durch das weite Thor deſſel-
ben, das mit Geraͤthſchaften des To-
des, Sarg, Spaden, Hacken, Bretern und
Stricken, bezeichnet war. Da waren nun
viele hundert Graͤber, mit und ohne Leichen-
ſtein. Kein Schritt, wo nicht ein Grabhuͤgel
war, und wo nicht Todtengebeine ruheten.
Hie und da ein Baͤumchen. Viele noch friſche
Graͤber, große und kleine. Die meiſten ſchon
mit Gras, Blumen und Mooß bewachſen.


Wer mag wohl unter dieſem Erdhaufen
liegen? fragte der Vater. Wer kann das
wiſſen? Und wenn der Todte, der hier ſchlaͤft,
ausgegraben wuͤrde, und er waͤre mein Vater
geweſen, ſo wuͤrde ich ihn doch nicht kennen.
Knochen, Staub, Erde und Aſche wuͤrden
IITheil. Zwir
[354] wir finden. Sonſt nichts, gar nichts. O Kin-
der! was iſt der Menſch im Grabe?


Seht ihr nun wohl, daß man ſich auf
Ehre, Reichthum, Stand und Wuͤrden, auf
die Vorzuͤge ſeiner Geburt nichts einbilden
kann? Hier ſind alle Staͤnde gleich. Der
Koͤnig ſo viel, als der Bettler. Wenn auch
hier ein Koͤnig begraben laͤge, wer wuͤrde ihn
herausfinden koͤnnen? Ach! was iſt der Menſch
im Grabe?


Indem kamen ſie an das Knochenhaus,
worinn die ausgegrabenen Knochen und Hirn-
ſchaͤdel aufbewahret werden. Das mußten
denn die Kinder alles recht eigentlich beſehen.
Seht einmal, ſprach der Vater, dieſen Kopf
hier. Das mag wohl ein vornehmer, reicher
und gelehrter Mann — dieſer Kopf aber ein
armer geringer Menſch geweſen ſeyn. Die
Kinder ſahen ſich einander an, und ſagten:
Da
[355] Da iſt kein Unterſchied. Und hier ſeht ihr alle,
erwiederte der Vater, euer kuͤnftiges Bild.
Was dieſe ſind, muͤſſen wir alle uͤber kurz
und lang werden. Und wer weiß, wie bald?
Das lehre euch, Gott fuͤrchten, demuͤthig
ſeyn, und Gutes thun.


Ach! was ſteht denn da? riefen die Kin-
der, da ſie an einen Bogen an der Mauer ka-
men. Das ſind ja Saͤrge. Wie ſie aufge-
platzt ſind! Aber das iſt doch erſchrecklich,
die Todten nicht zu begraben! Was ſteht
denn da an der Tafel?


„Dieß ſind zwey Bruͤder, die ſich vor
funfzig Jahren beym Spiel verunei-
niget, und ſich beyde im Zorn einan-
der ſelbſt erſtochen haben. — Der
jungen Nachwelt zur Warnung hier
unbegraben.“


Z 2Die
[356]

Die Kinder kehrten ihr Geſicht weg, und
weinten. Da ſeht ihr, ſprach der Vater,
wozu die Leidenſchaften, Spielſucht, Zorn,
Wuth und Rache, den Menſchen bringen
koͤnnen. Da verwandeln ſich ein Paar Bruͤ-
der gegen einander in grauſame Loͤwen, viel-
leicht um einiger Groſchen willen, und ruhen
nicht eher, bis ſie ſich beyde ermordet haben.
Wolltet ihr auch wohl ſo unter einander wer-
den? — Andern zum Abſcheu und zur War-
nung ſtehen ſie hier unbegraben.


O Vater! riefen die Kinder, laſſen Sie
uns hier weggehen. Den Anblick koͤnnen wir
nicht laͤnger ausſtehen.


LXXI.
[357]

LXXI.
Die Grabſchrift eines guten
Kindes.


Sie giengen nun von einem Grabe, von
einem Leichenſtein zum andern. Die
Kinder ſuchten immer die kleinen Graͤber. Denn
darinn lagen die Gebeine der Kinder. Hier,
ſprach der Vater, mag ſchon manches gute
und boͤſe Kind vermodert ſeyn — ſchon man-
che Vater- und Mutterthraͤne geweint ſeyn!


O hier! rief Karl, was ich hier gefunden
habe! Kommen ſie doch alle her. Das iſts
werth, daß ſie das alle leſen, was an dieſem
Leichenſteine ſteht. Da lief alles nach dem
Leichenſteine.


Es war eine kleine niedliche Pyramide. In
dem einen Felde ſtand der Name:
Z 3Emilia
[358]Emilia Karolina von Tugendheim,
und das Alter von 12 Jahren.


Im zweyten Felde eine verwelkende Pflan-
ze, mit der Ueberſchrift: Wie eine Blume des
Graſes.


Im dritten die aufgehende Sonne mit der
Inſchrift aus dem Buch der Weisheit
Kap. 8. v. 19. 20.


Ich war ein Kind guter Art, und
habe bekommen eine feine Seele.
Da ich aber wohl erzogen war,
wuchs ich zu einem unbefleckten
Leibe
.


Das klingt anders, ſagten die Kinder alle,
als dahinten an der Tafel.


O du gutes Kind! wer du auch geweſen
biſt, ſprach Emilie, ich freue mich, daß du
meinen Namen gefuͤhret haſt. Du biſt ſchon
einige
[359] einige zwanzig Jahre aͤlter in deinem Grabe,
als ich gelebt habe — Und ich muß dir noch
gut ſeyn. Ruhe wohl, gutes Kind! der liebe
Gott bewahre deine Gebeine.


Ein Paar Thraͤnen fielen aufs Grab, und
die Kinder ſammleten Blumen von dieſer Staͤt-
te, die ſie zum Andenken dieſes guten Kindes
aufheben wollten.


Was denkt ihr? Was empfindet ihr, lie-
ben Kinder! ſprach der Vater, bey dieſer
Grabſchrift? Gewiß haben die Aeltern dieſes
liebe Kind nicht gerne verloren, und zu ſeiner
Ehre dieſe Inſchrift ſetzen laſſen.


O ein Kind guter Art! Ein Kind mit’ einer
feinen Seele! Das konnte gewiß keine andere
als recht gute, feine, tugendhafte und from-
me Geſinnungen haben. Nothwendig mußte
es das Herz gehabt haben, das Chriſtus ſo
gerne haben will, wenn er ſagt: Wir ſollen
Z 4Gottes
[360] Gottes Wort bewahren in einem feinen
guten Herzen
, und Fruͤchte bringen in
Geduld.


O! das gute Kind hatte ſie ſchon getra-
gen, dieſe Fruͤchte, und hatte ſich gut erziehen
laſſen. Daher war es ſchon aufgewachſen zu
einem unbefleckten Leibe, oder zu einem tugend-
haften und unbefleckten Leben, und ſeine Ael-
tern hatten ſchon viele Freude an ihm ge-
ſehen.


Welche Ehre! Welcher Nachruhm auch
nach dem Tode! Welches Muſter der Nach-
folge noch fuͤr alle Kinder! Welche Freude
der Aeltern, ein ſolches Kind gehabt zu ha-
ben! — Und zugleich, welcher Troſt fuͤr ſie,
bey ſeinem Tode, ein ſolches Kind, da es
ſtarb, in Gottes Haͤnde gegeben zu haben!


O lieben Kinder! die ihr noch lebt, denkt
fleißig an dieſes gute Kind; ſo werdet ihr
auch
[361] auch die feine Seele bekommen, euch wohl
erziehen laſſen, und zu einem unbefleckten Le-
ben aufwachſen. Eure gute Aeltern, wie ihr
ſelbſt wißt, wollen euch gerne wohl erziehen.
Was iſt nun beſſer, durch die Tugend, und
durch einen guten Nachruhm, noch nach dem
Tode zu leben, wie dieß gute Kind, oder wie
jene boͤſe Bruͤder verabſcheuet zu werden?


Die Kinder waren ſo geruͤhrt, daß ſie
nicht gleich von der Pyramide wegkommen
konnten. Dich werden wir, ſprachen Karl und
Emilie, gewiß alle Woche einmal beſuchen.
Ich will dein Grabmal in mein Zeichenbuch
malen, ſetzte dieſe hinzu. Lebe wohl, du
Kind guter Art! Gott erfreue deine feine
Seele! —


Sie giengen hierauf nach Hauſe. Unter-
weges aber ſagten ſie: Emiliens Grab waͤre
ihnen immer noch vor den Augen.


Z 5O! es
[362]

O! es bleibe das Andenken dieſes guten
Kindes, ſprach der Vater, auch ſtets in eurem
Herzen.


Denkt an Emiliens Grab, wenn euch eine
boͤſe Luſt reizen und verfuͤhren will, und ihr
werdet ſie nicht vollbringen.


Denkt an Emiliens Grab, wenn ihr euch
Kinderfreuden macht; wenn ihr ſpielt, tanzt,
ſpringet und luſtig ſeyd. Was ſagt euer lie-
ber Gellert, der auch noch durch ſeine Tu-
gend lebt, wenn er gleich todt iſt:
Kann deine Luſt ſein (des Todes)
Bild vertragen,
So iſt ſie gut und unſchuldsvoll
.


Denkt an Emiliens Grab, wenn euch eure
liebe Aeltern warnen, und zum Guten ermah-
nen. Folget ihrem Exempel, und beweiſet
euch auch als Kinder guter Art, daß eure
Seelen
[363] Seelen immer feiner, immer beſſer geſinnet
werden.


O! Emilie lebt noch. Auch fuͤr euch lebt
es noch, dieß gute Kind. Sie iſt als eure
unſichtbare Freundinn, durch ihr gutes Bey-
ſpiel, immer bey euch. Sie begleitet euch,
wenn ihr aufſtehet, wenn ihr in die Schule
geht, wenn ihr ſpielet, wenn ihr euch freuet,
wenn ihr euch zu Bette legt — auch wenn
ihr krank und traurig ſeyd. Ach! ſie begleite
euch in eurem ganzen Leben, bis ihr ſterbet.
Und ſo oft ihr das Grab dieſes guten Kindes
wieder beſuchet, ſo gehet mit dem Vorſatz
zuruͤck:
Lebe, wie du, wenn du ſtirbſt,
Wuͤnſchen wirſt, gelebt zu haben
.


Und nun, meine lieben Kinder! noch ein
Wort. Ich habe in der Welt nichts liebers,
als euch, meine Kinder! Das wißt ihr. Ihr
ſeyd
[364] feyd mein Reichthum, meine Ehre, meine
Freude. Gott weiß es, wie herzlich ich euer
Leben wuͤnſche; wie ſehr ich mich freuen wuͤr-
de, euch zu einem unbefleckten Leben, und zu
guten Menſchen groß zu ziehen.


Sollte es aber Gott gefallen, eins von
euch in dieſen fruͤhen Jahren mir abzufordern,
ſo gebe Gott, daß ich mich eben dadurch
uͤber ſeinen Tod troͤſten moͤchte, daß ich ihm
Emiliens Grabſchrift ſetzen koͤnnte:
Es war ein Kind guter Art, und
hatte bekommen eine feine Seele
.


[][][]
Notes
*)
Siehe das erſte Baͤndchen S. 76.

Dieses Werk ist gemeinfrei.


Rechtsinhaber*in
Kolimo+

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2025). Collection 1. Zeitvertreib und Unterricht für Kinder vom dritten bis zehnten Jahr in kleinen Geschichten. Zeitvertreib und Unterricht für Kinder vom dritten bis zehnten Jahr in kleinen Geschichten. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bhpv.0