durch das geiſtige, ſoziale und religiöſe Leben
des japaniſchen Volkes.
Druck und Verlag von A. Haack.
1898.
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durch das geiſtige, ſoziale und religiöſe Leben
des japaniſchen Volkes.
Druck und Verlag von A. Haack.
1898.
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Vorwort.
Die nachfolgenden „Wanderungen“ wollen dazu beitragen,
ein wirkliches Verſtändnis des japaniſchen Volkes herbeizu-
führen. Das Buch iſt ein Verſuch, ein Geſamtbild der
japaniſchen Geiſteskultur zu zeichnen und das „Yamato-
damashii“ d. i. das eigenartige Seelenleben des Japaners
auch in ſeinen verborgenen Tiefen zu ergründen. Wenn nun
aber hierin die große Schwierigkeit der Aufgabe ſofort ge-
geben iſt, ſo beſteht doch kein Grund, vor ihrer Löſung zu-
rückzuſchrecken. In Oſtaſien, wo die ganze geiſtig-ſittliche
Erziehung ſeit Jahrtauſenden auf die ausgeprägte Heraus-
bildung der Volksindividualität unter Vernachläſſigung der
Einzelindividualität hinausging, ſind Charakter und Eigenart
der Völker an ſich ſchon viel deutlicher erkennbar als bei den
Völkern Europas. Kein Beruf aber dürfte beſſere Gelegen-
heit bieten, dieſe Eigenart kennen zu lernen, als der Beruf
eines Miſſionars. Dieſer mein Beruf hat mich veranlaßt,
die Sprache des Landes nicht nur zu erlernen, ſondern zu
ſtudieren. Er hat es mir zur Pflicht gemacht, mich mit der
Litteratur und Geſchichte des Volkes bekannt zu machen. Er
hat mich in enge Berührung mit allen Schichten und Ständen
der Bevölkerung, vom Miniſter bis zum Bettelmann, gebracht
und hat mir das ſchwer zugängliche Innere des japaniſchen
Hauſes und der Familie geöffnet. Als Lehrer der Litteratur,
[] Philoſophie und Theologie war ich in der Lage, die Gedanken-
bildung des Japaners unmittelbar zu beobachten, und in
meiner ſeelſorgerlichen Thätigkeit durfte ich Blicke in Herzens-
tiefen thun, welche dem europäiſchen Kaufmann und Lehrer
zumeiſt verſchloſſen ſind. Es dürfte alſo einem Buche wie
dieſem zur Empfehlung gereichen, einen Miſſionar zum Ver-
faſſer zu haben.
Auf das religiöſe Leben, vorab auf die chriſtliche Miſſion,
iſt mit beſonderer Ausführlichkeit eingegangen; und ſo ſehr
ſich das Buch auch an das allgemeine Intereſſe eines jeden
Gebildeten wendet, ſo wage ich es doch, Miſſionskreiſen
gegenüber für dasſelbe den Anſpruch zu erheben, daß es ein
Miſſionsbuch iſt. Denn ein inneres Verſtändnis für die
Miſſion läßt ſich nur dann gewinnen, wenn dieſelbe im Zu-
ſammenhang mit der geſamten Geiſteskultur dargeſtellt wird.
Daß meine „Wanderungen“ immer zu unbeſtritten rich-
tigen Zielen führen, maße ich mir nicht an. Der Ausführung
einer ſo ſchwierigen Aufgabe kleben naturgemäß Mängel an,
welche der freundlichen Nachſicht des Leſers bedürfen. Wenn
aber diejenigen, welche an den „Wanderungen“ teilnehmen,
dem Buche die Anerkennung zollen, daß es mit Erfolg be-
müht iſt, ſich auf dem rechten Wege zu halten, ſo werde ich
dafür aufrichtig dankbar ſein.
Sauſenheim, Pfalz, im September 1898.
Carl Munzinger.
[]
Inhalt.
Seite
- I. Die äußere Lebensführung eines Miſſionars in Japan 1
- II. Die Sprache 25
- III. Geiſtesleben und Erziehungsweſen 62
- IV. Temperament und Gefühlsleben 96
- V. Familienleben und Sittenlehre 127
- VI. Nationales und politiſches Leben 156
- VII. Religiöſes Leben: Shintoismus 186
- VIII. Der Buddhismus 217
- IX. Die Entwicklung der evangeliſch-chriſtlichen Miſſion 260
- X. Die Einzelbekehrung 302
- XI. Die Gemeinde, ihre Qualität und ihr inneres Ge-
triebe 334 - XII. Die Volksbekehrung 380
I. Die äußere Lebensführung eines Miſſionars
in Japan.
Was iſt ein Miſſionar? Unter der heißen
Sonne Afrikas wandert im Wüſtenſtaube
einſam ein bärtiger Mann. Aus der Ferne
winken die Hütten eines Negerdorfes, im Schatten liegen
die Bewohner. Dahin richtet der Mann ſeine Schritte.
Man bemerkt ihn, ſein weißes Geſicht erregt die Neugier,
das ganze Dorf kommt in Bewegung. Auf einem freien
Platze macht der weiße Mann halt, jung und alt ſtrömt
dahin zuſammen, und er fängt an zu predigen. Er bleibt
die Nacht über da, vielleicht, wenn man ihm freundlich
begegnet, auch noch ein paar Tage länger; dann aber
ſchüttelt er den Staub von ſeinen Füßen und beginnt
aufs neue ſeine Wanderung. Unterwegs überholt er eine
Karawane. Er iſt froh, ſich anſchließen zu dürfen; denn
zur Rechten hauſt ein räuberiſcher Volksſtamm und zur
Linken iſt man nicht ſicher vor den Tieren der Wild-
nis. Er benutzt die Gelegenheit, um ſeinen Begleitern
von Jeſus zu erzählen, und bei ſeinem Abſchied be-
ſchenkt er ſie mit chriſtlichen Traktaten.
Das iſt ſo ungefähr das Bild, welches man immer
noch in weiten Kreiſen bei einem Miſſionar im Auge
hat: Ein Mann, welcher, beſtändiger Lebensgefahr aus-
geſetzt, gequält von Hunger und Durſt, geplagt von
Wind und Wetter, bedroht von menſchlichen Feinden,
1
[2] von wilden Tieren und giftigen Schlangen, von Fieber
und Cholera, ruhelos wandert von einem Ort zum andern,
um mühſelig hier und dort ein Samenkorn zu ſäen,
von dem er doch nicht weiß, ob nicht der Wüſtenſturm
es verwehen, ob es nicht an der Wüſtenſonne vergehen
wird. Mit dieſem Bild, wie es vielleicht noch zu Li-
vingſtones Zeiten als typiſch gelten durfte, hat der
moderne Miſſionar kaum noch entfernte Ähnlichkeit. Auch
für den Miſſionar ſind heute die äußeren Lebensverhält-
niſſe mehr oder weniger geordnete geworden faſt auf
allen Miſſionsgebieten. In Japan wohl am meiſten.
Dort iſt der äußere Lebensrahmen ſehr wenig verſchie-
den von dem unſrigen hier.
Vor allem iſt es ſchon nichts weniger als ein un-
wirtliches Land, nach welchem der Miſſionar hier geſchickt
wird. Mit dem Volk, welchem es hier zu wohnen ver-
gönnt iſt, kann es Gott wahrlich nicht böſe gemeint haben.
Nippon 1), d. h. Sonnenaufgang, nennt der Japaner mit
Stolz ſein Land, und wer es kennt, der weiß, daß der
Name trefflich gewählt iſt; der wundert ſich nicht mehr,
[3] warum die nationale Religion des Shintoismus die
Sonne als die höchſte Gottheit bezeichnet. Es iſt ein
Sonnenland in des Wortes ſchönſter Bedeutung.
Die Natur, welche im Winter nur kurze Zeit ruht,
wird ſchon früh durch die Strahlen der Sonne zu neuem
Leben geweckt. Schon Ende Februar blühen die Pflau-
menbäume, und Ende März entfaltet der Kirſchbaum
ſeinen wunderbar ſchönen Blütenſchmuck. Vom Früh-
ling bis tief in den Winter ſind Wald und Feld in
einen Garten verwandelt. In allen Farben ſchimmern
die Blumen. Was in Deutſchland mühſam in Treib-
häuſern gezüchtet wird, wächſt hier wild. Manchmal
wenn ich im Walde ſpazieren ging, blieb mein Blick
ſinnend haften auf der Schönheit ringsum. Erſt als
ich in Japan die Lilien auf dem Felde ſah, lernte ich
das Jeſuswort recht verſtehen: „Schauet die Lilien auf
dem Felde an; ich ſage euch, daß auch Salomo in aller
ſeiner Herrlichkeit nicht bekleidet geweſen iſt als derſel-
ben eine“. Dazwiſchen wiegen ſich die Schmetterlinge
und all das bunte Leben, welches ſich in unſerer hei-
miſchen Natur regt, findet ſich auch hier. In den
Zweigen der Waldbäume vergnügen ſich Affen in ihren
Kletterkünſten, und Haſe und Truthahn entfliehen vor
dem Nahen des menſchlichen Schrittes. Keine Gefahr
wilder Tiere bedroht den Wanderer; denn nur wenig
an Zahl ſind die giftigen Schlangen, und der wilde
Bär hat ſich zurückgezogen in die unwirtlichen Wälder
des Nordens. Anmutig und friedlich iſt das Leben der
Tiere. Und über all dem wölbt ſich ſchwarzgrün das
ſchützende Dach des Fichtenbaumes oder die himmelan-
ſtrebende, majeſtätiſche Ceder.
Doch nicht im kleinen nur, nein auch im großen
iſt Japan ein ſchönes Land; nicht großartig zwar
1*
[4] wie die Schweiz, ſondern mehr romantiſch und lieb-
lich wie die Ufer des Rheins. Grüne Thäler,
von Flüſſen durchzogen, wechſeln ab mit romanti-
ſchen Gebirgslandſchaften, und zwiſchen dunkeln Bergen
eingeſchloſſen liegen herrliche Seen. Hunderte von Fuß
hoch ſtürzen ſich rauſchende Waſſerfälle herab, um als
friedlich murmelnde Bäche weiter zu wandern. Von
allen Seiten des Landes erglänzt weit hinaus das ewige
Meer. Der größte Stolz des Japaners aber iſt der
Fujinoyama, der in dem Herzen des Landes mitten
aus der Ebene heraus, nur wenig niedriger als der
Montblanc, majeſtätiſch ſich erhebt und mit ſeiner ſchnee-
bedeckten Kuppel weit hinausſchaut als ein treuer
Hüter über Land und Meer.
Aber mit dem Schönen lieblich vereint iſt das
Nützliche. Die japaniſche Erde iſt nicht nur ſchön, ſie
iſt auch fruchtbar. Zwar ſind die Gaben, welche ſie
beſchert, meiſt ganz anderer Natur als in Deutſchland 1).
An Obſt bringt ſie verhältnismäßig wenig hervor, am
meiſten noch Orangen, Kaki und Feigen. Äpfel und
Birnen gedeihen nur auf der Nordinſel Yezo, und auch
hier nicht zum beſten, die Kirſchen blühen zwar, tragen
aber keine Früchte, und die Weintraube hat man ver-
gebens verſucht anzupflanzen. Um ſo reicher aber ver-
gilt die Reisernte dem Landmann ſeine Mühe. Der
Reis bildet weitaus das Hauptprodukt, neben welchem
andere Getreidearten wie Hafer, Gerſte und Weizen
bedeutend zurückſtehen. Die Kartoffel wird nur ſehr
[5] ſpärlich gebaut. Dagegen gedeiht der Thee prächtig,
und auch Tabak wird nicht wenig gepflanzt. In manchen
Gegenden ſieht man große Maulbeerpflanzungen zur
Nahrung für den Seidenwurm; denn die Seideninduſtrie
bildet einen Haupterwerbszweig. Der Ertrag der
Baumwolle iſt nicht unbedeutend. An Nutzholz iſt
Überfluß. Sehr brauchbar iſt der Bambus. Wieſen
und Kleefelder giebt es ſo gut wie nicht. Viehzucht
wird faſt gar nicht getrieben. Der Grund und Boden
iſt klein parzelliert, ſo daß man weder zur Bewirt-
ſchaftung der Felder noch zum Nachhauſebringen der
Ernte der Zugtiere bedarf. An den Ufern der See hat
der Fiſcher ſein lohnendes Tagewerk, da die Gewäſſer
reichlich bevölkert ſind. Die Jagd wird mehr aus Lieb-
haberei denn als Erwerbszweig betrieben. Auch aus
dem Innern der Erde werden Schätze gehoben; es giebt
Kohlenbergwerke und Kupferminen, doch iſt das Land
arm an edeln Metallen. Warme Mineral- und Schwefel-
quellen finden ſich in Menge, und von den Kranken des
Landes werden ſie fleißig beſucht. In der Ebene reiht
ſich Dorf an Dorf und an den Ufern der See liegen
blühende Städte. Fürwahr ein reich geſegnetes Land,
das ſeine 40 Millionen Einwohner wohl zu ernähren
weiß.
Auch das Klima iſt nicht ſchlecht. Zwar iſt der
Sommer etwas zu heiß, nicht minder heiß als unter
dem Äquator, ſo daß man gern die leichteſten weißen
Kleider anzieht, die man auftreiben kann; und auch der
Winter iſt nicht ganz nach unſerm Geſchmack, da er zwar
nicht viel Eis und noch weniger Schnee bringt, wohl
aber beſtändige, Mark und Bein durchdringende, ſchnei-
dende Nordwinde vom nördlichen Eismeer und den
Steppen Sibiriens her, ſo daß einem ein Pelzmantel
[6] hier ebenſo gute Dienſte thun würde wie in dem eiſigen
Rußland. Aber welches andere Miſſionsfeld bietet
denn überhaupt die geſundheitsfördernde Abwechslung
zwiſchen Sommer und Winter und welcher Miſſionar
möchte die paar Unannehmlichkeiten nicht gerne mit in
Kauf nehmen! An Regen hat Japan keinen Mangel.
Es regnet wohl doppelt und dreifach ſoviel als in
Deutſchland, beſonders in der Regenzeit im Juni und
Juli. Da iſt die Luft ſo von Feuchtigkeit geſchwängert,
daß das Salz zerfließt und alles Lederzeug, Stiefel und
Handſchuhe, ſich binnen weniger Stunden mit Schimmel
überzieht. Die ſchönſte Zeit iſt der Herbſt, wo bei
milder Luft der Himmel monatelang rein und klar iſt.
Da erſcheint Japan ſo recht als das Sonnenland, von
ſolch hellem Licht überflutet, wie es in unſerer Heimat
faſt undenkbar iſt.
So iſt alſo Japan ein geſundes Land. Der Auf-
enthalt daſelbſt bekommt dem Europäer prächtig, ſolange
er maßvoll lebt und im Genuß alkoholiſcher Getränke
nicht ausſchweifend iſt. Zwar ſind epidemiſche Krank-
heiten nicht ſelten; aber von Jahr zu Jahr nehmen ſie
an Gefährlichkeit ab, da die Regierung durch die um-
ſichtigſten hygieniſchen Maßregeln erfolgreich gegen ſie
ankämpft. Wenn ein Miſſionar in China, welchem die
Aufreibung der Arbeit und die Unbill des Klimas die
Geſundheit zerſtört haben, ſich erholen will, ſo geht er
nach Japan, und unter den Tauſenden von Reiſenden,
welche alljährlich nach ſeinen freundlichen Geſtaden kom-
men, iſt nicht einer, der nicht entzückt wäre von ſeiner
Lieblichkeit und Anmut. Aus mehr als einem begeiſter-
ten Hymnus heraus hört man’s hindurchklingen: Hier
iſt gut ſein, hier möcht’ ich mir Hütten bauen!
Freilich, wo ſo viel Licht iſt, da kann es auch an
[7] Schatten nicht ganz fehlen. Und Japan hat ſeine
Schattenſeiten. Das japaniſche Meer iſt ſtürmiſch.
Der Reiſende, welcher von Europa herkommt, hat in
der Regel in den japaniſchen Gewäſſern ſeine ſchlechteſte
Fahrt. An Fiſcherkähnen und großen Schiffen fordert
das Ungetüm alljährlich große Opfer. Manchmal auch
wälzt es ſich über weite Strecken des Landes und
ſchwemmt Häuſer und Felder hinweg. So ergoß ſich
Ende 1896 eine Flutwelle weit hinein in das Land
und verſchlang ganze Dörfer und Städte in ihren
Waſſern und bereitete 27 Tauſend Menſchen ein naſſes
Grab. Was am Abend zuvor noch ein blühendes
Paradies geweſen, lag am nächſten Morgen da als
das Tohuwabohu eines wüſten Leichenfeldes. Unheim-
lich nicht allein zur See, ſondern auch für die Be-
wohner des Landes ſind die Taifune, jene ſchrecklichen
Stürme, welche durch furchtbare Gewalt Schiffen und
Häuſern gleich gefährlich werden. Ein betäubendes
Heulen erfüllt die Lüfte und alle Gewalten der Hölle
ſcheinen losgelaſſen. Deutſchland wird es noch lange
nicht verſchmerzen, daß unſer Kanonenboot Iltis in
einem ſolchen Taifun ſeinen Untergang fand. Als die
traurige Kunde von dem Verluſte des mir wohlbe-
kannten Schiffes kam, gedachte ich mit Wehmut der
Erzählungen unſerer wackeren Seeleute, wie ſie ſich
freuten, wenn ſie auf dieſer Nußſchale von einem Schiff
ſich wieder einmal glücklich durch die Wellen zwiſchen
China und Japan hindurch gearbeitet hatten, und wie
ſie beſorgten Herzens zu neuer Fahrt ſich anſchickten.
Nun hat ſich ihr trauriges Geſchick erfüllt.
Nicht minder ſchlimm ſind die Vulkane. Japan
iſt das Land der Vulkane. Bei einer Statiſtik der
Vulkane der Erde ſteht Japan mit obenan. Jahr-
[8] zehntelang ruhen ſie und wiegen die Umwohner in
Sicherheit. Im Schoße der Berge aber arbeitet die
unheilbringende Kraft raſtlos weiter, bis ſie endlich,
wenn man es am wenigſten vermutet, zum verheerenden
Ausbruch kommt. Erdbeben ſind ſehr häufig. Im
Oktober 1891 fand in dem Centrum des Landes eins
ſtatt, bei welchem 10 000 Menſchenleben vernichtet und
über 100 000 Häuſer in Schutt und Aſche gelegt wurden.
Weitaus die meiſten Erdbeben ſind gänzlich harmlos,
aber ſie rufen ein läſtiges Gefühl der Unſicherheit her-
vor. Der Gedanke drängt ſich gar zu leicht auf: Noch
ein paar Millimeter höher und auch um mein Haus
und mein Leben könnte es geſchehen ſein. Es giebt
wenig Europäer, die nicht allmählich nervös gegen
Erdbeben werden. Ich ſelbſt machte mir jahrelang
blutwenig aus Erdbeben, bis zum Sommer des Jahres
1894. Damals ſchickte mich der Arzt, ein deutſcher
Profeſſor der Medizin an der Univerſität zu Tokyo,
wegen Krankheit auf das Land. Ich war allein in
einem Raum der Eiſenbahn und lag lang ausgeſtreckt
auf dem Sitze. Plötzlich ein Ruck — und ich lag am
Boden. Der Wagen ſchwankte bedenklich hin und her,
ſo daß ich nicht anders meinte, als daß es ſich um
eine Entgleiſung handele. Auf der nächſten Station
aber erfuhr ich, daß es ein Erdbeben geweſen ſei. An
einer Stelle, die wir gerade paſſiert hatten, war der
Schienenſtrang entzwei geriſſen, in Tokyo und Yokohama
waren eine Anzahl Häuſer zuſammengefallen, unter
anderen war auch das deutſche Geſandtſchaftsgebäude
zerſtört worden. Eine Woche ſpäter mußte ich, am
Typhus erkrankt, in das deutſche Marinelazarett nach
Yokohama. Das Lazarett, welches vom Reich unter-
halten wird, iſt urſprünglich eingerichtet für kranke
[9] deutſche Seeſoldaten in Oſtaſien, doch finden in ihm
auch private Kranke gegen Bezahlung Aufnahme. An
der Spitze ſteht ein Marineſtabsarzt; ein deutſcher
Lazarettinſpektor und zwei deutſche Lazarettgehilfen ſind
ihm beigegeben. An dem Gebäude waren infolge des
vorerwähnten Erdbebens die Kamine eingefallen, und
es war unheimlich genug zu hören, wie dieſelben nun
wieder ausgebeſſert wurden. Da, in einer Nacht um
elf Uhr, kam wieder ein ziemlich ſtarkes Erdbeben.
Alle Kranke, ſoweit ſie nur noch kriechen konnten,
machten ſich flugs aus ihren Betten und ſo raſch wie
möglich hinaus in das Freie. Ich aber konnte weder
gehen noch kriechen, hilflos preisgegeben der rückſichts-
loſen Naturgewalt lag ich da. Zwar ging alles gnädig
ab, aber von Stund an war ich nervös gegen Erd-
beben.
Man ſieht, ein Erdbeben iſt gerade kein Spaß,
aber wer einmal in Japan geweſen iſt, der möchte
auch gern eines erlebt haben. So ging es auch einem
Marinepfarrer, welcher vor einigen Jahren mit einem
deutſchen Geſchwader nach Yokohama kam. Sein
Sehnen nach einem Erdbeben ſollte bald geſtillt wer-
den. Eines Sonntags vertrat er den deutſchen Geiſt-
lichen in unſerer evangeliſchen Gemeinde zu Tokyo.
Eine ſtattliche Perſönlichkeit, groß und ſtark, welcher
der Lebensmut aus den Augen leuchtete, der man
es anſah, daß ſchon mancher Sturm über ſie hin-
weggebrauſt war! Mit kräftiger Stimme hob er an,
und es paßte trefflich zu dem ganzen Mann, als
er die tapferen Worte ſprach: „Der Chriſt fürchtet
ſich nicht, ob auch Berge weichen und Hügel hinfallen“.
Da mit einem Mal, mitten in der Predigt drin, be-
gann es unter ſeinen Füßen dumpf zu rollen, die Erde
[10] erbebte, die Wände wankten und die Fenſterſcheiben
klirrten — und mit dem Mute des eben noch ſo tapferen
Pfarrers war es vorbei, mit fliegendem Talar ſtürzte
er herab von der Kanzel dem Ausgang zu. In Deutſch-
land mag der Prediger ruhig die kühnſten Worte in
den Mund nehmen; er darf beruhigt ſein, daß ſein
Mut auf ſolche Weiſe nicht auf die Probe geſtellt wird.
In Japan aber darf er nicht vergeſſen, daß er ſich
auf vulkaniſchem Boden befindet.
Das ſind nun freilich Dinge, die ſich bei allem
Humor doch gefährlich genug anhören. Die Erfahrung
aber lehrt, daß ſie in Wirklichkeit ſo gefährlich nicht
ſind. Thatſächlich habe ich von keinem einzigen Europäer
gehört, der bei einem Erdbeben um das Leben ge-
kommen wäre. Der Miſſionar darf alſo ohne große
Angſt hinübergehen und darf feſt überzeugt ſein, daß
ihm mit Bezug auf das Land ein köſtliches Los ge-
fallen iſt, ſo köſtlich wie es ihm auf keinem andern
Miſſionsfeld geworden wäre.
Aber noch manche andere große Annehmlichkeiten
findet er hier.
Der Miſſionar in Japan hat ſeinen feſten Wohnſitz.
Das iſt ja heute ſo ziemlich überall ſo, und wenn uns
von Miſſionaren in China erzählt wird, daß ſie all-
jährlich monatelang auf Miſſionsreiſen unterwegs ſind,
ſo klingt das uns modernen Miſſionsleuten wie eine
Geſchichte aus längſt entſchwundener Zeit. Der wan-
dernde Miſſionar hat ſich überlebt, hat ſich im Lauf
der Zeiten als eine unzweckmäßige Einrichtung heraus-
geſtellt. Schon bei dem Vorbild aller chriſtlichen Send-
boten, dem Apoſtel Paulus, hat man darauf hingewieſen,
daß die Gemeinden, welche er gewiſſermaßen auf der
Durchreiſe gründete, ſpäterhin nicht mehr erwähnt werden.
[11] Man hat vermutet, daß die chriſtliche Grundlage doch
zu ſchwach war, um auf die Dauer ſtand zu halten;
und wenn es ſchon der eindrucksvollen geiſtesmächtigen
Perſönlichkeit des Paulus ſchwer war, in wenigen Tagen
nachhaltige Bekehrungen zu bewerkſtelligen, ſo iſt das
anderen Miſſionaren geradezu unmöglich. Die Unhalt-
barkeit dieſer Methode hat ſich vollends erwieſen in der
Jeſuitenmiſſion des Franziskus Xaver. Sein brennen-
der Miſſionseifer, der ihn von einem Ort zum andern
trieb, ſeine ſchallende Miſſionsparole „amplius amplius“
(„weiter, weiter“) iſt an ihm ſelbſt und ſeinen Nach-
folgern durch den radikalen Zuſammenbruch ſeines
Werkes fürchterlich zu ſchanden geworden. Die Sauer-
teigsbedeutung des Chriſtentums hatte man überhaupt
nicht gekannt und ſeine Senfkornnatur war gründlich miß-
verſtanden worden. Heute iſt das anders. Nicht in die
Weite geht heute der Miſſionsweg, ſondern in die Tiefe,
nicht vielen etwas bieten iſt das nächſte Ziel, ſondern
einzelnen alles bieten. Darum ſchweift der Miſſionar
heute nicht in die Weite, vielmehr bleibt er an einem
und demſelben Ort, um an einzelnen intenſiv zu arbeiten.
Nicht als ob das einſeitig gehandhabt werden ſollte,
als ob der Miſſionar an einen und denſelben Ort ge-
bannt wäre. Vielmehr darf und ſoll er ab und zu ſeine
kleinen Miſſionsreiſen unternehmen. Auch in Japan.
Und hieran wurde er auch durch die bis jetzt beſtehende,
aber binnen kurzem außer Kraft tretende Beſtimmung
nicht gehindert, daß das Innere des Landes dem Fremden
verſchloſſen ſei. Zu körperlicher Erholung und zu
wiſſenſchaftlichen Unterſuchungen hat die japaniſche
Regierung ſtets Päſſe an irgend einen Ort des Landes
ausgeſtellt, ſie hat das aber auch dann gethan, wenn es
ſich offenkundig um miſſionariſche Zwecke, um Propa-
[12] ganda- oder Inſpektionsreiſen handelte. Und ruhig
darf der Miſſionar ſeine Reiſe antreten. Keine menſch-
lichen Feinde bedrohen ihn. In der letzten verlorenen
Hütte in dem abgeſchiedenſten Winkel des Gebirges legt
er ſich des Abends getroſt zum Schlummer nieder, ſein
Haupt iſt ebenſo ſicher wie das des Fürſten von Schwaben,
des Grafen Eberhard im Bart, im Schoße ſeiner treuen
Unterthanen. Daß das deutſche Reich jemals in die
Lage kommen ſollte, ermordeter Miſſionare willen
kriegeriſche Expeditionen nach Japan zu ſchicken, iſt nach
menſchlicher Vorausſicht vollſtändig ausgeſchloſſen.
Zwiſchen Japan und China iſt in dieſer, wie noch in
ſo mancher andern Beziehung ein himmelweiter Unter-
ſchied. Nur zwei oder dreimal iſt es mir begegnet,
daß ich auf der Straße etwas unſanft angeſtoßen wurde,
was ich mir gegenüber einer überlegenen Anzahl — und
nur dann konnte es vorkommen — ſtets ruhig gefallen
ließ. Immer waren es junge [Burſchen], die mit beiden
Füßen noch in ihren Flegeljahren ſtanden; dem richtigen,
ausgereiften Japaner iſt jede Roheit ein Greuel. Um
der Leute willen dürfte alſo der Miſſionar ohne Sorge
im Lande umherreiſen, ſelbſt in Zeiten, wo die Wogen
politiſcher Erregung hoch gehen; um der Sache willen
wird es aber ſtets als Grundſatz gelten müſſen: Der
Miſſionar hat ſeinen feſten Wohnſitz.
Er hat ſogar in der Regel ſein europäiſch gebautes
Haus. Und das iſt gut ſo. Ich ſelbſt wohnte während
der erſten Zeit in einem Hauſe rein japaniſcher Bauart.
Die japaniſchen Häuſer ſind aus Holz, die Böden ſind
mit dicken Strohmatten belegt, die Stelle des Glaſes
an den Fenſtern vertritt transparentes Papier. Sie
ſind infolgedeſſen das beſte Brennmaterial, das man
ſich denken mag. In der That ſind Rieſenbrände in
[13] Tokyo nicht ſelten, ſo daß man die Feuersbrunſt die
Blume von Yeddo 1) genannt hat. Früher rechnete man,
daß Tokyo durchſchnittlich in ſieben Jahren einmal voll-
ſtändig abbrenne. Heute iſt das durch eine muſter-
giltige Feuerwehr bedeutend beſſer geworden. Immer-
hin habe ich noch im Jahre 1892 am erſten Oſtertag
innerhalb von zwölf Stunden mehr denn fünftauſend
Häuſer abbrennen ſehen. Ich kam damals an der
Brandſtätte vorbei, und in demſelben Tempo, wie ich
ging, ſchlängelte ſich neben mir hin an einem Bambus-
zaun entlang die Flamme. Richtige Thüren mit Schlöſſern
wie bei uns giebt es am japaniſchen Hauſe nicht. Es
ſind Schiebethüren, die aber nicht luftdicht ſchließen.
Überall ſind Riſſe und Lücken, durch welche der Wind
ſchneidend hindurchbläſt. Ich habe es in dem japaniſchen
Haus auf Koſten meiner Geſundheit erfahren müſſen,
daß es beſſer iſt, der Miſſionar wohnt in einem ſolid
gebauten europäiſchen Wohnhauſe.
Das braucht nun freilich nicht übertrieben zu werden,
wie die reichen amerikaniſchen Miſſionsgeſellſchaften das
allzu leicht thun. Sind auch die Wohnungen der ameri-
kaniſchen Miſſionare im Innern einfach und keineswegs
übertrieben gehalten, in ihrem ſehr ſchmuck gehaltenen
Äußern ſehen ſich die villenartigen Gebäude, zumal neben
den einſtöckigen Hütten der Japaner, wie kleine Paläſte
an und fordern die Kritik und den Vorwurf der Üppig-
keit geradezu heraus. Vielleicht wäre ein etwas
beſcheideneres Ausſehen mehr am Platz, und man hätte
gut gethan, beizeiten des Sprichwortes zu gedenken:
Wer an die Straße baut, muß ſich meiſtern laſſen.
Mit dieſen Miſſionshäuſern können ſich die beiden
[14] Wohnungen der deutſchen Miſſionare nicht meſſen.
Hat doch ihr Bau zuſammen nicht mehr als zwölftauſend
Mark erfordert.
Das Innere der Häuſer weiſt europäiſche Ein-
richtungen auf. Mit japaniſcher Möblierung käme man
nicht weit. Zwar wird bei uns zu Lande viel von
japaniſchen Zimmereinrichtungen gefabelt. Wenn man
aber in ein japaniſches Zimmer hineintritt, ſo ſieht
man ſich erſtaunt um. Nach unſern Vorſtellungen hatte
man viel erwartet. Was man aber da vor ſich ſieht,
übertrifft auch die kühnſten Erwartungen. Da iſt in
einer Niſche ein lang herabhängendes, auf Seide ge-
maltes Bild, Kakemono genannt, und darunter etwa
noch eine Bronzevaſe, ſonſt aber im ganzen Zimmer
nichts, aber auch gar nichts: Kein Tiſch, kein Stuhl,
kein Bett, kein Schrank, kein Spiegel, ja ſelbſt nicht
einmal ein Ofen. Der Miſſionar muß ſich alſo euro-
päiſche Möbel anſchaffen. Die Einrichtung ſeines Hauſes
ſieht auf den erſten Blick faſt elegant aus. Man braucht
aber nicht einmal ſcharf hinzuſehen, um zu bemerken,
daß es eine ſehr ſchäbige Eleganz iſt, die ganze Ein-
richtung um ein paar hundert Mark auf Auktionen
wegziehender Europäer zuſammengekauft; aber man
weiß ſich’s damit wohnlich, heimiſch und bequem zu
machen.
Man verbindet mit dem Begriff des Miſſionars
gewöhnlich den des Asketen. Wenn man das Wort
Miſſionar hört, ſo wacht ſelbſt in dem evangeliſchen
Chriſten das alte Mönchsideal auf. Man will ihn nicht
haben wie einen andern Menſchen, man mutet ihm
Entbehrungen aller Art zu und erwartet von ihm wo-
möglich, daß er ſich zu derſelben niedrigen Stufe der
Lebensführung herabläßt, auf welcher die Eingeborenen
ſtehen. Das aber iſt ein ganz falſcher Asketismus,
[15] wenn durch denſelben die Schaffenskraft, die man auf
dem Miſſionsfeld im vollen Umfang nötig hat, ver-
mindert oder gar gebrochen wird. Um ſeiner Berufs-
arbeit willen müſſen dem chriſtlichen Sendboten äußere
Sorgen und Entbehrungen fern gehalten werden. Er
bezieht darum auch ein anſtändiges Gehalt. Der ameri-
kaniſche Miſſionar erhält in der Regel 1500 Dollars
in Gold jährlich, der deutſche verheiratete früher nur
um ein Geringes, jetzt um ein Bedeutendes, der unver-
heiratete dagegen um ein ſehr Bedeutendes weniger.
Er hat dadurch ſeinen auskömmlichen Lebensunterhalt,
große Erſparniſſe machen und Reichtümer anhäufen
will er ja nicht.
Ja wenn er japaniſch eſſen und ſich japaniſch
kleiden würde, dann würde er kaum die halben Aus-
gaben haben. Das iſt aber nicht der Fall. Auch mit
Bezug auf Nahrung und Kleidung braucht er ſeinen
europäiſchen Gewohnheiten nicht zu entſagen. In China
kleidet ſich der Miſſionar wie der Chineſe, er trägt
ſogar einen Zopf wie er. Er meint, das thun zu
müſſen; hat doch die Erfahrung gezeigt, daß der unbe-
zopfte Miſſionar noch größere Schwierigkeiten und Vor-
urteile wider ſich hat wie der bezopfte. Die europäiſchen
Kaufleute ſchelten freilich nicht wenig, daß man durch
ſolches Gebahren die eigene Kultur gegenüber den
Chineſen herabwürdige und den ohnehin unleidlichen
Nationaldünkel der Söhne des Himmels noch mehr
fördere. In Japan iſt von einer ſolchen Akkommodation
keine Rede. Jeder Japaner würde es peinlich empfinden,
wollte ſich der Miſſionar japaniſch kleiden, und der
Gebildete gewöhnt ſich ſelbſt immer mehr an unſere
Kleidung. Nicht anders iſt es mit dem Eſſen. Japaniſch
eſſen könnte der Miſſionar nur auf Koſten ſeiner körper-
[16] lichen Kraft und Geſundheit. Denn bei der japaniſchen
Mahlzeit fehlt all das, was wir in erſter Linie für
nötig halten; da iſt kein Fleiſch, kein Brot, keine
Kartoffeln, keine Milch, keine Butter. Warum der
Japaner kein Fleiſch, wenigſtens kein Rind- und
Schweinefleiſch ißt, weiß er ſelbſt nicht mehr zu erklären,
und wenn er bei einem europäiſchen Mahl in die Lage
kommt, Fleiſch zu ſich zu nehmen, ſo thut er es anſtands-
los. Urſprünglich aber iſt es zurückzuführen auf den
Buddhismus, welcher verbot, Tiere zu töten, und das
um ſo mehr, als nach ſeiner Lehre von der Seelen-
wanderung die Seelen der Abgeſchiedenen leicht in
Tiere übergegangen ſein können. Der Hauptbeſtandteil
der japaniſchen Mahlzeit iſt der Reis 1), und wie wir
von Morgen-, Mittag- und Abendeſſen ſprechen, ſo der
Japaner von Morgen-, Mittag- und Abendreis. Neben
dem Reis ſind es eine ſuppenartige Fiſch- und Muſchel-
brühe, roher und gebratener Fiſch, Seetiere und See-
gewächſe aller Art, zuweilen auch ein wenig Huhn oder
Wildbret, einige Arten von Gemüſe, Schwämme, junge
Bambuswurzeln, eingemachte Rüben, eine Art ſüßer
Kartoffel, als Deſſert Bohnenkuchen und andere Süßig-
keiten und zum Schluß Thee, welche die gewöhnlichen
Speiſen bilden. Mitunter trinkt man auch über das
Eſſen ein Fläſchchen Saké, ein aus Reis gebranntes
alkoholiſches Getränk von ſherryähnlichem ſcharfem Ge-
ſchmack, und nach dem Eſſen raucht man ſein Pfeifchen
und zwar Mann und Frau, junge Mädchen und alte
Großmütterchen. Der Kuchen iſt ſehr ſchwer, die
Gemüſe ſind nur halb gar gekocht, die allzu reichlich
[17] gebrauchte Shoyuſauce giebt den Speiſen einen eigen-
artig ſtrengen Geſchmack oder ein allzu ſtarker Beiſatz
von Knoblauch macht ſie widerlich ſüßlich. Ich habe noch
nie einen Europäer getroffen, welchem das japaniſche
Eſſen wirklich gemundet hätte, und wer zu einem
japaniſchen Mahl eingeladen war, mußte ſich nachher
auf europäiſche Art ſatt eſſen, wenn er nicht in weiſer
Vorausſicht das ſchon zuvor beſorgt hatte. Da ich
verhältnismäßig oft auf das Land kam, ſo war ich
auch oft in der Lage, japaniſch eſſen zu müſſen; ich
habe mir infolgedeſſen eine große Fertigkeit in der
Handhabung der Eßſtäbchen angeeignet, welche dort
die Stelle von Löffel, Gabel und Meſſer vertreten.
Wenn man aber zu längerem Aufenthalt auf das Land
geht, unterläßt man es nie, ſeinen Koch mitzunehmen
und ſich von ihm europäiſch kochen zu laſſen. Denn
jeder Fremde hat dort ſeinen Koch. Das ſieht zwar
luxuriös aus, iſt aber eine einfache Notwendigkeit.
Die Löhne ſind übrigens ſo gering, daß ein Koch keine
große Ausgabe bedeutet. Ich war zuerſt bei meinem
Kollegen S. in Koſt gegangen. Eines Abends ſagte
ich meinem Wagenzieher, daß ich am nächſten Tag
eine eigene Haushaltung beginne und daß er mein
Koch werde. Das war für ihn eine bedeutende Be-
förderung und mit Freuden ging er darauf ein. Auf
mein Befragen erklärte er mir, daß er zwar noch nie
ſelbſt gekocht habe, daß er aber ſchon manchmal am
Herd geſeſſen ſei, wenn der Koch von Herrn S.
das Eſſen bereitete. Und ſiehe da, vom nächſten Tag
an kochte er mir. Verwöhnt wurde man dabei nicht,
aber es ging.
Außer ſeinem Koch hat der Miſſionar in der Regel
noch einen Wagenzieher. Auf Schuſters Rappen käme
2
[18] man in einer Rieſenſtadt wie Tokyo, welche an Ein-
wohnerzahl nicht ganz ſo groß wie Berlin, an Umfang
aber ſo groß als London iſt, nicht weit. Man würde
dabei viel zu viel Zeit verlieren. Man macht es alſo
wie der Japaner auch. Man ſetzt ſich in einen kleinen
Handwagen, Jinrikſha genannt, und läßt ſich von einem
Mann, welcher Kutſcher und Pferd in einer Perſon iſt,
ziehen. Die Japaner ſind die beſten Schnellläufer der
Welt. In ſtundenlangem, ununterbrochenem Trab brin-
gen ſie einen ſchneller an das Ziel, als ein Droſchken-
gaul das könnte. Die Sache kommt einem anfänglich
wenig menſchenwürdig vor und iſt es auch nicht. Dort
aber iſt es eine ſelbſtverſtändliche Sache und niemand,
der Jinrikſhamann am wenigſten, findet etwas dabei.
Es iſt eine ebenſo bequeme als billige Art der Beför-
derung und da durch Abſchaffung dieſer Inſtitution
mit einem Schlag Hunderttauſende von Menſchen brot-
los würden, ſo iſt ein Ende derſelben zumal bei dem
mangelnden Erſatz durch Zugtiere nicht abzuſehen.
Die äußere Lebensführung des Miſſionars in Japan
iſt dieſelbe wie die der andern dort anſäſſigen Europäer.
Die Abendländer, welche vorerſt nur nach Tauſenden
und noch bei weitem nicht nach Zehntauſenden zählen,
haben ihren Wohnſitz vornehmlich in den Hafenſtädten.
In Tokyo giebt es etwa dreißig ſelbſtändige männliche
Deutſche, die faſt alle in japaniſchen Regierungsſtellungen
ſind, die meiſten als Profeſſoren. Es iſt eine deutſche
Gelehrtenkolonie, wie ſie wohl innerhalb des Deutſch-
tums auf der ganzen Erde einzig daſteht. In ſie
kommt der deutſche Miſſionar hinein und auch mitbe-
zug darauf iſt ſein Los ein beneidenswertes. Es fehlt
ihm nicht an geiſtiger Anregung und da die Deutſchen
unter ſich geſellig verkehren, — Wirtshausleben giebt es
[19] nicht —, ſo verbringt er durchſchnittlich wenigſtens einen
Abend in der Woche im Kreiſe deutſcher Gemütlichkeit.
Unſere Landsleute haben ſich zu einem wiſſenſchaftlichen
Verein für Natur- und Völkerkunde Oſtaſiens zuſammen-
geſchloſſen, welcher allmonatlich eine Sitzung abhält, wo
Wiſſenſchaft und Geſelligkeit gleicher Weiſe gepflegt
werden. Beſondere Freude erregte es immer, wenn
deutſche Kriegsſchiffe in Yokohama vor Anker gingen.
Zwar waren es meiſt alte Schiffe oder kleine Kanonen-
boote, auf die man nicht ſehr ſtolz ſein konnte, ſo ſchmuck
und blitzblank ſie auch gehalten waren. Um ſo mehr
thaten wir uns etwas zu gut auf unſere wackeren Blau-
jacken. So ſtramm und ſchneidig wie ſie ſahen die der
anderen Nationen denn doch nicht aus! Gern folgte
man der Einladung an Bord eines Schiffes, man freute
ſich wieder einmal deutſchen Boden zu betreten und
an der Seite des wettergebräunten Kapitäns und
im Kreiſe immer fröhlicher Lieutenants plauderte es ſich
am Tiſche der Offiziersmeſſe gar behaglich. Es iſt alſo
trotz der rieſenhaften Entfernung einer vierzigtägigen See-
fahrt keine Verbannung, in der man ſich im fernen
Oſten befindet, und manchmal klingen einem der Mutter-
ſprache ſüße Laute freundlich in Ohr und Herz.
Das iſt das Leben eines deutſchen Miſſionars in
Japan.
So wäre denn nach all dem Japan das begehrens-
werteſte Miſſionsfeld der Welt! Ein herrliches Land,
ein freundliches Volk, europäiſche Wohnung, Kleidung
und Nahrung, ein auskömmliches Gehalt, die Freuden
der Geſelligkeit: das iſt ja alles, was das Herz begehren
mag! Da iſt ja der japaniſche Miſſionar gar kein rechter
Miſſionar mehr! Da geht ja der ganze Nimbus, als
ob er etwas Beſonderes ſei, von ihm weg! Nun, etwas
2*
[20] Beſonderes will der japaniſche Miſſionar nicht ſein.
In England iſt man es freilich gewöhnt, den Glorien-
ſchein um das Haupt der Miſſionare zu weben, ſie ſind
die Heroen der Nation, rechte Übermenſchen. In
Deutſchland dagegen braucht ſich der chriſtliche Sendbote
nicht gerade über Vergötterung zu beklagen. Hier ſchaut
man eher etwas auf ihn herab, wenn man nicht gar
ihm feindſelig gegenüberſteht. Aber herabſetzen laſſe ich
den japaniſchen Miſſionar doch nicht. Der Poſten eines
chriſtlichen Sendboten iſt überall auf der ganzen Erde
ein ungemein ſchwieriger, und daß er das iſt, liegt nicht
ſowohl in äußeren Verhältniſſen als in inneren Gründen.
Mögen ihm auch die Annehmlichkeiten und der Komfort
des Lebens zu Genüge zur Verfügung ſtehen, ſo iſt das
doch nur der äußere Lebensrahmen, der mit dem, was
der Miſſionar iſt und ſchafft, im letzten Grunde wenig
zu thun hat. Darauf kommt es an, was innerhalb
dieſes Rahmens iſt. Der Kaufmann lebt im Auslande
und macht ſeine Geſchäfte mit den Eingeborenen, und
wenn es ihm gelingt, ſo iſt er ſeines Lebens froh und
er fühlt ſich wohl im fremden Land und tief drinnen
regt ſich, was er bewußt nicht zugeben möchte: ubi bene,
ibi patria. Der deutſche Lehrer in der Fremde geht in
ſeine Schule und erteilt ſeinen Sprachunterricht oder
hält ſeine Vorleſungen, und wenn er damit fertig iſt,
ſo hat er ſeine Schuldigkeit an den Fremden gethan
und er geht nachhauſe und gehört nun ſich ſelbſt und
lebt ſich ſelbſt. Dem Miſſionar aber ſchlagen wenige
Stunden, da er ſich ſelbſt gehört und ſich ſelbſt leben
kann; ſein ganzes Leben bedeutet ein faſt ununter-
brochenes Sichhingeben. Er hat an Seelen zu arbeiten
und wenn er das auch nur mit einigem Erfolg thun
will, ſo muß er tief innerlich eingehen auf das Seelen-
[21] leben des Volkes ſowohl wie des einzelnen. Die äußere
Akkommodation mag ihm erſpart bleiben, aber geiſtig und
ſeeliſch heißt es für ihn, den Juden ein Jude und den
Griechen ein Grieche zu werden. Für den Apoſtel
Paulus, der dieſen weiſen Miſſionsgrundſatz zuerſt auf-
geſtellt hat, war das nicht ſo ſchwer wie für den heutigen
Miſſionar. In den Wänden ſeines Heimathauſes ſog
er die jüdiſche, auf den Straßen ſeiner Heimatſtadt die
griechiſche Lebensluft ein. Beide Weltanſchauungen,
nicht bloß die des orthodoxen Judentums, ſondern auch
die des Hellenismus, waren ihm von Kind auf nicht
fremd, wenn er auch mitbezug auf letztere ſich deſſen
nicht einmal bewußt war. Der Miſſionar aber, welcher
ſich heute nach Japan begiebt, tritt dort auf einen
ihm gänzlich unbekannten, im vollen Sinne des Wortes
antipodiſchen Boden. Das geiſtige Weſen des Japaners
iſt von dem unſrigen durchaus verſchieden, nach ſeinem
geſchichtlichen Werden ſowohl als nach ſeinem urſprüng-
lichen Weſen, nach ſeinen formalen Erſcheinungsweiſen
nicht minder als nach ſeinem materialen Inhalt. Dieſes
Geiſteslebens völlig Herr zu werden, ſowohl in theo-
retiſcher Aneignung als in praktiſcher Anwendung, iſt
für den Weißen eine Unmöglichkeit, ſintemalen er nicht
aus ſeiner weißen Haut herausfahren kann. Das darf
ihn aber von dem ernſten Verſuche nicht abhalten, in
inniger Hingabe an den Volkscharakter denſelben
wenigſtens bis an die Grenzen der Möglichkeit zu durch-
dringen. Das iſt die eine ungeheure Schwierigkeit des
Miſſionsberufs. Die Löſung dieſer Aufgabe nimmt
Jahre in Anſpruch; und darum iſt es auch kein leeres
Gerede, wenn man ſagt, daß die rechte Wirkſamkeit für
einen Miſſionar erſt nach mehrjähriger Arbeit beginne,
und mit Recht dringen unſere Miſſionsgeſellſchaften
[22] darauf, daß der Miſſionsberuf Lebensberuf ſein ſolle.
Der Miſſionar, welchem es aus irgend welchen Urſachen
nicht vergönnt war, dieſer Forderung zu genügen,
empfindet, wenn anders er ehrlich gegen ſich ſelbſt iſt,
die Berechtigung dieſer Forderung ſelbſt am ſchmerz-
lichſten. 1)
Auf dem Miſſionsfeld iſt es keine leere Phraſe,
von der ſtreitenden Kirche zu ſprechen. Der Miſſionar
draußen ſteht im Felde, er iſt ein Kämpfer, ein Krieger.
Der Preis, um den er kämpft, ſind Menſchenſeelen.
Bei dieſem Ringen um Seelen aber beſteht die Gefahr,
daß auch das Seelenleben des Kämpfers nicht bloß an-
geregt, ſondern aufgerieben wird. Was die Kräfte
chriſtlicher Sendboten in Japan verzehrt und ihre
Geſundheit vor der Zeit bricht, ſind nicht äußere Ein-
flüſſe; das iſt vielmehr die Schwere der inneren Er-
fahrungen. Es giebt gegenwärtig kein Schlachtfeld, wo
die Geiſter heftiger aufeinander ſtoßen, kein Miſſions-
feld, wo der Kampf zwiſchen Altem und Neuem, zwiſchen
Aufklärung und Religion, zwiſchen Heidentum und
Chriſtentum ſo heiß tobt und ſo leidenſchaftlich geführt
wird wie in Japan. Es giebt kein Gebiet, wo ſo viele
[23] Hoffnungen verheißungsvoll winken und ſo viele Ent-
täuſchungen des Kämpfers harren. Jeder Tag bringt
neue Siege, jeder Tag bringt neue Niederlagen. Von
einem Extrem geht es in das andere, raſch, unvermittelt.
Wo man vor zehn Jahren davon redete, daß Japan
in einem Vierteljahrhundert chriſtlich ſein werde, da iſt
man heute geneigt, an jedem auch beſcheidenen Erfolg
zu verzweifeln. Der Wind der Volksgunſt wechſelt wie
der Wind draußen. Man weiß nie recht, woran man
iſt. Wo man glaubte, eine Schanze im Sturm erobert
zu haben, wird man plötzlich wieder zurückgeworfen;
wo man völlig ſich in Sicherheit wiegte, kehrt uner-
wartet der böſe Geiſt ſiebenfach zurück; und umgekehrt,
wo man meinte, ſchon weichen zu müſſen, bleibt man
mit einem Mal unverhofft ſiegreich. Ein beſtändig
wogender Kampf, ohne Ruh, ohne Raſt, wo jede Stunde
neue Freuden und neue Leiden, jede Minute neue
Überraſchungen bringen kann. Eine faſt ununterbrochene
Aufregung, mehr als ſonſt irgendwo, und darum trage
ich kein Bedenken, den Poſten eines Miſſionars in Japan
den ſchwerſten von allen zu nennen. Mehr als ſonſtwo
muß der Miſſionar in Japan eine ungemeine Spann-
kraft beſitzen, er muß den Gummimännchen gleichen,
die man oft als Spielzeug in Schaufenſtern ausgeſtellt
ſieht, welche, wenn man ſie umwirft, ſofort von ſelbſt
wieder aufſtehen. Wer im Sturm erobern will, wer
mit dem ungeſtümen Geiſt eines Franziskus Xaver an
das Werk geht, wer nicht zufrieden iſt, Schritt für
Schritt, nein Zoll für Zoll in ſtiller, beſcheidener, müh-
ſeliger Arbeit voranzukommen, iſt auf dem japaniſchen
Miſſionsfeld, und auf jedem andern auch, nicht an ſeinem
Platz. Es ſind gewöhnlich feurige Seelen, die es
hineintreibt in den Kampf der Geiſter; aber die Stillen
taugen mehr als die Feurigen.
[24]
Manch ein Miſſionar iſt hinübergezogen in das
fremde Land, getragen von ſtürmender Begeiſterung und
freudigem Schaffensmut, die Segel geſchwellt von ſtolzen
Hoffnungen; manch einer kehrte zur Heimat zurück mit
zerfetzten Segeln, ein gebrochener Mann. Was ſein
Name verſprach, das Land des Sonnenaufgangs hat
es ihm nicht gehalten. Es iſt allein der ſtille Helden-
mut einer nie ermüdenden Geduld, der ſchließlich den
Siegespreis davon trägt.
Es war ein glücklicher Gedanke, die Miſſion mit
dem Menſchenſohn, d. h. dem leidenden Heiland, zu
vergleichen. Der Miſſionsweg iſt heute noch, wie zu
des Apoſtels Paulus Zeiten, rauh und hart; es iſt der
Kreuzesweg nach Golgatha; wer aber das Kreuz trägt,
den ſchmückt auch eine Dornenkrone. Was den Miſſionar
allein aufrecht hält unter der Laſt ſeines Kreuzes, iſt
die erbarmende Jeſusliebe zu der armen heidniſchen
Menſchheit und die in Gott gegründete gläubige Hoff-
nung auf den endlichen Sieg. Per crucem ad lucem!
[[25]]
II. Die Sprache. 1)
Die japaniſche Sprache gehört zu der altaiſchen
Gruppe. Sie iſt für den Europäer eine der ſchwierigſten
der Erde. Zwar das Küchen- und Kuli-Pidjin-Japaniſch,
welches die europäiſche Hausfrau ihrer Dienerin gegen-
über ſpricht oder der europäiſche Herr dem Taglöhner
gegenüber, iſt ſehr einfach. Aber um die Sprache
gründlich zu erlernen, bedarf es jahrelanger Studien.
Und auch dem Japaner ſelbſt koſtet es bis zu ihrer
Beherrſchung, ſoweit von einer ſolchen überhaupt die Rede
ſein kann, unendlich viel Aufwand an Zeit und Mühe.
Wenn das japaniſche Kind zur Schule kommt,
lernt es zunächſt leſen und ſchreiben nach dem japa-
niſchen Kanaſyſtem; und wie man bei uns die deutſche
und die lateiniſche Schreibweiſe hat, ſo unterſcheidet
man dort zwiſchen Katakana und Hirakana. Das
Kana iſt eine Silbenſchrift, d. h. jedes Zeichen bedeutet
eine Silbe. Einzelne Buchſtaben oder vielmehr Kon-
ſonanten wie f, m, t giebt es nicht, ſondern nur Silben
wie fu, mi, ta. Dabei ſind einige unſerer gebräuch-
lichſten Laute wie ti, tu, ſi, we, wu, fa, fi, fe, fo ꝛc.
dem Japaner gänzlich unbekannt. Am ſonderbarſten
iſt, daß er l und r — oder, wie er es ausdrückt, das
lange und das kurze r — nicht von einander zu unter-
[26] ſcheiden vermag. Dadurch kommen die unglaublichſten
Dinge vor. Statt Glas ſagt er Gras, ſtatt bekümmern
bekümmeln und ſtatt ankleiden ankreiden; aus einem
Rudel Rehe macht er ein Luder Lehe und Leben und
Reben ſind ihm völlig eins. Ich korrigierte einmal
einen Aufſatz, in welchem ein junger Student einen
Spaziergang beſchrieb. Da ſtand unter anderm zu
leſen: „Der flöhliche Hund (ſtatt „der fröhliche Hund!“)
lief neben mir her“. Im ganzen neigt ſich die Aus-
ſprache etwas mehr zu r als zu l, genau umgekehrt
wie im Chineſiſchen, wo r und l auch in einem Laut
zuſammenfallen, der aber mehr nach l hin ausgeſprochen
wird. Die Zeichen, beſonders die des Katakana, ſind
von einer faſt ſtenographiſchen Einfachheit, ſo daß es
ſich bei einiger Übung raſcher mit ihnen ſchreiben läßt
als mit unſerer Schrift. Ihre Zahl beläuft ſich auf
ungefähr zweihundert, und wenn man zum Leſen und
Schreiben nicht mehr nötig hätte als ſie, ſo wäre die
Arbeit kaum größer als für unſere deutſchen Kinder
mit den großen und kleinen Buchſtaben des deutſchen
und lateiniſchen Alphabets.
Aber — und hier liegt die Schwierigkeit — die
japaniſchen Zeichen werden mehr oder weniger nur als
Lückenbüßer gebraucht, und ob man auch die Kanaſchrift
noch ſo gut beherrſcht, ſo kann man doch noch nicht
eine einzige Zeitung damit leſen. Nur einzelne Bücher,
vorzüglich ſolche, welche für Frauen beſtimmt ſind, ſind
in reinem Kana geſchrieben, darunter auch chriſtliche
Geſang- und Andachtsbücher, und auch zur Lektüre der
Bibel kann man zur Not mit Kana auskommen. Im
übrigen reicht aber das Kana ſelbſt für die be-
ſcheidenſten Anſprüche nicht aus. Es iſt notwendig,
eine gewiſſe Kenntnis der chineſiſchen Schrift ſich an-
[27] zueignen. Im Chineſiſchen wird jedes Wort durch ein
beſonderes Zeichen ausgedrückt. Es giebt alſo etwa
ſo viele verſchiedene Zeichen, als die Sprache Worte
hat, d. h. viele tauſende. Auch der einfache Mann in
Japan braucht ſeine tauſend bis fünfzehnhundert Zeichen,
während dem Gebildeten drei bis ſechstauſend bekannt
ſein dürften.
Aber nicht genug damit, zu jedem Zeichen müſſen
auch wenigſtens zwei verſchiedene Worte bezw. Aus-
ſprachen gelernt werden, ja mitunter ſogar noch mehr.
Ein und derſelbe Begriff lautet in der Schriftſprache
ganz anders als in der Umgangsſprache. So iſt für
das Zeichen für „Berg“ neben dem Wort „yama“ der
geſprochenen Sprache noch das Wort „san“ für die
Schriftſprache zu merken; das Zeichen für „Markt“
wird „ichiba“ geſprochen und „shijo“ geleſen und der
gut japaniſche Name „Hajime“ wird in der Schrift-
ſprache mit „Ryo“ wiedergegeben. Es iſt alſo in ge-
wiſſem Sinn eine faſt völlig neue Sprache, welche das
japaniſche Kind in der Schriftſprache zu erlernen hat.
Die Schriftſprache iſt ein gekünſteltes Syſtem auf
chineſiſcher Grundlage. Nur in der Umgangsſprache
haben wir die eigentlich japaniſche Sprache, nur in
ihr ſpiegelt ſich die ganze japaniſche Denkweiſe rein
und unverfälſcht wieder. Darum iſt ethnologiſch nur
die Umgangsſprache von Intereſſe.
Gewiſſe und nicht unrichtige Bemerkungen bezüg-
lich des Charakters der Umgangsſprache können auch
von dem ſchon gemacht werden, welcher ſelbſt gar kein
Japaniſch verſteht, wenn ſich ihm eine Gelegenheit
bietet, das Japaniſche mit dem ihm gegenüberſtehenden
Deutſchen rein äußerlich zu vergleichen, z. B. bei einer
deutſchen Rede mit ſich anſchließender japaniſcher Über-
[28] ſetzung. Mehr als einmal bin ich gefragt worden,
woher es denn komme, daß der Überſetzer faſt die
doppelte Zeit des Originalvortrags brauche; die japa-
niſche Sprache ſcheine breiter zu ſein als die deutſche.
Dieſe Bemerkung iſt zutreffend. Das Denken des
Japaners fühlt ſich mit der Art und Weiſe, in welcher
wir unſere Gedanken auszudrücken pflegen, nicht be-
friedigt. Der Japaner hat das Bedürfnis möglichſt
großer Anſchaulichkeit und ſieht ſich darum veranlaßt,
ein etwa vorliegendes engliſches oder deutſches Original
nach dieſer Seite hin zu erweitern. Bei der Lektüre
von japaniſchen Vorträgen von Abendländern kam es
vor, daß ich durch die Bemerkung „Seiyō-kusai“ („das
riecht nach Europa“) unterbrochen wurde. Auf meine
Frage: warum? lautete die Antwort, weil es zu kurz
ſei, das Japaniſche bedürfe noch einiger Erweiterungen,
um die Handlung lebendiger und den Fortſchritt an-
ſchaulicher zu machen. Der Europäer iſt mit dem Ge-
danken zufrieden; nicht ſo der Japaner: durch Auge
und Ohr, durch Geruch und Geſchmack und Gefühl
treten die Vorſtellungen als empiriſche Realitäten in
ſeinen Geiſt ein. Er denkt mit ſeinen fünf Sinnen,
und der Ausdruck dieſes Denkens, das iſt die Sprache,
ſteht unmittelbar auf dem Grunde der Wahrnehmung.
Die konkrete Wirklichkeit iſt ihre Lebensluft.
Daher iſt die japaniſche Rede, ſei ſie öffentlich,
ſei ſie Unterhaltungsrede, ſehr beweglich. Phantaſie,
Ausmalung, nicht was wir mit genialer Phantaſie be-
zeichnen würden, ſondern im Sinne einer Fertigkeit,
nämlich der Fertigkeit, im gegebenen Fall anſchaulich
zu illuſtrieren, eignet dem Japaner in hohem Maße.
Mit bewundernswerter Schlagfertigkeit weiß er ſtets
einen konkreten Gegenſtand zu finden, um einen Ge-
[29] danken anſchaulich zu machen. Erzählungen, an welchen
die japaniſche Nation zum Teil durch chineſiſche Erb-
ſchaft ſehr reich iſt, finden oft und paſſende Verwendung
als Illuſtrationen. Häufige Anſpielungen und halb
ausgeführte oder auch nur angedeutete Bilder, welche
der Rede manchmal gradezu den Charakter des Brillanten
verleihen, tragen zur Lebendigkeit nicht wenig bei.
Sprichwörter, meiſt ſcharf und ſchlagend, aus dem Volk
hervorgegangen und bei allen Kulturvölkern in der
Volksſprache noch mehr daheim als bei den Gebildeten,
werden mit Vorliebe verwendet und ſind noch Gemein-
gut des ganzen Volkes. Weitaus die meiſten Illuſtra-
tionen aber ſind der nächſten Umgebung entlehnt, nahe-
liegende Dinge aus dem alltäglichen Leben, darum
aber, wenn recht verwertet, einleuchtend und packend,
beſonders förderlich dem Witz, welcher ſich in der
derben draſtiſchen Realiſtik, wo ſich die Gegenſtände
ſcharf und grell abheben, am wohlſten fühlt. Neben
dem äußerſt beliebten und ſtets belachten, aber für
unſern Geſchmack meiſt faden Spielen mit Worten oder
Wortſpiel, bei welchem die japaniſche, wie überhaupt
oſtaſiatiſche Vorliebe für die Form im Gegenſatz zu
dem Gedanken recht auffällig zu Tage tritt, wird gerade
auf dieſem Gebiete geiſtreiche Witzigkeit und Witzelei
häufig erzielt: wie denn die Japaner im amüſanten
Gerede Meiſter ſind.
Aus der Poeſie der Natur und des Menſchenlebens
wird in der Umgangsſprache wenig illuſtriert. In-
folge deſſen bleibt der Ausdruck trotz aller Beweglich-
keit proſaiſch. Als ſinnliche Malerei iſt der Ausdruck
ähnlich dem aller Natur- und der Natur noch naheſtehen-
den Stände der Kulturvölker, wie wir ihn vorzüglich in
dem Kindheitsalter der Völker finden, ſo in den uralten
[30] Religionsurkunden der Semiten wie in den urgeſchicht-
lichen Schöpfungen Indiens und Griechenlands. Doch
ermangelt die japaniſche Realiſtik weſentlich der ſanften
Sinnigkeit und glühenden Phantaſie der Semiten, wie
auch der genialen Großartigkeit der Indogermanen.
Sie ſchwingt ſich nicht auf zu reinen Gebilden der
Phantaſie, den Boden der Wirklichkeit verliert ſie nicht
unter den Füßen. Sie verliert ſich darum nicht in
phantaſtiſch unſinnigen Phraſen, wird aber auch nicht
voll gerecht dem Gedankenzug in des Menſchen Bruſt,
welcher über dieſe Erde hinausdrängt. Der Grieche
ſah Leben in jedem Strauch und jedem Halm, der Strahl
der Sonne und das Wehen des Windes, welche ihm
Empfinden verurſachen, beſitzen ſelbſt Empfindung; der
Semite ſah überall die unmittelbare Thätigkeit göttlicher
Perſönlichkeiten; und dieſes Leben, welches das Auge
des Geiſtes ſah, ſpiegelte ſich wieder in der Sprache.
Für den Japaner aber iſt die ganze Natur ein Me-
chanismus, eine gut gehende, aber tote Maſchine und
dieſe Anſchauung findet ſich als Proſa in ſeiner Sprache
wieder. Die Sprache hat ſich eben mehr unter dem Einfluß
der nüchternen chineſiſchen Anſchauung als unter dem
des naturperſonifizierenden Shintoismus entwickelt; wo-
mit aber nicht geſagt ſein ſoll, daß die mechaniſche
Weltanſchauung dem Japaner rein anerzogen iſt; ohne
Zweifel war in ihm von vorn herein eine ſtarke Nei-
gung nach dieſer Richtung hin vorhanden. Mit Recht
rühmt man dem Japaner einen ſympathiſchen Zug
für die Natur und ihre Schönheiten nach, was mit der
mechaniſchen Weltbetrachtung keineswegs in Widerſpruch
ſteht. Aber weder die Millionen von Gedichten, welche
man alljährlich an die blühenden Pflaumenbäume hängt,
noch auch die Thatſache, daß die meiſten Japaner,
[31] ſoweit ſie einigermaßen Bildung beſitzen, auch Gedichte
machen, haben es vermocht, ihrer Umgangsſprache einen
poetiſchen Charakter zu verleihen.
Die japaniſche Beredſamkeit beſteht daher weſent-
lich in der Fertigkeit des „shaberu“, ein Wort mit welchem
der Europäer unwillkürlich den Begriff des „Schwätzens“
verbindet, ohne daß es ſich jedoch voll mit dieſem Be-
griff deckt. Etwas mehr bedeutet „shaberu“ denn doch
und „unterhaltend und fließend reden“ dürfte der Be-
deutung des Wortes wohl nahe kommen. Eine gute
Rede muß fließen, wie der Vortrag eines „hanashika“
(Erzähler), jener ſo ausgeprägt japaniſchen Erſcheinung,
die der innerſten Natur der japaniſchen Sprache ent-
ſpricht. Der Vokalreichtum der Worte macht die Sprache
leicht und fließend, beraubt ſie der Schwere, Wucht und
Feierlichkeit, welche der deutſchen Sprache in ſo hohem
Maße eignen, während das Harte, Stählerne und Ein-
förmige des Klanges ihr die Tiefe und Innigkeit an-
derer vokalreichen Sprachen, wie z. B. der romaniſchen,
nimmt. Die Rede gleicht dem Bach mit ungehindert
guter Strömung, nicht dem Strom mit ſeiner geheimnis-
vollen Tiefe, noch auch dem Waldbach mit ſeiner idyl-
liſchen Poeſie.
Manche japaniſche Rede hat mich lebhaft an die
Predigt eines Landpfarrers erinnert, freilich nicht an
die nicht ſeltene Spezies, welche mit unfehlbarer Sicher-
heit dem müden Landmann die Augen zudrückt zu ſüßem,
friedlichem Schlummer, ſondern vielmehr an die entgegen-
geſetzte Art, wo eine dem Verſtändnis und Intereſſen-
kreis des Bauern angepaßte anſchauliche und draſtiſche
Darſtellung à la Abraham a Santa Clara ſich paart mit
nicht allzu dick und nicht allzu tief geſäten Gedanken.
Es iſt eine bekannte Thatſache, daß die Japaner bis
[32] zu ſechs und acht Stunden Vorträge anhören können,
ohne zu ermüden oder einzuſchlafen. Nach dem, was
wir hörten, kann uns dieſes nicht mehr wunderbar er-
ſcheinen. Es iſt die lebendige Anſchaulichkeit der Rede,
welche ihn vom Schlaf errettet, und die verhältnis-
mäßig langſame und wenig Geiſtesarbeit erfordernde
Art der Gedankenmitteilung, die ihn vor Ermüdung
ſchützt. Ich war einmal ſo unvorſichtig, einem Japaner
gegenüber zu bemerken, daß eine japaniſche Predigt für
mich leichter ſei als eine deutſche, da man nicht ſo viele
Gedanken brauche; eine japaniſche Predigt, welche eben
dieſelben Gedanken enthalten ſolle, wie eine zuvor ent-
worfene deutſche, ſei unmöglich, da ſie kein Ende nehme.
Gefallen hat ihm dieſe Äußerung nicht, aber um ſo
wahrer iſt ſie geweſen.
Für den Europäer, welcher [japaniſch] ſprechen ſoll,
bieten ſich daher große Schwierigkeiten. Wenn er es
nicht verſteht, ſich in den Geiſt der japaniſchen Sprache
zu verſetzen, ſo redet er leicht abſtrakt und langweilig
oder aber unverſtändlich. Andrerſeits liegt die Gefahr
vor, ſich in die Breite zu verlieren; für den, der die
Sprache nicht voll beherrſcht, liegt der bequeme Gebrauch
von Lückenbüßern, deren es nicht wenige giebt, ver-
führeriſch nahe; außerdem werden Bilder, der Alltäg-
lichkeit entlehnt, leicht fade und abgeſchmackt in einem
nicht ſehr geſchickten Munde. Wir geben hier ein Bei-
ſpiel einer Ausdrucksweiſe, welche zwar nicht das Extrem
des japaniſchen Ausdrucks giebt, und auch bei uns in
derſelben Weiſe gebraucht werden kann und gebraucht
worden iſt, welche aber doch ein Bild der japaniſchen
Art bietet. Ein Miſſionar hielt einen Vortrag über
die Allgemeinheit des Böſen und zur Illuſtration be-
merkte er: „Wie ſieht es wohl in Tokyo aus? Wenn
[33] wir die Dächer aller Häuſer in Tokyo abhöben, ſo daß
von oben geſehen auch nicht ein Winkel verborgen bliebe,
und darnach bände man uns Flügel um, und wir flögen
über die Stadt, in jedes Haus hineinſchauend, was
würden wir da alles Schlechte ſehen“; und nun folgt
eine eingehende Beſchreibung dieſes Schlechten. Das
Bild wurde aus europäiſchem Munde ſcharf getadelt.
„Wozu erſt Häuſer abdecken und ſich Flügel wachſen
laſſen, wo man doch einfach per pedes durch die Haus-
thür kann? Das iſt höchſt albern. Geht hinein in die
Häuſer und ſehet! würde genügt haben“. Gut! Gewiß
aber iſt, daß der Miſſionar ſich im Geiſt der japaniſchen
Sprache ausgedrückt hat, und daß jene Worte, ſelbſt
in noch breiterer Ausführung, im Munde eines Japaners
für japaniſche Ohren gut geklungen haben würden.
Schon der Anfang des Geſprächs ſowohl als auch
der Rede pflegt auf Koſten des Gedankens breit zu ſein.
Der Japaner liebt es, weit auszuholen, ängſtlich ver-
meidend, mit der Thür ins Haus zu fallen. Bei einem
Beſuch ſofort mit ſeinem wirklichen Anliegen heraus-
zukommen oder bei einer Rede mit dem erſten Wort
in medias res zu gehen, iſt beides unjapaniſch. Die
Menge von Redensarten, welche dem Japaner über
das Wetter, den Weg und andere naheliegende Dinge
zur Verfügung ſtehen, rufen manchmal unſere Ver-
wunderung hervor. Wir fragen uns: Warum das
alles? und ſind geneigt, es auf die Etiquette als den
Grund zurückzuführen. Daß es auch Etiquette iſt,
geben wir zu; daß es nur Etiquette iſt, weiſen wir
zurück; es iſt dem Japaner Bedürfnis. Als ein euro-
päiſcher Freund nach einer japaniſchen Verſammlung
etwas verwundert zu mir ſagte: „Heute fingen alle
Reden mit „konnichi“ (heute), „koko“ (hier) oder
3
[34]„watakushi“ (ich) an“, fand ich das nur natürlich.
Der Redende hat das Bedürfnis, ſich zuerſt einen feſten
Punkt in Raum oder Zeit, d. h. in der ſinnlichen Welt,
zu ſchaffen, oder er vergewiſſert ſich ſeines eigenen Ich,
auf daß er mit dem eigentlichen Inhalt ſeiner Rede
nicht ſozuſagen in der Luft ſchwebe. Auch innerhalb
der Rede ſelbſt, ſobald ein neuer Begriff auftaucht oder
ein neuer Gegenſtand erörtert werden ſoll, bedient ſich der
Japaner einleitender oder veranſchaulichender Phraſen.
Am unmittelbarſten zeigt ſich der Charakter des
Japaniſchen als Anſchauungsſprache in dem Reichtum
an onomatopoetiſchen Wörtern, oder beſſer an Natur-
lauten. Denn nicht ſolche Sprachteile ſind darunter
zu verſtehen, welche wie unſer „ziſchen, krächzen“ ꝛc.
ſelbſtändige Wörter bilden. Dieſelben werden in der
Regel ſehr raſch und in Nachahmung von Naturlauten
nicht ſehr artikuliert geſprochen, ſo daß ſie etwas ſchwer
zu verſtehen ſind. Der Europäer, welcher nicht jedes
einzelne japaniſche Wort zu unterſcheiden vermag, läßt
ſie ſich leicht entgehen und hat keine Ahnung von ihrer
außerordentlichen Häufigkeit; und zwar finden ſich die-
ſelben nicht nur im Geſpräch, ſondern auch im Vortrag.
Man begnügt ſich nicht damit, zu konſtatieren, daß der
Donner rollt; um den Eindruck auf das Gefühl recht
lebhaft zu machen, fügt man das Geräuſch hinzu, wie
der Donner rollt („gorogoro“ bei dem dumpfen Rollen
des fernen, „gachigachi“ bei den ſcharfen Schlägen des
nahen Gewitters). Man iſt nicht damit zufrieden, zu ſagen,
daß die Sonnenſtrahlen auf dem Tau flimmern, man
drückt das prickelnde Gefühl, das beim Anſchauen in
den Nerven entſteht, ſinnlich im Wort aus („pikapika“).
Es iſt der Verſuch einer Nachbildung der Wirklich-
keit auf dem Gebiete des Hörens etwas Ähnliches, wie
[35] auf dem des Sehens diejenigen chineſiſchen Zeichen,
welche einfach Bilder, Photographien der entſprechen-
den Dinge ſind; nennen wir es Gehörsideographie.
Man fühlt ſich hier noch näher dem Urſprung der
Sprache, wie ſie ſich aus dem unmittelbaren Ausdruck
der inneren Gemütsbewegung oder in Nachahmung von
Außengeräuſchen entwickelt hat. Wir Europäer haben
uns mehr und mehr daran gewöhnt, das Urteil auf
Grund einer zu ergänzenden ſinnlichen Erfahrung zu
ſtatuieren; Völker, welche der Natur nahe ſtehen, haben
mehr das Bedürfnis, die ſinnliche Erfahrung ſelbſt that-
ſächlich zum Ausdruck zu bringen. Eine Art von Über-
gang finden wir in den ländlichen Dialekten unſerer
deutſchen Bevölkerung, wo der Naturlaut verhältnis-
mäßig noch ſtark vertreten iſt, während er aus der
gebildeten Sprache faktiſch verſchwunden iſt.
Was nicht im Einklang mit der ſinnlichen Erfahrung
iſt, iſt dem Sprachbewußtſein des Japaners mehr oder
weniger fremd. So legen z. B. wir Europäer abſtrakten
Begriffen Thätigkeiten bei, als wären dieſelben wirklich
thätige Individuen, und wir haben dabei nicht das
geringſte Bedenken. Anders der Japaner. Daher ſind
in der japaniſchen Sprache abſtrakte Begriffe an und
für ſich ſchon viel ſeltener als bei uns. Die japaniſche
Sprache kennt z. B. wohl einzelne Gedichte (uta, shi);
für den abſtrakten Begriff der Poeſie hat ſie kein Wort.
Sie lebt im einzelnen und beſonderen, die Zuſammen-
faſſung des einzelnen zum allgemeinen iſt nicht vollzogen.
Auch auf Koſten eines großen Umwegs vermeidet
der Japaner abſtrakten Gedankenausdruck, wenn er
dadurch denſelben konkret und anſchaulich wiedergeben
kann. Der Japaner weiß z. B., daß der Lehrer lehrt,
weil er das täglich ſieht; daß aber die Geſchichte uns
3*
[36] etwas lehrt, begreift er nicht, weil er die Geſchichte
nicht ſinnlich wahrnimmt. Anſtatt: „Die Geſchichte lehrt
uns“ ſagt er darum: „Wenn wir die Geſchichte unter-
ſuchen, ſo lernen wir“ (rekishi wo shirabemasureba,
… wakarimasu). Nehmen wir ein anderes Beiſpiel:
„Die Erfahrung zeigt, daß das Gute belohnt und das
Böſe beſtraft wird“. Wie die Erfahrung, die doch
weder Mund noch Finger hat, etwas zeigen ſoll, begreift
der Japaner nicht. Noch verſteht er, wie man das
Gute belohnen kann, da es doch keine Hand hat, mit
welcher die Belohnung in Empfang zu nehmen, oder
wie man das Böſe beſtrafen kann, da es doch nicht hand-
greiflich iſt wie ein Mörder oder Dieb, den man in
das Gefängnis ſteckt. Er ändert darum den Satz völlig
um; den abſtrakten Begriff „Erfahrung“ macht er konkret,
an Stelle von „das Gute“ und „das Böſe“ ſetzt er die
guten und die böſen Menſchen, ſo daß der Satz lautet:
„Wenn wir den Zuſtand dieſer Welt betrachten, ſo
wiſſen wir, daß die Guten Lohn und die Böſen Strafen
erhalten“ (kono yo no sama wo mimasureba, yoi hito
wa yoi mukui wo uru warui hito wa batsu wo ukeru
to iu koto ga wakarimasu). So betrachtet ſich der Japaner
die Einzelfälle und die Einzelweſen, und macht dieſe
zum unmittelbaren Untergrund ſeines Urteils. In dieſer
konkreten Sinnlichkeit, und nur in ihr, beſitzt er unan-
taſtbare Wahrheit.
Wir ſprechen von dem Hauch der Freiheit, dem
Schwert der Gerechtigkeit und dem Zahn der Zeit. Für
den Japaner ſind ſolche Allegorien der barſte Unſinn.
Wir ſagen: „Die Arznei hat mich gerettet“; „der Schuß
hat ihn getötet“; der Japaner aber kann ſich lebloſe
Dinge wie „Arznei“ und „Schuß“ nicht thätig vorſtellen
und ſagt darum: „Durch die Arznei wurde ich gerettet“
[37] und „von der Gewehrkugel getroffen ſtarb er“. Es iſt
eine ungeheure Kluft, welche durch dieſe Eigentümlichkeit
zwiſchen dem europäiſchen und dem japaniſchen Gedanken-
ausdruck geſchaffen wird. Kein Wunder, wenn es mit-
unter die größten Schwierigkeiten macht, chriſtliche Ge-
dankengänge in dieſer von Perſonifikation völlig ent-
blößten Sprache wiederzugeben; kein Wunder auch,
wenn bei dem japaniſchen Mangel einer lebendigen Ideen-
welt mancher japaniſche Prediger zu deutſchen oder, ge-
wöhnlicher, engliſchen Worten greift, die ſich im Zu-
ſammenhang einer japaniſchen Predigt allerdings ſeltſam
genug ausnehmen.
Eine konkrete Ausdrucksweiſe, wie die erwähnte,
erſcheint dem „common sense“, dem gemeinen Verſtand,
leicht als die allein berechtigte. Für den „common sense“
iſt einzige Realität das Einzelding, der Begriff iſt nur
ein „nomen“, keine „res“, kein „ens“. Wie ſich die
Sache aber vom Standpunkt einer tieferen Weltanſchau-
ung aus verhält, iſt eine andere Frage, auf welche hier
freilich nicht eingegangen werden kann. Es genüge zu
bemerken, daß die japaniſche Ausdrucksweiſe die anſchau-
lichere und lebhaftere, die indogermaniſche, ganz unab-
hängig davon, ob ſie wahr oder falſch iſt, die tiefere und
konziſere iſt, ohne doch dem Schwung der Rede Eintrag
zu thun. Als ein entſchiedener Mangel erſcheint uns
die japaniſche Ausdrucksweiſe bei der Perſonifizierung
der Ideale und idealen Lebensgüter, welcher wir ein
gut Teil der Schönheit unſerer Sprache verdanken.
Für den Japaner iſt das Ideal ein nackter Begriff.
Kunſt und Wiſſenſchaft, Weisheit und Schönheit, Geiſt
und Gemüt, welche dank unſerer indogermaniſchen Ent-
wicklung für uns lebendige Realitäten ſind, ſind für ihn
tot. Daß der ſchöpferiſche Geiſt des Ariers in den Be-
[38] griffswörtern ſeiner Sprache gleichſam lebendige produk-
tive Weſen ſchafft, die nicht mechaniſch zuſammengefügt,
ſondern mit innerer Lebenskraft begabt ſind, daß er ſei-
nen Hauptwörtern ein Geſchlecht beilegt und ſie dadurch
bezeichnend belebt, beweiſt, daß ſeine Auffaſſung eine
geiſtige iſt. Daß der Geiſt des Oſtaſiaten für lebendige
ſchaffende Begriffe kein Verſtändnis zeigt, daß die Dinge,
geſchlechtslos, für ihn tot ſind, beweiſt, daß ſeine Auf-
faſſung eine ſinnliche iſt.
Auffallend für uns und doch im Zuſammenhang des
Ganzen natürlich iſt der Charakter des Unperſönlichen
in der japaniſchen Sprache. Sie zeigt nicht nur Züge
des Unperſönlichen im einzelnen auf, vielmehr zieht ſich
das Unperſönliche durch die ganze Sprache hindurch als
eines ihrer bezeichnendſten Merkmale. Auffallend tritt
das zu Tage in der möglichſten Vermeidung perſönlicher
Fürwörter. Es hat ſtark den Anſchein, als exiſtiere im
Japaniſchen das perſönliche Fürwort nicht um ſeiner
ſelbſt willen, als ſei es nicht dazu vorhanden, die Perſon
des „ich“, „du“ oder „er“ zu beſtimmen, ſondern als
exiſtiere es nur als ein Hilfsmittel zur Vermeidung von
Unklarheiten des Sinnes. Überall da, wo das perſön-
liche Fürwort ſich von ſelbſt ergiebt, wird es ausgelaſſen.
„Kinō Ueno ye mairimashita“ heißt je nachdem: „Ich,
er oder ſie ging, wir oder ſie gingen geſtern nach Ueno“.
Nur die zweite Perſon iſt durch die dabei verwendete
Höflichkeitsform („o ide ni narimashita“ anſtatt „mai-
rimashita“) klar erkennbar. Eine beſtändige Wiederho-
lung der Fürwörter, auch der poſſeſſiven, wie in unſeren
Sprachen klingt dem japaniſchen Ohr lächerlich.
Aber nicht bloß da, wo es ſich um ein perſönliches
Fürwort als Subjekt handelt, fehlt dasſelbe; ſelbſt auch
in Fällen, wo ein Satzteil mit „ga“ oder „wa“, welche
[39] gewöhnlich als Subjektspartikeln betrachtet werden, vor-
handen iſt, geht dem Japaner das Bewußtſein eines
Subjekts in unſerm Sinne ab, ſo daß im Grunde jeder
Satz unperſönlich iſt. Was iſt der Grund? Man ſollte
doch meinen, daß dem wahrnehmenden Geiſt · die Dinge
als ſolche am nächſten liegen. Das Dingwort ſollte
alſo das Weſentlichſte der Sprache ſein, womit denn
auch zugleich dem Subjekt, das ja in der Regel mit
einem Dingwort identiſch iſt, eine leitende Stelle ange-
wieſen würde.
Eine ſolche Vorausſetzung iſt nicht unbedingt zuzu-
geben. Ebenſowohl wie das Ding iſt die Handlung
Gegenſtand der Wahrnehmung. Neben der Eleatiſchen
Philoſophie des Seins und der Ruhe giebt es eine
Heraklitiſche des Werdens und der Bewegung; beide
aber liegen auf dem Gebiete der Wahrnehmung; die
Bewegung geht noch keineswegs über dieſelbe hinaus.
Ja, pſychologiſche Beobachtung von Kindern wird ſogar
zeigen, daß die Bewegung, die Thätigkeit, die Handlung
den primitiven Geiſt am meiſten feſſelt. Das wogende
Meer erregt die Aufmerkſamkeit des Kindes in höherem
Grade als der unbewegliche Berg; das laufende Pferd
betrachtet es mit größerem Intereſſe als das ſchönſte
Pferd in Ruhe. So ſteht denn im Japaniſchen das
Verbum als der Ausdruck der Bewegung im Mittel-
punkt der Anſchauung und im Mittelpunkt der
Sprache. Wenn dieſe Bevorzugung dann auch
dem Prädikat im weiteren Sinne wie z. B. hoch ſein,
rot ſein ꝛc. zu teil wird, ſo liegt das nur in der Kon-
ſequenz des Geſagten. Denn was an einem Berg dem
primitiven Geiſt zuerſt auffällt, iſt natürlich nicht, daß
da ein Berg iſt, ſondern daß da etwas Hohes iſt, alſo
ſein Hochſein, ſein Attribut; Berg iſt erſt abſtrahiert
[40] das Hochſein iſt unmittelbar für die Wahrnehmung vor-
handen. Was die Aufmerkſamkeit des Kindes auf das
Licht lenkt, iſt der rote Glanz. Gegenüber der Handlung
ſelbſt tritt der Handelnde, gegenüber dem Attribut das
Ding in den Hintergrund. Daher die Subjektsloſigkeit
und folglich Unperſönlichkeit der japaniſchen Aus-
drucksweiſe.
Mit der konkreten Darſtellungsweiſe ſcheint die
Subjektsloſigkeit nicht im Einklang zu ſtehen. Von
unſerm europäiſchen Bewußtſein aus empfinden wir einen
Satz ohne Subjekt als etwas Totes und Abſtraktes.
Es wäre aber gänzlich verfehlt, dieſes Urteil auf die
japaniſche Sprache anzuwenden. Für den Indogermanen
iſt das Subjekt — das Subſtantiv — ſelbſt etwas
Lebendiges, Thätiges und Bewegliches; denn es hat
Leben im Geſchlecht und Bewegung in der Flexion.
Fehlt es, ſo vermiſſen wir naturgemäß ein gut Teil
Leben und Bewegung. Im Japaniſchen aber iſt das
Subſtantiv etwas Totes und Ruhendes. Das Geſchlecht
iſt ihm fremd, ſogar ſo ſehr, daß es auch da, wo es
empiriſch vorhanden iſt, das heißt in der Tierwelt (die
Menſchenwelt allein iſt ausgenommen), doch möglichſt
vermieden wird. Eine Flexion hat das Subſtantiv
nicht. Starr und ſteif bleibt es unverändert dasſelbe.
Ganz anders dagegen das Verbum mit ſeiner außer-
ordentlichen Mannigfaltigkeit der Flexion. Das Verbum
iſt das Prinzip des, wenn auch ſeelenloſen, mechaniſchen,
Lebens und der Bewegung im japaniſchen Satz. Mag
auch das Subjekt fehlen oder mag es eine untergeordnete
Stellung haben, die Beweglichkeit und Anſchaulichkeit
der Sprache wird dadurch nicht berührt.
Die japaniſche Sprache als Sprache der empiriſchen
Anſchauung iſt alſo zugleich auch unperſönlich. Wahrneh-
[41] mung und Unperſönlichkeit gehören viel mehr zuſammen,
als wir oft zu denken geneigt ſind. Finden wir ſie doch
in enger Gemeinſchaft zuſammen in dem Kind! Das
Kind, noch nicht zu vollem Selbſtbewußtſein erwachſen,
ſteht ganz innerhalb der Wahrnehmung; und gerade das
Kind iſt es, welches ſich beſonders unperſönlich aus-
drückt. Das Kind ſpricht von ſich in der dritten Perſon
und redet einen andern in der dritten Perſon an.
Für das Kind iſt alles und jeder weder ich noch du,
ſondern etwas Neutrales, ein Daſeiendes, ein Ding,
gleichwie der Japaner das Wort „mono“ (Ding) von
Sachen und Perſonen gleicherweiſe gebraucht. Wenn
alſo der Japaner unperſönlich, ſubjektslos denkt und
ſpricht, ſo hat das ſeine Urſache darin, daß ſein Stand-
punkt der der empiriſchen Anſchauung iſt.
Mir iſt es zweifellos, daß die Entwicklung der
japaniſchen Sprache von dem Verbum bezw. von dem
Prädikat ausging. Das Verbum nimmt in ihr die erſte
Stelle ein. Ein Studium der Sprache, welches mit dem
Verbum beginnt, iſt darum das Naturgemäße, und weil
es das Naturgemäße iſt, auch das Empfehlenswerte.
Jeder, der Japaniſch ſtudiert hat, weiß: Wer das Verbum
beherrſcht, und nur wer das Verbum beherrſcht, meiſtert
die Sprache. Die Methode, welche mit dem Subſtantiv
beginnt und dann erſt noch das Adjektiv, das Zahlwort
und Fürwort bringt, ehe ſie zum Verbum kommt, iſt
ſehr anfechtbar. Im beſonderen wieder iſt es an-
gebracht, mit reinen Anſchauungsſätzen zu beginnen und
nicht mit der Eintrichterung einzelner Worte. Denn
das einzelne Wort iſt abſtrakt, der Wahrnehmungsſatz
ſpiegelt die konkrete Wirklichkeit wieder. Für jeden
Menſchen ſteht die Wahrnehmung im Vordergrund, ſie
bildet die Grundlage des Denkens und folglich auch der
[42] Sprache. Mehr aber noch, erkennbarer und ſichtbarer
jedenfalls, als in andern Sprachen, ſpielt ſie in der
japaniſchen eine große Rolle. Alſo mache man den
Wahrnehmungsſatz zur Grundlage! Und zwar beginne
man mit Dingen des alltäglichen Lebens, da dieſelben
für den Japaner von großer Bedeutung ſind.
Aber auch der einzelne Wahrnehmungsſatz iſt noch
nicht konkret genug. Er bleibt abſtrakt, ſo lange er
nicht in einem ihm entſprechenden Zuſammenhang ſteht.
Die Wirklichkeit des Lebens äußert ſich als eine zu-
ſammenhängende, wenigſtens ſucceſſive Wahrnehmung.
Eine Übung wie: „Der Lehrer lehrt; Hannibal beſiegte
die Römer; die Katze fängt Mäuſe“ ſchlägt der Wirk-
lichkeit des Lebens höhnend ins Geſicht. So wie die
Wirklichkeit des Lebens ſich vollzieht, darnach richtet ſich
die Sprache beim Kind, darnach ſollte ſie ſich auch beim
Studium richten.
Die japaniſche Sprache verträgt keine gekünſtelte
und abſtrakte Methode. Denn ſie ſelbſt iſt urſprünglich.
Sie iſt der genaue Ausdruck des inneren Eindrucks und
darum an Schärfe und Deutlichkeit unſeren durch die
Grammatik abgeſchliffenen Sprachen vielfach überlegen.
Im Japaniſchen hat ſich die Kunſt lediglich nur der
geſchriebenen Sprache zugewendet; die geſprochene wuchs
auf wild und ohne Zucht, hat ſich dadurch aber ihre
Natürlichkeit bis heute noch bewahrt und damit ihre
Stärke und Schwäche zugleich.
Um einen richtigen Begriff von der erwähnten Ur-
ſprünglichkeit, der Übereinſtimmung von Grammatik und
Logik zu bekommen, iſt es eigentlich nötig, dieſes ganze
Kapitel in Betracht zu ziehen. Hier ſeien nur noch
einige wenige Beiſpiele dafür angeführt. Angenommen
es tritt jemand in ſein Zimmer und ſieht, daß jemand
[43] anderes darin war, ſo fragt er: „Wer war in dieſem
Zimmer?“ Der Japaner aber fragt: „Kono heya ni
haitta no wa dare desu?“ wörtlich: „Der in dieſes
Zimmer Eingetretene iſt wer?“ In unſerem deutſchen
Satz iſt „wer“ grammatiſch das Subjekt, „war (iſt ein-
getreten)“ iſt das Prädikat. Dieſes ſtimmt aber mit
dem Sinn des Satzes keineswegs überein, d. h. es iſt
unlogiſch. Logiſch iſt weder „wer“ das Subjekt, noch
„iſt eingetreten“ das Prädikat. Um das logiſche Ver-
hältnis herauszubringen, brauchen wir nur zu fragen:
„Um wen oder was handelt es ſich?“ Um wen handelt
es ſich alſo hier für den Fragenden? Doch um den,
der das Zimmer betreten hat; ihn will er wiſſen; und
um was handelt es ſich weiter? Darum, wer er iſt.
Alſo iſt logiſch „der in das Zimmer Eingetretene“ das
Subjekt und „iſt wer?“ iſt das Prädikat. Dieſes
logiſche Verhältnis bringt der japaniſche Satz klar und
ſcharf zum Ausdruck.
Ebenſo verhält es ſich z. B mit dem Satz: „Wenige
Menſchen thun das Gute“. Soll etwa von „wenige
Menſchen“ etwas ausgeſagt werden? Keineswegs. Viel-
mehr ſoll von Gutes thuenden Menſchen etwas konſtatiert
werden, und zwar, daß ihrer wenige ſind. Alſo ſagt
der Japaner ganz richtig: „Das Gute thuen(de) Menſchen
ſind wenige“ (zen wo nasu hito ga sukunai).
Nehmen wir den Satz: „Das japaniſche Parlament
zählt 300 Mitglieder“. Dieſer Satz giebt den logiſchen
Sinn ganz unrichtig wieder. „Der japaniſche Reichs-
tag“ iſt Subjekt, „zählt“ iſt Prädikat, und „300 Mit-
glieder“ iſt Objekt. Was iſt aber die Hauptſache?
Um was handelt es ſich? Um den „japaniſchen Reichs-
tag?“, um „zählt?“, um „300 Mitglieder?“ Nein, es
handelt ſich um „die Zahl der japaniſchen Parlaments-
[44] mitglieder“; die ſoll feſtgeſtellt werden, ſo daß es ſich
dann weiter darum handelt, feſtzuſtellen, wie viele es
ſind. Dieſes logiſche Verhältnis drückt der Japaner
auch grammatiſch im Satz aus, indem er ſagt: „Die
Zahl der japaniſchen Reichstagmitglieder iſt 300“ (Nippon
no kok’kwaigin [no kazu] wa sambyakunin desu).
Wie ſcharf die japaniſchen Glieder ſich hervorheben,
wo die deutſchen farblos neben einander ſtehen! Zwar
iſt es ja auch unſerer Sprache noch möglich, ſich in
Übereinſtimmung mit der Logik auszudrücken, oft aber
nicht, ohne dem Satz bedeutenden Zwang anzuthun und
das Sprachgefühl des Hörers zu verletzen.
Es iſt nicht eine beſtimmte Art von Sätzen, um
die es ſich hier handelt, und für das ganze Gebiet der
Sprache müſſen wir darum die Notwendigkeit betonen,
unſere Sprachen erſt logiſch umzubilden, ehe man in
das Japaniſche überſetzt. Eine wörtliche japaniſche
Überſetzung eines mit der [ſcharfen] Logik des natürlichen
Menſchenverſtandes zurecht geformten Satzes wird in
der Regel richtig ſein. Man hat alſo die Sätze in
Übereinſtimmung mit dem wirklichen Verhältnis ihres
Inhalts zu überſetzen auf Grund des Prinzips, daß
ſich der Japaner in ſtrenger Übereinſtimmung mit der
inneren und äußeren Situation ausdrückt.
Dieſem Prinzip, welchem die Abweſenheit einer
ausgebildeten Grammatik unmittelbar zur Seite ſteht,
entſpricht die außerordentliche Mannigfaltigkeit der ja-
paniſchen Ausdrucksweiſe. Das gleicht der regelloſen,
bunten Verwirrung eines natürlichen Gartens, wo das
einzelne noch nicht beſchnitten iſt mit dem Meſſer des
Gärtners und von ſeiner Hand noch nicht in zwängende
Beete eingeſchloſſen iſt. Das wächſt natürlich, gemäß
innerer Notwendigkeit und äußerer Freiheit. An unſere
[45] Gebundenheit gewöhnt können wir es kaum begreifen,
daß der Japaner, ohne irgendwie ſeiner Sprache Zwang
anzuthun, ein Sätzchen von ſechs Worten einige Dutzend
Mal variieren kann. Ich will mich mit einer kleinen
Probe begnügen, indem ich einige Variationen des
Satzes: „Dieſes Zeichen iſt gut geſchrieben“ gebe.
- kono ji wa yoku kaite aru
- kono ji ga yoku kaite aru
- kono ji no kakikata wa ii
- kono ji no kakikata ga ii
- kono ji wa kakikata ga ii
- kono ji wa kakikata wa ii
- kono ji ga kakikata wa ii
- kono ji wa yoi kakikata desu
- kono ji wa kakikata no yoi ji desu
- kono ji ga kakikata no yoi ji desu
- kono ji no kakikata wa yoi kakikata desu
- kono ji no kakikata ga yoi kakikata desu
Die Zahl dieſer Variationen ließe ſich durch kleine
Veränderungen bis auf ſechzig bringen. Das ſieht nun
allerdings wie Spielerei aus und der Unkundige iſt
verſucht, ungläubig zu lächeln. Und doch klingen alle
dieſe Formen dem japaniſchen Ohr natürlich, darum
weil ſie direkte Ausdrücke einzelner Vorſtellungen ſind.
Ein jedes Ding und ein jeder Vorgang läßt ſich von
verſchiedenen Seiten betrachten, und die Vorſtellungs-
bilder im Geiſt ſind mehr oder weniger verſchieden je
nach der Art der Betrachtung. Die Fähigkeit, dieſe
verſchiedenen Nuancierungen auch möglichſt direkt und
getreu wiederzugeben, hat ſich die japaniſche Sprache
mehr bewahrt als die unſrigen, während man ſie andrer-
ſeits wegen Mangels an feſten Formen von dem Vor-
wurf einer gewiſſen Zerfahrenheit nicht freiſprechen kann.
[46]
Wie übrigens der Japaner denſelben Vorgang je
nach der Auffaſſungsweiſe verſchieden ausdrückt, ſo hat
er auch für ein und dasſelbe Ding je nach ſeiner Er-
ſcheinungsform verſchiedene Worte. Für uns iſt Reis
gleich Reis, ob er auf dem Felde wächſt oder auf dem
Speicher lagert oder in der Schüſſel dampft. Nicht ſo
für den Japaner. Für ihn ſind das lauter verſchiedene
Dinge, die er auch verſchieden bezeichnet. Der Reis
auf dem Feld heißt „ine“, der Reis auf dem Speicher
d. h. der ungekochte „kome“, der gekochte Reis, wenn
ich ihn ſelbſt eſſe, „meshi“, wenn ihn aber eine zweite
Perſon ißt d. h. in der Höflichkeitsſprache „gozen“, und
wenn ihn ein Kind ißt, „mama“. „Ich eſſe „ine““
würde dem Japaner ſo lächerlich klingen, wie wenn
man von einem Menſchen ſagte, daß er Gras eſſe.
Es iſt die Beſtimmtheit der Anſchauung, welche
daraus hervorleuchtet und, ſo indirekt die Art des
Japaners im Verkehr iſt, ſo direkt und beſtimmt iſt er
im einzelnen Ausdruck. Wir ſagen: „Der Vater bringt
den Kindern ſtets Reiſegeſchenke mit“. Dem Japaner
iſt dieſes „ſtets“ zu unbeſtimmt und allgemein. Der
Japaner löſt auf, wo der Deutſche zuſammenfaßt, ver-
einzelt, wo der Deutſche verallgemeinert, individualiſiert,
wo wir generaliſieren. Der Japaner denkt logiſch, „ſtets“
das iſt doch wohl „jedesmal“, wenn er zurückkehrt,
und überſetzt folgerichtig: „Otottsan ga maido kodomo
ni miyage wo motte mairimasu“.
Im Anfang meines japaniſchen Aufenthalts iſt es
mir oft begegnet, daß ich Schüler, die mich beſuchten,
fragte: „Nani gakkō ye irasshaimasu ka?“ wörtlich:
„Welche Schule beſuchen Sie?“ Nun würde der deutſche
Knabe auf eine ſolche Frage ſofort ſeine Antwort geben;
hier aber wurde ich auf meine Frage gewöhnlich groß
[47] angeſchaut und in dem weitgeöffneten Auge ſtand deut-
lich zu leſen: „Ich habe Sie nicht verſtanden? Was
meinen Sie?“ Die deutſche Frage mit „welche“ oder
„was für eine“ iſt zu abſtrakt und unbeſtimmt. Der
Japaner fragt: „Doko no gakkō ye irasshaimasu ka?“
oder „nan to iu gakkō ye irrasshaimasu ka?“; er fragt
alſo ganz beſtimmt nach dem Ort oder nach dem Namen
der Schule. So würde man auch nicht fragen: „Aus
welcher Gegend ſind Sie? Welches iſt Ihre Heimat?“,
ſondern ganz beſtimmt: „Wo iſt Ihr Land?“ „Anata
wa doko no kuni desu ka?“ oder „O kuni wa doko de
gozaimasu ka?“
Wie mit dem Ort, ſo inbezug auf die Zeit. So
würde eine wörtliche Überſetzung von: „Welches iſt das
Geburtsjahr Luthers?“ japaniſch unverſtändlich ſein.
Der Japaner will direkt wiſſen, um welchen Gegenſtand
es ſich handelt, und da es ſich hier nicht um irgend
ein unbeſtimmtes „welches“ dreht, ſondern ganz klar
und deutlich um eine Zeitbeſtimmung, ſo gebraucht er
nicht das unbeſtimmte Fragepronomen, ſondern das
beſtimmte Zeitpronomen; er ſagt alſo: „Luther wa
itsu umaremashita ka?“ oder noch logiſcher: „Luther
no umareta toshi wa itsu desu ka?“
Der Unterſchied der deutſchen und japaniſchen Aus-
drucksweiſe iſt nicht auf räumliche und zeitliche Ver-
hältniſſe beſchränkt. Nehmen wir ein Beiſpiel, welches
auf einem ganz andern Gebiet liegt, z. B.: „Was iſt
Herr Mayeda?“ Die wörtliche Überſetzung: „Maye-
dasan wa nan desu ka?“ würde nicht verſtanden werden.
Der Japaner ſagt: „Was thut (treibt) Herr Mayeda?“
„Mayedasan wa nani wo suru hito desu ka?“ Bei dem
Unterricht mit Kindern gilt bei uns in Europa der
katechetiſche Grundſatz, die Fragen, dem Verſtändnis des
[48] Kindes angepaßt, ſo präzis als möglich zu ſtellen, und
gerade auf ſolche Dinge wird der junge Lehrer oft
hingewieſen. In Japan noch durch die Sprache des
ganzen Volkes, in Europa durch die Sprache der Kinder-
ſchule — hier wie dort genau dasſelbe!
In Japan geborene Kinder europäiſcher Eltern
lernen das Japaniſche eher und leichter als ihre Mutter-
ſprache; auch in Europa geborene und vor dem zehnten
Lebensjahr nach Japan gekommene Kinder eignen ſich
das Japaniſche fabelhaft raſch und korrekt an und
bedienen ſich mit Vorliebe einer Sprache, welche ihren
Eltern als der Inbegriff alles Schwierigen erſcheint.
Worin hat das ſeinen Grund? Man führt es gewöhn-
lich darauf zurück, daß die japaniſchen Wörter leichter
und gefälliger in der Ausſprache ſind als die unſrigen;
man vergleiche nur uma für Pferd, ume für Pflaume,
tabi für Strumpf. Ohne Zweifel iſt dieſer Grund nicht
zu unterſchätzen. Der tiefere Grund aber, welcher auch
praktiſch mindeſtens ebenſo ſchwer wiegt, iſt in dem Um-
ſtand zu ſuchen, daß die japaniſche Ausdrucksweiſe dem
kindlichen Geiſt homogen iſt und dem Faſſungsvermögen
und der Anſchauungsweiſe eines Kindes weit mehr ent-
ſpricht als unſere zur Mannesreife entwickelten Sprachen.
Entſprechend dem ſonſtigen konkreten und beweg-
lichen Charakter ſeiner Sprache hat der Japaner durch-
weg eine Vorliebe für das Aktivum. Denn das Aktivum
bedeutet Thätigkeit und Beweglichkeit und verdient darum
ſtets den Vorzug vor dem Paſſivum, welches Leiden,
Unthätigkeit, Ruhe ausdrückt, Qualitäten, welche für
einen Geiſt, der ſich vom Beweglichen am meiſten feſſeln
läßt, keinerlei Anziehung beſitzen. Wo irgend möglich
wird darum das Paſſiv vermieden. „Dieſes Haus
wurde voriges Jahr gebaut“, überſetzt man aktiviſch:
[49] „Dieſes Haus haben (ſie) voriges Jahr gebaut“ „kono
iye wa kyonen tateta“. Im Lateiniſchen würde in
Fällen wie „im Senat wurde beſchloſſen“ ſtets die
paſſive Konſtruktion eintreten; im Deutſchen oder
Engliſchen tritt ſie gewöhnlich, aber nicht ausſchließlich
ein; und im Japaniſchen tritt ſie möglichſt überhaupt
nicht ein. Der gebildete Deutſche empfindet den Unter-
ſchied, ob er ſich aktiviſch oder paſſiviſch ausdrückt,
kaum irgendwie; der deutſche Bauer dagegen empfindet
ihn; auch er wird ſtets das Aktiv vorziehen. „Im
Reichstag wurde beſchloſſen“ klingt ihm unbequem; „im
Reichstag haben ſie beſchloſſen“, „voriges Jahr haben
ſie hier ein Haus gebaut“, iſt ihm das Geläufigere.
Und ſo iſt es im Japaniſchen durch die Sprache des
ganzen Volkes hindurch. Daß dieſe Ausdrucksweiſe die
konkretere und anſchaulichere iſt, iſt unbedingt zuzugeben.
Von hohem Intereſſe iſt das Fehlen der Futur-
formen. Denn wenn einzelne Grammatiker von einem
Futur I und einem Futur II reden, ſo beruht das auf
einer falſchen Auffaſſung der unbeſtimmten oder dis-
junktiven Präſens- und Präteritumsformen. Eine ſolche
Auffaſſung liegt darum nahe, weil das Futur als Aus-
druck von etwas noch nicht Realem oft auch der Aus-
druck einer Unbeſtimmtheit iſt, ſo daß mitunter unſer
Futur mit der japaniſchen Unbeſtimmtheitsform wieder-
zugeben iſt.
Die Frage, warum der Japaner Gegenwart und
Vergangenheit, aber keine Zukunft hat, iſt unſchwer zu
beantworten. Gegenwart und Vergangenheit ſchließen
erfahrungsgemäße Wirklichkeit in ſich. Die Gegenwart
lebt unmittelbar in der Welt der Wirklichkeit; ſie iſt
daher beſonders bevorzugt, indem oft ſogar deutſche
Perfekta in ihr ausgedrückt werden, wenn ein Mißver-
4
[50] ſtändnis nicht zu befürchten iſt; dies gilt insbeſondere
von negativen Antworten auf vorhergehende Fragen.
Die Vergangenheit hat es mit Erinnerungsbildern einer
objektiv erfahrenen Wirklichkeit zu thun. Beide, Gegen-
wart und Vergangenheit, haben realen feſten Boden unter
ſich, und wenn eine der beiden fehlte, ſo würde das dem
Geiſt der japaniſchen Sprache durchaus widerſprechen.
Die Zukunft dagegen hat es mit Nichtwirklichem
zu thun; die Zukunft iſt ein unbekanntes dunkles Land,
wo der Fuß keinen feſten Halt zum Stehen findet, wo
die Hand anſtatt greifbarer Wirklichkeit verfließenden
Nebel zu faſſen bekommt und das Auge nichts klar und
deutlich zu erkennen vermag. Wenn es dem konkreten,
realen Sinn des Japaners widerſtrebt, ſich in einem
ſolchen Lande heimiſch zu machen, ſo können wir uns
darüber nicht groß wundern, da es mit ſeinen übrigen
Neigungen durchaus im Einklang ſteht. Etwas, was
er als wirklich kennt, kann er negieren und er thut es
im Negativum. Wo aber von vornherein nichts der
Art vorhanden iſt wie bei der Zukunft, fehlt ihm der
Ausdruck. Hier tritt nun vermöge ſeiner Auffaſſung
und überhaupt nach der Auffaſſung des primitiven
Geiſtes, welcher die Zukunft als etwas Unbeſtimmtes,
Fließendes und Ungewiſſes erfaßt, die Form der Un-
beſtimmtheit oder disjunktive Form oft da ein, wo wir
in unſern Sprachen das Futurum ſetzen. Daß das
Futurum dem Naturmenſchen mit ſeinem konkreten Sinn
überhaupt ferne liegt, ſehen wir noch ſehr klar und
deutlich in unſern Dialekten, beſonders bei der länd-
lichen Bevölkerung, deren Ausdrucksweiſe mit der japa-
niſchen in der Sache große Ähnlichkeit hat. Denn bei
beſtimmter Zukunft gebraucht der Bauer ſtets die Form
der Gegenwart, wie der Japaner ſeinerſeits thun muß;
[51] wendet aber der Bauer wirklich die Futurform an, ſo
meint er dieſelbe nicht als Futur, ſondern als Wahr-
ſcheinlichkeitsform.
Mit dem Fehlen des Futurs ſteht im engen Zu-
ſammenhang, daß dem Japaner die Begriffe der Hoff-
nung, der Befürchtung, des Wunſches und der Erwartung
in unſerm Sinne fremd ſind. Und warum? Zum guten
Teil darum, weil jene Begriffe der Zukunft angehören,
die er doch nicht kennt. Freilich geht es nicht ſoweit,
als kenne der Japaner z. B. die Furcht überhaupt nicht,
als habe er das Gruſeln noch nicht gelernt, wie jener
Mann im Märchen. Wenn von dem „ſich fürchten“ vor
wirklich vorliegenden Gefahren die Rede iſt, wie daß
das Kind den Hund fürchtet oder das Schaf den Wolf,
ſo iſt der Ausdruck leicht möglich. Wenn es ſich aber
um Befürchtungen betreffs zukünftig etwa eintretender
Ereigniſſe handelt, ſo verſagt die Sprache.
Freilich ſpielt dabei noch ein anderer für den Cha-
rakter der Sprache bemerkenswerter Faktor mit. Es iſt
das das Hintantreten der ſogenannten ſubjektiven Sprache
hinter die objektive, ein weiterer Beweis für eine noch
nicht ſehr entwickelte Stufe des Selbſtbewußtſeins gegen-
über dem Außenbewußtſein. Der Japaner ſagt auch
nicht halb ſo oft, „ich denke, ich vermute, ich glaube“ ꝛc.,
wie wir zu thun pflegen. Das beliebte „to omoimasu“,
welches der Europäer für „ich denke, daß“ gebraucht,
hört man im Munde des Japaners ſehr wenig. Er
bedient ſich in ſolchen Fällen der unbeſtimmten oder
disjunktiven Form. „Ich denke, er kommt“ iſt eher
„kuru darō“ als „kuru to omou“. Die Verba der ſub-
jektiven Sprache haben im Japaniſchen keinen ſo abge-
ſchwächten Charakter wie in unſern Sprachen; ſie ſind
gehaltvoller und haben mehr Individualität.
4*
[52]
Eigentümlich iſt die japaniſche Wiedergabe unſeres
Sollens, Müſſens und Dürfens. Sollen, Müſſen und
Dürfen liegen in der Zukunft. Hätte der Japaner für
ſie voll entſprechende Worte, ſo müßte er ebenſogut ein
ausgebildetes Futurum haben. Wie das letztere, ſo fehlt
ihm aber auch eine direkte Bezeichnung jener Formen.
Er muß umſchreiben, ſo daß das deutſche „muß thun“
durch „seneba ikenai“, wörtlich: „Wenn man nicht thut,
geht’s nicht“ wiederzugeben iſt. „Wie ſoll man’s machen“
iſt „dō shitara yokarō ka“ wörtlich: „Wenn man es wie
gethan hat, iſt es gut?“ Der deutſche Satz enthält eine
ethiſche Forderung, wie ſie in dem Wort „ſoll“ auch
etymologiſch noch klar zum Vorſchein kommt, da „ſoll“
gemeinſamen Stammes mit „Schuld“ iſt; man vergleiche
nur das engliſche „should“ gleich „ſollte“, wo die Ver-
wandtſchaft mit Schuld ſofort einleuchtet. „Du ſollſt“
iſt alſo „du ſchuldeſt“. Der Japaner aber ſetzt einfach
einen Urteilsſatz beruhend auf dem Grunde der Er-
fahrung, aus welchem die ethiſche Forderung nicht er-
ſichtlich iſt. Es iſt ohne Zweifel charakteriſtiſch, daß in
den einzigen Formen des Verbums, wo das ethiſche
Moment in den Vordergrund zu treten Gelegenheit hat,
dasſelbe beim japaniſchen Ausdruck überhaupt nicht vor-
handen iſt. Der japaniſche Ausdruck klingt utilitariſtiſch.
Eine der intereſſanteſten Formen des Verbums iſt
das Negativum. Der Japaner hat kein entſprechendes
Wort für „nicht“. Ebenſo wenig kennt die Sprache
negative Pronomina oder Adverbien. Begriffe wie
„niemand, kein, nichts, nirgends, niemals“ ꝛc. haben
kein japaniſches Äquivalent. In der That ſind für den
wahrnehmenden Geiſt ſolche Vorſtellungen Unmöglich-
keiten. Ein „niemand“, „nirgends“ oder „niemals“ iſt
ein Unding, das es nicht giebt. Eine derartige Negation
[53] iſt nur dem Denken möglich, welches von den Dingen
ſchlechthin zu abſtrahieren weiß, alſo dem über die
Wahrnehmung hinausliegenden Denken.
Der Japaner verbindet die Negation mit dem Ver-
bum, das heißt mit demjenigen Sprachteil, durch den
allein Veränderungen des Seins ſich ausdrücken laſſen.
Die Bildung des Negativums iſt pſychologiſch un-
ſchwer nachzukonſtruieren. Nehmen wir den Satz: „Ame
ga furanai“, „es regnet nicht“. Ehe dieſer negative
Satz geſprochen wurde, war im Geiſt iſoliert ſchon das
poſitive Bild des Regnens, der Gedanke an Regnen
vorhanden, veranlaßt durch eine vorhergehende Frage:
„Regnet es?“ oder durch die Erinnerung an das geſtrige
ſchlechte Wetter oder durch die Beobachtung eines be-
deckten Himmels ꝛc. Indem dann dieſes poſitive Bild
des Geiſtes in Vergleichung zu der thatſächlichen Wirk-
lichkeit gebracht wird, findet man, daß dasſelbe in der
Wirklichkeit nicht vorhanden iſt und ſagt dann: „Furanai“,
„regnen — nicht vorhanden“. Das Negativ iſt alſo
die Angabe, daß ein poſitives Bild des Geiſtes in der
Welt der Wirklichkeit keine Beſtätigung findet.
Der Umſtand, daß ein eigenes Wort für unſer
„nicht“ nicht exiſtiert, impliziert ſchon, daß für den
Japaner die Negation überhaupt nichts Selbſtändiges
iſt. Sie verſchmilzt mit dem Zeitwort, mit welchem ſie
ſich verbindet, zu einem einzigen Begriff. Dieſer Begriff
aber hat im Japaniſchen in gewiſſem Sinne poſitive
Bedeutung, in Übereinſtimmung damit, daß für die
Geiſtesſtufe der Wahrnehmung überhaupt nur das Po-
ſitive exiſtiert.
Die poſitive Natur des negativen Verbums fällt
ſofort auf bei der Beantwortung negativer Fragen. Auf
eine negativ geſtellte Frage antwortet der Japaner po-
[54] ſitiv, wo wir negativ antworten würden. Auf die Frage:
„Kaze ga fukanai ka?“ (weht nicht Wind?) giebt der
Japaner zur Antwort: „Hai, fukanai“, „ja, er weht
nicht“ oder „hai, so desu“, „ja ſo iſt’s“, wo wir mit
„nein“ antworten würden. Doch hat der Japaner von
ſeinem Standpunkt aus völlig Recht, und dieſes leuchtet
ſofort ein, wenn wir den Satz ſo wiedergeben, wie ihn
der Japaner empfindet. Die wörtlichſte und korrekteſte
Überſetzung von „kaze ga fukanai ka?“ iſt: „(iſt) Nicht-
wehen des Windes?“ Die logiſch richtige Antwort
darauf zur Bezeichnung deſſen, daß kein Wind weht,
iſt: „Ja, es iſt Nichtwehen“ oder einfach: „Ja, es iſt“
(nämlich Nichtwehen). Die letzten Zweifel an der
Richtigkeit des japaniſchen Ausdrucks werden ſchwinden,
wenn wir das Wort „Nichtwehen“ durch „Stille“ er-
ſetzen. Auf die Frage: „Iſt Windſtille?“ erfolgt notwendig
die Antwort: „Ja“, wenn die Frage beſtätigt werden ſoll.
Sobald man ſich davon frei gemacht hat, in dem
japaniſchen „fukanai“ unſer „wehen“ und unſer „nicht“
als zwei getrennte Begriffe zu ſehen, iſt man über dieſe
Schwierigkeit hinaus.
Was den Anfänger am meiſten verwirrt, iſt der
antipodiſche Charakter der japaniſchen Sprache. Eine
wörtliche Überſetzung aus dem Japaniſchen dünkt uns
auf den erſten Blick der reinſte Unſinn zu ſein. Über
den Satz: „Kangae no nai hanashi wo suru yori wa
damatte iru hō ga ii to omou“ (wörtlich: „Gedan-
ken von nicht ſein Reden machen als was betrifft
ſchweigend ſein Seite die gut daß glaube) bedarf es
erſt einigen Nachdenkens, bis es einem einfällt, daß man
es ja mit einem Antipodenvolk zu thun habe, und daß
darum vielleicht auch der Satz ſelbſt und in dem Satz
ſo ziemlich alle Redeteile auf den Kopf geſtellt werden
[55] müſſen, ehe man die Bedeutung des Satzes in gutem
Deutſch erfahren kann: „Ich halte Schweigen für beſſer
als gedankenloſes Reden“. Der Japaner denkt und
ſpricht umgekehrt wie wir. „Die Ohren der Katze“
(1, 2, 3, 4) wird in ſeinem Munde gerade umgekehrt
„Katze der Ohren die“ „neko no mimi wa“ (4, 3, 2, 1);
„auf dem Tiſche“ (1, 2, 3) wird umgekehrt „Tiſch dem
auf“ „tsukue no ue“ (3, 2, 1). Der Genitiv kommt
ſtets vor dem Hauptwort, von dem er abhängig iſt, das
indirekte Objekt vor dem direkten, das Adverb vor dem
Prädikat. Präpoſitionen werden zu Poſtpoſitionen, Kon-
junktionen treten hinter den durch ſie beſtimmten Satz,
das Hilfszeitwort hinter das Zeitwort. Die Wort-
ſtellung iſt genau beſtimmt. Verſehen klingen dem
japaniſchen Ohr komiſch.
Das Wichtigſte kommt immer hinten nach, die
letzte Stelle im Satz iſt von größter Bedeutung und
gehört darum dem Verbum. Ehe das Verbum kommt,
weiß man nicht, woran man iſt, der Satz nimmt die
Aufmerkſamkeit in Anſpruch bis zum letzten Wort, da
bis zum letzten Wort das in der Schwebe bleibt, um
was es ſich eigentlich handelt.
Wer ſich einigermaßen mit der japaniſchen Wort-
ſtellung vertraut gemacht hat, kann nicht umhin, ihre
Vorzüglichkeit tief zu empfinden. Es iſt ein harmoniſcher
Aufbau, welchen man vor ſich hat. Der letzte Teil,
zumal das Verbum, erſcheint wie ein Feldherr, welcher
hinter den wohlaufgeſtellten Truppen ſteht und von dort
aus alles überſieht und leitet, während in andern
Sprachen oft alles durcheinander zu gehen ſcheint und
eine eigentliche kontrollierende Macht nicht vorhanden iſt.
Genau dasſelbe Prinzip, welches die Wortſtellung
beherrſcht, macht ſich auch in der Satzſtellung geltend;
[56] das Nebenſächliche kommt voran, der Hauptſatz ſteht
immer am Ende. „Beſuchen Sie mich manchmal, wenn
Sie nach Tokyo kommen“ muß notwendig wiedergegeben
werden: „Wenn Sie nach Tokyo kommen, beſuchen Sie
mich manchmal“ „Tokio ye oide nasattara, toki-doki
irasshai“. „Er ſagte, er werde kommen, wenn das Wetter
gut ſei“ (1, 2, 3) wird umgekehrt: „Wenn das Wetter
gut ſei, werde er kommen, ſagte er“ (3, 2, 1), „tenki
ga yokereba, kuru to itta“. So muß ein deutſcher
Satz mit drei oder vier Nebenſätzen im Japaniſchen oft
geradezu auf den Kopf geſtellt werden, und ich kannte
Japaner, bei denen es Prinzip war, bei Überſetzungen
aus dem Deutſchen von hinten anzufangen.
Es iſt bewundernswert, wie ſtreng der Japaner
das Verhältnis der Koordination und Subordination
durchführt. Wir ſagen ruhig: „Geſtern war ich krank
und ging nicht zur Schule“. Wir koordinieren. Dem
Japaner geht das wider das Gefühl. In ſtrikter Über-
einſtimmung mit dem wirklichen Verhältnis ſubordiniert
er den erſten Satz, nur der zweite erſcheint als ſelb-
ſtändig, alſo: „Wegen Krankſein ging ich geſtern nicht
zur Schule“, „byōki de kinō gakkō ye mairimasen
deshita“. „Es regnet und die Wege ſind ſchlecht“ wird:
„Infolge Regnens ſind die Wege ſchlecht“, „ame ga
futte michi ga warui“.
Auch hier iſt die japaniſche Sprache in unbedingter
Harmonie mit der Logik des natürlichen Verſtandes,
welcher alles ſo ſieht, wie es wirklich erſcheint, das
Nebenſächliche als Nebenſächliches ſetzt und dem Gegen-
ſtand den Hauptplatz zuweiſt, dem er gebührt. Der
Europäer wird nur dann richtig japaniſch konſtruieren,
wenn er ſtreng logiſch d. h. in ſtrenger Übereinſtimmung
mit den Verhältniſſen denkt.
[57]
Durch die Tendenz, die Neben- und Hauptſache in
der Sprache zum Ausdruck zu bringen, ſind kurze Sätze
von vornherein beſchränkt. Kurze Sätze ſind überall da
häufig, wo Nebeneinanderſtellung, Koordination ſtatt-
findet. Dieſes iſt im Japaniſchen aber nicht der Fall.
Der Japaner bildet daher Satzgefüge und zwar, ent-
ſprechend dem gegenſeitigen Verhältnis der einzelnen
Glieder, oft von außerordentlicher Länge. Als ich es
einmal fertig gebracht hatte, eine ganze anderthalbſeitige
Geſchichte in einem einzigen Satz zu erzählen, fand ich
Gnade vor meinem japaniſchen Lehrer.
Ein großes Kreuz für den Europäer bildet die
Höflichkeitsſprache. Zwar haben ja auch wir Deutſche
unſer redlich Teil an dieſem Kreuz zu tragen, aber im
Vergleich zu dem Japaniſchen ſind unſere Höflichkeits-
phraſen harmloſer Natur. In unſere Sprachen über-
ſetzt, klingt die japaniſche Höflichkeit höchſt lächerlich
und geſchraubt. Warum man von ſo einem gewöhnlichen
Ding wie von den Füßen als von „geehrten und er-
habenen Füßen“ ſpricht, iſt gewiß nicht einzuſehen. Die
Höflichkeitsſprache hat zum Teil ihr eigenes Vokabularium
und zwingt dem Verbum andere und neue Formen auf.
Für das Sprechen iſt ſie von außerordentlicher Wich-
tigkeit, da ſich ohne Kenntnis derſelben nicht einmal ein
einfaches Geſpräch führen läßt. Falſch aber wäre es,
von ihr einen Schluß auf den inneren Charakter der
Sprache zu machen. Dieſelbe iſt nichts weiter als eine
bis ins kleinſte kunſtvoll ausgebildete Etiquette auf dem
Gebiet des Sprechens. Sie iſt alſo nicht etwas Urſprüng-
liches ſondern Kunſt; ſie gehört nicht zur Natur der
Sprache ſelbſt, ſondern wurde von außen eingetragen.
Sie iſt in eminentem Sinn das Element, in welchem
der Japaner ſeine Sprache, die er ſonſt gar nicht bear-
[58] beitete, ausgebildet hat, und welches wir nicht ſowohl
pſychologiſch als vielmehr geſchichtlich verſtehen müſſen.
Denn der Grund der Ausbildung liegt, abgeſehen von
Feinfühlichkeit, nicht in beſonderen Gemütsverhältniſſen
des Japaners, ſondern in äußeren Kulturzuſtänden. Den
ſtrikten Standesunterſchieden früherer Zeiten verdankt
die Höflichkeitsſprache ihre heutige Blüte. Wo die
Standesunterſchiede verſchwinden und das Individuali-
tätsbewußtſein mehr zum Vorſchein kommt, da wird der
Menſch, ſeines Ich bewußt, perſönlich, da entſchwindet
der Höflichkeitsſprache der Boden. Und wie ſie ſich
darum in England und Amerika, wo man „ich“ mit
einem großen und „Sie“ mit einem kleinen Anfangs-
buchſtaben ſchreibt, am wenigſten findet, ſo wird ſie auch
in Japan bei der raſchen Entwicklung des Individua-
lismus in wenigen Jahrzehnten bedeutend an Feld ver-
loren haben. —
Das alſo iſt die japaniſche Umgangsſprache. Nicht
durch das ganze Volk hin wird ſie in ihrer urſprünglichen
Reinheit geſprochen. Vielmehr iſt die Rede des Gebil-
deten für den gewöhnlichen Mann bis zur Unverſtänd-
lichkeit mit chineſiſchen Wörtern und aus der Schrift-
ſprache entlehnten Redeformen durchſetzt. Nur die ge-
ſchriebene Sprache hat ſich bisher einer wiſſenſchaftlichen
Beachtung erfreuen dürfen, während die Gebildeten auf
die Sprache des Volkes mit Verachtung herabſchauten.
Und doch hat die Umgangsſprache allein Ausſicht, die
Sprache der Zukunft zu ſein. Freilich muß ſie dazu
eine Anzahl Begriffe bezw. Wörter aus der Schrift-
ſprache herübernehmen. Doch kann das ohne große
Schwierigkeiten geſchehen. Schwieriger iſt die Aufgabe,
die grammatiſche und logiſche Form der Sprache über
die Wahrnehmungsſtufe hinaus zu entwickeln. Denn
[59] in ihrer jetzigen Form iſt ſie nicht imſtande, die euro
päiſche Kultur zum Ausdruck zu bringen.
Von großer Tragweite iſt dabei auch die Änderung
des chineſiſchen Schriftſyſtems. Die Verſuche, das jetzige
Schriftſyſtem durch „Kana“, die leichte japaniſche Silben-
ſchrift, oder „Romaji“, die lateiniſche Schrift, zu erſetzen,
ſind vorläufig als geſcheitert zu betrachten. Das Intereſſe
für die Kana- und Romajibewegung, welches in den
achtziger Jahren ſehr rege war, iſt heute tot, und das
iſt ein Beweis dafür, daß die Volksſeele ſelbſt einer
Abänderung widerſtrebte.
Das Problem der Abänderung der Schrift iſt darum
ſo außerordentlich ſchwierig, weil die Schrift, ſo wenig
wie die Sprache, etwas rein Mechaniſches und Äußer-
liches iſt, welches man leicht wechſeln könnte wie ein
Kleid; vielmehr iſt es ein pſychologiſches Problem, um
welches es ſich dabei handelt. Unſere Schrift iſt durchaus
abſtrakt; unſere Zeichen als ſolche ſagen dem Betrachten-
den nichts. Im Chineſiſchen dagegen iſt das Schrift-
zeichen konkret; das Zeichen ſpricht direkt zu dem Be-
trachtenden wie ein Gemälde; der Begriff iſt unmittel-
bar in dem Zeichen enthalten. Im Chineſiſchen wird
nach Art der Hieroglyphen dem Auge ein Bild der be-
treffenden Dinge dargeboten, ſo daß der Betrachtende
ſinnlich erfaßt, was wir verſtandesmäßig zu begreifen
gezwungen ſind. Die Zeichen für Baum, Berg, Fluß,
Thor, Flügel ꝛc. geben jetzt noch klar erkennbare Bilder
dieſer Gegenſtände. In andern Fällen enthält das
chineſiſche Zeichen ganze Definitionen, wo unſere ent-
ſprechenden Schriftworte keinerlei Anhaltspunkte ihres
Sinnes geben; ſo ſchreibt man drei Bäume für Wald,
zwei Bäume für Park, Sonne und Mond für hell, Stein
und klein für Sand, Mitte und Herz für Treue, grün
[60] und Jahre für Jüngling, Punkt über dem Strich
für oben, Punkt unter dem Strich für unten, Berg,
auf und ab für Paß i. e. Bergpaß. Auch kul-
turhiſtoriſch ſind manche Zeichen von großer Bedeu-
tung. So ſchreibt man für Himmel eins und groß,
alſo das große Eine und das ſtimmt genau mit der
alten chineſiſchen Naturreligion überein, die den Himmel
als höchſte Gottheit verehrte. Drei Frauen unter einem
Dach bedeutet Zank, Hader, Eiferſucht und das Zeichen
läßt mit Beſtimmtheit darauf ſchließen, daß die alten
Chineſen Polygamiſten waren; eine Frau unter einem
Dach dagegen bedeutet Stille, Ruhe, Friede; alſo haben
ſchon die alten Chineſen gewußt, daß, wer Ruhe im
Hauſe haben wolle, nur eine Frau ſich anſchaffen dürfe.
Man wird verſtehen, daß die chineſiſche Schrift neben
großer Umſtändlichkeit auch außerordentliche Bequemlich-
keiten bietet, vor allem aber, daß ein Geiſt, welcher
geneigt iſt, mehr als wir unmittelbar auf der Grund-
lage der ſinnlichen Anſchauung zu denken, freiwillig nicht
auf ein ſeiner Denkweiſe ſo entſprechendes Syſtem ver-
zichtet, und daß er nicht eher davon abgehen wird, als
bis eine eiſerne Notwendigkeit ihn dazu zwingt. In-
wieweit aber da die völlige Unmöglichkeit, für die Un-
maſſe neu eindringender Worte und Begriffe chineſiſche
Charaktere zu ſchaffen, den jetzigen Stand des Schrift-
ſyſtems beeinfluſſen wird, muß die Zukunft lehren.
Jedenfalls wird man ſich dem Bewußtſein jener Unmög-
lichkeit nicht lange mehr verſchließen können. Gerade
je komplizierter man gegenwärtig noch die Schriftſprache
geſtaltet durch das Bemühen, die neue Kultur in chineſiſche
Zeichen zu preſſen, um ſo elementarer wird das Bewußt-
ſein von der Unmöglichkeit einſt hervorbrechen. Auch
dieſe Sorte neuen Weines verträgt keine Füllung in
[61] alte Schläuche, und die Freiheit, welche das innerſte
Weſen unſerer Kultur ausmacht, wird es trotzig ver-
weigern, ſich auf die Dauer die Zwangsjacke des chine-
ſiſchen Zeichens, des Prinzipes der unveränderlichen Be-
ſtimmtheit und Stagnierung, anlegen zu laſſen. Nur
eine Zeitlang wird der griechiſche Pegaſus ſich bequemen,
als chineſiſcher Ackergaul im Zwang des Geſchirres zu
dienen; und je früher dem neuen Beſitzer die Augen
aufgehen, deſto beſſer für ihn.
Eine glückliche Löſung ſeines Sprachproblems wäre
Japan im Intereſſe ſeiner künftigen Kultur von Herzen
zu gönnen.
[[62]]
III. Geiſtesleben und Erziehungsweſen.
Wenn am Abend die Sonne hinter unſern deutſchen
Bergen hinabſinkt, reibt ſich in Japan mancher gähnend
die Augen und wickelt ſich ſchlaftrunken aus den auf
den Boden gebreiteten Decken, die ihm die Stelle eines
Bettes vertreten. Schon dämmert es über den Fluten
des Stillen Oceans und bald erglänzt die ſchneebedeckte
Kuppel des majeſtätiſchen Fujinoyama in den goldenen
Strahlen der Morgenſonne. Wenn es hier Nacht iſt,
iſt es dort Tag. Die Japaner ſind unſere Antipoden,
unſere Gegenfüßler.
Sie ſind aber unſere Antipoden nicht bloß räumlich,
ſondern auch in vielen anderen Beziehungen. Dinge, die
ſich bei uns ganz von ſelbſt verſtehen, die wir uns gar
nicht anders denken können, als wie ſie nun einmal
ſind, ſind dort geradezu auf den Kopf geſtellt. Mache
ich mit einem Japaner einen Spaziergang, ſo läßt er
mich als höflicher Mann links gehen und nicht rechts;
denn die Herzſeite, die linke, iſt in Japan die Ehren-
ſeite. Beobachten wir einen Japaner, wenn er ſich in
Galakleidung ſteckt, ſo bemerken wir mit Erſtaunen, daß
er zuerſt den langen Mantel, kimono genannt, anzieht
und darnach die Hoſe oder hakama oben drüber.
Schauen wir bei dem Neubau eines Hauſes zu, ſo nimmt
es uns wunder, daß, ehe noch ein Grund zum Haus
gelegt iſt, die Zimmerleute einſtweilen ſchon das Dach
zuſammenſetzen, wenn auch nur vorläufig, ſozuſagen zum
[63] Anprobieren. Macht man in einem japaniſchen Hauſe
Beſuch, ſo iſt das erſte nicht den Hut abzunehmen,
ſondern die Schuhe auszuziehen. Weiße Kleider, nicht
ſchwarze, ſind die Zeichen der Trauer, und bei einem
Leichenbegängnis wird faſt mehr gelacht als geweint.
Sehen wir hinein in das Geiſtesleben des Japaners,
ſo zeigt ſich uns hier dasſelbe antipodiſche Verhältnis.
Schon ein oberflächlicher Blick auf die mechaniſchen
Äußerungen des Geiſteslebens, z. B. auf Leſen und
Schreiben, beſtätigt das. Zwar das ginge ja wohl noch
an, daß man nicht vorn auf der erſten Seite beginnt,
ſondern hinten auf der letzten, daß man nicht von links
nach rechts lieſt und ſchreibt, ſondern von rechts nach
links. Das iſt im Hebräiſchen und Arabiſchen auch nicht
anders. Was uns vielmehr am meiſten auffällt, iſt der
Umſtand, daß man nicht wagerecht über das Blatt hin
lieſt und ſchreibt, ſondern ſenkrecht von oben nach unten.
Es iſt ja freilich alles, wie man es gewohnt iſt; der
Japaner findet unſere Art des Schreibens zum Lachen
ſonderbar. Kanimoji, Krabbenſchrift, nennt er in ſeiner
anſchaulichen Art mit witzigem Spott unſere Schreib-
weiſe, weil ſie quer läuft wie die Krabbe. Ihm kommen
unſere geradeliegenden Augen nicht minder merkwürdig
vor wie uns ſeine Schlitzaugen, und mancher japaniſche
Kuli mag bei dem Anblick der Lebensgewohnheiten des
deutſchen Profeſſors, bei dem er in Dienſt ſteht, zwei-
felnd den Kopf ſchütteln in dem ſtillen Gedanken: Je
gelehrter, je verkehrter.
Aber auch im innern Leben des Geiſtes liegt das
gegenſätzliche Verhältnis klar zu Tage. Die Denkformen
ſind hier und dort verſchieden. Die Unterſuchung über
die Sprache hat uns den japaniſchen Geiſt ſchon in leichten
Umriſſen angedeutet: Ein noch unentwickelter, aber ge-
[64] ſunder Geiſt, welcher mit ſcharfen, lebhaften Sinnen noch
inmitten der konkreten Anſchauung und des naiven
Empfindens ſteht, in das Gebiet des abſtrakten Denkens
aber nur ſchüchterne Blicke gethan hat. Es ſcheint, als
ſeien die Kanäle, durch welche unſer Denken geht, dort
überhaupt nicht vorhanden oder doch wenigſtens nicht
ausgebaut. Während wir, pſychologiſch betrachtet, auf
der Stufe des Begriffs ſtehen, iſt der Japaner über die
Stufe der Wahrnehmung und Anſchauung kaum hinaus-
gekommen. Dafür iſt er aber auf dieſem Gebiet voll
und ganz zu Hauſe. Thatſächlich übertrifft er uns in allen
Vorzügen der Wahrnehmungsſtufe. Er hat ſcharfe Sinne,
geſchickte Hände, eine raſche und ſichere Auffaſſungsgabe.
Er iſt Meiſter auf dem Gebiet der praktiſchen Wirklich-
keit. Beſonders geſchickt iſt er in techniſchen Fertigkeiten.
In Oſaka, dem Centrum der japaniſchen Induſtrie, wo
mit jedem neuen Jahr neue Schlote in die Lüfte empor-
ragen, fertigt man Maſchinen ſchwerſter Konſtruktion; in
ſeinen Werkſtätten werden Kanonen gegoſſen und auf den
Werften von Nagaſaki baut man Kriegsſchiffe. Die Münze
in Oſaka gilt als eine der beſten der Welt. In vielen
Zweigen der Technik und Induſtrie hat es Japan ver-
ſtanden, Europa ſeinen vielhundertjährigen Vorſprung
in drei Jahrzehnten abzugewinnen und mit ihm in gleicher
Linie zu marſchieren. Der fähige Schüler thut es heute
ſeinem Meiſter, bei dem er in die Lehre ging, in vielen
Dingen gleich. Breit ergoß ſich der Strom der abend-
ländiſchen Induſtrie in das Land, und nicht lange wird
es dauern, ſo ſtrömt er zurück, um mit der Flut ſeiner
Produkte den Weltmarkt zu überſchwemmen. Mit kin-
diſcher Freude hat man zuerſt das erwachende Leben
drüben betrachtet, die Freude beginnt der Beſorgnis zu
weichen. Schon vertreibt die japaniſche Konkurrenz die
[65] engliſche Weberei vom Orient und vielleicht bald ſchon
werden japaniſche Produkte dieſer Art auf dem Markte
von London zum Verkauf ausgeboten. Der Traum eines
Japaners, daß die Schweiz die Induſtrie der Uhrmacherei
und Flandern die der Spitzenfabrikation teilweiſe an
Japan abzutreten haben, mag ſeiner Erfüllung nicht zu
ferne ſein. Je feiner die Arbeit und je komplizierter,
deſto beſſer paßt ſie für den Japaner.
Aber auch an unſer Wiſſen hat er ſich gemacht, und
auch das nicht ohne großen Erfolg. Was einfach über-
nommen werden kann, was man ſozuſagen nur aus-
wendig zu lernen braucht, eignet er ſich mit ſpielender
Leichtigkeit an. Er beſitzt ein beſſeres mechaniſches Ge-
dächtnis als wir. Ganz beſonders auffällig iſt das bei
der Erlernung von Sprachen. Es giebt Europäer, und
ſie ſind nicht etwa Ausnahmen ſondern Regel, die ein
jahrzehnt und länger in Japan anſäſſig ſind und die
ſich heute nur notdürftig verſtändlich machen können,
die alſo über das Küchen- und Kulijapaniſch nie hinaus-
gekommen ſind. Kommt man aber nach Yokohama oder
Tokyo und redet einen gut gekleideten Japaner auf
engliſch an, ſo iſt es wahrſcheinlich, daß er engliſch ant-
wortet. An einen Studenten, der durch eine beſondere
Tracht als ſolcher gekennzeichnet iſt, darf man ſich ruhig
in deutſcher Sprache wenden; wahrſcheinlich wird er ſie
verſtehen. Deutſche Profeſſoren unterrichten ihre Stu-
denten mittels der deutſchen, einige auch mittels der
engliſchen Sprache. In der theologiſchen Schule unſerer
Miſſion geſchieht der Unterricht in deutſcher oder eng-
liſcher Sprache und auch bei der Aufnahme von Zög-
lingen in die theologiſchen Seminare der Amerikaner iſt
die erſte Bedingung die Kenntnis des Engliſchen, ſo zwar
daß ſie einem Vortrag zu folgen im ſtande ſind.
5
[66]
Die fremden Profeſſoren ſind mit ihren eingeborenen
Schülern ſehr zufrieden. In dem Kopfe eines japa-
niſchen Studenten iſt eine Unmenge von Wiſſen auf-
geſpeichert. Der japaniſche Student iſt fleißiger als der
deutſche, eine Beobachtung, die ſich ſchon an den auf
deutſchen Univerſitäten ſtudierenden Japanern machen
läßt. Der größte Feind des Studiums iſt ihm unbe-
kannt: Das Kneipen; mehr als für dieſes begeiſtert er
ſich allmählich für den Sport: Rudern, Lawntennis,
Fußball. Und das iſt gut ſo. Denn er bedarf der
körperlichen Erholung ſehr dringend. Geiſtige Arbeit
ſetzt ihm ſehr ſtark zu, und viele kommen durch Über-
arbeitung ſo herunter, daß ſie nach dem Examen zu
weiterer angeſtrengter Arbeit unfähig ſind. Infolgedeſſen
giebt es nicht wenige europäiſche Beobachter, welche
behaupten, die Japaner lernten nur bis zum Examen
und nur für das Examen, nicht aber für das Leben.
Der Japaner iſt ſcharfſinnig, er iſt das, was man
landläufig mit geſcheit bezeichnet. Seine Faſſungsgabe
iſt raſch und ſicher. Die Geduld des Lehrers ſtellt er
auf keine allzuharte Probe. Würden deutſche und ja-
paniſche Kinder zuſammen unterrichtet, ſo würden in den
erſten Jahren und vorausſichtlich die ganze Elementar-
ſchule hindurch die deutſchen zurückſtehen. Japaniſche
Kinder bewältigen dasſelbe Penſum in kürzerer Zeit.
Später aber dürfte ſich das Verhältnis anders geſtalten.
Der Japaner iſt zufrieden, ſich etwas angeeignet zu haben,
und ohne weiteres ſpeichert er es auf bei all dem andern,
was er in der großen Schatzkammer ſeines Gedächtniſſes
angeſammelt hat. Daran, daß er es noch einmal durch
die Mühle ſeines eigenen Denkens ſchickt, denkt er nicht.
Das einmal Erfaßte auch geiſtig zu verarbeiten und
innerlich zu verdauen und ſo zu ſeinem eigenſten und
[67] innerlichſten Eigentum zu machen, iſt nicht ſeine Sache.
Er übernimmt die Reſultate, aber den weiten Weg, der
zu dieſen Reſultaten führt, erſpart er ſich. Quantitativ
iſt ſein Geiſtesleben dem unſrigen überlegen, qualitativ
ſteht es hinter dem unſrigen zurück. Der Japaner hat
Talent, er hat großes Talent; aber er hat wenig Genie.
Er hat Talent, denn er verſteht es, mit dargebotenen
Mitteln zu arbeiten und zwar vorzüglich zu arbeiten;
aber er hat wenig Genie; denn er verſteht es nicht, in
den Kern und das Weſen der Dinge zu dringen, um
aus der Tiefe heraus ſich ſelbſt immer wieder auf das
Neue zu gebären und neue reiche Schätze zu heben. Der
Japaner iſt nicht original. Der Mangel an Originalität
fällt überall auf. In deutſchen Zeitungen ſtand vor
nicht langer Zeit eine Geſchichte zu leſen, deren unge-
fährer Inhalt folgendermaßen war: Zwei Japaner
hielten ſich etwa ein Jahr lang in einer Textilfabrik
in Sachſen auf, welche große Ausfuhr nach Japan hat.
Nachdem ſie die Geheimniſſe der Fabrik genau ausge-
kundſchaftet und ſtudiert hatten, kehrten ſie in ihre Hei-
mat zurück und hier, wo man vor der Nemeſis des
unlauteren Wettbetriebs ſicher iſt, gründeten ſie ſelbſt
eine Fabrik, in welcher ſie die Artikel jenes deutſchen
Geſchäftes nachmachten. Nun ſind die japaniſchen Ar-
beitslöhne ſehr niedrig, wohl immer noch um das
Dreifache niedriger als bei uns. Infolgedeſſen konnten
ſie ſehr billig arbeiten und ſchlugen die deutſche Firma
bald aus dem Felde. In der Verlegenheit und um
wieder neuen Abſatz zu gewinnen, traf die deutſche
Fabrik neue Einrichtungen, arbeitete nach veränderten
Syſtemen und ſchuf neue Fabrikate. Damit erwarb ſie
ſich denn auch wieder einen neuen Markt, und jetzt
kamen jene Japaner in Verlegenheit. Sie ſchrieben
5*
[68] daher einen verbindlichen Brief an den deutſchen Fabri-
kanten, worin ſie ſich hübſch bedankten für all das, was
er ſie gelehrt habe; jetzt aber ſeien ſie in einer großen
Verlegenheit; er möge doch ſo freundlich ſein, ihnen
ſeine neuen Pläne und Einrichtungen mitzuteilen. Für
die volle Wahrheit dieſer Geſchichte ſtehe ich nicht ein.
Aber ſo abenteuerlich ſie klingt, ſie könnte recht wohl
wahr ſein. Die Sache iſt ganz japaniſch. Sie iſt nicht
bloß charakteriſtiſch für ihren Spür- und Spionierſinn,
ſondern auch für ihre ſcheinbar harmloſe naive Unge-
niertheit; vor allem aber iſt ſie dafür bezeichnend, daß
die Japaner nachahmen, und zwar geſchickt nachahmen,
daß ſie aber nicht originell ſind.
Was ſie haben, haben ſie durch das Ausland. Ihre
alte Kultur erhielten ſie von China, ja teilweiſe ſogar
von dem heutzutage völlig verrohten Korea. Daher kam
die Religion des gemeinen Volkes, der Buddhismus;
daher kam die Religion der oberen Kaſten, der Kon-
fuzianismus. Daher kam ihre Sittlichkeit; die japaniſche
Sprache hat urſprünglich ſehr wenig Worte, um ſittliche
Begriffe auszudrücken. Alles muß durch chineſiſche Worte
wiedergegeben werden, ſowie bei uns viele wiſſenſchaft-
liche Begriffe durch lateiniſche und griechiſche Fremd-
wörter ausgedrückt werden, wogegen unſere ethiſchen
Begriffsausdrücke zu den echteſten Beſtandteilen der
deutſchen Sprache gehören. Von China erhielten ſie
ferner ihre gebräuchliche Schrift, und ſelbſt der Urſprung
der Silbenſchrift Kana ſcheint nicht rein japaniſch zu
ſein. Von China kam ferner Poeſie, Muſik, Malerei
und plaſtiſche Kunſt. Ebenſoviel wie damals von den
Chineſen übernehmen ſie heute von den Abendländern.
Sie entwickeln nicht nur Geſchick in der Nachahmung
unſerer Induſtrieerzeugniſſe, ſie naſchen nicht allein an
[69] den Früchten unſerer Wiſſenſchaft; auch das Staats-
weſen, das Gerichtsweſen, das Militärweſen, das Schul-
weſen, die ganze Staatsmaſchine nehmen ſie von Europa
hinüber, und — es iſt erſtaunlich — die Maſchine geht.
In all dem haben ſich die Japaner von jeher als
hervorragend gelehrig erwieſen. Die meiſten Völker haben
ſich ſelbſt gegen die Segnungen einer neuen Kultur hart-
näckig verſchloſſen, bis ihnen dieſelben ſchließlich auf-
gezwungen wurden; dafür iſt China das klaſſiſche, aber
bei weitem nicht vereinzelte Beiſpiel; die Japaner aber
haben ſich von jeher für das Beſſere zugänglich erwieſen.
Haben ſie auch ſelbſt keine großen, originalen Gedanken
gehabt, ſo hatten ſie für dieſelben doch immer ein weites
Herz und ſoweit ſie nach ihrer, allerdings ſtark beſchrän-
kenden, geiſtigen Veranlagung dazu imſtande waren,
haben ſie verſucht, ſich dieſelben anzueignen. Sklaviſche
Nachahmer und Nachbeter ſind ſie nie geweſen. Was
ſie übernahmen, war auch bald japaniſch. Sie haben
es immer in harmoniſchen Einklang mit der Umge-
bung gebracht. Es iſt nicht ſo, als hätte man die
Kinder einer fremden Welt einfach in japaniſche Kleider
geſteckt; ſie haben vielmehr japaniſche Geſichtszüge be-
kommen. Der Japaner iſt bei allem Mangel an Origi-
nalität doch eine ſehr ausgeprägte Individualität, welche
auf die Dauer das Fremde als Fremdes nicht erträgt.
So hat er allerdings nicht zu japaniſieren verſtanden,
wie wir das paläſtinenſiſch-griechiſch-römiſche Chriſten-
tum germaniſiert haben, wo kein einziger Wahrheits-
punkt verloren ging und jeder einzelne durchleuchtet ward
von dem beſonderen Licht deutſchen Geiſtes. Das Japani-
ſieren iſt ein radikaler Prozeß, dabei ſehr wenig gebogen,
aber vieles gebrochen wird, dabei man beſtändig das
Meſſer in der Hand hat, um all das hinwegzuſchneiden,
[70] was nicht paßt, was nicht kongenial erſcheint. Es iſt
darum trotz allem und allem ein mehr oder weniger
mechaniſcher Prozeß, es ſind mehr Akkommodationen als
tiefinnerliche Aſſimilationen. Daß ſie in der Übernahme
des Fremden nicht kritiklos ſind, iſt damit ſchon aus-
geſprochen. Ein anderes Volk wäre durch all das Neue,
wie es ſich den Japanern in den letzten Jahren auf-
gedrängt hat, vollſtändig verwirrt worden; es hätte ſchließ-
lich mit ſtumpfen Sinnen in völliger Lethargie ſich alles
aufdrängen laſſen. Die Japaner aber haben ſelten die
nüchterne Urteilskraft verloren, ſie haben mit ſcharfem
Blick das Brauchbare von dem Unbrauchbaren unter-
ſchieden, und im großen und ganzen, ſoweit es ſich
um den Mechanismus unſerer Kultur handelt, muß ihnen
zugeſtanden werden, daß ſie der Mahnung entſprochen
haben: Prüfet alles und behaltet das Beſte. Aber frei-
lich, es handelte ſich für den Japaner immer nur um
die mechaniſche Kultur und darum kann auch mehr oder
weniger nur von einem mechaniſchen Prozeß der Akkom-
modation die Rede ſein. Aber die Kultur hat noch eine
andere Seite. Dem Mechanismus der äußeren Kultur
liegt der Organismus der Geiſteskultur zu Grunde. Und
hier haben die Japaner die Aſſimilation zwar verſucht,
aber da ſie dieſelbe nicht geiſtesverwandt fanden, vor-
läufig nicht durchzuführen vermocht, ſoweit man nicht
gar mit dem ernſtlichen Gedanken ihrer Durchführung
gebrochen hat.
Das rein Geiſtige iſt eben nicht die Sache des auf
der Anſchauungsſtufe ſtehenden Japaners. Es iſt auf-
fallend, wie wenig Intereſſe für metaphyſiſche und ethiſche
Fragen er hat. Weder ſeine Geſchichte noch ſeine her-
vorſtechendſten Neigungen zeigen eine Tendenz zum Idea-
lismus. Er liebt das Wirkliche und Greifbare. Er
[71] kann es nicht verſtehen, wie man ſich über pſychologiſche
und dogmatiſche Fragen ereifern kann. Für die feinen
Unterſchiede religiöſer Anſchauungen hat er weder theore-
tiſches noch praktiſches Verſtändnis. Der Reiz, den der
gebildete Geiſt des Abendländers in der Welt der Phantaſie
und Romantik findet, iſt für ſeinen Geiſt ein unver-
ſtändliches Rätſel. Der Zauber, den Probleme oder
Spekulationen an ſich auf den Abendländer ausüben,
ganz gleichgültig, ob daraus praktiſcher Nutzen ſpringt
oder nicht, exiſtiert für ihn nicht. An der Univerſität in
Tokyo unterrichtet neben einer Anzahl anderer deutſcher
Lehrer auch ein Profeſſor der Philoſophie, ein Idealiſt
durch und durch; die Regierung drängt darauf, gerade
die deutſche Philoſophie in Japan heimiſch zu machen,
weil die Deutſchen über die ganze Erde hin in dem
Rufe eines Volkes von Philoſophen ſtehen; aber es will
nicht recht gelingen. Viel lieber gehen ſie in die Schule
bei den praktiſchen Engländern. Die Namen Herbert
Spencer und J. Stuart Mill ſind auch dem halbwüchſigen
Symnaſiaſten bekannt. Die Philoſophie des Materialis-
mus iſt die in Japan gebräuchliche. Die ganze Welt-
anſchauung, ſoweit von Weltanſchauung überhaupt die
Rede ſein kann bei einem Volk, welches niemals die
Welt als Ganzes anſchaut, ſondern immer nur die Dinge
der Welt im einzelnen, iſt materialiſtiſch. Der Japaner
hat ein Sprichwort: „Ju-nin to-hara“ („zehn Menſchen,
zehn Bäuche“), im Sinne völlig unſerm: „So viel Köpfe,
ſo viel Sinne“ entſprechend. Nun iſt auch uns eine
gewiſſe Beziehung zwiſchen Magen- und Geiſtesthätig-
keit nicht ganz fremd und das lateiniſche Wort: „Plenus
venter non studet libenter“ („ein voller Bauch ſtudiert
nicht gern“) iſt uns ſattſam bekannt. Gleichwohl muß
es uns als ein wahrhaft klaſſiſches Bild einer materia-
[72] liſtiſchen Weltauffaſſung auffallen, wenn der Japaner
den Sitz der Verſtandesthätigkeit nicht im Kopfe, ſondern
im Bauche ſucht. Ich hatte mir einmal auf Wunſch
von etwa zehn jungen Medizinern, zur Hälfte Chriſten,
die Mühe gemacht, in einer Reihe von Vorträgen das
Recht der idealiſtiſchen Weltanſchauung gegenüber der
materialiſtiſchen darzuthun. Als ich zu Ende war, wollte
ich mich von dem Erfolg überzeugen. Und worin beſtand
derſelbe? Darin, daß einer der begabteſten mir ſagte,
daß er zwar als Chriſt gern an die idealiſtiſche Welt-
anſchauung glaube, daß aber für ſein Denken die materia-
liſtiſche nach wie vor die wirklich vernunftgemäße ſei.
Und die andern waren mit ihm einig. Was der Japaner
ſieht, das iſt; alles andere iſt nicht. Er hat nicht viel
von der glühenden Phantaſie der Semiten, noch von der
tiefen Sinnigkeit und Innigkeit der Indogermanen, noch
von der ſüßen Träumerei und unpraktiſchen Schwärmerei
der Deutſchen. Es wäre verkehrt, den Japaner geiſtlos
zu nennen; denn das wäre irreleitend; aber vergeiſtigt,
durchgeiſtigt iſt er nicht.
Vielmehr leidet ſein Geiſtesleben an einem gewiſſen
Mechanismus. Es verläuft mehr oder weniger maſchi-
nenmäßig, während das unſrige in hohem Grade orga-
niſch iſt. Es iſt bezeichnend, daß das Rechnen, das doch
nach unſerer Meinung eine bedeutende Geiſtesthätigkeit
verlangt, mittels des soroban, der Rechenmaſchine, aus-
geführt wird. Soll der Japaner einmal im Kopf rechnen,
ſo ſieht es ſchlecht aus. Ebenſo iſt es charakteriſtiſch,
wie das Leſen erlernt wird. Der Lehrer ſagt zwei, drei
Worte vor, die Schüler ſprechen ſie nach, ſo geht es
weiter, und es wird dann alles ſo oft wiederholt, bis
die Schüler das Leſeſtück rein mechaniſch auswendig
können. Ich hatte manchmal Veranlaſſung, dem Unter-
[73] richt in einer Elementarſchule beizuwohnen. Da habe ich
denn öfter geſehen, wie die Schüler ein Leſeſtück völlig
richtig ablaſen oder vielmehr aufſagten, während ſie doch
mit ihren Fingern in einer ganz andern Zeile, wenn
nicht gar auf einer andern Seite herumtippten. Schließ-
lich lernen ſie aber auf dieſe mechaniſche Weiſe doch leſen.
Thun wir nun einen Blick in die Geiſtesmächte
des Japaners, ſo finden wir hier beſtätigt, was
vorſtehend geſagt wurde. Der Konfuzianismus, der
von den höheren Kreiſen begünſtigt iſt, iſt ein zwar
ſittlich hochſtehendes, aber trockenes und nüchternes Mo-
ralſyſtem ohne Höhen und Tiefen, ohne wirklichen Geiſtes-
flug. Er iſt nicht geboren aus der Tiefe idealer Gedanken
oder gar einer himmelan ſtrebenden Schwärmerei, viel-
mehr iſt er die Schöpfung eines hervorragend prak-
tiſchen Geiſtes, welcher ganz auf dem Boden der kon-
kreten Wirklichkeit, der alltäglichen Erfahrung ſteht.
Ein ſolches Syſtem paßt zu dem Japaner. Der Bud-
dhismus, ſowie er urſprünglich von dem erleuchteten
Buddha gelehrt wurde, gehört zu dem Tiefſinnigſten,
was je gedacht worden iſt. Es iſt eine Philoſophie,
und noch dazu eine myſtiſche Philoſophie, welche nur
der ſich aneignen kann, der ſie innerlich durchdenkt und
durchfühlt. Man ſucht aber nach dieſer Art Buddhismus
dort vergebens. Der Japaner hat die Lehre Buddhas
zum greifbaren, grobſinnlichen, konkreten Götzendienſt
verdichtet, hat ſie ſo umgeſtaltet und beſchnitten, wie
es ſeiner ſinnlichen Veranlagung entſprach. Das ein-
zig Originale, was die Japaner auf dieſem Gebiet
hervorbrachten, iſt der Shintoismus. Wenn man aber
ſeiner Mythologie nachgeht, ſo iſt man erſtaunt über den
Mangel an ſittlichen Gedanken und an poetiſcher Phan-
taſie. Das gemütvolle Volkslied des Deutſchen, des Ruſſen,
[74] des Engländers ſucht man hier vergebens. Der Geſang
iſt nicht Gemeingut des ganzen Volkes. Daß eine ge-
mütliche Geſellſchaft einmal einen Chor anſtimmt, giebt
es nicht. Der Geſang wird nur berufsmäßig ausge-
übt. Ich will nicht ſagen, daß in dem Geſang kein
Gemüt liegt; aber jedenfalls iſt es für den Abendländer
ſehr ſchwer, aus dieſen Tönen Gemüt herauszuhören.
Die Poeſie, ganz abgeſehen davon, daß ſie gleich der Muſik
nicht original iſt, beſitzt weder beſondere Tiefe noch Innig-
keit. Es giebt Überſetzungen japaniſcher Gedichte in das
Deutſche und Engliſche, die ſich ſehr angenehm leſen.
Man ſagt ihnen aber nicht ganz ohne Grund nach, daß
die Überſetzung ſchöner ſei als das Original. Dabei
macht in Japan aber jedermann Gedichte; aber auch
jedes Gedicht, wenn es nur der benötigten Silbenzahl
gerecht geworden iſt — denn es handelt ſich weder um
Rhythmus noch um Reim —, findet ſeine Bewunderer.
Das einzige Gebiet, auf wechem das Volk wirklich etwas
geleiſtet hat, iſt das Märchen; und daß es einen ſehr
großen Schatz äußerſt treffender Sprichwörter hat, die
ſich mitunter mit den unſrigen geradezu decken, iſt nur
im Einklang mit ſeinem ganzen Geiſtesleben. Denn
die Heimat des Sprichworts iſt weder die Phantaſie
noch die Poeſie noch die Spekulation, ſondern die nüch-
terne praktiſche Wirklichkeit.
Aber ſteht denn damit nicht im Widerſpruch, daß der
Japaner eine hohe Achtung vor der Wiſſenſchaft hat, und,
wie ja ſchon die Zahl der japaniſchen Studierenden in
Deutſchland beweiſt, auch ſelbſtthätig für die Wiſſenſchaft
eintritt? Gewiß iſt das ein ſchöner und idealer Charakter-
zug, daß ihm das Wiſſen höher ſteht als etwa das
Geld, aber für die idealiſtiſche Natur des japaniſchen
Geiſtes beweiſt er noch nichts. Es ſind in den letzten
[75] Jahren auf wiſſenſchaftlichem Gebiet Erfolge erzielt
worden, welche das Abendland in Erſtaunen ſetzten.
Aber — und darauf kommt es an — dieſe Erfolge
waren die Reſultate eines ungewöhnlichen Scharfſinns,
nicht aber eines tiefſinnigen Denkens. Subtile Erfin-
dungen zu machen, dazu ſind die Japaner veranlagt,
aber ein Volk von Philoſophen werden ſie nicht. Ihre
ſeitherigen Erfolge lagen dementſprechend nicht auf dem
Gebiet der reinen Geiſteswiſſenſchaften, ſondern auf dem
der empiriſchen Wiſſenſchaften, und daß ſie da etwas
leiſten, iſt nach ihrer Veranlagung nur zu erwarten.
Wenn unſere Ärzte von den geradezu muſterhaften
anatomiſchen Präparaten japaniſcher Mediziner ſprechen,
wenn unſere Chemiker und Bakteriologen die feinen
Analyſen ihrer japaniſchen Schüler rühmend hervorheben,
ſo wundere ich mich darüber nicht im geringſten. Das
Experimentieren iſt ihre Sache. Was dazu notwendig
iſt, beſitzen ſie im höchſten Grade. Es iſt nicht zufällig,
daß in Japan die fähigſten Gymnaſiaſten ſich der Me-
dizin zuwenden, und daß die Medizin die tüchtigſten
Kräfte aufzuweiſen hat; ebenſo iſt die ſichere und gedie-
gene Arbeit der Militärärzte im japaniſch-chineſiſchen
Krieg hinreichend bekannt. Die angewandte Medizin
iſt nicht eine reine Geiſteswiſſenſchaft; ſie iſt mehr eine
Kunſt als eine Wiſſenſchaft; ihr Gebiet reicht weit in
das Sinnliche, in die Wahrnehmungsſtufe hinein, und
dort iſt der Japaner zu Hauſe.
Das Äſthetiſche in dem weiten Kant’ſchen Sinne des
Wortes iſt ſein Feld und infolgedeſſen iſt es ganz na-
türlich, daß er auch für das Äſthetiſche in der engeren
landläufigen Bedeutung des Wortes einen ausgeprägten
Sinn beſitzt. Seine ganze Lebensführung darf als eine
äſthetiſche bezeichnet werden. Eine gütige Fee hat ihm
[76] den Sinn für das Schöne, ja für die heiteren Seiten
des Lebens überhaupt in die Wiege gelegt. Er liebt
ſchöne Formen und giebt ſich mit Gefühl an dieſelben
hin. Er hat ein ausgeſprochenes Verſtändnis für die
Schönheiten ſeiner wunderbaren Natur. Wenn im
Februar die Pflaumen und anfangs April die Kirſchen
blühen, wenn Ende Oktober die Knoſpen der Aſtern ſich
erſchließen und ihre ſchmalen Blätter ſonnenſtrahlenförmig
entfalten; wenn im November das Laub des Ahorns vor
dem Sterben ſich blutig rot färbt wie der Abendhimmel,
wenn die Sonne hinabſinkt; wenn im Winter die Erde
in ihr weißes Schneekleid ſich hüllt, was allerdings ſelten
genug vorkommt: dann ſtrömt jung und alt hinaus,
um ſich des ſchönen Anblicks zu freuen. Die beiden
großen Geſellſchaften, welche der Kaiſer alljährlich zu
geben pflegt, und zu denen der Adel, die hohe Beamten-
ſchaft und die Elite der europäiſchen Geſellſchaft ein-
geladen werden, finden bezeichnender Weiſe in den kaiſer-
lichen Gärten ſtatt und zwar zur Zeit der Kirſch- und
der Chryſanthemumblüte. Gern verweilen ſie eine Stunde
oder zwei angeſichts eines ſprühenden Waſſerfalls und
die Zweige einer Fichte, regungslos über die ſtillen Fluten
eines dunkeln Sees gebeugt, erfüllen ſie mit Entzücken.
In der Dämmerung des Abends gehen ſie hin nach einem
lauſchigen Plätzchen, um dem Geſang der unguisu, der
Nachtigall, zu lauſchen, und beim Grauen des Tages,
wenn der hototogisu, der Kuckuck, ſeinen eintönig melan-
choliſchen Ruf hören läßt, zieht es ſie hinaus nach dem
Wald. Jeder Japaner kennt die Schönheiten ſeines
Landes, und wer Zeit und Geld hat, ſcheut auch die
weiteſte Reiſe nicht, ſie zu genießen. Es giebt Pſycho-
logen, welche die Liebe zu der Natur als die höchſte
Entwicklung des Geiſtes bezeichnen, und wenn man ſieht,
[77] wie bei uns zu Lande die Schönheiten der Natur in der
Regel nur von dem Gebildeten gewürdigt werden, wäh-
rend der Bauer gleichgültig und ſtumpf daran vorüber-
geht, iſt man verſucht, dem zuzuſtimmen. In Japan
aber iſt der Sinn für die Natur nicht ein Vorrecht der
beſſeren Klaſſen, hier iſt er angeboren, und der Tag-
löhner beſitzt ihn ebenſo wie der Profeſſor. Es verging
kein Frühling und kein Herbſt, wo nicht mein Koch ſich
für einen Nachmittag Urlaub erbat, um mit ſeinen Kindern
zur Blütenſchau nach Ueno oder Dangoſaka zu gehen.
Die großen Volksfeſte ſind Naturfeſte, und in Gottes
freier Natur werden ſie gefeiert. Da ſtrömen ſie hinaus
zu Tauſenden, und es iſt ein äſthetiſch ſchöner, ein
maleriſcher Anblick, die ſchneeig und roſig blühenden
Bäume gegen den tiefblauen Himmel ſich abheben zu
ſehen und unter ihnen luſtwandelnd eine frohbewegte
Menge, Männer und Frauen in feſttäglicher Stimmung,
lächelnd und ſchwatzend, und von ihnen geführt die Kinder
in ihren bunten Kleidern. Auf japaniſchen Volksfeſten
wird ebenſo viel Natur gekneipt als auf deutſchen Bier.
Das Schöne bietet ihm Genuß, das Häßliche thut
ſeinen Augen weh. Darum iſt ihm aller Schmutz ein
Greuel, darum hält er darauf, daß im Haus und am
Körper alles blitzblank iſt. Die meiſten Japaner, auch
Bauern und Taglöhner, nehmen im Sommer täglich, im
Winter in der Regel wöchentlich ein Bad. In der
Neujahrsnacht badet das ganze Volk, und ſo peinlich
wird darauf gehalten, als ſei es eine religiöſe Pflicht,
nicht unrein in das neue Jahr hinüberzugehen. Kehrt
man in einem Gaſthaus ein, ſo iſt das erſte, was einem
angeboten wird, ein Bad, und die bedienende Nēſan
mag wohl im ſtillen manchmal wenig ſchmeichelhafte
Vergleiche ziehen, wenn der Ijinſan, der Herr Europäer,
[78] in ſeiner Bequemlichkeit auf das Bad verzichtet. Pein-
lich ſucht man ſich Hautausſchläge fern zu halten, man
hat einen natürlichen Ekel davor, und der Ausſatz, der
immer noch vereinzelt vorkommt, iſt mehr im Sinne der
Unreinheit verabſcheut, denn als Krankheit bemitleidet.
Seine Kleider hält der Japaner peinlich ſauber. Leute
in zerriſſener und verlumpter Kleidung ſieht man in
Japan weit weniger als bei uns. Mag ſein, daß er
im Sommer nicht viel mehr anhat als ein paar Bein-
kleider, die nur die äußerſte Blöße bedecken; aber dieſe
wenigſtens ſind ſauber in Ordnung gehalten. Der Schmutz
der Straße iſt von dem Innern des Hauſes peinlich
fern gehalten; wer in das Haus tritt, muß zuvor auf
dem Flur die Schuhe ausziehen. Das würde auch der
peinlichſten deutſchen Hausfrau ſchwer fallen, im japa-
niſchen Zimmer ein Spinngewebe zu entdecken, und der
aus Strohgeflechten beſtehende Stubenboden iſt ſo ein-
ladend ſauber, daß man auch, ſelbſt wenn einem kein
Unterkiſſen angeboten wird, in der feinſten Kleidung ſich
unbedenklich darauf ſetzen darf.
Alles macht den Eindruck des äſthetiſch Schönen.
Das japaniſche Eſſen mag für uns nicht beſonders gut
ſchmecken, dafür aber ſieht es ſchön und appetitlich aus.
Nirgends wird mit größerem Anſtand gegeſſen. Die
Eßſtäbchen werden in den Theehäuſern nur einmal ge-
braucht, und unſere Art des Eſſens hält der Japaner
für unäſthetiſch, weil man ſich dabei Meſſer und Gabeln
bedient, die vielleicht eine Viertelſtunde zuvor ein anderer
im Munde hatte. Jede Bewegung, jede Verbeugung
iſt abgerundet und frei von allem Eckigen, vollendet in
ihrer Art. Haſtige Bewegungen vermeidet man.
Wollten ſich bei uns die Handwerker und Arbeiter im
ſchmutzigen Arbeitskittel, wenn ſie ſich auf der Straße
[79] begegnen, mehrmals tief vor einander verbeugen faſt bis
zur Erde hin und dann mit abgezogenen Hüten zum
Austauſch höflicher Redensarten bei einander ſtehen
bleiben, um ſich endlich wieder mit nicht weniger tiefen
und zahlreichen Verneigungen von einander zu trennen,
ſo würde man das einfach lächerlich finden. Wer es in
Japan ſieht, vergißt über dem äſthetiſchen Anblick die
Lächerlichkeit. Es darf ein Deutſcher ſich auf dem
Parketboden noch ſo ſehr zu Hauſe fühlen, ſo gewandt
iſt er doch nicht, daß er nicht noch einen japaniſchen
Taglöhner um ſeine Kunſt, ſich zu verbeugen, beneiden
dürfte, und auf die wirklich graziöſe Art, wie die Ja-
panerin, auch die niedrig geborene, ſich bewegt, dürfte
jede deutſche Salondame ſtolz ſein.
Auf Etikette und Anſtand wird viel gehalten von
Kind auf, und in der Schule ſind, für die Mädchen
wenigſtens, beſondere Unterrichtsſtunden dafür eingeführt.
Die ganze Erziehung der japaniſchen Frauenwelt iſt bis
vor kurzem eine vorzugsweiſe äſthetiſche geweſen: Etwas
Leſen, Schreiben und Rechnen wohl, mehr aber als das
Unterricht in den ſchönen Künſten, im Blumenbinden,
der Dichtkunſt, der Malerei, und vor allem der Muſik;
das intellektuelle Moment kommt erſt in zweiter Linie
und das Ethiſche ſoll durch das Äſthetiſche erzielt wer-
den. Tauſend Jahre bevor Schiller ſeine Betrachtungen
über die äſthetiſche Erziehung ſchrieb, war dieſelbe in
Japan ſchon in Übung. Es iſt demnach eine ganz ver-
kehrte Anſchauung, als ſeien die heidniſchen Völker im
gegenſeitigen Verkehr roh und ungeſchliffen, eine An-
ſchauung, die man ſich aus einer Vergleichung ländlich
einfacher und ſtädtiſch formeller Höflichkeit zurecht ge-
macht hat. England und Amerika, wo das Sprichwort:
„Mit dem Hute in der Hand kommt man durch das
[80] ganze Land“ in keiner Weiſe mehr zutrifft, ſind der Be-
weis dafür, daß die förmliche, aber äſthetiſche Höflich-
keit zurücktritt, je mehr die Kultur voranſchreitet. Wer
aber geſehen hat, wie Afrikaner und Araber, Indianer
und Oſtaſiaten ſich begrüßen, weiß, daß Europens über-
tünchte Höflichkeit auch nicht entfernt an das heranreicht.
Der Japaner entſtellt auch ſein Geſicht nicht durch
Leidenſchaften. Zornausbrüche mit all ihren häßlichen
Begleiterſcheinungen von Geſichtsverzerrungen und un-
harmoniſchen Bewegungen widerſtreben ſeinem äſthe-
tiſchen Sinn. Der Europäer, der ſich ſeinen Gefühlen
blind überläßt, ſei es des Zornes oder des Schmerzes
oder der Luſt, gilt ihm als innerlich roh und ungeſittet.
Das lebhafte Minen- und Geſtenſpiel von Franzoſen
und Italienern erfüllt ihn mit Staunen und Abſcheu.
Ein liebenswürdiges Lächeln umſpielt im Verkehr mit
dem Nächſten ſeine Lippen, aber lautes, zwergfell-
erſchütterndes Lachen, ebenſo wie lautes Schreien wider-
ſtrebt ſeinem feinen Gefühl und iſt das ausſchließliche
Vorrecht von Kellnerinnen und Geiſha, die eben jenſeits
der Grenze des Anſtandes liegen. Der Japaner liebt
das Harmoniſche nicht nur in ſeiner Umgebung ſondern
auch an ſich ſelbſt. Die Trunkſucht mit all ihrer ab-
ſtoßenden Häßlichkeit iſt in Japan ein wenig verbreitetes
Laſter. In Bezug auf geiſtige Getränke ſind ſie nüchtern
und mäßig. Ein Wirtshausleben in unſerm Sinne, wo
man zu beſtimmten Stunden am Stammtiſch zu einem
Spielchen oder zu einer gemütlichen Plauderei ſich trifft,
wo man aber auch oft nur hingeht, um dem Gott
Bacchus zu opfern, giebt es in Japan nicht. Die ſo-
genannten Theehäuſer ſind Gaſthäuſer zum Herbergen
von Fremden oder zu kurzer Raſt für Ausflügler, und
das Getränk, das man dort in der Regel zu ſich nimmt,
[81] iſt wirklich Thee. Sie ſind alſo nicht nur „ſogenannte“
Theehäuſer, vielmehr führen ſie ihren Namen mit Recht.
Rohe Krawalle, wie ſie bei uns nur allzu häufig vor-
kommen, zumal als Nachſpiele der Gemütlichkeit beim
Alkoholgenuß, giebt es in Japan faſt gar nicht. Auch
rohes Schimpfen iſt ſelten und Fluchen iſt ganz unbe-
kannt; und dieſes nicht nur bei den beſſeren Klaſſen,
ſondern bis in die unterſten Schichten des Volkes hinab.
Manchmal kann man beobachten, wie zwei Kuli, welche
vor ihren Handwagen in eiligem Lauf von verſchiedenen
Richtungen daherkommen, durch Unachtſamkeit heftig
gegen einander anrennen. Das erzeugt gewiß kein an-
genehmes Gefühl, und wenn es ſich um europäiſche
Arbeiter handelte, ſo würden ſie ihren Schmerzen durch
Handgreiflichkeiten oder zum mindeſten durch Schimpfen
und Fluchen Luft machen. Dort aber begnügen ſich die
beiden Kuli, die kaum einen Arbeitskittel anhaben und
ſich mit nackten Armen und Beinen gegenüberſtehen,
eine elegante Salonverbeugung zu machen, und bitten
einander höflichſt um Entſchuldigung. Es iſt eine Wohl-
erzogenheit ſondergleichen, eine wohlthuende Harmonie,
die durch das ganze Volk hindurchgeht.
So iſt das Äſthetiſche eine das ganze Leben tief
durchdringende Macht, eine Macht, welche thatſächlich
die Richtſchnur der geſamten äußeren und zum Teil auch
der inneren Lebensführung bildet. Darf man doch un-
bedenklich behaupten, daß das Äſthetiſche vielfach höher
geſchätzt wird als das Ethiſche, daß Etikette und feine
Form in den populären Anſchauungen weiter Kreiſe über
der Sittlichkeit ſtehen. Daß eine ſo grundlegende Macht
ſich auch produktiv geltend macht, iſt ſelbſtverſtändlich.
Die Kunſt beginnt hier eigentlich ſchon mit dem
Handwerk. Denn auch der Handwerker iſt in gewiſſem
6
[82] Sinne ein Künſtler, wie umgekehrt der Künſtler wieder
ein Handwerker iſt. Es iſt ſchwer, hier die Scheidelinie
zu ziehen. Was der Japaner als Handwerker, Kunſt-
handwerker und Künſtler zu leiſten im ſtande iſt, das
zu erkennen braucht man heute nicht mehr nach Japan
zu gehen, das läßt ſich auch in unſerer Heimat an ſo
manchem Stück japaniſcher Kunſt erſehen. Aber ſo hoch-
entwickelt dieſe Kunſt auch iſt, ſo wunderbar fein bei
aller ſcheinbaren Einfachheit die Ausführung iſt, ſo
bewegt ſich der Künſtler doch immer auf dem Gebiet
des Realen, nicht des Idealen. Das Höchſte in der
Kunſt iſt das Objektive, die Natur. Der den Regeln
der Kunſt entſprechende Garten iſt der naturgetreue
Garten. Bei uns zwängt der Gärtner alles in Beete
ein, ſtreng nach den Regeln der Symmetrie. In den
japaniſchen Gärten iſt nichts in Beete gebracht, alles
liegt bunt durcheinander und doch wieder harmoniſch
neben einander wie in der Natur. Der japaniſche
Garten iſt das Bild einer vollſtändigen Landſchaft mit
Seen und Bächen und Waſſerfällen, mit Bergen und
Thälern und Bäumen; natürlich alles, auch die künſtlich
ſo gezogenen Bäume, en miniature; und das, was wir
in einem Garten am eheſten ſuchen würden, nämlich die
Blumen, tritt in dem japaniſchen Garten, genau wie
in einer Landſchaft draußen auch, ſehr in den Hinter-
grund. Die Natur iſt die große Lehrmeiſterin, bei
welcher die Japaner in die Schule gehen.
Die Gegenſtände japaniſcher Malerei ſind faſt aus-
ſchließlich aus der Natur, Flora und Fauna, entnommen.
Ein kleiner Zweig blühender Pflaumenknoſpen oder ein
Trio fliegender Kraniche iſt ein Motiv, für welches ſich
auch der größte Maler begeiſtern kann. Und bewunderns-
wert iſt es, mit welcher, nur durch Liebe zu ſeinem
[83] Gegenſtand erreichbaren, Meiſterſchaft er ſich ſeiner Auf-
gabe entledigt: Der gemalte Zweig ſcheint von dem
Zauber und Duft der Natur nichts eingebüßt zu haben.
Auch das Trivialſte erſcheint nicht trivial; immer iſt es
durchweht von dem poetiſchen Hauch der Natur. Man
hat geſagt, ein japaniſches Bild ſei ein Gedicht. Ja,
es iſt ein Gedicht, ſo gewiß, als über der Frühlings-
landſchaft der Hauch der Poeſie liegt; es iſt ein Gedicht,
weil und ſoweit es Natur iſt. Aber da, wo das wirk-
lich Ideale recht zum Ausdruck kommt, hört die japa-
niſche Malerei auf. Die Welt der Ideale iſt ihr un-
bekannt, die perſönliche Darſtellung von Freiheit und
Recht, von Wahrheit und Liebe, von Glaube und Hoff-
nung iſt ihr ebenſo unmöglich wie der Poeſie. Und wie
man in den Gedichten mit ihren 31 Silben in fünf Zeilen
vergeblich nach großen Gedanken ſucht, ſo auch auf den
Gemälden. Der japaniſche Geiſt iſt nicht auf das Große,
ſondern auf das Kleine und Feine hin veranlagt.
Das geiſtigſte Weſen der Schöpfung bildet keinen
Gegenſtand der Malerei. Des Dichters Ausſpruch, daß
der Menſch das höchſte Studium der Menſchheit ſei, iſt
der japaniſchen Kunſt, iſt dem Geiſtesleben des Japaners
überhaupt fremd. Wo ſich die Malerei doch an den
Menſchen heranmacht, da wird es entweder ein geiſtloſes
Porträt oder eine Karikatur. Sein Karikieren aber iſt
das ſtille Eingeſtändnis, daß er hier an den Grenzen
ſeines Könnens angelangt iſt; ein Eingeſtändnis, das uns
in humoriſtiſcher Art zum Lachen bringen und über es
ſelbſt hinwegtäuſchen ſoll, das aber nichts deſto weniger
in ſeinem ganzen melancholiſchen Ernſt beſtehen bleibt.
Die japaniſche Malerei, die unſere Künſtler noch
manches gelehrt hat, darf vielleicht als die höchſte Voll-
kommenheit des Realismus bezeichnet werden, eine Voll-
6*
[84] kommenheit, die auch den ideal angelegten Menſchen
innerlich zu befriedigen im ſtande iſt. Sie darf aber auch
die letzte Konſequenz des Realismus genannt werden in-
ſofern, als ſie in übertriebener Neigung zur Karikatur
die häßliche Schattenſeite zeigt, zu welcher die nicht ideal
befruchtete Kunſt ſchließlich hinabſinkt.
Wir können unſere Betrachtungen über das japa-
niſche Geiſtesleben nicht ſchließen, ohne wenigſtens in
Kürze auf das Erziehungsweſen der Vergangenheit und
der Gegenwart einzugehen.
Seitdem in vorgeſchichtlicher Zeit die Japaner mit
der chineſiſchen Schrift bekannt geworden ſind, insbeſondere
aber, ſeitdem der Koreaner Wani um das Jahr 400 n. C.
ein eingehenderes Studium der chineſiſchen Klaſſiker an-
geregt hatte, iſt die hohe Wertſchätzung des Wiſſens nicht
wieder ausgeſtorben, und Konfuzius und Buddha waren
gleicherweiſe bemüht, dieſelbe lebendig zu erhalten. Seit
einem Jahrtauſend hat es der Jüngling im Unterrichte
lernen müſſen: „Scharre tauſend Stücke Goldes zu-
ſammen, ſie ſind nicht ſo viel wert als ein Tag Lernens“;
„Schätze, die man im Schreine ſammelt, gehen zu Grunde;
aber Schätze, die man im Kopfe ſammelt, verfallen nicht“.
Der Gang der Geiſtesbildung war in Japan der-
ſelbe wie überall: von oben nach unten — verſchieden
von dem Gang der Religion. Jeſus von Nazareth war
ein Mann aus dem Volke, und die Religion, ebenſo
wie die Gefühlslyrik der Poeſie, iſt in der Seele des
Volkes, in dem Herzen der Menſchheit geboren. Und
wie das Herz den Mittelpunkt des Körpers bildet, ſo
iſt die Religion der Mittelpunkt des Volkslebens. Die
Geiſtesbildung aber kommt von oben; ſie entſpringt aus
dem Kopf, der den oberſten Teil des Körpers ausmacht,
und die Geſchichte zeigt, daß ſie allmählich von oben
[85] nach unten hinabdringt. Das iſt der Prozeß in Europa
geweſen, das war er auch in Japan. In den erſten
Jahrhunderten nach dem Eindringen der chineſiſchen
Kultur waren die unteren Klaſſen des japaniſchen Volkes
vollſtändig von jeder Bildung ausgeſchloſſen. Dem Staat
war es nicht ſowohl um allgemeine Aufklärung, als
vielmehr um Schaffung eines tüchtigen Beamtenſtandes
zu thun. Eine Volksſchule gab es alſo damals in Japan
ſo wenig wie in Deutſchland. Vielmehr war die erſte
Schule, welche um das Jahr 668 gegründet wurde, eine
Hochſchule 1). Die Fächer, welche auf derſelben gelehrt
wurden, waren: Chineſiſche Klaſſiker und zwar, obliga-
toriſch für alle Studenten, beſonders Kokyo (= Hiaoking
„Kanon der Pietät“) und Rongo (= Lüngü „Sprüche
des Konfuzius über Moral, Politik ꝛc.“), ferner Medizin,
Aſtrologie und Muſik. Nach dem Muſter dieſer Hoch-
ſchule wurden auch in den Diſtriktshauptſtädten des
Landes Lehranſtalten errichtet, und es iſt wiederum ein
treffender Beweis für die japaniſche Achtung vor dem
Wiſſen, daß die Gouverneure der Provinzen ſelbſt ver-
pflichtet waren, an dieſen Schulen zu unterrichten, ſo-
weit ihre litterariſchen Kenntniſſe dazu ausreichten. Die
Zahl der Beſucher war entſprechend dem Bedarf an
Beamten, Ärzten und Lehrern eine beſchränkte. Wer
bei dem Schlußexamen zum dritten Male durchfiel,
wurde nicht wieder zugelaſſen. Wer nicht wenigſtens
drei klaſſiſche Bücher anſtandslos leſen und erklären
konnte, erhielt die Qualifikation zum Beamten nicht.
[86] Länger als neun Jahre war keinem der Zutritt zu der
Schule erlaubt; der Fleißige und Begabte konnte den
Stoff in weit kürzerer Zeit bewältigen. Bei der Auf-
nahme erhielten Beamtenſöhne den Vorzug. So ent-
ſtanden gewiſſermaßen erbliche Beamtenfamilien. Es
iſt überhaupt eine japaniſche Eigentümlichkeit, daß nicht
bloß Handwerk und Ackerbau, ſondern auch Dichtkunſt
und Malerei, Lehramt, Medizin und klaſſiſche Gelehr-
ſamkeit vom Vater auf den Sohn forterbten, ſo daß
man es hier nicht mit einzelnen Dichtern, Malern und
Gelehrten zu thun hat, ſondern mit Dichter-, Künſtler-
und Gelehrtenfamilien. Daß dabei in der techniſchen
Fertigkeit eine Förderung erzielt wurde, iſt zweifellos;
aber ebenſo ſicher iſt, daß man der Kunſt und Wiſſen-
ſchaft den Charakter des Handwerksmäßigen aufprägte,
indem man die freien Töchter des Himmels in das be-
engende Geſchirr des Handwerks ſpannte.
Etwas allgemeiner wurde die Bildung erſt ſeit dem
zehnten Jahrhundert, nachdem der Buddhismus feſten
Fuß im Lande gefaßt hatte. Der Konfuzianismus iſt
ein ariſtokratiſches Syſtem, welches ſich in ſeinen philo-
ſophiſchen Partien nur an die höheren Klaſſen wendet;
der Buddhismus aber, wie er in den Jahrhunderten
nach Buddha herausgeſtaltet wurde, iſt eine echte Volks-
religion, durch und durch demokratiſch, für die breiten
Maſſen des Volkes. Für dieſe hat er von jeher ge-
arbeitet und unter ihnen iſt er heute noch eine Macht.
Der Buddhismus muß als der Vater der japaniſchen
Volksbildung betrachtet werden. Aber mit der Ver-
breitung der Bildung trat zugleich eine Verflachung ein.
Der Buddhismus bemächtigte ſich der ganzen Bildung
und über dem Auswendiglernen buddhiſtiſcher Sutra
wurde die klaſſiſche chineſiſche Gelehrſamkeit vernach-
[87] läſſigt. So herrſchten in der erſten Hälfte unſeres Jahr-
tauſends in Europa und Japan die gleichen Verhält-
niſſe, nur daß es hier buddhiſtiſche, dort aber katholiſche
Mönche waren, welche die Lehrſtühle als ihr ausſchließ-
liches Herrſchaftsgebiet beſetzt hielten.
Aber wie kurz vor der Reformation in Europa der
Umſchwung eintrat, wie die Kuttenmänner durch die
Humaniſten verdrängt wurden, ſo ſtrömte hundert Jahre
ſpäter auch in Japan die Flut zurück. Durch den Ein-
fluß des Schoguns Iyeyaſu wurden die Mönche aus
allen ſtaatlichen Schulen verdrängt und die konfuzianiſti-
ſchen Gelehrten traten wieder in ihre Rechte ein. Sie
ſind die Erzieher der heutigen maßgebenden Kreiſe, die
durch und durch von der religionsloſen utilitariſtiſchen
Moral des Konfuzius durchdrungen ſind, auch dann
wenn ſie etwa den Namen des Meiſters ſchnöde ver-
leugnen. Den Buddhiſten dagegen blieb nichts weiter
übrig als private Lehrthätigkeit. Sie beſchränkten die-
ſelbe faſt ganz auf das gewöhnliche Volk und legten
in ihren Tempelſchulen, in welchen ſie die Kinder aller
Stände in den Elementarfächern unterrichteten, den Grund
zu den eigentlichen Volksſchulen der Gegenwart.
Es giebt in der Geſchichte des japaniſchen Unter-
richtsweſens Stellen, wo man ſich förmlich von moderner
Luft angeweht fühlt, wenn z. B. ſchon aus der früheſten
Zeit von der Gründung von Bibliotheken und der Schaf-
fung von Stipendien berichtet wird. Die Methode des
Unterrichts dagegen war recht altertümlich. Der Lehrer
redete und der Schüler hielt beſcheiden den Mund. Der
Unterricht beſtand im Dozieren. Die chineſiſchen Zeichen
wurden in der Weiſe gelehrt, daß die Schüler zuerſt
mit der Ausſprache, dann mit der Bedeutung und zum
Schluſſe mit der Schreibweiſe bekannt gemacht wurden.
[88] Dieſe famoſe Methode geht den buddhiſtiſchen Prieſtern
heute noch nach. Die Ausſprache der Zeichen haben ſie
gelernt, ſo daß ſie ihre heiligen Bücher zu leſen wiſſen,
aber über dieſe erſte Stufe ſind ſie nicht hinausgekommen;
ein Verſtändnis des Geleſenen iſt in ſeltenen Fällen zu
finden. Fibeln und Leſebücher, an deren Hand man
ſtufenweiſe, Schritt für Schritt voranſchreitet, gab es
in Japan bis vor ein paar Jahrzehnten ebenſowenig
wie in Deutſchland vor Melanchthons Zeiten. Gleich
wurden den Schülern die klaſſiſchen Schriften vorgelegt.
Es iſt das nicht zum wenigſten ein Grund der Frühreife
und Selbſtüberhebung auch noch der heutigen japaniſchen
Jugend, wenn auch das Syſtem unterdeſſen geändert
wurde. Auch zeigt ſich die Fortentwicklung der alten
Gewohnheit noch darin, daß man noch heute einen
Jungen, der Deutſch lernen will, nur mit Mühe davon
abbringen kann, Schillers Gedichte oder Leſſings ſehr
beliebte Minna von Barnhelm als erſtes Unterrichts-
buch in die Hand zu nehmen.
Daß eine ſolche Methode für eine neue Zeit nicht
mehr brauchbar war, verſteht ſich von ſelbſt. Und die
neue Zeit kam.
Schon ſeit dem 17. Jahrhundert war die höhere
Bildung von europäiſchen Einflüſſen nicht mehr frei ge-
blieben. Die Holländer, welche Rolle ſie ſonſt auch
geſpielt haben mögen, haben das eine große Verdienſt,
daß ſie die Japaner mit den Grundſätzen der Medizin
und der Naturwiſſenſchaften bekannt machten und durch
Einführung einer kunſtgerechten Anatomie die mit der
Medizin verbundenen mancherlei abergläubiſchen Vor-
ſtellungen beſeitigten. Der Verkehr mit den Holländern
zwang die Regierung auch, zum Zwecke der Verſtändi-
gung mit ihnen einige ihrer Unterthanen Holländiſch
[89] lernen zu laſſen, und wenn auch Unbefugten das Studium
der fremden Sprache bei Todesſtrafe unterſagt war, —
ein Verbot, welchem mehr als einer zum Opfer fiel —,
ſo fanden ſich doch immer mehr lernbegierige Jünglinge,
welche in aller Heimlichkeit es wagten, ſich über dieſes
Verbot hinwegzuſetzen. So groß war die Wertſchätzung
des Wiſſens, daß in dem letzten Jahrzehnt des Schogunats,
als ſich ſchon einige Europäer in den Hafenſtädten an-
geſiedelt hatten, Jünglinge aus der ſtolzen Kaſte der
Samurai den Schimpf nicht ſcheuten, bei den „fremden
Barbaren“ in Dienſt zu gehen, nur um die Sprache zu
erlernen. Andere, darunter die jetzigen beiden größten
Staatsmänner Ito und Inouye und der ſog. „Apoſtel
Japans“ Niſhima, waren auch damit noch nicht zu-
frieden; während auf dem Verlaſſen des Landes die
Todesſtrafe ſtand, ſchmuggelten ſie ſich an Bord fremder
Schiffe nach dem Ausland. Das waren untrügliche
Wetterzeichen der Zeit; das Alte lag im Sterben, der
gährende Moſt ſprengte die alten Schläuche.
Wenn man die neue Periode Meiji d. h. die er-
leuchtete genannt hat, ſo verdient ſie ihren Namen nicht
zum wenigſten wegen ihrer Verdienſte um die Volks-
aufklärung. Heute iſt die Schulbildung Gemeingut des
ganzen japaniſchen Volkes. Eingeleitet wurde das neue
Zeitalter der Schule durch einen kaiſerlichen Erlaß vom
Jahre 1872, welcher charakteriſtiſch genug iſt, um hier
einen Platz zu finden: „Alles Wiſſen“, heißt es da,
„ſowohl das, welches man im alltäglichen Leben braucht,
als auch das, was erforderlich iſt, um Offiziere, Ärzte,
Landwirte, Handwerker und Kaufleute zu bilden, wird
durch Lernen erworben. Obgleich nun das Lernen un-
bedingt erforderlich iſt, um erfolgreich im Leben wirken
zu können, ſo erachtete man es doch bisher für das
[90] gewöhnliche Volk als überflüſſig, und auch in den höheren
Studien wurden meiſtens nur zweckloſe Diskurſionen und
wertloſe Aufſatzübungen gepflegt, die wenig praktiſchen
Nutzen brachten, und die Folgen davon waren Armut
und Mißgeſchick im Leben. Darum muß der Unter-
richt ſo erteilt werden, daß hinfort in keinem Orte eine
unwiſſende Familie und in keiner Familie ein unwiſſen-
des Glied gefunden werde“. (Bolljahn.)
Das ganze Volksſchulweſen ſteht unter ſtaatlicher
Kontrolle. Die Schulen ſind Gemeindeanſtalten; doch
giebt es noch eine große Zahl von Privatvolksſchulen.
Die Lehrer ſind auf Seminarien vorgebildet; falls ſie
ein Seminar nicht beſucht haben, müſſen ſie ihre Be-
fähigung durch eine Prüfung nachweiſen. Der Schul-
zwang, der übrigens in der Praxis nicht ſtrenge durch-
geführt iſt, iſt auf vier Jahre beſchränkt; aber die meiſten
Kinder beſuchen den Unterricht aus freien Stücken länger.
Die Grenzen der Schulzeit bilden das ſechste und das
vierzehnte Lebensjahr. Die Unterhaltungskoſten werden
zu einem großen Teil durch Schulgeld gedeckt. Die Lehrer-
gehälter ſind ſehr gering. Die Unterrichtsgegenſtände
ſind, mit Ausnahme der Religion, die in keiner Form
gelehrt wird, die aber durch Moralunterricht erſetzt wer-
den ſoll, ſo ziemlich dieſelben wie bei uns. Auch der
deutſche Kindergarten iſt eingeführt und mit großem
Beifall aufgenommen worden. Die Zahl der beſuchenden
Kinder iſt in den Städten eine ſehr große. Bemerkens-
wert iſt, daß man, wie in England und andern Ländern,
auch in weiten Kreiſen des japaniſchen Volkes das Wort
Kindergarten beibehalten hat. Auch für den Unterricht
körperlich und geiſtig zurückgebliebener Kinder iſt Für-
ſorge getroffen. Bei den Jahresſchlußübungen der Blin-
den- und Taubſtummenanſtalt in Tokyo habe ich mich
[91] davon überzeugen können, welch’ bewundernswerte Re-
ſultate hier erzielt werden.
Auch das höhere Schulweſen wurde in dem neuen
Zeitalter der Aufklärung einer gründlichen Reviſion
unterworfen. Der alte konfuzianiſche Gelehrte, welcher
eine immer größere Seltenheit wird, und der moderne
japaniſche Profeſſor der Univerſität ſtehen ſich wie Men-
ſchen aus zwei völlig verſchiedenen Welten gegenüber.
Es giebt heute keine Fachſchulen in Europa, die man
nicht auch in Japan beſäße. Von den bedeutendſten Re-
gierungsſchulen ſeien hier nur einige erwähnt: Gymna-
ſien niederer und höherer Ordnung, Realſchulen, Lehrer-
bildungsanſtalten, techniſche Schulen, die Kunſtſchule, die
Adelsſchule, die Marineakademie, die Kadettenanſtalt,
die Kriegsſchule und die Muſikakademie für europäiſche
und chineſiſche Muſik. Weitaus die meiſten ſind in
Tokyo, dem Mittelpunkt der japaniſchen Bildung. Hier
befindet ſich denn auch die Krone der Schulen, die
Univerſität. Zwar iſt neuerdings noch eine zweite Hoch-
ſchule in Kyoto eröffnet worden, doch iſt dieſelbe vor-
erſt noch in der Entwicklung begriffen. Die Univerſität
zu Tokyo hat ungefähr tauſend Schüler. In ihrer äuße-
ren Einrichtung iſt ſie nach amerikaniſchem „College“-
Syſtem organiſiert. Sie zerfällt in ſechs Fakultäten:
Rechtswiſſenſchaft, Litteratur (Philologie, Philoſophie,
Geſchichte ꝛc.), Naturwiſſenſchaften, Technik, Medizin
und Landwirtſchaft. Eine theologiſche Fakultät giebt es
nicht. Die mediziniſche Abteilung ſteht ganz, die littera-
riſche, rechtswiſſenſchaftliche und landwirtſchaftliche teil-
weiſe unter deutſchem Einfluß. Nicht nur, daß in den
letzten Jahrzehnten beſtändig acht bis zwölf deutſche
Profeſſoren hier unterrichteten; auch die japaniſchen
Lehrer haben meiſtens in Deutſchland ſtudiert. Wie
[92] ein deutſcher Profeſſor berichtete, hat der franzöſiſche
Geſandte in Tokyo, der, ſebſt ein Gelehrter, vor einiger
Zeit die Univerſität beſichtigte, zum Schluß bemerkt:
„Alles ſehr ſchön, aber — zu ſehr deutſch!“
Aber trotz dieſer Bemerkung bin ich nicht ganz
damit einverſtanden: „Alles ſehr ſchön!“ Gewiß darf
Japan auf die Organiſation ſeines Schulweſens im
allgemeinen, und auf die Univerſität im beſonderen ſtolz
ſein. Aber mit Bezug auf den inneren Geiſt iſt doch
noch manches auszuſetzen. In früheren Jahren kannte
man nur ein humaniſtiſches Studium; die Klaſſiker allein
wurden zum Gegenſtand des Studiums gemacht. Man
hatte dabei nicht nur die Verſtandesbildung, ſondern
mehr als das, die Charakterbildung im Auge. Heute
iſt das vielfach in ſein Gegenteil umgeſchlagen. Das
Wiſſen iſt das Ziel des Unterrichtes, nicht die Erziehung.
Der Geiſt der japaniſchen Schule iſt einſeitig realiſtiſch.
Zwar bei der Univerſität, den Regierungsgymnaſien und
den Lehrerbildungsanſtalten iſt es verhältnismäßig noch
am beſten; zumal in den Gymnaſien wird viel humaniſti-
ſcher Stoff verarbeitet. Aber der Geiſt, welcher die
Fachſchulen und das ganze Privatſchulweſen beherrſcht,
iſt ganz und gar realiſtiſch und formaliſtiſch.
Die Zahl der Privatſchulen iſt Legion. Es giebt
ihrer eine große Menge von den beſteingerichteten
„Colleges“ an bis zu den primitivſten Elementarſchulen.
An der Spitze ſteht die „Keiogijuku“, das nach ame-
rikaniſchem Gymnaſial- bezw. College-Stil eingerichte
Inſtitut Fukuzawas. Fukuzawa gilt als die Seele des
modernen gebildeten Japans und zweifellos iſt er als
der geiſtige Vater der Hälfte der japaniſchen Politiker
anzuſehen. Fukuzawa hat es ſtets verſchmäht, ein po-
litiſches Amt, auch das des Unterrichtsminiſters, zu
[93] bekleiden, und doch iſt die unglückſelige Verquickung von
Politik und Erziehung auch bei ihm ſtark bemerkbar.
Als Pädagog hat er ſich natürlich auch mit den reli-
giöſen Problemen beſchäftigt, und er beſonders war es,
welcher in der Mitte der achtziger Jahre das Chriſten-
tum als Staatsreligion empfahl, weil Japan dadurch
Gleichberechtigung mit den Weſtmächten erziele. Seine
Schülerzahl beträgt zu jeder Zeit viele Hunderte und
als politiſch bemerkenswert mag angeführt ſein, daß
nach dem Ende des chineſiſchen Krieges auch hundert
Koreaner in die Schule eintraten, mit dem Hauptzweck,
die japaniſche Sprache zu erlernen.
Dicht hinter Fukuzawas Schule kommen einige
Miſſionsinſtitute; als erſtes die Doſhiſha in Kyoto
und auf nur wenig niedrigerer Rangſtufe die Meiji
Gaku-in der Vereinigten Presbyterianer in Tokyo.
Früher war eine der bedeutendſten Privatſchulen
die deutſche Vereins- oder Rechtsſchule, Doitſu Kyokwai
Gakko genannt. Damals unterrichteten neben einander
fünf deutſche Lehrer an derſelben, von welchen zwei
humaniſtiſche und drei rechts- und ſtaatswiſſenſchaftliche
Disziplinen lehrten. Leider hat ihr die Regierung vor
einigen Jahren die ſtaatliche Subvention entzogen, die
deutſchen Lehrer mußten entlaſſen werden, und neuer-
dings iſt die einſt blühende Anſtalt nur noch als Sprach-
ſchule von einiger Bedeutung.
Sprachſchulen giebt es in großer Zahl. Am ſtärkſten
iſt das Engliſche vertreten als die Verkehrsſprache,
während die deutſche Sprache als die wiſſenſchaftliche
gleich hinterdrein kommt. Es giebt aber auch franzö-
ſiſche, holländiſche, ruſſiſche, koreaniſche, italieniſche und
ſpaniſche Sprachſchulen. Ich glaube nicht zu hoch zu
[94] greifen, wenn ich ihre Zahl in Tokyo allein auf etwa
hundert ſchätze. Die meiſten ſind freilich auch darnach!
Überhaupt iſt das pädagogiſche Mancheſtertum, das
ganze ausgebreitete Privatſchulweſen für Japan ein be-
klagenswerter Übelſtand. Es ſind zwar in dieſen An-
ſtalten auch tüchtige Schüler zu finden, aber zu einem
großen Teil iſt es doch minderwertiges Material, welches,
für Regierungsſchulen zu gering, hier immer noch mit
offenen Armen angenommen wird. Der Beſuch einer
Privatſchule berechtigt zu keinem öffentlichen Amt, und
ſo entſteht ein großes halbgebildetes Proletariat und
damit ein unzufriedenes, nörgelndes Element in dem
Volksganzen. Das können doch unmöglich geſunde
Zuſtände ſein, wenn bei einer ſtaatlichen Prüfung zur
Qualifikation für das höhere Juſtizfach ein paar hundert
junge Leute aus Privatrechtsſchulen das Examen mit-
machen, während doch von vornherein feſtſteht, daß
entſprechend dem Bedarf nur ſechsunddreißig beſtehen
können!
Auch die Disziplin wird durch das Privatſchul-
weſen in einer Weiſe untergraben, welche ſich allmählich
als recht bedenklich herausſtellt. Hier haben ſich nicht
die Schüler nach den Lehrern, ſondern die Lehrer nach
den Schülern zu richten. Geſchieht das nicht, ſo treten
die Schüler aus. Sie riskieren ja nichts dabei. Sie
finden immer wieder ihre Unterkunft in einer Konkurrenz-
ſchule, welche ſie mit Freuden und ohne jede Nachfrage
nach ihrem ſittlichen Charakter aufnimmt. Die Trinität,
zu welcher der junge Samurai in früheren Jahren ehr-
furchtsvoll aufſchaute, waren Vater, Fürſt und Lehrer,
und er konnte in die größte Verlegenheit gebracht wer-
den, wenn man ihn fragte: „Wen würdeſt du zuerſt
retten, wenn die drei zuſammen in das Waſſer fielen
[95] und daran wären, zu ertrinken“? Damals war das
Wort des Lehrers ein religiöſes Orakel. Heute iſt die
Autorität und Ehrfurcht vollſtändig untergraben. Schul-
ſtreike ſind an der Tagesordnung. Der Lehrer kommt
eines ſchönen Morgens in die Schule, und von den
fünfzig Schülern der Klaſſe iſt keiner erſchienen. Oft
kann man davon hören, daß ſie ihren Willen durch-
ſetzen, ſei es, daß es ſich um eine von ihnen beantragte
Entfernung eines mißliebigen Lehrers handelt, ſei es,
daß man ſich irgend einem ihrer Wünſche nicht will-
fährig zeigte. Nicht ſelten ſchreiben die Schüler vor,
was der Lehrer unterrichten ſoll, und wenn ſie es nach
ein paar Wochen überdrüſſig ſind, ſo befehlen ſie wieder
etwas anderes. Lehrer in Japan zu ſein, iſt keine
Kleinigkeit, wenigſtens keine Leichtigkeit. Unter dem
Beiſpiel der Privatſchulen lernen es auch die Lehrer
der Staatsanſtalten, nach der Pfeife der Schüler zu
tanzen. Dem heutigen japaniſchen Schüler kann man
bei all ſeinen Vorzügen den Vorwurf der Flegelhaftig-
keit nicht erſparen. Der Mangel des religiöſen und
humaniſtiſchen Unterrichts macht ſich bedenklich bemerk-
bar. Zu ſpät erkennen die Meiſter, was für Geiſter
ſie ſich großgezogen haben. Dem japaniſchen Studenten
wird genug für ſeinen Verſtand, aber zu wenig zur
Bildung ſeines Charakters geboten. Das Wohl des
Volkes erheiſcht mit apodiktiſcher Notwendigkeit einen
folgerichtigen Ausbau des ſtaatlichen und eine ent-
ſchiedene Beſchränkung des privaten Unterrichtsweſens.
[[96]]
IV. Temperament und Gefühlsleben.
Es iſt eine bekannte Erſcheinung, daß Land und
Leute, Natur und Menſch im innigſten Zuſammenhang
mit einander ſtehen. Wie der Menſch dem Grund und Bo-
den den Stempel ſeines Geiſtes aufdrückt, ſo wird ſein Cha-
rakter mannigfach beeinflußt durch die Natur, in der er lebt.
Die Haide des Nordens iſt nicht ohne Anteil an dem
ſinnigen, phlegmatiſchen Temperament ihrer Bewohner,
und die Söhne der freien Schweiz haben vieles gemein
mit dem freien, ſtarken, trotzigen Charakter ihrer ra-
genden Berge. Die Erfahrung beſtätigt, daß die äuße-
ren Gliedmaßen der Amerikaner, beſonders Hände und
Füße, allmählich, von Geſchlecht zu Geſchlecht, lang und
ſchmal werden wie die der Indianer. Es iſt der Ein-
fluß des Bodens, der ſolches ſchafft.
Wenn aber irgendwo ein Volk mit ſeinem Lande
innig verwachſen iſt, ſo iſt es das Volk der Japaner.
Die Leute ſind das genaue geiſtige Widerſpiel des Bodens,
der ſie trägt. Gleichwie das Land mit ſeinen Schön-
heiten und ſeinen Schrecken ein doppeltes Anſehen hat,
ſo hat auch das Volk ein Janusgeſicht. Wie die Schön-
heiten des Landes offen daliegen, daß auch der ober-
flächliche Blick ſie ſehen und würdigen muß, ſo iſt das
erſte, was an dem Volke auffällt, ſeine Sauberkeit,
Freundlichkeit und ſcheinbare kindliche Harmloſigkeit, all
die anmutenden Züge einer äſthetiſchen Lebensführung,
[97] wie ſie im vorigen Kapitel beſchrieben wurden. Und
wie die Schrecken der Natur in ihrer Vollkraft der
Zerſtörung ſich nur dem langjährigen Reſidenten zeigen,
ſo offenbart ſich ihm auch der Japaner im Lauf der
Zeit als ein ganz anderer, als der er zu Anfang ſchien.
Dieſes Doppelgeſicht an Land und Leuten erklärt die
Verſchiedenheit der Urteile über die Japaner, Urteile,
welche ſich oft geradezu widerſprechen. Die alten Reſi-
denten haben auch in die Nachtſeiten Japans und ſeiner
Bewohner hineinzuſchauen Gelegenheit gehabt, und über
dem Böſen, das ſie hinter der freundlichen Außen-
ſeite des Volkes ſehen, vergeſſen ſie oft das Gute,
das ſie doch auch haben, und werden einſeitig in ihrem
Urteil. Die Reiſenden aber, welche nach kurzem Auf-
enthalt im Lande wieder in die Heimat zurückkehren,
haben nur die äſthetiſch ſchöne Oberfläche von Land und
Leuten geſehen und wiſſen dann zu Hauſe nicht genug
zu erzählen von dieſer ſchönen Natur und ihren ſym-
pathiſchen Menſchen; und da die populären Werke über
Japan, die ihren Weg in unſer Volk gefunden haben,
faſt durchweg von Leuten dieſer Klaſſe herrühren, ſo
hat man lange Zeit in Europa an das Märchen von
Japan als einem Land von ſchönen Blumen und einem
Volk von harmloſen, liebenswürdigen Kindern geglaubt.
Aber wahrlich, der Japaner iſt weit mehr als das, ja
in ſeinem Herzen iſt er ganz etwas anderes. Darüber
ſollte der japaniſch-chineſiſche Krieg endlich Klarheit
geſchaffen haben. Der Japaner würde ſich ſelbſt be-
dauern, wenn er nicht mehr wäre, als was er ſcheint.
Ein Spielzeug, eine Puppe, ein Kind, wie er von
vielen Europäern aufgefaßt wird, will er nicht ſein.
Jeder Japaner iſt ein Rätſel. Vor der Öffentlich-
keit ſpielt er ſeine Rolle, und er ſpielt ſie vorzüglich;
7
[98] hinter den Kuliſſen aber iſt er ein anderer. Er iſt
Meiſter in der Verſtellungskunſt und beſitzt eine außer-
ordentliche, durch jahrhundertelange Gewöhnung künſt-
lich anerzogene Selbſtbeherrſchung. Es iſt unmöglich,
ihm vom Geſicht abzuleſen, was er im tiefſten Herzen
ſinnt. Auch in Worten verrät er ſich nicht. Er iſt
zurückhaltend, nicht mitteilſam, er iſt verſchloſſen, nicht
offen. Ein japaniſcher Gelehrter bezeichnet als eine
nationale Tugend ſeiner Landsleute, daß ſie offen und
geradeaus ſeien. Dieſe Behauptung iſt nur ein Beweis
mehr für die alte Erfahrung, daß für einen Menſchen
nichts ſchwerer iſt, als ſich ſelbſt erkennen, oder, wie der
Japaner ſelbſt in einem treffenden Sprichwort es aus-
drückt: todaimoto kurashii, am Fuße des Leuchtturms
iſt es dunkel. Der Japaner iſt nichts weniger als das.
Er iſt in ſeiner Verfahrungsweiſe indirekt. Kaum irgend-
wo ſpielt die Zwiſchengängerei eine ſolche Rolle wie
hier, nicht bloß in Heiratsgeſchichten, ſondern in allen
möglichen Dingen. Seine Urteile ſind nicht gerade-
heraus, ſondern umſchreibend, ſeine Fragen gehen nicht
direkt auf die Sache los, ſondern hinten herum. Will
ein Student erfahren, ob ſein deutſcher Profeſſor der
Geſchichte im nächſten Jahr nach Ablauf ſeines Kontrakts
nach Deutſchland zurückkehrt, ſo fragt er nicht geradezu:
„Kehren Sie nächſtes Jahr in Ihre Heimat zurück?“
ſondern vielmehr: „Kommt übers Jahr noch ein deutſcher
Geſchichtsprofeſſor?“ Je nach der Antwort konſtruiert
er ſich’s dann ſelbſt, ob der Profeſſor bald geht oder
noch zu bleiben gedenkt. Ich war einmal in der Lage,
einen Lehrer für unſere Freiſchule engagieren zu müſſen.
Ich übertrug die Regelung der Sache einem meiner
Studenten, nachdem ich ihn vorher inſtruiert hatte.
Binnen kurzer Zeit kam er mit der Nachricht, daß die
[99] Sache erledigt ſei. Ich fragte ihn, wie er denn mit
dem neuen Lehrer einig geworden ſei. „Nun“, ſagte er,
„ich ging zu ihm hin und fragte ihn: Wenn Sie eine
Schule hätten und müßten einen Lehrer anſtellen, was
würden Sie dem wohl für ein Gehalt geben? Darauf
beſann er ſich ein wenig und nannte dann eine Summe,
und ich bat ihn darauf, um dieſe Summe als Lehrer
bei uns einzutreten“. Der Japaner ſpricht mit dem
gleichgültigſten Geſicht über die gleichgültigſten Dinge von
der Welt, ſo daß man ſich faſt verwundern möchte über
die inhaltsloſe Unterhaltung. Wenn er ſich aber
empfiehlt, weiß er, was er hatte wiſſen wollen, und der
harmloſe Europäer iſt der Gefoppte. Er iſt der geborene
Diplomat, wie das vom Oſtaſiaten überhaupt gilt, und
die Vertreter der europäiſchen Mächte dürfen all ihren
Witz zuſammenhalten, um nicht unbewußt die Spielbälle
der japaniſchen Staatsmänner zu werden. Die euro-
päiſche Macht, welche ihren Geſandtſchaftspoſten in Tokyo
als eine Art Sinekure betrachtet und an mittelmäßige
Kräfte vergiebt, iſt übel beraten. Die neuen Verträge,
welche Japan mit den europäiſchen Mächten auf der
Grundlage politiſcher Gleichberechtigung abgeſchloſſen
hat, ſind ein diplomatiſches Meiſterſtück, welches dem fähig-
ſten europäiſchen Staatsmanne zur Ehre gereicht hätte.
Die Maske eines unſchuldigen, harmloſen Kindes
iſt dem Japaner zur zweiten Natur geworden. Oft aber
iſt es ein von ihm beabſichtigter Schein, und dann wird
er zum Heuchler. Im Verkehr mit dem Europäer iſt
er ſtets freundlich. Auch wenn er gerechten Grund zum
Zorn hat, bleibt er ruhig, gleichmütig, liebenswürdig.
Aber Thatſache iſt, daß er eher Abneigung als Liebe
gegen den Fremden im Herzen trägt. Wenn ſie unter
ſich ſind, zumal in der Preſſe, die nur von ſehr wenigen
7*
[100] Europäern geleſen werden kann, kommt die verborgene
Abneigung zum Vorſchein. Hinter der Maske birgt ſich
in der Regel ganz etwas anderes. Die Ähnlichkeit mit
Reineke Fuchs iſt mitunter eine auffallende. Gerade
wenn er am liebenswürdigſten thut, ſchmiedet er im
geheimen die Waffen des Verderbens. Wenn er etwas
erreichen will, giebt er Geſchenke. Nirgends wird ſoviel
verſchenkt wie in Japan. Wie habe ich mich an Weih-
nachten gefreut, wenn man mir in voller Blüte ſtehende
Miniaturpflaumenbäumchen in das Haus brachte! Wie
nett ſahen ſie aus und wie lieblich durchſtrömte ihr
Duft das Zimmer: Mitten im Winter eine Verheißung
des Frühlings! Es waren Gaben der Dankbarkeit und
der Liebe. Einmal aber, als der Frühling in das Land
gezogen kam, war meine Freude beim Anblick zweier
unter ihnen keine ungetrübte mehr. Da hatte auch ich
die Erfahrung gemacht, daß man durch die Annahme
ſolcher Geſchenke, ohne es zu wiſſen, die Erlaubnis ge-
geben hat, ſich anpumpen oder auf irgend eine andere
Weiſe über den Löffel barbieren zu laſſen. Ich möchte
nicht mißverſtanden ſein: Ich habe ſehr viele Geſchenke
erhalten, die in der freundlichſten Abſicht ohne jede eigen-
nützigen Hintergedanken gegeben worden ſind. Aber im
großen Verkehr werden die Völker ſtets klug daran thun,
das Wort im Sinne zu tragen: Timeo Danaos et dona
ferentes; auf gut Deutſch: Wenn der Japaner dir etwas
ſchenkt, ſo nimm dich in acht.
Man hat den Japanern Verlogenheit zum Vorwurf
gemacht; man hat geſagt, die Lüge werde nicht einmal
als ein ſittlicher Makel betrachtet und empfunden, ſelbſt
der Sprache fehle ein treffendes Wort zur Bezeichnung
der Lüge als eines moraliſchen Defektes. Japaniſcher-
ſeits hat man dagegen erwidert, gerade der Umſtand,
[101] daß kein entſprechender Ausdruck für Lüge vorhanden
ſei, ſei ein Beweis dafür, daß dieſes Laſter in Japan
überhaupt nicht exiſtiere, daß es den Japanern fremd
ſei und ferne liege. Keine von beiden Behauptungen
trifft den Nagel ganz auf den Kopf. Der Japaner iſt
im Lügen ebenſowenig offen und geradeaus wie im
Sagen der Wahrheit. Eine dreiſte, freche Lüge geht
ihm ebenſo wider den Strich, wie eine rückſichtsloſe,
ehrliche Wahrheit. Wohl aber iſt zu bedenken, ob nicht
das ganze Syſtem des falſchen Scheins eine einzige
große Lüge und Verlogenheit iſt. Freilich der ganze
ſcharfe Maßſtab unſerer Sittlichkeit darf an die japa-
niſche Verlogenheit nicht angelegt werden. Das gegen-
wärtige Geſchlecht iſt für dieſelbe wenig verantwortlich
zu machen. Sie hat ſich zu ihrer heutigen Ausprägung
herausgeſtaltet durch die Verhältniſſe der Feudalzeit, da
das Volk rückſichtslos dem Druck von oben ausgeſetzt
war, da einer den andern mißtrauiſch beobachtete und
das Spionieren großgezogen wurde. Man ſollte daher
die Verlogenheit eher eine ſchlechte Sitte als einen
böſen Charakterzug nennen. Das aber giebt zugleich
die Hoffnung, daß das, was durch die Geſchichte ent-
wickelt wurde, auch durch die Geſchichte wieder vernichtet
wird, daß der japaniſche Charakter, welcher in den
Sklavenketten des Feudalismus verdorben wurde, in
der freien Luft der modernen Zeit ganz anders gedeihen
werde. Hier iſt eine Aufgabe, würdig des Chriſtentums,
die Japaner von einem Fluch zu befreien, mit welchem
die Sünde vergangener Tage ſie behaftete. Ihr Tem-
perament als ſolches mag unveränderlich bleiben, weil
es angeboren iſt; dieſer eine Zug aber, weil nachweis-
lich geſchichtlich bedingt, kann ein anderes Anſehen ge-
winnen. Wenn es doch ſichtbar zu Tage tritt, daß
[102] ſelbſt das Land ſich verändert, warum ſollen nicht auch
die Leute entwicklungsfähig ſein? Auch Vulkane brennen
aus und werden zu freundlichen, friedlichen Bergen;
warum ſollte das Volk ewig verurteilt ſein, das zu
bleiben, was es gegenwärtig iſt?
Aber freilich, einſtweilen zeigt ſich auch in dieſem
Punkte des Syſtems des falſchen Scheins noch die
Natur des Vulkans. Nach außen anmutig, ruhig, harm-
los; im Innern aber ſchafft’s und gährt’s, raſtlos, un-
unterbrochen, bis es zu gelegener Zeit zum Ausbruch
kommt. Die Zeit aber, wann das ſein wird, weiß
niemand. Denn der Japaner iſt unberechenbar, wie die
Vulkane des Landes.
Er iſt durch und durch Sanguiniker. Er beſitzt
alle Tugenden und alle Mängel des ſanguiniſchen
Temperaments. Er iſt leicht empfänglich für alles,
raſch ſich begeiſternd, mit großem Intereſſe für alles
Mögliche; aber auch ebenſo oberflächlich, flatterhaft und
wankelmütig. So ſchwerfällig der Chineſe iſt, ſo leicht
beweglich der Japaner. Feurig wie Petrus treten ſie
für etwas ein, wankelmütig wie Petrus verleugnen
ſie ihre Sache. Sind die Gallier rerum novarum cu-
pidi, ſo ſind die Japaner rerum novarum cupidissimi.
Ein franzöſicher Gelehrter hat es verwunderlich gefunden,
daß die Charakterzeichnung, welche Cäſar von den alten
Galliern giebt, auf die heutigen Franzoſen noch genau
zutrifft. Was aber würde der alte Cäſar ſelbſt dazu
ſagen, daß ſeine damalige Zeichnung Zug für Zug auch
auf die heutigen Japaner paßt. Ritterlicher Sinn,
Großmut, Ehrgefühl, Liebe zu den Waffen, Neigung
für das Glänzende, Leichtfertigkeit, Parlierkunſt, Phraſen-
haftigkeit, und was Cäſar ſonſt anführt, gilt hier wie
dort. Wenn er ſchreibt: „Die Gallier lieben die Um-
[103] wälzung; ſie laſſen ſich leicht durch falſche Gerüchte zu
Aktionen treiben, die ſie nachher bereuen, und zu Ent-
ſcheidungen über die wichtigſten Dinge; ſie ſind immer
bereit zum Krieg auch ohne Urſache . . . .“, ſo könnte
das Subjekt dieſer Sätze ebenſowohl der Japaner ſein.
Dieſelben Leute, deren Land nach ſeiner ganzen Lage
als das England Aſiens bezeichnet wird, hat man nicht
mit Unrecht die Franzoſen des Oſtens genannt. Sie
ſind es, nur mit dem Unterſchied, daß ſie Selbſtbe-
herrſchung üben und nach ihrem Sprichwort: „Ein raſches
Wort, einmal aus dem Munde, bringen vier Pferde
nicht wieder zurück“, das Herz nicht auf der Zunge
tragen, was bei ihrem Temperament nicht leicht iſt und
nur durch rigoroſe Dreſſur erreicht werden konnte.
Raſch iſt der Wechſel. Wie die Vulkane des Landes
Jahrzehnte lang ruhen, um dann mit einem Mal aus-
zubrechen, wie mitten aus der größten Ruhe urplötzlich
ein ſchrecklicher Taifun ſich erhebt, ſo mag am politiſchen
oder ſozialen Horizont am Abend zuvor noch alles ruhig
ſein, am nächſten Morgen aber befindet ſich das ganze
Volk in Bewegung und Aufruhr. Das iſt nicht ein
ruhig dahinfließender Strom, das iſt vielmehr wie Ebbe
und Flut des japaniſchen Meeres. Es fehlen die Über-
gänge, es fehlt die ruhige Entwicklung.
Die Japaner ſind bekannt als Schlangen- und
Kautſchukmenſchen im Sinne ausgezeichneter Akrobaten
und Jongleure, ſie ſind aber auch Schlangenmenſchen
im geiſtigen Sinn, biegſam und geſchmeidig, ein Volk,
welchem ein feſtes gerades Rückgrat fehlt. Alles nehmen
ſie leicht. Nicht als ob ſie es zuvor nicht überlegten;
aber mehr als das Sprichwort: „Erſt wäg’s, dann wag’s“
gilt ihnen das andere: „Friſch gewagt iſt halb gewon-
nen“. Sie beſitzen eine leichtgeſchürzte Energie und
[104] einen friſchmutigen Unternehmungsgeiſt. Bei größeren
Unternehmungen in Deutſchland bedarf es erſt geraumer
Zeit und Erwägung. Wenn in einer Stadt hier der
Gedanke an die Einführung einer elektriſchen Straßen-
beleuchtung zum erſtenmal auftaucht, ſo mag noch
mancher Tropfen Waſſer den Rhein hinabfließen, ehe
der Plan zur ſchließlichen Ausführung kommt. In
Japan geht ſo etwas über Nacht. Eines ſchönen Tages
kommt man von einer dreiwöchentlichen Reiſe zurück
und ſieht eine elektriſche Straßenbahn durch die Straße
gezogen. Oder man ſchaut zum Fenſter hinaus und
bemerkt mit Erſtaunen den Schornſtein einer Fabrik
vor ſich in die Lüfte ragen. Schon hat man die So-
zialdemokratie auf japaniſchen Boden verpflanzt, nicht
etwa, weil irgend ein Bedürfnis dafür beſtände, ſondern
damit man ſelbſt das Neueſte zu beſitzen ſich ſagen darf.
Schon iſt eine japaniſche Dampferlinie nach Antwerpen
eröffnet, und an das große Problem der Gold- und
Silberwährung, über welchem die alte und die neue
Welt ſich vergeblich die Köpfe zerbrechen, legt die
neueſte Welt, die mit Japan auf dem Schauplatz der
Geſchichte getreten iſt, friſchmutig die Hand an.
Japan iſt das Land der Überraſchungen. Es iſt
unmöglich, hier den Propheten zu ſpielen. Wie über-
raſchend kam der japaniſch-chineſiſche Krieg! Kurz zu-
vor hätte niemand auch nur entfernt daran gedacht,
ausgenommen die japaniſche Regierung ſelbſt; und zwar
nicht bloß unter den Laien, ſondern auch unter den
Diplomaten. Denn kaum ein Jahr zuvor hatte Deutſch-
land das oſtaſiatiſche Geſchwader aufgelöſt, um die
deutſche Vertretung unter den vierhundert Millionen
Menſchen Oſtaſiens dem kleinen Kanonenboot Iltis, das
mittlerweile verloren ging, und dem nicht größeren,
[105] unterdeſſen marode gewordenen Wolf zu überlaſſen. Ein
ſolches Vorgehen, wenn auch wegen Mangel an Schiffen
erklärlich, war an und für ſich ſchon gewagt; es wäre
aber geradezu unverantwortlich geweſen, wenn damals
irgend welche, auch nur entfernte, Anzeichen auf Krieg
gedeutet hätten. Die Japaner hatten es wieder einmal
verſtanden, die Welt zu überraſchen.
Wer die Japaner über die Straßen von Tokyo
hinwandeln ſieht, alle Haſt vermeidend, langſam und
bedächtig, als hätten ſie Zeit im Überfluß, allem Anſchein
nach in harmloſer Gedankenloſigkeit, eine lebendige
Illuſtration zu dem Dichterwort: „Und nichts zu ſuchen,
das war mein Sinn“; wer ſie beobachtet bei ihren
Kirſchblütenfeſten, zufrieden und heiter, als gehe ſie die
ganze Welt mit ihren Pflichten und Sorgen nichts an,
der iſt verſucht, ihr ganzes Leben als ein Dolce far
niente zu betrachten. Und es giebt gute Beobachter des
japaniſchen Lebens, welche meinen, daß dieſe Betrachtungs-
weiſe die richtige ſei; wenn ſich im großen Getriebe
heute allerdings eine unverkennbare unruhige Geſchäftig-
keit bemerkbar mache, ſo ſei das eher die Folge einer
gewiſſen Nervoſität, als eines angeborenen Temperaments.
Nun wäre es ja freilich kein Wunder, wenn die Ja-
paner bei all dem Neuen, das in der jüngſten Ver-
gangenheit auf ſie einſtürmte, nervös geworden wären.
Der Japaner mit dem, was er in den letzten Jahr-
zehnten erlebt hat, iſt dem unglücklichen Provinzbewohner
zu vergleichen, der ſich für ein paar Wochen in der
Großſtadt vergnügen will und von ſeinen dortigen
Freunden erbarmungslos von einem Muſeum zum andern,
von einer Gemäldegallerie zur andern geſchleppt wird.
Dazu gehören eiſerne Nerven. Der Japaner hat
aber in zweiundeinhalbhundertjähriger Ruhe ſeine
[106] Nerven derartig geſtählt, daß er trotz ſeines prickelnden
Temperaments den Eindruck eines Menſchen ohne Nerven
macht. Nervoſität iſt es nicht, was die heutige un-
ruhige Geſchäftigkeit verurſacht. Wohl iſt in den Jahr-
hunderten zuvor von dieſer Geſchäftigkeit nichts zu
bemerken. Aber das iſt leicht erklärlich. Das Land
war von jedem Verkehr mit der Außenwelt abgeſchloſſen,
die Leute hatten keine Bedürfniſſe, jede ſelbſtändige
That wurde verhindert: Was blieb da anderes übrig
als ein Leben in Beſchaulichkeit? Zu thun gab es auch
beim beſten Willen nicht mehr als nötig war, das Leben
zu friſten; und das beſorgte bei einiger Nachhilfe der
fruchtbare Boden reichlich genug. Da blieb denn immer
noch das Vernünftigſte, was man thun konnte, auf ſeinen
Strohmatten zu liegen und zu ſchlafen oder hinauszu-
gehen und in ruhiger Heiterkeit die Natur anzuſchwärmen.
Sobald aber die eiſerne Fauſt, die die Volksſeele dar-
niederhielt, gewichen war, ſchnellte die Seele elaſtiſch
empor, um noch ein ganz anderes Angeſicht als ein
beſchauliches zu offenbaren. Der Wechſel auf allen
Gebieten des Lebens, das Intereſſe für das Neue in
allen Schichten der Bevölkerung iſt zu radikal, als daß
hier nicht die Wahrheit des japaniſchen Temperaments
liegen ſollte. Die äußere Ruhe des Japaners iſt noch
eine Nachwirkung der Gewöhnung aus der alten Zeit
des Schlafes, die innere Geſchäftigkeit aber im ganzen
öffentlichen Leben iſt das Wahre. Die Ruhe der Feudal-
zeit war künſtlich, die Bewegung der Jetztzeit iſt das
Natürliche. Der Japaner wird nie aufhören, ſich der
heiteren Seiten des Lebens zu freuen; nennt man doch
das ſanguiniſche Temperament das genießende! Aber
geſchäftig thätig wird er dabei bleiben.
Das ſehen wir beſtätigt bei einem Blick auf die
[107] japaniſche Geſchichte im ganzen. Wo immer ſich Gelegen-
heit zu Neuem geboten hat, da hat man dieſelbe begierig
benützt. Auch die japaniſche Geſchichte iſt eine Geſchichte
von Überraſchungen. Auch hier trat immer das ein,
was man am wenigſten erwartete. Auch hier ging es
nicht in ruhiger ſtetiger Entwicklung vorwärts, ſondern
vielmehr ſprunghaft. Ganz ſtetig geht ja wohl keine
Entwicklung geiſtiger Kräfte. Denn der Geiſt liebt
die Schablone nicht. Geradlinig aufſteigend, ohne Krüm-
mungen, iſt auch unſere Geſchichte nicht verlaufen. Die
Völkerwanderung, die Reformation und die Wiederauf-
richtung des Deutſchen Reiches ſind Höhepunkte, wo mit
einem Mal in gewaltigem Anſtoß die Linie ſteil nach
oben ſtieg. Aber die Perioden, die auf dieſe Ereigniſſe
folgten, haben doch weiter gearbeitet, ſtetig und ununter-
brochen, haben keinen Rückſchritt noch Stillſtand geduldet,
haben ſelbſt in der vielverſchrieenen Zeit des dunkeln
Mittelalters aufwärts geführt, wenn auch nur in lang-
ſamer, ruhiger Entwicklung. Anders die Epochen der
japaniſchen Geſchichte. Das iſt kein allmähliches Auf-
ſteigen, das ſind vielmehr drei vereinzelte Berge, von
denen jeder folgende am Rande einer vorgelegenen
großen Ebene auf der Höhe des andern ſich erhebt.
Merkwürdigerweiſe fallen die drei Epochen, welche
in Übereinſtimmung mit dem japaniſchen Mangel an
Originalität ſtets durch Anſtöße von außen veranlaßt
wurden, nämlich durch die Berührung mit der chineſiſch-
buddhiſtiſchen, mit der mittelalterlich-katholiſchen und
mit der modern-proteſtantiſchen Kultur, zeitlich mit den
großen Epochen der deutſchen Geſchichte zuſammen.
Zur Zeit der Völkerwanderung iſt es geweſen, als die
chineſiſche Kultur, als deren Bannerträger zuerſt Kon-
fuzius, dann Buddha erſchien, teils direkt, teils über
[108] Korea in Japan eindrang und in raſchem Siegeslauf
ein Volk roher, unwiſſender Barbaren in ein Kultur-
volk umwandelte. Kaum aber war die Wandlung ge-
ſchehen, als völliger Stillſtand eintrat. Statt weiter
zu arbeiten und ſich zu einer höheren Stufe der Kultur
emporzuarbeiten, war man zufrieden mit dem, was
man bekommen hatte. Man paßte es dem Beſtehenden
an, weiter geſchah nichts. Japan ruhte aus auf ſeinen
Lorbeeren, die es billig genug erworben hatte; der
Hof ſank in Weichlichkeit und das Volk in geiſtigen
Schlaf. Der Mikado wurde zum Schattenbild, welt-
liche Herrſcher, Schogune genannt, führten an ſeiner
Statt die Zügel der Regierung. Unter beſtändigen
Kämpfen verſchiedener Adelsfamilien um das Schogunat
verfloſſen die Jahrhunderte; und als das 16. Jahrhundert
heraufdämmerte, da war die Frucht eines halben Jahr-
tauſends gleich Null. Da, mit einem Mal, ſchien ein
neues Zeitalter anzubrechen, die zweite Epoche der
japaniſchen Geſchichte begann.
Wie zuvor mit der chineſiſchen, ſo kam Japan
jetzt in Berührung mit der europäiſchen Kultur. Um
die Mitte des 16. Jahrhunderts, nachdem der Portugieſe
Mendez Pinto kurz zuvor Japan „entdeckt“ hatte, er-
ſchienen die Jeſuiten und Franziskaner im Land. Von
mehreren Daimio (Fürſten) und dem Schogun Nobunaga
begünſtigt, war ihr Erfolg beiſpiellos. Nach Verlauf
von wenigen Jahrzehnten zählten ihre Anhänger nach
Hunderttauſenden. In raſchem Siegeslauf ſchien die
europäiſch-chriſtliche Kultur Herr zu werden über die
aſiatiſch-buddhiſtiſche. Da verbündete ſich mit dieſer
ein gewaltiger Mann, Iyeyaſu, trotz Saigo, dem Helden
der Revolution von 1868, der größte Mann der japa-
niſchen Geſchichte, der Begründer der letzten Schogun-
[109] dynaſtie der Tokugawa. Mit eiſerner Fauſt wurden
die neuen Gedanken unterdrückt. Durch lange und ent-
ſetzliche Martern gereizt erhoben ſich die Anhänger der
neuen Lehre unter Iyeyaſus Enkel Iyemitſu zum Ent-
ſcheidungskampf. Auf der Halbinſel Schiobara kam es
im Jahre 1637 zum letzten Kampf. Die katholiſche
Idee unterlag. Das Chriſtentum wurde bei Todes-
ſtrafe verboten, kein Europäer durfte hinfort das Innere
des Landes betreten, kein Japaner das Land verlaſſen.
Nur den Holländern ward es erlaubt, jährlich einmal
zum Austauſch von Waren auf der Inſel Deſhima bei
Nagaſaki zu landen. Das Land war abgeſchloſſen, die
geſpannten Muskeln erſchlafften, das Alte ward vergeſſen
und das Volk fiel wieder in ſeinen Schlaf.
Nun ſchlief es ununterbrochen durch mehr als zwei
Jahrhunderte hindurch. Endlich im Jahre 1854 erſchien
der amerikaniſche Admiral Perry am Eingang der Bay
von Tokyo und verlangte im Namen der Vereinigten
Staaten einen Handesvertrag. Man wollte nicht auf
ihn hören, man gedachte weiter zu ſchlafen. Da ließ
Perry ſeine Kanonen ſpielen, und als der nie zuvor
gehörte Donner der großen Geſchütze durch das Land
hallte, erwachten die Schläfer vom Schlaf: Die dritte
Epoche der japaniſchen Geſchichte war da.
Wenn man die Geſchichte Japans betrachtet, wird
man lebhaft erinnert an das Märchen vom Dornröschen.
Wie in dieſem mit einem Schlag alle Bewegung in
Ruhe, alles Leben in Schlaf ſich wandelte, ſo auch
dort; und wie im Märchen mit einem Schlag das
Leben von neuem erwachte aus tiefem, totenſtillem
Schlaf, ſo in Japans Geſchichte. Jedesmal war es
wie der gewaltige Ausbruch eines Vulkans, der vorher
geruht; und jedesmal war es, wie wenn die vulkaniſche
Glut plötzlich in ſich ſelbſt zurückſinkt.
[110]
Und dieſe Erfahrung läßt ſich auf allen Gebieten
machen. Nirgends ruhiges Fortſchreiten, überall Sprünge,
das Fallen von einem Extrem in das andere. Während
vor dreißig Jahren der Abſolutismus die einzige poli-
tiſche Anſchauung war, die man kannte, iſt heute das
ganze Volk angeſteckt von den Gedanken der Demokratie.
Während man damals noch auf die Autorität des Buddha
und Konfuzius ſchwor, iſt man es heute gewöhnt, ihrer
zu ſpotten. Während man damals in tiefer Ehrfurcht
zu den Füßen ſeiner Lehrer ſaß und ihren Worten
lauſchte als einer höheren Offenbarung, wird heute der
Lehrer von dem Schüler gemeiſtert. Bekennt ſich heute
einer zu der orthodoxeſten Form des Chriſtentums, wie
er es von dem engherzigſten amerikaniſchen Miſſionar
erhalten hat, morgen iſt er vielleicht ein Atheiſt. Es
iſt ein Radikalismus des Denkens, wie man ihn bei
keinem andern Volke trifft. Wohl mag ein gut Teil
des radikalen und unſteten Charakters zurückzuführen
ſein auf die knabenhafte Unreife, auf die Unfähigkeit
des Sklaven, die ihm ſoeben geſchenkte Freiheit recht
zu benützen. Aber im weſentlichen iſt ſie begründet in
der Eigentümlichkeit des japaniſchen Denkens.
Seiner Form nach iſt dieſes Denken impulſiv d. h.
ſtoßweiſe, vulkaniſch. Ein Sichvertiefen liebt der Ja-
paner nicht; und ſo ausdauernd er in der langwierigſten
techniſchen oder experimentierenden Arbeit iſt, ein ſtetiges
ruhiges Durchdenken einer Sache iſt ihm zuwider. Die
deutſchen Profeſſoren haben ſtets Klage zu führen, wie
ſchwer es iſt, den Studenten den Begriff der Ent-
wicklung und Kauſalität, dieſe Grundlage alles wiſſen-
ſchaftlichen Erkennens, beizubringen. Warum aber iſt
es ſo ſchwer? Weil die Form des japaniſchen Denkens
nicht die der ruhigen, langſamen Entwicklung, nicht die
[111] des klaren, logiſchen Folgerns und der kauſalen Ge-
dankenverbindung iſt, ſondern die des Impulſes, des
plötzlichen Erfaſſens. Das japaniſche Wiſſen iſt mehr
divinatoriſcher als logiſcher Natur. Und ſo kommen
wir auch hier wieder zu demſelben Ergebnis wie bei
der Betrachtung des Geiſteslebens: Der Japaner iſt mehr
äſthetiſch als gedankentief veranlagt.
Das Temperament iſt die Grundlage des Charakters,
und einige in der ſanguiniſchen Natur des Japaners
begründete Charakterzüge ſind ſo hervorſtechend, daß
ſie ſelbſt bei einem beſcheidenen Anſpruch auf an-
nähernde Vollſtändigkeit hier nicht übergangen werden
dürfen.
Übertragen wir die Form des Denkens in das
Ethiſche und betrachten ſie auf die Wirkungen hin, wie
ſie ſich im Verkehr mit dem Nebenmenſchen aus ihr
ergeben, ſo wird uns die ſprunghafte, impulſive Art
dieſes Denkens, das ganze ungefeſtigte Naturell zur
Unzuverläſſigkeit. In der That kann der Vorwurf der
Unzuverläſſigkeit dem Japaner nicht erſpart bleiben,
und es iſt ein ſchwerer ſittlicher Tadel, der damit aus-
geſprochen wird. Es werden in dieſer Beziehung häufig
Vergleiche zwiſchen Japanern und Chineſen angeſtellt,
welche in den europäiſchen Handelskreiſen Oſtaſiens
immer zu Ungunſten der erſteren ausfallen. Der
Chineſe iſt Phlegmatiker, und darum beſitzt er die
Tugend der Treue und den Vorzug der Vertrauens-
würdigkeit. Er ergreift nicht leicht etwas, was ihm
fremd iſt; was er aber einmal ergriffen hat, hält er
feſt, und von ſeiner einmal gemachten Zuſage geht er
nicht ab. Der frühere Leiter der größten engliſchen
Bank in Yokohama hat ausgeſprochen, daß er auf der
ganzen Welt niemand kenne, dem er eher vertraue als
[112] dem chineſiſchen Kaufmann und Bankier; ſeine Bank
habe in fünfundzwanzig Jahren Geſchäfte mit Chineſen
in der Höhe von Hunderten von Millionen Dollars
gemacht; aber niemals habe er einen betrügeriſchen
Chineſen gefunden. Dagegen herrſcht über die Unzu-
verläſſigkeit des japaniſchen Kaufmanns nur eine Stimme
der Klage. Er beſtellt bei einer fremden Firma, und
wenn die Ware kommt, ſo nimmt er ſie nicht ab, oder
er ſucht trotz vorheriger Vereinbarung den Preis herab-
zudrücken. Er hat beſtändige Ausflüchte, und ſelbſt durch
einen ſchriftlichen Kontrakt fühlt er ſich nicht gebunden.
In den großen fremden Handelshäuſern in Yokohama
und Kobe ſind die gewöhnlichen Arbeiter Japaner, als
Aufſeher an der Spitze aber ſtehen Chineſen. Man
hat die geſchäftliche Unzuverläſſigkeit des Japaners
geſchichtlich erklären wollen. In der Feudalzeit waren
Handel und Geldgeſchäfte die ausſchließliche Domäne
der unteren Kaſten, während der Gelehrten- und der
Kriegerſtand darauf als auf gemeine Beſchäftigungen
mit Verachtung herabſahen. Von früh auf war es
ihnen eingeimpft worden als ein unantaſtbarer Grund-
ſatz der Moral: „Geld iſt das letzte, darnach ein Menſch
trachten ſollte; Reichtum iſt der Feind der Weisheit“.
Da konnte es nicht ausbleiben, daß der kaufmänniſche
Stand moraliſch herabſank, und daß der Handel nur
ausgeübt wurde von ſolchen, die auf Ehre nicht viel
hielten. Zweifellos trägt das an dem gegenwärtigen
Stand der Dinge einen Hauptteil der Schuld. Wenn
im Verkehr mit den Handelsvölkern des Weſtens der
Handel erſt einmal ſeine rechte Würdigung erfährt, —
und man iſt jetzt ſchon auf dem beſten Wege dazu —,
ſo werden ſich ihm auch ſittlich hochſtehende Kreiſe zu-
wenden, und allmählich wird das Geſchäftsgebahren
[113] weſentlich umgeſtaltet. Auch werden die Japaner, klug
wie ſie ſind, bald ſelbſt einſehen, daß man in dieſem
Stande mit Ehrlichkeit und reeller Behandlung weiter
kommt als mit vermeintlicher Schlauheit; einen Weg
aber, der ſie vorwärts bringt, zögern ſie nie zu betreten.
Immerhin tragen ſie in ihrem ſanguiniſchen Tempera-
ment eine ſtete Verſuchung zur Unzuverläſſigkeit mit ſich,
ſo daß es bei ihnen wohl noch gute Weile hat, bis es
in vollem Sinne heißen darf: Ein Mann, ein Wort.
Um ſo mehr ſteht zu hoffen, daß ſie ſich die gleich-
falls auf ihrem Naturell beruhenden Tugenden der
Empfänglichkeit und Eindrucksfähigkeit in dem gegen-
wärtigen vollen Maße bewahren werden. Sind ſie doch
die Hauptquellen ihrer ſympathiſchen Züge einer äſthe-
tiſchen Lebensführung. Sie verſtehen es, ſich liebevoll
an etwas hinzugeben; aber ſie ſind gleicherweiſe bedacht,
ſich nicht zu verlieren und ſich ſelbſt zu behaupten. Sie
haben Stolz und Selbſtbewußtſein, ſie werfen ſich nicht
weg. Wie ſie äſthetiſch äußerlich auf ſich halten, ſo
auch innerlich. Servilität und kriechende Unterwürfigkeit
iſt ihnen fremd und kann ihnen nur von dem angedichtet
werden, der ihre Höflichkeit mißverſteht. Sklaviſcher
Sinn mit all ſeinen unſchönen Begleiterſcheinungen
eignet ihnen nicht. Sie wiſſen, was ſie ſind und was
ſie können, ſie wiſſen es manchmal nur zu ſehr. Sie
verfallen darum leicht in Eitelkeit, Selbſtüberſchätzung
und Großmannsſucht.
Der Japaner möchte mehr ſcheinen, als er iſt.
Kaum hat der Knabe ſeinen Einzug in die höhere
Schule gehalten, ſo muß auch eine Brille her, damit
er ein gelehrtes Anſehen gewinnt. Ein Kneifer würde
ihm freilich noch beſſer gefallen, aber für den iſt die
japaniſche Naſe leider nicht gewachſen. Ein echter
8
[114] Sanguiniker wie er iſt, frägt er bei ſeinem Thun und
Handeln nicht ſo ſehr nach den ewigen Geſetzen der
Moral, als nach dem Urteil der Welt. Die ganze
Kulturwut der letzten Jahrzehnte erklärt ſich zum Teil
aus ſeinem Ehrgeiz, vor den Augen der Welt beſtehen
und den Vergleich mit Europa aushalten zu können.
Humane Anwandlungen, wie die Einführung des Roten
Kreuzes und die menſchliche Behandlung der Kriegs-
gefangenen, ſind weniger auf einen tiefen ſittlichen Kern
zurückzuführen, als vielmehr auf die Frage: Was
würde Europa dazu ſagen, wenn wir es anders machten!
Man muß vorſichtig ſein, ihm ſolches als moraliſches
Verdienſt anzurechnen: Es iſt in vielen Fällen nichts
anderes als Tünche, ſchöner Anſtrich, um die Augen der
Beſchauer zu beſtechen oder — um es anders auszu-
drücken — Sand, den man den Leuten in die Augen
ſtreut. So lange es ſich um praktiſch Nützliches handelt,
glaube ich an ſeinen Ernſt; darüber hinaus aber bin
ich mißtrauiſch. Und wenn ſchon der ganzen modernen
Kultur Japans etwas Maſchinenhaftes anklebt, ſo iſt
dieſes vollends nichts weiter als offenbare äußerliche
Anpaſſung.
Das Geld gilt ihm nichts, die Ehre alles; den
Geldgeiz verachtet er, der Ehrgeiz beherrſcht ihn. Er
iſt eher verſchwenderiſch als habſüchtig. In Geldſachen
beſitzt er eine hervorragende Nobleſſe. Der Diebſtahl,
wenn er natürlicherweiſe auch vorkommt, iſt doch ſeiner
Natur fremd. Ich hatte alle meine Sachen unver-
ſchloſſen, ſelbſt kleinere Geldbeträge; nie iſt mir etwas
abhanden gekommen, ausgenommen Bücher. Nur vor
Wegleihen ſoll man ſich hüten. Der Materialismus,
mit welchem ſein Geiſtesleben behaftet iſt, äußert ſich
nicht in der Gier nach materiellen Schätzen oder auch
[115] nur nach einem genußreichen Leben. Mammonsanbeter
ſind ſie nicht, und auch den Bauch haben ſie nicht zu
ihrem Gott gemacht. Und wenn ich hier noch einmal
auf das Sprichwort: „Zehn Menſchen, zehn Bäuche“
zurückkommen darf, ſo ſei es dieſes Mal in dem Sinne,
daß ſie zwar den Bauch als den Sitz der Verſtandes-
thätigkeit, nicht aber als das Reſervoir kullinariſcher
Genüſſe betrachten.
Nach Ruhm geht des Japaners Streben. Wenn
auch ſeine geſunden Sinne ihm ſagen, daß ſein Vater-
land hinter mancher andern Macht zurückſteht, ſein
Ehrgeiz redet ihm ein, daß Japan doch die erſte Nation
der Welt ſei. Ich habe einen Studenten der Theologie
gekannt, der von Leſſing nichts wußte, als was er hier
und dort in engliſchen Büchern über ihn geleſen hatte:
Er ſchrieb ein Buch über Leſſing. Gekauft hat es
niemand, er aber hatte die Genugthuung, ſich gedruckt
zu ſehen. Wie überall ſo auch hier: In inniger Ver-
bindung mit der Eitelkeit der Mangel an Tiefe, die
Oberflächlichkeit. Ich kannte einen andern, der in der
deutſchen Rechtsſchule durchgefallen war und dann vor-
übergehend, durch Vermittlung eines Gönners, An-
ſtellung auf dem Hauptpoſtamt gefunden hatte; eines
Tages teilte er mir mit, daß er gegenwärtig in Päda-
gogik mache und Leſebücher für alle Klaſſen der Volks-
ſchule ſchreibe. Ein dritter Bekannter, ein junger Mann,
der nicht einmal eine fremde Sprache kannte, gab eine
Zeitſchrift heraus, welche den Unterricht der Chūgakkō,
des Progymnaſiums, erſetzen und die Abonnenten nach
einer Reihe von Jahren auf die Höhe der Bildung
eines Abiturienten bringen ſollte, die er meiner Anſicht
nach aber ſelbſt nicht beſaß. Was die Leute dazu
treibt, iſt die Großmannsſucht. Man will ſich einen
8*
[116] Namen machen, man will glänzen. Es iſt die „Gloire“
des Franzoſen, die ſich bei den Franzoſen des Oſtens
nicht minder ausgeprägt wiederfindet.
Die Eitelkeit iſt an und für ſich eine der harm-
loſeſten Untugenden. Der Eitle macht ſich lächerlich,
aber dem andern ſchadet er nicht. Sobald aber die
Eitelkeit in ein praktiſches Verhältnis zum Nächſten
tritt, wird ſie ſehr bitter. Der Selbſtvergrößerung ent-
ſpricht als ihr Gegenſtück die Verkleinerung des andern.
Ich habe von einem jungen Mann erzählt, daß er ein
Buch über Leſſing ſchrieb. Was er ſchrieb, war alles
abgeſchrieben. In ſeinem Buch aber verrät er davon
nichts. Er ſelbſt will groß erſcheinen, ſeine Vorlagen
aber verleugnet er. Er möchte alles ſelbſt gethan haben,
das Verdienſt des andern ſucht er für ſich zu überſehen,
für dritte zu verdecken. Es iſt ihm eine peinliche
Empfindung, ſich jemand verpflichtet zu wiſſen. Er
wird zu dem, was man im beſten Sinne undankbar
nennt. Das Wort für Dank trägt er unendlich viel
auf ſeinen Lippen, aber die Sache iſt ſeinem Herzen
nicht ſo vertraut. Seine Dankbarkeit iſt eine formelle
Ceremonie, nicht ſo ſehr eine Sache des Herzens; und
der gebräuchliche Ausdruck für Dankſagen: „Rei wo iu“
bedeutet eigentlich: „Der Etikette genügen“.
Es iſt eine durchgehende Klage, daß man die
fremden Beamten und Lehrer ausnutze bis auf das
letzte, um ſie dann gleich ausgepreßten Citronen acht-
los beiſeite zu werfen. Man benutzt ſie, ſolange man
noch etwas von ihnen lernen kann; aber die Aner-
kennung verſagt man ihnen. von manchem, was Europa
heute an Japan abgiebt, wird ſchon die kommende
Generation behaupten, daß dasſelbe urſprünglich japa-
niſch ſei. In einer großen Verſammlung von Japanern
[117] und Europäern hörte ich eine Rede aus dem Munde
eines hervorragenden japaniſchen Chriſten, welche als
ein muſtergiltiger Beleg für dieſe Charaktereigenſchaft
betrachtet werden darf. Unter den Fremden in Japan
iſt dieſe Eigenſchaft allgemein bekannt, aber dieſe Aus-
führungen haben ſie doch noch überraſcht. Sagte doch
der Redner den anweſenden Miſſionaren mit dürren
Worten nichts Geringeres, als daß die großen Gedanken
des Chriſtentums ſchon von alters her im japaniſchen
Volk gelebt hätten; und die fremden Gelehrten, die ſich
immer wieder darüber beklagen, daß ihre Studenten
die wiſſenſchaftliche Methode nicht begreifen wollen, be-
kamen zu hören, daß dieſe ſelbige Methode nicht ein
abendländiſcher Importartikel, ſondern ein echt japa-
niſches Erbſtück ſei. Das iſt eine bombaſtiſche Weiſe,
die nicht weniger als eine tiefgehende Schwäche der
Selbſterkenntnis beweiſt.
Es iſt ja freilich möglich, daß der fremde Be-
obachter hier zu ſcharf urteilt. Es iſt nicht unwahr-
ſcheinlich, daß der Japaner gerade dem Fremden gegen-
über, eben weil er ſich innerlich ihm noch unterlegen
fühlt und für ſeine Unabhängigkeit fürchtet, aus einem
gewiſſen trotzigen Selbſtändigkeitsgefühl heraus äußerlich
um ſo mehr aus ſich zu machen ſucht. Dann wäre es
nicht viel mehr als eine zeitweilige Überſpannung des
Beſtrebens nach Selbſtbehauptung, die ſich je mehr
verlieren müßte, je mehr er ſich mit dem Abendländer
auf gleiche Stufe gehoben weiß.
Mit dem eben erwähnten mangelhaften Gefühl der
Dankbarkeit ſtehen wir ſchon mitten in dem Gefühls-
leben des Japaners und im Grunde haben wir das
ganze Weſen ſeines Gefühlslebens damit ſchon vorweg
genommen. Alles was eitel iſt, iſt aufgeblaſen und
[118] hohl; was aber hohl iſt — und wäre es im übrigen
ſelbſt aus edlem Stoff, was ich von dem Japaner
immerhin behaupte — ſchwimmt auf der Oberfläche.
Wie ſein Geiſtesleben, ſo leidet auch ſein Gefühlsleben
an einem Mangel an Tiefe, an einer gewiſſen Ober-
flächlichkeit.
Zwar laſſen ſich manche Anzeichen von ſcheinbarer
Gefühlloſigkeit geſchichtlich erklären. Wenn ſie die
größten körperlichen Schmerzen aushalten, ohne eine
Miene zu verziehen, ſo iſt das zweifellos zurückzuführen
auf eine Gewöhnung von alters her. Hat doch die
Feigheit immer als eine verachtungswürdige Schwäche
gegolten. Stoiſcher Gleichmut wurde von jeher von
ihnen geprieſen, und während die Ruhe, mit welcher
Sokrates den Giftbecher trank, als etwas Selbſtverſtänd-
liches angeſehen wird, beſteht ein Hauptanſtoß, welchen
man an der Perſon Jeſu nimmt, darin, daß er ſich in
Gethſemane menſchlich weich und ſchwach gezeigt habe.
Wenn ſie Geld und Vermögen in einem Umfang ver-
lieren, daß es manchen Abendländer an den Rand der
Verzweiflung bringen würde, und wenn ſie ſolche Ver-
luſte mit ſtoiſchem Gleichmut hinnehmen, ſo findet das
ſeine Erklärung in der vorerwähnten Nichtachtung ma-
terieller Schätze. Und wenn ſie ohne Furcht und Grauen
dem Tode entgegen ſehen, ſo iſt auch dafür ein Grund
vorhanden in ihrem Skeptizismus, der weder an Hölle
noch an Fegfeuer glaubt. Wenn ſie aber auch bei dem
Tode ihrer Lieben augenſcheinlich keine Trauer zeigen,
wenn mein Diener mit lachendem Geſicht, ſtrahlend in
mein Zimmer tritt, um mir den Tod ſeiner Mutter
anzuzeigen und um zwei Tage Urlaub zur Beerdigung
zu bitten, ſo ſtehen wir hier um ſo mehr vor einem
Rätſel, als die Familienangehörigen im Leben ungemein
[119] enge mit einander verbunden ſind. Was wunder, wenn
manche Europäer, und ſelbſt gute Kenner des japaniſchen
Volkes der Anſicht ſind, daß ſie faſt jedes Gefühles
bar ſind. Gleichwohl geht dieſes Urteil entſchieden zu
weit. Der Japaner iſt durch Frau Etikette Schau-
ſpieler geworden, und wenn er wirklich nichts fühlte,
ſo bin ich überzeugt, daß er dann gerade erſt recht Ge-
fühl heucheln würde. Wenn er aber mit ſeinem Geſicht
lacht, ſo mag er ſehr wohl mit ſeinem Herzen weinen.
Thatſächlich habe ich manche geſehen, die mir mit
lächelndem Mund von dem Tode ihrer Angehörigen er-
zählten, und denen doch dabei die hellen Thränen über
die Wangen rannen. Die ſcheinbare Gleichgiltigkeit
iſt zu einem guten Teil eben nur ſcheinbar, verdeckt
durch gewohnheitsmäßige Etikette. Habe ich doch an
mir ſelbſt bei ſchweren Verluſten, die mich betroffen
hatten, im Verkehr mit Japanern zu meinem Schrecken
die Erfahrung machen müſſen, daß die japaniſche Art
auch auf mich anſteckend wirkte, während es mir doch
im innerſten Herzen wahrlich nicht ſo zu Mute war.
Gleichwohl ſteht es dem ſorgfältigen Beobachter
aus tauſend kleinen Zügen und feinen Empfindungen,
die ſich durch Beiſpiele ſchwer belegen laſſen, feſt, daß
ihr Gefühl nicht ſo tief iſt wie das unſrige, daß ſie
ein Gefühls- und Gemütsleben in unſerm Sinn über-
haupt nicht führen. Schon die ganze äſthetiſche Er-
ziehung mit ihrer Wertſchätzung des Harmoniſchen,
Heiteren und Sonnigen iſt nicht darauf angelegt, ſie
irgendwie für den düſteren Ernſt des Lebens empfäng-
lich zu machen. Elaſtiſch, wie Naturell und Erziehung
ſie geſchaffen haben, gehen ſie mit einem leichten:
„Shikata ga nai“, „Es läßt ſich nichts machen“, über
das Unabänderliche bald zur Tagesordnung über.
[120]
An Stelle des echten Gefühls aber, welches als
unverſiegbarer Quell in der Tiefe des Herzens allzeit
lebendig iſt, finden ſich merkwürdigerweiſe nicht ſelten
momentane Gefühlsausbrüche, die plötzlich kommen und
raſch wieder gehen. Sie ſind nicht ſowohl wahres
Gefühl als vielmehr Gefühlskarikaturen, ſentimentale
Anwandlungen. Ihrer ganzen Natur nach ſind ſie als
akute Erkrankungen zu bezeichnen. Und zwar ſind es
ſehr gefährliche Erkrankungen, die häufig einen tragiſchen
Ausgang nehmen und mit dem Tode enden. Im
japaniſch-chineſiſchen Krieg kam es manchmal vor, daß
der oder jener ſich entleibte, weil es ihm nicht vergönnt
war, am Kampfe teilzunehmen. Sie betrachteten das als
Schande, die ſie nicht überleben wollten. Im Jahre 1891
beging ein auf Yezo ſtationierter Offizier im Angeſichte der
Gräber ſeiner Ahnen in Tokyo Harakiri (Bauchaufſchlitzen).
Er hinterließ einen Brief, in welchem er die Gründe
ſeiner That auseinanderſetzte, und ordnete an, daß der-
ſelbe an alle Zeitungen zur Veröffentlichung geſchickt
werden ſollte. Dieſem Brief zufolge hatte der Offizier
mehr als ein Jahrzehnt darüber gebrütet, daß Rußland
über kurz oder lang von Norden her einfallen und Japan
in große Gefahr bringen werde. Da er ſich aber ſagte,
daß alle Warnungen von ihm, dem Lebenden, überhört
werden würden, ſo beſchloß er, ſich zu töten, da aus
dem Grabe heraus ſeine Stimme ernſter und eindring-
licher an die Herzen ſeiner Landsleute dringen werde.
Dieſer ganze Vorgang iſt durch und durch japaniſch.
Als der ruſſiſche Thronfolger durch einen Fanatiker ver-
wundet worden war, kam eine Frau über dreihundert
Kilometer weit nach Kioto gereiſt, ſtellte ſich vor den alten
Kaiſerpalaſt und nahm ſich ſelbſt das Leben, um, wie ſie
ſagte, eine Sühne zu bringen für das Verbrechen der Nation.
[121] Mehr als eine japaniſche Mutter, deren Sohn ſich der
verhaßten Jeſuslehre zuwandte, kam auf den Gedanken
des Selbſtmords, um damit den Schimpf auszuwiſchen,
den der Sohn auf die Familie gebracht hat. Ich ſtand
einmal mit einem chriſtlichen Japaner vor einem Bilde,
welches darſtellte, wie einige zwanzig junge Samurai,
d. h. Männer aus dem Kriegerſtand, die in einer
Schlacht mitgekämpft hatten, in der ihre Partei ge-
ſchlagen wurde, Selbſtmord durch Harakiri begingen.
Ich ſagte meinem Begleiter, daß in einem ſolchen Falle
bei uns zu Lande die jungen Leute am Leben geblieben
wären, um das nächſte Mal um ſo feuriger zu kämpfen
und ihre frühere Niederlage durch die That wieder gut
zu machen oder, wenn es ſein müßte, einen ehrlichen
Soldatentod in offener Feldſchlacht zu finden. Der
Mann war Chriſt, aber er war auch Japaner, der ſtolz
war, daß auch ſeine Ahnen der Kriegerkaſte einſt ange-
hört, und als ſolcher blieb er dabei, daß die That jener
nicht allein großartiger und erhabener, — denn darüber
ließe ſich ja vom äſthetiſch-dramatiſchen Standpunkt
aus ſtreiten — ſondern auch ſittlich beſſer und edler
geweſen ſei. Die Wertſchätzung des eigenen Lebens,
wie ſie dem Europäer eigen iſt und dem Chriſten zur
Pflicht gemacht wird, kennt der Japaner nicht. Der
Selbſtmord gilt ihm nicht als unmoraliſch, vielmehr
haben Romantik und Sentimentalität eine Art von
Heiligenſchein um den Selbſtmord gewoben. Der Ge-
danke, welcher zu allen Zeiten in vielen Köpfen geſpukt
hat, daß Schande mit dem eigenen Blut abgewiſcht
werde, und daß Sünde mit dem Leben bezahlt d. h. gut
gemacht werden könne, iſt dem japaniſchen Volk ein
Glaubensſatz, der zu einem ſtrengen Ehrencodex führte
und das Harakiri als vielgeübten Brauch zur Folge
[122] hatte. Bei den Japanern war das ſo ſelbſtverſtändlich,
daß es keiner Gattin je eingefallen wäre, ihren Gatten
von einem, nach der herrſchenden Anſicht oder nach des
Gatten Einbildung notwendig gewordenen Akte des
Bauchaufſchlitzens zurückzuhalten.
Das ſind Fälle einer auffallenden Sentimentalität,
die faſt immer mit übertriebener Vaterlandsliebe und
falſchen Vorſtellungen von Ehre zuſammenhängen. In
Zeiten großer Erregung werden dieſelben epidemiſch,
wie eine anſteckende Krankheit, um dann wieder wie
dieſe für lange Zeit ganz zu verſchwinden. In dieſem
Zeitalter der praktiſchen Wirklichkeit freilich, in welches
Japan jetzt eingetreten iſt, dürfte es dieſer krankhaften
Erſcheinung genau ſo gehen wie auch den epidemiſchen
Krankheiten der Cholera und der Pocken: Der denkende
ſchaffende Menſchengeiſt drängt ſie zurück.
Da die eben erwähnten ſentimentalen Erſcheinungen
nicht normal, ſondern krankhaft, nicht dauernd, ſondern
zeitlich ſind, ſo läßt ſich aus ihnen auf eine beſondere
Gefühlsſtärke nicht ſchließen. Mit viel mehr Recht
könnte man von einer gewiſſen Gefühlshärte ſprechen.
Freilich rohen thätlichen Ausdruck erhält dieſelbe ſelten.
Das Betragen iſt tadellos. Wären die Japaner Kinder,
ſo dürfte man ſie in vollem Sinne Muſterkinder
nennen. Die Wohlerzogenheit, die Artigkeit iſt wirklich
muſtergiltig. Mancher deutſche Familienvater weiß ſie
nicht einmal im eigenen Hauſe zu ſchaffen; hier umfaßt
ſie ein ganzes Volk. Aber bei den ſogenannten muſter-
haften Menſchen findet man es häufig, daß die Form
auf Koſten des Herzens, der formelle Takt auf Koſten
des Herzenstaktes geht. So zeigt ſich auch hier, daß
das ſtarre Einzwängen in die Etikette manchen zarten
Trieb des Herzens und Gemüts an der Entfaltung
[123] hinderte, ſo daß er elend verkümmern mußte. So groß
die Bereitwilligkeit des Japaners iſt, in ritterlichem
Sinn für die Sache des Unterdrückten einzuſtehen, ſo
habe ich doch ein warmherziges Mitleid mit den Müh-
ſeligen und Beladenen der Menſchheit ſelten gefun-
den. Dagegen kann er recht hart ſein. Kann doch
darüber kein Zweifel beſtehen, daß die Japaner wäh-
rend des chineſiſchen Krieges einige Male ſehr grauſam
verfuhren. Charakteriſtiſch für die in ihrem Innern
zurückgebliebenen Spuren eines hartherzigen Barbaris-
mus ſind auch die von Chineſenblut triefenden Kriegs-
bilder, welche Kulturbilder eigentümlicher Art ſind,
ferner abgeſchnittene blutige Chineſenköpfe, in Papp-
deckel nachgemacht, welche Kindern zum Spielzeug dienten,
und anderes mehr. Ich habe des öftern chriſtliche Ja-
paner gefragt, ob ſie nicht Mitleid mit den chineſiſchen
Kriegsgefangenen hätten; ich erhielt von denſelben ſtets
zur Antwort, daß ſie die Gefangenen mit Neugier und
Stolz betrachteten, aber nicht mit Mitleid.
Wer ſich die Mühe nimmt, ſich einmal für ein paar
Stunden an den Kudanhügel im Centrum von Tokyo
hinzuſtellen und die Jinrikſha zu beobachten, wird da-
bei eine intereſſante Entdeckung machen. Während näm-
lich die Europäer ſämtlich am Fuße des Hügels aus-
ſteigen oder noch einen zweiten Mann zum Drücken enga-
gieren, laſſen ſich die Japaner mit ſehr wenigen Aus-
nahmen von ihrem einzigen Kuli hinaufziehen; ja häufig
genug ſieht man zwei wohlgenährte Soldaten in einer
Jinrikſha, von nur einem Mann gezogen, hinauffahren.
Ich bin im Gebirge auf ſehr holprigen und ſteil auf-
ſteigenden Wegen Jinrikſha begegnet, dabei der arme
Wagenzieher kaum von der Stelle kam und in Schweiß
förmlich aufgelöſt war, ſo daß ich aus Mitleid mit ihm
[124] manchmal ſelbſt Hand anlegte zur großen Verwunde-
rung des Japaners, der in der Jinrikſha ſaß. Aber
ausſteigen — daran dachte er nicht. Er hatte ja Zeit,
und der Kuli wurde bezahlt; da war alles in ſchönſter
Ordnung!
Man iſt geneigt zu glauben, der Buddhismus habe
die Menſchen Oſtaſiens gutherzig gemacht. Denn der
Buddhismus predigt nicht allein Liebe zu den Menſchen,
ſondern auch zu der unvernünftigen Kreatur. Ausdrück-
lich verbietet er, Tiere zu töten, und thatſächlich ſoll
es heute noch buddhiſtiſche Prieſter geben, die nicht
einmal einen Mosquito, dieſen ſchrecklichſten Schrecken
der heißen Sommernächte, töten. So hütet ſich der
Japaner wohl, zum Mörder an jungen Hunden oder
Katzen zu werden, die man doch bei uns unbedenklich
in das Waſſer wirft, wenn ſie etwa überzählig ſind.
Aber er kann ſie doch nicht alle aufziehen! Es laufen
ohnedies auf den Straßen von Tokyo ſchon ſo viele
Hunde umher, daß von Zeit zu Zeit Kuli ausgeſchickt
werden, um mit ihnen aufzuräumen. Wie befreit man
ſich von ihnen? Man ſetzt ſie aus und überliefert ſie
dadurch ruhigen Gewiſſens einem langſamen, qualvollen
Tod; denn man tötet ſie ja nicht und hat damit dem
Geſetz bis zum letzten Buchſtaben Genüge gethan. Ich
kam einmal auf einem Spaziergang mit einer deutſchen
Dame an einigen ſolcher Tierchen vorbei, welche jämmer-
lich winſelten. Sie dauerten uns; die Dame nahm ihr
Taſchentuch und wickelte ſie hinein und wir nahmen ſie
mit nach meiner Wohnung. Hier übergab ich ſie meinem
Koch mit der Weiſung, ſie ſofort zu ertränken. Nach
einiger Zeit kam ich auf den Hof, da ſah ich ſie vor der
Wohnung des Koches umherkollern. Als ich dieſen zur
Rede ſtellte, gab er mir zur Antwort, er wolle ſie nicht
[125] töten; es würden gewiß auch bald die Aasgeier kommen
und ſie holen. Auch die Behandlung der Pferde iſt
eine ſchlechte. Wenn man im Gebirge zu Pferde reiſen
will, ſo thut man gut daran, ſich zuvor den Sattel
aufdecken zu laſſen. Nicht ſelten ſieht man darunter
das rohe Fleiſch. Alles in allem dürften in den Ländern
des Buddhismus Tierſchutzvereine zum wenigſten ebenſo
gut angebracht ſein als in denen des Chriſtentums.
Es verſteht ſich von ſelbſt, daß das vorſtehende
Charakterbild des Japaners nicht wie ein Leiſten iſt,
über welchen ſich alle einzelnen Individuen ſchlagen
laſſen. Es iſt ein Volkscharakter, und als ſolcher muß
er verſtanden werden. Setzen wir nun aus den einzelnen
Strichen das Geſamtbild zuſammen, ſo iſt leicht zu er-
ſehen, daß der Japaner eine in ſich geſchloſſene Per-
ſönlichkeit iſt. Sprache und Geiſtesleben, Temperament
und Gefühlsleben — alles gehört harmoniſch zuſammen;
ein Zug paßt zu dem andern und jeder Zug zu dem
Ganzen. Der Japaner iſt von uns zwar ſehr ver-
ſchieden, aber er iſt doch wieder ein Menſch wie andere
Menſchen auch. Er iſt kein Engel, und niemand wird
dem Dichter Motoori glauben, wenn er in ſeiner Be-
geiſterung ſingt:
[126]
Aber ebenſowenig iſt es wahr, daß der Japaner
ausſchließlich den finſteren Mächten gleicht, welche unter
der Oberfläche ſeines Landes thätig ſind. Licht und
Schatten verteilen ſich: Neben hellem Lichte tiefe Schatten
— wie in der Natur des Landes, ſo in der Seele
des Volkes.
[[127]]
V. Familienleben und Sittenlehre.
Wer den Engländer nur von Deutſchland aus
kennt, iſt verſucht, an das Märchen zu glauben, daß
über dem Kanal drüben dreißig Millionen ſpleenbe-
hafteter Menſchen umherlaufen. Wer ihn auf der
Straße von London ſieht oder in ſeiner „Office“ in
der „City“ aufſucht, gewinnt dagegen den Eindruck
als von einem ſehr klugen, aber rückſichtslos ener-
giſchen und vielleicht abſtoßenden Geſchäftsmann. Wem
es aber vergönnt war, ihn in ſeinem Hauſe zu be-
obachten, den weht mit einem Male ein warmer Hauch
germaniſchen Gemüts an, und der Engländer wird ihm
ſympathiſch. Ein Mann ſieht anders aus im Geſell-
ſchaftsanzug in dem taghell erleuchteten Salon und
anders im Hauskleid in dem trauten Kreis ſeiner
Familie; und ſo lange wir einen Menſchen nicht im
Negligée geſehen haben, d. h. in der Gemütlichkeit
ſeines Hauſes, wo er ſich gehen läßt, und wo auch das
— es ſei gut oder böſe — zum Vorſchein kommt, was
er in dem konventionellen Leben draußen vor den Augen
von Dritten ſorgfältig verbirgt, ſo lange kennen wir
ihn nur erſt von einer Seite.
Wenn es aber irgendwo zur Beurteilung von
Menſchen und Volk notwendig iſt, in die Familie ein-
zukehren, ſo iſt das in Japan der Fall. Nirgends hat
man der Familie größere Bedeutung beigemeſſen, nir-
gends iſt ſie ſo ſehr die Grundlage aller beſtehenden
[128] Ordnung, nirgends ſo ſehr das Fundament der Sitt-
lichkeit und Tugend. Hier hat Konfuzius ſein Meiſter-
ſtück gemacht. Er hat gezeigt, daß auch eine rein
moraliſche Idee, nur wenig unterſtützt durch den Ahnen-
kult des Shintoismus, ſich in hohem Grade wirkſam
erweiſen mag. Freilich dieſe Idee iſt keine abſtrakte,
ſondern die konkreteſte, die es geben kann. Konfuzius
hat erkannt, daß das Blut der beſte Gemeinſchaftskitt
iſt, und daß Leute, in deren Adern dasſelbe Blut fließt,
ſchon von Natur und darum auch moraliſch zuſammen-
gehören. In dieſem Satz liegt das Geheimnis ſeines
Erfolges. Die logiſche Folgerung aus dieſem Satz iſt
ſein Familienſyſtem mit der Tugend der Kindesliebe
„kō“ als Grund und Krone; und ſein nationales
Syſtem mit der Tugend des Patriotismus und der
Loyalität „chū“ iſt nichts weiter als der natürliche
folgerichtige Ausbau des „kō“.
Wenn nun die Familie die Grundlage der menſch-
lichen Geſellſchaftsordnung iſt, ſo iſt die Erhaltung der
Familie die erſte Pflicht. Im Prinzipe ſteht es feſt,
daß jeder männliche Japaner heiraten muß. Jung-
geſellen, wie ſie ſich bei uns allmählich zu einem förm-
lichen Stand herausbilden, giebt es ſo gut wie nicht,
und da die Natur in Bezug auf die Verteilung der
Geſchlechter weiſe Vorſorge getroffen hat, ſo iſt auch
das Altjungferntum etwas Unbekanntes. Der Japaner
kennt keinen größeren Stolz, als Vater zu ſein, die
Japanerin kein höheres Gebot, als Mutter zu werden.
Die Fortpflanzung der Familie iſt der einzige Zweck
der Heirat, und wo infolge von Kinderloſigkeit der Ehe
dieſer Zweck nicht erreicht wird, da liegt es in der
Natur der Sache, daß damit auch ein vollgenügender
Grund zur Eheſcheidung gegeben iſt.
[129]
Neben dem einen Zweck der Fortpflanzung ſpielen
alle anderen Gründe zur Heirat eine geringe Rolle.
Um Geldes willen heiratet der Japaner nicht; ebenſo
wenig jedoch aus Liebe. Wohl bringt die Braut neben
dem nötigen Hausrat in der Regel auch eine beſtimmte
Summe Geldes mit in ihr neues Heim; aber eine be-
ſondere Mitgift, etwa gar ihr entſprechendes Teil von
dem elterlichen Vermögen, erhält ſie nicht, da der älteſte
Sohn als „Stammhalter“ Haupterbe iſt. Liebesheiraten
ſind verpönt. Daß zwei junge Leute ein Liebesver-
hältnis eingehen mit dem Zweck, ſich zu verheiraten,
kennt man in Japan nicht; und wenn es ja einmal
vorkommt, ſo findet es ſcharfe Verurteilung. Mir ſind
zwei Fälle von Verlöbniſſen aus Liebe bekannt geworden,
und zwar aus mir vertrauten chriſtlichen Kreiſen; in
dem einen Fall gelang es, die Eltern und Verwandten
zu verſöhnen und die Heirat herbeizuführen; in dem
andern aber ſcheiterte die Verehelichung an dem unbe-
ſiegbaren Widerſtand der einen Familie. Die Be-
ſtimmung über die Kinder liegt in der Hand der Eltern
und des Familienrats. Die Hauptſache iſt nicht, daß
die beiden künftigen Ehegatten, ſondern daß die Familien
zu einander paſſen. Der Japaner hält ſtreng auf
Familienehre. Ein Haus, das irgendwie Anſpruch auf
Achtung macht, wird die Verbindung mit einer verrufenen
oder gebrandmarkten Familie ablehnen. Ich habe es
erlebt, daß zwei junge Leute mit Einwilligung der beiden
Familien mit einander verlobt waren; da ſtellte ſich
heraus, daß vor vielen Jahrzehnten ein Großonkel der
Braut an der als unrein gebrandmarkten Krankheit des
Ausſatzes geſtorben war. Sofort ging das Verlöbnis zurück.
Die Wahl einer paſſenden Familie iſt darum eine
ſehr wichtige Aufgabe. Dieſelbe fällt, wie überhaupt
9
[130] die ganze Heirat, dem Vermittler (Nakōdo) anheim 1).
Der Vermittler iſt nicht etwa ein gewerbsmäßiger Kuppler;
vielmehr iſt ſein Amt eine freiwillige Leiſtung, und es
gilt als eine große Ehre und hervorragende Vertrauens-
ſtellung, von einer Familie als Nakōdo beſtellt zu werden.
Prozente bezieht der Nakōdo nicht; dagegen iſt es Ehren-
ſache, ihn nach Abſchluß der Ehe reichlich zu beſchenken.
Wenn ein Vater ſeine Tochter verheiraten möchte, ſo
bittet er einen geſellſchaftlich auf gleicher Stufe ſtehen-
den Freund, das Amt des Vermittlers zu übernehmen.
Derſelbe hält nun Ausſchau, und wenn er eine ent-
ſpechende Partie gefunden hat, ſo macht er ſeinem Auf-
traggeber Mitteilung. Iſt derſelbe einverſtanden, ſo
erfolgt die Anfrage bei dem Vater des jungen Mannes.
Bis jetzt wiſſen die beiden jungen Leute noch nicht, was
hinter ihrem Rücken vorgeht. Eines Tages macht man
ihnen Mitteilung, und da man eine Widerrede nicht
erwartet, ſo zeigt man ihnen zugleich an, daß an einem
beſtimmten Tage das „Miai“ (die Begegnung) ſtatthaben
ſolle. Das iſt die einzige Gelegenheit vor der Hochzeit,
bei welcher Bräutigam und Braut ſich ſehen. Daß man
dem „Miai“ nicht gleichgültig entgegenſieht, iſt natürlich.
[131] Wer würde da nicht erregt ſein? An wem würde nicht
zur Wahrheit werden des Dichters Wort von dem
„Hangen und Bangen in ſchwebender Pein“, wenn ihm
geſagt wird: „Übermorgen ſollſt du zum erſtenmal —
und zugleich zum letztenmal vor der Hochzeit —
deinen künftigen Reiſegefährten durch das Leben ſehen?“
Es giebt drei Arten der Begegnung. In dem erſten
Falle macht der junge Mann einen Beſuch im Hauſe
ſeiner Zukünftigen. Bei dieſer Gelegenheit ſerviert die
Braut den Thee, d. h. ſie kommt durch eine Schiebe-
thüre des Nebenzimmers, ſtellt ein Täßchen Thee vor
ihren zukünftigen Gatten, verbeugt ſich tief vor ihm
und entfernt ſich wieder durch die Schiebethüre. Das
Ganze dauert höchſtens eine halbe Minute. Geſprochen
wird nichts. Etwas weniger aufregend iſt die Begegnung
auf der Brücke, die zweite Art des „Miai“. Zu verab-
redeter Zeit kommt man auf einer Brücke aneinander
vorbei. Dabei hat man etwas mehr Gelegenheit, ſich
anzuſehen; aber geſprochen wird auch hier nichts. Da
iſt die dritte Art des „Miai“, die Begegnung in dem
Theater, doch noch die ausgiebigſte. Das japaniſche
Theater dauert von früh morgens bis ſpät in die
Nacht hinein. Dabei wird gegeſſen und geplaudert,
und Braut und Bräutigam haben wenigſtens etwas
Gelegenheit, ſich kennen zu lernen. Freilich, wirklich
befriedigend iſt auch das nicht. Die Etikette gebietet
ſtrenge Zurückhaltung und die peinliche Vermeidung
jeder Äußerungen von Zärtlichkeit. Das Mädchen zu-
mal hat ſich möglichſt ſchweigend zu verhalten, und dem
Jüngling iſt unſere europäiſche Sitte des Kurmachens
gänzlich unbekannt. Von einem Verlobungskuß kann
vollends keine Rede ſein, denn der Japaner küßt über-
haupt nicht, und da in Japan die Mädchen ſich ſehr
9*
[132] ſtark pudern und ihre Lippen mit goldroter Farbe be-
malen, ſo können wir es ihm nicht verdenken, wenn
er das Küſſen ekelhaft nennt.
Nach dem „Miai“ werden die jungen Leute befragt,
ob ſie gegen die Verheiratung etwas einzuwenden haben.
Das iſt aber nur in ſeltenen Fällen zu finden; denn in
Japan iſt man es nicht gewohnt, gegenüber den Eltern
eine eigene Meinung zu haben.
Jetzt tauſcht man gegenſeitig Geſchenke aus, und
der Tag der Hochzeit wird feſtgeſetzt. Dabei iſt man
vorſichtig, ja nicht einen Unglückstag zu wählen, gerade
wie bei uns auch. In Bezug auf Unglückstage iſt der
gewöhnliche Japaner ſehr abergläubiſch. Ich erinnere
mich, daß ein mit einer Japanerin verheirateter Abend-
länder, welcher mit ſeiner Frau nach ſeiner Heimat
zurückkehren wollte, monatelang nicht loskommen konnte,
da ſeine Frau bei jedem Abgang eines Schiffes den
Einwand erhob, es ſei ein Unglückstag. An dem be-
ſtimmten Tage verſammelt ſich die Hochzeitsgeſellſchaft
in einem Gaſthauſe oder in der Wohnung des Bräuti-
gams. Der Ehrenplatz des beſten Zimmers iſt mit
glückverheißender Fichte, Bambus und Pflaumenblüte
geſchmückt. Davor nimmt das Brautpaar Platz. Unter
feierlicher Stille kredenzt man ihm nach einander drei
Schälchen Saké (Reisbranntwein), die es gemeinſchaftlich
trinkt zum Zeichen, daß ſie Freud und Leid treulich mit
einander teilen wollen. Damit ſind ſie Mann und Frau ge-
worden. An einem der nächſten Tage macht man von der
vollzogenen Trauung Mitteilung an die Bezirksbehörde,
damit in die Regiſter der neue Name der jungen Frau
eingetragen werde, und alles iſt nun in ſchönſter Ordnung!
Doch nein! Nun beginnt eine böſe Zeit. Wenn
es bei uns ſchon nicht immer wahr iſt, daß die Flitter-
[133] wochen die ſchönſten ſind, da in dem engen Neben-
einander die Charaktere der Neuvermählten aufeinander-
ſtoßen, ſo iſt das in Japan, wo es zuvor an jeder
Gelegenheit fehlte, ſich aneinander abzuſchleifen, noch
viel mehr der Fall. Zumal die Lage der jungen Frau,
die ſich plötzlich in eine ganz fremde Umgebung verſetzt
ſieht und ängſtlich beſtrebt ſein muß, ihrem Manne und
— was noch ſchwerer iſt — ihren Schwiegereltern zu
gefallen, iſt keineswegs beneidenswert. Was Wunder,
wenn ſie bei ihrem erſten Beſuch in ihrer elterlichen
Wohnung, welcher der Sitte gemäß am dritten oder
ſiebenten Tage ſtattfindet, oft nicht wieder oder doch
nur ſchwer zu bewegen iſt, in das Haus ihres Mannes
zurückzukehren! Was Wunder auch, wenn bei einer ſo
wenig individuellen Art der Eheſchließung ſich das
Zuſammenleben häufig als unmöglich erweiſt, ſo daß es
ſchließlich zur Eheſcheidung kommt!
Dazu haben Konfuzius und ſeine Nachtreter die
Eheſcheidung gar zu leicht gemacht. Während ſie der
Frau ein Recht, ſich ſcheiden zu laſſen, überhaupt nicht
zugeſtehen, mag der Mann ganz nach Belieben eine
Trennung herbeiführen. Zwar hat er nach den Geſetzen
der Moral — um bürgerliches Recht handelt es ſich
dabei überhaupt nicht — nur um ſieben Urſachen willen
Gewalt, ſeine Frau zu entlaſſen, nämlich wegen Un-
gehorſams, Kinderloſigkeit, Ehebruch, Eiferſucht, Aus-
ſatzes und anderer unheilbarer Krankheit, Klatſcherei
und Hanges zum Stehlen. Aber das heißt ja doch
nichts anderes, als das arme Weib auf Gnade und
Ungnade in die Hand des Gatten, und zwar des gewiſſen-
loſen nicht minder als des wohlmeinenden, zu geben.
Daß es hier Leute giebt, wie es deren in der ganzen
Welt geben würde, welche von einem ſolchen bequemen
[134] Rechte Gebrauch machen, iſt nicht mehr als menſchliche
Art. Gleichwohl — und das verdient hervorgehoben
zu werden — iſt in den beſſeren Ständen des Volkes
die Eheſcheidung verhältnismäßig ſelten. Trotz der
loſeren moraliſchen Grundſätze hat man hier eine eben-
ſo große Scheu vor dem Skandal wie im chriſtlichen
Deutſchland. Um dieſes Skandals willen liegt es im
Intereſſe der Familie, die allzuſehr erleichterte Scheidung
durch die Familienpolizei zu erſchweren. Eine große
Gewiſſenhaftigkeit iſt dabei unverkennbar. Alles wird
verſucht, um die Streitpunkte in Güte beizulegen. Wenn
aber alles vergebens iſt, ſo tritt als höchſte Inſtanz der
Familienrat zuſammen, um den Urteilsſpruch zu fällen.
Es iſt ein Familiengericht, welchem ſich jedes Glied der
Familie unweigerlich zu fügen hat. Unter dem gemeinen
Volk dagegen nimmt man die Trennung leichter. Hier
ſpielt ja die Familienehre keine große Rolle. Kurzer
Hand ſetzt man ſich hin und ſchreibt den Scheidebrief,
der unvermeidlich aus dreieinhalb Zeilen beſteht. Da-
her denn jeder dreieinhalbzeilige Brief als ein Unglücks-
brief gilt und von abergläubiſchen Leuten peinlich ver-
mieden wird. Auf dieſen Brief hin wird der Name der
Frau auf dem Bezirksbureau wieder gelöſcht, und alles
iſt wie zuvor.
Lange pflegt es aber nicht zu dauern, ſo hat der
Mann wieder eine andere Frau, und thatſächlich giebt
es Männer, von welchen ſich mit einer kleinen Text-
änderung eines bibliſchen Wortes ſagen läßt: „Fünf
Frauen haſt du gehabt; und die du nun haſt, das iſt nicht
deine Frau“. Daß unter dieſen Umſtänden die chriſt-
lichen Kirchen auf die Eheſcheidung überhaupt, ganz
ohne Rückſicht auf die Gründe, die Ausſtoßung aus
der Gemeinde als Strafe geſetzt haben, kann ihnen nur
zur Ehre gereichen.
[135]
Wenn man bedenkt, wie leicht die Scheidung ge-
macht iſt, ſo darf man ſich nicht wundern, daß bis zur
Zeit immer noch ſtark ein Viertel aller Ehen der
Trennung unterworfen iſt. An und für ſich wäre das
freilich ein erſchreckender Prozentſatz; aber es iſt zweifel-
los, daß ſich das Verhältnis durch das neue bürger-
liche Geſetzbuch und beſonders unter der Einwirkung
der Moral und Religion des Weſtens ſtetig beſſer ge-
ſtalten wird. Insbeſondere ſind Eheſcheidungen ſelten,
wenn einmal Kinder vorhanden ſind. Im ganzen wäre
es unrecht, um dieſer Dinge willen über das Volk den
Stab zu brechen. Im Gegenteil muß ihm zum Lobe
nachgeſagt werden, daß es in ſeinen tüchtigen bürger-
lichen Elementen den durch die konfuzianiſche Moral
gebotenen Verſuchungen erfolgreich widerſtanden hat.
Der ſittliche Kern des Volkes hat ſich beſſer erwieſen
als ſeine ſeichte Moral.
In der Praxis der Eheſcheidung iſt die Stellung
von Mann und Frau ſchon gegeben. Der Mann iſt
der alleinige Herr des Hauſes. Er iſt der Patriarch,
deſſen Wort allein Geltung hat, und der für ſein Thun
und Laſſen niemand, ſeiner Frau erſt gar nicht, ver-
antwortlich iſt. In dem gut bürgerlichen japaniſchen
Hauſe giebt es nicht erſt ein Wortgezänk, wenn der
Mann irgend wohin will. Auch ein Gatte, der ſeine
Frau lieb hat, ſpricht zu ihr nicht in dem Ton und
der Weiſe, wie der Europäer das thut, und von ſeiner
Zuneigung legt er öffentlich nichts an den Tag. Er
iſt kurz angebunden, wie es einer Untergebenen gegen-
über die Sitte erheiſcht. Derſelbe Mann, welcher jeden
Fremden mit ausgezeichneter Höflichkeit behandelt, hat
für ſeine Frau kein bißchen Galanterie übrig. Auch
der Gebildete ſpricht von ſeiner Gattin als von ſeiner
[136] „dummen Frau“ (gusai). Der Mann iſt der Himmel,
die Frau die Erde; der Mann iſt die Sonne, die Frau
aber ſoll ihre einzige Ehre in dem auf ihr ruhenden
Abglanz der Sonne ſehen, ſie ſoll ſich beſcheiden mit
dem ſtillen Schein des Mondes.
Demzufolge iſt die Stellung der japaniſchen Frau
entſchieden eine niedrige. Gleichwohl darf man nicht
etwa meinen, der japaniſche Ehemann ſei gemeinhin
ein brutaler Wüterich, dem es Vergnügen mache, ſeine
tyranniſchen Gelüſte an ſeiner armen Frau auszulaſſen.
Auch hier iſt es wie überall: Es giebt rohe und wohl-
meinende Männer. Die fünfundzwanzig Frauen von
hundert, deren Ehen geſchieden werden, haben ja wohl
von vornherein Nieten in der großen Lotterie des
Glückes gezogen. Damit iſt aber zugleich mit den
unglücklichen Ehen ſtark aufgeräumt, und wenn die
Beſtimmungen des Konfuzius über Eheſcheidung einen
Vorzug haben, ſo iſt es der, daß ſie ein vortreffliches
Sieb bilden. Unter den übrigen Ehen giebt es nicht
weniger als bei uns, die als normal glückliche bezeichnet
werden dürfen. Wenn auch Gatte und Gattin ohne
Liebe in die Ehe treten, ſo iſt doch das Weſen der
Frau in der Regel derart, daß ihr Mann ſie lieb
gewinnt. Und wenn ſie auch als erſte Magd des
Mannes ihren Platz vorzüglich in der Küche und in
der Kinderſtube hat, ſo weiß ſie doch nicht ſelten ein
Plätzchen im Herzen des Gatten zu finden. Nach meiner
Kenntnis des japaniſchen Familienlebens iſt es theore-
tiſch richtig, aber praktiſch meiſtens falſch, von der
Japanerin ſchlechthin als von einer Sklavin zu reden.
Auf die niederen Klaſſen des Volkes, wo der Kampf
um das Daſein die Unterſchiede aufhebt und alle gleich-
macht, trifft es durchaus nicht zu. Aber auch für die
[137] guten Bürgerkreiſe, die den Kern des Volkes ausmachen
und eine Ehre darein ſetzen, die Hüter der alten Ordnung
und Sitte zu ſein, darf es nur cum grano salis geſagt
und verſtanden werden. Unter den vielen Einwänden,
welche gegen einzelne Worte der Heiligen Schrift er-
hoben werden, iſt mir — es mag ja zufällig ſein —
nie einer zu Ohren gekommen gegen den Satz: „Hier
iſt nicht Mann noch Weib“. Niemals hat man in
Japan die Frau ſo tief erniedrigt wie in den Ländern
des Islam, und wenn man auch zwiſchen den beiden
Geſchlechtern die Schranken des Dekorums errichtet hat,
ſo hat man ſie doch niemals gegen die Außenwelt ab-
geſperrt. Wohl iſt es wahr: Als Mädchen hat ſie
dem Vater, als Gattin dem Manne, als Mutter und
Witwe dem älteſten Sohne Gehorſam zu leiſten. Aber
ich habe den Eindruck gewonnen, als ob man im prak-
tiſch-ethiſchen Leben dieſen Gehorſam nicht als ſklaviſche
Dienſtbarkeit verſtehen dürfte, ſondern vielmehr als ſtill
ſich beſcheidende Zurückhaltung. Die Japanerin hat zu
gunſten ihres Vaters, ihres Mannes und ihres Sohnes
darauf zu verzichten, ſich ſelbſt geltend zu machen. Das
iſt es, was der Mann von ihr verlangt.
Trotz dieſer Milderung iſt die Stellung der Frau
aber doch nicht die, wie ſie ſich in einem Kulturſtaat
gebührt. Und wenn die Abendländerin heute ohne jeden
geſchichtlichen Übergang gezwungen würde, unter ſolchen
Bedingungen in die Ehe zu treten, ſo wäre der baldige
Zuſammenbruch aller geſellſchaftlichen Ordnung die not-
wendige Folge. Die Japanerin dagegen, wie ſie jetzt
iſt, weiß ſich in bewundernswerter Selbſtverleugnung
und Aufopferung darin zu finden und damit abzufinden,
ſo daß der Stachel ihrer Abhängigkeit meiſt ſeine
Bitterkeit verliert. Ihr Gehorſam iſt in der Regel
[138] ein freudiger und kein gezwungener, wobei ſie ſich
ſelten unglücklich fühlt. Eine japaniſche Frau findet
die Mahnung des Apoſtels Paulus für ſelbſtverſtändlich:
„Die Weiber ſeien unterthan ihren Männern, als dem
Herrn; denn der Mann iſt des Weibes Haupt“. Daß
ſie in der Stille ihres Herzens hinzufügen mag: „Doch
was darüber iſt, das iſt vom Übel“; daß ſie nämlich
nur mit Seufzen des konfuzianiſchen Zuſatzes gedenkt:
„Die Weiber ſeien unterthan ihrem Schwiegervater und
beſonders ihrer Schwiegermutter!“ wird ihnen niemand
verdenken. Die junge Frau folgt immer ihrem Manne
in deſſen elterliches Haus, und das Zuſammenleben mit
den Schwiegereltern wird in unzähligen Fällen zur
Veranlaſſung der Eheſcheidung. Denn zwiſchen Mann
und Frau ſoll niemand treten, und die beiden ſollen
ein Fleiſch und ein Herz ſein.
Es bedarf keiner beſonderen ſittlichen Empfindungen,
um einzuſehen, daß mit Bezug auf die Stellung des
weiblichen Geſchlechts in Japan dem Chriſtentum eine
ebenſo zarte, als dankbare Aufgabe geſtellt iſt. Bis
jetzt müſſen vorzugsweiſe die Amerikaner als diejenigen
bezeichnet werden, welche in das japaniſche Familien-
leben reformierend einzugreifen verſuchen. Wenn aber
in dieſem von den Gedanken der Frauenemanzipation
tief durchdrungenen Volke Millionen das oben erwähnte
Wort des Apoſtels geradezu auf den Kopf ſtellen, ſo
iſt es doch noch, zumal unter den eigentümlichen Ver-
hältniſſen Japans, ſehr zweifelhaft, wer mehr auf dem
Holzwege iſt, ſie oder die Japaner. Eine Umfrage
unter den Fremden in Japan würde überraſchende
Antworten zu Tage bringen. Den meiſten erſcheint die
ſich beſcheidende Zurückhaltung der Japanerin als etwas
ungemein Anziehendes, und dieſes gewiß nicht lediglich
[139] aus dem ſelbſtſüchtigen Trieb, allein die Herren der
Schöpfung zu ſein. Vielmehr meinen ſie, daß eine ge-
wiſſe paſſive Zurückhaltung des Weibes das natürliche
Verhältnis gegenüber dem Manne ausmache, geboren
aus der Erkenntnis, daß der Mann das kraftvolle,
mutige, energiſche und gebende Element iſt, die Frau
aber von Natur das leidende, empfangende und ſtill
ſich beſcheidende.
Es iſt etwas überaus Zartes, Sanftes und Be-
ſcheidenes in dem gewinnenden Weſen der Japanerin.
Alles Sichvordrängen, alle unweibliche Energie iſt ihr
fremd. Männliche Emanzipationsgelüſte liegen ihr, der
man von früh auf die Ehe als einzigen und ſchönſten
Beruf des Weibes hingeſtellt hat, völlig fern. Alles,
was den Eindruck des ſanften Frauencharakters ſtören
könnte, iſt durch die Erziehung ſorgfältig ausgemerzt
— freilich auf Koſten der Individualität. Ohne eine
ſolche ſyſtematiſche Erziehung der Frau könnte von leid-
lich guten ehelichen Verhältniſſen keine Rede ſein. Es
verlohnt ſich wohl der Mühe, einen kurzen Auszug aus
dem klaſſiſchen Werke für Frauenerziehung 1) hier wieder-
zugeben. Da heißt es: „Köſtlicher als ein ſchönes Ge-
ſicht iſt für ein Weib ein tugendſames Herz. Eines
bösartigen Weibes Sinn iſt immer aufgeregt; es ſchaut
wild, läßt ſeinen Ärger an andere aus, ihre Worte
ſind keifend und ihr Ton iſt roh. Wenn es ſpricht,
ſetzt es ſich über andere, hechelt ſie durch, bläht
[140] ſich im Hochmut auf, ſpottet über Abweſende und lacht
ſie aus. All das iſt nicht in Übereinſtimmung mit dem,
was ſich einer Frau geziemt. Die einzigen Eigenſchaften,
welche ihr gut anſtehen, ſind Sanftmut, Gehorſam,
Keuſchheit, Milde und Ruhe. In China nennt man
die Heirat Rückkehr; denn eine Frau muß ihres Mannes
Haus als ihre wahre Heimat betrachten, und wenn ſie
heiratet, ſo iſt das eine Rückkehr dahin, wo ſie in
Wahrheit zu Hauſe iſt. Wie ärmlich auch immer des
Gatten Haushalt iſt, ſie ſoll ihn nie darüber zur Rede
ſtellen. Ihre einzige große lebenslängliche Pflicht iſt
Gehorſam. Wenn ihr Gatte ungehörig oder ſchlecht
handelt, ſo ſoll ſie mit ruhigem Geſicht vor ihn hin-
treten und mit ſanfter und freundlicher Stimme ihm
Vorhaltungen machen. Wenn er ärgerlich wird und
auf die Mahnungen nicht hören will, ſoll ſie eine Zeit-
lang warten, um erſt dann wieder die Sache zur Sprache
zu bringen, wenn ſich ſein Herz beruhigt hat. Niemals
trete die Frau mit ſcharfen Zügen und ſchneidender
Stimme gegen den Gatten auf. Eine Frau ſollte immer
auf den Beinen ſein und ſtreng auf ihr eigenes Be-
tragen achthaben. Morgens muß ſie früh aufſtehen
und abends ſpät zu Bette gehen; unter Mittag ſoll ſie
nicht ruhen. Nimmer ſoll ſie müde werden zu weben,
zu ſpinnen und zu nähen. Sie ſoll nicht viel Saké
trinken, und zu Tempeln und andern Orten, wo große
Maſſen zuſammenkommen, ſoll ſie nur ſelten gehen, bis
ſie vierzig Jahre alt geworden iſt. In ihrer Eigen-
ſchaft als Gattin muß ſie ihres Mannes Haushalt in
guter Ordnung halten. Unnötige Ausgaben meide ſie,
und mit Bezug auf Speiſe und Kleidung halte ſie es
ſo, wie es mit der geſellſchaftlichen Stellung ihres Gatten
im Einklang ſteht. Luxus und protzenhaftes Weſen ſoll
[141] ſie ſtreng vermeiden. Stets ſoll ſie der Schranken
zwiſchen den beiden Geſchlechtern eingedenk ſein, und
unter keinen Umſtänden ſoll ſie mit einem jungen Manne
in Korreſpondenz treten. Mit ihrem Können und Wiſſen
ſowohl als in der Farbe und dem Muſter ihres Kleides
ſoll ſie beſcheidene Zurückhaltung üben. Es iſt nicht
recht von ihr, ſich auffällig zu machen, damit andere
ſie bemerken ſollen. Nur das ſollte ſie thun, was ſich
ziemt. Die fünf ſchlimmſten Krankheiten, an denen der
weibliche Sinn leidet, ſind: Ungelehrigkeit, Unzufrieden-
heit, Klatſchſucht, Eiferſucht und Einfältigkeit. Die
ſchlimmſte von allen und die Mutter der vier anderen
iſt die Einfältigkeit. Eine Frau ſollte ſie heilen durch
Selbſtprüfung und ſtrafende Selbſterkenntnis“.
Es giebt Vorſchriften, welche nur dazu gegeben
zu ſein ſcheinen, um übertreten zu werden. Bei dieſen
aber iſt es anders. Genau nach dieſen Lehren wurde
das japaniſche Mädchen erzogen. Was hier als das
Ideal einer japaniſchen Frau aufgeſtellt wird, iſt in
der Japanerin Wirklichkeit geworden. Eine ſolche
Perſönlichkeit konnte nicht durch eine intellektuelle,
ſondern nur durch eine äſthetiſche Erziehung geſchaffen
werden. Dieſe äſthetiſche Erziehung hat es fertig ge-
bracht, um die Perſon der Japanerin eine vollkommene
Harmonie zu weben und der vollendeten Hausfrau
Martha noch etwas von dem Duft der Maria zu geben.
Wer könnte blind ſein gegen die Mängel einer
ſolchen Frau? Liegt es doch auf der Hand, daß unter
dieſen Umſtänden ihr Geſichtskreis gar zu ſehr beſchränkt
und ihre Intereſſen allzuſehr eingeengt werden. Muß
es doch völlig klar ſein, daß bei einer ſolchen Abhängig-
keit von dem Gatten die eigene Initiative bis zur voll-
ſtändigen Paſſivität zuſammenſchrumpft, ja, daß ſchließ-
[142] lich die Frau ſich auch die Mühe des ſelbſtändigen Nach-
denkens erſpart und das Verſtändnis für alle höheren
und ſchwierigen Fragen und das Streben nach den
höchſten Idealen des Lebens verlieren muß. Und auch
das iſt unvermeidlich, daß bei einer ſchablonenhaften
Erziehung, dabei man alle über einen Leiſten ſchlägt,
der Japanerin etwas Puppen- und Automatenhaftes
anklebt auf Koſten der Individualität. Es iſt infolge-
deſſen dem Europäer im allgemeinen nicht anzuraten,
ſich mit einer Japanerin zu verheiraten. Denn ſo
glücklich er ſich vielleicht im Anfange fühlen würde,
das tiefere Verſtändnis für all das, was ihn bewegt,
würde er bald vermiſſen. Geradeſo wie es einer Abend-
länderin nicht anzuraten iſt, ſich mit einem Japaner
zu verheiraten, wenn auch unter den vielen derartigen
Ehen, die mir bekannt ſind, einige als recht glücklich
bezeichnet werden dürfen.
Aber trotz aller Mängel verbleiben der Japanerin
ſehr ſympathiſche Züge. Der Kern iſt gut, und manche
Züge ſind in ſolch anmutiger Schöne kaum irgend
ſonſtwo wieder zu finden. Ich wüßte kein Volk, auf
deſſen Frauen ſich mit größerem Recht die Worte
Goethes anwenden ließen:
[143]
Ich habe einmal in einer chriſtlichen Ethik geleſen,
daß die natürliche Tugend des Mannes der Mut, die
natürliche Tugend der Frau die Sanftmut ſei. Wenn
man nach Japan urteilen darf, ſo iſt das eine un-
zweifelhafte Wahrheit. Wenn aber die Bibel ſagt:
„Die Sanftmütigen werden das Erdreich beſitzen“, ſo
iſt auch dieſes in vielen japaniſchen Häuſern, wo die
Frau gerade durch ihre bezwingende Sanftmut ſich die
ihr gebührende Stellung als der gute Geiſt des Hauſes
erobert hat, ſchöne Wahrheit geworden. Ja, ihre
Stellung mag unter Umſtänden noch eine ganz andere
werden. Ein Sprichwort ſagt:
Und ſo bezeichnend dieſes Sprichwort iſt für die
ſtille Zurückhaltung, deren ſich die Frau befleißigen ſoll,
ſo deutet es doch zugleich an, daß es vereinzelte Fälle
geben mag, wo der Pantoffel eine Rolle ſpielt.
Wer ein wahrheitsgetreues Bild des japaniſchen
Familien- und Frauenlebens malen will, ſieht ſich wohl
oder übel genötigt, auch zu düſteren Farben zu greifen.
Es giebt wohl wenige Europäer, welche nicht erſtaunt
ſind, in einem Kulturvolk, wie die Japaner, ſo viel
Nudität einzelner Körperteile und des ganzen Körpers
zu finden, im Gegenſatz zu den Chineſen, welche ſtets
dezent gekleidet ſind. Ich habe nicht wenig Reiſende
getroffen, welche darüber in moraliſche Entrüſtung aus-
brachen. Sie hätten ſich nicht ſo zu ereifern brauchen.
Für den Japaner iſt das harmlos. In ſeinem Kopf
ſteigen dabei keine ſündhaften Bilder auf, wie in manches
Abendländers verdorbener Phantaſie. Für den ſinnlichen
Reiz der Nudität ſind die Augen dieſer Naturkinder
[144] noch nicht aufgethan. Aber leider entſpricht der äſthe-
tiſchen Lichtſeite des Naturkindes immer auch eine ethiſche
Schattenſeite. Der Japaner giebt ſeinen natürlich ſinn-
lichen Trieben allzuſehr nach. Thatſächlich ſind in
Japan der Unſittlichkeit im engeren Sinne des Wortes
Thür und Thor noch mehr geöffnet, als im chriſtlichen
Europa. Das Proſtitutionsweſen iſt ungemein aus-
gedehnt. In Tokyo iſt ein ganzer großer Stadtteil,
und zwar bezeichnender Weiſe der ſchönſten einer, dem
Dienſt der Aphrodite gewidmet. Und wie hier, ſo iſt
es in allen Städten des Landes. Selbſt in einer kleinen
Stadt von nur fünftauſend Einwohnern habe ich neben
einander drei Häuſer der Unzucht geſehen. Ein guter
Teil der Theehausmädchen iſt nichts weiter als Freuden-
mädchen, und die Tugend der Sängerinnen und
Tänzerinnen, der weltberühmten und weltberüchtigten
Geiſha iſt keineswegs die beſte. Das alles iſt wahr.
Aber zum richtigen Verſtändnis iſt es notwendig
zu wiſſen, daß die Japaner in dieſem einen Punkt ein
Naturvolk geblieben ſind; und dieſer Umſtand macht
das unſittliche Treiben in Japan weniger ſündhaft als
in chriſtlichen Landen. Selbſt feinfühlige Naturen
empfinden die Unzucht nicht in dem Sinne als ſchlecht,
wie der Chriſt das thut. Es iſt eine gewiſſe Naivetät,
wie ſie äſthetiſch veranlagten Menſchen manchmal eigen
iſt, die ihre Beurteilung derartiger Dinge beſtimmt.
Das Bewußtſein des Unerlaubten iſt äußerſt ſchwach,
auch in gebildeten und gut bürgerlichen Kreiſen. Frei-
lich ihre Töchter würden bürgerliche Familien niemals
dazu hergeben. Das bürgerliche Mädchen wird ängſtlich
gehütet, und ſeine fleckenloſe Reinheit ſteht, für die Klaſſe
nicht allein, ſondern für das einzelne Individuum, über
jeden Zweifel erhaben. Es ſind vielmehr die unterſten
[145] und ärmſten Schichten der Bevölkerung, aus welchen ſich
das große Heer der Freudenmädchen zuſammenſetzt.
Hier empfinden es die Eltern ſelten als Unrecht, ihre
Töchter zu dieſem Gewerbe zu beſtimmen, noch ſieht man
die Mädchen beſonders darum an. Schriftſteller, welche
dieſen Punkt des japaniſchen Lebens beſonders aus-
führlich behandelt haben, behaupten, daß die Mädchen
innerlich nicht ſo verdorben ſeien wie ihre europäiſchen
Genoſſinnen, daß ihr Gewerbe dort nicht ſo ſehr die
Ertötung der ganzen moraliſchen Perſönlichkeit zur Folge
habe wie bei uns. Und in der That, ſobald ſie in die
Ehe treten, was ihnen bei der naiven Beurteilung ihres
Standes nicht ſchwer fällt, kann ſich der Mann auf die
Treue ſeiner Gattin verlaſſen; dann kennt ſie kein höheres
Ziel, als allen Pflichten ihrer neuen Stellung als ehr-
liche Frau voll und ganz zu genügen. Ehebruch von
ſeiten der Frau iſt ein Eheſcheidungsgrund. Aber ſo
ſelbſtverſtändlich es im Prinzip iſt, daß der Mann auch
in der Ehe freie Hand behält, ſo iſt doch der Ehebruch
der Frau eine äußerſt ſeltene Erſcheinung. Zu jedem
japaniſchen Roman gehört ein Freudenhaus, aber die
modernen franzöſiſchen Ehebruchsromane würden ſich in
Japan aus Mangel an Untergrund nicht ſchreiben laſſen.
Vor der Thüre des japaniſchen Hauſes macht die Un-
ſittlichkeit Halt, und die Luft, in welcher die Kinder des
Hauſes aufwachſen, iſt rein und lauter.
Kinder hat jedes Haus. Wem eigene Nachkommen-
ſchaft verſagt blieb, adoptiert ein Kind. Die Adoption
iſt überaus gebräuchlich. Iſt ſie doch das letzte Mittel,
um eine Familie vor dem gefürchtetſten aller Schickſale,
vor dem Ausſterben, zu bewahren. Das adoptierte Kind
iſt immer männlichen Geſchlechts. Denn in jedem
Hauſe muß ein Stammhalter ſein. Wo er fehlt, wo
10
[146] einer Familie nur Töchter geboren wurden, wird einer
angenommen unter der Bedingung, daß er die Tochter
des Hauſes oder eine der Töchter heiratet. In ſolchem
Falle gelten die Kinder oft ſchon von Kindesbeinen an
als verlobt. Wo der Stammhalter eine ſolche Rolle
ſpielt, iſt die Freude, welche die Geburt eines Sohnes
hervorruft, wohl begreiflich. Da ſtrömen die Glieder
der Familie bis in die weitläufigſten Verzweigungen
herbei, um ihrer Freude bei dem frohen Ereignis Aus-
druck zu verleihen. Daß man ſich bei der Geburt eines
Mädchens in ſeinen frohen Gefühlen zurückhaltender
zeigt, liegt bei dieſem Familienſyſtem in der Natur der
Sache. Wozu ſoll ſich die Familie freuen über ein
Menſchenkind, welches doch einmal aus der Familie
hinausheiratet und darum für dieſelbe wertlos iſt?
Gleichwohl muß es den Eltern zum Lobe nachgeſagt
werden, daß auch die Behandlung dieſer Menſchen
zweiter Ordnung eine liebevolle und zärtliche iſt. Zwar
weiſt die Etikette den Söhnen, vorab dem älteſten, eine
bevorzugte Rangſtellung im Hauſe zu; aber das kleine
Mädchen weiß ſich oft genug zu Vaters Liebling zu
machen. Ich kenne viele Europäer, die für die Japaner
wenig übrig haben; ich kenne keine Abendländer, die
nicht bezaubert wären von Japans Kindern. Es iſt
die ſonnige Natur des Landes, die in ihnen Leben
gewinnt. Die Mädchen heißen mit Namen „Blume,
Aſter, Frühling, Fichte, Schnee, Bambus ꝛc.“, und ſie
entſprechen dieſen Namen vollkommen. Heiterkeit und
Frohſinn lachen einem entgegen aus den Kinderaugen,
die Knaben ſind frank und frei in dem Ausdruck ihrer
intelligenten Geſichtszüge, an den Mädchen aber iſt
alles Anſtand, Grazie und ſanfte Anmut.
Japan iſt das Paradies der Kinder. Selten, um
[147] nicht zu ſagen nie, erhalten die Kinder Schläge. Und
doch iſt die Ungezogenheit dort keine größere, ja mich
will es bedünken, als ſei ſie geringer als bei uns. Als
wirkſameres Erziehungsmittel denn die Rute betrachtet
man die Einwirkung auf des Kindes Herz.
Schon mit der Muttermilch ſaugt das Kind die
eine große Lehre des Konfuzius ein, welche ſich in ihrer
Faſſung merkwürdig mit dem Moſesgebot berührt: „Du
ſollſt deinen Vater und deine Mutter ehren!“ Auch
das „kō“ (gewöhnlicher „kōkō“) des Konfuzius iſt nicht
eine Liebe, dabei das Kind ſich auf gleiche Stufe mit
ſeinen Eltern erhoben weiß, um darnach vielleicht frech
den Eltern über den Kopf zu wachſen; es iſt vielmehr
mit der Liebe, beſonders dem Vater gegenüber, ein gut
Stück Ehrfurcht und daher auch Furcht verbunden. Die
Übertragung von „kōkō“ mit „kindlicher Pietät“ (filial
piety) dürfte daher der Sache vollkommen entſprechen.
Der Geiſt der Liebe wird infolgedeſſen ſofort auch zu
einem Geiſt der Zucht, der das Kind vom unrechten
Wege abhält und es zum Guten leitet. Es iſt der in-
ſtinktive Trieb, den Eltern zu gefallen und ihnen allen
Schmerz zu erſparen, was die Kinder gut ſein läßt.
Die in der Liebe gewurzelte Scheu vor den Eltern iſt
ſowohl die theoretiſche Grundlage des ethiſchen Syſtems
als auch die praktiſche Richtſchnur des ſittlichen Han-
delns, in demſelben Sinne, wie es in der Ethik des
Chriſtentums die in der Liebe zu Gott gewurzelte Got-
tesfurcht iſt. Es ſind keine ewigen und unwandelbaren
Geſetze, wie die zehn Gebote oder die Sittenlehre der
Bergpredigt, vielmehr ſind es Einzelmahnungen im An-
ſchluß an Einzelfälle. Und wenn in dieſem kaſualen
Charakter die abſolute Unzulänglichkeit des ganzen
Syſtems gegeben iſt, ſo liegt doch hier auch ſeine Stärke;
10*
[148] denn derartige Gebote ſind immer lebendig und per-
ſönlich. Das Wort des Vaters iſt wie ein religiöſes
Gebot und fordert unbedingten Gehorſam.
Je mehr nun die kindliche Pietät ausgebildet iſt,
deſto fruchtbarer iſt der Boden, auf welchen die Mah-
nungen des Vaters fallen, deſto größer die Wahrſchein-
lichkeit einer guten Erziehung. Die Pietät muß darum
mit allen Mitteln gefördert werden, nicht nur durch
praktiſche Übung, ſondern auch durch theoretiſche Aner-
ziehung. In der That wird bibliſche Geſchichte, Kate-
chismus und Pſalter dem japaniſchen Kinde durch ein
Buch erſetzt, welches nur die Pietät zum Gegenſtand
hat. Dasſelbe iſt, wie das ganze Syſtem, chineſiſchen
Urſprungs und enthält 24 Erzählungen von kindlicher
Pietät, welche ſo charakteriſtiſch ſind, daß wir uns nicht
verſagen können, einige derſelben im Auszug hier wieder-
zugeben 1).
Es war einmal ein kleiner Knabe; der hatte eine
böſe, grauſame Stiefmutter, von welcher er mehr Schläge
als Hirſe bekam. Er aber ließ ſich durch nichts irre
machen, ſtreng an dem Gebot zu halten: „Du ſollſt
deine Mutter ehren!“ Nun hatte die Frau eine be-
ſondere Vorliebe für Fiſch. Eines Tages überkam ſie
auch einmal wieder die Luſt, Fiſch zu eſſen. Es war
aber Winter und das Waſſer des Teiches war hart
gefroren. Gleichwohl nahm der Knabe die Axt auf
den Rücken und ging an den Teich. Aber wie er auch
mit der Axt zuhieb, er brachte das Eis nicht durch.
Wie er nun verzweiflungsvoll daſtand, kam ihm plötz-
[149] lich ein erleuchtender Gedanke. Er zog ſeine Kleider
aus und legte ſich nackt auf das Eis hin, um dieſes
durch die Wärme ſeines Körpers zu erweichen. Da
durchſtrömte ihn plötzlich eine ſtarke Glut, das Eis
zerſchmolz, und es entſtand ein Loch. Alsbald erſchienen
an dem Loch zwei prächtige Karpfen, um Atem zu ſchöpfen.
Die ergriff der Knabe und brachte ſie nach Hauſe.
Eine andere Geſchichte erzählt von einem Manne,
welcher in ſehr ärmlichen Verhältniſſen lebte. Er hatte
einen alten Vater und einen jungen Sohn, und beide
hatte er ſehr lieb. Er hätte ſich glücklich preiſen dürfen,
wenn nicht trotz aller fleißigen Arbeit Schmalhans be-
ſtändig Küchenmeiſter bei ihm geweſen wäre. Hungrig
ſetzte man ſich zum Eſſen, und hungrig ſtand man wieder
auf. Darüber grämte ſich der arme Mann gar ſehr,
und um ſeines alten Vaters willen machte er ſich nicht
wenig Gewiſſensſkrupel. „Sieh“, ſo dachte er, „wenn
ich mit meinem Vater allein wäre, könnte ich meiner
Kindespflicht ihm gegenüber genügen. Ich will mich
daran machen und meinen lieben Sohn lebendig be-
graben“. Mit großen Schmerzen ging er an die trau-
rige Arbeit. Er grub ein Loch, darin das Kind be-
graben werden ſollte; aber, o Wunder! plötzlich ſtieß er
auf etwas hartes, und da er es herauszog, war es ein
Gefäß voll von Goldſtücken. Nun war die Tugend des
pietätvollen Sohnes reichlich belohnt; aus dem armen
Mann war ein reicher geworden, die Not hatte ein
Ende, und ſie lebten alle glücklich zuſammen weiter.
Bekanntlich gehören zu den größten Plagen der
wärmeren Zone die Mosquitos, Inſekten, welche auch
den Anwohnern des Rheins als ſogenannte Rhein-
ſchnaken wohlbekannt ſind. Wer in einer warmen
Sommernacht ohne Schutznetz zu Bette geht, muß eine
[150] dicke Haut haben, wenn er nicht eine völlig ſchlafloſe Nacht
verbringen ſoll. Nun lebte einmal ein Elternpaar,
welches einen noch ſehr jungen Sohn mit einer beſonders
zarten und feinen Haut hatte, ein rechter Leckerbiſſen
für die ſehr wähleriſchen und feinſchmeckenden Blutſauger.
Mit großer Bekümmernis ſah der zarte Knabe, wie
ſeine lieben Eltern von den Tieren gequält und ge-
peinigt wurden, und in ſeinem liebenden Herzen reifte
der Entſchluß, ihnen zu helfen. Hinfort beſtand er
darauf, des Nachts mit völlig entblößtem Körper zu
liegen, damit die Schnaken nur an ihn gehen und
ſeine Eltern verſchonen ſollten.
Der drolligſte in der Geſellſchaft der vierundzwanzig
Tugendhelden iſt unzweifelhaft Rōraiſchi. Rōraiſchi
war ein gutes Kind von ſiebenzig Jahren. Seine hoch-
betagten Eltern aber waren noch am Leben, und mehr
als neunzig Lebensjahre hatten ſie geſehen. Rōraiſchi
hatte nur eine Sorge: Seine Eltern möchten, ihres
hohen Alters bewußt, traurig werden und ſich wegen
des nahenden Todes grämen. Um ihnen dieſen Kummer
zu benehmen und ſie über ihr Alter hinwegzutäuſchen,
zog Rōraiſchi Kinderkleider an, und gleich einem Baby
ſpielte er auf dem Fußboden. Da das ſeine Eltern
ſahen, verflogen die Grillen und Sorgen des Alters;
ſie lächelten ſich glückſelig an und freuten ſich in dem
Gedanken, daß ſie als glückliche Beſitzer eines ſo kind-
lichen Sohnes immerhin noch nicht ſo alt ſein könnten.
„Nun, da hat man ja in Japan köſtlichen Stoff zum
Lachen“, denkt wohl der europäiſche Leſer. Durchaus nicht.
Die kleinen Japaner hören dieſe Geſchichten, die natürlich
noch ſchön eingekleidet und aufgeputzt ſind, mit dem
größten Ernſt, und das Volk lieſt ſie mit der größten
Andacht, ſowie man bei uns die Geſchichten der Heiligen
[151] Schrift lieſt. In manchem Herzen reift dabei in heiliger
Begeiſterung der feſte Entſchluß: „Solch ein gutes Kind
will ich auch werden“.
Am bezeichnendſten von allen oben erzählten Ge-
ſchichten iſt wohl die zweite. Dieſelbe erinnert ſehr ſtark
an die Opferung des Iſaak. Da iſt thatſächlich nur ein
ethiſcher Unterſchied: Während Iſaak um Gottes willen
geopfert werden ſollte, ſoll hier dasſelbe um des Vaters
willen geſchehen. Was Juden und Chriſten Gott iſt,
ſind dem Japaner die Eltern. Ihm gilt als unbedingtes
Gebot: „Du ſollſt keine andern Götter neben ihnen
haben“. Der jüdiſch-chriſtliche Gedanke: „Es ſoll ein
Menſch Vater und Mutter verlaſſen und an ſeinem Weibe
hangen“, ſtößt in Japan auf entſchiedenen Widerſpruch:
Die Eltern ſtehen über der Gattin. Das Evangelium
erzählt, wie „Jeſus zu einem andern Manne ſprach:
Folge mir nach. Der ſprach aber: Herr, erlaube mir,
daß ich zuvor hingehe und meinen Vater begrabe. Aber
Jeſus ſprach zu ihm: Laß die Toten ihre Toten be-
graben; gehe du aber hin und verkündige das Reich
Gottes“. Dieſe Geſchichte hat für den Japaner einen
bitteren Stachel und nicht immer gelingt es, denſelben
zu entfernen. Trotz aller Erklärungen kommt er immer
und immer wieder darauf zurück: „Ja, aber ſo ſteht
es da! Und wie es da ſteht, iſt es eine Pietätloſigkeit
im Munde Jeſu!“ Selbſt mit dem Tode hat die Pietät
ihr Ende nicht erreicht; ungebrochen dauert ſie über das
Grab hinaus. Die Trauerzeit wird mit großer Pünkt-
lichkeit eingehalten, an vorgeſchriebenen Tagen wird das
Grab des Verſtorbenen beſucht, und ſorgfältig bringt
man den Geiſtern der Abgeſchiedenen die gebührenden
Opfer dar. Das Sprichwort: „Über dem Grabe wächſt
bald Gras“, hat in Japan keine Stätte.
Für die Eltern muß jedes Opfer freudig gebracht
[152] werden. Um die Eltern in der Not zu unterſtützen,
hat ſchon manches Mädchen das Haus heimlich ver-
laſſen und ſich in ein Freudenhaus verkauft; und die
japaniſche Art der Romantik preiſt dieſe pietätvollen
Töchter als Muſter der Tugendhaftigkeit. Einer meiner
Studenten erzählte mir, daß ſein älteſter Bruder in
einer Schlacht gegen den großen Saigo ſchwer ver-
wundet worden ſei. Seine Wunden waren zwar nicht
tötlich, aber er mußte zeitlebens ein arbeitsunfähiger
Krüppel bleiben. Dieſen Kummer mußte er ſeinen
Eltern unter allen Umſtänden erſparen. Er beſchloß,
Selbſtmord zu begehen. Auf dieſer Erde taugte er ja
doch zu nichts mehr, und die chriſtliche Lehre, daß die
Menſchenſeele einen unendlichen Wert in ſich ſelbſt
habe, war ihm nicht bekannt. Aus dem Buddhismus
wußte er eher das Gegenteil. So ſchlitzte er ſich denn
kurzer Hand den Bauch auf.
Im deutſchen Volksmund heißt es: „Eher ernährt
ein Vater ſieben Kinder, als ſieben Kinder einen Vater“.
Das ließe ſich den Japanern nicht nachſagen. Es
kommt gar nicht darauf an, in welcher Weiſe die Eltern
an den Kindern ihre Pflichten erfüllt oder verſäumt
haben. Es mag ein Mann ein Trunkenbold oder lüder-
licher Müßiggänger geweſen ſein, der die Seinen darben
ließ: Wenn ſeine Kinder herangewachſen ſind, ſo ver-
ſteht es ſich ganz von ſelbſt, daß ſie durch ihrer Hände
Arbeit ihren Vater unterhalten. Der Japaner pflegt
ſich früh zum Feierabend zurückzuziehen. Er mißt das
Leben kürzer als wir, und während die Bibel die
Grenzen des Lebens auf ſiebenzig und, wenn es hoch
kommt, achtzig Jahre zieht, rechnet man in Japan die
Jugend von der Geburt bis zu zwanzig, das Mannes-
alter von zwanzig bis vierzig, das Greiſenalter von
vierzig bis ſechzig Jahre. Wohl wird die Zukunft bei
[153] dem Wachſen der Anſprüche und Lebensbedürfniſſe eine
radikale Änderung bringen und den Beginn der Ruhe-
jahre bedeutend hinausſchieben; aber bislang pflegten
ſich die Eltern mit fünfzig Jahren zurückzuziehen, den
Jungen die Sorgen des Regiments zu übertragen und
ſich von ihnen ernähren zu laſſen. Ob ſie Vermögen
haben oder nicht oder vielleicht gar noch Schulden; ob
ſie noch kräftig genug ſind, zu arbeiten und ſich ſelbſt
durchzubringen, das iſt ganz gleichgültig. Das Los des
„Go-Inkyoſama“ iſt aber auch gar zu verlockend. Man
führt ein Leben in beſchaulicher Muße und überläßt
die Sorgen den andern. Auch die Frau ſieht dann
noch behagliche Tage, die ſchönſten ihres Lebens. Von
den Ihrigen werden die alten Leute auf den Händen getra-
gen, und bei jedermann ſind ſie geehrt und geachtet. Denn
hier hat das Gebot noch unbedingte Kraft: „Vor einem
grauen Haupte ſollſt du aufſtehen und die Alten ehren!“
Es ſind aber nicht die Eltern allein, welche man
zu unterſtützen gewohnt iſt. Bei dem ausgeprägten
Familienſinn nimmt man warmen Anteil an dem Wohl
und Wehe aller Familienglieder. Insbeſondere iſt der
älteſte Sohn nicht umſonſt auch der alleinige Erbe. Im
Falle ein Glied der Familie in Not gerät, hat er die
Pflicht, ihm unter die Arme zu greifen. Es wäre eine
Schande für die ganze Familie, falls ein Angehöriger
derſelben als Bettler auf der Straße umherliefe. So
lange die Familie noch etwas hat, hat auch das einzelne
Glied noch etwas. Es wäre nicht ganz unrichtig, von
einem Familienkommunismus zu reden. Auch das
Adoptionsſyſtem iſt ein vortreffliches Mittel, der Ver-
armung zu ſteuern. Viele Sproſſen verarmter Familien
oder nachgeborene Söhne finden durch die Adoption
Unterkunft und gute Verſorgung. Japan zeichnet ſich
nicht durch Wohlhabenheit aus; weitaus den meiſten
[154] Häuſern des Landes wäre es unmöglich, mit ihren jähr-
lichen Einkünften unter den teuren europäiſchen Ver-
hältniſſen überhaupt zu beſtehen. Und doch giebt es
kaum ein Land, wo es ſo wenig wirkliche Armut im
Sinne des Hungerleidens und der Entbehrung giebt als
hier. Und wenn es ſchon ausgeſprochen wurde, daß auf
den Straßen von Japan weit weniger Betrunkenheit zu
ſehen iſt als bei uns, ſo iſt das andere nicht minder
wahr, daß Bettler, Vagabunden und Leute in ärmlicher,
verlumpter Kleidung in Japan in geringerer Zahl zu
finden ſind als ſelbſt in Deutſchland oder England, von
Italien und Spanien vollends gar nicht zu reden.
Wer könnte ſeine Augen verſchließen gegen dieſe
ſchönen Züge des Lebens? Und all das hat ein einziger
Mann vollbracht, Konfuzius; hat es fertig gebracht aus
ureigener Kraft. Niemand hat ihm geholfen; den
Shintoismus hat er in etwas ins Schlepptau genommen;
Buddha aber hat kein Teil daran; in Japan exiſtiert
die Moral für ſich, losgelöſt von der Religion. Die
Familie, welche Konfuzius geſtaltet hat, iſt in einzelnen
Zügen geradezu muſtergültig; aber Charaktere für das
Leben in dem ganzen großen Reichtum ſeiner Erſchei-
nungen hat er nicht zu ſchaffen verſtanden. Iſt es doch
eine auffallende Thatſache, daß dieſelben Japaner als
Knaben jedermann ſympathiſch, als Männer aber vielen
unſympathiſch ſind! Iſt es doch gar nicht zu leugnen,
daß die heutige Jugend, welche das beſte verſprach, ſo
lange ſie im Elternhauſe war, verroht, wenn ſie, los-
gelöſt von der Familie, in das Leben hineingeſtellt wird.
In der Familie ruhen die ſtarken Wurzeln ihrer Kraft.
Aber der Fonds, welchen ſie im Elternhauſe geſammelt,
reicht wohl aus für den friedlichen Kreis der Familie,
verſagt aber in dem brauſenden Meere des Lebens.
[155] Die Baſis des Syſtems erweiſt ſich als viel zu eng.
Die Gemeinſchaft des Blutes und die Blutsverwandt-
ſchaft läßt ſich über die Nation hinaus nicht ausdehnen;
ein Band, das die ganze Menſchheit umſchlingt, läßt
ſich auf dieſe Weiſe nicht ſchaffen, und die Menſchlich-
keit, die Humanität im höchſten Sinn des Wortes,
hat in ſolcher Ethik keinen Platz, ſo human dieſe
Ethik auch auf den erſten Blick erſcheinen mag. Der
Konfuzianismus iſt ein Syſtem für patriarchaliſche Zu-
ſtände, wie ſie in der Zeit des Feudalismus in Japan
herrſchten. Mit dem Tage aber, mit welchem ſich das
patriarchaliſche Syſtem überlebt hat, mit welchem Japan
aus der patriarchaliſchen Enge der Familie, des Clans und
der Nation in den Weltverkehr eingetreten iſt, hat ſich
auch der Konfuzianismus überlebt. Wer wollte es den
Beſten des Volkes übel nehmen, wenn ſie ſich nicht
trennen wollen von dem Manne, welcher ſeit tauſend
Jahren der treueſte Freund ihres häuslichen Herdes
geweſen iſt? Wer will es ihnen verargen, wenn ſie
von ganzem Herzen dem Manne, welcher ihr Lehrmeiſter
in der Pietät geweſen iſt, ſelber die Pietät wahren
wollen? Und doch iſt all ihr Ringen vergebens. Von
allen Mächten, die Japans Kultur ſeither geſtaltet und
erhalten haben, iſt der Konfuzianismus als ethiſches
Syſtem die erſte, die von dem Strom der Zeit hinweg-
geſchwemmt wird. Der Boden, auf welchem er ſteht,
iſt jetzt ſchon durch und durch unterwühlt. Und wenn
die Zeichen der Zeit nicht trügen, ſo wird das meiſte
deſſen, was hier als Familienleben und Sittenlehre
geſchildert wurde, in wenigen Jahrzehnten nur noch
als kulturgeſchichtliche Studie von Intereſſe ſein.
[[156]]
VI. Nationales und politiſches Leben.
Auf Yezo, der nördlichſten der vier großen ja-
paniſchen Inſeln, wohnen die „haarigen“ Aino. Sie
nähren ſich hauptſächlich von Jagd und Fiſcherei und
kennzeichnen ſich ſchon dadurch als ein auf niedriger
Kulturſtufe ſtehendes Volk. Sie ſind kleine, gedrungene,
kräftig gebaute Leute von harmloſer, guter Gemütsart.
Der Mann mit ſeinem dichten, wallenden Haupt- und
Barthaar, welches nie mit dem Schermeſſer in Berührung
gekommen iſt, macht den Eindruck eines Patriarchen.
Aber der ſtrotzende Schmutz ſeiner Behauſung, ſeiner
Kleidung und ſeines waſſerſcheuen Körpers, ſeine ganze
tieriſche Lebensweiſe, ſeine ungezügelte Gier nach Brannt-
wein und ſeine unverkennbare geiſtige Beſchränktheit,
die ſich allen Bildungsverſuchen bis jetzt mit Erfolg
widerſetzt hat, ſtehen mit ſeinem ehrwürdigen Ausſehen
wenig im Einklang. Von den Ainofrauen darf man
nicht als von dem ſchönen Geſchlechte reden. Sie ſind
Muſter von Häßlichkeit, und das Tättowieren ihrer
Oberlippe, welches ihnen von Ferne das Anſehen giebt,
als trügen ſie flotte Schnurrbärtchen, trägt zu ihrer
Verſchönerung wenig bei. Die Aino ſind eifrige Bären-
jäger; und während von den Bewohnern der ſüdjapa-
niſchen Liukiu-Inſeln, welche ſich von Kiuſchiu aus halb-
mondförmig auf Formoſa hin erſtrecken, berichtet wird,
daß ſie die jungen Schweine wie ihre eigenen Kinder
[157] behandeln, iſt von den Bewohnern der Nordinſel be-
kannt, daß ihre Frauen eingefangene Bärenjungen an
ihrer eigenen Bruſt ſäugen. Der Bär iſt ihnen eine
Art Gottheit, die man anbetet. Gleichwohl töten ſie
ihn, wo immer ſie können, und auch das Fleiſch der
mit menſchlicher Muttermilch aufgezogenen laſſen ſie ſich
ſchließlich gut ſchmecken.
Die Aino ſind, vielleicht mit einem andern, längſt
ausgeſtorbenen Volksſtamm zuſammen, die urſprünglichen
Bewohner der japaniſchen Inſeln, welche von den von
Südweſten hereindringenden Eroberern Schritt für Schritt
zurückgedrängt wurden und endlich auf Yezo ihre letzte
Zuflucht fanden. Früher waren ſie ein großes Volk,
heute ſind kaum noch fünfzehntauſend von ihnen übrig
geblieben. Unterdrückung und Alkohol, dieſe beiden
entarteten Kinder der großen Völkermutter Kultur, haben
ihr Zerſtörungswerk vortrefflich verſtanden und das
ihrige dazu gethan, einen ehemals zahlreichen Volks-
ſtamm auf den Ausſterbeetat zu ſetzen. Heute ſchon iſt
ein Aino in Tokyo eine Seltenheit, die man begafft,
wie man ein ſeltenes Exemplar in einem zoologiſchen
Garten betrachtet; und auch die chriſtliche Miſſion, die
ſich ſeit zwei Jahrzehnten ihrer lebhaft angenommen
hat, wird es ſchwerlich verhindern können, daß man in
abſehbarer Zeit dem letzten Vollblutaino ſein Grab gräbt.
Die Japaner ſind alſo keine Ureinwohner. Woher
ſie gekommen ſind, darüber hat die Wiſſenſchaft ihr
letztes Wort noch nicht geſprochen. Ein frommer Schotte
meinte ihnen einen Gefallen zu erweiſen, indem er ſie
als die Nachkommen der in der aſſyriſchen Gefangen-
ſchaft ſpurlos verſchwundenen zehn Stämme von Israel
erklärte. Andere beſtreiten die rein mongoliſche Ab-
ſtammung und ſprechen von einem Miſchvolk aus Ma-
[158] laien und Mongolen. Das Wahrſcheinlichſte iſt aber,
daß ſie Mongolen ſind, welche in vorgeſchichtlicher Zeit
in zwei Zügen zweier verſchiedener Völkerſchaften aus
Centralaſien über Korea nach Japan kamen und ſich
nach und nach das Land unterwarfen 1).
Wie dem aber auch ſein möge, heute ſind die Japaner
eine im höchſten Sinne des Wortes einheitliche Nation,
einheitlicher als irgend ein anderes Volk, und mit ihrem Land
ſind ſie in zwei Jahrtauſenden ſo vollſtändig verwachſen,
daß ſie ein hundertfaches Recht darauf haben, es Vater-
land zu nennen. Und es bedeutet etwas im japaniſchen
Mund, das Wort honkoku, d. i. Vaterland; nein, es
bedeutet nicht etwas, es bedeutet alles. Das Vater-
land und die Vaterlandsliebe iſt die allein beherrſchende
Idee, iſt das große Ideal, welches ſich das Volk durch
alle Umwälzungen hindurch immer wieder als höchſtes
und vielleicht einziges gerettet hat. Die Japaner ge-
hören allzumal zuſammen.
Noch iſt es erſt dreißig Jahre her, ſeitdem Japan
centraliſiert iſt. Zuvor herrſchten im Land die Daimio
als mehr oder weniger ſelbſtändige Fürſten, ähnlich wie
in Deutſchland die Fürſten der Einzelſtaaten. Ihre
Unterthanen waren ihnen mit Leib und Seele ergeben,
und heute noch ſchauen ſie in tiefſter Ehrfurcht zu ihnen
empor. Seitdem aber im Jahre 1868 die Daimio zu
gunſten des Kaiſers ſich ihrer Selbſtändigkeit freiwillig
begaben, iſt ſowohl bei ihnen als auch bei ihren früheren
Unterthanen auch nicht der leiſeſte Schimmer eines dem
großen Ganzen feindlich entgegenſtehenden Partikularis-
mus zu finden. Heute giebt es nur eines: Dai Nippon,
[159] d. i. Großjapan. Ganz Japan iſt wie eine einzige
Familie, und manchmal wollte es mich bedünken, als
ſeien ſie alle miteinander verwandt. Auf den einzelnen
kommt es dabei nicht an, wenn nur das Ganze beſteht
und groß und mächtig iſt. Nicht nur der Partikularis-
mus, ſondern auch der Individualismus hat in Japan
keine Stätte.
Das Japanertum, welches in der Perſon des Kaiſers
ſichtbare Geſtalt gewinnt, ſteht in dem Mittelpunkte
des Lebens. Der Patriotismus iſt Krone und Grund
aller öffentlichen Tugenden. Was Wunder, wenn in
einer Zeit, wo die alten Stützen der Moral in das
Wanken geraten ſind, allen Ernſtes der Vorſchlag ge-
macht wird, die ganze Moral auf die Idee des Japaner-
tums aufzubauen. Der einzige Zweck der National-
religion Shintoismus iſt die Pflege des vaterländiſchen
Sinnes. Um des Vaterlandes willen muß Gut und Blut
freudig geopfert werden. Japan iſt kein reiches Land,
aber die Mittel zum chineſiſchen Krieg wurden ein-
ſtimmig bewilligt; und wenn es dem Parlamente je ein-
fallen ſollte, Gelder zur Verſtärkung des Heeres oder
der Flotte zu verweigern, ſo würde das Volk einmütig
dagegen aufſtehen. Um des Vaterlandes willen iſt jedes
Mittel erlaubt. Was das Vaterland groß macht, iſt recht.
Wäre der chineſiſche Krieg ganz und gar an den Haaren
herbeigezogen geweſen, das Volk, von den Buddhiſten
bis zu den Chriſten, hätte ihn doch für einen gerechten
erklärt. Wo das Vaterland in das Spiel kommt, hört
jedes Gerechtigkeitsgefühl und jede Selbſterkenntnis auf.
Spionage und Verrat, Gift und Dolch, Raub und
Mord werden in ſeinem Dienſt geheiligt. Macchiavellis
Grundſätze, wie er ſie in ſeinem jeſuitenwürdigen Buche
„El Principe“ entwickelt hat, ſind hier zur That ge-
[160] worden. Im Jahre 1889 wurde der damalige Unter-
richtsminiſter Mori, der ſtarke ausländiſche Sympathien
hatte und unter anderm den allerdings etwas verrückten
Vorſchlag gemacht hatte, die ſchwere japaniſche Sprache
durch die engliſche Weltſprache zu erſetzen, von einem
fanatiſchen Patrioten ermordet. Mori hatte beim Be-
treten des berühmten Shintotempels Daijingū in der
Provinz Iſe die Mahnung nicht beachtet: „Ziehe deine
Schuhe aus; denn der Ort, darauf du ſteheſt, iſt heiliges
Land“, und in dem Innern des Tempels hatte er mit
ſeinem Spazierſtocke den Vorhang vor dem Aller-
heiligſten zurückgeſchlagen. Das war in den Augen
des Volkes eine Mißachtung der geheiligten vater-
ländiſchen Sitte, die nach der Empfindung patriotiſcher
Zeloten nur durch Blut geſühnt werden konnte. Um
nicht in die Hände der Polizei zu fallen, entleibte ſich
der Mörder unmittelbar nach ſeiner That. Das Grab
Moris, der trotz einiger Schrullen einer der verdienſt-
vollſten japaniſchen Staatsmänner war, lag vom erſten
Tage an verlaſſen. Zu der Ruheſtätte des Mörders
aber wallfahrteten jährlich Tauſende guter Japaner,
bedeckten das Grab mit Blumen, zündeten Weihrauch-
kerzen an, ſchmückten es mit Preisgedichten und fühlten
ſich glücklich, ein paar Krumen geweihter Erde von
demſelben mit nach Hauſe zu nehmen. Der Fanatiker
des Japanertums iſt zum Märtyrer des Japanertums,
zum Nationalheiligen geworden.
Der Japaner iſt geneigt nicht nur zum politiſchen
Chauvinismus, ſondern zum politiſchen Fanatismus.
Politiſche Attentate ſind daher keine Seltenheit. Als
ſolche müſſen auch die Mordanfälle auf den chineſiſchen
Friedensgeſandten Li Hung Chang im März 1895 und
auf den damaligen ruſſiſchen Thronfolger und jetzigen
[161] Zaren Nikolaus im Frühjahr 1891 bezeichnet werden.
Es iſt mir noch in lebhafter Erinnerung, wie ich eines
Vormittags von der Schule nach Hauſe kam und in
meinem Vorzimmer mehrere junge japaniſche Freunde
fand, die bleich und aufgeregt mich erwartet hatten.
Vor ihnen lag ein Extrablatt, und ehe ich ſie nur fragen
konnte, was denn geſchehen ſei, teilten ſie mir in furcht-
barer Erregtheit mit, der ruſſiſche Thronfolger, der Gaſt
des Kaiſers, ſei bei Otſu auf einer Spazierfahrt von
Kioto nach dem Biwaſee verwundet worden. „Ein Ver-
rückter hat’s gethan“, ſchrieben die Zeitungen „ein Ver-
rückter hat’s gethan“, ſagte auch ich zu einem deutſchen
Freund, den ich am Nachmittag traf. Und was erhielt
ich von dieſem zur Antwort? „Ich habe heute Mittag
mit meinem Koch über die Sache geredet“, ſagte er.
„Derſelbe meinte: Einen ruſſiſchen Spion zu töten, der
gekommen ſei, das Land auszukundſchaften, ſei nicht
mehr als recht; er hätte es gerade ſo gemacht.“ Später
überzeugte ich mich davon, daß Tauſende im Lande ſo
dachten, und Tauſende ſahen in dem irregeleiteten Po-
liziſten, der nachher zu lebenslänglicher Zwangsarbeit
verurteilt wurde, unterdeſſen aber geſtorben ſein ſoll,
einen verehrungswürdigen nationalen Märtyrer. Die
That hatte nichts zu thun mit Geſchichten zum Teil
recht abenteuerlicher Natur, welche die geſchäftige Fama
damals verbreitete; ſie war aus politiſchem Fanatismus
entſprungen. Und dasſelbe gilt von dem Mordverſuch
auf Li Hung Chang.
Die Hauptſchuld an derartigen Vorkommniſſen
trägt die Preſſe. Das Zeitungsweſen iſt noch ſehr
neuen Datums. Die erſte Zeitung wurde im Jahre
1872 von einem Engländer in Tokyo herausgegeben.
Heute aber ſind es wohl gegen tauſend Zeitungen,
11
[162] Zeitſchriften und andere Publikationen dieſer Art,
welche in Japan veröffentlicht und von dem leſeluſtigen
und neuigkeitsſüchtigen Volk gierig verſchlungen werden.
Aus den Kinderſchuhen iſt alſo die Preſſe raſch heraus-
gewachſen; dagegen darf man dreiſt behaupten, daß ſie
noch tief in ihren Flegeljahren ſteckt, und man kann es
der Regierung nicht verdenken, wenn ſie von ihrem
Recht der Cenſur jeder Zeit reichlich Gebrauch gemacht
hat; manchmal allerdings erſt, wenn es zu ſpät war.
Einen weſentlichen Beſtandteil ihrer Aufgabe erblickt
die Preſſe darin, den patriotiſchen Fanatismus zum
lodernden Feuer zu entfachen, deſſen Flammen natur-
gemäß mit Vorliebe nach den Fremden züngeln. Die
Parole, welche bei Gelegenheit der Verkündigung der
Konſtitution im Jahre 1889 in das Volk geworfen
wurde, und welche wohl für lange Zeit nicht wieder
zur Ruhe kommen wird: „Japan für die Japaner“,
wobei natürlich im ſtillen zu ergänzen iſt: „Und gegen
die Fremden“, hat durch die Preſſe eifrige Förderung
gefunden und eine das ganze Volk tief durchdringende
Bedeutung gewonnen.
Die Preſſe hat einen ungeheuren Einfluß, und ſie
trägt das ihre dazu bei, die Politik in Japan heimiſch
zu machen und heimiſch zu erhalten. Dieſe ſpielt dort
eine ähnliche centrale Rolle wie im alten Griechenland,
und der weiſe Plato müßte an einem Volke wie die
Japaner ſeine helle Freude haben. Wenn irgendwo
in einem modernen Staat, ſo wäre hier das rechte
Verſuchsfeld für ihn. Um der Politik willen verlaſſen
Profeſſoren ihre Katheder und chriſtliche Prediger ihre
Kanzeln. Am Volksganzen zu arbeiten iſt das höchſte
Ideal. Zu einer Zeit, wo ich in das innere Leben
der Japaner noch wenig hineingeſchaut hatte, fragte
[163] ich einen jungen Mann, einen Chriſten, was er werden
wolle. „Ein großer Staatsmann wie Ito“, war die
verblüffende Antwort. Japans Staatsmänner von heute
haben ſich faſt alle aus einfachen Samuraiverhältniſſen
emporgeſchwungen; warum, ſo denken die jungen Leute,
ſoll das uns nicht auch gelingen? Mein chriſtlicher
Freund iſt heute Evangeliſt in einer Stadt Central-
japans. Er hat einen ſchweren, aber ſchönen Wirkungs-
kreis; er hat ein auskömmliches Gehalt, und Frau und
Kind ſchaffen ihm eine ſchöne Häuslichkeit. Er braucht
heute ſeinen ſtolzen Plänen nicht mehr nachzuweinen
und darf froh ſein, daß ihm das Los ſo lieblich ge-
fallen iſt. Denn nicht allen wird es ſo gut; viele fühlen
ſich berufen, aber wenige nur ſind auserwählt. Weit-
aus die meiſten ſinken zu ſogenannten Soſhi herab,
zu politiſchen Parteigängern, welche im Dienſte einer
Perſönlichkeit oder einer Partei oder der Regierung
ſelbſt die Politik mit Fauſtſchlägen, Knütteln und
Schwertern machen.
Die Soſhi ſind eine japaniſche Eigentümlichkeit,
verkrachte Exiſtenzen, die nichts zu verlieren haben.
In gewiſſem Sinne dürfen ſie die Anarchiſten Japans
genannt werden. Die Fremden thun gut daran, ihnen
aus dem Wege zu gehen. Ihre Ausrottung iſt bis
heute noch nicht gelungen. Es giebt freilich nicht wenige
Leute, welche behaupten, es ſei der Regierung nicht
ernſt mit ihrer Vernichtung, da ſie ſelbſt manchmal in
die Lage komme, ſich ihrer zu bedienen.
Die Soſhi ſind auch die Demagogen, welche die
Politik in die Maſſen hineintragen. Die politiſche
Agitation iſt bedeutender als in unſern Landen. Im
Lohndienſt der Parteien ziehen die Soſhi im Lande
umher zu politiſchen Verſammlungen, und auch an dem
11*
[164] abgelegenſten Örtchen gehen ſie nicht vorüber. Ich
hielt mich einmal zur Zeit des Hochſommers teils zu
Sprachſtudien, teils zur Erholung in einem abgelegenen
Fiſcherdorf an der See auf. Neben meiner Wohnung
war der Tempel des Dorfes, und mit dem buddhiſtiſchen
Prieſter war ich perſönlich bekannt geworden. Eines
Abends lud er mich ein, mit ihm zum nächſten Dorfe,
einem verlorenen Neſte von ungefähr dreihundert Seelen,
zu gehen: Dort finde eine politiſche Vortragsverſamm-
lung der radikalen Partei ſtatt. Ich ging mit ihm.
In dem Dorfe hatte er einen guten Freund, den Doktor
des Ortes. In Japan ſitzt ein Doktor in jedem Ort;
dieſer war übrigens einer, dem ich mich nicht anvertraut
hätte, denn ſeine Heilmethode war noch die alte chine-
ſiſche mit einem bißchen holländiſcher Anatomie. Der
Doktor war gerade bei dem Abendeſſen und hatte —
was eine Ausnahme iſt — dem Saké, dem Reisſchnaps,
etwas reichlich zugeſprochen. Er lud uns ein mitzu-
eſſen, aber der Reis mit rohem Fiſch und übelriechen-
den eingemachten Rüben war mir doch zu wenig ver-
lockend. Wir begnügten uns mit einem Schälchen Saké;
denn ganz abſchlagen darf man nicht, da man ſonſt
beleidigt. Schließlich kamen wir verſpätet zum Ver-
ſammlungslokal, dem Theehaus des Ortes. Die niedrige
rauchige Stube mit dem Feuerplatz in der Mitte, ſpär-
lich erhellt von zwei elenden Lämpchen, war ſchon dicht
beſetzt. Nur mit Mühe konnten wir noch ein Plätzchen
finden, um uns gleich den andern auf den Boden nieder-
zulaſſen. Die Bauern ſchauten mich verwundert an;
denn daß ein Fremder eine japaniſche politiſche Ver-
ſammlung beſucht, iſt ſelbſt in Tokyo unerhört, geſchweige
denn im Innern des Landes. Die beiden Redner, zwei
Soſhi von Yokohama, hatten ſechs Themata bekannt
[165] gegeben, über welche ſie im ganzen etwa zweiundeine-
halbe Stunde lang ſprachen. Der jüngere, ein Burſche
von zwanzig und einigen Jahren, ſah ſich durch meine
Anweſenheit veranlaßt, recht ausfällig zu werden. „Da
bekurt man überall die Fremden“, meinte er. „Da
heißt es geehrter Herr Barbar hinten und geehrter
Herr Barbar vorn. Da macht man die tiefſten Ver-
beugungen vor den Herren aus dem Weſten. Aber
wahrlich, freie Bürger von Großjapan haben das nicht
nötig! Iſt nicht Großjapan die größte Nation der
Welt?“ Ich geſtehe es gern, mir war nicht wohl dabei
zu Mute. Die Bauern aber empfanden ſolche Reden
als eine große Unhöflichkeit gegen mich, ſchüttelten miß-
billigend die Köpfe und ſahen mich dann freundlich
lächelnd an. Der Doktor aber, der mich als ſeinen
Gaſt betrachtete, war über ſolche Roheit tief ergrimmt,
und der genoſſene Saké that noch ein Übriges, ſein
Blut in Wallung zu bringen. Die Verſammlung nahte
ſich zum Ende, da ſprang er auf und fing mit den
beiden Soſhi Händel an, da ſie des Kaiſers geheiligte
Perſon angegriffen hätten. Ich hatte die Vorträge
genau verfolgt und wußte, daß das nicht der Fall war.
Dem Doktor aber war es nur um einen Vorwand zu
thun, und was er wollte, gelang ihm: Überraſchend
ſchnell ſah ich eng verſchlungen ein paar Geſtalten am
Boden ſich wälzen und aufeinander losſchlagen — das
erſte und einzige Mal, daß ich in Japan eine ſolche
Skandalſcene ſah. Jetzt ward es mir unheimlich. Das
Abenteuerliche der ganzen Situation — ein chriſtlicher
Miſſionar an der Seite eines buddhiſtiſchen Prieſters
unter dem Schutze eines angetrunkenen Quackſalbers in
einem Bauerndorf im Innern Japans in einer von
Soſhi berufenen politiſchen Verſammlung! — kam mir
[166] ſcharf und unbehaglich zum Bewußtſein. Raſch ſprang
ich auf, dem Ausgang zu. Meine ganze Not waren
jetzt meine Schuhe. Die hatte ich der Sitte gemäß
beim Eintritt ausgezogen und auf dem Flur gelaſſen.
Zum Glück fand ich ſie leicht und lief nun, was ich
konnte, um aus dem Dorf hinauszukommen. Es war
ſtockdunkel, und der Weg war ſchlecht. Da hörte ich
plötzlich jemand hinter mir rufen: „Kimi, kimi“,
„Kolleg, Kolleg“! Es war mein buddhiſtiſcher Stief-
kolleg, und beruhigt trabte ich mit ihm unſerm Dorfe
zu. Übrigens will ich noch, weil es nun einmal charakte-
riſtiſch iſt, hinzufügen, daß der Doktor am nächſten
Nachmittag mit zerknirſchter Miene zu mir kam und
mich höflichſt um Entſchuldigung für ſeine „Roheit“
bat. Auch mein geiſtlicher Nachbar war mitgekommen,
und da er nun einmal ein eingebildeter Prahlhans war,
ſo fing er ſofort zu renommieren an, er habe mich am
Abend zuvor gerettet!
Der Japaner iſt früh reif. Bei keinem Volk der
Erde trifft das Wort mehr zu: „Schnellfertig iſt die
Jugend mit dem Wort“. Seine Frühreife und Schnell-
fertigkeit äußert ſich auf allen Gebieten des Lebens
und des Wiſſens, nirgends aber ſo ſehr wie auf dem
Gebiete der Politik. Der zwölfjährige Knabe fängt allen
Ernſtes zu politiſieren an. Große Staatsmänner wie
Ōkuma ſind Inhaber von Schulen, in welchen ſie den
politiſchen Sinn direkt und indirekt gefliſſentlich fördern,
um ſich aus dem jungen Geſchlecht Anhänger groß zu
ziehen. Kein Land hat ſolche Scharen politiſierender
Burſchen aufzuweiſen wie Japan. Da ſind Leute, die
als Zeitungsſchreiber, Politiker und Redner einen Ruf
haben, man hat ihre Namen oft in der Zeitung geleſen,
und man verbindet mit ihnen ehrfürchtige Vorſtellungen.
[167] Wenn man ſie aber zufällig einmal kennen lernt, ſo
ſieht man zu ſeinem Erſtaunen junge Leute, unter deren
Naſe ein noch unbeſtimmbarer Flaum dunkel auf die
Möglichkeit eines zukünftigen Schnurrbarts hindeutet.
Der deutſche Jüngling wagt es kaum, politiſche Anſichten
zu haben; der japaniſche aber iſt kühn genug, die ſeinigen
zum Gegenſtand öffentlicher Reden oder großer Leit-
artikel zu machen, und mit dem größten Ernſt, wie ihn
nur eine ungeheure Selbſtſchätzung erzeugen kann, weiß-
haarigen Staatsmännern Vorleſungen über auswärtige
Politik zu halten. Ich habe auf der Tribüne des
deutſchen Reichstags geſeſſen, und was mir bei dem
Blick hinab auffiel, war die große Anzahl halber oder
ganzer Kahlköpfe. Ich ſaß auch auf der Tribüne des
japaniſchen Parlaments; aber nach Kahlköpfen oder
auch nur nach grauhaarigen Abgeordneten habe ich mich
hier vergeblich umgeſehen.
So finden wir hier und da Dinge im politiſchen
Leben, die wir als Mängel und Auswüchſe bezeichnen
müſſen. Aber wie dem auch ſein mag, der politiſch-
patriotiſche Sinn als ſolcher bleibt beſtehen, ein
Gemeinſinn, wie er ſich unter den Völkern der Erde
kaum noch zum zweitenmal wiederfindet. Wir be-
gegnen hier wiederum dem beherrſchenden Einfluß des
Konfuzius, welcher, neben dem Familienſinn „kō“ und
aus ihm patriarchaliſch herauswachſend, den Gemeinſinn
„chū“ als zweites, in ſeinen Wirkungen geradezu reli-
giöſes Dogma aufſtellte. Im Beſitze dieſer Tugend ſind
die Japaner als Volk groß, und werden es auch in Zu-
kunft ſein.
Japan iſt eine konſtitutionelle Monarchie in dem-
ſelben Sinne wie Preußen. Thatſächlich liegt der ja-
paniſchen Verfaſſung die preußiſche zu Grunde. Es
[168] hat ein Abgeordnetenhaus und ein Herrenhaus. Es iſt
heute keine Militärdespotie mehr wie noch vor dreißig
und einigen Jahren unter der Herrſchaft der Schogune.
Wobei man ſich aber die Zeit des Feudalismus nicht
ſchlechthin als eine Schreckensherrſchaft vorſtellen darf.
Die Schogune, von dem erſten, Yoritomo, bis zu dem
letzten, Tokugawa Hitotſubaſchi, waren allzeit bemüht,
das Land in Ruhe und Ordnung zu regieren, und den
meiſten iſt es gelungen. Wie das deutſche Mittelalter
beſondere Tugenden hervorgebracht hat, ſo hat der ja-
paniſche Feudalismus die Tugenden der Vaſallentreue
und Ritterlichkeit zu hoher Blüte entwickelt. Alſo auch
die ſieben Jahrhunderte des Schogunats hatten ihren
Idealismus. Ob die Tugenden des Feudalismus in
der neuen Zeit ſtandhalten werden?
Niemand ſehnt ſich heute nach dem Feudalismus
zurück, ſelbſt nicht der jetzt noch lebende letzte der Scho-
gune, der in der Provinzialſtadt Shizuoka als fried-
licher Privatmann einem beſchaulichen Leben obliegt.
Der heutige Japaner hat ein ungemein ſtarkes Gefühl
für das, was jener Zeit fehlte, was aber das Haupt-
merkmal eines civiliſierten Staates ausmacht: Gleiches
Recht für alle. Noch beſtand das Kaſtenweſen, und
während die Angehörigen des Kriegerſtandes, die Sa-
murai, in vielen Dingen über dem Geſetze ſtanden,
waren die Glieder der verworfenen Kaſte der Eta, die
japaniſchen Paria, thatſächlich rechtlos. Daß die ganze
höhere Bildung der Feudalzeit ein ausſchließliches Vor-
recht des Samuraiſtandes war, wurde ſchon erwähnt.
Schon äußerlich durch das Tragen von zwei Schwertern
[169] ausgezeichnet, beſaß der Samurai eine Ausnahmeſtellung,
wie ſie in dem Sprichwort trefflich gekennzeichnet wird:
„Wie die Kirſchblüte die Krone der Blumen, ſo iſt der
Samurai die Krone der Menſchen“. In früheren Zeiten
konnte es wohl vorkommen, das ein Samurai an einem
verborgenen Ort ſich aufſtellte, um an harmlos dahin-
wandelnden Leuten aus dem Volk ſein neues Schwert
zu probieren, ob es auch ſcharf genug ſei, um mit
einem Streich einen Menſchen durchzuſchneiden. Damals
gehörte es auch nicht zu den Seltenheiten, daß der
Herrſcher einem mißliebig gewordenen Hofmann oder
Samurai ein Schwert, und zwar je nach dem Rang
ſogar ein ſehr koſtbares Schwert, zuſandte, damit er
mittels desſelben Harakiri begehen ſollte. Einen Aus-
weg gab es dabei nicht, und der Verurteilte ſelbſt ſuchte
auch keinen, ſo daß die Geſchichte von dem japaniſchen
Edelmann, welcher mit einem ſolchen brillantenbeſetzten
Schwert nach Paris entfloh, wo ihn der Verkauf der
Waffe in die Lage verſetzte, herrlich und in Freuden
leben zu können, als eine ſchöne Legende bezeichnet
werden muß.
Dieſe mehr als zweifelhafte Romantik hat jetzt
ein Ende. Heute giebt es keine Rechtloſen im Staate
mehr. Die Kaſten ſind ſeit 1871 aufgehoben, und jeder-
mann genießt den Schutz des Geſetzes. Verbrechen
wider das Leben ſind kaum ſo häufig als in unſerem
chriſtlichen Deutſchland, und während der ganzen Dauer
meines japaniſchen Aufenthalts habe ich nie eine Waffe
beſeſſen.
An der Spitze des Staats ſteht der Kaiſer. Der
Name Mikado, welcher merkwürdigerweiſe mit der Be-
zeichnung der höchſten Gewalt in der Türkei zuſammen-
trifft — Mikado bedeutet „Hohe Pforte“ —, iſt längſt
[170] veraltet. Der Japaner nennt ſeinen Kaiſer tennō, „Himm-
liſcher König“ oder tenchi, „Sohn des Himmels.“ Iſt
er doch nach der Mythologie ein Nachkomme der
Sonnengöttin. Das Herrſcherhaus iſt nachweisbar das
älteſte unter den regierenden Fürſtengeſchlechtern der
Erde. Denn wenn auch ſein Urſprung von dem Götter-
ſohn Jimmu Tennō, welcher um das Jahr 660 v. Chr.
als erſter den Thron beſtiegen haben ſoll, eine Sage iſt,
und wenn auch die Zählung des gegewärtigen Kaiſers
als des 121. auf dem Thron nicht ganz ſtimmen mag,
ſo hat doch die Dynaſtie nachweisbar ſchon zu der Zeit
beſtanden, wo das ſagenumwobene Altertum erkennbar
in das Licht der Geſchichte tritt, alſo mindeſtens ſeit
dem fünften Jahrhundert nach Chriſtus. Wollte der
japaniſche Kronprinz ſich ſeine Frau aus einem euro-
päiſchen Fürſtenhauſe holen, — und im Volke ſprach
man oft davon, wenn auch im Grunde nicht entfernt
daran zu denken iſt —, ſo müßte es ſich jede Prinzeſſin
zur hohen Ehre anrechnen, ihren Platz zu finden in der
älteſten Ahnengallerie der Welt und unter die Zahl
dieſer ſchlitzäugigen Götter und Göttinnen aufgenommen
zu werden. In Wirklichkeit aber vermochte ſich die
Dynaſtie nur dadurch zu erhalten, daß fortwährend
mangels erbberechtigter Nachkommenſchaft Adoptionen
ſtattfanden, und daß der Kaiſer ſtets eine größere An-
zahl von Frauen hatte. Der jetzige Herrſcher beſitzt
deren zwölf, und der Kronprinz iſt nicht ein Sohn der
wirklichen Kaiſerin, ſondern einer kaiſerlichen Nebenfrau.
Doch haben die Geſetzgeber dem Geiſte des Kulturfort-
ſchrittes inſofern Rechnung getragen, als in Zukunft
die Erbfolge an die legitime männliche Nachkommenſchaft
von Kaiſer und Kaiſerin geknüpft iſt.
Die weltliche Machtſtellung des Kaiſers entſpricht
[171] heute ſo wenig wie in der Vergangenheit ſeiner gött-
lichen Abſtammung. In der Zeit als Karl Martell
den letzten Merovinger in das Kloſter ſchickte, um ſelbſt
die Zügel der Regierung in ſeine kräftige Hand zu
nehmen, ſetzte der japaniſche Generaliſſimus den Kaiſer
gefangen hinter die Wände ſeines Palaſtes in Kyoto,
um ſelbſt die Macht der Regierung an ſich zu reißen.
Vorläufig blieb dieſer Zuſtand proviſoriſch, bis ihn
Yoritomo zu einem geſetzlichen machte. Man redete
dem Volke ein, der Kaiſer ſei zu hehr und heilig, um
ſich ſelbſt mit den Geſchäften der Regierung zu befaſſen
und ſein heiliges Angeſicht dem gemeinen Volke zu
zeigen. Jeder neue Schogun holte von dem Kaiſer
formell ſeine Beſtätigung ein; aber das war eine dem
kaiſertreuen Volk gegenüber geſpielte Farce und weiter
nichts. Unterdeſſen blieb der Sohn des Himmels in
der Gefangenſchaft, während im Lande nacheinander die
Familien der Fujiwara, der Taira, der Minamoto, und
als die beiden bedeutendſten die der Hōjō und der
Tokugawa herrſchten. Erſt mit der Reſtauration von
1867/68 öffneten ſich ihm die Thore des Schloſſes, der
Schogun wurde nach einigen unglücklichen Kämpfen zur
Abdankung genötigt und die glorreiche Periode Meiji
begann.
Aber auch jetzt noch lebte er in ſtrenger Abgeſchieden-
heit von dem Volk. Wohl fuhr er zuweilen aus, aber
immer noch im geſchloſſenen Wagen 1), und die Polizei
ſorgte dafür, daß ihn möglichſt wenige profane Augen
erſpähten. Aber dieſe Verfahrungsweiſe erwies ſich auf
[172] die Dauer als unhaltbar. Dem Kaiſer war jede Ge-
legenheit genommen, auf ſein Volk einen perſönlichen
Einfluß auszuüben und den Herzen ſeiner Unterthanen
näher zu treten. Der durch die Berührungen mit Eng-
land und Amerika wach gerufene demokratiſche Geiſt
wurde immer ſtärker, das monarchiſche Bewußtſein
wurde mehr und mehr geſchwächt. Über manchen
japaniſchen Jünglings Angeſicht ſah ich ſchon ein recht
ſkeptiſches Lächeln gleiten, wenn von dem Kaiſer die
Rede war. Prozeſſe, welche in der alten Welt Jahr-
hunderte brauchten, ſah man hier innerhalb eines Jahr-
zehntes wie auf einer Schaubühne vor den eigenen
Augen ſich abwickeln. Im Anfang der neunziger Jahre
hatte es das Anſehen, als ſteure Japan mit Rieſen-
geſchwindigkeit einer Republik nach dem Muſter der
ſüdamerikaniſchen entgegen. Da brach gerade zur rechten
Zeit der Krieg mit China aus, und dieſe Gelegenheit
benutzten die japaniſchen Staatsmänner, um die Mon-
archie wieder auf feſten Grund zu ſtellen. Sie veran-
laßten den Kaiſer, nach dem Hauptquartier zu gehen,
und nun erſchienen täglich Notizen in den Zeitungen
über die anſpruchsloſe Lebensweiſe des Kaiſers, der
alle Entbehrungen ſeiner Soldaten zu teilen wünſche,
über ſeine hingebende Aufopferung und anderes mehr.
Der Kaiſer erſchien mit einem Male als der treubeſorgte
Vater ſeiner Unterthanen, und mit einem Schlag wurde
er populär. Bei ſeiner Rückkehr aus dem Hauptquartier
geſchah es zum erſtenmal, daß er im offenen Wagen
durch die Straßen von Tokyo fuhr im Angeſichte ſeines
getreuen Volkes. Wozu die Idee des Mikadotums ſich
unkräftig erwieſen hatte, der Perſon des Herrſchers war
es gelungen: Nun lebt er wieder in den Herzen ſeiner
Unterthanen. Wohl huldigen die herrſchenden Parteien
[173] nach wie vor engliſch-demokratiſchen Tendenzen; aber noch
viel weniger, als in England Gefahr für den Thron
beſteht, denkt man in Japan daran, den Kaiſer abzuſetzen.
Man darf ſich nicht dem Glauben hingeben, daß
der Kaiſer ſelbſt der Urheber der gewaltigen Reformen
der letzten Jahrzehnte ſei. Bei einem Herrſcher, der
gleich Dutzenden ſeiner Vorgänger nur auf einen Schatten-
kaiſer hin erzogen iſt, iſt das kaum zu erwarten. Was
in europäiſchen Zeitungen manchmal geſchrieben ſteht
über die hohe Intelligenz und Weisheit des japaniſchen
Kaiſerpaares, muß mit Vorſicht aufgenommen werden.
Der Kaiſer iſt kein Wilhelm I. und die Kaiſerin, wenn
ſie auch einige einunddreißigſilbige, von dem Volk ge-
bührend bewunderte Gedichte gemacht hat und hier und
da die adelige Mädchenſchule und die Verſammlungen
des Roten Kreuzes mit ihrem Beſuche beehrt, iſt doch
keine Königin Luiſe. Die Wahrheit dürfte ſein, daß
die japaniſchen Staatsmänner, Ito und Inouye, Yama-
gata, Matſukata und Itagaki, welche ſich wirklich durch
Weisheit auszeichnen, die Perſon des Kaiſers als Schild
benutzen, wenn auch durchaus nicht mißbrauchen, um
unter demſelben ihre eigenen hohen und weitſichtigen
Pläne durchzuführen. Dieſe haben mit Hilfe der fremden
Ratgeber, deren Werk nicht unterſchätzt werden darf, das
neue Japan geſchaffen und den modernen japaniſchen Staat
gemacht. Dieſe beiden Faktoren zuſammen haben die
europäiſche Staatsmaſchine nach Japan hinübergebracht.
Zwar ein lebendiger Organismus, der aus dem
Innerſten des Volkes geboren iſt und durch ſeine innerſten
Überzeugungen getragen wird, iſt die Maſchine noch
nicht geworden. Sie iſt Maſchine geblieben; aber —
und das iſt vorläufig die Hauptſache — ſie geht und
hat nun Zeit genug, in das Innere des Volkes hinein-
[174] zuwachſen. Die europäiſchen Ratgeber bei der japaniſchen
Regierung verſichern, daß es in der Verwaltung viel
ſauberer und reinlicher zugehe als beiſpielsweiſe in den
Vereinigten Staaten Amerikas und in den romaniſchen
Staaten Europas, von dem kranken Mann am Goldenen
Horn nicht zu reden.
Die Finanzwirtſchaft 1) braucht das Tageslicht nicht
zu ſcheuen. Zwar giebt es auch hier Miniſter, welche
im Amte reich geworden ſind. Aber direkte Verun-
treuungen und ſyſtematiſche Ausbeutung können der
Regierung nicht entfernt vorgeworfen werden. Die
Finanzverwaltung iſt äußerſt ſparſam, und wenn auch
die neue Zeit mit ihren großen Anforderungen beſonders
von ſeiten des Militarismus große Opfer erfordert, ſo
ſind die Beamten dabei die letzten, die ſich zurückſtellen.
Das Beiſpiel, welches der Kaiſer auf den Rat ſeiner
Miniſter vor einigen Jahren gab, indem er die von dem
Parlament zum Bau von Kriegsſchiffen verweigerten
Mittel dadurch beſchaffte, daß er bis zur Deckung der
Koſten ein Zehntel ſämtlicher Beamtengehälter, von
ſeiner eigenen Civilliſte beginnend, bis hinab zu den
Polizeidienern, abziehen ließ, dürfte in der Geſchichte
der Neuzeit einzig daſtehen. Am meiſten durch Steuern
belaſtet iſt der Grund und Boden. Das iſt um ſo mehr
zu bedauern, als der Bauernſtand in keineswegs glän-
zenden Verhältniſſen lebt. Der Zinsfuß iſt außer-
ordentlich hoch. Unter zehn bis fünfzehn Prozent be-
kommt der Bauer kein Darlehen. Kleine Schulden
wachſen daher ſehr raſch an, und die Folge iſt, daß durch
eine einzige Mißernte Hunderte von bäuerlichen Exiſten-
zen trotz der kärglichſten Genügſamkeit im Verlaufe
[175] weniger Jahre verderben. Im Bauernſtand aber ſteckt
die phyſiſche Kraft des Volkes, und die Regierung wird
gut thun, alle Mittel anzuwenden, um dieſen Stand
vor dem Ruin zu bewahren 1).
Der Richterſtand zeichnet ſich durch große Unbeſtech-
lichkeit aus. Das Beamtentum iſt im allgemeinen zu-
verläſſig. Es ſetzt ſich faſt ausſchließlich aus Gliedern
ehemaliger Samuraifamilien zuſammen, die eben doch
gemäß ihrer jahrhundertelangen Erziehung der Kern
und die Seele des Volkes und ſo auch die treibende
Kraft des modernen Japans ſind. Mit dem Beginn
der Reſtauration aus ihren alten Dienſtverhältniſſen
als Gefolgsleute der Daimyo entlaſſen und gewiſſer-
maßen als Bettler auf die Straße geworfen, haben ſie
ſich bewundernswert in die neuen Verhältniſſe hinein-
gefunden; und wenn es früher im Sprichwort von ihnen
hieß: „Die Seele des Samurai iſt ſein Schwert“, ſo
haben ſie heute das Schwert mit der Feder oder viel-
mehr, da man in Japan nicht mit Federn ſchreibt, mit
dem Pinſel vertauſcht und ſind ebenſo wackere Beamte
und Gelehrten geworden, wie ſie früher Krieger geweſen
ſind. Nur allmählich ziehen ſich auch die Söhne der
andern Kaſten in Beamtenſtellungen nach.
Als ein Mangel muß es bezeichnet werden, daß
der amerikaniſche Uſus der Stellenbeſetzung noch in
weitem Umfange beſteht. Die Reſtauration wurde haupt-
ſächlich durch die Fürſten und Soldaten der Provinzen
Satſuma und Choſhu durchgeſetzt, und ſeitdem betrachten
dieſe beiden hochbegabten Clans die Verwaltung des
neuen Reichs als ein Gebiet, auf welches ſie die erſte
[176] Anwartſchaft haben. Die meiſten hervorragenden Stel-
lungen befinden ſich immer noch in den Händen von
Satſuma- und Choſhuleuten. Das bildet aber einen
Hauptanſtoß für das Parlament, das mit der Regierung
auf Kriegsfuß ſteht. Von der radikalen Fortſchritts-
partei „Kaiſchin-to“, an deren Spitze Graf Ōkuma
ſteht, iſt es nicht zu viel geſagt, daß ſie Oppoſition
um der Oppoſition willen macht. Dagegen ſind die
beiden andern großen Parteien, die gemäßigt liberale
„Jiū-to“ unter Graf Itagakis Führung und die kon-
ſervative „Kokumin-Kyokwai“ unter Viscount Shina-
gawa, je nach der Zuſammenſetzung des Miniſteriums
für dieſes zu haben 1). Die Clanherrſchaft iſt nicht der
einzige ſtrittige Punkt zwiſchen Regierung und Abge-
ordnetenhaus. Der Hauptkampf geht um die Par-
lamentsherrſchaft, welche das Abgeordnetenhaus an-
ſtrebt. Die Miniſter ſollen nicht mehr, wie bisher,
dem Kaiſer allein verantwortlich ſein, ſondern dem
Parlament. Wenn es auf den Reichstag ankäme,
ſo würde auch das jetzige beſchränkte Wahlrecht, bei
welchem nur wenig über ein Prozent der Geſamtbe-
völkerung zur Stimmabgabe berechtigt iſt, in ein allge-
meines Wahlrecht umgeändert werden. Die Aufgabe
der Regierung gegenüber dem Parlament kann nach
deutſchen Begriffen nur die ſein, zu zügeln.
Das Parlament beſteht aus dreihundert Mitgliedern,
welche jährlich je 800 Yen d. h. etwa 1800 Mark Diäten
erhalten. Als es im Jahre 1890 zum erſten Male ein-
berufen wurde, ſagten ihm viele Ausländer eine kurze
Lebensdauer voraus. Es war in einem der erſten
Monate ſeines Beſtehens, als mich mein Kollege S.,
[177] der ſich Eintrittskarten verſchafft hatte, einlud, mit
ihm einer Sitzung beizuwohnen. Ich kannte mich
damals noch nicht gut aus, und S. übernahm die
Führung. Wir fuhren in unſern Jinrikſha eine halbe
Stunde lang durch die Straßen von Tokyo und kamen
ſchließlich an einen großen Häuſerkomplex, der in vollen
Flammen ſtand. Der Anblick machte ſchon damals keinen
Eindruck mehr auf mich, da ich große Brände ſchon
einige Male geſehen hatte. Wir fuhren um die Brand-
ſtätte herum, und allmählich merkte ich, daß wir uns
wieder auf dem Heimwege befanden. Ich fragte S.
nach der Urſache. „Nun“, ſagte er, „das Parlament
brennt ja eben ab“. So war es. Die radikalen
Parteien beſchuldigten die Regierung, dieſelbe habe die
Gebäude anſtecken laſſen, um die ſie kompromittierenden
Akten los zu werden. Die Regierung aber gab die
Beſchuldigung zurück. Bei dieſem allgemeinen Durch-
einander ſah es in der That aus, als ſei der Verſuch
einer konſtitutionellen Regierung als geſcheitert zu be-
trachten, zumal als das Parlament mehrmals nach ein-
ander aufgelöſt und jedesmal unter bedeutender Nach-
hilfe der Knüttel und Fäuſte der Soſhi wieder gewählt
worden war. Daß aber trotzdem die Verfaſſung damals
nicht auseinander fiel, iſt dem ſehr ſtarken Mechanismus
der Staatsmaſchine zu verdanken, wie ihn ein groß-
artiges Organiſationstalent in einander gefügt hatte.
Die Japaner ſind organiſatoriſch hervorragend
veranlagt. Wenn der letzte Krieg mit China auch nach
vieler Leute Anſicht die rechte Feuerprobe für Japan
noch nicht geweſen iſt, ſo ſteht doch eines ſeitdem feſt:
Die vortreffliche Organiſation, das In- und Miteinander-
arbeiten aller großen und kleinen Räder der japaniſchen
Maſchine. Auch im kleinen und kleinſten iſt das orga-
12
[178] niſatoriſche Geſchick unverkennbar. Die Siegesfeſte
während des chineſiſchen Krieges waren in der Regel
von ſehr kurzer Hand vorbereitet, und doch nahmen ſie
ſtets einen gelungenen Verlauf. Auch auf kirchlichem
Gebiet, in der Verwaltung einzelner chriſtlicher Ge-
meinden und ganzer Kirchen, zeigt ſich ihr großes
Geſchick.
Bei dieſem ihrem organiſatoriſchen Talent iſt es
nicht zu verwundern, daß ſie auf dem Gebiete des
Verkehrsweſens Ausgezeichnetes leiſten. Ihre Dampfer-
linien ſtehen auf der Höhe der Zeit und werden auch
von europäiſchen Paſſagieren mit Vorliebe benutzt. Ein
Netz von Eiſenbahnen zieht ſich allmählich über das
ganze Land, und da die Japaner ein reiſeluſtiges Volk
ſind, ſo rentieren ſie trotz ſehr mäßiger Fahrpreiſe ſehr
gut, wenn auch mit Bezug auf Geſchwindigkeit noch
vieles zu wünſchen übrig bleibt. Wir Deutſche ſind
ſtolz auf Poſt und Telegraph; in Japan war ich damit
in keiner Weiſe ſchlechter bedient, und hatte es zudem
wohl noch um die Hälfte billiger. In Tokyo kam der
Poſtbote an manchen Tagen z. B. an Neujahr, wo alle
Welt ſich zu beglückwünſchen pflegt, wohl zehnmal in
mein Haus, und ſelbſt im Innern des Landes, ſieben
Stunden von der nächſten Eiſenbahnſtation entfernt,
erhielt ich zweimal täglich meine Poſt. Die Beför-
derung iſt eine raſche, und ſelten habe ich einen Brief-
träger im Schritt gehen ſehen; immer iſt er in eiligem
Laufen begriffen. Ich erledigte aus dem Innern des
Landes wochenlang meine Korreſpondenz, auch nach dem
Ausland, und nie — während meines ganzen japa-
niſchen Aufenthaltes — iſt mir ein Brief verloren ge-
gangen. Ich ſchickte einmal an Neujahr eine Gratu-
lationskarte an einen Japaner, aber unter ungenauer
[179] Adreſſe. Ende Februar erhielt ich den Brief zurück,
beklebt mit zweiunddreißig Zettelchen. Die Poſtver-
waltung hatte ſich die Mühe genommen, den Brief an
zweiunddreißig Adreſſen zu ſchicken. Die Arbeitskräfte
ſind billig, ſodaß der japaniſche Generalpoſtmeiſter nicht
ſo zu ſparen braucht wie der deutſche.
In dem Staatsweſen iſt nichts vergeſſen, was bei
uns zur öffentlichen Wohlfahrt gerechnet wird. Das
Polizeiweſen, um welches ſich deutſche Ratgeber verdient
gemacht haben, darf als muſtergiltig bezeichnet werden.
Selbſt der Fremde, der nach Japan kommt, vielleicht in
dem Gedanken, hier noch unciviliſierte Verhältniſſe an-
zutreffen, fühlt ſich beruhigt, wenn er die Poliziſten
ſieht, ſchmuck und ſauber gekleidet, freundlich und ent-
gegenkommend in dem Bewußtſein, daß ſie die Diener
und nicht die Herren der Geſellſchaft ſind. Die Feuer-
polizei darf ſich auch großſtädtiſchen europäiſchen Ein-
richtungen dieſer Art getroſt an die Seite ſtellen. Wenn
die Feuerwehr in Tokyo auch nicht zu jeder Zeit auf-
geſchirrte Pferde bereitſtehen hat, ſo iſt ſie mit ihren
ſelbſtgezogenen Spritzen doch nicht weniger prompt zur
Stelle. Auch die Geſundheitspolizei vervollkommnet
ſich mehr und mehr. Um der Geſundheit der Bewohner
willen ſcheut der Staat auch die größten Summen nicht.
Für Krankenhäuſer iſt gut geſorgt. Ich hatte eine
Schutzbefohlene, eine Ausländerin, die bald nach ihrer
Ankunft in Japan, von ſchwerer Geiſteskrankheit be-
fallen, in die ſtädtiſche Anſtalt für Irrſinnige in Tokyo
untergebracht worden war. Ich kam infolgedeſſen oft
dahin, und wenn auch in Anbetracht der japaniſchen
Lebensweiſe die Anſtalt kein wünſchenswerter Aufent-
halt für mein Mündel war, ſo daß ich Sorge trug,
daß ſie in die Heimat verbracht wurde, ſo machte das,
12*
[180] was ich dort ſah und hörte, doch ſtets den beſten Ein-
druck auf mich. Der Chefarzt hatte in Deutſchland
ſtudiert und ſtand auf der Höhe der Wiſſenſchaft. Die
Geſchäftsführung war, ohne umſtändlich zu ſein, äußerſt
prompt.
Die muſtergiltige Organiſation von Heer und Flotte
iſt durch den japaniſch-chineſiſchen Krieg genugſam be-
kannt geworden. Wohl haben ſie auch ihre fremden
Ratgeber gehabt, aber ebenſoviel als ſie hat der mili-
täriſche Geiſt des alten Japan gethan. Darin hat die
neue Zeit keine Änderung hervorgebracht: Das Kriegs-
weſen iſt das Steckenpferd des modernen Japan ge-
blieben, für welches ihm kein Geld zuviel iſt. Als
Soldaten ſind ſie mutig und ausdauernd. Tapfer im
Kampf und tollkühn in der Gefahr, gehen ſie ohne
Furcht dem Tode entgegen. Wenige Völker haben ſo
viele wirkliche Helden aufzuweiſen wie die Japaner.
So klein ſie ſind und ſo ſchwächlich ſie ausſehen, ſo
ſind ſie doch zäh im Ertragen von Beſchwerden. Europa
wird gut daran thun, mit ihnen als mit ebenbürtigen
Gegnern zu rechnen.
Die Japaner wollen glänzen und eine glänzende
Rolle in der Politik der Völker, im Leben der Nationen
zu ſpielen, iſt ihr feuriges Streben. Vor wenigen
Jahren hat der Staatsmann Graf Okuma den Aus-
ſpruch gethan, daß in der Mitte des zwanzigſten Jahr-
hunderts Japan auf den Steppen Centralaſiens gegen
Europa um die Weltherrſchaft kämpfen werde. Das
war ein großes Wort gelaſſen ausgeſprochen, und wenn
es ſo ernſt zu nehmen wäre, als es erſt gemeint war,
dann thäten wir gut daran, das bekannte Bild unſeres
Kaiſers und die Worte, die er darunter ſetzte: „Ihr
Völker Europas, wahret eure heiligſten Güter“, nicht
[181] bloß in dem feinen Sinne zu verſtehen, in welchem
Bild und Unterſchrift ein gutes Recht haben, ſondern
in einem gröberen und recht handgreiflichen Sinne.
Aber freilich, niemand wird ſich durch dieſen Ausbruch
einer ſchier unglaublichen Großmannsſucht im Ernſt
bange machen laſſen; und doch iſt er nicht bedeutungs-
los; eines zeigt er mit Beſtimmtheit: Sie haben Pläne
und zwar große Pläne. Skrupulös werden ſie in der
Verfolgung ihrer Pläne nicht ſein. Bei dem chineſiſchen
Kriege ſtellte es ſich heraus, daß ihnen in Korea und
Nordchina jeder Weg und Steg bekannt war. Wer
Gelegenheit hatte, die Generalſtabskarten des Kriegs-
ſchauplatzes zu ſehen, war im höchſten Grade erſtaunt.
Jahre zuvor hatten ihre Späher, darunter Offiziere, in
chineſiſcher Kleidung China durchſtreift, und zwar mit
ſolcher Gewandtheit, daß erſt nach Ausbruch des Krie-
ges einer oder zwei ertappt wurden. Im Falle eines
Krieges mit Rußland werden die Steppen Oſtſibiriens
den Japanern mindeſtens ebenſo gut bekannt ſein als
den Ruſſen. Von Manila und den Philippinen haben
ſie ſicher die genaueſten Karten. Aus idealen Gründen,
etwa um geographiſche Studien zu machen, thun ſie
das nicht, ſondern vielmehr aus weittragenden politiſchen
Geſichtspunkten. Mit der kulturellen Führung Oſtaſiens
werden ſie ſchwerlich zufrieden ſein.
Daß Japan jemals die Beute einer fremden Macht
werden könnte, iſt undenkbar. Im Vergleich zu den
Kämpfen, welche durch die Landung fremder Truppen
in Japan hervorgerufen würden, würden die Aufſtände
Polens, die Guerillakriege in Spanien und die Unab-
hängigkeitskämpfe auf Cuba reines Kinderſpiel ſein.
Eher würde der letzte Japaner ſein Blut verſpritzen,
ehe der geheiligte Boden von Yamato einer fremden
[182] Macht in die Hände fiele. Japan iſt als Staat eine
große Macht, gefährlich als Feind, begehrenswert als
Bundesgenoſſe.
Es iſt demnach ein moderner Staat, mit dem wir
es hier zu thun haben. Und darum iſt es auch recht
und billig, daß man ihm durch den Abſchluß neuer
Verträge auf der Grundlage der Gleichberechtigung als
modernen Staat anerkannt hat. Es iſt ein großes
Unrecht, Japan als Staat unter die anderen aſiatiſchen
Mächte einzureihen. Insbeſondere dürfte man Japan
und China als Völker und Staaten nicht zuſammen in
einem Atemzug ausſprechen, ausgenommen gegenſätzlich.
Als einzelner mag der Chineſe dem Japaner in manchem
überlegen ſein, aber als Völker ſpotten die beiden jeden
Vergleiches. Der Chineſe hat wohl eine Heimat, und
er hat ein ſehr ſtarkes Gefühl für dieſelbe. Aber ein
Vaterland hat er nicht. Das chineſiſche Reich iſt ein
Konglomerat aus mehreren unter ſich verſchiedenen
Völkern, und nicht einmal der chineſiſche Zopf, das
gleiche fortſchrittfeindliche Temperament, iſt im ſtande,
die verſchiedenen Elemente zuſammenzubinden. Auf dem
Throne ſitzt eine Dynaſtie, mit welcher der größte Teil
des Volkes keine Beziehung hat, die ſich vielmehr auf
dem Wege der Gewalt aufdrängte. Da verliert der
alte Spruch: „Für König und Vaterland“ vollſtändig
ſeine Bedeutung, und dafür ſein Blut und Leben ein-
zuſetzen, das kann Konfuzius unmöglich gewollt haben.
Anders der Japaner.
Ein einziges Beiſpiel ſoll das illuſtrieren. Es war
im Oktober 1894, alſo während des chineſiſchen Krieges,
als mich eine Miſſionsreiſe nach Oſaka führte. Als ich
eines Morgens aus meinem halb europäiſchen, halb
japaniſchen Gaſthaus heraustrat, fand ich die Straßen
[183] dicht beſetzt mit Menſchen, ſo daß an ein Durchkommen
kaum zu denken war. Ich fragte einen Poliziſten, was
denn los ſei. Derſelbe gab mir in höflicher Weiſe den
Beſcheid, daß ein Trupp chineſiſcher Kriegsgefangener
vom Bahnhof her erwartet werde. In der Schlacht
von Pingyang waren ungefähr tauſend Chineſen ge-
fangen worden, welche man jetzt auf die größten Städte
Japans verteilte. Nach Oſaka kamen ungefähr ein
hundert und ſechzig. Selbſtverſtändlich war auch ich
neugierig, die Gefangenen, die erſten in Japan, zu ſehen.
Ich ſtellte mich daher gleichfalls neben der Straße auf,
der einzige Europäer unter Tauſenden von Eingeborenen,
in einer politiſch hoch erregten Zeit; aber nicht das
geringſte kam vor, höchſtens, daß man mich neugierig
betrachtete. Als ich etwa eine Stunde gewartet hatte,
ſah ich aus der Ferne den Zug herankommen. Voran
und zu beiden Seiten japaniſche Infanterie mit ge-
fälltem Gewehr, in ihrem Äußern faſt genau wie
preußiſche Soldaten; hinterher japaniſche Kavallerie,
dieſe in Uniformen nach franzöſiſcher Art. Dazwiſchen
die Gefangenen. Es war ein erbarmungswürdiger
Anblick. Leute von fünfzehn bis zu ſechzig Jahren,
halbe Kinder und Greiſe mit grauen Haaren, ſchlecht
genährt, ſchlecht gekleidet. Einige verhüllten mit der
Hand das Geſicht, andere ſchauten finſter zu Boden;
nur wenige wagten es, ſich umzuſchauen. Es war ihnen
bang um das Herz. Sie glaubten, ſie würden hierher
gebracht, um zur Beluſtigung des Volkes eines grau-
ſamen Todes ſterben zu müſſen, wie ja die Chineſen
ihrerſeits japaniſche Gefangene kurzer Hand töteten.
Daß es ihnen in der Gefangenſchaft gut gehen ſollte,
den meiſten wohl beſſer als je zuvor in ihrem Leben,
das ahnten ſie damals noch nicht. Den Eindruck von
[184] Soldaten machten ſie nicht. Ich glaube — und viele
ſind derſelben Anſicht —, daß es überhaupt keine Sol-
daten waren, ſondern gewöhnliche Arbeiter, denen man
im letzten Augenblick noch Flinten in die Hand ge-
geben hatte, und dazu noch Flinten, die nicht los-
gingen. Ich habe darüber nach dem Feldzug aus dem
Munde japaniſcher Offiziere die unglaublichſten Dinge
gehört, ſo z. B., daß das ganze japaniſche Heer
laut auflachte, wenn wieder einmal eine Kanonen-
kugel aus dem chineſiſchen Lager geflogen kam;
denn man wußte im voraus, daß ſie nicht platzen werde:
Sie war nicht mit Pulver, ſondern mit Lehm gefüllt;
das Geld für das Pulver aber war in die Taſchen der
Beamten, der Mandarinen gefloſſen. Das war Kano-
nenfutter für die Japaner, gefährliche Feinde waren ſie
nicht. Wie ſie nun vorbeizogen, voran die Kranken
und Verwundeten auf Tragbahren oder in Jinrikſha,
hinterher die Geſunden zu Fuß, die meiſten ohne Zopf,
weil ihnen derſelbe von den Japanern teils aus Über-
mut, teils aus Reinlichkeitsgründen abgeſchnitten worden
war, ſtanden die Japaner neben am Wege und be-
trachteten ſie ſich mit ſichtbarem Stolz, aber ernſt und
ruhig.
In dieſem Bild haben wir das Bild Oſtaſiens.
Auf der einen Seite das Volk der Chineſen, ſtumpf und
phlegmatiſch, als einzelne tüchtig und wohl wert, daß
man an ihnen arbeite, als Ganzes und Staat verlumpt
und verrottet bis in das innerſte Mark, als Soldaten
und Patrioten Nullen und weiter nichts, ein Volk,
welches als Volk in greiſenhaftem Niedergange begriffen
iſt. Auf der andern Seite das Volk der Japaner, ernſt
und ruhig im ſtolzen Bewußtſein ſeiner Kraft, als Sol-
daten ſtramm, ſchneidig und wohl diszipliniert, ein
[185] Volk, welches als Volk in jugendkräftigem Aufſchwung
begriffen, noch einer bedeutenden Zukunft entgegengeht.
Wenn die Japaner berufen ſind, auf irgend einem Ge-
biet eine führende Rolle zu ſpielen, ſo iſt es auf dem
Gebiet der Politik. Und wenn menſchliche Vorausſicht
im Plane der Vorſehung noch etwas gilt, ſo wird noch
in fernen Zeiten an Nippons ſchönen Geſtaden ſtolz die
japaniſche Flagge wehen, die glutrote Sonne im weißen
Feld, und noch ebenſo laut und begeiſtert wie heute
wird von ſeinen freien Söhnen der Ruf erſchallen:
„Dai Nippon ban-zai“, „Lang lebe Japan!“
[[186]]
VII. Religiöſes Leben: Shintoismus.
Es iſt von jeher unter den in Japan anſäſſigen
Fremden eine viel erörterte Streitfrage geweſen, ob die
Japaner religiös irgendwie bedeutend veranlagt ſeien.
Die Frage wird verſchieden beantwortet. Während ihnen
die Miſſionare entſchieden eine hohe religiöſe Veran-
lagung zuerkennen, viele ſogar in höherem Maße, als
wir ſie beſitzen, ſind die nichtgeiſtlichen Europäer —
Kaufleute und Gelehrte — geneigt, ihnen faſt jeden
religiöſen Sinn abzuſprechen. Den Miſſionaren macht
man dabei den Vorwurf, ſie müßten natürlich ſo ſprechen,
wenn anders ſie ſich nicht ſelbſt den Aſt abſägen wollten,
auf welchem ſie ſitzen. Die Miſſionare aber erheben
die Gegenklage, die andern verſtünden nichts von der
Sache, da ſie nur mit einem ſehr kleinen und beſchränkten
Bruchteil des Volkes und zwar vorzugsweiſe mit Ange-
hörigen der allerdings atheiſtiſchen Samuraiklaſſe in
Berührung kämen, während ihnen die Maſſe des Volkes
vollſtändig fremd ſei.
Sicher iſt, daß ſich die Frage nicht dadurch ent-
ſcheiden läßt, daß man auf die Zahl der Prieſter und
Tempel im Lande verweiſt. In einer rein geiſtigen
Sache wie die Religioſität iſt die Statiſtik, zumal wenn
ſie ſich thatſächlich auf Prieſter und Tempel beſchränken
müßte, von ſehr zweifelhaftem Werte. Die religiöſe
Veranlagung des Japaners läßt ſich nur im Zuſammen-
[187] hang mit ſeinem geſamten Geiſtesleben beſtimmen. Nach
dem, was dort (III.) geſagt worden iſt, kann für uns
kein Zweifel beſtehen. Der Japaner iſt gewiß religiös,
ſo gewiß, als die Religion in dem Geiſtesleben eines
jeden Volkes einen Beſtandteil und zwar einen Haupt-
beſtandteil bildet; aber für die Geiſteshöhen und -tiefen
der Religion iſt er weit weniger empfänglich als der
Arier. Der Japaner iſt eine Marthanatur, geſchäftig,
geſchickt, praktiſch, wohl auch etwas äußerlich; aber er
iſt nicht ſehr viel von einer Marianatur, nicht bemerkens-
wert tief, innerlich, finnig und innig. Die äußere Welt
der greifbaren Wirklichkeit ſteht ihm über der inneren
Welt der Herzensideale, das praktiſch-ſittliche Leben
über der Myſtik. Das Ziel des Japaners iſt nicht,
den Menſchen zu ſich ſelbſt in Harmonie zu ſetzen,
ſondern das Verhältnis des Menſchen zu ſeinem Neben-
menſchen, des Gatten zur Gattin, des Kindes zum
Vater, des Schülers zum Lehrer, des Unterthanen zum
Herrſcher, des Freundes zum Freunde genau zu be-
ſtimmen. Der Japaner iſt in hohem Grade eine
ethiſche, in ſchwächerem eine religiöſe Perſönlichkeit.
Es giebt kaum ein zweites Volk, wo ſich die Ethik
ſo ſehr von der Religion emanzipiert hätte, und zwar
nicht erſt infolge eines langen geſchichtlichen Prozeſſes,
ſondern von altersher. Das Syſtem des Konfuzius,
welches ſeit ſeiner Einführung in den erſten Jahr-
hunderten unſerer Zeitrechnung unter Zugrundelegung
der Pietät und Loyalität die geſamten ſittlichen Lebens-
verhältniſſe der Japaner geſtaltet hat, ſteht der Religion
gänzlich fern; nicht als ob Konfuzius die Religion be-
kämpfte, aber ſie iſt ihm gleichgültig. Auf der andern
Seite wurden die Religionen, welchen mit Bezug auf
die Sittlichkeit wenig mehr zu thun übrig blieb, faſt
[188] ausſchließlich auf das Gebiet des Glaubens und
Empfindens beſchränkt, und eine ethiſche Bedeutung
haben ſie eigentlich nur inſoweit gewonnen, als ſie ſich
zu Verbreitern der konfuzianiſchen Tugendlehre hergaben.
In Japan umfaßt die Religion nicht in gleicher Weiſe
die Gebiete des Denkens, Fühlens und Wollens; denn
das Gebiet des Wollens nimmt faſt ausſchließlich die
religionsloſe Moral für ſich in Anſpruch. Die Frage-
ſtellung: Sind die Japaner Konfuzianer oder Buddhiſten?
iſt darum verkehrt. Der Japaner kann ethiſch Kon-
fuzianer und religiös Buddhiſt, alſo beides zu gleicher
Zeit ſein. Die gewöhnliche Formel, daß die gebildeten
Japaner Konfuzianer, die ungebildeten aber Buddhiſten
ſeien, iſt auch nur teilweiſe richtig. Vielmehr iſt Kon-
fuzius, nach ſeiner ethiſchen Seite wenigſtens, Gemein-
gut des ganzen Volkes, ſo daß — ethiſch betrachtet —
alle Japaner bis zum heutigen Tag als Konfuzianer
bezeichnet werden müſſen. Freilich, das iſt wahr, daß
der Samuraiſtand vermöge ſeiner Bildung zum Hüter
der konfuzianiſchen Ethik berufen war, während im
beſonderen die Tugend der Loyalität und damit die
Staatsidee für ihn als eigentliche Kriegerkaſte eine ganz
andere und höhere Bedeutung gewann als für das
gemeine Volk. Aber man darf doch eigentlich von
Konfuzius nur nach ſeiner philoſophiſch-agnoſtiſchen
Seite behaupten, daß er ausſchließlich den oberen Stän-
den angehöre. Für ſie iſt er nicht nur der Lehrer der
Ethik, ſondern auch der der Philoſophie geworden;
ſeine religiöſen Anſchauungen ſind auch die ihrigen.
Wie der chineſiſche Weiſe, ſo ſind auch ſie, die Männer
wenigſtens, religionslos. Nicht als ob ſie noch mit
beſonderem Stolz an Konfuzius hingen, oder als ob
die alten chineſiſchen Lehrer je wieder Ausſicht hätten,
[189] die moderniſierten Katheder zu beſetzen; man hat den
Verſuch vor noch nicht vielen Jahren gemacht, und die
altmodiſchen Herren nahmen ſich komiſch genug aus
vor Klaſſen von friſchen Jünglingen, deren Köpfe mit
den neueſten naturwiſſenſchaftlichen Problemen beſchäftigt
waren. Der Verſuch ſcheiterte kläglich. Als wiſſen-
ſchaftliches Syſtem iſt der Konfuzianismus überwunden,
aber als Weltanſchauung wirkt er fort. Und ob man
ſich heute auch mit Vorliebe auf europäiſche Autoritäten
beruft und die Schlagwörter des modernen Materialis-
mus im Munde führt, ſo iſt ihm doch das gebildete
Japan nach wie vor unterworfen. Es iſt der Stand-
punkt der Halbbildung, welche jede Religion als Aber-
glauben belächelt und in der Verachtung der Religion
den Erweis wahrer Bildung erblickt. Der Thatſache,
daß die europäiſchen Völker religiös ſind, ſteht man
ſkeptiſch gegenüber. Man erblickt darin eine Mache
der Regierungen, welchen die Religion und ihre Prieſter
einen bequemen und wirkſamen Polizeiſtock böten.
Europäer und Chineſen mögen ſich am Gängelband
herumführen laſſen, aber eine Nation von der ſittlichen
Kraft wie die japaniſche braucht ſich ſolche Zuchtruten
nicht aufzubinden.
Geiſtreiche moderne Theorien und plumpe bäuer-
liche Abſurditäten, beides bekommt man als Urteile des
gebildeten Japan über Religion zu hören. Ganz im
Sinne des moderniſierten Konfuzianismus lautet eine
Äußerung, welche der hochangeſehene frühere Rektor
der Univerſität Kato, welcher ſich auf ſeine deutſche
philoſophiſche Beleſenheit nicht wenig zu gute thut, erſt
kürzlich gemacht hat. „Die Auswahl einer Religion“,
ſo ſagt er, „welche der Zeit, in der wir leben, entſpricht,
iſt eine Aufgabe, welche nur Philoſophen löſen können.
[190] Von dem religiös Gläubigen erwartet man, daß er
gewiſſe Dogmen einfach gläubig hinnimmt. Aber ſolchen
Glauben halte ich für geiſtige Sklaverei, welche gelehrte
Männer heutzutage nicht mehr empfehlen können. Wie
groß auch der Wunſch ſein möge, eine Religion zu
wählen, die Aufgabe iſt unmöglich. Was wir aus-
wählen, wird Philoſophie und nicht Religion ſein.“
Mit Recht fügt Dr. Chriſtlieb, welchem dieſe Mitteilung zu
verdanken iſt (Z. M. R. XII, 20), hinzu: „Kato ver-
tritt die typiſche Halbbildung mit ihrem rückſtändigen
Hochmut auf die Philoſophie, von der ſie freilich nur
„leviores gustus“ genoſſen hat. Aber ſolche Anſchau-
ungen ſind thatſächlich weit verbreitet“. Selbſt Ito,
der weitſichtigſte Staatsmann Japans, der ſich mit
Vorliebe den japaniſchen Bismarck nennen hört, hat
ſich über Religion höchſt abfällig geäußert. „Ich be-
trachte“, ſagte er, „die Religion als ganz unnötig für
das Leben eines Volkes. Wiſſenſchaft ſteht hoch über
dem Aberglauben, und was iſt jede Religion, ſei es
Buddhismus, ſei es Chriſtentum, anderes als Aber-
glaube und deshalb eine Quelle der Schwäche für ein
Volk? Ich beklage die Tendenz zum Freidenkertum
und Atheismus, die in Japan faſt allgemein herrſcht,
durchaus nicht; denn ich erblicke darin keine Gefahr
für die Nation.“ Und das iſt derſelbe Ito, welcher
auf einer Geſandtſchaftsreiſe im Jahre 1883 „aus Ge-
ſprächen mit Fürſt Bismarck und Kaiſer Wilhelm I.
gelernt haben ſoll, daß das Chriſtentum nicht eine rein
menſchliche Erfindung zur Aufrechterhaltung von Einfluß
und Macht, ſondern eine Realität in den Herzen der
Menſchen ſei, welche einen Einfluß von unberechenbarem
Wert auf den einzelnen und das Volk übe, und welcher
dem Mikado empfohlen habe, es zu ſtudieren und ſeine
[191] Einführung zu begünſtigen“. Die neuerliche Auslaſſung
Itos zeigt deutlich genug, wie tief ihm jene Erkenntnis
gegangen ſein mag. Denn ſeine Äußerung klingt doch
etwas anders als die Worte Wilhelms I.: „Dem Volke
muß die Religion erhalten bleiben“. Wenn aber das
am grünen Holz geſchieht, was will am dürren werden?
Was kann bei ſolchen Vorbildern Gutes herauskommen?
Die Urteile Katos und Itos werden von allen
Gebildeten, ſoweit ſie nicht dem Chriſtentum anheim
gefallen ſind, Wort für Wort unterſchrieben. Wer aber
Itos etwas unklare Äußerung ſo verſtehen wollte, als
ob das ganze Volk faſt durchweg religionslos ſei, wäre
übel beraten. Vielmehr iſt die Volksſeele niemals
willens geweſen und iſt es heute noch nicht, ſich mit
den philoſophiſchen Brocken abſpeiſen zu laſſen, die von
der Gebildeten Tiſchen fallen. Für ſie ſind das Steine
und jede Speiſe, die ihr die Religionen bieten, und
wäre ſie auch nichts weiter als Träber, iſt ihr lieber
als das. Der Kleinbürger, der Handwerker, der Bauer
und der Arbeiter und das ganze große Heer der Frauen
ſind immer religiös geweſen bis zum heutigen Tag,
wenn ſich auch ihre Religioſität entſprechend ihrer Ver-
anlagung und dem Gehalt ihrer Religionen dürftig
genug äußert.
Japan hat zwei Religionen, den Shintoismus und
den Buddhismus. Der Shintoismus iſt die eigentlich
nationale Religion, der Buddhismus iſt von außen
hereingetragen. Gleichwohl iſt im Lauf der Zeit der
Buddhismus aufs innigſte mit dem Volk verwachſen,
und wenn man den Japaner fragt, zu welcher Religion
er ſich rechne, ſo wird die Antwort faſt immer lauten:
„Ich bin Buddhiſt“. Shintoismus und Buddhismus
haben ſich ſchon im Lauf der Geſchichte mannigfach
[192] innerlich beeinflußt, und im Volksbewußtſein ſtehen ſie
ſich ſo nahe, daß man eben ſowohl zu dem buddhiſtiſchen
Götzen „hotoke“ als zu dem ſhintoiſtiſchen Gott „kami“
betet, daß man ebenſo gut zu dem buddhiſtiſchen Tempel
„o tera“ wie zu dem ſhintoiſtiſchen „o miya“ geht.
Warum aber der Buddhismus beſtimmenden Einfluß
vor dem Shintoismus gewonnen hat, erklärt ſich daraus,
daß in ihm viel mehr religiöſer Gehalt ſteckt als im
Shintoismus.
Der Shintoismus (shin = Gott, tō = Weg,
Lehre) iſt mit der Mythologie und Geſchichte Japans
auf das engſte verknüpft 1). Die älteſten Geſchichtswerke,
das im Jahre 712 verfaßte Kojiki (Erzählung alter
Geſchichten) und das um 720 entſtandene Nihongi
(japaniſche Geſchichte) ſind zugleich auch die religiöſen
Urkunden des Shinto.
Ehe die Geſchichte der Menſchheit ihren Anfang
nahm, ſpielte ſich ſchon eine vieltauſendjährige Geſchichte
im Reiche der Götter ab. Wie in den Syſtemen der
Gnoſtiker löſte ein Göttergeſchlecht das andere ab, bis
als letzte der göttlichen Geburten das Geſchwiſterpaar
Izanagi und Izanami in das Daſein trat, die ſich mit
einander vermählten. Eines Tages ſaßen die beiden
auf der Himmelsbrücke und ſchauten hinab in das
wogende Meer. Da tauchte Izanagi von ungefähr
ſeine Lanze in die Fluten. Als er ſie zurückzog, fielen
[193] die Tropfen von der Lanze, und wo einer hinfiel, ent-
ſtand eine Inſel. So wurden die tauſend Inſeln des
japaniſchen Reiches geſchaffen. Onogoro-ſhima im ja-
paniſchen Binnenmeer bei Awaji, die erſte der alſo
entſtandenen Inſeln erkor ſich das Götterpaar zum
Wohnſitz. Söhne und Töchter wurden ihm geboren,
aber bei der Geburt des Feuergottes verlor Izanami
ihr Leben. In heißer Sehnſucht nach ſeiner verlorenen
Gemahlin ſtieg Izanagi, dem griechiſchen Orpheus
gleich, in die Unterwelt hinab. An den Thoren des
Hades angelangt, beſchwor er ſie, wieder mit ihm zurück-
zukehren. Gern willigte ſie ein, bat ihn aber, noch
ein wenig zu warten, damit ſie ſich mit den andern
Göttern berate. Da es ihm zu lang währte, über-
mannte ihn die Ungeduld. Er brach einen Zahn
aus ſeinem Haarkamm und zündete ihn an, um Licht
zu haben in der Dunkelheit der Unterwelt. So ging
er hinein und fand ſie auch bald, aber ſchon hatte die
Verweſung ihr Werk begonnen, und betrübt und an-
gewidert kehrte er, verfolgt von den acht Donner-
göttern, an die Oberwelt zurück.
Um ſich rein zu waſchen von der Unreinheit des
Todes und der Verweſung, beſchloß er, im Fluſſe zu
baden. Als er ſeine Kleider am Ufer niederlegte, wurde
plötzlich aus jedem Stücke eine Gottheit geboren, und
aus allen ſeinen Gliedern ſprangen ihm Söhne und
Töchter heraus. Aus ſeinem linken Auge kam Amateraſu,
aus ſeinem rechten Tſuki no kami und aus ſeiner Naſe
Suſano. Unter dieſe drei verteilte er ſein Reich. Seine
Lieblingstochter Amateraſu (die Himmelerleuchtende)
machte er zur Herrin der Sonne, die ebenfalls weibliche
Tſuki no kami erhob er zur Göttin des Mondes, und dem
wilden Suſano übergab er die Herrſchaft über das Meer.
13
[194]
Suſano aber, welcher meinte, bei der Teilung zu
kurz gekommen zu ſein, grollte ſeiner bevorzugten Schweſter
Amateraſu. Unter dem Vorwande, ſie beſuchen zu wollen,
ſtieg er einſt auf und ſtürmte hinauf nach dem Himmel.
Wütend durchbrach er das Dach der heiligen Webehalle,
darinnen die Göttin die Kleider der Götter weben ließ,
daß Amateraſu, empört ob ſolcher Gewaltthat, mit den
ihrigen entfloh. Sie ſchloß ſich in eine Höhle ein und
wälzte einen großen Stein davor. Nun aber war große
Not. Das Licht war gegangen und auf Himmel und
Erde lag tiefe Finſternis. Da hielten ihre Gefährtinnen
einen Rat, wie ſie ſie mit Liſt wieder herausbekämen.
Sie machten eine Schnur von koſtbaren Edelſteinen
und fertigten einen glänzenden Spiegel. Eine Gottheit
fing an zu tanzen, und die andern lachten und jauchzten.
Als nun Amateraſu drinnen in der Höhle den Reigen
hörte, wurde ſie neugierig und lüftete ein klein wenig
den Stein. Da brachten die Götter, um ſie zu locken,
die Edelſteinſchnur an die Spalte und hielten ihr den
Spiegel vor ihre Augen. Da ſah ſie ein wunderſchönes
Angeſicht und voll Begierde, die holde Unbekannte noch
deutlicher zu ſehen, rückte ſie den Stein noch weiter
weg. Da aber griffen die ihrigen zu, ſchoben den
Stein ganz beiſeite und zogen ihre Herrin im Triumph
aus der Höhle heraus. Suſano wurde überwältigt und
aus dem Palaſt des Himmels hinausgeworfen.
Zur Erde zurückgekehrt, kam Suſano nach der Pro-
vinz Izumo. Da ſah er einen alten Mann und eine
Frau mit einem jungen Mädchen, die ſaßen zuſammen
und weinten. Er fragte ſie, warum ſie ſo traurig ſeien?
Der alte Mann aber ſprach: „Einſt hatten wir acht
Töchter. Aber in jedem Jahr kam eine achtköpfige
Schlange und verſchlang eine von ihnen. So haben
[195] wir ſieben verloren, und jetzt iſt die Zeit da, da ſie
wieder kommen wird, um auch unſere letzte Tochter zu
holen“. Als Suſano das hörte, fragte er den alten
Mann: „Willſt du mir deine Tochter zum Weibe geben,
wenn ich ſie von der Schlange errette?“ Als nun der
Alte mit Freuden zuſagte, befahl ihm der Gott, ſtarken
Sake (Reisbranntwein) zu brauen. Als der Sake fertig
war, füllten ſie ihn in acht Krüge und ſtellten dieſelben
hin. Kaum war das gethan, als die Schlange auch
ſchon erſchien. Als ſie den Sake roch, ſteckte ſie in jeden
Krug einen Kopf und trank den Sake aus. Dann legte
ſie ſich, berauſcht wie ſie war, nieder zum Schlafen.
Da ergriff der Gott ſein Schwert und hieb die Schlange
in Stücke. Als er an den Schwanz kam, ſtieß er auf
etwas Hartes und als er nachſchaute, fand er ein großes
koſtbares Schwert, welches er herausnahm. Darnach
baute ſich Suſano einen Palaſt, in welchem er mit ſeiner
Gattin glücklich und zufrieden lebte, und Söhne und
Töchter wurden ihm geboren.
Als ſich aber die Menſchen, oder vielmehr die
„Erdgötter“ auf der Erde vermehrten, beſchloß Ama-
teraſu, ihren Enkel Ninigi hinabzuſenden, daß er über
ſie herrſche. Bei ſeinem Abſchied vom Himmel übergab
ſie ihm die Edelſteinſchnur und den Spiegel, womit die
Götter ſie einſt aus der Höhle gelockt hatten, und das
Schwert, das Suſano im Schwanz der Schlange ge-
funden hatte 1). Sie befahl ihm an, den Spiegel als
13*
[196] ihren eigenen Geiſt zu betrachten und ihm dieſelbe Ver-
ehrung entgegenzubringen wie ihr ſelbſt. Nachdem
Ninigi dieſes verſprochen, verließ er die himmliſchen Ge-
filde und kam auf dem Gipfel des Takachio in Tſukuſhi
auf der Inſel Kyuſhiu zur Erde herab. Dort baute
er ſich einen Palaſt und vermählte ſich.
Ninigis Enkel, bekannt unter ſeinem poſthumen
Namen Jimmu Tennō, war es vorbehalten, der eigent-
liche Gründer des japaniſchen Reiches zu werden. An
der Spitze ſeines Stammes verließ er Kyuſhiu und drang
in die Hauptinſel Hondo ein. Teils durch Verträge,
teils durch Gewalt unterwarf er die Bewohner und
machte ſich das Land bis über Oſaka hinaus unterthan.
Darauf baute er ſich einen Palaſt in Kaſhiwara (Nara)
in der Provinz Yamato, von wo aus er regierte. Das
geſchah im Jahre 660 vor Chriſtus, und von da an rechnen
die Japaner das Beſtehen des Reiches und die Thron-
beſteigung ihres Herrſcherhauſes.
Es iſt zweifellos, daß in dieſen ſagenhaften Ge-
ſchichten ein hiſtoriſcher Kern ſteckt. In Suſano und
Ninigi erkennen wir die Stammväter des japaniſchen
Volkes, welche in uralter Zeit mit ihren Völkerſchaften
vom Feſtland her in Izumo und Kyuſhiu einwander-
ten. Wir haben es hier mit dunkeln hiſtoriſchen Er-
innerungen zu thun, die mit den Anſichten moderner
1)
[197] Forſcher zu ſehr übereinſtimmen und durch den Blick
auf die Karte zu wahrſcheinlich gemacht werden, als
daß ſie reine Gebilde der Phantaſie ſein könnten. Auch
die allmähliche Eroberung des Landes vom Südweſten
iſt geſchichtlich.
Wenn man aber in jedem Punkte der mythologiſchen
Erzählung geſchichtliche Wahrheiten ſuchen will, ſo ge-
rät man auf Abwege. Vielmehr tragen dieſelben zu
einem Teil unverkennbar einen rein religiöſen Charakter.
Wie deutlich erkennbar iſt in dem Zwieſpalt Amateraſus
und Suſanos die kindlich poetiſche Darſtellung des
Gewitters! Aus den Wogen des Meeres tauchen die
Nebel und ſteigen hinauf nach dem leuchtenden Himmel.
Dort ballen ſie ſich zu ſchwarzen Wolken drohend zu-
ſammen, und die Sonne verliert ihren Schein und ver-
ſchwindet, und es wird dunkel auf der Erde. Wütend
tobt am Himmel das Gewitter, und in bangen Sorgen
ſchauen die Menſchen der entſchwundenen Sonne nach.
Aber ſiehe da, auf einmal ſcheint ein Strahl durch den
Wolkenſchleier und ſpiegelt ſich wieder in der reinen
glatten Fläche des Meeres. Und nun zerreißen die
Wolken weiter und weiter und ſtrahlender denn zuvor
kommt die „Himmelerleuchtende“ aus dunkler Verborgen-
heit hervor. Der Regen aber fällt zur Erde zurück, und
er, der ſich zuvor wild und ungeſtüm gebahrte, wird
auf der Erde ein freundlicher Wohlthäter. So ſtimmt
Punkt für Punkt, und der Tanz und Reigen der niederen
Götter vor der Höhle der entflohenen Sonne mit der
Abſicht, ſie wieder hervorzulocken, — eine Erzählung,
welche beſtimmt auf eine alte religiöſe Sitte dieſer Art
zurückzuführen iſt, — deckt ſich ſo auffallend mit den
religiöſen Übungen gewiſſer Völkerſchaften bei Sonnen-
finſternis, Gewitter ꝛc., daß man verſucht iſt, dieſe Dinge
[198] auf einen gemeinſamen hiſtoriſchen Urſprung zurückzu-
führen.
Der Shintoismus iſt alſo urſprünglich eine Natur-
religion, bei welcher die Sonne bezw. der Himmel die
oberſte Gottheit iſt. Aber die Naturreligion wird zur
Ahnenverehrung, da durch die Abſtammung von der
Sonne die japaniſchen Kaiſer und durch die Abſtam-
mung von Suſano und anderen niederen Gottheiten
auch das ganze japaniſche Volk göttlichen Geſchlechts
iſt. Heute iſt der Shintoismus das zweite mehr als
das erſte. Zwar finden auch die perſonifizierten Natur-
gewalten, wie die Götter des Windes, des Feuers, der
Fruchtbarkeit, der Peſt ꝛc., noch ihre Verehrung und in
der ackerbauenden Bevölkerung, die ſich zu jeder Zeit
von der Natur abhängig fühlt, finden ſie einen ſtarken
Rückhalt. Der Donnergott Kaminari iſt heute noch ſo
gefürchtet wie ehedem; der Reisgott Inari iſt allzeit
viel begehrt, und zu der großen Wohlthäterin Amateraſu
oder, wie ſie in der religiöſen Sprache heißt, Tenſho
Daijin ſchaut mancher in Andacht auf. Wenn man
des Morgens früh über die Straße geht, kann man
wohl ſehen, wie einer oder der andere ſich der auf-
gehenden Sonne gegenüber verneigt und ſie mit Hände-
klatſchen freudig begrüßt, und wenn man im Hoch-
ſommer auf den Gipfel des Fujiſan ſteigt, ſo erblickt
man Dutzende von Pilgern, welche ſich auch die weiteſte
Reiſe nicht verdrießen laſſen, um der Sonne an dieſem
ihr beſonders geweihten Ort ihre Verehrung dar-
zubringen.
Aber es iſt doch weſentlich nur draußen in der
Natur, wo die Natur noch ihr Recht fordert. Drinnen
in den Häuſern ſowohl als auch im öffentlichen Leben
iſt der Shintoismus Ahnenkultus geworden. Die ſchönſte
[199] Zeit für den Japaner beginnt eigentlich erſt mit der
Stunde ſeines Todes. Denn durch den Tod wird der
Sterbliche unſterblich und der Menſch ein Gott. Vor
kleinen Hausaltären, wo ihnen in naturweißen Holz-
gehäuſen, Tamaſhiro genannt, Wohnung bereitet iſt,
verehrt man ſie und bringt ihnen aus Reis, Fiſch,
Sake ꝛc. beſtehende Speiſeopfer dar; doch verbinden
ſich damit mehr Gedanken der Pietät als der
Religioſität, und faſt will es ſcheinen, als wäre die
Erhaltung dieſer Sitte mehr dem Konfuzianismus als
dem Shintoismus zu verdanken. Natürlich ſpielen dieſe
Familiengeiſter im öffentlichen religiöſen Leben keine
Rolle.
Öffentliche Götter ſind neben den Naturgottheiten
nur die Geiſter der kaiſerlichen Ahnen und bedeutender
Perſönlichkeiten. In unſere Verhältniſſe übertragen
würde nicht nur Kaiſer Wilhelm I., ſondern, falls es
dem ſpäteren Kaiſer ſo gefallen hätte, auch Moltke und
Bismarck unter die Götter verſetzt ſein. So iſt z. B. Ojin
Tenno, der Sohn der kriegeriſchen Kaiſerin Jingo,
welche die erſten Feldzüge nach Korea unternahm (um
die Mitte des dritten Jahrhunderts), zu dem überaus
populären Kriegsgott Hachiman geworden. Die Götter
werden von dem Kaiſer, dem Nachkommen und Stell-
vertreter der Sonnengöttin, ernannt. Der Kaiſer ſelbſt
wird von dem gewöhnlichen Volke immer noch als Gott
betrachtet, und wenn auch die aufgeklärten Klaſſen längſt
nicht mehr an das Märchen von ſeiner Gottesſohnſchaft
glauben, ſo ſchweigen ſie ſich doch klugerweiſe darüber
aus. Erſt vor wenigen Jahren iſt es geſchehen, daß
ein Profeſſor der Univerſität, welcher die wiſſenſchaftlich
begründete Theſe aufſtellte, der Shintoismus ſei ur-
ſprünglich eine reine Naturreligion, welchen der Ahnen-
[200] kultus ſpäter als ein fremdes Reis aufgepfropft worden
ſei, ſeine Stelle verlor, weil mit dieſer Behauptung auch
die göttliche Abſtammung des Kaiſers fallen mußte.
Der Kaiſer iſt der Vermittler zwiſchen dem Volk und
der Gottheit, der Hoheprieſter des japaniſchen Volkes.
Tag für Tag betet er zu den Geiſtern ſeiner Ahnen für
des Volkes Wohl, und an gewiſſen Tagen und bei großen
Staatsaktionen hat der Hof und die hohe Beamtenſchaft
die Pflicht, ſich an den ſhintoiſtiſchen Gebetsceremonien
zu beteiligen. Man könnte den Shintoismus ſehr wohl
die japaniſche Hofreligion nennen.
Ich hielt mich während der Juli- und Auguſt-
monate der Jahre 1892 und 1893 in der Ferienzeit,
zuſammen etwa zwölf Wochen, in dem weltabgeſchiedenen
Prieſterdorf Mitake 1) auf. Ich wohnte ſelbſt im Hauſe
des Oberprieſters, der, wie ſeine Kollegen auch, gegen
den chriſtlichen Miſſionar nicht das geringſte Bedenken
hatte, und hatte reichlich Gelegenheit, den populären
Shintoismus kennen zu lernen. Von Tokyo fährt man
mit der Eiſenbahn vier Stationen weiter nach Weſten,
dann geht es in ſechsſtündigem Marſch durch die heiße
Ebene an dem Tamagawa vorbei, welcher, wohl kana-
liſiert, das Waſſer für die Millionenſtadt Tokyo liefert,
und in weiteren zwei Stunden durch einen ſchönen Wald
ſteil den Berg hinan. Schon eine halbe Stunde vor
dem Orte zeigt ein mitten im Wald quer über den Weg
aufgeſtelltes Torii an, daß man ſich einem Shintotempel
nähert. Das Torii iſt das Eingangsthor des o miya
und beſteht aus zwei ſenkrechten Holzpfeilern mit einem
oder auch zwei Querbalken oben darüber. So einfach
das Torii ausſieht, ſo charakteriſtiſch iſt es. Wie ich
[201] mich auf ſpäteren Spaziergängen überzeugte, ſind auf
allen Zugängen zum Tempel in ähnlicher Entfernung
ſolche Torii angebracht, die ſomit das Gebiet des Kami
umgrenzen. Am Fuße des letzten kurzen Aufſtiegs, auf
welchem der Tempel ſteht, kommt man wieder durch ein
hochragendes Torii und nach weiteren drei Minuten
ſteht man vor dem o miya. Das o miya oder yashiro
liegt in einem prächtigen Parkwald von uralten Krypto-
merien, deren eine ich und meine zwei Studenten mit
noch einem vierten nicht zu umſpannen vermochten, und
die ſtimmungsvolle Umgebung, welche nicht bloß dieſem,
ſondern faſt allen Shintotempeln und auch den Heilig-
tümern des Buddhismus eigen iſt, macht auf den Be-
ſucher unwillkürlich Eindruck. In dieſer Beziehung
könnte das Chriſtentum von dem Heidentum lernen.
Während man hier die Natur zu Hilfe nimmt, zieht
man im Chriſtentum mehr die Kunſt zu Rate; die Kunſt
aber weiſt der Shintoismus von vornherein zurück.
Der Bau des Tempels iſt von mehr als puritaniſcher
Einfachheit, jeder äußere Schmuck iſt verpönt. Der
echte o miya iſt aus reinem Naturholz, Stein und Erz
darf zu ſeinem Bau nicht verwendet werden. Der
Mitaketempel iſt freilich, wie faſt alle anderen Shinto-
tempel auch, rotbraun angeſtrichen, was auf den Ein-
fluß des Buddhismus zurückzuführen iſt. Auf eine ſolche
Beeinfluſſung deuten auch zwei buddhiſtiſche Götzen, die
in kurzer Entfernung vor dem Tempel angebracht ſind 1).
[202] Der Tempel iſt geteilt in das Haiden, wo die Prieſter
dem Kami ihre Verehrung zollen, und in das Honden,
in welchem der Gott ſeine Wohnung hat, und das ſtets
verſchloſſen gehalten wird; letzteres iſt oft von erſterem
getrennt als ein hinter dieſem ſtehender kleinerer Tempel-
bau. Kahl und ſchmucklos wie das Äußere iſt auch
das Innere. Götzenbilder giebt es nicht; denn der
Shintoiſt denkt ſich ſeinen Gott als Geiſt oder vielmehr,
da ihm eine unkörperliche Vorſtellung doch nicht möglich
iſt, als Geſpenſt. Die Gegenſtände im Innern ſind
leicht aufgezählt. Da iſt eine große Trommel, welche
von Zeit zu Zeit gerührt wird, da iſt ferner auf einer
Art von Altar ein Metallſpiegel, welcher zwar buddhi-
ſtiſchen Urſprungs ſein ſoll, aber in dem o miya zweifel-
los — die Prieſter können nämlich ſelbſt darüber keine
Auskunft geben — das Symbol der Reinheit ſein ſoll,
da ſind ferner in der Regel einige jener kleinen Holz-
gehäuſe (Tamaſhiro) als Wohnungen für die Geiſter
und, was zunächſt am meiſten auffällt, zickzackförmig
geſchnittene, herabhängende weiße Papierſtreifen („Go-
hei“), über deren Bedeutung vollends keine Klarheit
herrſcht.
In dem Haiden verſehen des Tags über drei
Prieſter („Kannuſhi“) den Dienſt. Die Prieſter ſind,
im Gegenſatz zu den Buddhaprieſtern, verheiratet, und
das ganze Dorf Mitake beſteht ausſchließlich aus Prieſter-
familien. Das Amt erbt vom Vater auf den Sohn,
doch iſt ein Zwang durchaus nicht vorhanden; es ſteht
jedem frei, ſich einen andern Beruf zu wählen. Ihre
1)
[203] Bildung iſt nicht weit her. Der Oberprieſter, ein noch
ganz junger Mann, der Amt und Rang von ſeinem
Vater übernommen hat, muß den Nachweis liefern, daß
er die alten Ritualgebete und das Kojiki leſen kann,
von den übrigen wird keine beſondere Bildung verlangt.
Gehalt beziehen ſie nicht; doch werden ihnen von den
Gläubigen, die in der ganzen Gegend zerſtreut wohnen,
und deren Zahl ſich auf zweihunderttauſend belaufen
ſoll, kleine Gaben an Reis und andern Früchten und
zuweilen auch an Geld gebracht. Dabei könnten ſie
freilich verhungern, zumal ſie auch noch den Kami mit
ernähren müſſen und den Tempel zu unterhalten haben.
Sie haben daher ihre Zuflucht zu dem Ackerbau ge-
nommen. Im gewöhnlichen Leben ſind ſie weiter nichts
als Bauern, von denen ſie ſich weder ſozial, noch geiſtig,
noch ſittlich im geringſten unterſcheiden. Wenn dann
alle vierzehn Tage wieder einmal die Reihe zum Tempel-
dienſt an ſie kommt, ziehen ſie den Bauernkittel aus
und legen die Prieſtertracht, weite Hoſe (hakama),
Überwurf und hohe ſchwarze Kappe, an und gehen früh
morgens zum Tempel hinauf. Das wichtigſte Geſchäft,
welches ſie dort zu beſorgen haben, iſt die Bereitung
des Opfers für den Gott. Das Opfer beſteht aus den-
ſelben Speiſen, welche gewöhnliche Sterbliche auch eſſen,
und auch der Sake iſt nicht vergeſſen. Man nimmt
an, daß der Gott den Geiſt aus der Speiſe heraus-
genießt; damit aber auch die Materie nicht verloren
geht, ſo laſſen ſich die Prieſter dieſelbe als Mahlzeit
gut ſchmecken, und da man neben andern guten Dingen
auch an Sake um des Gottes willen nicht ſparen darf,
ſo habe ich ſie manchmal des Abends in recht heiterer
Stimmung vom Tempeldienſt zurückkehren ſehen. Die
Vorſtellungen, welche der Shintoismus von Göttern
[204] und Geiſtern hat, ſind von kindlicher Naivetät. Man
denkt ſie ſich nach Art von Menſchen. Darum bringt
man ihnen Opfer dar, darum ſucht man ſie durch Tänze
und Prozeſſionen zu unterhalten; darum auch muß man
durch ſtarkes Geräuſch, Trommelwirbel und Schellen-
geklingel, — viel Spektakel iſt immer das Kennzeichen
niedrig ſtehender Kulte — ihre Aufmerkſamkeit zu er-
wecken ſuchen; denn es wäre ja möglich, daß ſie wie
die Götter Homers gerade zufällig über Land gegangen
wären oder ein Schläfchen hielten. So wurde ich
während der Zeit meines Aufenthaltes regelmäßig
zwiſchen fünf und ſechs Uhr morgens geweckt; dann
war die Zeit des Morgengebets für den Prieſter ge-
kommen, und um dem Kami die Ohren für dasſelbe
zu öffnen, klopfte er erſt tüchtig auf ſeiner großen
Trommel herum. Auch wenn ſich Pilger zum o miya
nähern, iſt das erſte, daß die dienſtthuenden Prieſter
den Kami durch lauten Trommelwirbel davon in Kenntnis
ſetzen, daß ihm wieder einmal eine Ehre widerfahren
ſoll. Zu gewöhnlichen Zeiten paſſiert ihm das ſelten
genug. Sind doch ſelbſt Wochen darüber hingegangen,
bis Beter kamen, und auch dann waren es nicht mehr
als zwei oder drei. Dagegen pilgern ſie im Frühling
an einigen beſtimmten Wallfahrtstagen zu Hunderten
und Tauſenden hinauf, laſſen ſich als Gegenleiſtung
für ihre kleinen Gaben einen Tag oder zwei in den
Prieſterhäuſern bewirten und ziehen dann, nachdem ſie
alle im Umgrenzungsgebiet des Kami gelegenen kleinen
Schreine und heiligen Plätze beſucht haben, wieder in
die Ebene hinab mit dem frohen Bewußtſein, für ein
Jahr wieder einmal ihrer religiöſen Pflicht gegenüber
dem Kami genügt zu haben. Für beſondere Zeiten
[205] aber müſſen es ſchon beſondere Gründe ſein, die ſie zum
o miya hinaufführen.
Iſt der Pilger am o miya angelangt, ſo zieht er
ſeine Sandalen oder Holzſchuhe (geta) aus und ſteigt
die Treppen empor. Auf einer oben befindlichen Platt-
form vor dem Haiden bleibt er ſtehen, denn in den
Tempel hineinzugehen iſt ihm nicht erlaubt. Es iſt
kein unrichtiger Vergleich, wenn man dieſe Plattform
den Vorhof, das Haiden das Heilige und das Honden
das Allerheiligſte nennt, wie ſich denn auch mit Bezug
auf Speiſeopfer, Reinigungen, Hoheprieſteramt, Tempel-
dienſt, geiſtige Gottesvorſtellung ꝛc. Berührungen mit
der alten israelitiſchen Religion finden laſſen.
Bei den Tempeln, wo keine wachehabenden Prieſter
ſind, die den Gott auf den Gläubigen aufmerkſam machen,
iſt eine Schelle angebracht, die der Gläubige zieht, oder
ein Gong, das er anſchlägt. Darnach verneigt er ſich,
klatſcht in die Hände und bleibt eine Viertelminute wie
in tiefer Ehrerbietung und Andacht ſtehen. Darnach
ein abermaliges Händeklatſchen und der ganze Gottes-
dienſt iſt zu Ende. Mit Worten betet er dabei nicht;
es kommt ihm nur darauf an, durch ſeinen Be-
ſuch und den Erweis ſeiner Ehrerbietung die Gunſt der
Gottheit zu gewinnen. Länger als eine halbe Minute
währt der Gottesdienſt nicht, und eine andere Art des
Gottesdienſtes, etwa mit Predigt und Liturgie, iſt dem
Shintoiſten nicht bekannt. Predigten werden nicht ge-
halten, und im allgemeinen iſt der Gläubige zufrieden,
daß der Kaiſer und die Prieſter für ihn beten. Das
iſt ja doch unendlich viel wirkſamer als alle Verehrung
eines einfachen Mannes, der vor dem Angeſichte des
Kami wenig gilt.
Welches ſind nun die Anliegen, derentwegen die
[206] Pilger vor der Gottheit erſcheinen? Mitunter ſind es
Krankheiten, zuweilen auch Heirats- und andere Schmerzen,
in weitaus den meiſten Fällen aber ſind es Ernteſorgen.
Die große Frühjahrswallfahrt bedeutet den Dank für
die Ernte des Vorjahrs und zugleich die Bitte um
neuen Ernteſegen. Auch bei den paar Pilgern im
Sommer waren es Witterungsſorgen, die ihnen am
Herzen lagen. Denn während wir hoch oben auf dem
Berge die halbe Zeit im Nebel ſaßen und Feuchtigkeit
im Überfluß hatten, brannte in der Ebene die Sonne
heiß auf die Felder nieder und trocknete ſie aus. Da
machte ſich denn der eine oder andere in der Angſt
ſeines Herzens auf zum „Amagoi“ (Bittgang um Regen)
bei dem Kami von Mitake. Und wenn er demſelben
ſeine Aufwartung gemacht hatte, ſo ging er wohl noch
durch eine wundervolle Allee von Kryptomerien den
alten Pilgerpfad hinab nach dem heiligen Waſſerfall
Nanataki, der in ſieben Gefällen zwiſchen dem undurch-
dringlichen Geſtrüpp des Waldes ſich brauſend herab-
ſtürzt, um nach dem letzten Sturz in einem kleinen
Teich ſich zu ſammeln, ehe er als munterer Bergbach
weiterfließt. Bei dieſem Teich ſind einige Miniatur-
tempelchen angebracht und in den Felſen ſind Inſchriften
zum Preiſe der Gottheit eingehauen. Hier läßt ſich
der Pilger auf ſeine Kniee nieder, zieht ein kleines
Bambusgefäß heraus und füllt dasſelbe mit dem Waſſer
des Teiches. Nachdem er es gut verkapſelt, tritt er
den Heimweg an; den heiligen Berg geht er hinab und
durch die Ebene hin ohne Raſt bis zur Gemarkung
ſeines Heimatdorfes. Hätte er ſich aber nur ein einziges
Mal verweilt, ſo wäre alle Mühe umſonſt geweſen.
Leider iſt ſie aber auch ſo manchmal vergebens, und
wenn es nun gar zu arg mit der Trockenheit wird, ſo
[207] holen die Prieſter den großen Drachenkopf, die Maske
der Gottheit, hervor, um in feſtlichem Umzug ein
feierliches „Amagoi“ nach dem Waſſerfall zu unter-
nehmen, wo man durch Untertauchen des Drachenkopfes
den Gott fühlbar an das naſſe Element erinnert.
Dieſer ebenſo nachdrücklichen als ehrenden Prozedur,
ſo glaubt man, kann der Kami gewiß nicht widerſtehen.
Wie Schmiedel berichtet, ſind aber „die Prieſter
nicht allein Wettermacher für den einzelnen Fall, ſondern
auch Propheten der im Jahr zu erwartenden Frucht-
barkeit. Im Frühjahr findet nämlich folgende Ceremonie
ſtatt. Ein Prieſter nimmt im Beiſein anderer den
Schenkelknochen eines Hochwilds, legt ihn auf ein Stück
Papier und zeichnet ihn darauf ab, teilt dann das
Nachbild auf dem Papier in ſo viel gleiche Teile ein,
als Getreidearten auf dem Gebiet wachſen, das zum
Mitaketempel gehört, und merkt die Reihenfolge der-
ſelben an. Nun wird der Knochen ins Feuer gehalten,
bis er eine Anzahl Riſſe bekommt. Man legt ihn
darauf wieder auf das Papier und lieſt an der Anzahl
der Riſſe ab, wie vielfältig die einzelnen Getreidearten
in dieſem Jahre tragen werden“.
So rufen die Prieſter Kabbalismus und Zauberei
zu ihrer Hilfe, und um ihrer Stellung willen thun ſie
gut daran; denn es iſt ſonſt nichts, was ihrer Stellung
Halt verleiht. Gottesdienſte halten ſie nicht. Seelſorge
iſt ihnen gänzlich unbekannt. Selbſt bei Beerdigungen
werden ſie ſelten, die Mitakeprieſter nie, in Anſpruch
genommen, da man die Toten in der Regel buddhiſtiſch
beerdigen läßt. Jugendunterricht kümmert ſie nicht.
In den weltlichen Fächern ſind die wenigſten unter
ihnen, die Landprieſter vollends nicht genugſam be-
ſchlagen, und Religionsunterricht können ſie ſchon darum
[208] nicht erteilen, weil der Shintoismus eine Morallehre
nicht beſitzt. In dieſer Beziehung giebt es keine ödere
und geiſtloſere religiöſe Urkunde als das Kojiki. Es
iſt ja wohl wahr, daß der Shintoismus ſtaatserhaltend
wirkt, inſofern er eine ſtarke Stütze der Monarchie iſt,
auch wird durch die Ahnenverehrung die Pietät gegen
die Vergangenheit geweckt; doch ſind auch dieſes nur
indirekte Wirkungen des Syſtems, aber keine ausdrück-
lichen Gebote. Bis vor kurzem hat man das Fehlen
einer Sittenlehre damit zu erklären verſucht, daß man
ſagte, die Japaner ſeien von Natur ſo gut, daß ſie
ſittlicher Vorſchriften nicht bedürften; infolgedeſſen darf
man die ſhintoiſtiſche Sittlichkeit als ein Sichausleben
der eigenen Natur bezeichnen. Das iſt heute teilweiſe
anders geworden. Der Kampf um die Exiſtenz zwingt
auch den Shintoismus zu Kompromiſſen mit den An-
forderungen der Gegenwart, und ſo hat er ſich bequemt,
auch kurze Broſchüren moraliſchen Inhalts herauszu-
geben. Dieſelben ſind aber nichts weiter als Abklatſch
aus dem Konfuzianismus, mit welchem er ſich gegen-
wärtig zu Schutz und Trutz verbunden hat.
Je mehr aber der Shintoismus die Moral des
Herzens und Lebens vernachläſſigt hat, deſto mehr
Gewicht legt er auf Äußerlichkeiten, im beſondern auf
Ceremonien der Reinigung. Wie bei andern Völkern,
ſo giebt es auch hier gewiſſe Dinge, welche, wie Ge-
burt und Tod, verunreinigen. Dieſe Verunreinigung
wird durch Abwaſchung des Körpers mit Waſſer wieder
gutgemacht (vergl. das Bad des Izanagi nach ſeiner
Rückkehr aus dem Totenreich). Ehe der Prieſter zum
Tempel geht, hat er ſich einer Reinigung zu unter-
ziehen. Während gewöhnliche Beſucher das Haiden des
Tempels nicht betreten, iſt das mir und meinen beiden
[209] chriſtlichen Schülern einmal geſtattet worden, da wir
den Wunſch ausgeſprochen hatten, die Schätze des Tem-
pels — ein paar ſehr alte Schwerter nebſt Rüſtung ꝛc.
— zu beſichtigen. Wir traten in das Haiden und
ließen uns in japaniſcher Weiſe auf dem mit Matten
belegten Boden nieder. Darnach kam der Oberprieſter
in feierlicher Amtstracht an uns heran und beſtrich uns
mit einem Wedel von „Gohei“ an einem Zweige des
heiligen Sakakibaumes Kopf und Körper. Dieſe Reini-
gung („harai“) war ſymboliſcher Art, und es iſt wohl
anzunehmen, daß ſich urſprünglich auch der Gedanke
einer inneren Reinigung damit verband, vielleicht daß
es eine Art Exorcismus, die Austreibung böſer Geiſter
wie bei Beſeſſenen ſein ſollte. Der Prieſter weiß es
ſelbſt nicht genau.
Mehr noch erinnert die große Reinigung, das ſogen.
„O harai“, daran, daß auch dem Shintoismus eine
beſchränkte ſittliche Reinigung von Sündhaftigkeit nicht
unbekannt iſt 1). Das „O harai“ iſt eine Entſühnung
des ganzen Volkes, welche jährlich zweimal, am letzten
Juni und am letzten Dezember, in allen öffentlichen
Shintotempeln des Landes in Anweſenheit der Bezirks-
beamten vorgenommen wird. Eine Gemeinde iſt dabei
nicht anweſend, das Volk hat nichts damit zu thun,
und von einer μετάνοια, von Buße und Beſſerung, iſt
darum keine Rede dabei. Die Entſühnung findet ſtatt
für alle Übertretungen wider den Reisbau, für alle
Arten von Verunreinigungen einſchließlich ekelhafter
Krankheit wie Ausſatz, für Körperverletzung und Leichen-
14
[210] ſchändung, für Blutſchande und Sodomiterei, für Tötung
fremder Tiere und Behexung, alſo für Sünden, die mit
leiblicher Befleckung enge Berührung haben. Die feineren,
aber nicht minder verderblichen Sünden bleiben uner-
wähnt. Als ein wahrhaft klaſſiſches Beiſpiel japa-
niſcher Höflichkeit darf es bezeichnet werden, daß in
dem dabei verleſenen Gebet dem Volke dieſe Sünden
nicht geradehin auf den Kopf zugeſagt werden, ſondern
daß von ihnen als von „wohl nur durch Achtloſigkeit
begangenen Sünden“ geredet wird 1). Außer dem „O
harai“ ſind es noch einige wenige Feſte, die in den
Tempeln nach einer kaiſerlichen Verordnung modernen
Datums zu feiern ſind 2). Doch handelt es ſich dabei
mehr um eine bureaukratiſche Einrichtung als um popu-
läre Religion.
Ich habe mich auf Mitake vergeblich bemüht her-
auszubringen, wer die Gottheit iſt, die man dort ver-
ehrt. Der Shintoismus hat eine Unmenge von Göttern.
Das Kojiki ſpricht von achthundert Myriaden d. h. von
acht Millionen, und da ſind die böſen Götter noch nicht
einmal dabei; und ſeit den Zeiten des Kojiki iſt die
Zahl noch größer geworden. Man denkt ſich eben den
Himmel in derſelben Weiſe bevölkert wie die Erde.
Die gewöhnlichen Götter, die ſelbſt nur Diener der
höheren ſind, ſind für die religiöſe Verehrung belanglos.
Die in Mitake verehrte Gottheit iſt als eine mit der
Landwirtſchaft befaßte Naturgottheit gedacht, aber in
[211] unklarer Weiſe; ich habe im Rayon des Berges einen
Schrein gefunden, der einem berühmten uralten Lokal-
helden gewidmet iſt, und es iſt ſehr wahrſcheinlich, daß
die Verehrung urſprünglich ihm gegolten hat. Später
iſt der Lokalhero mit einer Naturgottheit in eins zu-
ſammengeſchmolzen. Die Umriſſe der meiſten Gottheiten
ſind ſchattenhaft und verſchwommen. Gleichwie im Volk
der Name des Kaiſers unbekannt iſt, ſo daß man ihn
nur mit ſeinem Titel „Tennō“ nennt, ſo kennt man den
Gott von Mitake nur als „Kami“. Ein Prieſter fabelte
mir vor, daß er in Geſtalt eines weißen Wolfes er-
ſcheine. Tierkultus und Tieraberglaube ſind im Shin-
toismus nicht wenig ausgeprägt. Der Fuchs als Bote
und Diener des populären Reisgottes Inari genießt
eine ganz beſondere Verehrung. Mit den Zauber-
künſten von Fuchs, tanuki (Viverrenhund) und Katze
beſchäftigt ſich die Volksphantaſie in hohem Grade; es
knüpfen ſich an ſie eine Menge von Fabeln und Mär-
chen, die dort vom gewöhnlichen Volk mit demſelben
Andachtsſchauer angehört werden, wie bei uns ähnliche
Geſchichten von den Kindern. In Japan haben die
Katzen anſtatt der Schwänze nur kleine Stummel wie
etwa die Ziege. Als Grund dafür ließ ich mir erzählen,
daß man den Sitz der Zauberkraft der Katze hauptſächlich
im Schwanz geſehen habe. Man habe ihr darum in alten
Zeiten den Schwanz immer abgehauen, bis er ſchließlich
von ſelbſt ausblieb. Ob unſere Biologen ſich damit
einverſtanden erklären können, weiß ich nicht. Eine
unſerer gefördertſten Chriſtinnen teilte mir einſt mit,
daß auf Surugadai ein Fuchs eingefangen worden ſei,
welcher weisſage; eine ihrer Freundinnen ſei dort ge-
weſen, ihn zu hören. Ich erklärte die Sache für
Schwindel. Darauf entgegnete ſie nach einigem Be-
14*
[212] ſinnen: „Das mit dem Weisſagen, das mag wohl
Schwindel ſein; aber daß es Füchſe giebt, die ſprechen,
iſt eine bekannte Thatſache“. Erſt als bald darauf
hinter dem Fuchs ein bauchredender Shintoprieſter ent-
deckt wurde, kam ſie von ihrem Aberglauben zurück.
Beſeſſenheit und zwar ſo, daß man ſich von einem
Fuchs, ſeltener von einem anderen Tier, beſeſſen wähnt,
iſt eine nicht ſeltene Frucht ſolchen Aberglaubens.
Dr. Bälz, deutſcher Profeſſor der Medizin an der
kaiſerlichen Univerſität zu Tokyo, hat ſelbſt ſolche Fälle
in Behandlung gehabt. In einem Teile von Izumo
giebt es ganze Familien, die als fuchsbeſeſſen gelten,
und eheliche Verbindungen und nähere Berührungen
mit ihnen werden ebenſo ängſtlich vermieden wie mit
Ausſatz behafteten Familien. Fuchs, tanuki und Katze
haben die Macht, ſich in Menſchengeſtalt zu wandeln,
um ihr Hexenwerk zu verrichten, während umgekehrt
die böſen Geiſter oft die Geſtalt von Tieren annehmen.
Die Furcht vor dieſen Zaubertieren iſt daher groß im
Volk. Dagegen giebt es auch einige, welche eine gute
ſymboliſche Bedeutung haben; ſo bedeuten Schildkröte
und Kranich langes Leben.
Auch die Pflanzenwelt liefert Material genug zu
anmutender Symbolik, die aber auch gar leicht zum
Aberglauben wird. Zweige des heiligen Sakakibaumes
dürfen bei keiner ſhintoiſtiſchen Ritualhandlung fehlen,
und bei Begräbniſſen nach dem ſhintoiſtiſchen Ritus
wird von jedem Leidtragenden unter tiefer Verneigung
gegen den Toten ein Sakakizweig als Opfer niedergelegt.
An Neujahr wird der Eingang in das Haus mit Bambus,
dem lang aufſchießenden, und mit Fichte, der immer-
grünen, den Symbolen langen Lebens, geſchmückt, und
für ein Ehepaar, deſſen Hochzeit nicht unter Bambus,
[213] Fichte und Pflaumenblüte ſtattgefunden hat, iſt wenig
Gutes zu erwarten. So ſtehen die japaniſchen Volks-
ſitten mit ihren oft ſehr ſympathiſchen Zügen in enger
Beziehung zum Shintoismus. Schade nur, daß man
aus der ganzen peinlich ſkrupulöſen Art, mit der man
ſie handhabt, den Aberglauben herausmerkt. Wenn
man aber in unſerm Volke noch Züge eines ähnlichen
Aberglaubens findet, ſo iſt in Analogie mit Japan die
Quelle davon unſchwer zu entdecken: Es iſt die alte
heidniſche Religion.
Als die Urahnen des Volkes vom Feſtland nach
Japan einwanderten, brachten ſie den Shintoismus ſchon
mit. Die Ähnlichkeit mit dem altchineſiſchen Animis-
mus weiſt das zur Genüge nach. Bis zur Mitte des
ſechſten Jahrhunderts, d. h. bis zum Auftreten des
Buddhismus in Japan, war der Shintoismus die
einzige Religion. Das Staatsweſen war damals ſo
enge mit ihm verknüpft, daß man ſehr wohl von einer
Theokratie ſprechen kann. Das Leben des japaniſchen
Volkes war nur die Fortſetzung des Lebens ſeiner gött-
lichen Ahnen, ein Gott beherrſchte das Volk als Mikado,
Religion und Staat fielen in eins zuſammen. Sobald
aber der Buddhismus Ernſt machte, war es mit der
Herrlichkeit des Shinto vorbei; der öde Kult war dieſer
Macht mit ihrer äußeren Pracht, ihrem religiöſen Ernſt
und ihrer ſittlichen Tiefe nicht gewachſen. Und als der
neue Glaube vollends weitherzig genug war, auch die
Götter des Shintoismus in ſein Syſtem zu übernehmen,
da nahm man vom Kaiſer bis zum Bettler keinen
Anſtand mehr, ſich dem Neuen zuzuwenden. Nun trat
für den Shintoismus eine Zeit ein, da man nur noch
von einem Vegetieren desſelben ſprechen darf. Er
ſpaltete ſich in eine Anzahl von Sekten, die einen zählen
[214] deren fünf, die andern zehn, ihre Zahl iſt ſchwankend;
aber ſie beſtehen heute noch, wenn auch ihre Unter-
ſcheidungslehren dem Volk und zum großen Teil wohl
auch den Prieſtern unbekannt ſind. Nur am Hofe und
in den berühmten Tempeln zu Iſe und Izumo wurde
der urſprüngliche Shinto noch einigermaßen bewahrt.
Die meiſten yashiro im Lande wurden durch buddhiſtiſche
Prieſter bedient, die natürlich nichts Eiligeres zu thun
hatten, als durch ornamentales Beiwerk und durch Ein-
führung buddhiſtiſcher Ceremonien die Einfachheit des
alten Kultes zu zerſtören; daher findet man außer dem
Tempel der Sonnengöttin Tenſho Daijin in Iſe und
dem des Erdbeherrſchers Okuninuſhi in Izumo bis
heute kaum noch einen, der ſeine urſprüngliche reine
Form bewahrt hätte. Auf dieſe Weiſe entſtand eine
Miſchung des alten und des neuen Glaubens, welcher
unter dem Namen Ryobu-Shinto bekannt iſt.
Um das Jahr 1700 aber ſollte ſich das Verhältnis
zwiſchen den beiden Religionen anders geſtalten. Die
Zeit der freiwilligen und friedlichen Unterwerfung von
Shinto nahm ein Ende, die Periode des Wiederauf-
lebens des reinen Shinto brach an 1). Es wurde plötz-
lich Mode, die altjapaniſchen Urkunden des Kojiki,
Nihongi ꝛc. zu ſtudieren, und unter den Gebildeten
brach eine förmliche Begeiſterung aus für alles, was
altjapaniſch hieß. Die großen Gelehrten Motoori in
der zweiten Hälfte des achtzehnten und Hirata in der
erſten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, die be-
rühmten Kommentatoren des Shintoismus, verhalfen
der Bewegung vollends zum Sieg. Der Shintoismus
[215] als nationales Element konnte dabei nur gewinnen,
der Buddhismus als fremde Religion nur verlieren.
Die Bewegung blieb natürlich keine rein religiöſe und
litterariſche; infolge der Verbindung des Shintoismus
mit dem Kaiſerhaus nahm ſie bald einen politiſchen
Charakter an und wendete ſich gegen das kaiſerfeind-
liche Shogunat, welches den Buddhismus auf Koſten
des Shinto in jeder Weiſe begünſtigt hatte. „Der
Sohn des Himmels“, der Mikado, wider den Shogun,
das wurde die Loſung des Tages, die Loſung, welche in
der Reſtauration von 1868 den Sieg errang. Nun
wurde der Shintoismus alleinige Staatsreligion, und
eine Art Miniſterium für geiſtliche Angelegenheiten
(Kyōbuſhō) wurde für ihn eingerichtet. Eine Anzahl
buddhiſtiſcher tera wurden in miya verwandelt, die
Ryobu-Shintotempel wurden von allem buddhiſtiſchen
Beiwerk „gereinigt“, wobei wahre Prachtſtücke japaniſcher
Architektur und Ornamentik zu Grunde gingen. Ein
neues Ceremoniell für feierlich zu begehende Feſte
(matsuri) wurde herausgegeben, und damals war es
auch, wo die Beſtimmung getroffen wurde, daß das
große O harai, welches zuvor unregelmäßig ſtattgefunden
hatte, zweimal im Jahr unter ſtaatlicher Aufſicht vor-
genommen werden müſſe. Es waren rein äußere Stützen,
wie ſie in der Amtsſtube fabriziert werden, womit man
dem greiſenhaften Syſtem wieder auf die Beine helfen
wollte; von religiöſer und ſittlicher Reform war da-
gegen wenig und nichts bemerkbar.
Unter dem Hochdruck der Staatsgunſt ſchien der
Shintoismus in der That eine Zeitlang das Feld zu
behalten. In Wirklichkeit aber war das nur trügeriſcher
Schein. Zwar der Staatsſhintoismus beſteht noch, wenn
auch nicht mehr als Staatsreligion, und wenn auch das
[216] geiſtliche Miniſterium in Wegfall gekommen iſt und nur
noch wenige Tempel aus Staatsmitteln unterhalten
werden. Aber die eigentliche Volksreligion blieb der
im Volk gewurzelte Buddhismus, neben welchem man
dem Shintoismus inſoweit huldigt, wie das bei der
Darſtellung des volkstümlichen Shintoismus beſchrieben
wurde.
Neuerdings iſt dem Shintoismus noch einmal eine
Chance geworden und zwar nicht von ſtaatlicher, ſondern
von ethiſcher Seite. Der Kampf wider das Chriſtentum
nötigt die alten Mächte zum Zuſammengehen, und ſelbſt
alte aufgeklärte Konfuzianiſten ſehen keine andere Mög-
lichkeit des Sieges, als daß ſie ſich mit dem früher
verachteten ſhintoiſtiſchen Aberglauben verbinden. In
einem ſogen. „Neuſhintoismus“ ſoll die Verehrung der
alten Götter wieder aufleben, und damit die neue Religion
auch inneren Halt und Gehalt beſitzt, ſo wird ihr die
altjapaniſche Tugendlehre auf dem Grunde der Pietät
und Loyalität eingefügt. Die Idee hat großen Anklang
gefunden. Bei einem Feſte, welches vor Jahresfriſt unter
dieſer Parole bei den Iſetempeln ſtattfand, ſollen eine
Viertelmillion Menſchen aus allen Teilen des Landes
zugegen geweſen ſein. Gleichwohl iſt es ein Verzweif-
lungsakt, und die ihn in Scene geſetzt haben, glauben
ſelbſt nicht an die Shintogötter. Die altjapaniſche
Bewegung mag dadurch für eine Weile geſtärkt werden,
der Shintoismus wird dabei nicht wieder lebendig
gemacht; er wird ſterben, ob er auch in einzelnen Äuße-
rungen ſeines Aberglaubens noch die Jahrhunderte
überdauern wird.
[[217]]
VIII. Der Buddhismus.
Wenige Meilen ſüdweſtlich von Yokohama liegt
Kamakura. Im Mittelalter war es die blühende Reſi-
denz der Shogune, deren Einwohnerzahl auf über eine
Million geſchätzt wurde, heute iſt es ein elendes Fiſcher-
dorf. Unter den wenigen Zeugen einer längſt ent-
ſchwundenen Pracht befindet ſich eine Rieſenſtatue des
Buddha 1). Dieſelbe wurde um das Jahr 1250 aus
Kupferbronze gefertigt. Mehr als einmal bin ich in
ihrem Innern in die Höhe geſtiegen und habe durch
das Auge des erleuchteten Weiſen hinausgeſchaut in
die Weite.
Eines Tages kam ich mit einem deutſchen theologiſch-
belletriſtiſchen Schriftſteller dahin, um ihm den Daibutſu
(dai = groß, Butsu = Buddha) von Kamakura zu
zeigen. Am Eingang des Tempelgrundes iſt eine Tafel
angebracht, auf welcher in engliſcher Sprache geſchrieben
ſteht: „Fremdling, mit Ehrfurcht betrete dieſen Ort!“
Gerade als wir an dieſer Tafel vorübergingen, kam uns
der Daibutſu zu Geſicht. Mein Begleiter hatte bei
ſeinem Anblick nichts Eiligeres zu thun als auszurufen:
„Welch ein Scheuſal!“ Nun iſt der Daibutſu für unſern
Geſchmack allerdings nicht das Ideal der Schönheit;
aber die Worte wirkten doch verletzend, und als un-
mittelbar darauf eine Herde von Wagenziehern auf uns
losſtürmte und unter den Zeichen ausgelaſſenſter Freude
[218] meinen Begleiter mit einem lauten „Daibutſu, Daibutſu“
begrüßten, konnte ich mich eines kleinen Lächelns der
Genugthuung nicht erwehren. Der Landsmann ſchaute
mich fragend an, aber ich konnte ihm doch nicht wohl
verraten, daß „Daibutſu“ nicht nur „Großer Buddha“,
ſondern auch „großes Ding“ bedeute und als eine nicht
ſehr reſpektvolle Bezeichnung für „ſtattliche“ Leute ge-
braucht werde. Die Kuli hatten ſich kindiſch gefreut,
wieder einmal eine gute Gelegenheit zu einem ihrer ſo
ſehr beliebten Wortſpiele zu haben.
Bei dieſem Beſuch wollte es mir nicht gelingen,
in Stimmung zu kommen. Ich hatte ſchon manchmal
dort geſtanden, aber mit anderen Gefühlen als mit denen
des Abſcheus. Die unendliche Sanftmut und die
wahrhaft erſchütternde Reſignation in dieſem ruhigen,
leidenſchaftsloſen, frauenhaft weichen Angeſicht war nie
ohne Eindruck auf mich geblieben, und immer wieder
ging mir’s dabei wie die unſagbar traurige Weiſe eines
melancholiſchen Klageliedes durch den Sinn:
Niemals habe ich mich dort erbaut und gehoben
gefühlt wie in einer chriſtlichen Kirche, wehmütig be-
wegt ging ich jedesmal davon, und doch zog es mich
immer wieder hin. Befriedigt war ich nie, denn das
habe ich ſtets deutlich empfunden: „Dieſe ſtumme
Reſignation iſt nur ein Scheinfriede; das kann das
Ende nicht ſein!“; und gerade aus dieſer hoffnungsloſen
[219] Entſagung tönte mir lauter als aus den leidenſchaft-
lichſten Ausbrüchen des Schmerzes der Verzweiflungsruf
entgegen: „Ich elender Menſch, wer wird mich erretten
von dem Leibe dieſes Todes?“ Es iſt kein Heiland,
der da herabſchaut; denn ſein zur Erde geſenktes Auge
hat keinen Blick für den Himmel und ſein ſtreng ge-
ſchloſſener Mund öffnet ſich nicht zu dem Siegesruf:
„Seid getroſt, ich habe die Welt überwunden!“ Aber
es iſt ein Menſch, der den Jammer der Welt, das Elend
der leidenden Menſchheit in weichem, warmen Herzen
wie wenige Sterbliche mit empfunden hat. Es iſt die
Majeſtät des Leidens, die in ihm verkörpert iſt, es iſt
der Apoſtel der Entſagung, den wir da vor uns haben.
Dieſelben Töne, welche der Prediger Salomos in
mächtig ergreifenden Akkorden anſchlägt und die im
Buche Hiob und an hundert andern Stellen der Heiligen
Schrift ihr Echo finden, bilden den Grundton ſeiner
Verkündigung. Leben iſt Leiden, lehrt der indiſche Weiſe,
und wer vom Leiden befreit ſein will, muß auf das
Leben verzichten. Die Phänomena des Daſeins, das
Sein und Werden der Welt ſind nicht Wahrheit, ſon-
dern Schein. Alle Freuden und Genüſſe des Lebens
ſind wie eine glänzende Fata Morgana, die nicht be-
friedigen will noch kann, vielmehr den unglückſeligen
Menſchen, der wahnumfangen ſich ihr hingiebt, in das
Verderben lockt. Selig, wer ihnen zu entſagen die
Kraft hat, wer den Schleier der trügeriſchen „Maya“
(Schein) zerreißt und die Wahrheit erkennt, die da heißt
— das Nichts, das doch mehr iſt als das Nichts. Wer
am Leben hängt, bleibt ewig unglücklich. Nicht das
Hoffen, ſondern das Entſagen, nicht das Wünſchen, ſon-
dern das Stillſichbeſcheiden, nicht das Thun, ſondern das
Laſſen, nicht das Streben und Kämpfen, ſondern das
[220] ſinnende Sichverſenken, mit einem Wort: Die Ertötung
der „Begierde“ im Menſchen iſt es, was ſelig macht.
Wer mit der Welt innerlich gebrochen und mit dem
Leben abgeſchloſſen hat, dem können Welt und Leben
nichts mehr anhaben, er iſt über ſie erhaben, er hat den
Frieden. Wem aber das eigene „ich“ noch etwas wert
iſt, der bleibt zu ſeinem eigenen Fluch gebannt an dieſes
„ich“, und ob er auch ſtürbe, ſo kann die Seele doch
nicht ſterben, weil ſie nicht ſterben will; ſie geht in
einen andern Körper über, ſei es eines Menſchen, ſei
es eines Tieres, ſei es gar noch eines niedrigeren
Weſens. Erſt wer in einer langen Reihe von Seelen-
wanderungen gelernt hat, die Eigenluſt und Selbſtſucht
des „ich“ zurückzudämmen und zu vernichten, der ſoll wie
der Tautropfen, der von dem Strahl der Morgenſonne
aufgeſogen wird, eingehen in das Nirwana, das Reich
der ewigen Ruhe.
Zwiſchen dem Kagayaſhiki, dem Gehöfte der kaiſer-
lichen Univerſität, und dem Uenopark, in welchem der
prächtige Tempel des Gongenſama, des vergöttlichten
Iyeyaſu ſteht, liegt ein großer Teich, der Uenoteich ge-
nannt. Derſelbe iſt über und über mit Lotusblättern
beſät. Und wenn man früh am Morgen, wo des Tages
Lärm und Geräuſch noch nicht laut geworden iſt, an
dieſen Teich kommt und ſieht die breiten Blätter der
heiligen Lotuspflanze regungslos auf dem unbewegten
Waſſer liegen, dann überkommt die empfindende Seele
wohl ſelbſt ein Zuſtand wie eines wunſchloſen Friedens,
dann verſteht ſie, was Nirwana bedeuten ſoll: Es iſt
weder Leben noch Tod, es iſt ein dämmerndes Träumen,
das melancholiſche Vergeſſen des Grabes und das ſüße
Glück des im Schlafe lächelnden Kindes. Wer es ge-
ſehen hat, weiß, daß der Buddhismus kein treffenderes
[221] Symbol ſeines Nirwana finden konnte, als das ruhende
Lotusblatt auf dem unbewegten Gewäſſer.
Buddha kennt weder Gott noch Erlöſer. Da iſt
niemand, der dem armen Menſchen beiſteht, zum Nir-
wana kommt er nur aus eigner Kraft. Daß er es aber
vermag, das hat Buddha an ſeinem eigenen Beiſpiel
gezeigt. Er, der doch auch nichts war als ein Sterb-
licher, und der durch nicht weniger als fünfhundert
fünfzig Transmigrationen hindurch gegangen war, ehe
er in das Nirwana einging, iſt Wegweiſer für ſeine
Nachfolger geworden.
Die Moral des Buddhismus iſt entſprechend der
ganzen Lehre eine negative. Das moſaiſche „du ſollſt
nicht“ charakteriſiert auch dieſe Sittenlehre, und das
Grundgebot lautet: „Du ſollſt deiner ‚Begierde‘ nicht
nachgeben“. Dieſes Gebot wurde ſpezialiſiert in die
fünf ſogen. Hauptgebote: 1. Du ſollſt nicht ſtehlen;
2. du ſollſt nicht lügen; 3. du ſollſt nicht unmäßig ſein;
4. du ſollſt nicht töten; 5. du ſollſt nicht ehebrechen.
Aber auf dieſer breiten Grundlage ſchuf der Buddhis-
mus ſpäter ein dem milden Geiſte ſeines Stifters ent-
ſprechendes hochſtehendes Moralſyſtem, und es muß ihm
zum Ruhm nachgeſagt werden, daß er nicht nur die
groben Sünden ſtrenge verbot, ſondern auch großes
Gewicht auf die Bekämpfung der feineren Sünden wie
Stolz, Trotz, Ungeduld, Zorn, Neid, Habſucht legte.
Die Wiedergeburt ſoll die genaue Frucht der vorher-
gehenden Thaten ſein. „Was der Menſch ſäet, das
wird er ernten“, das iſt das Geſetz, das mit unerbitt-
licher, durch keine Gnade gemilderter Strenge durch die
ſittliche Welt hindurchgeht und Sünde und Strafe wie
Urſache und Wirkung in regelrechter Folge miteinander
unlöslich verkettet. Aus Gutem wird Gutes geboren
[222] und aus Böſem Böſes; der Bettler, der gute Thaten
gethan, kann als Fürſt wiederum das Licht der Welt
erblicken, während der grauſame Machthaber über Mil-
lionen in einem neuen Daſein als ein gehetztes Wild
des Feldes die Schuld ſeiner früheren Sünden bezahlt.
Daß auch ein Chriſt für dieſe Lehren Sympathie
haben kann, iſt begreiflich; denn das warme Herz und
der ſittliche Ernſt in ihnen ſind unverkennbar. Daß
man ſich aber auch für den modernen Buddhismus
erwärmen kann, oder daß gar Chriſten zu ihm über-
treten, wie es in einigen wenigen Fällen vorgekommen
iſt, iſt unverſtändlich; denn es iſt ein Syſtem des Hum-
bugs, dem ſie ſich geſellen.
In Japan ganz und gar ſo. In dem modernen
japaniſchen Buddhismus iſt die ſoeben geſchilderte Lehre
nur noch dunkel erkennbar. Der Japaner hätte auch
nach ſeiner ganzen Veranlagung ſchwerlich etwas damit
anzufangen gewußt. An Stelle des urſprünglichen
Atheismus trat ein ganzes Heer von Göttern und
Götzen; der anfängliche Peſſimismus iſt einem dem
alltäglichen Leben angepaßten vulgären Optimismus
gewichen; die Sittenlehre iſt zwar nicht ohne veredelnde
Wirkung auf das Volk geblieben, iſt aber gegenüber
der konfuzianiſchen Moral nie recht zur Geltung ge-
kommen; die Lehre von der Seelenwanderung wurde
zwar theoretiſch beibehalten, iſt aber praktiſch nicht von
ſehr großer Bedeutung; das nebelhafte, verſchwommene
Nirwana wurde durch einen greifbaren Himmel mit
Amida Buddha als König erſetzt, während in der neu
geſchaffenen Hölle der gefürchtete Emma-sama (der
Brahmagott Yama) als ſtrenger Richter die Böſen
quält. Doch ſind auch durch Himmel und Hölle die
Gedanken an das eigene zukünftige Leben bei den
[223] Japanern nicht beſonders geweckt worden. Der Bud-
dhismus, der ſeiner ganzen Lehre nach urſprünglich eine
tiefſinnige Philoſophie war, iſt ſomit im höchſten Grade
vulgär geworden, und ſo gerade paßte er den Japanern.
Aber es iſt doch nicht etwa ſo, als hätten ihn die
Japaner allein gerade für ſich ſo zugemodelt. Zwar
die letzte Politur haben ſie dieſem exoteriſchen Bud-
dhismus gegeben; aber echt hatten ſie die Lehre Saki-
yamunis ſchon ſeit alten Zeiten nicht beſeſſen, und nur
wenige Auserwählte haben etwas darum gewußt. Als
der Buddhismus etwa um dieſelbe Zeit, wo Paulus
das Chriſtentum über die Grenzen Paläſtinas hinaus-
trug, durch eine chineſiſche Geſandtſchaft aus Indien
nach China kam, hatte er ſchon viel von ſeinem eigent-
lichen Weſen eingebüßt, und in den folgenden Jahr-
hunderten thaten die Chineſen das ihrige dazu, um ihn
vollends zu entſtellen. So kam er ſchließlich nach Japan.
Es war im Jahre 551 n. Chr., als der König von
Kudara, einer der drei Provinzen Koreas, dem Kaiſer
Kimmei ein Bildnis des Shaka, wie Sakiyamuni ja-
paniſch heißt, und einige buddhiſtiſche Bücher über-
ſandte. Die neue Religion ſoll auf Kimmei, welcher
das Geſchenk dankbar annahm, einen großen Eindruck
gemacht haben, und er gab das Buddhabild ſeinem
Premierminiſter Iname zur Aufbewahrung. Dieſer
ſtellte es in einem ihm gehörigen Hauſe auf und machte
dieſes Haus zum erſten Buddhatempel in Japan. Bald
darauf aber brach eine Seuche aus, und es gelang den
Feinden der neuen Religion, dem fremden Gott die
Schuld daran aufzubürden. Das Bildnis wurde in
das Meer geworfen und der Tempel zerſtört.
Das war das Ende des erſten Auftretens des
Buddhismus, das ſo hoffnungsvoll begonnen hatte.
[224]
Bald aber ſollte es anders kommen. In Shōtoku
Taiſhi, einem der weiſeſten Fürſten, die je die Geſchicke
des Landes lenkten, erſtand drei Jahrzehnte ſpäter dem
Buddhismus ein mächtiger Freund und Beſchützer. Im
Jahre 587 erbaute er den großen Tennōji zu Naniwa
(Ōſaka), wo das nach der Legende auf wunderbare
Weiſe wieder zurückgewonnene Buddhabild aufbewahrt
wird bis zum heutigen Tag. Shōtoku Taiſhi wird als
der Vater des japaniſchen Buddhismus verehrt. Auf
ſeinen Antrieb erklärte ſich die Kaiſerin Suiko offen
für den Buddhismus, und die oberen Schichten des
Volkes folgten nach.
Die folgenden Kaiſer blieben der neuen Religion
treu, und die mächtigen Tempel in Nara, der damaligen
Reſidenz, legen heute noch beredtes Zeugnis für ihren
Glaubenseifer ab. Gelehrte wurden nach China ge-
ſchickt, die unter buddhiſtiſchen Prieſtern ſtudierten, und
als eifrige Apoſtel Shakas kamen ſie wieder.
Aber noch war der Buddhismus nicht Herr im
Lande. Wohl blieb ſeine Prachtentfaltung und die
ſinnliche Natur ſeines Gottesdienſtes nicht ohne Ein-
druck auf das Volk, und die Lehre von der Seelen-
wanderung ſowie die Herrlichkeit des buddhiſtiſchen
Himmels gaben der Einbildungskraft desſelben reiche
Anregung; aber es widerſtrebte ihm doch, ſeinen alten
Göttern einfach den Abſchied zu geben. In dieſem
Widerſtreit fand der fromme Buddhaprieſter Kūkai,
bekannter unter ſeinem poſthumen Ehrennamen Kōbō
Daiſhi, der nicht lange zuvor aus China zurückgekehrt
war, eine treffliche Auskunft, dieſelbe Auskunft, welche
der Buddhismus ſchon gegenüber den Göttern des
Brahma erfolgreich angewandt hatte. Er erklärte alle
Shintokami für Bodhiſattva d. h. für Erſcheinungen
[225] des Buddha und reihte dieſelben der buddhiſtiſchen
Götterwelt ein. In dem heiteren Himmelsgott Amida
verehrte man von nun an den populären Ojin Tennō,
den ſhintoiſtiſchen Kriegsgott Hachiman, während Ama-
teraſu als Dainichi Riorai göttliche Verehrung fand.
Nun konnte man auch als Bekenner des neuen Glaubens
dem alten treu bleiben.
Kōbō Daiſhi, dem man auch die Erfindung
der Silbenſchrift Kana zuſchreibt, ließ ſich auf dem
Koyaſan (san = Berg) in der Provinz Kii nieder,
wo er ein jetzt noch berühmtes Kloſter erbaute. Er
iſt der Begründer der einflußreichen Shingonſekte,
welche er aus China mit herübergebracht hatte. Die-
ſelbe iſt gegenwärtig numeriſch die zweitſtärkſte in
Japan.
Gleichzeitig mit ihm war ein anderer, nicht minder
bedeutender Gelehrter aus China zurückgekehrt, Saijo
mit Namen. Ihm wurde auf ſeinen Wunſch von dem
ihm wohlgewogenen Kwammon Tennō der Hieizan, ein
Berg bei Kyōto, zur Anſiedelung überlaſſen. Hier er-
richtete er ein Kloſter, welches in der Folge noch ebenſo
berüchtigt als berühmt werden ſollte. Er war ein
Anhänger der chineſiſchen Tendaiſekte, welche durch ihn
auf japaniſchen Boden verpflanzt für die nächſten Jahr-
hunderte die Führung des Buddhismus im Lande
übernahm.
Durch Kōbō Daiſhi und Saijō war der Sieg des
Buddhismus in Japan vollendet worden, ohne daß es
irgend welches beſonderen Kampfes bedurft hätte. Seit
der Zeit, d. h. ſeit dem Anfang des 9. Jahrhunderts,
hatten die ſog. acht Sekten des Buddhismus („Haſſhū“),
welche ſämtlich aus China herübergekommen waren,
15
[226] feſten Fuß im Lande gefaßt 1). Nun aber ſollte es ſich
auch hier zeigen, daß nichts ſchwerer zu ertragen als
eine Reihe von guten Tagen. Die folgenden Jahr-
hunderte ſahen keine Gelehrten wie Kūkai und Saijō.
Wie in der Chriſtenheit nach Konſtantin, ſo erwieſen ſich
auch hier Verwilderung und Verweichlichung als die
Feinde echten religiöſen Lebens. Bigotte Kaiſer und
Fürſten begünſtigten den neuen Emporkömmling, bis
ihnen derſelbe über die Köpfe wuchs. Die prächtigen
Pagoden, Tempel und Glocken von Kyōto, welche bis
zu dem heutigen Tage die ganze Stadt zu einem einzigen
großartigen Monument des Buddhismus machen, ſind in
jener Zeit entſtanden. Die Prieſter waren bald nicht
mehr zufrieden, dem Volke den Weg zum Himmel zu
weiſen, auch auf der Erde, im weltlichen Staat, wollten
ſie eine Rolle ſpielen. Die Geſchichte des Chriſtentums
wiederholte ſich hier. Wie die ſtreitbaren Mönche von
Theben die Straßen von Alexandria unſicher machten
und die Regierung des Landes nach ihrem Willen zu
lenken ſuchten, ſo wimmelte es auf den Straßen von
Kyōto bald von den derbfäuſtigen Bonzen des Hieizan.
Das Mönchtum fing an, ein Staat im Staate zu
werden, und die Sachlage wird trefflich gekennzeichnet
durch den Ausſpruch eines der damaligen Kaiſer:
„Zwei Dinge ſind außer dem Bereich meiner Macht:
Das Waſſer des Kamo und die Bergbonzen“.
Erſt gegen das Ende des zwölften Jahrhunderts
kam wieder ein friſcher Hauch in das religiöſe Leben.
Yoritomo gelang es, die weltlichen Gelüſte der Prieſter
einzudämmen und ihr Intereſſe für Religion und Wiſſen
[227] wieder wachzurufen. Das Erſcheinen einer Reihe be-
deutender Lehrer, gleich ausgezeichnet durch Gelehrſam-
keit und Glaubenseifer, war die Folge. Es geſchieht
mit einem gewiſſen Recht, wenn man das dreizehnte
Jahrhundert das Reformationszeitalter des japaniſchen
Buddhismus nennt.
Die gänzliche Veräußerlichung des Kultus veran-
laßte die Nachfolger Yoritomos, die Shogune der
Hōjōdynaſtie, um die Wende des zwölften und drei-
zehnten Jahrhunderts die Zenſekte aus China einzu-
führen. Die Zenſekte iſt die eigentlich philoſophiſche
Sekte des Buddhismus, die mit ihrer ſcharfen Be-
tonung der Meditation ſich der urſprünglichen Lehre
des Weiſen am nächſten zu ſtellen ſucht und im ſtrikten
Gegenſatz gegen das Ceremonienweſen der übrigen Sekten
ſteht. Es iſt der Zenſekte gelungen, ſich bedeutenden
Boden zu verſchaffen, wenngleich es mit ihrem eſote-
riſchen Charakter heute nicht mehr ſo weit her iſt.
Die Zenſekte war die letzte, welche nicht auf
japaniſchem Boden erwachſen war. Gleichzeitig mit
ihrer Einführung begannen ſich auch in der einheimiſchen
Prieſterſchaft ſelbſt originale Gedanken geltend zu
machen — das erſte und das letzemal in der Ge-
ſchichte des japaniſchen Buddhismus. Um das Jahr
1207 gründete der Prieſter Genku, mit ſeinem poſthumen
Heiligennamen Hōnen genannt, die Sekte Jōdō („Reines
Land“). Seine Hauptlehre iſt, daß der Weg zum
„reinen Land“ das Anrufen des Buddhanamens ſei.
Sie wird darum auch Nen-Butſu, die Sekte der Buddha-
anrufung, genannt. Die Formel „Namu Amida Butſu“,
„ich vertraue auf Amida Butſu“, wurde von Hōnen ſeinen
Gläubigen gegeben. Man war aber mit dem bloßen
Ausſprechen der Formel nicht zufrieden; man ſang die-
15*
[228] ſelbe in flehenden Tönen, klingelte dazu mit Handſchellen
und begleitete dieſe Gebetsceremonie oft mit Tanz.
Durch die Anrufungsformel hat die Jōdōſekte dem
religiöſen Leben ein ganz neues Moment eingefügt, das
ihm bis heute im höchſten Grade verblieben iſt. Die
Gebetsformel geht dem modernen Buddhiſten über
alles. Wo immer er anbetet, im Tempel, vor dem
hotoke, gebraucht er ſeine Formel. Sie iſt ihm wie ein
Zauberſpruch, der auch verſchloſſene Thüren öffnet und
das Herz des hotoke in Wohlwollen ihm zuneigt. Sie
iſt in Wirklichkeit das einzige Gebet der meiſten Be-
kenner des Buddhismus, deren ganzes Gebetsleben in
dem Herſagen des Zauberſpruches aufgeht.
Die Gebetsformel hat eine allgemeine Verbreitung
erlangt durch die Shin- oder Montoſekte, eine Tochter
der Jōdō, die aber ihre Mutter bald überragte und bis
zum heutigen Tag an Einfluß und Zahl ihrer Bekenner
unbeſtritten den erſten Platz behauptet. Ihr Begründer
iſt Hōnens größerer Schüler Shinran. Die Shin-ſhū
(shū-Sekte) hat man den proteſtantiſchen Zweig des
japaniſchen Buddhismus genannt. Nicht ohne ein ge-
wiſſes Recht. Wie Luther, ſo verwarf auch Shinran
die äußeren Werke wie Faſten, Wallfahrten und Re-
liquienverehrung. Er widerſprach dem Mönchtum und
der Eheloſigkeit der Prieſter. Er verheiratete ſich ſelbſt
und den Prieſtern ſeiner Sekte iſt es geſtattet, dasſelbe
zu thun. Verwirft er auch die Meditation, ſo hat er
doch ſeiner Sekte philoſophiſche Neigungen eingeimpft.
Mehr aber noch hat er verſucht, aus dem Schutt eines
veräußerlichten Rituals die hochſtehende Sittenlehre
ſeiner Religion hervorzugraben. Aber freilich, ſchon
mit Bezug auf die Grundlage dieſer Moral ſtand er,
der ſelbſt den Prieſtern die Freude und Genüſſe des
[229] Daſeins gönnte und in mancher Beziehung doch auch
wieder zur Verweltlichung des Buddhismus beitrug, im
Gegenſatz zu Shaka: Die Lehre von der Weltentſagung
paßte ihm nicht. Die einfache Anrufung Amidas war
auch für ihn die Hauptſache. Nicht äußeres Werk,
ſondern die vertrauensvolle Hingabe an Amida Butſu,
deſſen Anbetung von allen Göttern allein vonnöten iſt,
macht ſelig. Es klingt wie aus einer monotheiſtiſchen
Erlöſungsreligion heraus, wie das ſtammelnde Be-
kenntnis der Wahrheit im Munde eines unmündigen
Kindes. In der That ſind heute noch gegenüber Amida
die übrigen hotoke in den Tempeln der Shin-ſhū in
den Hintergrund geſchoben, wenn nicht gar völlig hin-
ausgedrängt. Aber ein Monotheismus iſt es doch nicht,
nicht einmal ein Henotheismus, in dem Bewußtſein der
modernen Shinſhūleute noch weniger als in dem des
Stifters. Der gewöhnliche Shinſhūgläubige zollt gern
auch anderen hotoke ſeine Verehrung, und das äußerliche
Ritual, das Shinran bekämpfte, hat auch über ihn
wieder volle Gewalt. Die Prieſter ſind ſich der Sekten-
unterſchiede mehr oder weniger bewußt, aber von
dem Volke gilt das nur in ſehr beſcheidenem Maße.
Noch vorſichtiger als mit Bezug auf den angeblichen
Monotheismus der Shinſhū gilt es ihrem „evangeliſchen“
Charakter gegenüber zu ſein. Die vertrauensvolle Hin-
gabe an Amida fällt dem gemeinen Volk — inwieweit
es wohl auch bei dem Stifter der Fall geweſen ſein
mag? — zuſammen mit dem Spruch: „Namu Amida
Butſu“, „ich vertraue auf Amida Buddha“, und als
eine Art Zauberſpruch gebraucht und in der Regel in
vielfacher Wiederholung hintereinander geſprochen, wird
dieſe ganze „vertrauensvolle Hingabe“ ſchließlich zum
äußerlichen Lippenwerk und Zauberwahn. Kluge Shin-
[230] prieſter ſagen, man brauche ihnen den evangeliſch-pro-
teſtantiſchen Glauben nicht mehr zu bringen, ſie be-
ſäßen denſelben ſchon; aber klarer als alle theoretiſchen
Erörterungen beweiſt ein Blick auf das praktiſche
religiöſe Treiben des Shingläubigen, daß das Gegen-
teil der Fall iſt.
Immerhin bleibt die Shinſhū, in welcher der Geiſt
ihres Gründers doch noch nicht ganz erſtorben iſt, die
ſympathiſchſte der gegenwärtigen Sekten. Ihr genaues
Gegenſtück bildet die Nichirenſekte, auch Hokke genannt.
Ihr Gründer Renchō oder, wie ſein Heiligennamen
lautet, Nichiren, iſt ein jüngerer Zeitgenoſſe Shinrans.
Auch er erkennt die Gebetsformel als den Kern der
Religioſität an. Aber die Betrachtung der laxen Sitten
der damaligen Bonzen erweckte den Zweifel in ihm, ob
ſie ſich auch in der Lehre auf dem rechten Wege be-
fänden. Nach jahrzehntelangem Studium hatte er ge-
funden, daß nicht „Namu Amida Butſu“ die rechte
Formel ſei, ſondern eine andere, die er in einem bis
dahin wenig beachteten Kanon gefunden hatte: „Namu
myō hōren gekyō“ („Ich vertraue auf die Sutra vom
geheimnisvollen Geſetz des weißen Lotus“). In dieſen
Worten iſt das Heil beſchloſſen; nur durch ſie kommt
man in Amidas Himmel. Wehe aber den Anhängern
der andern Sekten; ſie müſſen ſamt ihren Meiſtern zur
Hölle fahren. Es iſt der Geiſt eines fanatiſchen Glaubens-
eifers und einer ſtarren Orthodoxie, der Nichiren beſeelt.
Niemals und nirgends in der Geſchichte des Buddhismus
iſt der Buchſtabe ſo betont worden, wie von ihm. Un-
duldſam gegen alle Andersgläubigen hat er den Kampf
gegen die Ketzerei aller Art von vornherein auf ſeine
Fahne geſchrieben. Seine Schüler haben unter Trommel-
wirbel und mit der Gebetsformel als Schlachtruf die
[231] Tempel anderer Sekten erſtürmt und dem Erdboden
gleichgemacht; ja, ſelbſt vor Mordthaten ſchreckten ſie
nicht zurück. Der Feldherr Kato Kyomaſa, der um das
Jahr 1600 mit brennendem Eifer und beiſpielloſer
Grauſamkeit den Vernichtungskampf gegen das Chriſten-
tum führte, gehörte dieſer Sekte an. Der Geiſt, mit
welcher ihr Stifter ſie erfüllte, iſt dieſer Sekte treu ge-
glieben bis zum heutigen Tag, und erſt der Kampf
gegen den gemeinſamen Feind, das Chriſtentum, konnte
ſie bewegen, ihrer verhaßten Rivalin Shinſhu die Hand
zum Bunde zu reichen.
Nichiren iſt die ausgeprägteſte religiöſe Perſönlichkeit,
welche Japan hervorgebracht hat. Hundertmal war er
in Lebensgefahr, einmal befand ſich ſein Kopf ſchon
unter dem Beil des Henkers, und nur durch ein Wunder,
ſo erzählt die Legende, wurde er gerettet. Aber nichts
konnte ihn bewegen, vom Kampfe abzuſtehen.
Mit Nichiren hatte die religiöſe Bewegung ihren
Höhepunkt erreicht 1), aber nicht um nun langſam wieder
herabzuſinken, ſondern um mit einem Schlage zum Still-
ſtand zu kommen. Eben noch feurige Glut und im
nächſten Augenblick erſtarrte Lava. Dieſelbe impulſive
Art, die ſich ſo manchmal in der japaniſchen Geſchichte
offenbart und die ſich in dem einzelnen Japaner mikro-
kosmiſch widerſpiegelt, finden wir auch hier. Die
[232] Folgezeit, welche wieder an die früheren Zuſtände an-
knüpfte, war der Lehrer des dreizehnten Jahrhunderts
nicht würdig. Der Buddhismus entwickelte keine be-
ſondere Kraft, und als in der Mitte des ſechzehnten
Jahrhunderts die Jeſuiten ihren Einzug hielten, waren
die geiſtigen Waffen der Bonzen ſtumpf und wirkungslos
geworden. In dieſer Ohnmacht des Buddhismus hat
man einen wichtigen Grund der raſchen Ausbreitung
des jeſuitiſchen Chriſtentums zu ſuchen. Aber wenn
auch die Mönche geiſtige Waffen nicht beſaßen, ſo
führten ſie doch das weltliche Schwert nach wie vor.
Wie ehedem, ſo machten ſie auch jetzt wieder den welt-
lichen Herrſchern zu ſchaffen, und als ſich die Mönche
des Hieizan mit Nobunagas Feinden wider dieſen ver-
bündeten, nahm Nobunaga das als eine willkommene
Gelegenheit, gründlich mit ihnen aufzuräumen. Er
überfiel ſie, und Tauſende ſollen in einem furchtbaren
Blutbad ihr Leben verloren haben.
Seitdem war ihre politiſche Macht gebrochen, und
die gewaltige Fauſt des Iyeyaſu, die ſich erdrückend
auf das Chriſtentum legte, ſorgte dafür, daß auch das
Mönchtum nicht wieder weltliche Gelüſte anwandelten.
Auch die Sphäre der höheren Bildung entzog er dem-
ſelben, doch ſetzte er es voll in ſeine religiöſen Rechte
ein und erwies ſich mitſamt ſeinen Nachfolgern als
treuer Sohn und Beſchützer des Buddhismus. Die
Tokugawa bekannten ſich zu der Jodoſekte, welche unter
ihnen ihre höchſte Blüte erreichte.
Inzwiſchen hatte mit dem Wiederaufbau des reinen
Shinto die Reaktion gegen den Buddhismus eingeſetzt
und gerade ſeine Beziehungen zum Shogunat ſollten
ihm zum Verderben werden. Die wuchtigen Schläge,
unter denen der Shogunenthron im Jahre 1868 zu-
[233] ſammenbrach, trafen auch deſſen getreuen Bundesgenoſſen
und Schützling. Dem Buddhismus wurde der Charakter
einer Staatsreligion genommen, die öffentlichen Unter-
ſtützungen wurden ihm entzogen, eine große Anzahl von
Tempeln geraubt, und ein beträchtlicher Teil ſeiner
Güter verſtaatlicht. Die Religion des Buddhismus iſt
Privatſache geworden, und kein Julianus der Zukunft
könnte das je wieder verändern.
Von einer Lehrentwicklung iſt in der ganzen langen
Geſchichte des japaniſchen Buddhismus, mit einziger
Ausnahme des 13. Jahrhunderts, nichts zu finden.
Man hat es hier zu aller Zeit mit einem Buddhismus
der Praxis, nicht aber der lehrhaften Theorie zu thun.
Manchmal, wenn eine Geſellſchaft von Europäern bei-
ſammen ſaß — gebildete Japaner ſind überhaupt über
derartige Dinge erhaben —, kam die Rede darauf, was
eigentlich japaniſcher Buddhismus ſei. Niemand aber
wußte eine Antwort zu geben. Man weiß, daß er als
kanoniſch das Mahayâna, japaniſch Daijō, das „Große
Vehikel“ des nordiſchen Buddhismus, anerkennt. Aber
in Wirklichkeit giebt es, abgeſehen von den wenigen
und verſchwommenen Unterſcheidungslehren der einzelnen
Sekten, keine lehrhaften Formeln, in denen ſich das
Weſen des praktiſchen Buddhismus ausdrücken ließe.
Die Katechismen, die jetzt herausgegeben werden,
ſind nichts weiter als Täuſchung; denn ſie ſind auf
Grund von Shakas urſprünglicher Lehre verfaßt
und entſprechen der gegenwärtigen Wirklichkeit keines-
wegs. Einem Teil der Prieſter mögen dieſe Lehren
nicht gerade unbekannt ſein; würde man aber einem
gutgläubigen Laien einen ſolchen Katechismus zeigen,
er würde ihm völlig fremd ſein. Theologie hat man
trotz der religiöſen Bewegung des 13. Jahrhunderts
[234] ſo gut wie gar nicht gekannt. Man hat ſich nicht
einmal die Mühe genommen, die Heiligen Schriften
in die Landesſprache zu überſetzen. Die Prieſter be-
nutzen chineſiſche oder in „Bonji“, einem verballhorni-
ſierten Sanskrit, geſchriebene Ausgaben, das Volk benutzt
überhaupt keine. Ein paar nicht einmal bedeutende
Interpretationen, ein paar Schriften hervorragender
Reformatoren, das iſt ſo ziemlich alles, was auf theolo-
giſchem Gebiet geſchehen iſt.
Ich hatte ſelbſt eine treffliche Gelegenheit, mich
davon zu überzeugen. Eines Tages wurde mir Beſuch
angekündigt von D. Ernſt Faber in Shanghai, gleich-
falls Miſſionar des Allg. Ev.-Prot. Miſſionsvereins,
der ſeit mehr als drei Jahrzehnten in China thätig iſt
und als einer der bedeutendſten Sinologen (Kenner der
chineſiſchen Klaſſiker) der Gegenwart ſich um die Er-
forſchung der chineſiſchen Religions- und Moralſyſteme
die höchſten Verdienſte erworben hat. Er ſchrieb dabei,
daß er nachforſchen wolle, ob und inwieweit die Japaner
den Konfuzianismus und den Buddhismus verarbeitet
hätten. Ich ſelbſt traf ſo gut als möglich die Vorberei-
tungen, ſetzte mich mit den beſten Kennern des Buddhismus
in Verbindung, und als D. Faber kam, führte ich ihnen den-
ſelben zu. Seine Ausbeute war aber äußerſt gering. Die
Japaner haben eben den Buddhismus ebenſo wenig verar-
beitet wie den Konfuzianismus. Wohin aber eine Religion
ohne Theologie kommt, dafür haben wir in dem japa-
niſchen Buddhismus noch ein beſſeres und ſchlagenderes
Beiſpiel als in dem Katholizismus Spaniens. Losgelöſt
von wiſſenſchaftlicher Betrachtung, lediglich der rohen
Populariſierung preisgegeben, verliert ſich jede Religion
notwendig in grobſinnlichen Aberglauben. Die Theologie
iſt die treue und ſelbſtloſe Magd, die mit der Schaufel
[235] in der Hand neben den reinen Quellen der Religion
ſteht und den Schutt und Unrat, der in dem achtloſen
Getriebe des Alltags maſſenhaft darauf herunterfällt,
ſorgſam wegſchaufelt und die Quellen in kryſtallheller
Klarheit immer aufs neue wieder bloßlegt. Bei dem
Buddhismus ſind dieſe Quellen gänzlich verſchüttet, und
wer das buddhiſtiſche Treiben der Gegenwart in Japan
mit eigenen Augen geſehen hat, der weiß, daß jene
Buddhaprieſter eine glückliche Stunde der Selbſter-
kenntnis hatten, als ſie erklärten, wenn Shaka heute
wieder zur Erde käme, würde er in dem heutigen Zerr-
bild des Buddhismus ſeine Lehre nicht wieder erkennen.
Wenn es ſchon von allen Religionen gilt, daß ſie von
der Höhe ihrer Stifter bedeutend herabſanken, ſo gilt das
vielleicht von keiner ſo ſehr wie von dem Buddhismus.
Eine wahrheitsgetreue Schilderung des japaniſchen
Buddhismus klingt geradezu lächerlich. Wenn man in
einen recht populären „tera“ eintritt, wie z. B. in den
Aſakuſatempel in Tokyo, ſo ſieht man vor lauter Götzen-
bildern keinen Tempel mehr. Da ſtehen ſie, eines neben
dem andern, eines grotesker als das andere. Im An-
fang als ich hinüber kam, dachte ich idealiſtiſch hoch
auch noch vom Götzendienſt. Die Heiden, ſo meinte ich,
beten doch gewiß nicht zu dem Holz oder Stein oder
Metall, daraus der Götze gefertigt iſt; ſie beten vielmehr
den Geiſt an, den ſie dahinter ſich denken. Mir ſchwebte
dabei dunkel etwas vor wie von der Anbetung des un-
bekannten Gottes. Es hat mir leid genug gethan, als
ich bald ſchon von dieſer Anſicht zurückkommen mußte.
Es iſt ein ganz ſtumpfſinniges, gedankenloſes Anbeten
der Materie, das ſie verrichten; an einen Geiſt, der da-
hinter ſteht, denken ſie nicht.
Man urteilt in weiten Kreiſen der Chriſtenheit
[236] ziemlich harmlos über den Götzendienſt. „Laßt ſie doch;
es ſchadet ja nichts; die Götzen ſind ja tot und können
ihnen nichts Böſes thun“. Ob das wirklich ſo iſt, ob
ſie ihnen wirklich nichts Böſes thun? Dann könnte es
ja ſchließlich keinen ſo großen Unterſchied machen, ob
man zu dem einen Gott und Vater im Himmel betet
oder zu den Götzen! Und doch liegt das Gegenteil klar
zu Tage. Der tiefſte Grund, aus dem heraus das
innerſte Weſen eines Volkes geboren wird, iſt doch wohl
ſeine Religion; und die höchſten Ziele, denen ein Volk
zuſtrebt, werden ihm doch wohl durch ſeine Religion
gewieſen. Wohl iſt es bis zu einem gewiſſen Grade
wahr, daß ein Volk ſich ſeine Religion macht; aber
ebenſo wahr bleibt das andere, daß ein Volk nach ſeinem
inneren Weſen erſt durch ſeine Religion gemacht wird.
Ein Volk iſt ſo wie die Religion, aus der es heraus-
wächſt; ein Volk wird ſchließlich ähnlich den Idealen,
die ſeine Religion ihm weiſt. Iſt eine Religion eine
geiſtige, ſo wird ſie allmählich das Weſen eines
Menſchen und Volkes vergeiſtigen. Wir hätten uns
nimmermehr zu der jetzigen hohen Stufe der Geiſtes-
kultur erhoben, wenn wir nicht als Grund und Ziel
einen Gott hätten, der Geiſt iſt. Und ſolange ein Volk
den geiſtigen Gott nicht kennt, ſolange wird ihm jeder
höhere Geiſtesflug ſchwer, wenn nicht unmöglich ſein.
Es mag Fortſchritte im Materiellen machen, aber die
Vertiefung des inneren Lebens wird ihm kaum gelingen,
und auf eine hohe Stufe des Geiſtes wird es ſich nicht
erheben. Denn ſolange es noch zu Götzen aus Holz,
Stein und Erz betet, bleibt es mit ſeinem ganzen
Denken, Fühlen und Wollen an die Materie, an die
ſinnliche, vergängliche Welt gebannt. Und doch kann
ein Menſch nicht zu dauerndem Glück gelangen, wenn
[237] nicht ſeine Ideale im Ewigen und Unvergänglichen
gewurzelt ſind. Und darum ſage ich: Die Götzen, die
ſcheinbar ſo harmlos dumm grinſend in die Welt
hineinſchauen, ſie ſind die böſen Geiſter der Heiden, ſie
hängen ſich mit ihrer ganzen materiellen Schwere an
die Seelen der Heiden, daß ſie den Flug nach oben
nicht thun können. Die Götzen ſchaffen immer auf das
Neue wieder die materielle Weltanſchauung der Heiden
und halten ſie feſt in geiſtiger Beſchränktheit und ſitt-
licher Verkommenheit. Was kann aus einem Volke
werden, deſſen höchſte Ideale in dieſen Götzen verkörpert
ſind! Da erklärt ſich leicht, warum die Heilige Schrift
ſo ſehr gegen den Götzendienſt eifert, warum der Apoſtel
Paulus von den Götzen nicht nur als von toten und
nichtſeienden (1. Kor. 8, 4), ſondern auch als von
Dämonen, d. h. böſen Geiſtern und Göttern redet
(1. Kor. 10, 20). Die Götzen, wenn ſie gleich ſchwach
und armſelig ſind (Gal. 4, 9), ſind die Urheber des
ganzen geiſtigen Elendes der Heidenwelt und die wich-
tigſte Erkenntnis, die es für dieſe giebt, heißt: „Gott
iſt Geiſt, und die ihn anbeten, müſſen ihn im Geiſt und
in der Wahrheit anbeten“.
Gegenüber dieſem Einen ſind alle äußeren Ge-
brechen des Heidentums, wie die Witwenverbrennungen
in Indien, die Kinderausſetzung in China und ſelbſt
der Kannibalismus der Südſeeinſulaner, nur Neben-
ſachen. Sie ſind nur die Folgen der Götzenverehrung,
und wenn ſie auch zu ihrer Zeit treffliche Illuſtrationen
abgeben, ſo iſt doch nicht auf ſie, ſondern auf die geiſtige
Not des Götzendienſtes das Hauptgewicht zu legen. Es
iſt eine Erfahrung, die durch die Urteile vieler und
nicht der ſchlechteſten Laien beſtätigt wird, daß gerade
die Miſſionskreiſe in dieſer Beziehung manches gefehlt
[238] haben. Man konnte ſich in grobſinnlicher, maſſiver,
nicht ſelten auch übertriebener Ausmalung heidniſcher
Greuel vielfach nicht genug thun; man kommt damit
dem Sinnenkitzel und Gruſelbedürfnis der niedrigen
Inſtinkte entgegen, aber den feineren Geſchmack und die
beſſeren Empfindungen ſtößt man ab.
Unter den Tauſenden von buddhiſtiſchen Göttern
iſt am ſchlechteſten eigentlich Buddha ſelbſt weggekommen.
Zwar hat man es nicht unterlaſſen können, ihn, den
Atheiſten, der von keiner Gottheit wiſſen wollte, theo-
retiſch zu dem oberſten der Götter zu erheben, aber
praktiſch iſt er ſo gut wie zur Ruhe geſetzt. Ihm iſt
es gegangen wie unſerm Herrgott bei einem Teil ſeines
chriſtlichen Volkes. Den großen Gott im Himmel
droben, der ſo unendlich heilig und erhaben über der
ſündigen Welt thront, konnte man nicht begreifen und
erfaſſen, man fühlte ſich ihm fremd und fern, und gern
iſt man etwas tiefer herabgeſtiegen zu ſolchen, die der
Menſchheit näher ſtehen, zu der freundlichen Himmels-
königin Maria und zu den Heiligen. So war auch
der „Erleuchtete“ dem Volke zu hoch, man konnte ihn
nicht verſtehen, und ſo hält man ſich denn lieber an
Götter gewöhnlicheren Schlags.
In dem Vordergrund ſteht der freundliche Himmels-
könig Amida, der nach chineſiſchem Vorbild auch in
Japan ganz die Stelle Buddhas eingenommen hat.
Keine Gebetsformel wird ſo oft geſprochen als die:
„Namu Amida Butſu“. Die eigentlichen Penaten oder
Hausgötter ſind die ſieben Glücksgötter, nämlich die
Götter des Ruhms, der Liebe, der Geſcheitheit, des
Reichtums, der Nahrungsmittel, der Zufriedenheit und
des langen Lebens. Beſonders beliebt ſind, dem Ge-
ſchmack der Menge entſprechend, Daikoku, der Gott des
[239] Reichtums mit einem vollgefüllten Sack auf dem Rücken,
und Ebiſu, der Gott der Nahrungsmittel, mit einem
Fiſch auf dem Arm; das Geld und der Magen ſpielen
bei der Durchſchnittsmenſchheit halt doch die erſte Rolle.
Ihre grotesken Figuren ſind in den meiſten Häuſern
zu finden, und in den Häuſern der Europäer ſieht man
ſie vielfach unter den Nippſachen.
Bei populären Tempeln ſieht man ſchon am Ein-
gangsthor zu beiden Seiten der Thüröffnung hinter
einem Gitterwerk zwei große Holzfiguren, die Bildniſſe
rieſenhafter Männer. Sie ſind dargeſtellt wie im Kampf
mit irgend einem unſichtbaren Feind, die Muskeln ihres
Körpers treten ſtraff hervor, und ihre Geſichtszüge ſind
verzerrt. Sie verdienen im beſten Sinne des Wortes
greulich genannt zu werden, und könnten eigentlich die
Leute eher vom Eintritt in den Tempel abſchrecken als
zu demſelben anlocken. Bei ſolchem Ausſehen iſt es
ſchwer zu begreifen, wie ſie zu dem ſchönen Namen
Niō-sama, d. h. ehrwürdige Könige, kommen, und die
weniger reſpektvolle Bezeichnung „rote und grüne
Teufel“ (nach der Farbe ihres Anſtrichs) erſcheint zu-
treffender. Nach einer gelehrten Theorie ſind es die
in den Buddhismus übernommenen Hindugötter Brahma
und Narayana 1), alſo mit die höchſten Götter des Brah-
manismus, die gegenüber der unendlichen Erhabenheit
eines Buddha gerade noch für gut genug befunden
wurden, um als Tempelwächter die böſen Geiſter abzu-
wehren. Bei näherem Hinſchauen bemerkt man, daß
die Leiber dieſer Rieſen über und über mit kleinen
runden Papierklümpchen bedeckt ſind. Wenn nämlich
[240] jemand ein Anliegen hat, ſo ſchreibt er dasſelbe auf
ein Stück Papier, verkaut dieſes im Munde, ballt es
zu einem Klümpchen zuſammen und ſpeit es dem Niō
an. Bleibt es hängen, ſo wird die Bitte erhört, fällt
es aber ab, ſo findet ſie keine Gewährung und der
Bittgänger mag dann ein anderes Mittel verſuchen,
um zu ſeinem Ziele zu kommen.
Es giebt eine Reihe von Göttern, die von nicht
minder gewöhnlicher Art ſind, und gerade ſie erfreuen
ſich großer Beliebtheit. Wer den großen Tempel von
Aſakuſa beſucht, dem fällt vor allem ein hotoke auf,
welcher ſchon durch ſein abgenutztes Äußere beweiſt,
daß er in großer Gunſt bei dem Volke ſteht. Hände
und Füße und andere Körperteile des Götzen ſind faſt
vollſtändig durchgeſcheuert, die Naſe iſt ſo ſehr abge-
rieben, daß ſie nicht mehr nach außen, ſondern nach
innen ſich erſtreckt, ein Anblick, der mehr zum Lachen
als zur Andacht reizt. Der merkwürdige Gott iſt der
Wunderdoktor Binzuru, welcher, wie der berühmte
Doktor Eiſenbart, die Leute kuriert nach ſeiner Art.
Wenn nämlich jemand eine Naſenkrankheit hat oder an
irgend einem anderen Glied leidet, ſo reibt er mit der
Hand den entſprechenden Körperteil des hotoke, und der
Wunderdoktor Binzuru ſorgt für das Weitere.
Den Ehrenplatz im Aſakuſatempel nimmt eine
Gottheit edlerer Art ein, welche als die ſympathiſchſte
Erſcheinung der japaniſchen Götterwelt bezeichnet werden
darf. Es iſt die Göttin der Barmherzigkeit, Kwannon
genannt. Von ihr wird erzählt, daß ſie, als ſie die
höchſte Stufe der Vollkommenheit erreicht hatte, es
verſchmähte, in das Nirwana, den Zuſtand ſeligen Ver-
geſſens, einzugehen. Sie wollte lieber da verweilen,
wo ſie die flehenden Bitten und Angſtrufe der armen
[241] Menſchen hören konnte, um ihnen beiſtehen zu können
in ihrer Not. Sie wird zuweilen dargeſtellt mit meh-
reren Köpfen, faſt immer aber mit einer großen Anzahl,
eigentlich tauſend, Händen. Das ſieht ſich zwar ſonder-
bar genug an; aber es iſt doch ein ſchöner Zug, welchen
das Heidentum hier aufweiſt: Die Göttin der Barm-
herzigkeit ſtreckt den auf dem flutenden Ocean des Lebens
treibenden Menſchen tauſend Hände entgegen, um ſie
an das rettende Ufer zu bringen.
Der praktiſche Buddhismus geht in der Götzen-
anbetung nicht auf; der ganze Apparat von Aberglauben,
welcher ſich an andern Orten als eine unvermeidliche
Beigabe des Heidentums erweiſt, findet ſich auch hier.
Mancher, der dem Gotte ſeine Verehrung bezeugt hat,
geht darnach zum Prieſter hin, um ſich ein „ō fuda“
zu kaufen. Das ō fuda (fuda = Karte; ō iſt Reſpekts-
partikel) iſt ein Kärtchen, auf welchem in der heiligen
Bonjiſchrift geheimnisvolle Charaktere gemalt ſind,
während unten zur Beglaubigung das große Siegel
des Tempels angebracht iſt. Das ō fuda enthält einen
Zauber, und zwar kann man einen Zauber bekommen
gegen alles Mögliche und noch einiges mehr, je nach
Wunſch. Das eine hilft gegen Cholera, das andere
gegen die Pocken, ein drittes bringt Glück in den Haus-
halt, ein anderes verhilft zu langem Leben und wieder
eines bannt die gefürchteten „oni“, die böſen Geiſter,
vom Hauſe, ſolange es in demſelben aufbewahrt wird,
gleichwie nach chriſtlichem Aberglauben der Teufel kehrt
macht vor der Hausthür, auf welcher ein Kreuz ge-
zeichnet iſt. Es giebt große und kleine, billige und
teuere ō fuda.
Von den ō fuda bis zu Amuletten aller Art iſt
nur ein kleiner Schritt — überall und ſo auch hier.
16
[242] Und wie man es auch in höher ſtehenden Religionen
fertig gebracht hat, heiliges Waſſer und heilige Erde
zu verkaufen, welche für das gemeine Volk ſofort zu
Zaubermitteln werden, ſo macht man auch hier mit
heiligem Waſſer, heiligem Sand und anderem mehr
gute Geſchäfte. Beſonders ſind es die alten Sekten
Tendai und Shingon, welche dieſe Auswüchſe des Aber-
glaubens kultivieren, und wenn es auch kaum noch einen
Prieſter giebt, der ſelbſt an die Zauberkraft des ō fuda
glaubt, ſo iſt doch auch hier das tröſtliche Bewußtſein
„pecunia non olet“ ſtärker als alle etwaigen Gewiſſens-
ſkrupel.
Immer aber ſind es kleine Anliegen und alltägliche
Sorgen, welche die Gläubigen auf dem Herzen haben,
ſowohl bei den ō fuda und Amuletten als bei der An-
betung der Götzen. Daß der hotoke auch in den großen
Nöten des Lebens, in der Angſt des Gewiſſens und in
der Nacht des Todes helfen könne, dazu hält man ihn
entweder für unvermögend, oder aber man läßt ſich von
derartigen Gedanken überhaupt das Herz nicht viel be-
ſchweren. Iſt es doch eine gemeine Erfahrung, daß
Leute, die auf einer niedrigen Stufe der Geiſteskultur
ſtehen, ſich von den kleinen Sorgen des Daſeins weit
mehr bedrückt fühlen als von den großen geiſtigen
Feinden der Menſchheit. Und doch kann auch einem
Heiden das Gewiſſen ſchlagen, oder, daß ich es beſſer
ſage, auch ein Heide fürchtet zuweilen, für begangenes
Unrecht von der Gottheit beſtraft zu werden; und da
das Fegefeuer für den Heiden eine ebenſowenig tröſtliche
Ausſicht iſt wie für den Katholiken, ſo macht er es
gerade wie der Katholik zu Tetzels Zeiten: Er geht
zum Prieſter und kauft ſich ein ō fuda, diesmal einen
richtigen Ablaßzettel, der gegen dieſe oder jene Geld-
[243] oder Gebetsleiſtung Ablaß der Sündenſtrafe verbürgt;
oder aber, wenn er noch etwas mehr thun will, ein
opus supererogativum, unternimmt er eine Wallfahrt.
Überhaupt iſt die Ähnlichkeit zwiſchen modernem
Buddhismus und römiſchem Katholizismus (der ruſſiſch-
griechiſche übrigens nicht ausgeſchloſſen) eine ganz auf-
fallende. Und zwar nicht nur in äußeren Dingen.
Denn die Lehren von der Verehrung der Heiligen, von
Himmel und Hölle, von einem künftigen Gericht, vom
Fegefeuer, vom Ablaß, vom verdienſtlichen Werk beziehen
ſich nicht auf Außendinge, ſondern auf den Kern der
religiöſen Lehrauffaſſung. Freilich viel frappanter iſt
die Ähnlichkeit in Bezug auf Organiſation und Formen.
Die hierarchiſche Ordnung iſt im Buddhismus eine ganz
ähnliche wie im Katholizismus. Auch hier läßt ſich von
Erzbiſchöfen, Biſchöfen, Äbten und Prieſtern reden,
und der buddhiſtiſche Biſchof hat ſeinen Hirten- oder
Krummſtab ſo gut wie der katholiſche. Auch hier
nimmt der Klerus eine eſoteriſche Stellung über dem
„Volk“ ein, und die beſondere höhere Sittlichkeit für
die Eingeweihten bezw. Geiſtlichen, welche der Katho-
lizismus erſt im Laufe der Zeit einſchmuggelte, wurde
von dem Buddhismus ſchon von Anfang an gelehrt.
Auch hier iſt darum der geiſtliche Stand auch äußerlich
gekennzeichnet. Der Bonze (jap. „bōzu“) hat ſein
Prieſtergewand wie der katholiſche Geiſtliche, und beide
Bekleidungen ſehen ſich noch dazu recht ähnlich. Die
gewöhnliche Tracht iſt von ſchwarzgrauer Farbe; bei
feierlichen Amtshandlungen aber vertauſcht man dieſes
einfache Kleid mit einem farbenprächtigen Gewand,
welches wiederum ſtark an die katholiſche Amtstracht
erinnert. Dasſelbe iſt je nach der Anſehnlichkeit und
dem Reichtum des Tempels mitunter ſehr koſtbar, und
16*
[244] prächtige Seiden- und Goldſtickereien ſind keine Selten-
heit. Es iſt ein prunkvolles Schauſpiel, bei hervor-
ragenden Beerdigungen oder ſonſt einer beſonderen
Feierlichkeit Dutzende von Prieſtern bei einander zu
ſehen, in Gewändern eines prächtiger als das andere,
und wenn in eintönig ſingendem Ton die Litaneien
und Reſponſorien ertönen und die anbetenden Ver-
neigungen der knieenden Prieſter erfolgen und die
Weihrauchkeſſel geſchwenkt werden, daß einem der eigen-
tümliche und ſo wohlbekannte Geruch in die Naſe ſteigt,
ſo gehört keine übergroße Phantaſie dazu, um ſich in
einen katholiſchen Gottesdienſt oder in eine Ritualkirche
Englands verſetzt zu fühlen.
Auch der Bonze hat die Tonſur, nur daß er ſich
nicht mit einer kleinen kahlen Stelle auf dem Hinter-
haupt begnügt, ſondern den ganzen Kopf glatt raſiert.
Auch für den Bonzen gilt das Gebot der Eheloſigkeit
— mit einziger Ausnahme der Shinſekte. Das Mönch-
tum exiſtiert hier wie dort, und hier wie dort beſteht
neben dem Cölibatsgelübde auch das der freiwilligen
Armut. Hier wie dort leben die Mönche bald in
Klöſtern zuſammen, bald als Einſiedler in Klauſen.
Bei beiden hat das Faſten eine bedeutungsvolle Stelle,
und ſtrenger Asketismus und Quietismus blüht neben
Üppigkeit und Lüderlichkeit. Da ſind kaum irgend welche
Auswüchſe, die ſich nicht bei den einen genau ſo fänden
wie bei den andern, und wenn auch nicht der welt-
freundliche japaniſche, ſo hat doch der weltflüchtige in-
diſche Buddhismus genau dasſelbe Kurioſum aufzuweiſen
wie das chriſtliche Mönchtum Ägyptens: Ich meine die
Styliten, jene merkwürdigen Heiligen, welche, abgeſchieden
von der Welt, ihr ſündiges Weſen auf Säulen (Pyra-
miden ꝛc.) verbüßen. Giebt es auch Nonnen in Japan
[245] nicht ſehr viele, ſo fehlen ſie doch keineswegs, und wer
ſich auch nur kurze Zeit im Lande aufhält, dem kann
auch die eigentümliche Erſcheinung der Bettelmönche
nicht entgangen ſein. Mit großen Hüten, die ſich wie
umgekehrt auf den Kopf geſtülpte rieſige Schüſſeln aus-
nehmen, in mönchiſcher Tracht, gehen ſie, die nimmer
ruhende Schelle in der Hand, von Haus zu Haus und
nehmen, unter fortwährendem eintönigem Ableiern ihrer
Bitte, die aus der kleinſten Kupfermünze beſtehenden
Gaben in Empfang, und bei keinem Hauſe gehen ſie
leer aus.
Der Roſenkranz, der bei den Katholiken eine ſo
große Rolle ſpielt, iſt bei den Buddhiſten nicht weniger
im Gebrauch. Ich habe mir in Oſaka in der Nähe
eines tera einen Roſenkranz gekauft, welchen ein Pro-
teſtant, der nicht ganz genau in die Geheimniſſe dieſer
Art eingeweiht iſt, nimmermehr von einem katholiſchen
unterſcheiden könnte. Vor kurzem erſt erhielt ich einen
„an das Pfarramt“ gerichteten Brief aus Japan. Als
ich ihn öffnete, fiel mir eine Photographie entgegen,
zwei knieende Japaner mit Roſenkränzen in den Händen.
Ich konnte mir gar nicht erklären, wie dieſe frommen
Buddhagläubigen dazu kamen, mich mit ihrem Bilde zu
beehren. Erſt als ich das Begleitſchreiben las, in
welchem ein „apoſtoliſcher“ Miſſionar davon redete, die
Jungfrau Maria habe ihm offenbart, daß einige fromme
Perſonen große Geldſummen zum Bau einer großen
Kirche in der Stadt Kumamoto zu ſpenden gewillt ſeien,
und daß man jetzt auf der Suche nach dieſen Perſonen
ſei, erkannte ich zu meiner eigenen Überraſchung, daß
das ja japaniſche katholiſche Evangeliſten ſein ſollten.
Der Brief war irrtümlich an das proteſtantiſche ſtatt
an das katholiſche Pfarramt gekommen. Der Roſen-
[246] kranz iſt hier wie dort ein Beweis, welches Gewicht auf
die Quantität gelegt wird. Die Shingon- und Tendai-
ſekten aber ziehen von dieſer Grundlage aus die letzte
Konſequenz: Um es zu einer möglichſt großen Menge
von Gebeten zu bringen, gebrauchen ſie die Gebets-
maſchine (rimbō), welche im übrigen von den buddhi-
ſtiſchen Sekten Japans verworfen wird.
Die Reliquienverehrung iſt im Buddhismus nicht
minder ausgeprägt wie im Katholizismus, und es iſt
höchſt wahrſcheinlich, daß die erſten buddhiſtiſchen Tempel
(Pagoden) lediglich zur Aufbewahrung von Reliquien dien-
ten, bis dann allmählich das Heer der Götzen ſeinen Einzug
in ihnen hielt. Wie der gläubige Katholik gern eine
Wallfahrt unternimmt, um an den heiligen Stätten zu
beten, wo die ſichtbaren Erinnerungen an die Heiligen
aufbewahrt werden, ſo giebt es auch in Japan eine
Anzahl von Heiligtümern, zu welchen alljährlich Tauſende
und Abertauſende von Pilgern Wallfahrten unternehmen,
zuweilen aus den entfernteſten Gegenden des Landes.
Die katholiſchen Heiligenbilder ſehen den buddhiſtiſchen
und auch den hotoke, ſoweit ſie nicht phantaſtiſch-grotesker
Art ſind, nicht unähnlich. Beide haben in auffallendſter
Weiſe den Heiligenſchein gemeinſam, und wer die
Himmelskönigin Kwannon ſieht, die ſich neben dem
Buddha am meiſten die indiſchen Züge bewahrt hat,
kann ſich des Gedankens an das Bild der Himmels-
königin Maria nicht entſchlagen. Feierliche und prunk-
volle Prozeſſionen ſind dem Buddhismus nicht unbekannt,
und von den Ritualgebeten der Prieſter verſteht der
buddhiſtiſche Laie genau ſo viel wie der katholiſche,
nämlich nichts, weil für beide Religionen die Kirchen-
ſprache eine andere iſt als die Landesſprache.
Zu ſuchen braucht man nicht nach Ähnlichkeiten,
[247] ſie drängen ſich auf Schritt und Tritt auf. Was Wunder,
wenn die erſten katholiſchen Miſſionare in China ihren
Sinnen nicht trauen wollten, als ſie ſolches ſahen, was
Wunder, wenn der bekannte Pater Huc keine andere
Erklärung dafür wußte, als daß es eine Mache des
Teufels ſei! Schade nur, daß ſich die ſkeptiſchen Gelehrten
mit dieſer deus — oder vielmehr diabolus — ex machina-
Erklärung nicht zufrieden geben wollen; ſie brauchten
ſich dann nicht weiter die Köpfe zu zerbrechen. Noch
iſt keine Erklärung gefunden, auf welche ſich die Forſcher
einigen könnten. Noch ſchwebt die Frage: Iſt das
Chriſtentum abhängig vom Buddhismus? oder hat der
Buddhismus vom Chriſtentum entlehnt? oder haben ſich
beide gegenſeitig ausgeholfen? Für das erſte ſpricht
der Umſtand, daß der Buddhismus um 600 Jahre älter
iſt als das Chriſtentum. Gleichwohl iſt eine Abhängig-
keit vom Buddhismus durchaus nicht anzunehmen. Hätten
derartige intime Berührungen zwiſchen den beiden
Religionen ſtattgefunden, ſo hätte uns das bei der
umfangreichen und eingehenden chriſtlichen Litteratur
der erſten Jahrhunderte nicht unbekannt bleiben können.
So aber iſt von dem Buddhismus oder überhaupt einer
indiſchen oder chineſiſchen Religion in den chriſtlichen
Schriften weder dem Namen noch der Sache nach irgend
eine Spur zu finden. So hätte alſo wohl der Buddhis-
mus aus dem Chriſtentum geſchöpft? Man weiſt darauf
hin, daß neſtorianiſche Miſſionare im vierten und fünften
Jahrhundert nach China kamen; von ihnen könnte der
Buddhismus alles das übernommen haben. Berühmte
Forſcher wie Eitel glauben hier die Erklärung ſuchen
zu müſſen. Es iſt aber mehr als zweifelhaft, ob jene
neſtorianiſchen Miſſionare ſelbſt ſchon im Beſitze dieſer
Eigentümlichkeiten geweſen ſind, und ebenſo unwahr-
[248] ſcheinlich iſt, daß der tauſend Jahre alte Buddhismus
bis dahin all dieſer Formen bar geweſen ſein ſoll. Es
muß alſo eine dritte Erklärung geben. Natürlich die
pſychologiſche! Es iſt gewiß zuzugeben, daß aus dem
Geiſt der beiden Religionen und den vulgären Inſtinkten
der religiöſen Maſſe heraus „zufällig“ und unabhängig
von einander ähnliche Formen geboren werden konnten,
und wenn die Ähnlichkeit allgemeiner Natur wäre, ſo
brauchte man nach einer andern Erklärung nicht weiter
zu ſuchen. Wo ſie ſich aber ſo auf das einzelne und
einzelnſte erſtreckt wie hier, genügt die pſychologiſche
Erklärung nicht. Wer mit eigenen Augen hineingeſchaut
hat, glaubt an die „Zufälligkeit“ der Ähnlichkeit nicht
mehr; gegenüber dieſen exakten Thatſachen iſt ihm nur
mit einer exakten d. h. geſchichtlichen Erklärung gedient.
Und zwar glaube ich, — ohne daß ich es freilich im
einzelnen Falle beweiſen könnte —, daß Buddhismus
und Chriſtentum aus den gleichen, von altersher beſtehen-
den Quellen geſchöpft haben. Wie der jüdiſch-chriſt-
liche Himmel mitſamt der Hölle erſt ſeit den Zeiten
des babyloniſchen Exils unter perſiſchem Einfluß be-
völkert wurde, ſo mögen bei der Ausgeſtaltung von
Himmel und Hölle im Buddhismus die gleichen Einflüſſe
nach Oſten hin wirkſam geweſen ſein. Und wenn die
eſoteriſche Stellung der Prieſterſchaft mitſamt den Idealen
des Mönchtums wohl kaum eine chriſtliche Neuſchöpfung
iſt, ſondern ſchon in dem ägyptiſchen Heidentum vor-
gebildet war, ſo kann ebendasſelbe ſchon um ſechshundert
Jahre früher auf der durch Alexander den Großen ge-
ſchlagenen Brücke den Weg nach Indien gefunden haben.
Um alſo eine hiſtoriſche Theſe in eine mathematiſche
Formel zu kleiden, ſo meine ich, daß die beiden Größen
des Buddhismus und des Chriſtentums darum und in-
[249] ſoweit unter ſich gleich ſind, als ſie dritte Größen zur
gemeinſamen Grundlage haben.
Wie die katholiſchen Kirchen ſo zeigen auch die
buddhiſtiſchen Tempel das Beſtreben, den Sinnen An-
regung zu bieten. Da iſt nichts von der puritaniſchen
Einfachheit der miya, und wo die Mittel zu gediegener
Prachtentfaltung fehlen — und das iſt ſo ziemlich bei
allen Dorftempeln der Fall —, ſucht man ſich durch
Schein und Flitterwerk, durch bunte Farben und Fähnchen
zu helfen. Die großen Tempel dagegen, allen voran
die von Nikkō, ſtrotzen oft von Gold und edlem Metall,
und wer die beſten Stücke japaniſcher Kunſt kennen
lernen will, muß zu ihnen gehen. Teils offen vor aller
Augen, teils in Schreinen findet ſich hier nicht ſelten
ein großer Reichtum an kunſtvoller Bronze und Por-
zellan, ſowie die herrlichſten Seiden- und Goldſtickereien
und die feinſten Gemälde. Leider hat es in den letzten
Jahrzehnten gewiſſenloſe Prieſter genug gegeben, welche
ſolche Perlen der Kunſt an Europäer und Amerikaner
verkauften; die bittere Not, welche ſeit der Säkulari-
ſierung bei den Bonzen eingezogen iſt, hat freilich die
Verſuchung dazu allzu nahe gelegt. Trotz alledem ſind
an dem tera die Formen des miya noch klar erkennbar,
nur daß dieſe Formen ornamentaliſch ausgeſtaltet ſind.
Selbſt das torii hat der Buddhismus übernommen, aber
er hat aus den einfachen Balken ein ſtilvolles Eingangs-
thor gemacht. Zwiſchen dieſem und dem Hauptgebäude
befinden ſich bei jedem anſehnlicheren Tempel den Ver-
bindungsweg entlang ſteinerne oder bronzene Laternen,
die jedoch nur zum Zierrat, nicht zum praktiſchen Ge-
brauch dienen. Außerdem ſtehen neben den bedeutendſten
tera des Landes fünf- bis ſiebenſtöckige Pagoden bis zu
200 Fuß hoch, die auch nichts weiter als Zierſtücke
[250] ſind, und die zur Seite des Tempels nur wenige Fuß
über der Erde aufgehängte Glocke, welche mittels eines
ſchwebenden Holzbalkens angeſchlagen wird, zeichnet ſich
in der Regel durch einen wunderbar reinen und ſym-
pathiſchen Ton aus.
Nicht wenige tera, und gerade die ſchönſten unter
ihnen, werden zu gottesdienſtlichen Zwecken ſo gut wie
gar nicht gebraucht. Sie ſind Weihgeſchenke an die
hotoke, keine Stätten der Andacht; und den großen
Tōſhōgu in Nikkō, der dem als Gongen-ſama vergött-
lichten Iyeyaſu geweiht iſt, möchte ich eher eine Ge-
dächtnishalle, denn einen Götzentempel nennen. Dagegen
erfreuen ſich andere tera im höchſten Grade des religiöſen
Zuſpruchs des andächtigen Volks. Einen Sonntag
oder auch ſonſt einen beſtimmten Tag oder beſtimmte
Stunden zu gemeinſamer Andacht kennt der Buddhismus
nicht. Der Gläubige geht zum Tempel, je nachdem er
etwas auf dem Herzen hat, zu jeder Tageszeit, ja ſelbſt
bei Nacht. Bei den kleinen Tempeln, etwa auf dem
Dorf, iſt der Beſuch ſpärlich; da könnte man ſich ſtunden-
lang, mitunter ſelbſt tagelang hinſtellen, ohne daß ein
Beter zu ſehen wäre; aber ſind es auch durchſchnittlich
recht wenige Beſucher an einem Tage, ſo kommen die
Woche hindurch doch ſchließlich ſo viele zuſammen, als
am Sonntag in mancher chriſtlichen Kirche in Deutſch-
land zu ſehen ſind. In den populären Tempeln in den
großen Städten dagegen geht es beſtändig aus und ein
wie in einem Wirtshaus bei einer Kirchweihe. Und
in der That wird man an eine Kirchweihe oder einen
Jahrmarkt ſchon beim Näherkommen an den tera er-
innert. Da ſind vor dem Tempel entlang dem Zu-
gangsweg eine Reihe von Kaufbuden, wo man neben
Roſenkränzen, Räuchervaſen, Kerzen (die man vor den
[251] Götzen als Opfer anzündet), und kultiſchen Gegenſtänden
aller Art auch Kinderſpielzeug und anderes mehr haben
kann. Da ſind Gaukler und Akrobaten, die die feſtliche
Menge mit ihren Künſten erfreuen, [und] man hat Mühe,
ſich durch das Getümmel hindurchzuarbeiten. Am
Tempel angekommen ſieht man ſie eintreten, zumeiſt
ältere Frauen. In dem Vorraum (haiden) vor dem
Gitter, das ſie von dem Heiligen (honden) trennt, in
welchem die hotoke aufgeſtellt ſind und die Prieſter im
Chor ihre Gebete verrichten, an denen das Volk aber weder
aktiven noch paſſiven Anteil nimmt, ſtellen oder knieen
ſie ſich hin, in Ehrfurcht legen ſie die Handflächen flach
aufeinander, verneigen ſich tief mit der Stirn bis zum
Boden und murmeln ein paarmal ihre Gebetsformel
vor ſich hin. Nachdem ſie noch eine kleine Weile an-
dächtig den hotoke betrachtet haben, ſtehen ſie auf,
werfen eine kleine Kupfermünze in den Opferkaſten,
ſoweit ſie das nicht ſchon zu Anfang gethan haben, und
gehen davon; vielleicht um dem durch kein Gitterwerk
abgeſchloſſenen Binzuru-ſama oder einem andern Lieb-
ling noch einen Beſuch abzuſtatten, vielleicht um in das
feſtliche Getriebe draußen zurückzukehren. Auch der ge-
wöhnliche buddhiſtiſche Gottesdienſt dauert nicht mehr
als eine bis zwei Minuten.
Die Bonzen ſind nicht ganz ſo unbeſchäftigt wie
ihre Shintokollegen. Ihre Hauptarbeit iſt freilich auf
den Tempeldienſt beſchränkt. Seelſorge treiben auch ſie
nicht. Auch hier giebt es keine zuſammengehörigen
Gemeinden und kein Gemeindeleben. Bei der Geburt
und Eheſchließung haben ſie nichts zu thun. Dagegen
braucht man ſie beim Tode. Von Mitake aus kam ich
einſt in ein benachbartes d. h. etwa drei Stunden ent-
ferntes Dorf und kehrte mit meinen beiden Studenten
[252] in ein Theehaus ein. Als wir uns in einem uns an-
gewieſenen Zimmer niedergelaſſen hatten, hörten wir
nebenan eine eintönig leiernde Stimme, ab und zu
unterbrochen von dem keuchenden Huſten eines Mannes.
Dort lag der Wirt des Theehauſes totkrank und vor
drei Tagen hatte man, wie uns die „Nēſan“ (bedienen-
des Theemädchen, eigentlich „ältere Schweſter“) erzählte,
einen „Yamabuſhi“ (Bergmönch) gerufen, um aus den
heiligen Schriften Gebete zu verleſen. Über eine Stunde
hielten wir uns dort auf, und während der ganzen Zeit
hörten wir ununterbrochen die eintönige Stimme des
Yamabuſhi und zuweilen das Huſten des Sterbenden.
Ein Jahr ſpäter kam ich wieder dahin und erkundigte
mich dabei nach dem „Teiſhu“ (Wirt). „Der iſt vor
Jahresfriſt geſtorben“, hieß es. Die Beerdigung weit-
aus der meiſten Toten, die übrigens in Japan bei
ebenſo guten als billigen Verhältniſſen zu einem großen
Teil verbrannt werden, geſchieht faſt immer nach bud-
dhiſtiſchem Ritual. Selbſt derjenige, welcher in ſeinem
Leben von dem Buddhismus nichts wiſſen wollte, wird
im Tode noch ein Buddhiſt.
Einige Prieſter ſind ſogar ſo eifrig, daß ſie predigen.
Die Predigt iſt im Buddhismus von altersher nicht
unbekannt, aber eine große Rolle hat ſie nie geſpielt.
Die Predigten, die heute, freilich keineswegs allgemein
und regelmäßig, gehalten werden, haben nicht viele
Zuhörer, trotzdem das Geſagte nach Form und Inhalt
oft Treffliches bietet. Am meiſten thun in dieſer Be-
ziehung die Prieſter der Nichirenſekte, welche als die
eifrigſten und thätigſten, und die der Shinſekte, welche
als die gebildetſten und modernſten Bonzen gelten.
Unter ihnen haben in unſerer Zeit nicht wenige ver-
ſucht, das Chriſtentum mit den Waffen moderner Wiſſen-
[253] ſchaft zu bekämpfen. Auch die Shingon-, Tendai- und
Zenprieſter ſtehen bei dem Volk im Rufe der Gelehr-
ſamkeit. Ihm macht es gewaltigen Eindruck, daß die
Bonzen dieſer Sekten die geheimnisvollen Bonjizeichen
zu entziffern verſtehen. In Wirklichkeit aber iſt es
mit der Gelehrſamkeit nicht weit her. Die Bonzen
leſen eben in der Regel nur dem Laut nach, ohne den
Sinn oder auch nur die einzelnen Worte zu verſtehen,
gerade wie wenn bei uns jemand, dem von der hebräiſchen
Sprache nichts weiter bekannt iſt als die Buchſtaben,
das Alte Teſtament im Urtext lieſt.
Im ganzen ſind die Prieſter als unwiſſend zu be-
zeichnen. Eine papageimäßige Abrichtung, das iſt ſo
ziemlich alles. Was ſie zu arbeiten haben, iſt nicht ſo
viel, daß ſie nicht noch ſehr viel Zeit fänden, — nicht
etwa ſich weiter zu bilden, ſondern auf ihren Stroh-
matten zu liegen und zu ſchlafen. Und es iſt gut,
wenn ſie das thun, damit ſie nicht auf andere, recht
böſe Abwege geraten. Denn die Sittlichkeit der Bonzen
erfreut ſich keines guten Rufes. Der Bonze iſt vielfach
zum Geſpött geworden, und „bōzu“ iſt nicht ſelten ein
Schimpfwort. Als einer unſerer theologiſchen Schüler
zum Beſuch in ſeine Heimat kam, riefen ihm die Kinder
auf der Straße zum Zeichen der Verachtung „Yaſobōzu“
(Jeſusbonze) nach. Die Verachtung galt dabei ebenſo
ſehr dem Bonzen als dem Jeſusjünger. Es iſt keine
Ehre, Buddhaprieſter zu ſein, und ſelbſt ein armer
Bauer und Kuli ſieht es nicht gern, wenn ſein Sohn
ein Prieſter wird.
Ich habe einmal Gelegenheit gehabt, einen ſehr
genau kennen zu lernen. Ich hielt mich damals auf
dem Land auf und wohnte neben dem Tempel des
Dorfes. Mit dem Bonzen ſtand ich in freundnachbar-
[254] lichem Verkehr; denn perſönlich ſind die wenigſten
Buddhaprieſter Fanatiker, wenn ſie auch jetzt gegen
die chriſtliche Miſſion ſcharf Front machen. Mein
Nachbar war bald ſo vertraut, daß er mich mit „kimi“
(Kollege) anredete. Er war ein unglaublich oberfläch-
licher Menſch, ſprach in eitler Selbſtüberhebung über
die Dummheit der Dorfbewohner, die ihn nicht ver-
ſtänden, ſpottete über das religiöſe Leben der Leute als
über einen Aberglauben und meinte, ſelbſt allein des
Lebens Rätſel gelöſt zu haben. Er gehörte nämlich
zur Zenſekte, welche durch Betonung der Meditation
dem Subjektivismus Thür und Thor öffnet, und wenn
er auch ſelbſt nie nach Vorſchrift meditierte, ſo war
ihm doch die unvergohrene „Philoſophie“, die er in
ſeinem dreißigjährigen unreifen Kopfe ohne jegliches
Studium zuſammengebraut hatte, alleinige Wahrheit.
Worin dieſe beſtand, hat er mir freilich nie verraten;
ſein ganzes ſehr lebhaftes Geſpräch war ein fortwährendes
Räſonnieren und Kritiſieren der Beſchränktheit anderer.
Er beſuchte mich tagtäglich, manchmal zwei- und drei-
mal; denn an mir glaubte er einen gefunden zu haben,
der ihn verſtehe und zu würdigen wiſſe. Bald ließ er
alle Schranken fallen und erzählte mir unter anderm
auch folgende Geſchichte, die zwar nicht äſthetiſch ſchön,
aber im Munde eines Bonzen immerhin charakteriſtiſch
klingt.
„Mein Nachbar“, ſagte er, „iſt noch ſehr beſchränkt
und abergläubiſch. Vor noch nicht langer Zeit hatte
er einen Schüler, den er zum Prieſteramt erzog 1).
Eines Morgens wollte der Kollege über Land. Zuvor
[255] bereitete er noch ſeinem hotoke das Opfer, (welches
auch hier wie im Schintoismus aus der alltäglichen
Speiſe des Volks beſteht), und nachdem er den Lehr-
ling ermahnt hatte, gut auf alles zu achten, ging er
davon. Kaum aber war er aus den Augen, da ſetzte
ſich der Lehrling nieder und aß das Opfer auf. Mit
einem Reſt von Reis aber beſchmierte er dem Götzen
den Mund. Am Abend kam der Herr ermüdet von
ſeinem Gange zurück und wollte ſich nun in Ruhe das
Opfer gut ſchmecken laſſen, das er am Morgen dem
hotoke vorgeſetzt hatte. Als er aber dem Lehrling
befahl, dasſelbe zu bringen, erklärte dieſer, es ſei nicht
mehr da, der Götze habe es aufgegeſſen. Der Prieſter
lachte: „Mein hotoke hat noch nie etwas gegeſſen, und
er kann auch nichts eſſen“. Statt jeglicher Antwort
führte ihn der Lehrling zu dem Götzen hin und zeigte
ihm die Reisſpuren an ſeinem Mund. Der Prieſter
wollte erſt ſeinen Augen nicht trauen, dann aber geriet
er in Zorn, wütend faßte er den hotoke am Kopf und
ſchrie: „So! gegeben haſt du mir noch nie etwas und
nun fängſt du auch noch an zu eſſen!“ Sprachs und
warf ihn zu Boden.
Für wahr habe ich die Geſchichte nie gehalten.
Es war eben Geflunker von ſeiten meines Nachbars wie
ſein übriges Geſchwätz auch; aber es iſt doch bezeichnend
im Munde eines Prieſters, und die Bezeichnung frivol
iſt wohl noch gelind für dasſelbe. Wie tief ihm
übrigens ſein Freidenkertum, mit dem er beſtändig
prahlte, ging, davon konnte ich mich jeden Abend über-
zeugen. Denn wenn er ſich gegen zehn Uhr von mir
verabſchiedete, hörte ich jedesmal kurz darauf ein drei-
maliges Händeklatſchen: Mein Prieſter verrichtete vor
ſeinem hotoke eine letzte Andacht.
[256]
Inwieweit eine Prieſterſchaft, die ſich trotz alles
zur Schau getragenen Ernſtes beim Begegnen mit einem
innerlichen Augurenlächeln begrüßt, im ſtande iſt, eine
ſinkende Religion zu ſtützen, iſt leicht zu ermeſſen.
Und doch, ſo ſehr das Volk ſeine Bonzen zu verſpotten
gewohnt iſt, ſo hat es doch wieder eine gewiſſe Scheu
vor ihnen. Es iſt dasſelbe Verhältnis wie im Katho-
lizismus zu Ausgang des Mittelalters. Auch damals
machte man ſich über die Prieſterſchaft luſtig, und doch
beherrſchten die Prieſter den Geiſt des Volks.
Darum erſcheint es ausgeſchloſſen, daß trotz dieſer
verkommenen Geſellſchaft der Buddhismus raſch ſeiner
Auflöſung entgegen geht. Zwar iſt er ſeit der Be-
ſchneidung ſeiner Einkünfte (1868) auch in der Zahl
ſeiner Tempel und Bonzen 1) zurückgegangen. Aber es
ſind doch feſte Ketten, mit denen die Zauberei (und
darauf läuft ja doch der praktiſche Buddhismus hinaus)
das Volk gefangen hält. In Kyōto ſah ich zwei neue
Tempel, die ſogen. Hongwanjitempel 2). Die alten
waren abgebrannt und waren nun neu wieder aufge-
baut worden. Ihre Herſtellungskoſten beliefen ſich auf
ein paar Millionen Mark. Das Geld war in über-
raſchend kurzer Zeit zuſammengekommen. Von weit
her waren die armen Leute aus dem niederen Volk
gekommen, um perſönlich ihre Beiträge zu bringen.
Ich ſah dort am Eingang der Tempelhalle Seile liegen,
welche dazu dienten, die Balken zum Bau des heiligen
[257] Hauſes herbeizuſchleppen. Die Seile bildeten große
Haufen. Dieſe ſämtlichen Seile waren aus Frauen-
haaren. Wie viele tauſend Frauen mögen da wohl
ihr Haar geopfert haben! Die japaniſchen Frauen be-
trachten ihr Haar als ihren Hauptſchmuck, aber willig
haben ſie ſich dieſes Schmuckes beraubt, um ihrer Re-
ligion willen thaten ſie es gern. Wo noch ſo viel
Operfreudigkeit zu finden iſt, da darf man nicht daran
denken, daß der Buddhismus von heute auf morgen
überwunden ſei, ſo verächtlich er auch ſcheinen mag.
Religionen, die Jahrtauſende gelebt, brauchen Jahr-
hunderte zum Sterben. In ferner Zeit noch, wo der
Buddhismus aus den Centren der Kultur längſt ſich
hat flüchten müſſen, werden draußen bei den „pagani“
(Landbewohnern) in Japans dunklen Bergen noch tera
ſtehen, und dort wird das „Namu Amida Butſu“ noch
nicht verklungen ſein.
Und doch, ſterben wird der Buddhismus. Wohl
macht man jetzt verzweifelte Verſuche, dem greiſenhaften,
geiſtloſen Organismus neues Leben einzuhauchen. Der
Konkurrenzkampf mit dem Chriſtentum hat den Buddhis-
mus zu praktiſcher Arbeit geſtachelt. Er verbreitet
Broſchüren und Flugblätter, giebt eine große Anzahl
zum Teil geſchickt redigierter Wochen- und Monats-
ſchriften heraus, ſucht ſich mit Krankenpflege zu be-
ſchäftigen, treibt hier und da Seelſorge in Gefängniſſen,
baut Waiſenhäuſer und Rettungsanſtalten und anderes
mehr. Wie der Kathliozismus durch den Proteſtantismus,
ſo hat der Buddhismus durch das Chriſtentum eine
Reihe neuer Impulſe erhalten. Ja, man machte ſogar
den Verſuch, ihn hinſichtlich ſeiner Lehre zu reformieren
und durch das Labyrinth des Aberglaubens zu der reinen
Lehre des Stifters zurückzukehren. Der Verſuch ging
17
[258] aber von Leuten aus, die wie der Philoſoph Inouye
Tetſuſhiro ein religiöſes Intereſſe durchaus nicht haben;
er iſt ſeither geſcheitert und wird auch in der Zukunft
kein beſſeres Los haben. Man wird in der chriſtlichen
Welt gut thun, den Berichten aus Oſtaſien über
„kräftige und erfolgreiche Reformverſuche“ des Buddhis-
mus kein großes Gewicht beizulegen. Solche Berichte
ſind meiſt weiter nichts als kluge Mache. Manchmal
erfuhr ich von ſolchen Reformbewegungen in Japan erſt
durch meine deutſchen Zeitungen. Als ich mich aber
im Lande da und dort darnach erkundigte, wußte kein
Menſch etwas davon, oder es ſtellte ſich als eine Auf-
bauſchung einer harmloſen und unbedeutenden Sache
heraus.
In ſeiner Ratloſigkeit wandte ſich der Buddhismus
um Hilfe nach den Ländern des Weſtens, wo, wie man
ſeinen Prieſtern erzählte, die Lehre Shakas jährlich an
Sympathie und ſelbſt an Anhang gewinne. Sein Hilfe-
ruf ſchien nicht vergeblich ſein zu ſollen. Im Spätjahr
1888 erſchien der amerikaniſche Theoſoph Oberſt Olkott
in Japan mit der ausgeſprochenen Abſicht, dem bedrängten
Buddhismus wieder aufzuhelfen. Unter ungeheurem
Jubel begann er ſeine Vorträge; aber die Freude begann
bald einer bitteren Enttäuſchung zu weichen; es war
ein anderer Geiſt als der des japaniſchen Buddhismus,
der aus der Olkottſchen Theoſophie herausſprach. Ol-
kott brach ſeine Vorträge plötzlich ab und zog ſich nach
Ceylon zurück. Sein Auftreten war ein Mißerfolg, der
dem Buddhismus keineswegs Vorteile brachte.
Alſo alles vergebens! Wohl hat der Buddhismus
nach dem Plane der Vorſehung eine Miſſion in der
Vergangenheit gehabt, aber dieſe Miſſion iſt heute er-
füllt. Es wäre ungerecht, ſeine Verdienſte um Japan
[259] nicht anzuerkennen. Er iſt der Hauptträger der chine-
ſiſchen Kultur geweſen, er hat die Japaner mit Kunſt
und Wiſſenſchaft bekannt gemacht und hat die vordem
barbariſchen Sitten gemildert. Er war durch tauſend
Jahre der Lehrer des Volks, und er iſt dieſer ſeiner
Aufgabe ſelbſt in höherem Grade gerecht geworden als
der Katholizismus in Europa. Es muß ihm zum Ruhme
nachgeſagt werden, daß er gerade auch den niederen
Klaſſen die Bildung zugänglich gemacht hat. Er hat
den nüchternen Konfuzianismus und den dürftigen
Shintoismus religiös ergänzt und das Bedürfnis der
Volksſeele nach höheren Gütern, im beſonderen die
Sehnſucht nach Erlöſung wachgehalten. Er hat die alte
Zeit erfüllt, — aber in die neue paßt er nicht mehr
hinein.
Das Licht, welches ehedem Aſien erleuchtete, iſt gar
trübe geworden und gegenüber der leuchtenden Sonne,
welche jetzt über Japan heraufzieht, verſchwindet es
völlig. Jetzt erſt ſoll Japan in Wahrheit das werden,
was ſein Name verheißungsvoll ſagt: Das Land des
Sonnenaufgangs. Jetzt erſt ertönt auch über ſeinen
Gefilden der Adventsruf: „Die Nacht iſt vorüber, und
der Tag iſt herbeigekommen!“ Der Morgenſtern ver-
blaßt vor dem hellen Geſtirn des Tages, und wenn wir
auch gerne anerkennen, daß Buddha ein Vorläufer
Chriſti war, ſo gilt doch heute auch für ihn das Wort,
welches das Evangelium Johannes, Jeſu größten Weg-
bahner, ſprechen läßt: „Er muß wachſen, ich aber muß
abnehmen!“
[[260]]
IX. Die Entwicklung der evangeliſch-chriſtlichen
Miſſion 1).
Faſt überall, wo durch die weltliche Macht ein
fremdes Land der Kultur eröffnet wurde, iſt es über
Leichen gegangen. Es giebt wenige Pfadfinder, die
nicht verſucht hätten, durch Entfaltung aller ihrer Macht-
mittel und durch den Gebrauch einer eiſengepanzerten
[261] Fauſt und roher Gewalt die Eingeborenen in Furcht
zu verſetzen, um ſie durch die Furcht ihrem Willen zu
beugen. Aber der amerikaniſche Commodore Perry,
welcher im Jahre 1853 und, als ſich das Bakufu d. i. die
Shogunatsregierung ein Jahr Bedenkzeit ausbedungen
hatte, zum zweitenmal im Jahre 1854 in der Bay von
Tokyo erſchien, um einen Handelsvertrag mit Japan ab-
zuſchließen, hat einen andern Weg eingeſchlagen. Nicht
durch Feuer und Schwert und nicht durch Erregung
der Furcht ſuchte er zum Ziele zu kommen und iſt
zum Ziele gelangt, ſondern durch die Macht ſeiner
wahrhaft chriſtlichen Perſönlichkeit und durch die
Weckung von Achtung und Bewunderung. Das rechnen
ihm die Japaner heute noch hoch an, und das hat der
Kultur und dem Chriſtentum eine offene Thür ge-
ſchaffen, daß Perry bei all ſeiner Entſchiedenheit und
Beſtimmtheit „nicht mit barſchem Kommandoruf, ſon-
dern mit Doxologien die Geſtade von Japan bombar-
dierte“. Und wenn wir ſeiner eigenen Erzählung
lauſchen, ſo hat er ſeine ſchwierige und delikate Auf-
gabe ausgeführt als ein rechter Miſſionar unter be-
ſtändigem Aufblick zu dem Lenker der Völker. Gewiß,
auch mit roher Gewalt hätte ſich die Eröffnung des
1)
[262] Landes erzwingen laſſen. Dann aber wären von vorn-
herein die ohnehin ſehr zurückhaltenden Japaner noch
mißtrauiſcher geworden, eine unbeſiegbare Abneigung
des Volkes gegen die abendländiſche Kultur wäre ge-
ſchaffen worden, und die Thür zu den Herzen wäre auf
unabſehbare Zeit hinaus verſchloſſen geblieben. Darum
iſt es billig, bei einer Geſchichte der chriſtlichen Miſſion
in Japan unter dem Ausdruck innigen Dankes dieſen
Mann an die Spitze zu ſtellen, ſozuſagen als den erſten
evangeliſchen Miſſionar, der den Boden Japans be-
treten hat.
Der Abſchluß des Handelsvertrags durch Perry
bedeutete nicht auch die ſofortige Erſchließung des Landes.
Erſt von dem Jahre 1859 an wurde den Fremden das
Recht der Niederlaſſung zunächſt in Kanagawa-Yokohama,
Nagaſaki, Hakodate und Yedo (Tokyo), bald darauf
auch in Niigata, Hyogo-Kobe und Oſaka zugeſtanden.
Sofort waren auch ſchon vier amerikaniſche Miſſions-
geſellſchaften zur Stelle, deren Sendboten faſt alle in
Yokohama ihren Wohnſitz nahmen. Es waren durchweg
auserleſene Männer. Unter allen hervorragend der
kürzlich verſtorbene Miſſionar Verbeck (Dutch Reformed
Church D. R. C.). Es giebt kaum eine andere miſſionariſche
Perſönlichkeit, deren Segensſpuren man in allen Teilen des
Landes ſo häufig begegnet. Und nicht nur als Miſſionar,
auch als Lehrer hat er Vorzügliches geleiſtet. Er war der
Erzieher einer Reihe von Jünglingen, die ſpäter zu den
höchſten Staatsämtern gelangten. Er gewann das Ver-
trauen der Regierung in ſolchem Grade, daß er 1869
zum Lehrer an der Hochſchule in Tokyo (Kaiſei Gakko)
berufen wurde und einen weſentlichen Einfluß auf die
Ausgeſtaltung der heutigen Univerſität gewann. Neben
ihm ſteht der als Miſſionar und Arzt gleich bedeutende
[263]Dr. Hepburn (American Presbyterian Church A. P. C.),
welcher durch ſeine bahnbrechenden Arbeiten in der
Sprachforſchung zum eigentlichen Waffenſchmied der
japaniſchen Miſſion geworden iſt. Durch ſeine frühere
Thätigkeit in China wurde ihm das Studium des
Japaniſchen bedeutend erleichtert, und ſchon im Jahre
1867 gab er ein japaniſch-engliſches Wörterbuch heraus,
welches bis heute ſeinesgleichen nicht gefunden hat.
Auch die Miſſionare S. R. Brown und J. H. Ballagh
(D. R. C.) und der ſpätere Biſchof Williams (American
Episcopal Church A. E. C.) verdienen, von der Nach-
welt in dankbarer Erinnerung behalten zu werden.
Selten iſt eine große und ſchwere Sache tüchtigeren
Kräften anvertraut worden.
Freilich, wer die Miſſionsſtatiſtik, die für ober-
flächliche Geiſter leider nur allzu leicht zur Betrügerin
wird, zur Grundlage ſeines Urteils machen wollte,
könnte über dieſe Männer verächtlich die Naſe rümpfen.
Haben ſie es doch (aus den urſprünglichen ſechs war
bald ein Dutzend und mehr geworden) innerhalb eines
ganzen Jahrzehnts nur auf ſechs Getaufte gebracht!
Fünf volle Jahre waren ſie am Werk, bis es J. H. Ballagh
in Yokohama vergönnt war, an ſeinem Lehrer des
Japaniſchen Yano Riu, der freilich als Sterbender
irdiſches Gericht nicht mehr zu fürchten hatte, die Erſt-
lingstaufe zu vollziehen. Und doch verzagte das kleine
Häuflein nicht; denn auch in dieſer ſchweren Zeit offen-
barte ihnen der Herr ſeine Nähe, und durch wunder-
bare Erweiſungen wußte er ſie geduldig in Trübſal und
fröhlich in Hoffnung zu machen. Hierfür nur ein Beiſpiel.
Es war im Jahre 1854, als in dem Hafen von
Nagaſaki ein engliſches Geſchwader einlief. Um eine
Landung zu verhindern, wurde ein japaniſches Heer auf-
[264] geboten, deſſen Oberbefehlshaber Wakaſa-no-kami, der
Karo (erſte Berater) des Daimyo von Hizen war.
Eines Tages, als Wakaſa am Ufer entlang ging, ſah
er auf dem Waſſer ein kleines Buch ſchwimmen, das
er ſich aneignete. Es war, wie ihm ein holländiſcher
Dolmetſcher erklärte, ein engliſches Neues Teſtament.
Als Wakaſa erfuhr, daß in Shangai dasſelbe Buch in
chineſiſcher Schrift zu haben ſei, ließ er ſich ein Exemplar
kommen und nahm es mit in ſeine Heimat. Hier machte
er ſich im Verein mit ſeinem Bruder Ayabe und drei
Freunden an das Studium des ſeltſamen Buches, das
dieſe ſuchenden Seelen bald mächtig anzog. Die Jahre
kamen und gingen, aber das Intereſſe der fünf Männer
an dem Buche ging nicht. Da geſchah es, daß im
Jahre 1862 einer derſelben nach Nagaſaki kam. Dort
traf er den Miſſionar Verbeck, welcher ihm chriſtlichen
Unterricht erteilte. Als Waſaka das erfuhr, benutzte
er die Gelegenheit, um ſich über ſo manche unverſtandene
Stelle ſeines Teſtaments Klarheit zu verſchaffen. Da
ihn ſein Amt an Ort und Stelle feſthielt, ließ er jede
Woche einen Boten die zweitägige Reiſe zu Verbeck
machen und erhielt ſo mit ſeinen Gefährten auf brief-
lichem Weg „par distance“ einen regelrechten Bibel-
unterricht. Endlich im Jahre 1866 machten ſich Wakaſa
und ſein Bruder Ayabe auf nach Nagaſaki. Dort er-
hielten ſie noch einmal mündlichen Unterricht, und am
Pfingſtfeſt wurden ſie durch Verbeck getauft — die nächſten
Chriſten nach Yano und für eine Zeitlang wieder die
einzigen. Wakaſa ſtarb als treuer Chriſt. Aber ſein
Chriſtengeiſt ſtarb nicht in ſeiner Familie. 1880 ließ
ſich eine Tochter von ihm mitſamt ihrem Gatten und
einer treuen Dienerin taufen. Die beiden erſten ſind
Mitglieder einer Gemeinde der Nippon Kriſto Kyokwai
[265] (Kirche Chriſti in Japan, presbyt.) in Tokyo, die Magd
aber ward zu einer rechten Miſſionarin: Ihrem brennen-
den Glaubenseifer iſt die Gründung einer Chriſten-
gemeinde zu Saga zu verdanken. Eine Enkelin Wakaſas
iſt ebenfalls Chriſtin, und im Jahre 1890 trat ein
Enkel von ihm in die Doſhiſha, die chriſtliche Hoch-
ſchule der Kongregationaliſten zu Kyoto ein.
Wer möchte da nicht die wunderbaren Wege Gottes
preiſen, deſſen Fuß gehet wie auf dunkeln Waſſern, wer
lernt da nicht aufs neue wieder glauben an das Wort
des Herrn: „Gleichwie der Regen und der Schnee vom
Himmel fällt und nicht wieder dahin kommt, ſondern
feuchtet die Erde und macht ſie fruchtbar und wachſend,
alſo ſoll das Wort, das aus meinem Munde geht, auch
ſein. Es ſoll nicht wieder zu mir herkommen, ſondern
thun, was mir gefällt, und ſoll ihm gelingen, dazu ich
es ſende“.
Aber neben ſolch ſeligen Erfahrungen ſollten den
Miſſionaren die ſchwerſten Prüfungen nicht erſpart
bleiben. Wenn auch das politiſch unintereſſierte Volk
keineswegs den Abendländern feindlich gegenüberſtand,
ſo ſah doch der Samuraiſtand in der Anweſenheit der
„fremden Barbaren“ eine nationale Schmach. Ihr Zorn
richtete ſich gleicherweiſe gegen die Regierung des
Shogunats, welche die „ſchimpflichen“ Verträge abge-
ſchloſſen hatte, wie gegen die Fremden ſelbſt. Plötzlich
begann man ſich des lange vergeſſenen Kaiſers zu Kyoto
zu erinnern, von ihm erhoffte man die Rettung: „Jo-i“
(fort mit den Fremden) und „Son-ō“ (Ehre dem
Kaiſer) wurden die Loſungsworte des Tages. Der
Premierminiſter Jikamon no kami, dem man die Haupt-
ſchuld an dem Abſchluß der Verträge beimaß, wurde
ermordet, und auch mancher Europäer fiel dem Fremden-
[266] haß der Samurai zum Opfer. Daß die Miſſionare
alle dieſem Geſchick entrannen, verdankten ſie nächſt dem
Schutze Gottes nur ihrem feinen Taktgefühl, das es
peinlich vermied, bei den empfindlichen Japanern Anſtoß
zu erregen. Aber deſſen mußten ſie ſich doch immer
bewußt bleiben: „Mitten wir im Leben ſind von dem
Tod umfangen“. Die alten Geſetze gegen das Chriſten-
tum beſtanden noch, und ſchärfer denn je wurden ſie
jetzt dem Volke wieder eingeprägt. Wenn die Miſſionare
über die Straße gingen, konnten ſie an den Ecken mit
eigenen Augen den Erlaß angeſchlagen ſehen, wonach
die böſe Sekte der Chriſten bei Todesſtrafe verboten
war. Man fürchtete für ſein Leben, mied die Miſſionare
und lehnte religiöſe Geſpräche ängſtlich ab.
Unter ſolchen Umſtänden war an eine öffentliche
Wirkſamkeit nicht zu denken. Es blieb den Sendboten
nichts übrig, als in Geduld abzuwarten. Aber gerade
die Ruhe, zu welcher ſie wider Willen gezwungen waren,
erwies ſich als eine weiſe Fügung im Plane der Vor-
ſehung. Denn ſo verblieb ihnen Zeit und Muße zu
der ebenſo notwendigen als ſchweren Arbeit, ſich die
Werkzeuge zum Bau des Gottesreichs zu fertigen und
die Waffen zu ſchmieden zum ſpäteren Kampf. Sie er-
lernten die Sprache, ſie machten ſich mit Sitte und
Eigenart des Volks bekannt, ſie begannen ſelbſt ſchon
einige Teile der Heiligen Schrift in die Landesſprache
zu überſetzen. Im übrigen mußten ſie es als eine be-
ſondere Gnade betrachten, wenn ſie hier und da für ihre
religiöſen Lehren Gehör bei ihrem Lehrer des Ja-
paniſchen oder bei ihren Dienſtboten, zuweilen wohl
auch bei ſolchen fanden, die engliſchen Sprachunter-
richt bei ihnen nahmen. Und auch dieſe zogen ſich meiſt
wieder zurück, wenn ſie ſahen, daß es den Behörden
[267] mit der Anwendung der Geſetze gegen das Chriſtentum
blutiger Ernſt war.
Die katholiſche Kirche ſollte das zuerſt erfahren.
Im Jahre 1867 wurde in dem Dorfe Urakami, nicht
fern von Nagaſaki, eine Chriſtengemeinde von mehr als
dreitauſend Seelen entdeckt, die ſich trotz aller Ver-
folgungen aus der Jeſuitenmiſſion des ſechzehnten Jahr-
hunderts in tiefſter Heimlichkeit erhalten hatte. Zwar
war von Chriſti Geiſt kaum noch etwas übrig geblieben,
der Name der Jungfrau Maria war ihnen geläufig
geblieben, und das Kreuzeszeichen, welchem ſie magiſche
Wirkungen zuſchrieben, beteten ſie an. Die Mitglieder
der Gemeinde wurden gefangen genommen und büßten
ihr Verbrechen in den Bergwerken in ſchwerer Zwangs-
arbeit, wo die meiſten elend verdarben und ſtarben.
Bald darauf wendete ſich das Strafgericht auch gegen
die japaniſchen Lehrer proteſtantiſcher Miſſionare. Einer
derſelben ſchmachtete zweiundeinhalb Jahre im Zucht-
haus. Ein anderer war nicht einmal Chriſt, aber man
hatte in ſeiner Wohnung eine Überſetzung aus dem
Neuen Teſtament gefunden, und das genügte, ihn mit
ſeiner Frau in das Gefängnis zu bringen. Aber gerade
das hatte zur Folge, daß er nun zum Chriſtentum ſich
bekannte. Er ſtarb im Elend des Kerkers, und doch iſt
er ſelig geſtorben. Seine Frau, die ſpäter gleichfalls
zum Chriſtentum übertrat, mußte noch weiter im Ge-
fängnis verbleiben.
Endlich im Jahre 1873, dem Beginn einer neuen
Miſſionsepoche, ſchlug für die chriſtlichen Märtyrer die
Stunde der Befreiung. Schon geraume Weile zuvor
machten ſich die erſten Anzeichen einer beginnenden
Toleranz bemerkbar. Zwar hatte die Revolutions-
bewegung von 1868 die Feindſchaft wider die Abend-
[268] länder auf ihrem Programm ſtehen. Aber bald ſchon
erkannte man, daß die neue Periode Meiji (die er-
leuchtete) nicht im Kampf wider die moderne Kultur,
ſondern nur im Bunde mit ihr ihrem Namen Ehre
machen könne. Dazu erwarben ſich, wie überall ſo auch
hier, die Chriſten gerade durch ihr Märtyrertum viele
Sympathien. Viele Gebildete nahmen ſich großmütig
und ritterlich der Sache der Bedrückten an und ſahen
in ihrer Maßregelung eine grauſame und unwürdige
Barbarei. Die Stimmen für Duldung wurden immer
allgemeiner und drangen zu den Ohren der Behörden.
Man ließ allmählich den Verkauf chriſtlicher Bücher und
Traktate ſtillſchweigend zu, man benutzte die Miſſionare
als Lehrer, und ſelbſt gegenüber der religiöſen Propa-
ganda derſelben begann man ein Auge zuzudrücken.
So konnte es geſchehen, daß ſchon im Jahre 1872 zu
einer Zeit, wo die Geſetze wider das Chriſtentum noch
beſtanden, die erſte Chriſtengemeinde zu Yokohama ent-
ſtand. Sie zählte urſprünglich nur neun Mitglieder,
ihr Stifter iſt Ballagh (D. R.). Heute iſt die Kaigan
Kyokwai (Strandkirche), wie man ſie nach ihrer Lage
nannte, die ſtärkſte Gemeinde Japans.
Einmal in aufſteigender Linie begriffen wuchs die
Stimmung für das Chriſtentum mit großer Schnellig-
keit. Im Jahre 1871 hatte die Regierung unter
Führung Iwakuras, des Miniſters des Auswärtigen,
eine Geſandtſchaft nach Amerika und Europa geſchickt,
welche eine Reviſion der Handelsverträge anſtreben und
gleichzeitig die Kultur des Abendlandes ſtudieren ſollte.
Dieſelbe hatte täglich Gelegenheit, das Chriſtentum,
welches in Japan ſo unſcheinbar auftrat, in den Län-
dern ſeiner Heimat als eine große Macht kennen zu
lernen, und in ihren Berichten nach Hauſe machten ſie
[269] daraus kein Hehl. Nicht lange nachdem die Geſandten
Berlin verlaſſen hatten, fragte man bei Prof. Gneiſt
daſelbſt an, was er von einer etwaigen Annahme
des Chriſtentums durch Japan halte, (wobei man ſich
allerdings lediglich von politiſchen Utilitätsgründen
leiten ließ). Gneiſt gab darauf die einzig richtige
Antwort, daß ſich dasſelbe nicht wie eine Staats
verfaſſung einfach in ein anderes Land hinüber pflanzen
laſſe, und auf dieſe Antwort hin legte man den aben-
teuerlichen Gedanken einſtweilen beiſeite.
Im Jahre 1873 kehrte Iwakuras Geſandtſchaft
zurück, und nun begann eine gründliche Reformation
des Staatsweſens nach europäiſchen Muſtern, welche
naturgemäß auch dem Chriſtentum zu gute kam. Schon
in demſelben Jahre, ſogar noch einige Monate vor
Iwakuras Heimkehr, wurden die Strafgeſetze gegen die
Chriſten von den öffentlichen Anſchlagbrettern entfernt.
Im gleichen Jahre ließ man den chineſiſchen Kalender
fallen und ſetzte den gregorianiſchen an ſeine Stelle,
und drei Jahre ſpäter (1876) hob man die Geſetze
gegen das Chriſtentum auch formell auf und führte
den Sonntag als Ruhetag für die Beamtenſchaft, die
Schulen und das Militär ein.
Daß ſich ſolche Umwälzungen nicht ohne Wider-
ſpruch und Kampf vollzogen, verſteht ſich von ſelbſt.
Der Geiſt Altjapans, vorzüglich durch den Samurai-
ſtand vertreten, leiſtete heftigen, aber vergeblichen
Widerſtand. Raſch nacheinander brachen Aufſtände
aus, die aber blutig niedergeſchlagen wurden. Der
letzte war der von Kagoſhima unter der Führung des
gewaltigen Saigo, des populärſten Helden im modernen
Japan, der im Jahre 1868 das neue Reich mit Blut
und Eiſen zuſammengeſchmiedet hatte und jetzt den
[270] Hammer erhob, um dasſelbe Reich, das er auf die Ab-
wege der fremden Barbaren geraten wähnte, wieder zu
vernichten. Saigo, der patriotiſchſte Sohn ſeines Lan-
des, fiel als Rebell (1877) — eine wahrhaft tragiſche
Perſönlichleit. Damit war der Sieg der weſtlichen
Kultur entſchieden, und die vorher feindſeligen Samurai
wurden von nun an ihre eifrigſten Förderer.
Mit dieſem Sieg der Kulturfreunde war auch die
Entſcheidung für die Zulaſſung des Chriſtentums ge-
fallen. Dasſelbe Chriſtentum, welches bisher nur im
Verborgenen ſich geregt, war nun in den freien Kon-
kurrenzkampf eingetreten. Für die Miſſionare war
Leben und Arbeit eine Luſt geworden. Ihre Reihen
hatten ſich bedeutend verſtärkt, ſo daß am Schluſſe des
Jahres 1882 nicht weniger als achtzehn Geſellſchaften,
dreizehn amerikaniſche und fünf engliſche, mit 145
männlichen und weiblichen Arbeitern in Thätigkeit
waren.
Eine dieſer Geſellſchaften verdient ganz beſondere
Erwähnung. Es iſt die Miſſionsgeſellſchaft der Amerika-
niſchen Kongregationaliſten (A. B. C.). Schon im Jahre
1869 hatte ſie ihren erſten Miſſionar D. C. Greene
entſandt, einen Mann, welcher durch ſeine wahrhaft
evangeliſche Geſinnung und feinen Herzenstakt großes
Vertrauen gewann und hinſichtlich ſeiner Verdienſte,
mögen dieſelben auch nicht ſo ſehr an die Öffentlichkeit
getreten ſein, unmittelbar neben Verbeck und Hepburn
zu nennen iſt. Von noch größerer Bedeutung aber
ſollte für dieſe Geſellſchaft die Entſendung des
Japaners J. H. Niſhima werden. Niſhima war ge-
boren zu Anaka in der Provinz Kozuke am 14. Januar
1843. Schon früh erlernte er die holländiſche Sprache,
und ſpäter eignete er ſich im Verkehr mit Fremden
[271] auch die engliſche an. Als Dolmetſcher in fortwähren-
der Berührung mit den Abendländern gewann er bald
eine große Vorliebe für die weſtliche Kultur, und es
ergriff ihn die Sehnſucht, dieſelbe in ihrer Heimat
kennen zu lernen. Noch aber war auf das Verlaſſen
des Landes die Todesſtrafe geſetzt. Da benutzte der
Jüngling die Gelegenheit, von Hakodate aus, wo er
unter anderm auch dem ruſſiſchen Biſchof Nikolai ja-
paniſchen Unterricht erteilt hatte, an Bord eines nach
Shanghai gehenden fremden Schiffes ſein Vaterland
heimlich zu verlaſſen. Nach mancherlei Irrfahrten kam
er nach Boſton, wo ihn der Rheder Alpheus Hardie,
ein treues Mitglied der Kongregationaliſten und ein
eifriger Freund der Miſſion, in ſein Haus aufnahm.
Hier fand er den Heiland, der ihm zwar ſchon nicht
ganz fremd geweſen iſt. Hardie verſchaffte ihm eine
gediegene Bildung, und da Niſhima wünſchte, einmal
als Miſſionar nach ſeinem Vaterlande zurückzukehren,
ſo ließ er ihn Theologie ſtudieren. Da kam im Jahre
1871 Iwakuras Geſandtſchaft nach Amerika, und Niſhima
wurde aufgefordert, dieſelbe als Dolmetſcher zu begleiten.
Nachdem er für ſeine heimliche Flucht aus ſeinem Vater-
lande ausdrücklich begnadigt worden war, übernahm er
das angetragene Amt. Nun knüpfte er enge Beziehungen
zu den Gliedern der Geſandtſchaft, wie Ito, Inouye
und Okubo, die ihm ſpäter ſehr zu ſtatten kamen. Nach
der Rückkehr der Geſandtſchaft ſtellte er ſich dem Ame-
rican Board A. B. C. (Kongreg.) zur Entſendung nach
Japan. Ende 1874 kam er daſelbſt an, und nachdem
er ſeine bejahrten Eltern in Anaka beſucht hatte, machte
er ſich ſofort an die Aufgabe, die er ſich geſtellt: Die
Gründung einer theologiſchen Hochſchule. Beweggrund
war der Gedanke, daß Japan durch die Japaner evan-
[272] geliſiert werden müſſe, und daß japaniſche Geiſtliche
darum das erſte Erfordernis ſeien. Unterſtützt durch
reichliche Spenden aus Amerika und Japan, wo ſelbſt
auch ſeine heidniſchen Freunde, hohe Staatsbeamte und
Miniſter, große Beiträge leiſteten, gelang ihm ſein
Werk in überraſchend kurzer Zeit: Am 29. Oktober
1875 ſchon konnte die Doſhiſha (Vereinigung zu gleichem
Zweck) in Kyoto eröffnet werden. Bald blühte ſie
mächtig auf, in den folgenden 15 Jahren trat eine
Abteilung zu der andern hinzu, und heute fehlt nur
noch eine mediziniſche Abteilung, um die Doſhiſha zu
einer vollſtändigen Hochſchule etwa im Sinne mancher
amerikaniſchen (nicht aber einer deutſchen oder auch der
japaniſchen Univerſität) zu erheben.
Während die Gründung der Doſhiſha noch im
Gange war, hatte Gott auch ſchon für ein glänzendes
Schülermaterial für dieſelbe geſorgt. Im Jahre 1871
gründete der Daimyo von Higo eine Schule für euro-
päiſches Wiſſen in Kumamoto und berief als Lehrer an
dieſelbe Kapitain Janes, welcher zuvor Hauptmann in
der Armee der Vereinigten Staaten geweſen war. Janes
und ſeine Frau waren überaus fromme und eifrige
Chriſten. Gleichwohl unterrichtete er ſeine Schüler
drei Jahre lang, ohne vom Chriſtentum ein Wort zu
ſprechen. Nachdem aber die Schüler Vertrauen zu ihm
gewonnen hatten, lud er ſie eines Tages ein, zum
Bibelunterricht nach ſeinem Hauſe zu kommen. Der
Neugierde halber gingen ſie hin, konnten aber der
Lektüre der Heiligen Schrift durchaus keinen Geſchmack
abgewinnen. Gleichwohl thaten ſie ihrem verehrten
Lehrer den Gefallen, allſonntäglich wiederzukommen, und
als ein Jahr vergangen war, kamen viele nicht mehr
nur aus Höflichkeit, ſondern aus wirklichem Intereſſe.
[273] Nun begann Janes auch noch zu predigen, und bald
wurden die Schüler ſo bewegt, daß vierzig von ihnen
ſich zum Chriſtentum bekannten. Im Anfang 1876
loderte die Glaubensglut zu hellen Flammen auf. Die
chriſtlichen Schüler zogen auf einen Hügel in der Nähe
der Stadt und ſchloſſen unter Schwüren der Treue einen
Bund. Aber die Nachricht davon verbreitete ſich raſch,
und nun begann eine regelrechte Verfolgung. Die meiſten
Väter holten ihre Söhne heim, durch Drohungen und
Bitten ſuchte man ſie zum Abfall zu bewegen. Manche
waren drei und vier Monate lang eingeſperrt und er-
litten eine grauſame Behandlung. Eine Mutter war
nur ſchwer davon abzubringen, Harakiri zu begehen, um
das Verbrechen ihres Sohnes zu ſühnen. Aber nur
wenige verleugneten ihren Glauben, die andern blieben
treu, ob ſie gleich, von Vater und Mutter verflucht,
aus ihrem Elternhaus verſtoßen wurden. Im Herbſte
1876 mußte Kapitain Janes, deſſen Leben mehr als
einmal in Gefahr war, Kumamoto verlaſſen; ſeine treuen
Schüler aber bezogen die kurz zuvor gegründete Doſhiſha.
Kein Wunder, daß mit ſolchen Schülern und mit
einem Niſhima an der Spitze der Ruf der Doſhiſha
bald über das ganze Land hin verbreitet war. Kein
Wunder auch, daß die übrigen Miſſionsgeſellſchaften ſehr
bald mit ähnlichen Gründungen nachfolgten. Die nächſten
waren die Presbyterianer, die ſich im Jahre 1877 mit
den ihnen verwandten Geſellſchaften, unter welchen be-
ſonders die Dutch Reformed Church (D. R. C.) hervorragt,
zu einer gemeinſamen Kirche unter dem Namen Nippon
Kristo Ichi Kyokwai (Vereinigte Kirche Chriſti in Japan)
zuſammengeſchloſſen hatten. Noch in demſelben Jahre
eröffneten ſie die Theological Union School, welche ſich
ſpäter zu der blühenden Meiji Gaku-in entwickelte. Auch
18
[274] ſie beſteht aus einem allgemeinen Kurſus für weltliches
Wiſſen und aus einer theologiſchen Abteilung. Die
Spezial-Colleges fehlen ihr, ſie ſteht in dem Range eines
Gymnaſiums, vielleicht etwas tiefer. Dagegen ſteht ſie
als theologiſches Erziehungsinſtitut hinter der Doſhiſha
kaum zurück, was weſentlich den tüchtigen miſſionariſchen
Kräften der D. R. C. zu verdanken iſt. Nicht ſo bedeutend,
aber in ähnlichem Stil gehalten wie die Meiji Gaku-in
ſind die Schulen der Methodiſten und die der vereinigten
Episkopalen. Alle dieſe Schulen ſind, mit Ausnahme
der Doſhiſha, in Tokyo.
Haben ſich nun auf dieſem Gebiete die alten Geſell-
ſchaften von den ſpäter gekommenen Kongregationaliſten
den Rang ablaufen laſſen, ſo hatten ſie dafür die Füh-
rung in dem Mädchenſchulweſen und der Frauenmiſſion.
Die Bedeutung der Frauenmiſſion war von den erſten
Sendboten ſofort erkannt worden. Nachdem ſchon die
Miſſionarsfrauen von Anfang an ſich mit Eifer dieſer
Aufgabe hingegeben hatten, ſandte im Jahre 1869 die
D. R. C., deren Bedeutung auf allen Gebieten nicht hoch
genug angeſchlagen werden kann, die erſte Miſſionarin
von Beruf, Miß Kidder. Dieſelbe nahm ihren Wohn-
ſitz in Yokohama, und ſchon im folgenden Jahre gründete
ſie auf Veranlaſſung des weitſichtigen und toleranten
Gouverneurs Oye eine Mädchenſchule, welche ſpäter als
„lsaac Ferris Seminary“ eine große Bedeutung ge-
winnen ſollte. Nicht minder ſegensreich wirkte das nur
zwei Jahre ſpäter ebenfalls in Yokohama eröffnete
„Mission Home“, welches die 1871 ausgeſandten Miſſio-
narinnen der Woman’s Union Missionary Society ins
Leben rief. Ihnen reihten ſich dann im Laufe der
Zeit eine große Anzahl ähnlicher Inſtitute an, beſon-
dere Kurſe zur Ausbildung von Evangeliſtinnen (Bible-
[275] women), welche im Miſſionsdienſt in großer Zahl Ver-
wendung finden, wurden ihnen angefügt, und thatſäch-
lich giebt es Geſellſchaften, wo, wie bei den Kongrega-
tionaliſten und Methodiſten, die Zahl der Miſſiona-
rinnen, d. h. Lehrerinnen, die der männlichen Sendboten
überwiegt. Auch die japaniſchen Chriſten erkannten
bald die Wichtigkeit dieſer Beſtrebungen, denen beſon-
ders in dem Presbyterianer Iwamoto, dem Heraus-
geber der Jogaku Zasshi (Zeitſchrift für Frauenbildung)
und Inhaber einer großen Mädchenſchule zu Tokyo,
ein vortrefflicher Vertreter erſtand. Daß die Gewin-
nung der Frauen anfangs nur eine ſpärliche war, er-
klärt ſich aus der ſozialen Stellung der Frau voll-
kommen (vergl. Kap. V). Wenn aber der Zuwachs
des weiblichen Elements in den Gemeinden ein derart
ſtetiger war, daß im Jahre 1882 der Prozentſatz 26,
fünf Jahre ſpäter 37 und heute über 40 Prozent be-
trägt, ſo darf man daraus einen Schluß auf die un-
gemeine Kraftentfaltung ziehen, die man der Frauen-
miſſion zuwendete.
Der mündlichen Verkündigung traten ſchon von
Anfang an zwei andere Arten zur Seite, nämlich die
durch die That, welche hauptſächlich in der mediziniſchen
Miſſion mit einer Reihe von Ärzten und chriſtlichen
Hospitälern ihren Ausdruck fand, und die durch das
gedruckte Wort. Schon in den ſechziger Jahren, wo
eine mündliche Verkündigung faſt ganz ausgeſchloſſen
war, hatte man Heilige Schriften und andere Druck-
werke in Menge von China eingeführt und manche gute
Erfolge damit erzielt. So habe ich noch vor wenigen
Jahren in den Händen japaniſcher Chriſten den chine-
ſiſchen Kommentar zum Lukasevangelium von D. Ernſt
Faber, dem bekannten Miſſionar des Allgem. evang.-
18*
[276] prot. Miſſions-Vereins, gefunden. Nachdem die Miſſio-
nare der japaniſchen Sprache völlig Herr geworden
waren, machten ſie ſich ſelbſt daran, ſolche Schriften
herauszugeben. Frühe auch ſchon ging man daran,
chriſtliche Zeitungen zu veröffentlichen. Schon 1876
erſchien die „Wochenſchau“ (Shichi Ichi Zappo), welche
ſpäter von der heute noch ſehr einflußreichen „Chriſt-
lichen Zeitung“ (Kristokyo Shimbun) abgelöſt wurde,
und 1882 wurde die als wiſſenſchaftlich-theologiſche und
apologetiſche Wochenſchrift hochangeſehene Rikugozasshi
ins Leben gerufen. Beide Veröffentlichungen gingen
von dem American Board aus bezw. von japaniſchen
Chriſten der Kumiai Kyokwai, wie ſich die Kirche der
Kongregationaliſten in Japan nannte (kumiai = Kon-
gregation, Gemeinde) 1). Weitaus das wichtigſte aber,
was auf dem Gebiet der chriſtlichen Litteratur geſchah,
war die Überſetzung des Neuen Teſtamentes. Im Jahre
1872 fand in Yokohama eine gemeinſchaftliche Miſſions-
konferenz ſtatt, welche am 20. September eine Kom-
miſſion zur Überſetzung des Neuen Teſtaments ein-
ſetzte. Die hervorragendſten Mitglieder derſelben waren
Hepburn, Brown und Greene und die Japaner Okuno,
Matſuyama und Takahaſhi. Das große Werk war im
Jahre 1880 vollendet. Der Verbreitung von Bibeln
und chriſtlichen Schriften nahmen ſich drei Bibel- und
zwei Traktatgeſellſchaften an, welche alle ſchon im Jahre
1882 zur Stelle waren.
[277]
Als 1883 die große Miſſionskonferenz zu Oſaka
zuſammentrat, da wußte man: Die Vorarbeiten ſind
gethan, der Miſſionsapparat iſt fertig geſtellt, das
Miſſionsnetz iſt bereit; nun konnte man an der Schwelle
des dritten Abſchnittes (1883—1890) mit dem fertigen
Netz an einen fröhlichen Fiſchzug denken.
Nicht als ob bei einer geſchichtlichen Entwicklung
die Scheidelinien der einzelnen Perioden ſo haarſcharf
gezogen werden könnten. Vielmehr wurde auch in dem
folgenden Abſchnitt noch manche Maſche in das Miſſions-
netz gewoben. Jetzt erſt wurde die Doſhiſha eigentlich
zur Hochſchule ausgebaut, auch jetzt noch wurde eine
Reihe von Schulen neu errichtet und die meiſten chriſt-
lichen Zeitſchriften traten in dieſer Periode ins Leben.
Auch die Bibelüberſetzung wurde jetzt erſt vollendet,
indem im Jahre 1888 auch das Alte Teſtament in
japaniſcher Sprache erſchien. Die Seele dieſer Über-
ſetzung war neben Dr. Hepburn der gelehrte Verbeck,
der ſelbſt die Pſalmen in klaſſiſch ſchöner Weiſe über-
ſetzte. Die japaniſche Bibel iſt ein Werk, auf welches
die evangeliſche Miſſion ſtolz ſein darf.
So wirkte die Miſſionsaufgabe der vorigen Periode
auch jetzt noch nach, gleichwie umgekehrt die eigentliche
Arbeit dieſes neuen Zeitabſchnitts ſchon in der vorigen
Epoche begonnen hatte. Ich meine die eigentliche Be-
kehrungsarbeit. Am Ende des Jahres 1882, wo 18 Ge-
ſellſchaften mit 145 männlichen und weiblichen Arbeitern,
ohne die japaniſchen Hilfskräfte, in Thätigkeit ſtanden,
betrug die Zahl der Bekehrten bereits 4367 in 93 or-
ganiſierten Gemeinden. Gewiß ein gewaltiger Fort-
ſchritt! Und doch ſollte es bald ſchon dahin kommen,
daß ſich der Zuwachs eines Jahres auf ſo viel und
mehr belief als der Gewinn dieſes ganzen Jahrzehnts.
[278] Jetzt erſt, wo der Miſſionsapparat im ganzen fertig
war, hatte man die Hände frei zu ausgedehnter Pro-
pagandaarbeit.
Dazu hatte ſich die Stimmung für das Chriſtentum
von Jahr zu Jahr gehoben, und Ende der achtziger
Jahre erreichte dieſelbe eine Höhe, daß man von einer
Chriſtianiſierung des ganzen Volkes in fünfundzwanzig
Jahren zu fabeln begann. Die Gewaltthätigkeiten gegen
die Chriſten verloren ſich mehr und mehr und ſelbſt
Beamte durften ungehindert zum Chriſtentum über-
treten. Schon 1881 hatte der Kaiſer die Einführung
einer konſtitutionellen Verfaſſung in Ausſicht geſtellt,
und als 1883 Ito, welcher zum Studium des euro-
päiſchen Verfaſſungsweſens den Weſten bereiſt hatte,
nach Japan zurückkehrte, war er von der Notwendigkeit
einer durch die Verfaſſung verbürgten unbedingten
Religionsfreiheit überzeugt, und die übrigen Glieder der
Regierung dachten nicht anders. Als 1888 Niſhima
einen Aufruf zu Geldbeiträgen erließ, um mittels der-
ſelben die Doſhiſha zu dem Range einer, wie er aus-
drücklich bemerkte, chriſtlichen Univerſität zu erheben,
erhielt er aus heidniſchen und religionsloſen Regierungs-
und Finanzkreiſen große Summen. Thatſächlich ſind die
damals geſammelten 70000 Yen (1 Yen = 2—2,50 Mk.)
nur zu einem ſehr kleinen Teile von den faſt durchweg
unbemittelten Chriſten aufgebracht worden. Auch zu
andern chriſtlichen Schulen und Werken chriſtlicher Liebes-
thätigkeit wurden von hohen Beamten und Kaufleuten
nicht ſelten große Beiträge geleiſtet. In der guten
Geſellſchaft wurde es Mode, ſeine Töchter in die
Miſſionsſchulen zu ſchicken, und der Profeſſor Toyama,
der ſelbſt vom Chriſtentum nichts wiſſen wollte, empfahl
in Aufſehen erregenden Artikeln die Mädchenerziehung
[279] auf chriſtlicher Grundlage. Die einflußreichſten Männer
des Landes, ſo der bekannte Pädagog und Politiker
Fukuzawa und der Führer der großen liberalen Partei
Graf Itagaki traten offen für Annahme des Chriſten-
tums ein. Sie ſelbſt ſtanden ihm freilich fern; ſie
hofften, ein chriſtliches Japan werde durch neue Ver-
träge Gleichberechtigung mit den weſtlichen Nationen
erlangen. Politiſche Beweggründe, welche ſich auf die
Dauer und für die Zukunft notwendig als verderblich
für das Chriſtentum herausſtellen mußten, erwieſen ſich
einſtweilen noch als mächtige Motoren einer chriſten-
freundlichen Stimmung.
So wurde die Zeitſtrömung vorerſt den Miſſionaren
zum mächtigen Bundesgenoſſen. Aber auch ihre eigene
Heeresmacht war bedeutend gewachſen. Neue Geſell-
ſchaften traten in die Arbeit ein, darunter der Allg.
evang.-proteſt. Miſſionsverein 1) als einziger Vertreter
[280] des miſſionsfreundlichen Deutſchland (1885), ferner die
Unitarier (1888) und die Univerſaliſten (1890). Dazu
waren die fünf großen Gruppen der Kongregationaliſten,
der Presbyterianer, der Epiſkopalen, der Methodiſten
und der Baptiſten durch Zuzug neuer Miſſionare und
zum Teil auch ganzer Zweiggeſellſchaften bedeutend
1)
[281] verſtärkt worden. Eine Hauptmacht der Propaganda
aber wurden die eingeborenen Paſtoren und Evangeliſten,
welche zum Teil ſchon mit Beginn dieſer Periode in
die Arbeit eintraten, und deren Zahl Jahr für Jahr
durch neue Scharen vermehrt wurde. Niſhima hatte
doch recht, als er meinte, daß Japan durch Japaner
evangeliſiert werden müſſe, wenn auch ſeinen Schülern,
welche riefen, nur Japaner ſollten die Apoſtel ihres
Volkes ſein, dieſes kleine Wörtchen „nur“ noch teuer
zu ſtehen kommen wird. Mit dem größten Erfolg
arbeiteten die Glieder von Janes’ Kumamotoſchar,
Yokoi und Kozaki, Miyagawa und Ichihara, Kanamori
und Ebina. Auch die Kirche Chriſti (presbyt.) beſaß in
Uemura, Ibuka und Tamura tüchtige Kräfte, und die
Methodiſten konnten Honda und andere gediegene Männer
ins Feld ſtellen. Und nicht nur die Predigt, ſondern auch
die andere Miſſionsthätigkeit fand in japaniſchen Chriſten
bedeutende Vertreter. Ein junger Mann Namens Iſhii,
welchen eine Predigt von Niſhima beſonders erregt
hatte, faßte im Jahre 1887 den Entſchluß, ſich ver-
wahrloſter, zumal verwaiſter, Kinder anzunehmen. Er
begann mit noch weniger als Auguſt Hermann Francke,
nämlich mit nichts, aber gleich jenem hatte er ein chriſt-
liches Herz voll Glauben und Liebe. Sein erſtes Kind
war ein Bettelknabe, welchen ſeine Mutter nicht ernähren
konnte. Ein zweiter Peſtalozzi war er den Kindern alles
in allem, Vater und Mutter, Kindsmagd und Lehrer.
Als das große Erdbeben vom Oktober 1891 Kinder
maſſenhaft zu Waiſen machte, nahm er auf einmal 41
derſelben in ſein Haus auf. Gottes Segen ruhte ſicht-
bar auf ſeiner ſelbſtloſen Arbeit, und am Anfang 1893,
alſo nur fünf Jahre nach der Gründung, betrug die
Zahl der Waiſenkinder 233, während ſeine Anſtalt
[282] ſchon wieder den Anſtoß zu drei weiteren Waiſenhäuſern
gegeben hat.
Das iſt eine wackere Arbeit, und man darf wohl
ſagen, daß die einheimiſchen Mitarbeiter von nun an
den Miſſionaren als gleich ſtarke Macht zur Seite ſtehen.
Dieſes ſo ſehr, daß faſt überall da, wo in den folgen-
den Kapiteln von „Miſſionar“ die Rede iſt, auch der
japaniſche Paſtor in dieſem Begriff miteingeſchloſſen iſt.
Iſt ſie auch der Kürze und Einfachheit halber nicht
beſonders benannt, ſo ſoll das Verdienſt der japaniſchen
Geiſtlichkeit darum nicht geſchmälert erſcheinen.
Die Art und Weiſe, in welcher dieſe Miſſionskräfte
der Bekehrungsarbeit oblagen, war, den veränderten
Zeitverhältniſſen entſprechend, eine ganz andere als
früher. Nicht mehr zu zweien oder dreien, nein zu dutzen-
den waren ſie in Bibelklaſſen verſammelt. Die Gottes-
häuſer waren gefüllt, und anſtatt zur Taufe zu treiben,
mußte man eher zügeln. Das Chriſtentum war eine
öffentliche Macht geworden. Maſſenmeetings (enzetsu-
kai) teils auf öffentlichen Plätzen teils in Theatern
und großen Sälen, bei denen oft Tauſende von Men-
ſchen zuſammenkamen, um ſtundenlang den Reden von
Miſſionaren und eingeborenen Predigern zu lauſchen,
fanden allerorts ſtatt und machten großen Eindruck.
Die chriſtlichen Arbeiter ſelbſt waren von einer Thaten-
luſt ſondergleichen beſeelt. Von der Oſakakonferenz
(1883) war ein Geiſt der Erweckung ausgegangen,
welcher in Gebetsverſammlungen und Revivals fort-
während ſyſtematiſch genährt, mitunter auch in forcierter
Weiſe geſteigert wurde; eine tiefe Erregung, die unter
der Einwirkung der Miſſionare in den Erweckungsver-
ſammlungen in charakteriſtiſch japaniſcher, du lkanartiger
Weiſe zum Ausbruch kam (ſ. S. 120) und nur teilweiſe
[283] eine Ausgießung des Heiligen Geiſtes genannt zu wer-
den verdient; ein Taumel der Begeiſterung, welchem
die Abkühlung und Ernüchterung ſpäter notwendig
folgen mußte, hatte ſich der ganzen japaniſchen Chriſten-
heit, nicht nur der Methodiſten, ſondern auch der ſonſt
nüchternen Kongregationaliſten und Presbyterianer be-
mächtigt.
Der thatkräftigen Propaganda der chriſtlichen Kreiſe
entſprach die mutloſe Lethargie der Gegner. 1884 traf
den Buddhismus und den Shintoismus der letzte
ſchwere Schlag. Trotzdem der erſtere ſchon früher aus
der Gunſt des Staates gefallen war, wurden doch ſeine
Prieſter ebenſo wie die des Shinto immer noch von
der Regierung ernannt. Dadurch haftete ihnen ge-
wiſſermaßen ein amtlicher Charakter an, was ihnen in
den Augen des loyalen Volkes immerhin noch ein ge-
wichtiges Anſehen verlieh. Jetzt aber wurde das
„ſtaatliche Prieſtertum“ aufgehoben, und die Ernennung
von Prieſtern den religiöſen Oberen anheimgegeben.
Auch die Friedhöfe wurden ihres ſozuſagen konfeſſionellen
Charakters entkleidet, fortan durfte keinem Toten um
ſeines religiöſen Bekenntniſſes willen ein Begräbnisplatz
verweigert werden. Die beiden Religionen ließen alles
ruhig über ſich ergehen. Noch beſaßen ſie manche Vor-
rechte gegenüber dem Chriſtentum, aber eine hoffnungs-
loſe Reſignation hatte ſich ihrer bemächtigt.
So iſt es denn kein Wunder, wenn die Miſſions-
ſtatiſtik am Schluſſe des Jahres 1889 große Zahlen
aufzuweiſen hat. Die Zahl der fremden Miſſions-
arbeiter war von 1882 bis 1889 von 145 (89 männ-
lichen und 56 weiblichen, unter Ausſchluß der Miſſio-
narsfrauen) auf 363 (201 männlichen und 162 weib-
lichen) gewachſen, die der Miſſionsſtationen von 120
[284] auf 533. Die fremden Arbeiter haben ſich alſo weit
über das doppelte, die Stationen weit über das vier-
fache vermehrt. Die Zahl der einheimiſchen ordinierten
Prediger war von 49 auf 135, die der nichtordinierten
Helfer von 137 auf 410, die Zahl der theologiſchen
Schüler von 71 in ſieben Schulen auf 287 in 14
Schulen, die der Sonntagsſchüler und -Schülerinnen von
2540 auf 21597 geſtiegen. Die Zahl der Schüler und
Schülerinnen in Tagesſchulen betrug 10297. Die
Summe der Beiträge zur Selbſtunterhaltung ſtieg von
12046,48 Yen auf 53503,13 Yen. Die Zahl der er-
wachſenen Chriſten aber war von 4367 auf 28977 an-
geſchwollen. Die Zahl der Chriſten hat ſich alſo in 7
Jahren beinahe verſiebenfacht. Die höchſte Ziffer der
Bekehrungen erreichte das Jahr 1888 mit 6959 Er-
wachſenentaufen d. h. mit rund 2600 Seelen mehr, als
die ganze Miſſionsernte von 1859 bis 1882 betragen
hatte. Die Führung hatten die Kumiai Kyokwai
(Kongreg.) und die Nippon Chriſto Ichi Kyokwai
(Presbyt.). Steht die letztere an Zahl der Mitglieder
obenan, ſo wird ſie doch in faſt allem andern von der
erſteren um etwas überragt. Doch ſind die Erfolge
faſt gleichmäßig allen Geſellſchaften zu teil geworden,
nicht zum wenigſten auch der deutſch-ſchweizeriſchen
Miſſion, welche, obwohl an Zahl der Arbeitskräfte
verſchwindend klein, ſich doch eine angeſehene Stellung
bei den Miſſionaren wie bei den Japanern zu ſchaffen
verſtanden hatte. Die Mitgliederzahl der von dem
Verein begründeten Fukiu Fukuin Kyokwai (Allgemeine
Evang. Kirche), zu welcher ſich außer der Hongoge-
meinde noch zwei kleine Gemeinden in dem Stadtteil
Shiba und dem Dorfe Hōden geſellt hatten, die zuvor
[285] ſeelſorgeriſch unverſorgt geweſen waren, belief ſich am
Schluſſe unſeres Zeitraums auf 145.
Überaus groß iſt die Zahl der ſich ſelbſt erhaltenden
Gemeinden. Am Schluſſe des Jahres 1888 erhielten
ſich von 249 Gemeinden 92 (alſo über ⅓) ſelbſt, alle
übrigen aber teilweiſe. Erſtens drangen die Miſſionare
darauf, zweitens ſtrebten die Japaner ſelbſt nach Unab-
hängigkeit. Dieſem Unabhängigkeitsſtreben aber lag ein
gewiſſer Gegenſatz gegen die Fremden, geboren aus dem
Raſſeninſtinkt, zu Grunde. Derſelbe war ſeither mehr
oder weniger glücklich überbrückt worden, insbeſondere
hatte die Oſakakonferenz die Bande der Gemeinſchaft
zwiſchen beiden enger geknüpft. Gleichwohl aber löſten
ſich jetzt ſchon eine Anzahl von Gemeinden von den
Miſſionsverbänden, um ſich als völlig unabhängige Ge-
meinden zu konſtituieren. Möglich, daß die Miſſionare
ihre einheimiſchen Hilfsarbeiter nicht immer zu nehmen
wußten; ſicher aber, daß die Japaner den Hauptanteil
der Miſſionserfolge der achtziger Jahre für ſich in An-
ſpruch nahmen und dadurch in gewiſſem Grade an-
maßend wurden. Eiferſucht und Mißtrauen nahmen
überhand, und ſchon am Ende der geſegneten Epoche
(1882—89) begannen die Kumiaikirchen daran zu denken,
die ſich ſelbſterhaltenden Gemeinden und die Miſſions-
ſchulen von dem gemeinſamen Board loszutrennen und
unter ausſchließlich japaniſche Verwaltung zu ſtellen,
ein Beſtreben, welches fortan beſtändige innere Kämpfe
zur Folge hatte.
Als mit dem Jahre 1889/90 die Volksſtimmung
umſchlug, womit auch für das Chriſtentum eine neue
Epoche, und zwar der Sichtung und Prüfung, eintrat,
kam der Gegenſatz ſcharf zu Tage. Die fremdenfeind-
liche Stimmung ergriff auch die Chriſten. Die ja-
[286] paniſchen Paſtoren ſelbſt ſtimmten eifrig mit ein in den
Ruf „Japan für die Japaner“, und aus dieſem Ruf
zogen ſie die religiöſen und kirchenpolitiſchen Konſequenzen.
Die Doſhiſha, um dies hier vorauszunehmen, ſollte zum
Hauptexperimentierfeld dieſer Beſtrebungen werden. Im
Januar 1890 war Niſhima geſtorben, ein ſchwerer
Schlag für das junge Chriſtentum in kritiſcher Zeit.
Sein Nachfolger Kozaki, bis dahin Prediger an der
eine Zeitlang durch Spinner mitbedienten Bancho-
gemeinde zu Tokyo, war nicht ſtark genug, vielleicht
auch nicht willig, den immer mächtiger werdenden
Gegenſatz gegen die Fremden zu dämmen.
Dazu kam, daß man auf Seite der Miſſionare
durch ſchlimme Erfahrungen geängſtigt war, die man
ſchon anderswo gemacht hatte. So hatte die Tokwa-
gakko, eine Art Gymnaſium in Sendai, früher ganz
unter dem Einfluß des American Board geſtanden; aber
eine feindliche Strömung im Schulvorſtand brachte es
1892 fertig, daß ſie ihres chriſtlichen Charakters ent-
kleidet wurde und daraufhin einging, nicht ohne die
Mitſchuld chriſtlicher Lehrer. Ein Jahr darauf ent-
ſtanden Mißhelligkeiten zwiſchen dem American Board
und ſeiner japaniſchen Schulverwaltung in Kumamoto.
Da es nach den beſtehenden Verträgen den Fremden
nicht geſtattet war, immobiles Eigentum zu erwerben,
ſo hatten ſich die Miſſionsgeſellſchaften genötigt geſehen,
ihre Grundſtücke und Gebäude auf die Namen japa-
niſcher Vertrauensmänner ſchreiben zu laſſen. Die
Regierung wußte darum, und niemand ſah etwas Un-
moraliſches darin. Jetzt aber erklärte eine chauviniſtiſche
Volksſtimmung diejenigen Japaner, welche ſich dazu
hergaben, für Verräter am Vaterland, und dieſe hatten
nicht Rückgrat genug, dieſer Stimmung zu widerſtehen.
[287] Dazu kamen ihre eigenen Unabhängigkeitsgelüſte, kurzum
die japaniſche Verwaltung der Schule des American
Board zu Kumamoto hatte den traurigen Mut, die
Liegenſchaften des Board, worunter einige Miſſionar-
wohnungen, deren nomineller Beſitzer ſie war, für ihr
rechtliches Eigentum zu erklären. Der Board, welcher
rechtsgiltige Beſitztitel nicht beſaß, mußte es ſich ruhig
gefallen laſſen, mußte zugleich aber auch zuſehen, wie
der chriſtliche Charakter der Anſtalt auch hier preis-
gegeben wurde.
Unterdeſſen ſpitzten ſich auch die Verhältniſſe an
der Doſhiſha zu. Man fing an, gegen die amerikaniſchen
Lehrer in einer Weiſe vorzugehen, welche mit der viel-
gerühmten japaniſchen Höflichkeit wenig gemein hatte.
Auch das chriſtliche Gepräge der Anſtalt begann Ein-
buße zu erleiden. Die Miſſionare meinten, die Ver-
antwortung nicht länger tragen zu können und wandten
ſich mehrfach an die Leitung des Board in Amerika mit
der Bitte um Entſendung einer Kommiſſion zur Unter-
ſuchung der Verhältniſſe. Dieſelbe kam im September
1895 in Japan an und blieb bis Dezember. Die Ver-
handlungen mit der japaniſchen Doſhiſhaverwaltung
nahmen keinen befriedigenden Verlauf. Die Ver-
waltung war entſchloſſen, ſich unabhängig zu machen.
Sie geſtand zu, daß die Doſhiſha ihren chriſtlichen
Charakter behalten werde; „man ſolle ihnen vertrauen,
daß ſie Wort halten werden“; ſollte die Doſhiſha je
darauf verzichten, ein chriſtliches Inſtitut zu ſein, ſo
ſollte das Beſitztum der Schule verkauft und der Erlös
den Gebern zurückerſtattet werden. Mit dieſer Er-
klärung mußte ſich die Deputation begnügen. Kaum
war ſie wieder nach Amerika zurückgekehrt, da machte
ſich das japaniſche Komitee an die definitive Regelung.
[288] 1896 ſetzte es dem Amerikan Board, welcher die
Anſtalt unter beiſpielloſen Opfern von Geld (ca. 3 Mil-
lionen Dollar) und Kräften gegründet und ausgeſtaltet
hatte, den Stuhl vor die Thüre. Es erklärte, vom
1. Januar 1897 an auf weitere Beihilfe durch Geld
und Lehrer zu verzichten. Gleichzeitig erklärte es ſämt-
liche Grundſtücke und Gebäude, welche auf die Namen
von japaniſchen Mitgliedern der Doſhiſhaverwaltung
geſchrieben worden waren, für rechtliches Eigentum der
japaniſchen Verwaltung. Der einzige Lichtblick in dieſem
dunkeln Gebahren iſt ein abermaliges Schreiben des
Präſidenten Kozaki an den American Board, in welchem
die feierliche Erklärung abgegeben wird, daß die Anſtalt
auch fortan in Übereinſtimmung mit ihren chriſtlichen
Prinzipien weitergeführt werden ſolle. Aber was ge-
ſchah? Kozaki, welcher wohl fühlen mochte, daß er auf
einer ſchiefen Ebene gleite, legte bald darauf die Prä-
ſidentſchaft nieder, und ſchon zu Beginn 1898 gab der
Verwaltungsrat der Doſhiſha, an deſſen Spitze nach
Kozakis Rücktritt Yokoi getreten war, der japaniſchen
Regierung die feierliche Erklärung, daß in Zukunft,
abgeſehen vom theologiſchen Kurs, der chriſtliche wie
überhaupt jeglicher Religionsunterricht ausgeſchloſſen
ſein ſolle. So iſt denn die Doſhiſha, welche beſtimmt
war, eine Leuchte des Chriſtentums für das ganze Land
zu ſein, eine religionsloſe Schule geworden, und dieſes
um einer elenden Bagatelle willen, um nämlich für die
Schüler der Anſtalt dieſelbe Vergünſtigung zu erlangen,
deren ſich die Regierungsſchulen erfreuen, bis zum 28.
Lebensjahr vom Militärdienſt befreit zu ſein.
Unterdeſſen hatten auch die Kumiaikirchen, welche
ſich nie über Bedrückung oder auch nur Bevormundung
zu beklagen hatten, die faktiſche Anerkennung ihrer
[289] Freiheit von den Fremden erreicht. Dem Daikwai
(Generalſynode) der Kumiaikirchen im Jahre 1894
wohnten die Miſſionare nur noch mit beratender
Stimme bei.
Zweifellos betrachtete Yokoi die Erklärung an die
Regierung nur als eine formelle, der zum Trotz der chriſt-
liche Geiſt der Anſtalt gewahrt werden könne; trotzdem
verdient ſie die ſchärfſte Verurteilung. Dieſe Verur-
teilung iſt ihr denn auch von ſeiten des japaniſchen
Chriſtentums und nicht zum wenigſten der Kumiaikirchen
in ſo reichem Maße und in ſo entſchiedener Weiſe ge-
worden, daß man wieder neue Sympathien für das-
ſelbe gewinnt. Die chauviniſtiſche Überſpannung der
Doſhiſhakreiſe hat das Gute gehabt, ſchon ſeit 1896 die
andern japaniſchen Chriſten und Paſtoren zur Beſinnung
zu bringen. Auch die Miſſionare der anderen Geſell-
ſchaften haben ihre Lehren gezogen. Die Kirche Chriſti
(presbyt.) hat gegenüber den Selbſtändigkeitsgelüſten
ohne volle Übernahme der Selbſtändigkeitspflichten ſeit
1896 die Zügel ſtraffer geſpannt. Das Verhältnis
zwiſchen den Miſſionaren und der eingeborenen Geiſt-
lichkeit hat heute Ausſicht auf dauernde Beſſerung, und
da die Doſhiſha auf die Dauer nicht religionslos blei-
ben wird, ſo ſteht zu hoffen, daß die ſeitherige Span-
nung für die Zukunft ohne allzu böſe Folgen ſein werde.
Für die Vergangenheit ſind dieſe Folgen freilich
nicht wegzuleugnen. Unter ſich geſpalten, waren die
Chriſten dem plötzlichen und ungeſtümen Anprall des
altjapaniſchen Geiſtes, welcher ſeit 1889/90 erfolgte
und bis heute noch nicht zum Abſchluß gelangt iſt,
nicht gewachſen. An Anzeichen einer beginnenden Epoche
der Reaktion hatte es ſchon zuvor nicht gefehlt. Unter
den gewaltigen Erfolgen war immer eine widrige Unter-
ſtrömung vorhanden. Dieſelbe kam obenauf, als man
19
[290] ſich in ſeinen politiſchen Erwartungen getäuſcht ſah.
Die Vertragsverhandlungen, welche die Gleichberechti-
gung Japans mit den Weſtmächten zur Unterlage hatten,
zerſchlugen ſich kurz vor dem Abſchluß (1889), und die
Erbitterung darüber, ſich als unkultivierte Nation be-
handelt zu ſehen, ſchlug zu hellen Flammen auf. Man
fühlte ſich um ſo mehr beleidigt, als man meinte, durch
die Proklamation der konſtitutionellen Verfaſſung am
11. Februar 1889 den Anſpruch auf den Namen eines
civiliſierten Staates erworben zu haben. Die nationale
Enttäuſchung machte ſich Luft in einem Attentat auf
den Miniſter des Auswärtigen Okuma (Oktober 1889).
1890 wurde das erſte Parlament eröffnet. Die Politik,
ohnedies das Steckenpferd der Japaner, verſchlang alle
anderen, im beſonderen die religiöſen Intereſſen, und
als bald darauf der Kampf um Parlamentsherrſchaft
oder Clansregierung begann, in deſſen Verlauf das
Parlament mehrmals aufgelöſt wurde und die Regie-
rung des öftern wechſelte, kam man aus der politiſchen
Aufregung nicht mehr heraus.
Dem Fremden gegenüber verſteifte man ſich mit
Fleiß auf das Original-Japaniſche. Die europäiſche
Kleidung, welche immer mehr in Mode gekommen war,
verſchwand bei den Frauen wenigſtens vollſtändig, was
zwar vom äſthetiſchen Standpunkt aus keineswegs zu
beklagen iſt. Gegenüber den in den Mädchenſchulen der
Miſſionen mit Unbedacht gepflegten europäiſchen emanzi-
pierten Manieren beſann man ſich wieder auf das alt-
japaniſche Frauenideal. Europäiſche Zimmereinrich-
tungen, für welche man ſich zuvor begeiſtert hatte, waren
billig wiederzuhaben, und ſelbſt der Japaner, der jahre-
lang im Abendlande ſtudiert hatte, verſchmähte den
europäiſchen Stuhl und ſetzte ſich nach japaniſcher Sitte
auf den Boden. Der Moderniſierungsfanatismus hatte
[291] ſich ſogar bis auf den Rundtanz erſtreckt, trotzdem er
dem äſthetiſchen Gefühl des Japaners der Inbegriff des
Abſcheulichen iſt; jetzt aber hörte auch das auf.
Auch die Perſonen der Abendländer wurden un-
beliebt. Man ſah ſie nicht mehr gern in Regierungs-
ſtellungen und beſchnitt ihre Zahl ſo viel als möglich.
Ausſchreitungen von ſeiten von Studenten und Kuli
kamen wieder vor, und die Attentate auf den Czarevitſch
und Li Hung Chang ſind weiter nichts als die Aus-
brüche einer tiefgehenden Abneigung gegen die Fremden.
Als der Krieg mit China kam (1894), glaubte man, die
Stimmung werde ſich entladen und normale Zuſtände
zurückkehren. Das Gegenteil war der Fall. Über den
Erfolgen wuchs das Selbſtgefühl, und als am Schluſſe
der oſtaſiatiſche Dreibund, Rußland, Frankreich und
Deutſchland, die japaniſche Regierung zum Verzicht auf
die Liaotung-Halbinſel zwangen, wurde die Abneigung
gegen die Fremden ſchärfer als zuvor. Selbſt der zuerſt
mit England erfolgte Abſchluß der Handelsverträge
(1894), welche für Japan überaus ehrenvoll ſind, konnte
die Volksſtimmung nicht freundlicher geſtalten; auch ſie
bewirkten nur eine Steigerung des Selbſtgefühls. Nach
dem Kriege nahmen Handel und Induſtrie einen unge-
heuren Aufſchwung und traten gleichfalls beherrſchend
in den Intereſſenkreis des Volks. Dazu war durch
Formoſa und Korea dafür geſorgt, dem neuigkeitsſüchtigen
Volke beſtändige aufregende Unterhaltung zu bieten, und
die Stimmung wurde natürlich nicht beſſer, als die
Weſtmächte an die Aufteilung von China gingen und
Japan aus dem ſchönen Traume herausriſſen, als gehöre
ihm allein der Oſten Aſiens.
In erhöhtem Maße wandte ſich die Abneigung
gegen das Chriſtentum. Es iſt wie eine Ironie, daß
gerade in dem Augenblick, da dem Chriſtentum durch
19*
[292] die Verfaſſung die langerſehnte Religionsfreiheit ver-
bürgt wurde, die böſe Zeit für dasſelbe begann. Mit
einem Male glaubte man entdeckt zu haben, daß durch
den chriſtlichen Geiſt die Beſonderheit und Eigentüm-
lichkeit des japaniſchen Charakters und damit die Grund-
lage der nationalen Selbſtändigkeit untergraben werde.
Der Patriotismus, und damit die größte japaniſche
Macht, wandte ſich gegen das Chriſtentum, ſowie er
zuvor für dasſelbe geweſen war. Ihm verbündeten
ſich aber alle übrigen Geiſtesmächte; voraus die Bildung,
welche das Chriſtentum als vernunftwidrig bekämpfte,
ferner der Buddhismus, welcher ſich mit einem Male
als Träger des altjapaniſchen Geiſtes aufzuſpielen wußte,
und endlich auch noch der Shintoismus, welchem in der
ſtarken Betonung des Patriotismus noch einmal eine
Blütezeit anzubrechen ſchien. In der That erfüllte der
Kampf die alten erſtarrten Religionen mit neuem Leben,
ſo daß ſie in dieſer Periode eine größere Bedeutung
gewannen, als ſie in den letzten Jahrzehnten beſaßen.
1890 erſchien ein kaiſerlicher Erlaß, welcher die mora-
liſche Erziehung der Jugend wieder ganz auf die kon-
fuzianiſche Grundlage Altjapans ſtellte. Eine Flut von
chriſtenfeindlicher Litteratur überſtrömte das Land. Bud-
dhiſtiſche Zeitſchriften ſchoſſen wie Pilze aus der Erde
auf. Den Höhepunkt erreichte die litterariſche Polemik
1893 in einer Schrift („Kolliſion zwiſchen Religion und
Sittlichkeit“) des Profeſſors der Philoſophie Inouye
Tetſujiro, der früher als Lektor am Orientaliſchen Seminar
zu Berlin thätig geweſen war. Inouye behauptete, das
Chriſtentum habe in Europa keinen wirklichen Einfluß
außer bei Weibern und Kindern und Schuſtern und
Schneidern; gebildete Leute ſeien darüber hinaus; die
theologiſchen Fakultäten ſeien veraltete Anhängſel an
den Univerſitäten, ihre Profeſſoren ſeien gute Gelehrte,
[293] aber ſchlechte Chriſten, die Studenten der Theologie
ſeien arme Schlucker, die aus dieſer ſogenannten Wiſſen-
ſchaft ein Brotſtudium machten; die Moral des Chriſten-
tums ſtehe unter der des Buddhismus, die Sittlichkeit
des chriſtlichen Europa unter der des heidniſchen Japans;
die Blüte des Chriſtentums falle zuſammen mit dem
Verfall des nationalen Wohlſtands (Spanien); auf-
blühende Völker wenden ſich von der Lehre Jeſu ab.
Der Kernpunkt des Büchleins war aber die Behauptung,
daß Chriſtentum und japaniſcher Nationalcharakter ſich
nicht vertragen, daß dieſer durch jenes vernichtet werde.
— Die Chriſten verſäumten nicht, auf die oberflächliche
Schrift ſcharf zu antworten, aber die Gegenpartei fühlte
ſich weſentlich geſtärkt.
Aber auch außerhalb der Preſſe machte ſich die
Rückbewegung bemerkbar. Dieſelben Staatsmänner,
welche zuvor für das Chriſtentum eingetreten waren,
machten nun aus ihrer Verachtung desſelben kein Hehl.
Ito und Inouye, Fukuzawa und Okuma möchten heute
nicht mehr daran erinnert ſein, daß ſie einſt zu chriſt-
lichen Zwecken große Summen ausgegeben haben oder,
wie Fukuzawa, ihre Töchter in Miſſionsſchulen erziehen
ließen. Von den beiden erſten erzählt man ſich, daß
ſie des öftern oſtentativ buddhiſtiſche Tempel beſuchten.
Chriſtlichen Lehrern wurde mehrfach ihre Stellung
ſchwierig gemacht und chriſtlichen Schülern der Verbleib
verleidet, wenn ſie nicht gar ausgeſchloſſen wurden.
Thätliche Beleidigungen von Miſſionaren und Störungen
chriſtlicher Verſammlungen, ſowie Beſchädigungen von
Kirchen, Dinge, welche ganz verſchwunden waren, machten
wieder unliebſam von ſich reden. Schlimmer aber als
alle dieſe Feindſeligkeiten war die Gleichgültigkeit, die
allmählich bei der Maſſe des Volks gegenüber dem
Chriſtentum Platz griff. Dazu hatte man durch den
[294] Krieg die Überzeugung gewonnen, daß man eine große
Nation auch ohne das Chriſtentum werden könne, ja
daß ſelbſt Inſtitutionen der Humanität, wie das Rote
Kreuz, von dem Chriſtentum völlig unabhängig ſeien.
Immer ſeltener wurde es, daß Nichtchriſten die
Gottesdienſte beſuchten. Aber auch für die Chriſten
ſelbſt ſtand das politiſche Intereſſe zu ſehr im Mittel-
punkt, als daß ſie nach wie vor im Chriſtentum auf-
gegangen wären. Es war zuviel der Zerſtreuung, wo
Vertiefung ſehr not gethan hätte. Das religiöſe Leben
erſchlaffte. Tauſende, die nur aus politiſchen Gründen
ſich hatten taufen laſſen, kehrten der Kirche den Rücken,
als ſie ſich enttäuſcht ſahen, Tauſende von anderen,
welche durch die Erregung der Revivals ohne genügende
Durchbildung Chriſtum angenommen hatten, erkalteten
jetzt. Sie alle wurden nach und nach aus den Liſten
der Kirchen geſtrichen. Schwere Kriſen blieben für
keine Gemeinde aus, und nicht jede hat ſie überwunden.
Demgegenüber war die Verſtärkung der chriſtlichen
Macht zwar keine allzu geringe. Allerdings wurde das
Chriſtentum durch zwei Geſellſchaften vermehrt, welche
beſſer nicht erſchienen wären. Es ſind dies die Ply-
mouthbrethren oder Darbyſten (1892), die Anarchiſten
auf dem Gebiete der Kirche, welche darauf ausgehen, die
Chriſten von jeder kirchlichen Gemeinſchaft loszulöſen,
und die Salvation Army (1895), welche als die chriſt-
lichen Radaumacher bei den feinfühligen Japanern die
Sympathien für das Chriſtentum nicht zu erhöhen ver-
mögen. Dagegen machten ſich bei den Kongregationaliſten
unter den geſchilderten Erfahrungen ſchwere Bedenken
geltend, ob man die fremden Miſſionskräfte noch weiter-
hin vermehren ſolle; ja, es war zeitweilig alles Ernſtes
davon die Rede, daß der American Board ſeine Arbeiter
aus Japan zurückziehen werde. Auch mit dieſer Frage
[295] beſchäftigte ſich die 1895 entſandte Deputation, und ſie
faßte den unter den obwaltenden Verhältniſſen weiſen
Beſchluß, von einer Vermehrung des Miſſionsperſonals
zwar vorläufig abzuſehen, dasſelbe aber doch in ſeiner
gegenwärtigen Stärke zu belaſſen. Vielleicht daß man
doch für Zurückziehung wenigſtens eines Teiles geſtimmt
hätte, wenn nicht während ihrer Anweſenheit in Japan
die Miſſionare der Kirche Chriſti (presbyt.) unter ſtill-
ſchweigender Zuſtimmung auch der anderen Geſell-
ſchaften im Oktober 1895 einen überaus bemerkens-
werten Proteſt erlaſſen hätten, worin ſie es für geboten
erklärten, daß die fremden Arbeiter auch künftighin
vermehrt werden. In der That beruht die im Abend-
lande vielverbreitete Anſicht, als ſeien die japaniſchen
Chriſten ſelbſtändig genug, weiter für ſich zu ſorgen,
auf einer Verkennung der Verhältniſſe. Die Vorgänge
in den Doſhiſhakreiſen haben im Gegenteil gezeigt, daß
das junge japaniſche Chriſtentum ohne die beſonnene
Leitung der Miſſionare noch für lange hinaus nicht zu
beſtehen vermag. Mit den Gemeinden iſt es wie mit
den einzelnen. Allzu früh auf eigene Füße geſtellt,
gehen die beſten und vielverſprechendſten Kräfte wieder
verloren. Darum darf das independentiſtiſche Verwaltungs-
prinzip der Kongregationaliſten auf dem Miſſionsfelde
nur mit pädagogiſcher Weisheit angewandt werden.
Laſſen wir nun die Zahlen reden. In den erſten
Jahren zwar iſt der Rückſchlag noch nicht ſo deutlich
bemerkbar. Der Strom, der in die Kirchen einmündete,
war doch zu ſtark, als daß er ſich mit einem Male ein-
dämmen ließ. So betrug am Ende des Jahres 1892
die Zahl der fremden Miſſionsarbeiter 420 (gegen
1889 + 57), der Stationen 656 (+ 123), der organi-
ſierten Gemeinden 365 (+ 91), darunter ſelbſtunter-
haltende Gemeinden 77 (— 16), der Schüler und Schüle-
[296] rinnen 6893 (— 3404), der Sonntagsſchüler 22777
(+ 1180), der Theologieſtudierenden 359 (+ 72) in 16
(+ 2) Schulen, der einheimiſchen Prediger 233 (+ 98),
der nichtordinierten Hilfsarbeiter (männl. und weibl.)
637 (+ 50). Die Geſamtzahl der evangeliſchen japa-
niſchen Chriſten war auf 35534 angewachſen gegen
28977 (alſo + 6557). Es ſind alſo im allgemeinen
noch ziemliche Steigerungen zu verzeichnen, dagegen iſt
die Verlangſamung des Bekehrungsprozeſſes klar erkenn-
bar, wenn man bedenkt daß der Jahreszuwachs der
Chriſten im Durchſchnitt nur noch 2186 (gegen 3514)
betrug.
Seit 1893 trat zeitweilig ein völliger Stillſtand,
in manchen Jahren (1895—96) ſogar ein Rückſchritt
ein. Am Schluſſe 1897 beträgt die Zahl der evange-
liſchen Chriſten 40578 (gegen 1892 + 5044, Jahres-
durchſchnitt nur noch 1008); die fremden Miſſions-
arbeiter zählen 456 (+ 36), die ordinierten Prediger
302 (+ 69), die nichtordinierten Hilfsarbeiter 879
(+ 242), die Miſſionsſtationen 885 (+ 229). In Bezug
auf die Vermehrung beſonders der japaniſchen Arbeiter
und auf Inangriffnahme neuer Stationen iſt alſo eine
bedeutende Steigerung zu bemerken, der aber die Er-
folge keineswegs entſprechen. Wiederum bedeutend
zurückgegangen iſt die Zahl der ſich ſelbſt erhaltenden
Gemeinden (72 gegen 77), und der Zuwachs an orga-
niſierten Gemeinden iſt ſehr gering (384 gegen 365,
alſo + 19 bei 229 neuen Stationen). Der Beſuch der
Miſſionsſchulen hat ſich etwas gehoben (8715), der der
Sonntagsſchulen hat ſich enorm gehoben (35033), da-
gegen iſt die Zahl der Theologieſtudierenden von 359
auf 169 (— 190) herabgeſunken. Die Beiträge zur
Selbſtunterhaltung ſind auf 81551,72 Yen geſtiegen
(gegen 53503,13 im Jahre 1889). Der Zuwachs wurde
[297] freilich erſt durch das letzte Berichtsjahr erbracht; 1896
betrugen die Beiträge nur erſt 60504,56 Yen.
Überhaupt hat das Jahr 1897 einen bedeutenden
Fortſchritt des geſamten Miſſionswerks zu verzeichnen.
Möglich, daß die Reaktion ihren Höhepunkt überſchritten
hat. Es iſt freilich ſchon manche Prophezeiung beſſerer
Zeiten in dieſem letzten Jahrzehnt ausgeſprochen worden;
aber immer iſt der Wunſch der Vater des Gedankens
geweſen. Gern hoffen wir, daß ein ſo guter Beobachter
wie unſer Miſſionar Schiller Recht behält, wenn er
(Z. M. R. XIII, S. 154) im Frühjahr 1898 ſchreibt:
„40578 evangeliſche Chriſten, das iſt eine Zahl, welche
bisher noch nicht erreicht worden war; ſie geht über
die bisherige Höchſtziffer vom 31. Dezember 1894 um
1338 Seelen hinaus, ſo daß alſo thatſächlich ein nach-
weislicher Fortſchritt zu verzeichnen iſt. Man hatte ihn
ſchon einigermaßen vorausſehen können; denn es war
nicht zu leugnen, daß die Feindſchaft gegen das Chriſten-
tum trotz aller chauviniſtiſchen Bemühungen einzelner
Kreiſe abgenommen hatte, daß mehr religiöſes Leben
in den japaniſchen Gemeinden ſich zeigte, auch mehr
Zuverſichtlichkeit bei den treugebliebenen Predigern.
Das Auge des gläubigen Hoffens ſieht ſchon einen neuen
Frühling kommen, wenn erſt alle die welken Blätter
abgeſtoßen ſind. Gott wolle ihn geben zum Segen des
japaniſchen Volkes, damit dasſelbe anfange, neben ſeiner
politiſchen auch ſeine chriſtliche Aufgabe in der Welt-
geſchichte zu löſen!“
Betrachten wir die einzelnen Geſellſchaften und
Gruppen, ſo ſteht auch jetzt wieder die Kirche Chriſti
(verein. Presbyt., 7 Geſellſchaften) an Zahl der Mit-
glieder mit 11108 obenan. Ihm folgen, wie früher
auch, mit 10047 die Kumiaikirchen (kongreg.), die aber
an Zahl der organiſierten Gemeinden (73 zu 70), ferner
[298] an Zahl der ſich ſelbſterhaltenden Gemeinden (38 zu 14),
ſowie auch an Beiträgen der einheimiſchen Chriſten
(22925 zu 18158 Yen) jene überragen. Beide hatten
viel unter den inneren Zwiſtigkeiten zu leiden und ſind
in den acht Jahren der Reaktion wenig gewachſen.
Vielmehr fällt der Löwenanteil an dem Gewinn dieſer
Jahre der an dritter Stelle ſtehenden Nippon Sei
Kyokwai (verein. Episkopale) zu. Autoritätskirche wie
ſie iſt, ſind innere Kämpfe bei ihr am wenigſten hervor-
getreten. Sie zählt jetzt 8349, hat aber nur eine
einzige Gemeinde, die ſich ſelbſt erhält, und ihre Mit-
glieder leiſten nur 8604 Yen an Beiträgen. Weit
beſſer in dieſer Hinſicht ſtehen die fünf methodiſtiſchen
Geſellſchaften da, doch ſind ſie an Zahl der Bekehrten
mit gegenwärtig 7053 nicht bemerkenswert vorange-
kommen, was wohl auf eine ſehr ſcharfe Sichtung der
toten Glieder zurückzuführen iſt. Die vier Geſellſchaften
der Baptiſten zählen 2651 Gläubige; der Reſt verteilt
ſich auf eine Anzahl kleinerer Geſellſchaften.
Auch die Fukiu Fukuin Kyokwai des Allg. ev.-prot.
Miſſionsvereins hat den Sturm dieſer Periode über ſich
ergehen laſſen müſſen. Neue große Unternehmungen
ließen ſich nicht ausführen; auch ſie mußte erfahren,
daß eine Zeit der Konzentration, nicht der Expanſion
gekommen ſei. Zeitweilig hat ſie ihren Beſitzſtand ſo-
gar aus freien Stücken etwas vermindert. Ihre Send-
boten ſahen ſich gewiſſenshalber veranlaßt, die beiden
kleinen Gemeinden Shiba und Hoden, welche für den
Fortſchritt des Werkes belanglos waren, für die ſchwachen
Arbeitskräfte aber eine große Belaſtung bedeuteten, an
die Univerſaliſtenmiſſion abzugeben. Aber auch während
dieſer Periode fanden fortwährend Taufen ſtatt, welche
den durch Wegzug und eine reinlich durchgeführte Aus-
ſcheidung toter Glieder verurſachten Verluſt wieder
[299] deckten. Dabei blieben die geiſtige Rangſtellung und
der moraliſche Einfluß unſerer Miſſion nach wie vor ſehr
bedeutend. Wenn ſchon bemerkt wurde, daß das Jahr
1897 ein Segensjahr für die japaniſche Arbeit war, ſo
gilt das im beſonderen Maße für das deutſch-ſchweizeriſche
Miſſionsunternehmen. Keine Zeit zuvor brachte ihm einen
ſolchen Zuwachs an Arbeitskräften. Aus Deutſchland
kam ein dritter Miſſionar mit ſeiner Gattin und in der
jungen Gefährtin des einzigen bisher unverheirateten
Miſſionars iſt dem Werke noch eine weitere Gehilfin
erſtanden. Die theologiſche Schule abſolvierten gleich-
zeitig drei hoffnungsvolle und thatenfrohe junge Männer,
deren einer ſchon vor Beginn ſeines theologiſchen Stu-
diums in einer angeſehenen Lehrerſtellung an einer
höheren Schule ſeine Tüchtigkeit erwieſen hatte. Sie
traten ſofort in die praktiſche Arbeit ein. Neben der
Muttergemeinde Hongo beſtehen heute noch weitere drei
Stationen, zwei in den Stadtteilen Yotzuya und Shi-
taya und eine in der Tokyo benachbarten Kreishaupt-
ſtadt Chiba. Als ein weiterer Erfolg des Jahres 1897
darf auch die Einweihung der neuerbauten deutſch-evan-
geliſchen Kirche zu Tokyo bezeichnet werden. Heute geht
es auf der ganzen Linie langſam, aber mit Vertrauen
erweckender Sicherheit voran. Die Berichte unſerer
Miſſionare klingen zuverſichtlich, und wer ihre Ar-
beit mit Aufmerkſamkeit verfolgt und neben ihrem
unverdroſſenen Thun auch das betende Herz erkennt,
mit welchem ſie unter der Fahne Chriſti, des einigen
Heilandes, ſtehen, der kann nimmermehr zweifeln, daß
auch hier das Verheißungswort Gottes mehr und mehr
zur Erfüllung kommen wird: „Ich will dich ſegnen und
du ſollſt ein Segen ſein!“
Die evangeliſche Miſſion iſt die einzige nicht, ja
ſie wird gegenwärtig an Zahl der Mitglieder noch über-
[300] ragt durch die römiſch-katholiſche. Dieſelbe hielt 1861
ihren Einzug. Wenige Jahre darauf entdeckte ſie die
Reſte der aus der Jeſuitenmiſſion verbliebenen Chriſten,
nach ihren wohl etwas übertriebenen Angaben nicht
weniger als 7000. Schon im Jahre 1881 wird von
25633 katholiſchen Chriſten berichtet (gegen damals
4412 evangeliſche). Im Jahre 1886 waren es 32294,
doch hat ſich die Zunahme ſeitdem im Vergleich zu
dem Wachstum der Evangeliſchen etwas verlangſamt.
Am Ende des Jahres 1897 zählte die römiſche Kirche
52796 Glieder. Im Vergleich zu dem Vorjahr be-
deutet das trotz 3033 Kindertaufen — ein treffliches
Charakteriſtikum der römiſchen Miſſionspraxis! — nur
einen Zuwachs von 619 (gegen 2217 Evangeliſche).
Unter den erwachſenen Mitgliedern bröckelt es alſo
ſtark; die römiſche Lehre verträgt ſich nicht mit dem
mündig gewordenen japaniſchen Geiſt. Wie überall, ſo
beruht die Stärke der römiſchen Miſſion auch hier in
der Organiſation. Das Land iſt in vier Bistümer ein-
geteilt, ein Erzbiſchof hat in Tokyo ſeinen Sitz. Das
Gros der Gläubigen befindet ſich auf Kyuſhiu. Die
Arbeit liegt in den Händen der Pariſer Miſſionsge-
ſellſchaft. Faſt alle Miſſionare ſind Franzoſen oder
vielmehr, damit ich es beſſer ſage, Elſaß-Lothringer.
In ihrer Knabenſchule auf dem Kudanhügel in Tokyo,
deren Vorſteher den guten deutſchen Namen Heinrich
trug, waren zur Zeit meiner Anweſenheit 17 Laien-
brüder (bei 120 Schülern!) thätig, alle Elſaß-Lothringer;
ſie verſtanden durchweg deutſch, gaben ſich aber als
Franzoſen aus. Wer geſellig mit den weltgewandten
Männern zu verkehren Gelegenheit hatte, kann es be-
greifen, daß unſere Reiſenden von dieſen wirklich ge-
winnenden Perſönlichkeiten entzückt ſind. Wenn ſie aber
[301] ihre Sympathien auch auf das Werk jener Männer
übertragen, ſo iſt das ſehr kurzſichtig.
Einen ungemein tüchtigen Vertreter hat die ruſſiſch-
orthodoxe Miſſion, welche in Japan ihr einziges Arbeits-
feld beſitzt, in ihrem Biſchof Nikolai. Derſelbe kam im
Jahre 1862 nach Hakodate, wo er 1864 vorübergehend
mit Niſhima Beziehungen hatte. Später ließ er ſich
in Tokyo nieder, wo er auf dem Surugadaihügel eine
ſtolze Kathedrale errichtete. Er hat von jeher unter
Verzicht auf ruſſiſche Hilfe faſt nur mit Japanern ge-
arbeitet und dabei zahlenmäßig ſehr große Erfolge
errungen. Die ruſſiſche Kirche, die freilich in den letzten
Jahren ſehr wenig gewachſen iſt, zählt heute d. h. Ende
1897 23856 Mitglieder. Die politiſche Rivalität, welche
ſeit kurzem zwiſchen Japan und Rußland aufgetaucht
iſt, und die im Verlauf der Zeit ſich immer mehr zu
feindſeliger Spannung auswachſen wird, bleibt für die
Folge ein ſchweres Hindernis des ruſſiſchen Miſſions-
werks.
Die Geſamtſumme japaniſcher Chriſten beträgt
heute 117224. Auf 364 Bewohner kommt 1 Chriſt.
Ob in hundert Jahren die heutigen Kirchen noch be-
ſtehen werden, iſt zweifelhaft. Sicher aber iſt, daß das
Chriſtentum der Zukunft, wenn auch ſelbſtändig japaniſch,
nur eins zur Grundlage haben wird: Das Evangelium
Jeſu Chriſti.
[[302]]
X. Die Einzelbekehrung.
Das Gepräge des japaniſchen Miſſionsfeldes iſt
eigentümlicher Natur. Wir haben es hier nicht mit
rohen „Wilden“ zu thun, ſondern mit einem in ſeiner
Art gebildeten Kulturvolk, welches zudem mit Rieſen-
ſchritten ſich auf europäiſchen Boden ſtellt. Daß ein
japaniſcher Kulturmenſch, vielleicht gar ein Schüler oder
Lehrer der Hochſchule, anders zu behandeln iſt als ein
menſchenfreſſender Südſeeinſulaner, verſteht ſich wohl
von ſelbſt. Man behandelt ja auch einen ſechzehnjährigen
Gymnaſiaſten anders als ein ſechsjähriges Kind; und
wiederum, von einem Gymnaſialprofeſſor fordert man
anderes als von einer Kindergärtnerin. Nicht jeder
Miſſionar, der für Afrika vortrefflich paßt, iſt auch in
Japan zu gebrauchen, während ich andererſeits wieder
der ehrlichen Überzeugung bin, daß wenige von denen,
die ich in Japan kennen lernte, in Afrika recht an ihrem
Platze wären.
Man macht ſich hierzulande kaum einen Begriff,
welche Anſprüche an das Wiſſen eines Miſſionars in
Japan geſtellt werden. Wollten unſere Miſſionsgeſell-
ſchaften nur Leute ausſenden, welche mit Bezug auf
wiſſenſchaftliche Qualifikation allen Anforderungen voll
und ganz entſprächen, ſie könnten lange ſuchen. Der
Japaner iſt mitunter zu naiv. Er iſt im ſtande zu
denken: „Der Miſſionar iſt ja ein Europäer, oder er
iſt gar ein Deutſcher; er hat eine deutſche Hochſchule
[303] abſolviert, alſo muß er auch alles wiſſen, muß ungefähr
ſo weiſe ſein, wie der erleuchtete Buddha ſelbſt“. Von
dem Miſſionar Dr. Knox wird allen Ernſtes erzählt,
als er nach Kochi kam, glaubte das Volk, daß er
alles wiſſe, und erbat ſeinen Rat über alles und jedes,
von der Papierfabrikation bis zu den Geheimniſſen der
Staatskunſt. Und wenn die Verhältniſſe ſeitdem auch
mit Bezug auf die Taxierung der Fremden etwas anders
geworden ſind, ſo müßte auch heute noch der richtige
Miſſionar eigentlich ein wandelndes Konſervations-
lexikon ſein oder, noch beſſer, ein Automat für alles,
daran man nur zu tippen braucht, und das Gewünſchte
iſt auch ſchon da. Nirgends kommt man ſo raſch zu
der Erkenntnis, daß man nichts weiß, wie gerade in
Japan. Und wenn Sokrates es in feiner Ironie ver-
ſtanden hat, die wiſſensſtolzen Athener auf das Eis
zu führen, ſo bringen das die Japaner in unbeab-
ſichtigter Naivetät nicht minder gut fertig. Da kommt
ein Gelehrter und fragt mich aus über die naturwiſſen-
ſchaftliche Entwicklungslehre, und wie ſich dieſelbe mit
einem theiſtiſchen Gottesbegriff vereinigen laſſe; dann
klopft ein buddhiſtiſcher Prieſter von der ſpiritiſtiſch-
okkultiſtiſch angehauchten Zenſekte an und möchte haar-
ſcharf über die Bedeutung der Worte: „Sie werden Gott
ſchauen“ aufgeklärt ſein, eine Aufgabe, dabei der Miſſionar
ſchon von vornhein das keineswegs angenehme Gefühl
hat, daß er ſelbſt mit der peinlichſten Exegeſe dieſen
Mann nicht befriedigen wird; und ſchließlich kommt
ein dritter, welchen der Wiſſensdurſt plagt, und fragt,
wie viele Kirchen Berlin habe. Manchmal ſitzt man
mit ihnen zuſammen, und in drei Sprachen, japaniſch,
deutſch und engliſch, gehen die Fragen und Antworten
hin und her.
[304]
Der Japaner verlangt, daß man zu jeder Stunde
Zeit für ihn habe, womöglich ſogar während der Unter-
richtsſtunden. In der erſten Zeit meines japaniſchen
Aufenthaltes war die Nachfrage nach dem Miſſionar
immer noch groß. Wenn ich um zwölf Uhr aus der
Schule kam, warteten oft ſchon zwei bis drei Perſonen,
ſo daß an ein gemütliches Eſſen nicht mehr zu denken
war. Einmal, als ich vor ſechs Uhr morgens aus
meinem Schlafzimmer trat, — das Frühaufſtehen lernt
ſich hier von ſelbſt, auch für den, der es früher nicht
gewöhnt war, — teilte mir der Schuldiener mit, daß
ſchon ſeit fünf Uhr jemand auf mich warte; und dabei
durfte ich es nicht als eine Rückſichtsloſigkeit von ſeiten
des Beſuchers empfinden, mich ſo früh ſchon zu ſtören,
ſondern mußte es als eine Taktloſigkeit von mir betrachten,
den Beſucher ſo lange warten zu laſſen, ſo daß ich den
Diener wegen ſeines Verſäumniſſes, mich zu wecken,
zurechtweiſen mußte. Manches Mal des Abends, wenn
man ſich gerade in Ruhe auf den Unterricht am nächſten
Vormittag vorbereiten wollte, kam japaniſcher Beſuch,
und dann durfte man die Vorbereitung ruhig auf die
goldmundigen Frühſtunden des nächſten Tages verſchieben.
Denn japaniſche Beſuche dehnen ſich nach unſern Be-
griffen ungebührlich lang aus. Wo der Japaner ein-
mal ſitzt, ſteht er ſo bald nicht wieder auf. Das ame-
rikaniſche Sprichwort: „Time is money“, iſt der Maſſe
des Volkes bis jetzt noch nicht verſtändlich. Auch kann
man den Beſucher nicht fortſchicken. Es giebt ja wohl
auch verſtändnisvolle Leute; aber in der Regel würde
ſelbſt die feinſte derartige Andeutung von dem in Sachen
des Taktes mehr als feinfühligen Japaner ſofort als
ein Verſtoß wider den Anſtand empfunden werden.
Der Anſtand aber, die Höflichkeit, ſteht für weite Kreiſe
[305] des Volks über der Sittlichkeit. Höflichkeit iſt — ſchroff
geſagt und fein verſtanden — mehr als Gutſein. „Ein
unhöflicher Menſch“ iſt das ſchwerſte Verdammungs-
urteil, welches ſich fällen läßt. Wer ſeine Verbeugungen
regelrecht macht und in ſeinen Reden höflich iſt, iſt ein
guter Menſch. Wer wider den Anſtand ſündigt, hat
überhaupt keine Qualität.
Der Japaner iſt geradezu peinlich in ſeiner
Empfindlichkeit, und mancher Mißerfolg des Miſſionars
iſt lediglich darauf zurückzuführen, daß er, vielleicht ohne
es zu wiſſen und zu wollen, formellen Anſtoß erregt
hat. Seine erſte Pflicht iſt darum nicht das Thun,
ſondern das Laſſen; ſie beſteht nicht darin, daß er ar-
beitet, ſondern daß er an ſich arbeiten läßt; nicht darin,
daß er ſeine Kraft entfaltet, ſondern daß er ſeine Kraft
eindämmen läßt durch die Sitte des Landes. Ich habe
einen Fall mit durchlebt, wo dieſes Verſäumnis über
einen Miſſionar eine unglückſelige Kataſtrophe herauf-
geführt hat. Die rückſichtsloſe Entfaltung ſeiner miſſio-
nariſchen Energie, welche in ungeſtümem Thatendrang
ſich durch keine äußere Autorität, am wenigſten durch
die Landesſitte, wollte binden laſſen, iſt ihm ſelbſt und
zum Teil auch ſeiner Miſſion zum Verderben geworden.
„Kommſt du in ein fremdes Land, ſo frage zuerſt, was
verboten iſt“, ſagt der japaniſche Volksmund; und wenn
es auch der Japaner nicht wünſcht, daß der Miſſionar
die Sitte des Landes äffiſch nachmacht, ſo kann doch
keiner von einer taktvollen Handhabung derſelben ent-
bunden werden. Ein alter Veteran auf dem oſtaſiatiſchen
Miſſionsgebiet erzählt, wie ein amerikaniſcher Reiſender
einſt eine Miſſionsſchule beſuchte. Die Schüler waren
vorher davon in Kenntnis geſetzt worden, daß ſie einen
durch Charakter und Kenntniſſe gleich ausgezeichneten
20
[306] Mann ſehen würden, der in ſeinem Vaterlande eine
bedeutende Stellung einnehme. Als er nun in den
Schulſaal eintrat, erhoben ſich alle und machten eine
tiefe, ehrfurchtsvolle Verbeugung. Der Beſucher aber,
der den Brauch des Landes nicht kannte, beachtete dieſe
Begrüßung nicht und begann ſofort eine Anſprache über
die Vorzüge der chriſtlichen Religion. Der eine Akt der
„Ungezogenheit“ aber erſchien den Schülern als der
reinſte Hohn auf die Vorzüge der chriſtlichen Religion,
und der ganze Vortrag ging — wie einer der Hörer
ſpäter verſicherte — eindruckslos über die Köpfe hinweg.
Wenn mich ein friſch angekommener Europäer in meinen
japaniſchen Gottesdienſt begleitete, ſo mußte es einen
ſonderbaren Eindruck auf ihn machen, zu ſehen, wie
meine Predigt begann und ſchloß mit einer tiefen Ver-
beugung gegen meine Zuhörer, welche von dieſen auf
das höflichſte erwidert wurde. Hätte ich mich aber
über dieſen allgemeinen Brauch hinweggeſetzt, ſo hätte
ich bald vor leeren Bänken predigen dürfen.
Einſt hatten wir Beſuch von einem theologiſchen
Landsmann, welcher auf einer Reiſe um die Welt auch
Japan berührte. Ich führte ihn auch in das Gymna-
ſium. Wir kamen in die Prima, wo gerade ein deutſcher
Profeſſor im Anſchluß an ein Schillerſches Drama
Litteraturunterricht erteilte. Der gewandte Kavalier,
der ſeine Salonprobe ſchon oftmals vor Fürſten glänzend
beſtanden hatte, hatte wohl keine Ahnung, daß ſeine
Reputation als Weltmann vor einem Haufen ſchlecht-
gekämmter japaniſcher Jünglinge elend in Brüche gehen
ſollte. Kaum hatte ich ihn dem Lehrer vorgeſtellt, ſo
begann er denſelben zu fragen: „Nun, verſtehen Ihre
Schüler denn auch, was ſie leſen? Sind ſie denn auch
fleißig?“ und andere Fragen mehr, welche nach japa-
[307] niſchen Begriffen höchſt taktlos waren. Dieſes Mal
wenigſtens war es dem vielgereiſten Manne nicht ge-
lungen, ſich zurecht zu finden. Kein Wunder auch!
Hatte er doch ſeinen Aufenthalt in dieſem antipodiſchen
Lande auf nur ungefähr zwanzig Tage feſtgeſetzt, und
wollte er doch in dieſer Zeit alles ſehen und in einiges
ſich noch liebevoll vertiefen! Ich bin heute noch davon
überzeugt, daß er voll von ſich befriedigt war, als er
nach einigen, in jovialem Tone gegebenen Ermahnungen
ſich verabſchiedete. Der Lehrer und ich aber ſtanden
dabei mit ſchamroten Geſichtern, und als wir das nächſte
Mal zuſammenkamen, teilte er mir mit, daß er nachher
Mühe gehabt habe, die Schüler wieder zu beruhigen
und den Beſucher, der die Sitte des Landes nicht kenne
und zu Hauſe durch eine einflußreiche Stellung verwöhnt
ſei, zu entſchuldigen. „Bringen Sie mir aber nur ja
keinen civiliſierten Europäer mehr in meine Schule“,
bat er mich zum Schluß.
In dieſem Zuſammenhang wird auch eine nur
oberflächliche Kenntnis der Höflichkeitsſprache leicht zu
einem zweiſchneidigen Schwert. Mag auch ein unge-
ſchickter und objektiv unhöflicher Ausdruck von zwei
Verſtändigen nur als lächerlich empfunden werden, ein
Dritter nimmt ihn doch übel. Wie ſehr man die höf-
liche Ausdrucksweiſe im Munde eines Miſſionars zu
ſchätzen weiß, geht daraus hervor, daß ein Japaner
einer durch Kraft und Tiefe gleich ausgezeichneten ja-
paniſchen Predigt eines Abendländers kein höheres Lob
zu ſpenden wußte, als daß er als einziges die feine
und höfliche Ausdrucksweiſe der Predigt bewundernd
hervorhob.
Hätte es der Miſſionar mit Japanern nur in ſeinem
eigenen Hauſe zu thun, ſo wäre eine genaue Beobachtung
20*
[308] der Etikette des Landes nicht unbedingt nötig. Denn
der Japaner anerkennt das Wort: „My house is my
castle“. Aber ſein Beruf zwingt ihn, ſich nicht abzu-
ſchließen, ſondern in das Volk hineinzudringen. Je
ſeltener man in den letzten Jahren japaniſche Beſuche
empfing, wo man von dem Chriſtentum weniger wiſſen
wollte, um ſo notwendiger wurde es, die Leute in ihren
Häuſern aufzuſuchen. Kein Haus darf dem Miſſionar
zu gering, keines auch zu vornehm ſein. An einem
Beſuchsnachmittag führte mich mein Weg in kleine,
ärmliche Studentenbuden und in baufällige Baracken
von Tagelöhnern, und unmittelbar vielleicht von da in
die Wohnung eines Miniſters oder eines Wirklichen
Geheimen Staatsrats Excellenz. Für den Miſſionar
heißt es Fühlung haben mit dem Volk und zwar mög-
lichſt mit allen Volksſchichten. Nur ſo lebt man ſich
in das Volk hinein und lernt ſeine Eigenart verſtehen;
nur ſo wird man bekannt mit den Strömungen, welche
augenblicklich durch das Volk hindurchgehen und für
den Erfolg und Mißerfolg der Miſſion von maßgeben-
dem Einfluß ſein können; ſo auch laſſen ſich Verbindungen
anknüpfen, die ſich weiterhin als fruchtbringend erweiſen
mögen. Es iſt ja nicht zunächſt religiöſe Arbeit, die
man da thut. Man darf auch nicht denken, daß man
an die Leute direkt mit Bekehrungsverſuchen herantreten
könnte. Es iſt vielmehr vorbereitende und doch zugleich
grundlegende Arbeit, deren Wichtigkeit über jede Erör-
terung erhaben iſt, und welche zu dem auf dem ja-
paniſchen Miſſionsfelde notwendigen Bekehrungsapparat
unbedingt gehört.
Ich bin in der Heimat in allen Schichten der Be-
völkerung, in gebildeten Kreiſen oft noch mehr als bei
dem niederen religiöſen Volk, den ſeltſamſten An-
[309] ſchauungen begegnet, wie man ſich eigentlich eine Be-
kehrung vorſtellt. Und doch giebt es wenig Dinge, die
ſich leichter erklären, freilich auch nicht allzu viele, die
ſich ſchwerer thun ließen, als das. Die geiſtige Ent-
wicklung geht eben dieſelben Wege, wie die Entwick-
lung in der Natur. Gott regiert nicht mit zweierlei
Geſetz und mißt nicht nach zweierlei Maß. Dasſelbe
Geſetz, welches in der natürlichen Welt waltet, geht
auch durch die Welt des Geiſtes. Ehe der Landmann
daran denken darf, die goldenen Garben einzuführen
in ſeine Scheunen, muß er vor allem einmal Grund
und Boden beſitzen, den er ſein eigen nennt. Und wenn
er den hat, ſo geht er nicht gleich an die Ausſaat.
Da gilt es zunächſt, den Boden zu reinigen von Diſteln
und Dornen und all dem mannigfachen Unkraut, das
darauf wächſt; es gilt, den Acker zu pflügen und locker
zu machen. Dann erſt darf man daran gehen, die
Ausſaat zu beſorgen. Und wenn dieſes gethan iſt, ſo
dauert es lange, bis die erſten zarten Keime hervor-
ſprießen, und wieder währt es Wochen und Monate,
bis die Keime in den Halm ſchießen; und nochmals
braucht es viel Geduld, bis ſchließlich die Ähren an-
ſetzen und Frucht tragen und weiß und reif zur Ernte
werden. Es iſt eine Geduldsarbeit im beſten Sinne
des Wortes.
Genau ſo iſt es auch auf dem Miſſionsfeld. Genau
dieſelben fünf Stadien der Entwicklung: Der Erwerb
des Bodens, das Pflügen des Ackers, die Beſorgung
der Ausſaat, das Wachſen der Frucht und das Ein-
heimſen der Ernte, laſſen ſich auch bei dem Bekehrungs-
prozeß deutlich unterſcheiden. Es iſt kein neuer Ver-
gleich, der hier gemacht wird; es iſt vielmehr der alte
Vergleich des Apoſtels Paulus, wenn er vom Pflanzen
[310] und Begießen ſpricht und dann hinzufügt: „Ihr ſeid
Gottes Ackerwerk“.
Der erſte Teil beſteht alſo darin, daß der Miſſionar
ſich Boden ſchafft, Material, an dem ſich arbeiten läßt,
Leute, die an ſich arbeiten laſſen. Man darf nicht etwa
meinen, daß ihm der Grund und Boden von ſelbſt zu-
fällt, wie den alten europäiſchen Anſiedlern in Amerika.
Man darf nicht glauben, daß es nur zu heißen braucht:
„Der Miſſionar X. iſt angekommen“, und ſofort laufen
ihm die Leute zu, um ſich von ihm belehren und taufen
zu laſſen. Ganz im Gegenteil: Der Miſſionar darf
nicht warten, bis die Leute zu ihm kommen — denn
da könnte er lange warten, — vielmehr muß er zu den
Leuten gehen. Auf dem Miſſionsfeld gilt der Satz unbe-
dingt, daß nicht das Volk in die Kirche geht, ſondern
daß zuerſt die Kirche in das Volk gehen muß. Man dürfte
ſich auf eine Kanzel in Tokyo ſtellen und Sonntag
für Sonntag die erbaulichſten und die geiſtvollſten Pre-
digten halten, und man würde doch dadurch keine neuen
Zuhörer in die Kirche hereinlocken. Ein vortrefflicher
Prediger kann immer noch ein ſehr ſchlechter Miſſionar
ſein. Mir ſind durch die praktiſche Bibelerklärung der
alten Lehrmeiſterin Erfahrung auf dem Miſſionsfelde
manche Worte der Heiligen Schrift klarer geworden
als durch die wiſſenſchaftliche Exegeſe im Hörſaal, und
zu dieſen Worten gehört auch das: „Gehe hinaus auf
die Landſtraßen und an die Zäune und nötige ſie herein
zu kommen!“
„Gehe hinaus auf die Landſtraßen und an die
Zäune!“ Es giebt nicht wenige, welche dieſer Mahnung
buchſtäblich Folge leiſten. Auf vielen Miſſionsgebieten
verſucht man es mit der Straßenpredigt. Man ſtellt
ſich an einem öffentlichen Orte auf, wo viele Menſchen
[311] zuſammen oder vorüber kommen, und predigt; und ob
die Leute wollen oder nicht, ſie ſind genötigt, Notiz
davon zu nehmen, weil ihnen die Stimmen der Pre-
diger in die Ohren ſchallen. Auch in Japan hat man
vereinzelt dieſes verſucht. Im Uenopark in Tokyo konnte
man jeden Sonntag Nachmittag das Schauſpiel ſehen:
Eine alte Dame, welche auf einem alten Harmonium
ſpielte, einige junge Mädchen und Jünglinge, welche
Lieder ſangen, und ein Evangeliſt, welcher predigte.
Ich bin manchmal vorübergekommen, und immer hatte
ſich eine kleine Anzahl von Zuhörern verſammelt, und
ich ſelbſt ſtand manchmal im Hintergrunde dabei. Aber
ſtets ging ich unbefriedigt von dannen mit dem klaren
Gefühl: Das iſt die rechte Art nicht! In London habe
ich viele Straßenpredigten gehört, nicht bloß von der
Heilsarmee und miſſionierenden Niggern, welche damit
ihr Brot verdienen und gierig nach den paar Pfennigen
greifen, welche mitleidige Zuhörer am Schluſſe ihnen
zuwerfen; nein, ich habe auch einen bedeutenden Pre-
diger der als ſtolz bekannten und von anderer Seite als
geiſtig hochmütig verſchrieenen Sekte der Unitarier ge-
kannt, welcher es nicht verſchmähte, im Hydepark öffent-
lich zu predigen. In Deutſchland dagegen habe ich
derartiges nie geſehen. Was ſich für England ſchickt,
ſtößt in Deutſchland ab. So iſt es auch in Heiden-
landen. Die öffentlichen Predigten bei heidniſchen Tem-
pelfeſten in Indien und die Wanderpredigt in Afrika
mögen ſehr wohl am Platze ſein; dem Japaner aber,
welcher peinlich darauf ſieht, daß alles, was geſchieht,
geordnet und der Sitte gemäß geſchieht, iſt dieſe Art
in der Seele zuwider. Der Japaner, der ſelbſt auf
Etikette und eine gewiſſe vornehme Art ſtrenge hält,
verlangt von jedermann und auch von dem Chriſtentum
[312] eine gewiſſe Vornehmheit. Durch Straßenpredigten
macht es ſich vulgär und erniedrigt ſich zur Gaſſen-
religion. Die Heilsarmee, welche mit der letzten Hälfte
des letzten Jahrzehnts Japan gleichfalls beglückt hat,
wird damit noch ihre Erfahrungen machen, wenn ſie
auch derartigen Erfahrungen ſchwer zugänglich iſt. Der
Japaner verbittet ſich innerlich jede Art von Zudring-
lichkeit, wenn er auch äußerlich das nicht an den Tag
legen mag. Es laſſen ſich darum auch in der Weiſe
keine oder doch nur ſehr vereinzelte Verbindungen
ſchaffen, daß man etwa mit ſeinem Nachbar in der
Pferdebahn oder in dem Eiſenbahnwagen ein religiöſes
Geſpräch anknüpft. Damit käme man bei dem fein-
ſinnigen und feinfühligen Japaner nicht weit; und in
der Regel würde man nur das eine erreichen, daß man
ſich in ſeinem Urteil zu einem rohen, ungeſchliffenen
und ungebildeten Menſchen machte.
Es bedarf alſo anderer Mittel und Wege, das
Bekehrungsmaterial zu beſchaffen. Die oben erwähnten
Beſuche ſind zu dieſem Zweck ja durchaus nicht zu
unterſchätzen; aber genügend ſind auch ſie noch nicht.
Es darf ſchon hier, gleich beim Beginn der Arbeit, nicht
dem blinden Zufall überlaſſen werden, ob er in ſeiner
Willkürlaune gewillt iſt, einem ſolche Beſucher oder gar
gleich „ſuchende Seelen“ in das Haus zu bringen. Schon
dieſe erſte Arbeit, weil ſie eine grundlegende iſt, muß
auf ſyſtematiſcher Grundlage beruhen. Sie darf nicht
auf Zufälligkeiten beſchränkt ſein, ſondern muß im Zu-
ſammenhang mit förmlichen wohlgegründeten Organen
ſtehen. Dieſe Organe beſitzt die japaniſche Miſſion in
ihren Schulen. Aber auch Einrichtungen der inneren
Miſſion, wie die Fürſorge für die Verwahrloſten und
Armen und die ganze ärztliche Miſſion, gehören hier-
[313] her. Sie alle tragen dazu bei, dem Miſſionar Material
zuzuführen, ihn in nähere Bekanntſchaft und Fühlung
mit vielen Individuen zu bringen und ſomit die erſten
Anhaltspunkte zur Bekehrung zu geben.
Nicht als ob all dieſe Inſtitutionen der evange-
liſchen Miſſion nur Mittel zum Zweck ſeien, wie man
das der katholiſchen Miſſion nicht mit Unrecht nachſagt.
Vielmehr ſind ſie an und für ſich Selbſtzweck. Es
wäre Unrecht zu ſagen, daß ſie nur und ausſchließlich
mit dem Hinblick auf die Bekehrung gegründet ſeien,
ſo daß ſie gewiſſermaßen nur einen Vorwand für dieſe
bildeten. Wäre das der Fall, ſo würden ſie manchem
Miſſionskritiker — und deren giebt es ſehr viele —
in Wirklichkeit nichts anderes als die Leimruten ſein,
auf denen man die Gimpel fängt, ſo würde in vieler
Augen die ganze Miſſion zur Proſelytenmacherei herab-
ſinken. Wer aber in das Schulweſen der evangeliſchen
Miſſion hineingeſchaut und dasſelbe auf ſeine ganze
Gediegenheit hin geprüft hat, wird den Miſſionar ent-
ſchieden davon frei ſprechen. Was ihn zunächſt zur
Begründung ſolcher Einrichtungen treibt, iſt in den
wenigſten Fällen der Wunſch, baldmöglichſt viele Namen
in die Liſten ſeiner Kirche eintragen zu dürfen; das iſt
vielmehr das chriſtliche Mitleid, das ihn innerlich nötigt,
als barmherziger Samariter ſich der körperlich und
geiſtig Bedürftigen anzunehmen. Das Chriſtentum wird
überall, wohin es kommt, gar nicht anders können, als
ſolche Werke zu thun und ſolche Organe zu ſchaffen;
denn ſie ſind begründet im Weſen des Chriſtentums
und wachſen ſo notwendig aus ihm heraus, wie die
Frucht aus dem Baum. Sie ſind zugleich aber auch
herrliche Zeugniſſe von dem Geiſte des Chriſtentums
vor dem Angeſichte der Heiden, und als ſolche ſchon
[314] hochgeeignet, auf das Gemüt und das Urteil derſelben
beſtimmend einzuwirken.
Kritiſche Miſſionsfreunde in der Heimat ſind frei-
lich mitunter ſchnell bei der Hand, um an dieſer Me-
thode herumzumäkeln. „Sind denn“, ſo meinen ſie,
„die Miſſionare in die Heidenländer geſandt, damit ſie
Sprachunterricht erteilen und Litteraturſtunden geben?
Iſt das nicht eine Vertrödelung ihrer koſtbaren Zeit?
Geben wir dazu, von heiliger Begeiſterung durchglüht,
unſere Gaben? Widerſpricht es nicht geradezu dem
Wortlaut des Evangeliums? Sie ſollen das Evan-
gelium predigen aller Kreatur und damit fertig!“ Ganz
richtig! Das iſt aber eine billige Kritik, und dieſe
Wahrheiten hat ſich jeder Miſſionar ſchon hundertmal
ſelbſt geſagt. Die Kritiker haben ja recht, wenn ſie
ſich auf den Apoſtel Paulus berufen: Paulus hat es
nicht ſo gemacht. Und doch hat auch er nicht auf das
Geratewohl gearbeitet. Vielmehr hat er in wohlüber-
legter Weiſe in den Judenſchulen Ausgangspunkte für
ſeine Arbeit geſucht und gefunden, und wenn er in
Athen öffentlich auf dem Areopag ſprach, ſo war auch
das keine Straßenpredigt im landläufigen Sinne des
Wortes, vielmehr war es, der Landesſitte entſprechend,
der geordnete Weg. Das Ziel iſt zu allen Zeiten das
gleiche, aber die Wege zum Ziel, die Methoden, ſind
keine dogmatiſchen Axiome. Vielmehr ſind ſie bedingt
und geſtaltet durch örtliche Verhältniſſe und zeitliche
Strömungen.
Es laſſen ſich mit Bezug auf Miſſionstechnik wohl
allgemeine Grundrichtungen aufſtellen, nicht aber beſtimmt
vorgezeichnete Wege. Eine ſpezifiſch miſſionariſche Aus-
bildung giebt es nicht. Die Miſſionsſeminare ſelbſt
wiſſen davon nichts oder wenig. Es iſt entweder Un-
[315] wiſſenheit oder Böswilligkeit, wenn man einer Miſſions-
geſellſchaft zum Vorwurf macht, ſie ſchicke Sendboten
ohne miſſionariſche Vorbildung aus. Geiſtliche, welche
ſich die Reichsgottesarbeit unter den Heiden haben an-
gelegen ſein laſſen, ſind für den Miſſionsberuf nicht
ſchlechter vorbereitet als die Zöglinge der Miſſions-
ſeminare 1). Ich kenne orthodoxe Miſſionare, welche aus
dem Pfarramt hervorgingen; aber von einer beſonderen
miſſionariſchen Ausbildung war bei ihnen keine Rede;
ſie wurden direkt auf das Miſſionsfeld geſchickt. Ich
ſuchte ſeiner Zeit in dem „Islington College“ der Church
Missionary Society zu London um die Erlaubnis nach,
bei einigen miſſionstechniſchen Vorleſungen bezw. Übungen
hoſpitieren zu dürfen. Man war in liebenswürdigem
Entgegenkommen gleich bereit, mir den Beſuch des ganzen
Unterrichts zu geſtatten. Aber miſſionstechniſche Vor-
leſungen gab es nicht, und es dauerte erſt eine Zeitlang,
bis der „Prinzipal“ begriffen hatte, was ich eigentlich
wollte. „Wir erteilen Unterricht“, ſagte er, „in Latein
und Griechiſch, in Theologie, Pſychologie und Pädagogik;
aber die eigentlich miſſionariſche Rüſtung muß ſich jeder
erſt auf ſeinem beſonderen Miſſionsfelde ſelbſt ſchaffen.“
Damals kam mir das ſonderbar vor, daß in einem
[316] Miſſionsſeminar eigentlich Miſſionariſches gar nicht
gelehrt werde; ſpäter lernte ich die Gründe verſtehen.
Die Methode wechſelt, und welche Methode gerade
die rechte iſt, das kann nur der beurteilen, der auf dem
Miſſionsfelde ſelbſt in mancher ſchlafloſen Nacht die
Zeichen der Zeit durchforſcht und mit ſich und ſeinem
Gott gerungen hat um die Erkenntnis des rechten
Weges. Der Satz: „Du ſollſt das Evangelium predigen!“
enthält noch keine Methode. Wie denn, wenn niemand
da iſt, der es ſich predigen läßt? So muß man ſich
eben ſein Material erſt ſuchen. Und wenn man in
Afrika hier und da verſucht, die Leute durch Hand-
werkermiſſionen zu erreichen, warum ſoll man in Japan
nicht in der geiſtigen Unterweiſung den natürlichen Aus-
gangspunkt finden? Zumal der Erfolg die Vortrefflich-
keit des Weges längſt erwieſen hat! Bei einem Volke
wie die Japaner, bei welchem das Wiſſen ſo hoch
geſchätzt wird, finden gute und nützliche Schulen immer
eine hinreichende Zahl von Beſuchern.
So iſt denn alſo damit der erſte Teil der Arbeit
gethan, der Grund und Boden iſt erworben. Nun kann
die Lockerung des Erdreichs beginnen.
Während der Zeit meiner japaniſchen Thätigkeit
beſtand unſer Miſſionsapparat, ſoweit er für die Einzel-
bekehrung in Betracht kam, aus ſechs Organen. Dieſe
Organe waren: Die Klöppelſchule (ſpäter erweitert zur
Frauenhandarbeitsſchule), der Damenverein, der Studen-
tenverein „Sol Oriens“, die deutſche Fortbildungsſchule,
die Sonntagsſchule und die Armenſchule. Daneben be-
ſtanden in den erſten beiden Jahren, ſo lange die
„deutſche Vereinsſchule“ noch unter deutſchem Einfluß
ſtand, regelmäßige Vorträge religiöſen und ethiſchen
Inhalts an derſelben. Hier hatten wir nun unſer
[317] miſſionariſches Arbeitsfeld gefunden. Die beiden erſten
Organe beſchafften uns das weibliche, die beiden folgen-
den einſchließlich der Vorträge an der Vereinsſchule
das männliche Material; die letzten beiden kommen vor-
läufig noch nicht in Betracht. Keines von ihnen war
direkt aus Tendenzen der Proſelytenmacherei entſtanden,
aber jedes erwies ſich als eine Handhabe der Bekehrung.
Zur Gründung der Klöppelſchule hatten Humanitäts-
gründe geführt. Es kommen alljährlich viele Mädchen
aus der Provinz nach Tokyo, und wenn der Hunger
anfängt, ſie mürbe zu machen, ſo ſind ſie dort nicht
minder ſittlichen Gefahren ausgeſetzt wie in unſern
Großſtädten. Solchen Mädchen wollte man Gelegen-
heit geben, durch Aneignung einer nützlichen Fertigkeit
ſich auf eigene Füße zu ſtellen; zugleich hatten ſie hier
einen beſcheidenen, aber ausreichenden Verdienſt. Der
Damenverein war von hochſtehenden japaniſchen Damen
bezw. deren Ehegatten ſelbſt angeregt worden. Die
erſte Vorſitzende war die chriſtliche Gemahlin eines nach-
maligen Kriegsminiſters, während nach ihrem Tode
die Gemahlin eines Wirklichen Geheimen Staatsrats
die Leitung übernahm. Der Zweck des Vereins war,
in monatlichen gemütlichen Zuſammenkünften mit Vor-
trägen die Damen mit den Rechten und Pflichten der
deutſchen und chriſtlichen Hausfrau bekannt zu machen.
Der „Sol Oriens“ bezweckte den Zuſammenſchluß
aller deutſch intereſſierten ſtudentiſchen Elemente und
ſuchte in regelmäßigen, mit deutſchen Vorträgen ver-
bundenen Zuſammenkünften deutſche Sprache und Wiſſen-
ſchaft zu fördern. Die deutſche Fortbildungsſchule hatte
dieſelben Ziele, ſuchte ſie aber in feſterer Organiſation
zu erreichen, nachdem ſich der Verband des „Sol Oriens“
in Anbetracht der ſchweren Zeiten der Reaktion als zu
[318] loſe erwieſen und durch den Niedergang der deutſchen
Vereinsſchule eine ſchwere Schädigung erlitten hatte.
Es waren alſo zunächſt deutſche Kulturzwecke, welchen
dieſe beiden Anſtalten ihre Entſtehung verdankten. An
dem Gymnaſium und der Univerſität iſt ſeit einigen
Jahren die deutſche Sprache die Hauptſprache geworden,
und auch an anderen Lehranſtalten, wie z. B. an der
Kriegsſchule, iſt ſie in die erſte Stelle eingerückt. Da
das Studium der chineſiſchen Klaſſiker immer mehr in
den Hintergrund tritt, darf das Deutſche als die eigent-
lich klaſſiſche Sprache des Landes bezeichnet werden,
die dort annähernd dieſelbe Stelle vertritt wie auf
unſern hohen Schulen das Latein. Das iſt etwas,
worauf wir als Deutſche ſtolz ſein dürfen. Schon dieſe
eine Thatſache ſollte genügen, die Blicke des Deutſchtums
mit Sympathie auf dieſes Land zu richten, welches ihm
das Zeugnis ausſtellt, daß es die höchſte Blüte der
Kultur beſitze. Japan wird uns ja freilich nicht ſo viel
zu verdienen geben wie China, vorausſichtlich wenig-
ſtens; wenn aber lediglich derartige Intereſſen unſere
Politik und unſere Sympathien beſtimmen, ſo iſt das
kein gutes Zeugnis für das deutſche Volk. Unſere
Miſſion wenigſtens ſteht auf anderem Standpunkt.
Unſere Miſſion hat in der japaniſchen Vorliebe für
deutſches Weſen eine hohe Verpflichtung für ſich er-
kannt. Wir ſind der Überzeugung, daß wir auch als
Miſſionare und Diener Chriſti doch zugleich noch Deutſche
ſein dürfen. Und in der That ſind wir Miſſionare
es geweſen, welche allezeit die Fahne des Deutſchtums,
nicht im politiſchen, ſondern im kulturellen Sinn in
die Hand genommen und hoch gehalten haben. In
jedem Winter haben wir durch den Sol Oriens große
Vortragscyklen veranſtaltet, wo deutſche Lehrer der
[319] Univerſität und anderer Anſtalten oder auch deutſch
verſtehende japaniſche Gelehrte unter großem Zulauf
und mit großem Beifall über alle möglichen Gegenſtände
des Wiſſens ſprachen. Wir ſind eben der Meinung,
daß jede Kulturarbeit zugleich auch dem Chriſtentum
zu gute kommt, ſo gewiß, als zwiſchen unſerer euro-
päiſchen Kultur und dem Chriſtentum ein inniger
innerer Zuſammenhang beſteht. Und darum halten
wir dafür, daß wir auch mit ſolcher deutſchen Arbeit
an ſich ſchon in gewiſſem Sinne Reichsgottesarbeit
thun, ganz abgeſehen davon, daß ſie den Weg zur
Propaganda ebnen hilft. Wir waren dabei überzeugt,
daß wir damit auch im Sinne unſerer ſchweizeriſchen
Auftraggeber handelten. Denn das Wiſſen kennt keine
politiſchen Grenzen, und dieſelbe Kultur, welche am
Mittel- und Unterrhein blüht, iſt heimiſch auch an des
Rheines Quellen.
Unſere Fortbildungsſchule iſt eine deutſche Sprach-
und Litteraturſchule, welche an drei Abenden in der
Woche zu je zwei Stunden abgehalten wird. Sie wird
zu einem großen Teil von Schülern des Gymnaſiums
und der Univerſität beſucht. Wenn der Leſer mit mir
eine deutſche Deklamationsſtunde beſuchen wollte, ſo
könnte er aus japaniſchem Munde unſere deutſchen patrio-
tiſchen Gedichte und Lieder hören, z. B. „Die Wacht
am Rhein“, oder „Ich hab’ mich ergeben“. Aber ganz
abgeſehen davon, daß in den meiſten Gedichten auch
religiöſe Gedanken enthalten ſind, — es braucht ja nur
das Wort „Gott“ in ihnen vorzukommen, — fehlten
auch ſpezifiſch religiöſe Gedichte nicht. So habe ich
ſelbſt einmal in einer ſolchen Klaſſe das Gerok’ſche
Gedicht: „Sind das die Knaben alle?“ gehört, wo be-
kanntlich über allen Erdengrößen zum Schluß Jeſus
[320] Chriſtus als das Haupt und die Krone erſcheint. Man
drängt ſich den Leuten nicht auf; aber es werden doch
hier ſchon die erſten Fühler ausgeſtreckt, und manche
religiöſe Anregung wird auch hier ſchon gegeben.
Doch iſt das Chriſtentum hier noch nicht Haupt-
zweck. Vor allem wird vielmehr der zweite Teil der
Arbeit gethan: Der Acker wird gepflügt, der Boden
wird gelockert, Kopf und Herz der Japaner werden von
dem Unkraut mannigfacher Vorurteile gegen den Fremden
und das Fremde gereinigt. Lehrer und Schüler wachſen
mehr und mehr in einander hinein und lernen ſich
gegenſeitig beſſer verſtehen. Mancher junge Mann ſieht
in dem Miſſionar ſchließlich nicht mehr nur die Lehr-
maſchine, ſondern erkennt auch ſeine ſittliche Perſönlich-
keit an, und wenn er es auch noch nicht laut ausſpricht,
ſo geſteht er es doch vor ſich ſelbſt offen ein: „Sieh
da, der Miſſionar iſt ja gar kein ſo übler Mann, wie
man es von ihm als Chriſt und Fremden eigentlich
meinen ſollte. Zu dem Manne kann man wohl gar
Vertrauen haben!“
So wird auf großen Umwegen das Vertrauen ge-
ſchaffen. Ohne das Vertrauen wäre alle Arbeit um-
ſonſt. Die Schaffung desſelben war nicht immer ſo
umſtändlich. In den achtziger Jahren noch lag das
Vertrauen zu dem Fremden in der Strömung der Zeit.
Damals verſtand es ſich ganz von ſelbſt, daß man zu
dem Fremden Vertrauen hatte. Heute aber muß es
auf die beſchriebene Art und Weiſe erſt mühſam herge-
ſtellt werden. Damit iſt aber auch der zweite Teil der
Arbeit erledigt.
Und jetzt erſt, wenn das Vertrauen von Menſch zu
Menſch da iſt, kann der dritte Teil der Arbeit beginnen.
Jetzt erſt iſt die Zeit gekommen, den gereinigten und
[321] gelockerten Boden zu beſäen und die eigentlich chriſtliche
Beeinfluſſung zu beginnen.
Die Säearbeit iſt eine in hohem Grad ſyſtematiſche.
Es genügt nicht, den Applikanten zu ſagen: „So, jetzt
kommt ihr jeden Sonntag zum Gottesdienſt und zu
allen andern Gemeindeverſammlungen, welche die Woche
über ſtattfinden, und nach einiger Zeit werdet ihr ſoweit
ſein, daß ihr getauft werden könnt“. Vielmehr müſſen
dieſe Leute vor der Taufe durch einen beſonderen Unter-
richtskurſus hindurchgehen, entſprechend unſerem Konfir-
mandenunterricht. Hier wird nun ein Samenkorn um
das andere in die Seele hinabgeſenkt. Dieſer Unter-
richt findet wöchentlich ein-, zwei- oder dreimal, je nach
Bedürfnis, in dem Hauſe des Miſſionars ſtatt. Es
mögen wohl auch Zeiten kommen, und in den neun-
ziger Jahren ſind ſie für keinen ausgeblieben, da ſich
überhaupt niemand zum katechetiſchen Unterricht meldet,
und auch in ſolchen Zeiten gilt es, nicht zu verzagen.
Auch der katechetiſche Unterricht will erſt in der
Praxis gelernt ſein. So habe ich heute noch die
deutliche Empfindung, daß ich im Anfang vielfach
fehlgriff. Wenn nämlich wieder einmal ein neuer „In-
quirer“ kam, ſo wollte er in der Regel einen Vortrag
über das Daſein Gottes hören. Er meinte, wenn man
ihn nur einmal davon überzeugt habe, daß es einen
Gott giebt, ſo würde alles andere bald von ſelbſt
kommen. Ich machte aber bald die Erfahrung, daß
alle Beweiſe für das Daſein Gottes nur Hiebe in die
Luft waren; und ſeitdem ich auf dem Miſſionsfelde
geweſen bin, glaube ich überhaupt nicht mehr, daß ein
Menſch durch derartige theoretiſche Erörterungen zu
einem lebendigen Chriſten wird. Das ſind doch ſchließ-
lich Sachen des Kopfes, während das Chriſtentum in
21
[322] ſeinem innerſten Weſen eine Sache des Herzens und Lebens
iſt. Der Erfolg beſtand denn auch oft darin, daß der ent-
täuſchte Japaner das nächſte Mal nicht wieder kam.
Für den metaphyſiſch ſchwach begabten Japaner, der
zudem entſchieden pantheiſtiſche Neigungen hat, iſt der
die Perſönlichkeit betonende theiſtiſche Gottesbegriff
etwas, was er vernunftgemäß nicht faſſen, ſondern im
beſten Sinne des Wortes nur glauben kann. In unſerem
pfälziſchen Katechismus befindet ſich die Frage: „Woher
weißt du, daß Gott iſt?“ Von einem Wiſſen, daß
Gott iſt, kann in Japan keine Rede ſein. Das Klügſte,
was ſich thun ließ, und darum auch das Richtige war,
von derartigen Fragen möglichſt abzuſehen. Nicht als
ob man ohne Apologetik auskommen könnte; aber hüten
muß man ſich vor dem Theoretiſieren.
Ich fand es als das Zweckmäßigſte, im Anſchluß
an das Evangelium von der chriſtlichen Ethik auszu-
gehen, nicht im Sinne einer trockenen Moral, ſondern
einer ethiſchen Religioſität 1). Hier offenbart ſich Kon-
fuzius als Vorläufer Chriſti und bietet treffliche An-
knüpfungspunkte dar.
Ich geſtehe es frei, dogmatiſche Fragen habe ich
ſelten berührt; denn mit dogmatiſchen Erörterungen
treibt man die Leute fort. Ich habe weder geſagt, daß
ſie die Lehre von der Trinität glauben ſollten, noch daß
ſie ſie nicht glauben ſollten. Ich habe über die Lehre
von der Trinität überhaupt nicht geſprochen, und die
Hörer wollten auch nichts davon wiſſen. Ich habe im
Taufunterricht das Dogma weder empfohlen, noch habe
ich es bekämpft. Ich habe poſitives Bibelchriſtentum
[323] zu bieten verſucht. Selbſtverſtändlich ohne bibliſche
Kritik. Wohl konnte man an den Wundern nicht vorbei-
kommen, und ich ſelbſt halte die Wunder für menſchliche
und zeitliche Einkleidungen göttlicher und ewiger Wahr-
heiten. Ich habe aber im Taufunterricht gegen das
Wunder nicht polemiſiert; ich brauchte das nicht ein-
mal. Das Wunder als Wunder hätten meine Kate-
chumenen nicht angenommen, und unter den japaniſchen
Chriſten thun es nicht viele. Die Katechumenen waren
aber zufrieden, wenn man ihnen den ewigen Kern, der
Hülle entkleidet, darbot; und wenn ja einer einmal von
der Form des Wunders nicht loskommen konnte, ſo
genügte ihm eine kurze Erklärung des Wunders als
einer Einkleidung vollkommen. Für ſo borniert ſollte
man doch ſelbſt den radikalſten Fanatiker nicht halten,
daß er die einfältigen Seelen junger Katechumenen in
die, ſelbſt für den Weiſen noch ſchwierigen Details unſerer
bibliſchen Kritik einzuführen ſucht, und noch viel weniger
dürfte man ihm eine ſolche Gewiſſenloſigkeit zutrauen,
als biete er, mit oder ohne Abſicht, hungernden Seelen
Steine ſtatt Brot. Soweit ich die Unterrichtsmethode
der anderen Geſellſchaften kennen lernte, iſt ſie im
weſentlichen überall die gleiche und von der unſrigen
nur wenig verſchieden. Überall ſteht das Dogmatiſche,
ſozuſagen der Katechismusunterricht, zurück; dagegen ſteht
das Bibelchriſtentum im Vordergrund, wie denn auch
eine gute Beleſenheit in der Heiligen Schrift den japa-
niſchen Chriſten nachgerühmt werden muß. Nicht als
ob ſie alles mit gleichem Intereſſe läſen und gleich-
wertig ſchätzten; was am meiſten Anklang bei ihnen
findet, iſt die Bergpredigt. Der Katechumene, an welchem
die Bergpredigt ſpurlos vorübergegangen iſt, durfte
ruhig als hoffnungslos aufgegeben werden; und wer das
21*
[324] japaniſche Geiſtesleben begriffen hat, wird auch dieſes
alles verſtändlich finden.
Mit dem Vortrag bezw. der Bibelerklärung des
Miſſionars iſt erſt der eine Teil des Taufunterrichtes
beendigt, und es beginnt nun der zweite nicht minder
wichtige Teil: Der freie Gedankenaustauſch, wobei neben
dem Lehrer auch der Schüler zum Wort kommt. Wenn
wir den erſten Teil der Säearbeit das Pflanzen nennen
dürfen, ſo iſt für dieſen Teil das Wort „Begießen“
vielleicht der zutreffendſte Ausdruck. Das Chriſtentum
bringt dem Katechumenen ſo viele neue Gedanken,
welche im Widerſpruch zu ſeiner ſeitherigen ethiſchen
Autorität Konfuzius ſtehen, daß man ihm reichlich Ge-
legenheit geben muß, über alles das zur Klarheit zu ge-
langen. Da kommen Fragen heraus, auf welche wir
in unſern abendländiſchen Gedankenkreiſen nie gekommen
wären, von denen man ſich aber bei näherer Betrach-
tung ſagen muß, daß ſie im Munde des Japaners
ganz natürlich ſind. Es iſt gar nicht anders möglich,
als daß ihn die neue Welt- und Lebensanſchauung in
ſeinen Grundfeſten erſchüttert, und daß er mit dem
Taufunterricht in eine Periode tritt, wo er, auf ſchwan-
kendem Grunde ſtehend, ſelbſt ins Schwanken gerät. Da
ſucht er nach einem Halt, und dieſer Halt muß ihm der
Miſſionar in ſeiner eigenen Perſon ſein; er muß für
ihn zu ſprechen ſein auch außer der Predigt und auch
noch nach dem Vortrage im Taufunterricht. Und wenn
man dann bei einem Täßchen Thee und einem bißchen
Kuchen gemütlich beiſammen ſitzt und in gegenſeitigem
Gedankenaustauſch dem Katechumenen ein Zweifel nach
dem andern ſchwindet, daß nach allem Schwanken und
Kämpfen in ſeinem Herzen Ruhe und Friede einkehrt,
ſo finden ſich die Herzen von Lehrer und Schüler, ſo
[325] wird der letztere immer inniger mit dem erſteren ver-
bunden. So iſt denn der Taufunterricht nicht mehr
bloß ein unperſönlicher Unterricht, da man dem Kopfe
des Katechumenen Wiſſen bietet; vielmehr wird dieſe
Stunde zum Medium, um unſichtbare, aber ſtarke Bande
von Perſon zu Perſon, von Herz zu Herz zu weben.
Mit dem Taufunterricht iſt der dritte Teil der
Arbeit beendet. Gleichzeitig iſt der Bekehrungsprozeß
aber auch ſchon in das vierte Stadium der Entwicklung
getreten. In der That hat der Taufunterricht noch
nicht lange begonnen, ſo nimmt auch das Wachſen der
Saat ſchon ſeinen Anfang. Hier aber hört menſchliche
Kunſt und menſchliches Verdienſt auf. Hier erfahren
wir, daß es auf dem Miſſionsfelde nicht anders geht
als auf dem Ackerfeld draußen, in dem Weinberge des
Herrn genau ſo wie in den Weinbergen an den Reben-
geländen des Rheins. Der Landmann thut redlich ſeine
Pflicht und läßt es ſich herzlich ſauer werden. Wenn
aber den Sommer über warme Regengüſſe dem durſten-
den Weinſtock erquickendes Naß zuführen und heiße
Sonnenſtrahlen den Saft der Beeren kochen, daß es
ein guter Jahrgang wird, ſo beugt er demutsvoll ſein
Haupt und ſpricht: „Nicht mein Verdienſt iſt es; der
Segen kommt von oben“. Und wenn ein einziger
Hagel fällt und zerſchlägt in wenigen Minuten die
Frucht einer monatelangen Arbeit, ſo lernt er unter
Seufzen verſtehen: „Mit unſerer Macht iſt nichts ge-
than“. Wenn der Miſſionar gepflanzt und begoſſen
hat, ſo bleibt ihm nichts übrig, als betend gen Himmel
zu ſchauen zu dem, der allein zu dem Wollen das Voll-
bringen geben kann.
Die Arbeit des Miſſionars läßt ſich darum nicht
nach dem Erfolge bemeſſen. Wohl thut es die Welt,
[326] und diejenigen, welche in ihrer Dogmatik jedes menſch-
liche Verdienſt ſtrikte leugnen, pflegen es nicht zum
wenigſten zu thun. In Zeiten des Erfolges überſchüttet
man die Arbeiter mit Lobeserhebungen; zu anderen
Zeiten aber macht man die nämlichen Arbeiter verant-
wortlich für Stillſtand und Rückgang, trotzdem dieſe
nicht minder treu geweſen ſind. Das iſt durchaus
ungerecht. Treue Arbeit iſt ja gewiß nicht zu unter-
ſchätzen; und ſie vermag ſelbſt einen mehr oder minder
feſten Damm wider große Gegenſtrömungen zu ſchaffen.
Darum iſt auch das Gefühl der Reſignation, welches
in ſchweren Zeiten manchen Arbeiter zu dem Schluß
treibt: „Laß es gehen, wie es geht; wider die Verhält-
niſſe kann ich nicht“, durchaus vom Übel. Aber wahr
bleibt es doch, daß der Menſch nicht alles vermag; und
wenn ſich die Verhältniſſe gegen ihn ſtellen, ſo ſollte
er nicht in vermeſſenem Trotze meinen, daß er allein
das ändern könne. Denn es iſt Gott ſelbſt, welcher in
den Verhältniſſen wider ihn ſteht und der da heißt
geduldig warten, bis ſeine Zeit gekommen iſt. Zu allen
Zeiten hat Gott die Seinen geprüft; auf dem Miſſions-
felde aber vielleicht mehr, als ſonſt irgendwo. Hat es
aber dem Herrn in ſeiner Gnade einmal anders ge-
fallen, ſo ſoll ſein treuer Mitarbeiter auch dann demütig
bleiben und ſprechen: „Ich habe gepflanzt, Apollos hat
begoſſen, aber Gott hat das Gedeihen gegeben. So iſt
nun weder der da pflanzt noch der da begießt etwas,
ſondern allein Gott, der das Gedeihen giebt“.
Es giebt freilich Ackerfeld, auf welches Regen und
Sonnenſchein noch ſo reichlich herabfallen mögen, und
es ſind doch nur magere Früchte, die es hervorbringt.
Die Qualität des Ackerfeldes iſt nicht überall gleich,
noch iſt ſie im geringſten gleichgültig. Wenn der Säe-
[327] mann ausgeht, zu ſäen ſeinen Samen, ſo mag manches
auf den Weg, manches auf den Felſen, manches unter
die Dornen, manches auch auf gutes Land fallen. Wenn
ich das japaniſche Miſſionsfeld mit einer von dieſen
vier Bodenarten vergleichen ſoll, ſo kann nach dem, was
unter Geiſtesleben und Temperament geſagt wurde,
auch nicht der geringſte Zweifel beſtehen. Zwar giebt
es glücklicherweiſe Ausnahmen, und gerade die Aus-
nahmen, die ernſten Naturen, ſind es in der Regel,
welche ſich dem Chriſtentum zuwenden. Auch gelingt
oft während der Vorbereitungszeit eine intenſive Ver-
tiefung des Geiſtes und Gemütes. Aber im großen und
ganzen gleicht das japaniſche Ackerfeld auffallend dem
Felſenlande, auf welches der Same fiel. „Sie nehmen
das Wort, wenn ſie es hören, mit Freuden an, haben
aber nicht Wurzel“. Mit ſeinem Kopfe erfaßt der Ja-
paner raſch und ſicher, und bald ſchon, nachdem die Säe-
arbeit begonnen hat, ſieht man die Keime des Verſtänd-
niſſes hervorkommen. Aber mit ſeinem Herzen erfaßt
er langſam und loſe. Es giebt der Fälle genug, wo
das Chriſtentum nur in dem Kopfe, nicht aber in der
Tiefe des Herzens gewurzelt iſt. Dazu iſt es der
Japaner nicht gewöhnt, in unſerm Sinne freimütig und
mitteilſam zu ſein und ſein ganzes Inneres offen vor
den Augen ſelbſt deſſen zu erſchließen, zu dem er das
größte Vertrauen hat. Ein richtiges Urteil iſt daher
für den Miſſionar ſehr ſchwer; und da der Katechumene
zufolge ſeiner natürlichen Veranlagung leicht Feuer und
Flamme ſcheint, ſo läßt man ſich leicht blenden von
dem Schein dieſer Flamme und zu ſpät erkennt man,
daß es in manchen Fällen nur ein flackerndes Stroh-
feuer geweſen iſt, nicht aber die nachhaltige Glut des
Glaubens, der Hoffnung und der Liebe.
[328]
Hierin liegt eine große Gefahr und die ernſte
Mahnung, nicht allzuraſch an den letzten Akt zu denken,
nicht allzu früh zu taufen. Denn ſonſt könnte es gehen
wie bei der Blüte, welche ſich im Frühling allzufrüh
hervorwagt, und der Reif der Frühlingsnacht kommt
über ſie, und ſie fällt ab. Und ſo haben wir in der
erſten Hälfte der neunziger Jahre thatſächlich einen
großen Abfall erlebt, welcher hauptſächlich darauf zurück-
zuführen iſt, daß man in der Haſt der Jahre zuvor viele
unreife Elemente eingeführt hatte. Der günſtige Wind
von damals hat viele leichte Ware in die chriſtlichen
Kirchen hineingeweht, und als er nun plötzlich umſchlug
und von der andern Seite blies, hat er die Spreu
wieder aus den Kirchen hinausgefegt. Der amerikaniſche
Miſſionseifer, welcher in ſeinem Weltbekehrungsenthuſias-
mus alles mit Maſchinengeſchwindigkeit betreiben will,
hat ſich hier in hohem Grade als verderblich erwieſen,
hat freilich, wie ich offen geſtehe, auch uns mit fort-
geriſſen zu allzu eiligem Vorangehen. Das Lehrgeld,
welches damals jede Miſſion bezahlen mußte, blieb auch
uns nicht geſchenkt. Es war die Gründerzeit des
japaniſchen Chriſtentums, und der große Krach konnte
unmöglich ausbleiben. Immerhin hatte auch dieſer
Krach ſein Gutes. Das Material der chriſtlichen Kirchen
iſt heute ein beſſeres, als es vor zehn Jahren war; und
wer den Stürmen widerſtanden hat, wie ſie in dieſer
Zeit an die Mauern der Kirche anſchlugen, iſt heute
feſter gewurzelt, als damals.
So verſteht es ſich denn von ſelbſt, daß es gegen-
über einem ſolchen Geiſtesleben nicht genügt, ſeinen
Miſſionsobjekten einen chriſtlichen Anſtrich zu geben.
Denn wenn die Wogen einer feindlichen Strömung
darüber hingehen, iſt der Anſtrich hinweggeſpült, und
[329] der alte Menſch kommt wieder zum Vorſchein. Wenn
irgendwo ein vollſtändiges Durchdringen der bekehrten
Perſönlichkeit mit dem chriſtlichen Glaubensgehalt not-
wendig iſt, ſo iſt es gegenüber dieſem Volkscharakter.
Wenn irgendwo der Miſſionar mit Bezug auf die Taufe
ſkrupulös ſein ſollte, ſo iſt es hier. Darum ſollte der
Taufe eine ernſte Prüfung, wenn möglich eine längere
Probezeit vorangehen. Kann es der Miſſionar dann
vor ſeinem Gewiſſen verantworten, ſo mag er die Taufe
vollziehen.
Nun endlich iſt der Bekehrungsprozeß in ſein letztes
Stadium getreten; und gleichwie das Einführen der
Frucht in die Scheunen gar bald gethan iſt, ſo iſt
dieſer fünfte Akt der kürzeſte von allen.
Die Taufe geſchieht im öffentlichen Gottesdienſte
vor verſammelter Gemeinde. Zweimal wurde an mich
das Anſinnen geſtellt, heimlich zu taufen. Ich habe
mich nie darauf eingelaſſen. Denn ich meinte, daß es
im Widerſpruch zu dem Jeſuswort ſtehe: „Wer mich
bekennet vor den Menſchen“ — und das ſoll doch wohl
heißen: nur wer mich bekennt vor den Menſchen —,
„den will ich auch bekennen vor meinem himmliſchen
Vater“.
Wenn die freudig ernſte Stunde der Taufe ge-
kommen iſt, ſo ſchaut der Miſſionar auf einen langen
Weg zurück. Nicht nur für den Täufling, ſondern auch
für ihn wird die Taufe zu einem Markſtein, welchen
er ſetzt in dem frohen Dankgefühl: „Bis hierher hat
der Herr geholfen!“
Unter unſeren Organen, welche der Einzelbekehrung
dienen, befinden ſich zwei, welche im vorſtehenden keine
genügende Erwähnung fanden: Die Sonntagsſchule und
die Armenſchule. Während es die andern Inſtitutionen
[330] mit der erwachſenen Jugend und gereifteren Elementen
zu thun haben, handelt es ſich hier um die Arbeit an
unmündigen Kindern. Das Sonntagsſchulweſen, welches
ſein Vorbild in der engliſchen „Sunday-School“ hat,
iſt ungemein ausgebreitet. Alle Miſſionen legen das
größte Gewicht darauf, ſo daß mit jeder Kirche und
Predigtſtation eine Sonntagsſchule verbunden iſt. Da
kommen ſie des Sonntags morgens, Kinder von fünf
bis fünfzehn Jahren, um ſich, je nach dem Verſtändnis
in Klaſſen geteilt, von mehreren gereiften Gliedern der
Gemeinde unterrichten zu laſſen. Der Unterricht iſt
auch hier faſt ausſchließlich ein bibliſcher. Der Kate-
chismus tritt vollſtändig in den Hintergrund. Die
Sonntagsſchulen finden immer Beſucher. Unter dem
reaktionären Geiſt des letzten Jahrzehnts hatten ſie am
wenigſten zu leiden. So abgeneigt der Japaner für
ſeine Perſon dem Chriſtentum ſein mag, ſeine Kinder
in die Sonntagsſchule zu ſchicken, trägt er keine Be-
denken. In unſerer Sonntagsſchule in Hongo hatten
wir Kinder, deren mir bekannte Väter aus ihrer ent-
ſchieden atheiſtiſchen Geſinnung nie ein Hehl machten.
Vielleicht, daß ſelbſt von ihnen der Mangel des Reli-
gionsunterrichts in den Gemeindeſchulen als Mißſtand
empfunden werde.
Ein großer Teil des Sonntagsſchulbeſtandes iſt
freilich in den Armen- oder Freiſchulen ſchon vorhanden.
Während die Sonntagsſchulen engliſchen Urſprungs ſind,
dürften dieſe auf die römiſch-katholiſche Miſſionspraxis
zurückzuführen ſein, welche bekanntlich der Kinderer-
ziehung den größten Teil ihrer Erfolge zu verdanken
hat. Es ſind gewöhnliche Elementarſchulen. Da für
die Gemeindeanſtalten das Schulgeld ziemlich hoch iſt,
ſo greifen unvermögende Eltern mit Freuden zu, wenn
[331] der Miſſionar ſagt: „Wir erziehen eure Kinder umſonſt“.
Ohne das würden viele Kinder überhaupt keine Schule
beſuchen, und manche würden ganz und gar verwahr-
loſen. Denn wenn der Schulzwang auch offiziell beſteht,
ſo wird doch ſeine Durchführung noch nicht ſehr ſtrenge
gehandhabt. Es iſt alſo auch hier wieder zunächſt ein
rein menſchliches Samariterwerk, welches die Miſſion
thut. Auch unſer Verein beſitzt eine ſolche Armenſchule,
an welcher ein Lehrer und zwei Lehrerinnen unterrichten 1).
Aber mit dem Unterricht allein iſt es nicht gethan.
Die Lehrerin iſt zugleich die Mutter der Kinder, und
es iſt nicht nur ein Scherz, wenn ſie dieſelben „meine
Kinder“ nennt. Sie macht es wie einſt Peſtalozzi:
Sie wäſcht die Kinder und kämmt ſie und reinigt ſie
vom Ungeziefer, ſie ſteckt ſie in das Bad und flickt ihnen
die Kleider. Es iſt alſo innere Miſſion, welche hier
getrieben wird.
Die Früchte aus den Sonntagsſchulen und Frei-
ſchulen reifen ſehr langſam. In der katholiſchen Miſſion
iſt man freilich darauf aus, ſie um jeden Preis einzu-
heimſen, auch wenn ſie noch nicht reif ſind: Man tauft
die Kinder in jedem beliebigen Lebensalter. Hier iſt
die Taufe eben opus operatum, das als ſolches, auch
abgeſehen vom Glauben, zur Seligkeit dient. Ich hatte
einmal einen jungen Mann, einen Lehrer der deutſchen
Sprache, im Bibelunterricht. Derſelbe wünſchte ſchließ-
lich in unſere Kirche aufgenommen zu werden. In
ſeiner Jugend war er ein regelmäßiger Beſucher der
griechiſch-katholiſchen Sonntagsſchule in ſeiner Heimat
[332] geweſen, und nun war er zweifelhaft, ob er nicht dort
ſchon mit etwa acht Jahren getauft worden ſei; er
wußte alſo nicht, war er ein Chriſt oder nicht, und ich
wußte nicht, ſollte ich ihn noch einmal taufen oder nicht.
Ich wandte mich um Auskunft an den ruſſiſchen Biſchof
Nikolai und erhielt von dieſem zur Antwort, daß der
betreffende Namen in den Liſten ſeiner Kirche nicht zu
finden ſei. Ich hatte jetzt kein Bedenken mehr, den
Mann zu taufen. So pflegen es die evangeliſchen
Miſſionen nicht zu halten. Die Kinder werden erſt
dann getauft, wenn ſie ſich der Tragweite dieſes Schrittes
bewußt ſind, und auch dann noch — unter einem ge-
wiſſen Alter — nur mit Einwilligung ihrer Eltern.
Die Täuflinge ſehen alſo zum Teil auf einen chriſtlichen
Unterricht von ſechs und mehr Jahren zurück. Aber
auch hier vollzieht ſich der Bekehrungsprozeß auf dem-
ſelben Wege, wie es oben beſchrieben wurde.
Ich gebe es gerne zu, daß der Miſſionar in der
Regel hinter der geſchilderten Methode zurückbleibt.
Aber das ſoll nicht etwa heißen, daß ich nur eine ſub-
jektive Theorie darüber geben wollte, wie es gemacht
werden ſollte. Vielmehr iſt es der in der ganzen japa-
niſchen Miſſion betretene Weg. Es iſt ja natürlich nicht
ſo, als müßte jede Bekehrung alſo verlaufen. Neuer-
dings iſt ein großer Teil der Propagandaarbeit an ein-
heimiſche Prediger übergegangen, welche naturgemäß noch
andere Anknüpfungen zu finden wiſſen als die durch
Schulen geſchaffenen, und da vortreffliche japaniſche Unter-
richtsanſtalten den Miſſionsſchulen immer größere Kon-
kurrenz machen, ſo wird ſich die chriſtliche Propaganda
in Zukunft noch andere Wege ſuchen müſſen. Nun, Gottes
Ordnung iſt nirgends ſo armſelig, daß ſie nur einen Weg
kennt. Auch hier gilt es: „Der Wind (Geiſt) bläſet,
[333] wo er will, und du höreſt ſein Sauſen wohl; aber du
weißt nicht, von wannen er kommt, noch wohin er
fährt“. Mit andern Worten: Gottes Pfade ſind ge-
heimnisvoll. Auch hier hat man Gelegenheit zu erfahren,
daß Gott allerwege den zu finden weiß, den er ſucht.
Auch hier habe ich manchen gekannt, der auf einem
ähnlichen Damaskusweg wie der große Apoſtel aus
einem Saulus ein Paulus wurde, und in manchem hat
die Bekehrung eines liederlichen Auguſtin zu einem gott-
wohlgefälligen Auguſtin ſich deutlich wiedergeſpiegelt.
Ja, auch hier fehlt es an denen nicht, welche durch
merkwürdige Erfahrungen des Lebens und durch wunder-
bare Fügungen Gottes zu Chriſtus gekommen ſind.
„Weg hat er allerwege, an Mitteln fehlts ihm nicht.“
Aber auf der andern Seite iſt es gewiß nicht über-
trieben, wenn ich ſage, daß weitaus der größere Teil
der evangeliſchen Chriſten Japans auf die oben gezeichnete
Weiſe zum Glauben gekommen iſt, und wenn ich für
die außerordentlichen Bekehrungen fünfundzwanzig Pro-
zent anſetze, ſo bin ich mir bewußt, daß das hoch ge-
griffen iſt. Bezeichnend iſt, daß die epochemachendſte
Bekehrung, welche Japan je erlebt hat, die durch Kapi-
tän Janes in Kumamoto, genau in dieſer für Japan
charakteriſtiſchen Weiſe verlaufen iſt. Der Erfolg be-
ſtätigt, daß wir hier den bisherigen gottgewollten, geord-
neten Weg vor uns haben. So erfahren wir gerade
auf dem Miſſionsfelde, wo alles noch chaotiſch durchein-
ander liegt, daß unſer Gott ein Gott der Ordnung iſt.
[[334]]
XI. Die Gemeinde, ihre Qualität und ihr
inneres Getriebe.
Durch die Taufe wird der junge Chriſt in die
Gemeinde aufgenommen. Von welcher Art nun das
Material iſt, aus welchem ſich die Gemeinde zuſammen-
ſetzt, geht aus dem Geſagten zum Teil ſchon klar hervor.
Es ſind faſt durchweg junge Leute. Die That-
ſache, daß in der ganzen Schar der durch Janes be-
kehrten Kumamotochriſten auch nicht ein einziger das
zwanzigſte Lebensjahr überſchritten hatte, iſt charak-
teriſtiſch für das ganze japaniſche Chriſtentum. Die
„Älteſten“ ſind nicht ſelten Gymnaſiaſten, und wenn
ſich das Parlament ſchon durch lauter ſchwarzhaarige
Köpfe auszeichnet, ſo tritt der jugendliche Cha-
rakter auf den kirchlichen Synoden noch viel mehr zu
Tage. Heute noch, wo doch der Hauptbeſtand des
Chriſtentums mehr denn ein Jahrzehnt alt iſt, dürfte
von den Mitgliedern einer Generalſynode ein Drittel
unter dreißig, ein weiteres Drittel zwiſchen dreißig und
fünfunddreißig, und nur das letzte Drittel mehr als
fünfunddreißig Jahre zählen. Das hat zweifellos ſein
Mißliches. Der Satz, daß man mit der Jugend die
Zukunft und mit der Zukunft alles gewinnt, enthält
doch im beſten Falle nur eine halbe Wahrheit. Ganz
abgeſehen davon, daß den jungen Leuten die reife
Lebenserfahrung fehlt, tritt bei der Jugend das ſan-
[335] guiniſche Temperament auch in ſeinen ſchlechten Eigen-
ſchaften ſtärker hervor als bei dem Alter. Auch liegt
es in der Natur der Sache, daß ſolche „Studenten-
gemeinden“ keine ſtabilen ſind. Wenn die jungen Leute
ihre Studien beendigt haben, ſo greifen ſie zum Wander-
ſtabe und ſind in der Regel für die Muttergemeinde
hinfort verloren. Wohl mag in einzelnen Fällen auf
dieſe Weiſe das Chriſtentum weiter getragen werden;
aber mindeſtens ebenſo groß als dieſer Gewinn iſt die
Gefahr, daß die jungen Chriſten, losgelöſt von der Ge-
meinſchaft, in ihrem Glaubensfeuer erkalten und den
Einflüſſen ihrer neuen heidniſchen Umgebung zum Opfer
fallen. Unter dem beſtändigen Wechſel haben die Ge-
meinden ſchwer zu leiden, zumal in Zeiten der Prüfung,
wo der Zugang ſo gering iſt, daß er nur ſchwer den
durch die Verhältniſſe bedingten Abgang zu decken
vermag. Für junge Gemeinden handelt es ſich in
ſolchen Zeiten buchſtäblich um Sein oder Nichtſein.
Bis eine Gemeinde als konſolidiert betrachtet werden
darf, dauert es eine lange Reihe von Jahren. Denn
zu einer konſolidierten Gemeinde gehört, daß die jungen
Chriſten herangereift und an Ort und Stelle ſeßhaft
geworden ſind, und daß nicht bloß vereinzelte Glieder,
ſondern ganze Familien der Kirche zugehören. So
innig ſich darum der Miſſionar auch freuen mag, wenn
es ihm gelungen iſt, eine junge Menſchenſeele zu
Chriſtus zu führen, ſo ſchaut er doch dabei zugleich
hoffend vorwärts in die Zeit, da der Jüngling, zum
Manne gereift ſeiner Kirche zu größerem Segen
werden kann.
Es wäre ja freilich gut, wenn man von Anbeginn
ſchon recht viele gereifte Elemente in die Gemeinde auf-
nehmen könnte. Aber die Erfahrung zeigt, daß mit
[336] ſeltenen Ausnahmen die Jugend allein ſich eindrucks-
fähig erweiſt. Das Alter ſteckt zu tief in ſeinen alten
Anſchauungen. Ein Charakter, der ſich in einem langen
Leben perſönlich ausgebildet hat, iſt ſchwer zu ändern,
gleichwie ein alter Baum nicht leicht umzupflanzen iſt.
Gerade das, was für jeden Erfolg bedingungsloſe Vor-
ausſetzung iſt, „das Vertrauen iſt eine Pflanze, welche
in alternden Herzen nur ſehr langſam wächſt“. Die
Jugend iſt biegſam und geſchmeidig, das Alter iſt ſpröde
und hart. Da erfährt man, daß doch ein tiefer Wahr-
heitskern in dem Worte liegt: „Was man eingeſogen
mit der Muttermilch, ſchüttet man aus ins Leichen-
hemde“. Auch in Japan gab es einmal eine Zeit, wo
das Alter für das Chriſtentum eintrat; aber es waren
keine idealen Gründe, die es beſtimmten, ſondern poli-
tiſche Nützlichkeitserwägungen.
Aus Laienkreiſen wird der japaniſchen Miſſion oft
zum Vorwurf gemacht, ſie beziehe ihr Material vorzugs-
weiſe, wenn nicht ausſchließlich, aus den unteren und
einflußloſen Schichten der Bevölkerung. Das mag für
die römiſche und ruſſiſche Miſſion im ganzen zutreffen,
für die evangeliſche aber keineswegs. Ich ſage nicht,
daß die evangeliſche Miſſion nur an den oberen Klaſſen
arbeitet. Wenn das ſo wäre, ſo wäre es bedauerlich.
Der Weg der Miſſionierung darf keinesfalls einſeitig
ſein. Die Miſſionskreiſe, welche ſich nur für die
Miſſionierung von unten herauf begeiſtern, ſind nicht
weniger im Irrtum als die Laienkreiſe, welche ſich nur
für die Methode von oben herab erwärmen können.
Wohl iſt es wahr, daß Jeſus ſich mit ſeiner Predigt
an „das Volk“ wandte und ſeine Jünger vorzugsweiſe
aus armen Fiſchern von Galliläa erwählte. Aber dieſe
Thatſache will doch auch im Zuſammenhang mit den
[337] geſchichtlichen Verhältniſſen begriffen ſein. Jedenfalls
gehörten Männer wie Nikodemus und Paulus den
oberen und gebildeten Kreiſen an, und unbeſtreitbar
bleibt, daß der gebildete Konvertit Paulus dem Chriſten-
tum zu unendlich viel größerem Segen wurde als alle
die Menſchenfiſcher von Kapernaum zuſammen. Soll
man die Gewinnung, auch die ſyſtematiſche, ſolcher
Elemente mißbilligen? Die beiden Methoden müſſen
ſich notwendig ergänzen. Denn es gilt, ebenſowohl
Breſche zu legen in den Buddhismus als in den Kon-
fuzianismus. Jenes aber geſchieht durch die Arbeit
an den unteren, dieſes durch die Arbeit an den oberen
Klaſſen des Volks. Die chriſtliche Arbeit in den
Sonntagsſchulen und in den Freiſchulen iſt ſo recht
ein Miſſionieren von unten herauf. Hier dringt die
Miſſion in die dem Buddhismus naheſtehenden Kreiſe
ein. Das Material dagegen, welches die Gemeinden
aus den höheren Schulen beziehen, gehört faſt durch-
weg den von konfuzianiſchem Geiſte durchdrungenen ein-
flußreichen Klaſſen und zwar vorzugsweiſe dem ehe-
maligen Samuraiſtande an. Es iſt keine übertriebene
Schätzung, wenn ich ſage, daß mehr denn ein Drittel
aller evangeliſchen Chriſten aus der alten Samurai-
kaſte hervorgegangen iſt, welche ihrerſeits nur
etwa fünf Prozent der Geſamtbevölkerung ausmacht.
Schon mehr als einmal hatten Chriſten Stühle von
Miniſtern und Vizeminiſtern inne, während der lang-
jährige Präſident des Reichsgerichts und mehrere
Richter des oberſten Gerichtshofs Chriſten ſind. Ebenſo
gehört ein nicht geringer Prozentſatz des übrigen Be-
amtentums, einſchließlich von Profeſſoren der Univerſität
und bedeutender Ärzte, dem evangeliſchen Bekenntnis
an, während die Zahl der Chriſten im Parlament eine
22
[338] erſtaunlich hohe iſt. Thatſächlich dürfte es kein Miſſions-
feld geben, wo eine ſo verhältnismäßig große Zahl von
einflußreichen und gebildeten Männern ſich dem Chriſten-
tum angeſchloſſen hat; und wenn im Laufe der Zeit
auch nicht wenige von ihnen demſelben böſen Feinde
anheimfallen wie unſere Gelehrten, nämlich dem Indiffe-
rentismus, ſo bleibt doch immer noch ſo viel übrig,
daß man das evangeliſche japaniſche Chriſtentum als
ein nach ſeiner Bildungsqualität hervorragendes be-
zeichnen darf.
Wie aber ſteht es mit ſeiner ſittlichen Qualität?
Man hat geſagt, das Chriſtentum helfe den Leuten gar
nicht vorwärts; ſie blieben als Chriſten genau dasſelbe,
was ſie als Heiden geweſen ſeien. Was ſollen wir
dazu ſagen? In ſittliche Entrüſtung gegen die gott-
loſen Kritiker ausbrechen, um ihnen dadurch das Recht
zu dem Einwand zu geben, daß wir hinter der Ent-
rüſtung unſere Schwäche verbergen? Nein, die Sache
iſt ernſt genug, daß es für uns gilt, den Thatſachen in
das Geſicht zu ſchauen.
Mit Zahlenſtatiſtik läßt ſich nichts beweiſen. Aber
vielleicht ſind einige wenige Illuſtrationen beſſer als
alles andere imſtande, ein einigermaßen deutliches Bild
zu geben. Ich will hier entſprechend der Frageſtellung
der Gegner weniger von den erbaulichen Wirkungen
des Chriſtentums reden. Daß Jeſus imſtande iſt, einen
Verbrecher noch auf dem Wege zum Schaffot tief zu
erſchüttern und zu einem ſeligen Genoſſen des reu-
mütigen Schächers am Kreuz zu machen; daß er einem
todkranken Heiden himmliſchen Frieden bringt und den
Getauften eines ſeligen Todes ſterben läßt, das ſind
gewiß erhebende und für den überzeugten Chriſten voll-
[339] wertige Zeugniſſe für die Kraft des Evangeliums 1).
Aber in dieſen Erfolgen, wie ſie die Miſſionslitteratur
mit Vorliebe anzuführen pflegt, iſt dem nüchternen
Laienbeobachter der Beweis für den Segen, die Nütz-
lichkeit und Notwendigkeit der Miſſion noch nicht er-
bracht. Für ihn liegt das Entſcheidende darin, daß
das Chriſtentum Charaktere ſchafft, chriſtliche Charaktere,
die ſich im Strome des Lebens ſtandhaft bewähren.
Unterziehen wir dasſelbe darum einmal einer Prüfung.
Es ſoll eine unparteiiſche Prüfung werden, und nicht
die auffallendſten, ſondern die nächſtliegenden Fälle will
ich herausgreifen.
Im Herbſte 1896 führte mich mein Weg nach Berlin.
Eines Tages ſtand ich auf der Friedrichſtraße und ſah
mir einen Schauladen an. Plötzlich wurde ich von
hinten angeredet: „Sie entſchuldigen, Sie ſind doch
wohl der Herr Pfarrer M.?“ Ich drehte mich um
und — vor mir ſtand ein kleiner Herr mit mongoliſchen
Geſichtszügen und lächelte mich freundlich an. Meine
Freude war ſehr groß. Das war ja mein lieber junger
japaniſcher Freund F., ein treues Mitglied unſerer
heidenchriſtlichen Gemeinde Hongo in Tokyo. Als blut-
junger Gymnaſiaſt war er mit unſerem erſten Miſſionar
Spinner bekannt geworden und nach vorhergegangenem
chriſtlichen Unterricht wurde er getauft. Er hat auch
eine Zeitlang bei ihm im Hauſe gewohnt und hier den
Grund zu ſeinen deutſchen litterariſchen Kenntniſſen
gelegt. Faſt unſcheinbar und beſcheiden nach außen
hin, war er doch ein hochbegabter Menſch und in ſeiner
Klaſſe unbeſtritten der erſte. Trotz ſeiner bekannten
22*
[340] Vorliebe für deutſche Klaſſiker und für chineſiſchen Stil
entſchloß er ſich zu dem Studium der Medizin. Auch
hier lenkte er bald die Aufmerkſamkeit auf ſich. Wenn
ich mich bei ſeinen deutſchen Lehrern an der Univerſität
nach ihm erkundigte, ſo hörte ich immer nur Worte
des Lobes und der Anerkennung. „Und der gehört zu
Ihnen?“ fragten ſie, „Nun, auf den dürfen Sie ſtolz
ſein“. Und wir waren auch ſtolz auf ihn. Auch in
der Gemeinde galt er viel, wenn er auch zu ſtill und
zurückgezogen war, um eine Rolle ſpielen zu wollen.
Zwar war er langjähriger Vorſitzender des Studenten-
vereins Sol Oriens und ein tüchtiger Mitarbeiter an
unſerer Zeitſchrift Shinri, für welche er manche gute
Überſetzung lieferte, aber ein hervorragendes Gemeinde-
amt hat er nie verwaltet, und nicht ein einziges Mal
habe ich ihn als Vorbeter geſehen. Aber am Sonntag
ſah man ihn auf ſeinem Platze in der hinterſten Bank
der Kirche; in mancher Bibelſtunde auch war er zugegen,
und manchen Spaziergang haben wir zuſammen gemacht.
In den Miſſionarshäuſern war er ein gern geſehener
Gaſt und manchmal habe ich ihn in ſeinem Studenten-
zimmer in der Geſhikuya (Logierhaus) beſucht. Als
ich im Jahre 1895 Tokyo verließ, rief ich ihm beim
Abſchied: „Auf Wiederſehen!“ zu. Damals meinte ich,
ihn im nächſten Jahre in Tokyo wieder zu treffen. Und
nun — begegnen wir uns unvermutet auf der Friedrich-
ſtraße von Berlin! Wir hatten uns viel zu erzählen,
und des Freudigen und Schmerzlichen bekam ich genug
zu hören. Am erfreulichſten aber war das, was ich
über ihn ſelbſt erfuhr. Er hatte bald nach meiner
Rückkehr ſein Abgangsexamen an der Univerſität be-
ſtanden und zwar mit ſolchem Erfolge, daß die Re-
gierung auf ihn aufmerkſam wurde. Eine Auszeichnung,
[341] die heute, wo es für vermögende junge Leute zum
guten Ton gehört, im Ausland geweſen zu ſein, nur
noch ſehr wenigen zu teil wird, iſt ihm geworden: Die
Regierung ſandte ihn auf ihre eigenen Koſten für einige
Jahre nach Deutſchland, damit er hier ſich noch weiter
in ſeinem Fache vervollkommne. Als ich mit ihm zu-
ſammentraf, war er gerade auf dem Wege zu Virchow.
Wenn er aber einſt, wohlausgerüſtet mit deutſchem
Wiſſen, in ſeine ſonnige Heimat zurückkehrt, ſo wird
er in einer angeſehenen akademiſchen Stellung Gelegen-
heit haben, uns Ehre zu machen.
Etwas mehr als ein Jahr ſpäter kam ich wieder
nach Berlin. Dieſes Mal durfte ich neben dem jungen
Doktor noch ein zweites Mitglied unſerer heidenchriſt-
lichen Gemeinde zu Tokyo begrüßen. Der etwa dreißig-
jährige Mann, welcher ſeiner Zeit die Kunſtakademie
zu Tokyo abſolviert hat, hielt ſich gleichfalls zur Ver-
vollkommnung ſeiner Studien in Berlin auf. Eine
ungemein ſympathiſche Perſönlichkeit, welche Schmiedel
ſo innig und prächtig geſchildert hat, daß ich nichts
beſſeres zu thun weiß, als dieſe Schilderung hier zu
wiederholen. „Er war in meiner erſten Taufunterrichts-
ſtunde, erzählt Schmiedel 1), fehlte von da an keinmal
und war unter den erſten Getauften. Er iſt von den
erſten Wochen an mein lieber Freund geworden, der
bei mir in jeder Herzensnot Troſt ſuchte und auch mir
[342] in ſchwerer Zeit, die für mich kam, treu zur Seite ge-
ſtanden hat. Er hat das Herz wie den Kopf auf der
richtigen Stelle. Wie er von jeher eine der ſtärkſten
Säulen der kleinen Gemeinde war und ſeiner Sorge
keinem Kranken oder Angefochtenen entgehen ließ, ſo
wuchs er auch in jedem Monat im chriſtlichen Ver-
ſtändnis. Für theologiſche Fragen war er ſtets Feuer
und Flamme und bedauerte oft, daß ihn die Notwen-
digkeit, bald für ſeine Familie zu ſorgen, vom Studium
der Theologie zurückhalte. In der Bibel erwarb er
ſich eine weitgehende Kenntnis und bat mich zugleich
mit anderen Freunden, wiſſenſchaftlich theologiſche Fragen
auch für Nichttheologen in Nachmittagsſtunden zu be-
handeln. So hielt ich nach und nach eine Reihe Vor-
träge über Auferſtehung, Johannesevangelium, Offen-
barung Johannis, Apoſtelgeſchichte. Als ich mit der
erſten Vorleſung fertig war, präſentierte er mir ein
fein in chineſiſchem Stil ausgearbeitetes Heft mit den
Worten: „Dies ſind Ihre Vorträge über die Aufer-
ſtehung“. Nach Mitake ſandte er mir einen Brief, in
welchem er ſeine Rückkehr in die Heimat fern an der
Weſtküſte nach langjähriger Abweſenheit ſchilderte. „Ich
ſtand“, ſo ſchreibt er, „auf dem Verdeck des Schiffes.
Der Mond goß ſein bleiches Licht über die nahe Küſte.
Jede Drehung des Schaufelrades brachte mich der Hei-
mat und den Lieben näher. Ja, da tauchte er auf, der
Berg mit der zackigen Spitze, den ich ſo oft erklettert,
da ſprangen ſie ins Meer vor, die gefährlichen Klippen,
um die ich ſo oft in weitem Bogen gerudert, da zeigte
ſich, vom Mondſchein hell beleuchtet, die Stadt, wo ich
geboren ward. Es war mir, als ſteige der Geiſt meines
Vaters, der, ach, viel zu früh ins Grab ſank, am
Strande auf, mich, den langentbehrten Sohn, im Eltern-
[343] haus willkommen zu heißen“. Dann beſchreibt er in
rührenden Zügen das freudige Erſchrecken ſeiner Mutter
und Schweſtern und das Jauchzen ſeines jüngeren
Bruders, die er mit ſeinem Kommen überraſcht hatte.
Er ſtürzte ſich nun mit Eifer in eine doppelte Thätig-
keit, einerſeits das Kunſtgewerbe, andererſeits die reli-
giöſen Verhältniſſe ſeiner Heimat zu ſtudieren und da-
ſelbſt für das Evangelium zu wirken. Nach Tokyo
zurückgekehrt, berichtete er mir, freudig bewegt, von den
Erfolgen, die er gehabt, wie er die Einwände gegen
das Chriſtentum zerſtreut und ſeine Schweſtern zur An-
nahme desſelben geneigt gemacht habe.
Es war ungefähr vier Monate ſpäter, als ich eines
Nachmittags von ihm einen tieftraurigen Brief erhielt,
worin er mir den plötzlichen Tod ſeiner älteren Schweſter
mitteilte. Als ich wenige Stunden darauf zu ihm ins
Zimmer trat, hatte er die Offenbarung Johannis auf
geſchlagen und geſtand mir mit einem trotz des Schmer-
zes verklärten Antlitz: „Jetzt habe ich die Stelle erſt
verſtanden, auf deren Troſt und Schönheit Sie uns
hinweiſen, als wir die Offenbarung laſen: Gott wird
abwiſchen alle Thränen und kein Leid und Geſchrei und
Schmerz wird mehr ſein, denn das erſte iſt vergangen“.
Und wahrlich, er hatte die Thränen ſchon getrocknet und
in der Bibel ſeinen Troſt gefunden.
Nachdem er ſein Examen an der Kunſtſchule ſehr
gut beſtanden, reiſte er wieder nach Kyoto, (welches,
wie Tokyo die Centrale der Wiſſenſchaft, ſo der Mittel-
punkt der Kunſt iſt) und nach ſeiner Heimat. Zu Weih-
nachten wollte er wieder hier ſein. Aber vergeblich
warteten wir auf ihn. Erſt nach Wochen brachte ein
Brief die Nachricht, daß die ganze Umgebung ſeiner
Vaterſtadt mit zehn Fuß hohem Schnee bedeckt und
[344] von allem Verkehr abgeſchnitten war. Im Anfang März
trat er dann ganz unerwartet in mein Zimmer. Sein
drittes Wort war: „Meine Schweſter iſt getauft“. Auch
ſeine Mutter und ſein Bruder neigten ſich dem Evan-
gelium zu. Dann fing er an, von der Kunſt zu erzählen,
und brachte eine ganze Menge Skizzen in modernem
und größere Aquarelle in japaniſchem Stil zum Vor-
ſchein, auf denen beſonders die Blumen mit großer
Wahrheit und Zartheit dargeſtellt waren.
Nachdem mein Freund etwa ein Jahr lang in
Kyoto, der alten Kunſtſtadt Japans, weiter ſtudiert hatte,
erhielt er einen ehrenvollen Ruf als Lehrer der Kera-
mik und Farbenchemie an die Hochſchule der Kongre-
gationaliſten in derſelben Stadt, an die Doſhiſha.
Dort hat er ſich immer treu zu unſerer Miſſion bekannt,
unſerer Zeitſchrift Shinri immer mehr Anhänger ge-
wonnen und mich im Winter 1891, als ich die Anſtalt
beſuchte, bei den meiſten japaniſchen Profeſſoren einge-
führt. Dort habe ich ihn auf meiner Abreiſe von Japan
zum letztenmal geſehen. Schon vorher hatte er mir
in einem überglücklichen Brief mitgeteilt, er ſei verlobt
und zwar mit einem jungen Mädchen, das auf ſeinen
Antrieb über ein halbes Jahr meinen Taufunterricht
beſucht hatte, aber, plötzlich in die Heimat zurückgerufen,
die Taufe ſelbſt nicht mehr hatte empfangen können.
Gewöhnlich iſt die Eheſchließung in Japan ein Geſchäft 1),
hier war es eine Herzensſache. Auf Betreiben der
Mutter, die bei unſerem Freund im Hauſe wohnte,
wurde die Hochzeit beſchleunigt. Aber nun war es der
ſehnliche Wunſch des jungen Profeſſors, daß ſeine junge
Frau auch dem Namen nach eine Chriſtin würde, wie
ſie es in der That ſchon war, und daß ich ihr die Taufe
[345] erteile. Kaum war ich daher mit meiner Familie zum
letzten kurzen Aufenthalt in Kyoto angekommen, als
uns auch ſchon das glückliche Ehepaar am Bahnhofe
begrüßte und mich für den folgenden Tag zu der heili-
gen Handlung einlud. Früh um neun traf ich dann
zur beſtimmten Zeit an dem freundlichen Häuschen ein,
zog meine Schuhe von den Füßen und ſchlüpfte gebückt
durch die niedere Gitterthür. Die ganze Familie meines
Freundes war im Feſtgewande verſammelt. Seine
Mutter und Großmutter, die Mutter ſeiner Frau, ſeine
Geſchwiſter, die Gattin eines befreundeten amerikaniſchen
Miſſionars, welche die Stelle der Taufzeugin vertreten
ſollte, wir alle knieten nach japaniſcher Sitte auf den
Strohmatten nieder. Die Thür zum Garten war ge-
öffnet, die Sonne ſchien freundlich durch die Bambus-
zweige herein, als wollte ſie unſer Werk ſegnen. Ich
erzählte von früheren Zeiten, wie wir unſeren Freund-
ſchaftsbund ſchloſſen, wie wir ihn beſtärkt und gefördert
hatten im gegenſeitigen Lehren und Lernen und Auf-
blicken zu unſerem Heiland, und wie mein Freund ſeine
Braut in dem gemeinſamen Streben nach chriſtlicher
Erleuchtung und chriſtlichem Wandel gefunden habe.
Dann mahnte ich die beiden, treu zu einander und zu
Chriſtus zu halten, bis der Tod ſie ſcheide, und ſprach
die Taufformel: „Ware nanji ni baptesma wo hodo-
koshite, chichi to ko to seirei no na ni iru“. Das war
meine letzte und eine der ſchönſten Amtshandlungen in
dem Lande, das ich ſo lieb gewonnen“. —
Mehr als ein Jahrzehnt iſt verfloſſen, ſeitdem die
beiden, der Arzt und der Kunſttechniker durch die Taufe
Chriſten wurden. Aus Jünglingen ſind reife Männer
geworden, und heute iſt ein Urteil über ſie wohl mög-
lich. Religiös-ſittliche Großthaten habe ich von beiden
nicht zu berichten; aber ſie haben ſich als religiös-ſitt-
[346] liche Perſönlichkeiten erwieſen, und das iſt mehr als
manche ſcheinbare Großthat. Das unparteiiſche Urteil
Fremder über ſie konnte mir wahrlich nicht gleichgültig
ſein; denn jedes Urteil über ſie bedeutete zugleich ein
Urteil über unſere Miſſionsthätigkeit; man wird darum
meine Freude wohl verſtehen, als ich in Berlin von
anderen vernahm: „Die beiden ſind chriſtliche Charaktere“.
Das ſind europäiſche Urteile, und manches andere
nicht minder günſtige Zeugnis durfte ich auch in
Japan aus dem Munde unbefangener und ſelbſt be-
fangener Abendländer hören. Manchmal, wenn ich in
Begleitung eines chriſtlichen Japaners einem Europäer
begegnete, wurde mir von dieſem ſpäter geſagt: „Nicht
wahr, das war doch ein Chriſt, mit dem ich Sie neu-
lich zuſammenſah; man ſiehts ihm ja auf den erſten
Blick an“. In der That iſt nicht wenigen Chriſten
der Adelsbrief ihrer Religion auf das Antlitz geſchrieben,
ſo daß man aus dem Ausdruck ihrer Geſichtszüge nicht
minder ſicher auf ihre himmliſche Gefolgſchaft ſchließen
darf, wie früher aus dem Wappen ihres Kleides auf
die Zugehörigkeit zu ihrem weltlichen Clansfürſten.
Der Geſichtsausdruck iſt aber im Grunde nichts anderes
als die Widerſpiegelung der inneren Gedankenwelt,
und der Rückſchluß aus einer chriſtlichen Phyſiognomie
auf ein echt chriſtliches Herz wird in den meiſten Fällen
kein Trugſchluß ſein.
Einſt landete in Yokohama ein hochgeſtellter deut-
ſcher Landsmann, welchem eine flüchtige Beſichtigung
der japaniſchen Miſſion aus der Vogelperſpektive wichtig
genug war, um darob ein Reiſe um die Welt zu unter-
nehmen. Er beſuchte auch mich, und da ich glauben
durfte, einen verſtändnisvollen Miſſionskenner vor mir
zu haben, der nicht in der laienhaften Erwartung
[347] kommt, daß auf dem Miſſionsfelde alles ideal ſein müſſe,
der vielmehr auch die ungeheuren Schwierigkeiten zu
ſchätzen weiß, unter denen man dort arbeitet, ſo wan-
delte mich auch nicht entfernt ein Bedenken an, ihm
unſeren ganzen Miſſionsbetrieb, auch mit ſeinen ſchwa-
chen Punkten und dunkeln Ecken, voll zu erſchließen.
Ich führte ihn unter anderem auch in unſere Armen-
ſchule, die damals allerdings noch ein viel beſcheideneres
Ausſehen hatte als heute. Als wir wieder heraustraten,
äußerte ſich der Herr ganz entzückt über unſere Lehrerin,
die zugleich auch Organiſtin unſerer Hongokirche iſt.
„Bei der fühlt man ſich ja förmlich angeweht vom
Hauche des Chriſtentums, der von ihr ausgeht. Sie
ſieht ja ganz anders aus als andere Japanerinnen;
man merkt gleich: Sie iſt eine Jüngerin Jeſu“. Für
den Wortlaut verbürge ich mich nicht, da ich mich nicht
gern Lügen ſtrafen laſſe; aber weniger enthuſiaſtiſch
waren ſeine Auslaſſungen nicht. Und in der That,
bei dieſem Urteile wenigſtens hatte er das Richtige ge-
troffen. Die er hier vor ſich hatte, iſt eine chriſtliche
Perſönlichkeit, die ſich in einem Zeitraum von annähernd
einem Jahrzehnt vorzüglich bewährt hat. Die Mit-
glieder unſerer Miſſion ſind die einzigen nicht, die
große Stücke auf ſie halten. —
Und nun die Kehrſeite in den mannigfachen großen
Enttäuſchungen, die keinem erſpart bleiben.
Der junge Doktor, von dem ich vorhin erzählte,
hatte einen Freund. Derſelbe ſaß auf dem Gymnaſium
in jeder Klaſſe mit ihm zuſammen, und wenn er auch
ſchwächer beanlagt war, ſo rückten ſie doch immer zu-
ſammen vor und bezogen ſchließlich gleichzeitig die Uni-
verſität. Auch er war frühe getauft worden, und daß
es ihm mit ſeinem Chriſtentum Ernſt war, daran habe
[348] ich bis heute nie einen Augenblick gezweifelt. In der
Gemeinde hat er große Vertrauensſtellungen bekleidet.
Jedermann hatte ihn gern; denn er war äußerſt liebens-
würdig und gutherzig; aber freilich — wie das mit der
Gutherzigkeit oftmals verbunden iſt — er war ſchwach.
Kaum hatte er die Univerſität bezogen, da verheiratete
er ſich. Sein Eheglück war von kurzer Dauer. Zwei
Jahre ſpäter ſtarb ſeine Frau; mit zwei kleinen Kindern
blieb der junge Witwer zurück. Der junge Mann hatte
Beſitzungen auf dem Lande und galt bei unſeren Ge-
meindegliedern als ſehr vermögend. Seine Güter wurden
von ſeinem Onkel verwaltet, der aber ein Schlemmer
und Trunkenbold war und in der Zeit der Unmündig-
keit ſeines Neffen bös gehauſt hatte. Eines Tages kam
der unglückliche F. zu mir und teilte mir mit —
lachenden Mundes natürlich —, daß er durch die Miß-
wirtſchaft ſeines Onkels zum Bettler geworden ſei. So
war es. Noch hatte er zwei Jahre zu ſtudieren, aber
er beſaß keine Mittel, um ſich und die Seinen durch-
zubringen. Wohl ſuchten wir ihm unter die Arme zu
greifen, aber eine ausgiebige Hilfe war um ſo weniger
möglich, als der verwöhnte Mann den Wert des Geldes
nicht zu ſchätzen wußte. Er nahm Geld zu Wucherzinſen
auf, und bald ſtak er völlig in Schulden. Die Energie
des ſchwachen Mannes brach bald zuſammen. Er ver-
nachläſſigte den Beſuch der Vorleſungen und nahm eine
andere Stellung an. Von uns zog er ſich immer mehr
zurück. Er ließ ſich nicht mehr ſehen, und wollte ich
ihn in ſeinem Hauſe beſuchen, ſo war er „nicht daheim“.
Und nun ging es rapide bergab. Allerlei böſe Gerüchte
über ihn kamen mir zu Ohren, bis ich eines Tages mit
Beſtimmtheit erfuhr, er beziehe zur Zeit ſeinen Unter-
halt von einer Witwe, bei welcher er — Hausfreund
[349] geworden war. Als Letztes erfuhr ich durch ſeinen
ehemaligen Kameraden, daß er auf Formoſa ſich auf-
hält; zu welchem Zwecke weiß ich nicht.
Das iſt eine tieferſchütternde Geſchichte, dabei man
den jungen Mann vielmehr bemitleiden als verurteilen
ſollte. Aber es giebt auch Fälle, wo die Schlechtigkeit
unverhüllt zu Tage tritt.
Mir iſt ein Chriſt bekannt, welcher, ſeiner Frau
überdrüſſig geworden, dieſelbe entließ, um ſich mit ihrer
eigenen Schweſter zu verheiraten, welche er direkt aus
dem Freudenhaus heraus zu ſeiner Gattin machte. Bei
einem ſolchen Sittenbilde iſt man verſucht, an das zu
denken, was uns der Apoſtel Paulus aus der jungen
Chriſtengemeinde zu Korinth offenbart (1. Kor. 5, 1).
Eine böſe Erfahrung hat unſere eigene Miſſion mit
einem ihrer Glieder gemacht. Der junge Mann hatte
die deutſche Vereinsſchule beſucht, war aber mangelnder
Mittel wegen zum Austritt genötigt. Es gelang einem
unſerer Miſſionare, ihn in einem deutſchen Hauſe unter-
zubringen. Aber nach einiger Zeit erſchien der deutſche
Herr und machte die peinliche Mitteilung, daß ſich bei
Geldern, die er ihm anvertraut hatte, Unregelmäßig-
keiten herausgeſtellt hätten, die ihn nötigten, ihn zu ent-
laſſen. Ein Jahr ſpäter fand er in einem deutſchen
Geſchäft in Yokohama Stellung. Anfangs ging alles
gut, ich hörte nur Lobenswertes über ihn. Bald rückte
er in eine Vertrauensſtellung ein. Aber als ich mich
eines Tages wieder nach ihm erkundigte, ward mir der
betrübende Beſcheid: „Entlaſſen wegen Unterſchlagung“.
Zum zweitenmal war er zum Dieb geworden.
Der raffinierteſte Lügner, welchen kennen zu lernen
mir nicht erſpart blieb, war ein gewiſſer J., der richtige
Typus eines vollendeten Heuchlers. Man hatte ihm bei
[350] der Taufe nach alter, in Japan mit Recht außer Kraft
geſetzter Sitte den Vornamen Johannes gegeben, und
es iſt nicht zu leugnen, daß er es vortrefflich verſtand,
ſich ein dem Namen entſprechendes Ausſehen zu geben.
Seine Vergangenheit war etwas abenteuerlich. Meines
Wiſſens war er in Shanghai getauft worden; an welcher
Miſſion Rockſchöße er ſich in Japan gehängt hat, iſt
mir nicht bekannt. Auch in Europa hatte er ſich auf-
gehalten, und für kurze Zeit war er als Zögling auf
einem deutſchen Miſſionsſeminar untergebracht. Niemals
habe ich einen Menſchen gehört, deſſen Sprache ſo von
geſalbten Redensarten getrieft hätte, wie die ſeine.
Einer meiner Kollegen wußte ein köſtliches Stücklein
davon zu erzählen. Eines Tages, als Johannes wieder
einmal beſchäftigungslos war, was bei ſeiner Unzuver-
läſſigkeit nicht gerade zu den Seltenheiten gehörte, kam
er zu meinem Kollegen und im Verlaufe des Geſpräches
äußerte er unter frommem Augenaufſchlag und mit ge-
falteten Händen: „Ach, wenn mir der liebe Herr Jeſus
doch eine Stelle ſchenken wollte, wo ich nicht viel zu
thun, dabei aber ein reichliches Auskommen hätte, dann
wäre mir geholfen!“ Er ſprach gut deutſch, und dieſe
ſeine Fertigkeit trug ihm ſchließlich die Stelle eines
Dolmetſchers bei einem deutſchen Regierungsangeſtellten
ein. Dieſer Herr ließ ſich von einer Geſellſchaft von
Schwindlern bethören, ſich in abenteuerliche Wald-
ſpekulationen einzulaſſen, bei denen er viele Tauſende
von Dollars auf das Spiel ſetzte. Das Spitzbuben-
konſortium hatte ſeine Sache ſchlau eingefädelt; wenn
aber ſchließlich die ganzen Erſparniſſe unſeres Lands-
mannes auf Nimmerwiederſehen verſchwanden, ſo hatte
er das vorzüglich der Vertrauensſeligkeit zu verdanken,
[351] in welche er ſich durch die geſalbten Lügen ſeines chriſt-
lichen Dolmetſchers Johannes hatte einwiegen laſſen.
Die beiden letzten Vorkommniſſe ſpielten ſich, wie
bemerkt, in den Häuſern von Fremden ab; manche
andere ähnlicher Art ſind den Europäern gleichfalls be-
kannt geworden und haben ein bedenkliches Kopfſchütteln
hervorgerufen. Man hat der ausgeſprochenen Ab-
neigung, welche die in Heidenländern anſäſſigen Abend-
länder der Miſſion entgegenbringen, die mannigfaltigſten
Motive untergeſchoben; man hat z. B. gemeint, die
Aufklärung der Heiden durch die Miſſion ſtehe dem
Geſchäftsintereſſe der europäiſchen kaufmänniſchen Kreiſe
entgegen. Sicher iſt, daß in Japan dieſe und ähnliche
Gründe nur ſehr wenig in Betracht kommen. Der
Hauptanſtoß für die europäiſche chriſtliche Laienwelt
beſteht vielmehr darin, daß ſich in ſo manchen Fällen
die einheimiſchen Chriſten nicht bewähren. Wohl iſt
das chriſtliche Bewußtſein unſerer Landsleute draußen
ein ſchwaches; aber den Satz der Heiligen Schrift hat man
noch nicht vergeſſen: „An ihren Früchten ſollt ihr ſie er-
kennen!“ Faule Früchte machen naturgemäß mißtrauiſch.
So begreiflich aber infolge ſchlechter Erfahrungen
dieſes Mißtrauen iſt, ſo iſt es doch im geringſten nicht
wirklich begründet. Es iſt eine alte Sache, daß das
Böſe, wo es herauskommt, in die Öffentlichkeit gezerrt
und breit getreten wird; das Gute aber geht ſeinen
ſtillen Gang, und niemand merkt etwas von ihm. Von
den guten Chriſten redet man nicht, von den Schlechten
aber ſpricht man um ſo mehr. Einige wenige Fälle
werden generaliſiert, und um ein paar räudiger Schafe
willen bricht man über die ganze Herde den Stab.
Mit Unrecht! Zwar iſt über die Thatſache, daß
bei den Getauften Schlechtigkeiten vorkommen, kein
[352] Wort weiter zu verlieren. Dieſe Klage, welche die
Miſſionare bei einiger Ehrlichkeit auf allen Gebieten zu
führen haben, läßt ſich auch in Japan nicht unterdrücken.
Ja, ich gehe noch weiter und ſtelle eine Behauptung
auf, welche gleichfalls nicht nur von dem japaniſchen,
ſondern von allen Miſſionsgebieten gilt: Die meiſten
chriſtlichen Individuen erheben ſich, für ſich betrachtet,
nur wenig über ihre heidniſche Umgebung. Das klingt
freilich bös, um ſo böſer, als man nach den land-
läufigen populären Vorſtellungen, an welchen Miſſion
und Geiſtliche nicht unſchuldig ſind, bei einem Heiden
an eine Ausgeburt der Hölle zu denken pflegt. Man
taxiert die äußere Sittlichkeit des Heiden in der Regel
zu gering. Von dem japaniſchen Durchſchnittsheiden
gilt, daß er nach den Alltagsbegriffen von Moral
durchaus nicht als ein ſchlechter Menſch bezeichnet werden
darf. Die japaniſche heidniſche Moral erzeugt ſittliche
Durchſchnittsmenſchen, wie ſie bei uns zu Tauſenden
umherlaufen. Bei aller Verkehrtheit der Lebensrichtung
kennt das Heidentum nicht mehr ſchwere Verbrechen
als das Chriſtentum. Der heidniſchen Moral fehlt die
Innerlichkeit als Grund und die Gottähnlichkeit d. i.
Vergeiſtigung als Ziel. Darum iſt ihr das Höchſte, das
Leben im Geiſt, der Wandel im Himmel verſagt; ſie
kann ihre Anhänger über den gewöhnlichen Durchſchnitt
nicht hinausheben. Hier liegt die unendliche Über-
legenheit der chriſtlichen Ethik, welche es auch auf dem
Miſſionsgebiet fertig gebracht hat, neben der großen
Maſſe der noch nicht entwickelten Alltagschriſten auch
eine Anzahl von ſolchen zu ſchaffen, welche ſich nicht
nur vor ihren heidniſchen Landsleuten auszeichnen,
ſondern auch weit über das Mittelmaß unſerer heimiſchen
Chriſtenheit hinausragen und ſich den Beſten in unſeren
[353] Landen ruhig zur Seite ſtellen dürfen. Ihre Zahl
iſt nicht groß. Es mögen zwei oder drei unter zehn
ſein, welche als wahrhaft chriſtliche Perſönlichkeiten be-
zeichnet werden dürfen. Sie ſind der eigentlichſte und
ſchönſte Gewinn der Miſſion; ſie ſind das Salz, welches
das Ganze vor Fäulnis bewahrt und friſch erhält, ſie
ſind das Licht, welches hineinleuchtet nicht nur in die
Dämmerung der eigenen Gemeinde, ſondern auch in
die Finſternis des Heidentums. In dem Abglanz
ihres Lichts erſcheint die ganze Miſſionsgemeinde ſo
ſtrahlend verklärt, daß auch unparteiiſche Heiden die
ſittliche Überlegenheit, wenn auch nicht der einzelnen
Individuen, ſo doch der Gemeinde als ſolcher wohl
oder übel anerkennen müſſen. Sie ſind es, welche dem
Miſſionar in allen bitteren Enttäuſchungen die Freudig-
keit zurückgeben, und wer unter den Fremden einem
von dieſen begegnet iſt, giebt ſeine Vorurteile gegen
die Miſſion gern auf und iſt hinfort mit ihr verſöhnt.
Und wenn mitunter ungünſtige Berichte von draußen
zu den Ohren unſerer heimiſchen Miſſionsgemeinde
dringen, ſo darf ſie ſich darum in ihrem Liebeseifer
nicht irre machen laſſen; Schlechte finden ſich überall,
hat es doch ſelbſt einen Judas Iſchariot gegeben! —
Von den Guten und Beſten aber gilt im höchſten Sinne
das Zeugnis, welches die Juden dem Hauptmann von
Kapernaum ausſtellten: „Er iſt es wert, daß du ihm
ſolches erzeigeſt“.
Wer ſich die ſkizzenhaften Zeichnungen der pauli-
niſchen Briefe zu einem Geſamtbild der apoſtoliſchen
Chriſtenheit zuſammenſtellt, findet die Widerſpiegelung
dieſes Bildes in der heutigen Miſſionsgemeinde
wieder, ſowohl in ſeinen düſteren Farben als auch
in ſeinen wunderbaren Lichtwirkungen.
23
[354]
Man darf ſich alſo die Miſſionsgemeinde nicht als
ein großes ſonniges Feld vorſtellen, darauf die ſchönſten
Bäume ſtehen und an jedem Baume die herrlichſten
Früchte hängen. Das Chriſtentum iſt wie der frucht-
bare Boden, in welchen der junge Baum erſt umge-
pflanzt wird, es iſt wie der treibende Saft, der dem
Baume erſt zugeführt wird. Eine aufrichtige Annahme
des Evangeliums hat auch einen aufrichtigen guten
Willen zur Folge; aber wenn der Geiſt auch willig iſt,
das Fleiſch iſt zunächſt noch ſchwach. Nur in be-
ſchränktem Maße und nur bei wahrhaft pauliniſchen
Perſönlichkeiten iſt die ſittliche Wirkung der Bekehrung
eine unmittelbare. Aber bei der weitaus größeren Zahl
der ſchwächeren Elemente trifft dieſes durchaus nicht
zu. Auch hier iſt es ein Wachstum, und alles Wachs-
tum braucht Zeit. Darum iſt das Miſſionsfeld mit
Bezug auf die ſittliche Qualität der Bekehrten wie ein
blühendes Saatfeld, welches köſtliche Früchte wohl ver-
ſpricht und mit Sicherheit bringen wird, welches aber
Geduld verlangt. Es ſind eben werdende und darum
noch unfertige Verhältniſſe. Für die katholiſche Miſſion
beſteht die Beſtimmung, daß erſt dann einer Prieſter
werden kann, wenn ſeine Familie nachweisbar drei
Generationen hindurch chriſtlich geweſen iſt. Erſt von
der dritten Generation, die voll und ganz in chriſtlicher
Atmoſphäre aufgewachſen iſt, nimmt ſie an, daß ihr
das Chriſtentum in Fleiſch und Blut übergegangen ſei.
In der That vollzieht ſich eine völlige Umgeſtaltung
einer ganzen Perſönlichkeit — und bei der Eigenart
des japaniſchen Geiſteslebens kann es ſich nur darum
und nicht etwa nur um eine Reformation der Perſön-
lichkeit handeln — erſt in großen Zeiträumen. Hat
das Chriſtentum erſt einmal eine Umgeſtaltung der
[355] Weltanſchauung und Lebensrichtung bewirkt, dann können
die ſittlichen Früchte nicht ausbleiben.
Schon die Thatſache, daß ein großer Teil der
evangeliſchen Chriſten dem alten Samuraiſtande, dem
Träger der japaniſchen Sittlichkeit, entſproſſen iſt, läßt
für die Zukunft das Beſte hoffen. Dazu iſt die Zahl
der ſog. Reischriſten nur eine geringe. Um leiblicher
Speiſe willen ergreifen nur verſchwindend wenige das
Chriſtentum; dagegen mag es hier und da vorkommen,
daß man ſich um geiſtiger Speiſe willen taufen läßt,
d. h. um im Verkehr mit dem Miſſionar irgend welchen
Bildungsgewinn zu erzielen. Mancher hat es heraus-
gefunden, daß der Verkehr mit dem Fremden ein treff-
liches Mittel iſt, ſeinem Deutſch oder Engliſch nach-
drücklich aufzuhelfen. Das ſind aber Ausnahmen. Bei
weitaus der großen Mehrzahl ſpielen dieſe offenbar
heuchleriſchen und betrügeriſchen Motive nicht mit. Faſt
immer ſind es edle Beweggründe, die zu Chriſtus führen.
Das japaniſche Chriſtentum würde gewiß an ſitt-
licher Qualität und an religiöſer gewinnen, wenn ſich
die Chriſten noch mehr von den Grundvorausſetzungen
der konfuzianiſchen Moral losreißen würden. Seither
war es der einzelne Japaner nicht gewohnt, ſich ſelbſt
in den Vordergrund ſeiner Beſtrebungen zu ſtellen. Das,
worauf es ankam, war nicht das Individuum, das waren
vielmehr die Gemeinſchaftskörper der Familie und des
Staates. Dieſe Anſchauungen haben auch bei der An-
nahme des Chriſtentums für viele einen entſcheidenden
Einfluß geübt. Das japaniſche Chriſtentum iſt zu wenig
individuell. Es läßt ſich nicht leugnen, daß nicht wenige
ſich hauptſächlich darum zum Chriſtentum bekennen, weil
ſie hoffen, dasſelbe werde ihr Volk zu Ehren bringen.
„Gerechtigkeit erhöhet ein Volk“, ſagt die Schrift, und
23*
[356] die Erhöhung ihres Volkes iſt es, die ſie von der chriſt-
lichen Gerechtigkeit in erſter Linie erwarten. Nationale
Motive ſpielen bei der Bekehrung ebenſo viel mit als
das individuelle Sündenbewußtſein. Und doch ſoll das
Sündenbewußtſein die erſte Bedingung zur Seligkeit
ſein. An der Pforte zum Himmelreich ſteht Johannes
der Täufer, und über dem Eingang ſind die von Jeſus
beſtätigten Worte geſchrieben: „Thut Buße!“ Zur Buße
aber iſt der Japaner ſeiner ganzen Veranlagung nach
wenig geneigt, und ſein Gewiſſen macht ihm ſelten zu
ſchaffen. Er beſitzt eine friſche, freudige Schaffensnatur
nach Art der alten Griechen, bei dem Aſketismus der
Buße hält er ſich nicht gern auf. Dazu kommt, daß
das Miſſionsmaterial faſt durchweg ein jugendliches iſt.
In den ſonnigen Tagen der Jugend aber iſt das Froh-
gefühl der Kraft und der freudigen Begeiſterung ſtärker
als das Gefühl der Schwäche und der demütigen, buß-
fertigen Zerknirſchung. In der Regel iſt es ſo, daß
das Gefühl der ſittlichen Unzulänglichkeit erſt im Ver-
laufe des Taufunterrichts ſo viel als möglich geweckt
wird. Der Mangel an Gewiſſensmotiven und ein
Übermaß von patriotiſchen Empfindungen iſt ſelbſt bei
epochemachenden Bekehrungen nachweisbar. Auch von
dem Chriſtentum Niſhimas läßt ſich nicht leugnen,
daß es einen ſtarken ſozialen Beigeſchmack hatte. Er
verſtand es, die chriſtlichen Schüler der Doſhiſha zu
entflammen, aber nicht zum wenigſten dadurch, daß er
ſie immer wieder darauf hinwies, was ſie dem Volke
und Vaterlande ſchuldig ſeien. Das Chriſtſein betonte
er ſehr viel in Verbindung mit dem Japanerſein, und
dieſes Leuten gegenüber, welche infolge ihrer jungen
Jahre ſehr geneigt waren, ſeine Worte ſo aufzufaſſen,
als ſei das Chriſtſein nur ein Mittel zu dem einen
[357] Zweck des Japanerſeins. Es iſt keine vollgenügende
Erklärung zu ſagen, daß Niſhima von einem glühenden
Patriotismus beſeelt geweſen ſei; vielmehr iſt der alte
Samurai nie in ihm erſtorben, und in ſeiner einſeitigen
Wertſchätzung der Volksgemeinſchaft iſt er auch als
Chriſt noch Konfuzianiſt geblieben. In dieſer Befangen-
heit hat er der Doſhiſha von vornherein den Kurs ge-
wieſen, der ſie ſchließlich zu einem unrühmlichen Ziel
führen ſollte. Auch die an ſich hocherfreuliche Thatſache,
daß der erſte Präſident des Parlaments ein Chriſt
war, und daß bis zum heutigen Tag durchſchnittlich
etwa acht Chriſten im japaniſchen Unterhaus ſitzen, iſt
dem tiefer Schauenden ein Beweis dafür, daß das
Chriſtentum ſtark politiſch durchſäuert iſt. In Deutſch-
land iſt man geneigt, den Geiſtlichen die öffent-
liche Teilnahme an der innern Politik zu unter-
ſagen. Wie würde ein zufällig an Japans Geſtade
verſchlagener preußiſcher Konſiſtorialrat ſich wundern,
wenn er von ſo mancher Kanzel herab nicht bloß die
Namen der radikalen, freiſinnigen und konſervativen
Parteien hörte, ſondern dazu noch ein buntes Durch-
einander von „China, Amerika, Franz’, Doits’, Inglish,
Russia etc.“. Er würde nicht mit Unrecht vermuten,
daß dieſe Predigten ſtark politiſch durchſäuert ſind. Es
iſt ſehr zu begrüßen, daß der Unfug politiſcher Predigten,
welcher um das Jahr 1890 auf ſeiner Höhe war, heute
doch immerhin bedeutend abgenommen hat. Man iſt
gewohnt, das Vorhandenſein japaniſcher chriſtlicher
Staatsmänner dahin auszulegen, daß das Chriſtentum
eine Macht im Volksleben bildet. Das iſt ganz richtig.
Es läßt ſich aber mit einem gewiſſen Recht dagegen
behaupten, daß in Japan das Chriſtentum in manchen
ſeiner Glieder zu einer Magd, zu einem Appendix der
[358] Politik herabgewürdigt werde. Gewiß iſt doch — mag
es auch in den geſchichtlichen Verhältniſſen einigermaßen
eine Erklärung finden —, daß die Bekehrung der alten
Welt in anderer Weiſe vor ſich gegangen iſt, nämlich
in völliger Indifferenz gegenüber dem Gemeinſchafts-
körper der Nation, und daß auch die ſonſtigen modernen
Miſſionen mit ihren Hauptfeldern in Indien, China
und Afrika von dieſem eigentümlichen Weſen wenig
wiſſen.
Das Chriſtentum darf nicht einfach an die Stelle
des Konfuzianismus treten, um gleich dieſem zum
Träger der alten ethiſchen Gemeinſchaftskörper Japans
zu werden. Die Bekehrten müſſen wiſſen, daß das
Chriſtentum nur mittelbar für das Volksganze, unmittel-
bar aber für die einzelnen beſtimmt iſt. Sie müſſen
lernen, daß nicht nur die Gemeinſchaft eine Exiſtenz-
berechtigung hat, ſondern daß jede Einzelſeele einen
unendlichen Wert in ſich ſelbſt beſitzt. Das individuell
Erbauliche, worin zu allen Zeiten eine hervorragende
Kraft der Lehre Chriſti lag, muß gerade in Japan
energiſch betont werden. Hier iſt der perſönlichen Seel-
ſorge ein weites Feld geboten. Sie muß das noch
unentwickelte Gemüt vertiefen und das Chriſtentum aus
einem Faktor der Geſellſchaftsordnung zu einer Sache
der perſönlichen Erfahrung machen. Sehr zu begrüßen
iſt die ſtetig geſteigerte Zahl weiblicher Chriſten. Dem
Manne iſt die Welt das Herz; für das Große und
Ganze, für die Allgemeinheit zu arbeiten iſt ſein Ziel.
Der Frau aber iſt das Herz die Welt; die Frau, die
zu Chriſtus kommt, ſucht etwas für Herz und Gemüt.
Schon jetzt iſt der veredelnde Einfluß der Frau auf
das japaniſche Chriſtentum unverkennbar. Der Zug
vom Sozialen zum Individuellen, von der Gemeinſchaft
[359] zum Perſönlichen iſt da, und wenn er weiter geht, ſo
iſt um dieſes Preiſes willen die aus politiſch-religiöſem
Grunde erwachſene Kriſis der neunziger Jahre nicht
zu teuer erkauft.
Mit der ſittlichen Qualität der Miſſionsgemeinde
ſteht im engſten Zuſammenhang die Frage nach der
Kirchendisziplin. Die Miſſion kann auf die Diszipli-
nierung ihrer Glieder nicht in dem Maße verzichten,
wie die heimiſche Kirche das thut. Zwar iſt das aus-
gedehnte Syſtem der Kirchenſtrafen einſchließlich der
öffentlichen Kirchenbuße, wie es in der alten Kirche
geübt wurde, in Japan unbekannt. Vermahnungen und
Verwarnungen ſind der privaten Seelſorge des Geiſt-
lichen überlaſſen. Die Rechtſprechung der Gemeinde-
verſammlung beſchränkt ſich auf Streichung und Aus-
ſtoßung. Die Streichung aus der Liſte der Gemeinde-
glieder erfolgt auf Grund der Vernachläſſigung des
Gottesdienſtes und des Sakraments. Durch dieſe
Streichung, durch welche alle toten Glieder entfernt
werden, gewinnt die Statiſtik der Miſſion außerordent-
lich an Zuverläſſigkeit. Die heimiſche Miſſionsgemeinde
ſieht freilich lieber große als kleine Zahlen. Im Inter-
eſſe der Sache ſelbſt iſt aber die Streichung unkirch-
licher Elemente unumgänglich notwendig. Es muß
eine Ehre ſein, Mitglied einer chriſtlichen Gemeinde zu
heißen. Wer aber durch Gleichgültigkeit den Beweis
liefert, daß er dieſe Ehre nicht zu würdigen weiß, darf
auch nicht länger mehr im Beſitze derſelben bleiben.
Wenn man auch ihnen die „Ehre“ beläßt, ſo wird die-
ſelbe zur wertloſen Phraſe. Durch die Streichung ſind
viele japaniſche Chriſtengemeinden um mehr als die
Hälfte reduziert worden. Es iſt kein Nachteil für ſie.
Mitglieder, die das Jahr einmal zur Kirche kommen,
[360] nützen nichts, ſie ſchaden aber. Kleine, aber lebendige
Gemeinden ſind beſſer als große und tote. Ein Feuer
mit einem Haufen Schlacken dazwiſchen brennt nicht
mehr und erliſcht ſchließlich, mag auch der Ofen voll
bis oben an ſein. Man werfe die Schlacken heraus,
und es flammt auf in neuer Glut. Lebendige Chriſten
halten ſich gegenſeitig warm; aber tote Chriſten da-
zwiſchen bringen am Ende die ganze Glaubens- und
Liebesglut einer Gemeinde zum Gefrieren. Das iſt
das Geheimnis der ecclesiolae in ecclesia; auf dieſem
Grundſatze ſind die Sekten aufgebaut, und wer Gelegen-
heit hatte, die nahe Bekanntſchaft von Sekten zu machen,
hat, bei allen ſeinen übrigen Bedenken, doch Wärme und
Leben in ihnen gefunden. Die bittere Seite der obigen
Wahrheit aber wird in der Staatskirche nur allzuſehr
fühlbar.
Gänzlich verſchieden von der Streichung iſt die
Ausſtoßung. Während ſich jene auf Unkirchlichkeit be-
zieht, erfolgt dieſe auf Grund von Unſittlichkeit, von
gemeinen Vergehen. Es iſt bezeichnend für das ja-
paniſche Chriſtentum, daß die Praxis der amerikaniſchen
und engliſchen Mutterkirchen, häretiſche Mitglieder zu
exkommunizieren, bei ihm keinen Eingang gefunden hat.
Trotzdem es faſt in jeder Gemeinde ſehr freiſinnige
Bekenner giebt, ſo iſt mir kein einziger Fall eines
Ketzergerichts bekannt. Das iſt ein Beweis für den
liberalen Sinn und die weitherzige Toleranz des ge-
ſamten evangeliſchen Chriſtentums Japans. Dagegen
ſollte es dem japaniſchen Chriſtentum vorbehalten ſein,
in anderer Hinſicht die Tradition der Exkommunikation
zu durchbrechen, indem es lediglich aus nationalen
Gründen einen ſittlich und religiös ſehr hoch ſtehenden
Mann ausſchloß (ſ. S. 130 Anm.). Das war eine
[361] charakterloſe Konzeſſion an die chauviniſtiſchen Schrei-
hälſe. Dagegen iſt es durchaus begreiflich, daß es ſich
eine Chriſtengemeinde nicht nachſagen laſſen kann, daß
ſie Verbrecher und Schurken unter ſich duldet. Reu-
mütige Sünder können nach allgemeiner Übung ſpäter
wieder aufgenommen werden. Auch wird nicht immer
die ſchärfſte Form der Exkommunikation gewählt. In
einem Eheſcheidungsfall eines ſonſt vortrefflichen Mit-
glieds unſerer Gemeinde, welches ſich nicht ohne gute
Gründe zu ſeinem Vorgehen veranlaßt ſah, glaubten
wir im Sinne chriſtlicher Ethik zu handeln, wenn wir
ihm den freiwilligen Austritt nahe legten. Die [Aus-
ſtoßung] hat immer etwas Schimpfliches und Entehrendes,
und dieſen Charakter muß ſie behalten, wenn anders
ſie wirkſam bleiben ſoll.
Die Ausſtoßung iſt ein zweiſchneidiges Schwert,
welches nicht allein den verwundet, gegen den es ge-
richtet iſt, ſondern auch den, der es führt. Denn auch
auf den Miſſionar wirft es kein günſtiges Licht, wenn
er zu oft in die Lage kommt, zu dieſem Gewaltmittel
zu greifen. Für einen guten Miſſionar gilt dasſelbe
wie für einen guten Arzt: Er muß verſuchen, der
Krankheit vorzubeugen und dem Äußerſten durch weiſe
Präventivmaßregeln zuvorzukommen. Er muß alſo den
Bekehrten von vornherein in eine ſorgfältige Behand-
lung nehmen.
Der junge Chriſt kann ohne dieſelbe gar nicht be-
ſtehen. Denn durch die Taufe iſt er doch noch nicht
auf eigene Füße geſtellt. Weit entfernt! Die Taufe
iſt die Geburt eines neuen Menſchen, Neugeborene aber
ſind keine ſelbſtändigen Männer, wenn auch auf geiſtigem
Gebiet hier und da eine Ausnahme zuzugeben iſt. Im
allgemeinen iſt der junge Täufling wie ein kleines,
[362] ſchwaches Kind, welches noch auf Schritt und Tritt der
Führung des „Paidagogos“ nicht entraten kann und ſich
ſelbſt überlaſſen, ohne dieſe Führung, wieder verloren
geht. Die Arbeit des Miſſionars darf darum mit der
Taufe noch nicht zu Ende ſein. Vielmehr beginnt ſie
da erſt recht. Denn auf dem Miſſionsfelde iſt die Er-
haltung noch weit ſchwieriger als die Gewinnung.
Zumal bei dem Temperament des Japaners. Ich
geſtehe es, jeden Sonntag, wenn ich auf der Kanzel ſtand
und einen Gläubigen vermißte, war mir angſt und
bange um ihn. Denn ſo lange einer im Herzen ein
lebendiger Chriſt iſt, kann man ſich darauf verlaſſen,
daß er auch regelmäßig zum Gottesdienſte kommt. Auf
dem Miſſionsfelde giebt es keine Frömmigkeit ohne Kirch-
lichkeit. Das Miſſionsfeld, welches uns alle Züge des
religiöſen Lebens in typiſcher Urſprünglichkeit vor Augen
führt, hat mich davon überzeugt, daß Frömmigkeit ohne
Kirchlichkeit ein Unding iſt, mit andern Worten, daß
Unkirchlichkeit zum Unglauben führen muß. Der junge
Chriſt, welcher zwei oder dreimal hinter einander den
Gottesdienſt verſäumte, war in äußerſter Gefahr des
Abfalls. Die Veranlaſſungen zum Abfall ſind eben auf
dem Miſſionsfelde auf Schritt und Tritt vorhanden. Die
ganze heidniſche Atmoſphäre, in welcher der Gläubige
die Woche über atmet, der Spott und Hohn ſeiner
Freunde, die Feindſeligkeiten ſeiner Lehrer und Kollegen,
die Bitten ſeiner Mutter und die Drohungen ſeines
Vaters, die lockenden und ſtrafenden Stimmen aller
derer, die ihm bis dahin lieb und teuer geweſen und
nun in Leid und Groll ſich von ihm wenden: — Da
gehört wahrlich mehr als menſchliche Kraft dazu, ſtand-
haft zu bleiben. Da bedarf der junge ſchwache Chriſt
einer ſtarken Stütze.
Wer ihn auf Jeſus als auf dieſe Stütze verweiſen
[363] wollte, wäre übel beraten. Gereiften Konfirmanden
mögen wir wohl Jeſus mit auf den Lebensweg geben
als Führer. Denn er iſt ihnen aus perſönlicher Erfah-
rung von Kind auf vertraut wie ein leibhaftiger Menſch
und ein treuer Freund. Für den Neubekehrten aber iſt
Jeſus das nicht. Für ihn iſt er kaum mehr als ein
Abſtraktum, eine Idee, wenn auch die höchſte Idee, die
er kennt. An der unperſönlichen Idee, nebelhaft und
ungreifbar wie ſie iſt, ohne Fleiſch und Bein, kann er
ſich nicht feſthalten. Dazu bedarf es einer lebendigen
Perſönlichkeit, und das iſt der Seelſorger. Das religiöſe
Leben des Neubekehrten wird nur erhalten durch die
lebendige Perſönlichkeit des Seelſorgers. In ihm ſieht
er die Gedanken Chriſti verkörpert; in perſönlichem Ver-
trauen zu dem Seelſorger, welcher den bekannten Mittler
zwiſchen ihm und einem unbekannten Dritten bildet,
bleibt er verbunden mit ſeinem Heiland. Geht ihm der
Seelſorger verloren, ſo geht das Mittelglied zwiſchen
ihm und dem Heiland verloren, ſo wird das Band mit
Jeſus für ihn durchſchnitten, ſo wird er hilflos preis-
gegeben jeder widrigen Strömung, die ihn von Jeſus
wegtreiben könnte. Das perſönliche Verhältnis zum
Seelſorger iſt es, das ihn feſthält. Kommt einmal ein
Windſtoß, ſtark genug, um den leichten Japaner mit
fortzureißen, ſo iſt es gut, daß der Seelſorger mit dem
ganzen Gewicht ſeiner autoritativen Perſönlichkeit ſich
an ihn hängt und ihn zurückhält. Von der Wichtigkeit
eines perſönlichen Verhältniſſes zwiſchen Seelſorger und
Chriſt auf dem Miſſionsgebiete macht ſich hier zu Lande
kaum jemand einen Begriff. In vielen unſerer Kirchen
ſteht der Seelſorger Sonntag für Sonntag auf ſeiner
Kanzel, und Sonntag für Sonntag kommen die Zuhörer,
die er perſönlich nicht einmal kennt, aber ſie kommen
doch und halten aus. Für den Heidenchriſten aber
[364] gewinnt Kirchgehen und Predigt erſt dann Intereſſe
und Anziehungskraft, wenn er dem Prediger perſönlich
nahe ſteht. Ein Prediger, den er nicht kennt, kann ihn
auf die Dauer nicht befriedigen, und wäre er ſelbſt der
vorzüglichſte Redner. Lebendige perſönliche Beziehungen
des Seelſorgers zu ſeinen Gläubigen ſind darum für
die heidenchriſtliche Gemeinde geradezu eine Lebensfrage.
Wo ſie fehlen, geht alles zu Grunde.
Der Miſſionar erhält aber einen bedeutenden Bun-
desgenoſſen in der Gemeinde. Für den japaniſchen
Chriſten, welcher in ſeinem Leben nie in vollem Sinne
erfahren hat, was Freiheit und Selbſtändigkeit iſt, der
vielmehr als Glied der Familie und des Volks in
Familie und Volk ſeinen natürlichen Rückhalt hatte,
bedeutet die Gemeinſchaft etwas ganz anderes als für
uns. Der einzelne will von der Gemeinſchaft getragen
ſein. Die Gemeinde muß ihm das erſetzen, was ihm
zuvor die Familie geweſen iſt. Die Miſſionsgemeinde
muß darum etwas ganz anderes ſein, als die Durch-
ſchnittsgemeinde in unſeren Landen. Sie muß in vollem
Sinne ein lebendiger Organismus, eine geiſtliche Fa-
milie ſein. Gemeinden wie die unſrigen in der Hei-
mat, wo ſich der Gläubige höchſtens einmal Sonntags
bewußt wird, daß er das Glied einer Gemeinſchaft iſt,
wären auf dem Miſſionsgebiete von kurzer Dauer. Denn
die Woche über wären die Chriſten als einzelne zer-
ſplittert, und einzeln preisgegeben den Mächten des
Unglaubens würden ſie von dieſen leicht überwunden
werden. Erſt in der Gemeinſchaft werden ſie ſtark.
Es handelt ſich alſo nicht um Gemeinden, die nichts
weiter ſind als zufällige Vereinigungen am Sonntag.
Das Gemeindeleben darf nicht aufgehen in den
Gottesdienſten am Sonntagmorgen; auch mit der Sonn-
[365] tagsſchule am Nachmittag und mit den religiöſen Vor-
trägen am Abend iſt die Sache noch nicht erſchöpft.
Da heißt es, auch in der Woche Bibelſtunden veran-
ſtalten; da gilt es, Gemeindeverſammlungen abzuhalten,
geſellige Zuſammenkünfte anzuberaumen, Gemeindefeſte
zu arrangieren. Man betet und ſingt nicht nur ge-
meinſam, man ißt und trinkt und ſpielt auch gemein-
ſam. Ich ſehe heute in den Liebesmahlen der apoſto-
liſchen Gemeinde nicht mehr nur den freien Erweis
gegenſeitiger brüderlicher und ſchweſterlicher Liebe; viel-
mehr glaube ich, daß man ſie damals ebenſo wie auf
dem heutigen Miſſionsfelde zur Pflege des Gemeinſchafts-
lebens und damit zur Erhaltung der Gemeinde als för-
derlich, wenn nicht als notwendig erkannt hatte. Das
Gemeinſchaftsbedürfnis führt auch über die engere Ge-
meinde hinaus. In dem wohlorganiſierten „Seinen-
kwai“ (Jünglingsverein), der in Japan im Jahre 1897
durch John R. Mott zu einem aus achtundzwanzig
Vereinigungen beſtehenden Studentenbund („Student
Young Mens Christian Association Union of Japan“)
ſpezialiſiert wurde, ſchließen ſich unter der Oberleitung
eigens dafür angeſtellter Miſſionare junge Männer,
d. h. hier Studenten, aus allen Kirchen, auch aus der
unſeren, zuſammen, und der Verein „Seisho no Tomo“
(Bibelfreund), welcher ſeine zwölftauſend Mitglieder
zum täglichen Leſen eines beſtimmten Schriftabſchnitts
verpflichtet, führt ſeine ebenfalls allen Denominationen
angehörigen Glieder jährlich auch wenigſtens einmal,
kleinere Kreiſe aber öfter, zuſammen. Es iſt ein großer
Apparat, der zur Erhaltung des Gemeindelebens in
Bewegung geſetzt werden muß. Die Paſtoration einer
heidenchriſtlichen Gemeinde erfordert eine volle Mannes-
kraft; und wenn ich heute an jene Zeit zurückdenke, da
[366] die Seelſorge- und Predigtarbeit an unſerer Hongo-
gemeinde allein auf meinen Schultern lag, ſo kann ich
es nicht ohne tiefe Wehmut, da ich mir bewußt bin,
daß meine auch noch anderweitig ſtark in Anſpruch ge-
nommenen Kräfte viel zu ſchwach waren, um allen An-
forderungen zu genügen.
Das ganze evangeliſche Chriſtentum Japans mit
Ausnahme der ritualiſtiſchen biſchöflichen Kirche trägt den
puritaniſchen Charakter der engliſch-amerikaniſchen Sekten.
Auf das Äußere wird nicht das geringſte Gewicht gelegt.
Wenn der amerikaniſche Miſſionar auf ſeinem Zweirad
durch die Straßen von Tokyo fährt, in kurzen Knie-
hoſen und hellbrauner Joppe, mit ſtrammem Schnurr-
bart auf der Oberlippe, ſo ſieht ihm kein Menſch den
geiſtlichen Stand an. Und mit dem japaniſchen Paſtor
iſt es nicht anders. Selbſt im Amte verſchmäht man
es, die paſtorale Würde durch äußere Mittel zu heben.
Auf der Kanzel erſcheint der Prediger im gewöhnlichen
Kleid; der Talar iſt gänzlich unbekannt. Keine Liturgie
unterbricht den ſtrengen Gang des Gottesdienſtes.
Japan beſitzt jetzt eine ſtattliche Anzahl großer Kirchen,
mit Sitzplätzen von dreihundert bis tauſend und mehr
Perſonen; man hat bei manchen derſelben nach außen
die Ornamentik nicht verſchmäht; im Innern aber
ſind ſie gleichmäßig öde und kahl; ihr einziger Schmuck
iſt in der Regel ein kurzer Bibelſpruch, der in einfachen
Lettern oder in künſtleriſcher Ausführung über dem
Predigtpult angebracht iſt. Ebenſowenig wie der ja-
paniſche Gottesdienſt äußerlich das Gepräge des Feier-
lichen trägt, iſt das Gotteshaus imſtande, den Ein-
tretenden unmittelbar in fromme Stimmung und weihe-
volle Andacht zu verſetzen. Kleine Türmchen zur Ver-
zierung ſieht man wohl hier und da; aber keinen hoch-
[367] ragenden Turm, und keine Glocken laden zum Gottes-
dienſte. Keine hohen Feſttage bringen Abwechslung in
das Einerlei des kirchlichen Lebens. Die erſte Woche
des Jahres iſt Buß- und Betwoche mit alltäglichen be-
ſonderen Gebetsandachten; aber die deutſche Miſſion iſt
die einzige, welche Charfreitag und Weihnachten nach
deutſcher Sitte mit Nachdruck feiert.
Ganz anders natürlich bei der römiſchen, ruſſiſchen
und auch biſchöflichen Kirche. All den äußeren Pomp,
der dieſen Kirchen in der Heimat eigentümlich iſt, hat
man auch nach Japan hinübergepflanzt. Mehrere
katholiſche Kirchen, ebenſo wie auch die ruſſiſche auf
dem Surugadaihügel in Tokyo, ſind einigermaßen des
Namens Kathedrale würdig. Hier wendet man der
äſthetiſchen Seite des Kultus beſondere Sorgfalt zu.
So gebührt z. B. der ruſſiſchen Kirche die Krone der
Kirchenmuſik und des Choralgeſanges. Ob nicht auch
die evangeliſchen Miſſionen gut daran thäten, den
äſthetiſchen Empfindungen der Japaner mehr entgegen
zu kommen? Sind doch die Japaner für Sinnesein-
drücke durch Auge und Ohr beſonders empfänglich, und
lehrt doch die Geſchichte, daß der Buddhismus vor
tauſend Jahren und der Jeſuitismus vor dreihundert
Jahren ihre verblüffenden Erfolge weſentlich den äußeren
Erſcheinungen ihres Kultus zu verdanken haben!
Zweifellos handelt es ſich hier um eine ſehr nahe-
liegende Frage. Aber die Beantwortung der Frage iſt
einer noch nicht ſehr nahen Zukunft vorbehalten. Und
zwar haben die Japaner ſelbſt darüber zu entſcheiden.
In dieſen Dingen, ſoweit es ſich nur um den Zuſchnitt
der äußeren Gewandung, alſo um wirkliche Adiaphora
handelt, läßt die Miſſion den eingeborenen Chriſten
freie Hand. Sie iſt vollſtändig beruhigt darüber, daß
[368] etwa weſentliche chriſtliche Intereſſen dabei verletzt werden
könnten. Die gegenwärtige Stimmung der Evangeliſchen
iſt ihnen genügende Bürgſchaft dafür. Die evangeliſchen
Chriſten, welche auf den Ceremonienhumbug und das
Schaugepränge des Buddhismus als auf etwas Heid-
niſches mit Verachtung und Abſcheu herabſchauen, wünſchen
nicht erſt wieder, durch das Chriſtentum dahin zurück-
geführt zu werden. Auf die niederen Klaſſen des Volks
mag die ſchöne Außenſeite gerade wegen ihrer Ähnlich-
keit mit dem Buddhismus anziehend wirken, für die
urteilsfähigen Elemente iſt ſie aus ebendemſelben Grunde
abſtoßend. Die Erklärung dafür, daß das Material der
katholiſchen Kirchen im Vergleich zu dem der evangeliſchen
Miſſion ein minderwertiges iſt, iſt nicht zum wenigſten
in dieſer Thatſache zu ſuchen.
So lange der innere Stand des japaniſchen Pro-
teſtantismus derſelbe bleibt wie gegenwärtig, iſt die
Frage einer Änderung zu Gunſten der kirchlichen
Äſthetik eine rein akademiſche. Wer dem Gottesdienſte
einer proteſtantiſchen Gemeinde, welcher genau in der
Weiſe eines deutſchen reformierten oder unierten Gottes-
dienſtes verläuft, vom Anfang bis zum Schluß mit Ver-
ſtändnis beigewohnt hat, empfindet die vollſtändige Ab-
weſenheit ſinnlicher Eindrücke nicht mehr als einen
Mangel. Der ganze Gottesdienſt iſt konzentrierte An-
dacht. Man merkt es, die Leute ſind mit Kopf und
Herz, mit Leib und Seele bei der Sache. Mit Friſche
und Begeiſterung werden die Lieder vorgetragen, wenn
es auch manchem auf ein paar Töne höher oder tiefer
nicht ankommt; gelangweilte Geſichter, welche in unſeren
Gottesdienſten als eine unausbleibliche Folge des Ge-
wohnheitschriſtentums ſo ziemlich überall vorkommen,
ſind hier eine ſeltene Erſcheinung; mit geſpannter Auf-
[369] merkſamkeit folgt man der Predigt, und je länger ſie
dauert, deſto lieber lauſcht man; mit Bewegung und
Inbrunſt werden die Gebete geſprochen. Hat auch der
Eintritt in das Gotteshaus nicht unmittelbar die An-
dacht geweckt, wenn man die Kirche verläßt, iſt die ge-
hobene Stimmung in vollem Maße vorhanden.
Bei all ſeiner Nüchternheit iſt der ganze Verlauf
ein durchaus würdiger. Selbſt die Störungen durch
Ab- und Zugehen ſind gering und die außerordentliche
Seltenheit eigentlicher Skandalſcenen iſt ein ſchöner
Beleg für die Wohlanſtändigkeit des Volks. Auch die
nichtgläubigen Beſucher verhalten ſich ruhig, und ſelbſt
buddhiſtiſche Prieſter hören ſich die Predigt an, ohne
auch nur durch eine Miene ihre Mißbilligung kund zu
thun 1). Wenn die Heiden beim Singen ſich gleich den
Gläubigen von ihren Plätzen erheben würden, anſtatt
zur Unterſcheidung von dieſen ſitzen zu bleiben, ſo könnte
man ſie ſehr wohl auch für Chriſten halten.
Im Anfang hält es ſehr ſchwer, die Beſucher an
ein pünktliches Erſcheinen zu gewöhnen. Pünktlichkeit
ſucht man eben in dem Regiſter der japaniſchen Tugend-
lehre vergebens. Ich ſelbſt hatte zeitweilig auf dem
Lande zu predigen. Da ich meine Japaner kannte, ſo
ſetzte ich wohlweislich die Verſammlungen immer ſchon
auf eine Stunde vor Ankunft meines Zuges an. Ich
hätte ſie aber manchmal noch viel früher anſetzen dürfen.
Denn mehr als einmal mußte ich noch zwei volle
Stunden warten, ehe Zuhörer kamen; aber ſchließlich
kamen ſie doch. In den organiſierten Gemeinden iſt
24
[370] es aber heute Sitte geworden, daß der Geiſtliche mit
dem Glockenſchlag das Predigtpult betritt.
Die gottesdienſtlichen Gebete werden frei vorge-
tragen. Unter den evangeliſchen Gemeinden ſind es
nur diejenigen der episkopalen Kirchen, welche gedruckte
Vorlagen benutzen, und zwar die des „Common Prayer
Book“, das in das Japaniſche übertragen iſt und
ebenſo wie in der Church of England die Grundlage
des Gottesdienſtes bildet. Die japaniſchen Chriſten kön-
nen frei beten, und zwar jeder einzelne. In den
mancherlei Andachten und Zuſammenkünften, welche alle
mindeſtens mit Gebet beginnen und ſchließen, lernt ſich
das bald. Da fordert der Paſtor, wenn er das Gebet
nicht ſelbſt ſpricht, irgend einen aus der Gemeinde dazu
auf. Ich erinnere mich, wie einſt ein junger Chriſt,
welcher in Deutſchland philoſophiſchen und zum Teil
auch theologiſchen Studien obgelegen hatte und erſt
kürzlich nach Japan zurückgekehrt war, einer Gemeinde-
verſammlung in Tokyo anwohnte. Der Leiter der Ver-
ſammlung wollte ihm eine beſondere Ehre erweiſen und
forderte ihn auf, zu beten. Der junge Mann war aber
offenbar im Verkehr mit den deutſchen Studenten der
Theologie etwas außer Übung gekommen, die Auf-
forderung hatte auf ihn die Wirkung einer platzenden
Bombe. Er geriet in die größte Verlegenheit, und mit
dem Beten wollte es nicht gehen. Aber um ſeine theo-
logiſche Reputation war es ſeitdem geſchehen. Auch
unſere Miſſion kennt Formulare nur für Taufe und
Abendmahl. Alle übrigen Gebete ſind frei.
Für das Miſſionsfeld — denn von der heimiſchen
Kirche zu ſprechen iſt hier nicht der Ort — halte ich
das für das richtige. Die Redensart von dem freien
Walten des Geiſtes iſt doch nicht ſchlechtweg eine Phraſe.
Gerade bei dem Gebet kann es leicht wahr werden:
[371] „Der Buchſtabe tötet“. Ich geſtehe es offen, daß ich
mich an den freien Gebeten auf dem Miſſionsfelde im
allgemeinen mehr erbaut habe als an den Agenden-
gebeten unſerer deutſchen Kirchen. Natürlich muß auch
das Beten gelehrt werden. Ohne Anleitung geht es
nicht. Hat doch auch Jeſus ſeine Jünger beten gelehrt!
Läßt man aber auf Grund dieſer Anleitung das Gebet
ein perſönliches und freies werden, ſo iſt der Ausdruck
und der Eindruck desſelben ein ganz anderer als bei
dem mechaniſch angelernten. Nicht bloß in Fragen der
Verwaltung, ſondern auch in rein geiſtlichen Dingen
wie beim Gebet, muß auf dem Miſſionsfelde der Grund-
ſatz zur Anwendung kommen: Nicht alles allein machen,
ſondern möglichſt viele möglichſt oft in Anſpruch nehmen,
um ſie ſo perſönlich zu intereſſieren. Selbſtthätigkeit
hält wach und lebendig, Paſſivität aber ſchläfert ein.
Das allgemeine Prieſtertum iſt auf dem evangeliſchen
Miſſionsgebiete Japans trotz der teilweiſen Unmündig-
keit der Chriſten im Prinzip weit mehr anerkannt und
gehandhabt als in dem Lande ſeiner Geburt.
Im Mittelpunkt des Gottesdienſtes ſteht die Pre-
digt. Bei derſelben gilt es zu beachten, daß ſie nicht
ſowohl auf die Gewinnung neuer Chriſten als vielmehr
auf die Erbauung der ſchon vorhandenen berechnet iſt.
Sie iſt alſo nicht eigentlich halieutiſch im engeren
Sinne des Wortes. Ich habe mir in allen möglichen
Kirchen Predigten angehört, und immer habe ich den
gleichen Eindrnck gewonnen. Den Gottesdienſt am
Sonntag betrachtet nun einmal die Gemeinde als ihr
gehörig. Infolgedeſſen iſt es nicht ſo, wie viele glauben,
als ſei nämlich die Predigt mehr belehrend und über-
zeugend als erbaulich. Das Belehrende und Über-
zeugende tritt nur da in den Vordergrund, wo der
Miſſionar unmittelbar an Heiden ſich wendet, d. h.
24*
[372] — in geringerem Maß — im Taufunterricht und — in
höherem Grad — bei der litterariſchen Arbeit, von
welcher in Kap. XII noch die Rede ſein wird. Hier kommt
die Apologetik zu ihrem Recht. In der Predigt aber
tritt ſie nicht in den Vordergrund. Vielmehr beſteht
materiell zwiſchen der Predigt in dem Gottesdienſte der
Miſſionsgemeinde und der Predigt in der Heimat kein
Unterſchied. Der Zweck iſt poſitive Erbauung hier wie
dort, und wenn der japaniſche Geiſtliche hier und da
auf kleine Abwege gerät, ſo tragen die Miſſionare daran
keine Schuld. Für Japan trifft auch die Anſchauung
nicht zu, die gleichfalls in Bezug auf Miſſionspredigten
gang und gäbe iſt, als müßten dieſelben ſehr einfach
gehalten ſein, etwa in dem Stil, wie man zu Kindern
redet, als dürfe man nichts vorausſetzen und nirgends
nur andeutungsweiſe ſich ergehen, als müſſe man viel-
mehr bei Heranziehung bibliſcher Beiſpiele recht aus-
führlich ſein, wodurch dann die Predigt einen ſtark
erzählenden Charakter erhalte. Der geiſtige Horizont
iſt wie überall ſo auch hier ein verſchiedener, und bei
der Predigt iſt das wohl in Betracht zu ziehen. Aber
im großen und ganzen braucht ſich dieſelbe kaum unter
der geiſtigen Höhe zu halten, auf der ſie ſich in Deutſch-
land bewegt. Und auch die Anforderungen an das
religiöſe Beſitztum der Hörer brauchen kaum geringer
zu ſein. Denn die bibliſchen Kenntniſſe der heiden-
chriſtlichen Gemeinde ſind bedeutende.
Wenn die Predigt auf die Heiden, welche unter
den Zuhörern ſind, auch nicht direkt berechnet iſt, ſo
hat ſie darum doch auch für dieſe ihren Gewinn; und
wenn ſie einmal eine bibliſche Anſpielung nicht ver-
ſtehen, ſo mag ihnen gerade das zum Sporn weiteren
Nachforſchens werden.
Während aber der Miſſionar mit Bezug auf den
[373] Inhalt der Predigt der Lehrer iſt, iſt er mit Bezug
auf die Form derſelben ein Lerner, und eine große
Ausnahme iſt es, daß er hier ein Meiſter wird. Ich
bezweifle es, ob die Hälfte der chriſtlichen Sendboten
imſtande iſt, in der Landesſprache zu predigen, und
wenn auch die Hälfte es vermöchte, ſo ſind ſich doch
die meiſten bewußt, daß es europäiſches Japaniſch iſt,
das ſie ſprechen. Die erſten Miſſionare hatten freilich
Zeit genug, um des Japaniſchen Herr zu werden.
Darnach aber kam eine Zeit, wo man ſich vielfach mit
Dolmetſchern behalf. Auch mir blieb anfangs nichts
anderes übrig, und es dauerte etwa zwei Jahre, bis
ich in japaniſcher Sprache predigen konnte. Es iſt
manchmal vorgekommen, daß ich morgens in der deutſchen
Gemeinde in Tokyo in deutſcher Sprache predigte,
nachmittags vor einer teilweiſe engliſch verſtehenden
japaniſchen Verſammlung in Yokohama auf ihren
Wunſch in engliſcher und abends auf dem Lande noch
einmal in japaniſcher Sprache. Heute iſt der Miſſionar
in ſeiner Predigtarbeit ſtark entlaſtet. Die meiſten
Miſſionare haben es aufgegeben, regelmäßig zu predigen,
ſo daß die Predigt zum weitaus größten Teil an die
Japaner übergegangen iſt. Gleichwohl bleibt es für
die Miſſionare nach wie vor Erfordernis, die japaniſche
Sprache zu erlernen, da ohne dieſelbe jede miſſionariſche
Thätigkeit ſchwer gehemmt iſt.
Da es zur Predigt und Seelſorge einer ſo voll-
kommenen Beherrſchung von Sprache, Sitte und Volks-
charakter bedarf, wie es einem Fremden kaum möglich
iſt, und da ſich das Vertrauensverhältnis zwiſchen
Fremden und Japanern immer mehr als eine große
Schwierigkeit erweiſt, ſo muß es als weiſe betrachtet
werden, daß von Anfang an alle größeren Miſſionsge-
ſellſchaften die Heranbildung japaniſcher Geiſtlichen als
[374] eine Hauptaufgabe betrachteten. Darum hat man früh-
zeitig theologiſche Schulen gegründet, und die großen
amerikaniſchen Geſellſchaften waren in richtiger Würdi-
gung der Verhältniſſe von vornherein bemüht, ihren
japaniſchen Theologen denſelben Bildungsgrad zu teil
werden zu laſſen, wie er auf den theologiſchen Semi-
narien Amerikas erworben wird. Eine Anzahl junger
Leute haben ſie nach Amerika geſchickt, wo ſie mit den
künftigen Geiſtlichen amerikaniſcher Kirchen zuſammen
ausgebildet wurden. Für Japan iſt eben nichts zu gut,
und wo die anderen Wiſſenſchaften ſo gepflegt werden,
würden die Paſtoren bald jedes Anſehens verluſtig gehen,
wenn ſie nicht in vollem Sinne des Wortes gebildete
Männer wären.
Aber auch um ihrer ſelbſt willen bedürfen die
Theologen einer gründlichen Schulung. In dem Strom
der Zeitläufte, in der fortwährenden Flut und Ebbe
des japaniſchen Lebens kann nur der ſtehen, welcher
einen feſten Standpunkt gewonnen hat. Wer hier ein
bißchen naſcht und dort ein bißchen, der bringt ſchließ-
lich viel zuſammen, aber es iſt nicht verdaut, nicht ver-
arbeitet zu einem organiſchen Ganzen. Auf dieſem
Wege entſteht wiſſenſchaftliche Halbbildung, welche zu
hohler Eitelkeit führt. Dagegen hilft einzig und allein
eine ſtrenge, ja pedantiſche Gedankenzucht. Der Miſſio-
nar darf ſich nicht, wie im Taufunterricht, mit der
Mitteilung von Reſultaten begnügen. Auf dem Kultur-
boden des japaniſchen Miſſionsfeldes iſt es vielmehr wie
hier bei uns: Unſeren Laien in Deutſchland genügen
die Reſultate, d. h. der poſitive Glaubensgehalt; der
Theologe aber bedarf der wiſſenſchaftlichen Fundierung,
und darum geht er durch das Univerſitätsſtudium hin-
durch. Der orthodoxe japaniſche Prediger, welchem
man mit ſyſtematiſcher Beharrlichkeit ängſtlich alles fern
[375] hielt, was nach Unglauben ſchmeckt, läßt ſich leicht
überzeugen, wenn er nachher zufällig Pfleiderers Reli-
gionsphiloſophie in die Hände bekommt; und wäre es
Schopenhauer, ſo würde er, um ſeinem neuen Abgott
zu huldigen, ebenſowohl ſeinen nichtfundierten Glaubens-
beſitz über Bord werfen. Der Theologe aber, mag er
nun orthodox oder liberal ſein, welcher an der Hand
des Lehrers durch die Gedankengänge des Skeptizismus
gegangen iſt, ſteht auf feſtem Boden; er kennt die
Feinde, er hat ſie ſelbſt ſchon überwunden, er fürchtet
ſie nicht mehr. Iſt der Japaner leicht, ſo iſt es gut,
daß er durch eine durchgebildete Weltanſchauung be-
ſchwert werde, damit er nicht wie ein ſchwankendes
Rohr von jedem Windhauch bewegt werde. Hier liegt
die Bürgſchaft gegen einen ſonſt ſehr gefährlichen Radi-
kalismus. Die Vermeidung der hiſtoriſch-kritiſchen
Methode iſt dabei unmöglich, wenn auch die Durch-
dringung mit chriſtlichem Geiſt und Leben das alleinige
Ziel bleibt.
Auf dieſen Standpunkt hat ſich auch die Miſſion
des Allg. evang.-prot. Miſſionsvereins geſtellt. Ihre
Theologiſche Schule (Shinkyo Shingakkō = Proteſtantiſche
Theologieſchule) ſteht im Mittelpunkte der miſſionari-
ſchen Thätigkeit. Während meines japaniſchen Aufent-
halts habe ich wöchentlich ſechszehn bis zu ſechsund-
zwanzig Stunden Unterricht an dieſer Schule gegeben,
infolge von Mangel an Lehrkräften ſo viele, daß es
nicht möglich war, der großen Aufgabe voll und ganz
gerecht zu werden. Wir verſuchten, unſeren Studenten
Hochſchulbildung mitzuteilen, nicht zwar in akademiſcher
Freiheit, ſondern in ſeminariſtiſcher Zucht. Ihre Schluß-
examina würden ſie auch vor einer deutſchen theolo-
giſchen Prüfungskommiſſion beſtanden haben. Den Unter-
richt erteilten wir, wie das in den Seminarien der Ame-
[376] rikaner auch der Fall iſt, in fremder Sprache. Es hat das
ſeinen guten Grund. Die japaniſche Sprache iſt gegen-
wärtig noch unfähig, den ganzen Inhalt unſerer modernen
Kultur zu faſſen. Man kann der Wiſſenſchaft nicht eben-
ſogut durch die japaniſche als durch die deutſche Sprache
Ausdruck geben, und in der Theologie, wo es ſich um
den ſcharfen logiſchen und tiefen myſtiſchen Ausdruck
einer rein geiſtigen Gedankenwelt handelt, verſagt das
Japaniſche oft geradezu.
Dem japaniſchen Geiſtlichen wird die Gemeinde
unterſtellt. Er verwaltet ſie mit Hilfe eines Pres-
byteriums. Bei allen wichtigen Angelegenheiten aber
wird eine Gemeindeverſammlung berufen. Faſt alle
japaniſchen Chriſtengemeinden, auch diejenigen, welche
ſich nicht ſelbſt unterhalten, ſind in ihrer Verwaltung
ſelbſtändig. Der Miſſionar iſt offiziell unbeteiligt,
nachdem die Erfahrung erwieſen hat, daß Leute wie
die Japaner es ungern ertragen, wenn der Fremde
eine maßgebende Macht über ſie ausübt. Die ganze
Kunſt für den Miſſionar beſteht daher darin, daß er
ſich nicht vordrängt, ſondern im Hintergrunde ſtehend
die Fäden in der Hand behält und die Gemeinde ſo
leitet, daß ſie in dem Glauben bleibt, ſie leite ſich
ſelbſt. Er iſt der Berater, nicht der Herr der Gemeinde,
und wenn er ſein Amt mit Takt ausübt, ſo kann er
ſehr ſegensreich wirken. Er darf ſich aber unter keinen
Umſtänden ganz von der noch unmündigen Gemeinde
zurückziehen. Die Kongregationaliſten haben mit ihrem
Prinzip der abſoluten Selbſtändigmachung der Gemein-
den ſchlechte Erfahrungen gemacht, ſo daß die Pres-
byterianer unter der Reaktion dieſer Erfahrungen neuer-
dings beſchloſſen, keiner Gemeinde irgendwelche Selb-
ſtändigkeit zu gewähren, ſo lange ſie ſich nicht ſelbſt
[377] unterhalte. Wie dieſes genau entgegengeſetzte Experi-
ment ausfällt, bleibt abzuwarten.
Es muß den japaniſchen Gemeinden zum Lob nach-
geſagt werden, daß ſie neben dem Recht der Selbſtändig-
keit auch auf ihre Pflicht der Selbſtunterhaltung bedacht
ſind. Wenn es auch nicht an den gewöhnlichen Seelen
fehlt, welche darauf aus ſind, den fremden Miſſionar
mitunter ſogar in ſchamloſer Weiſe auszubeuten, ſo
giebt es doch recht viele, welche es als nationale Schmach
empfinden, daß Japan für ſeine Evangeliſierung auf
die Geldmittel des Weſtens angewieſen iſt. Jede japa-
niſche Gemeinde verſucht von dem erſten Tag ihres
Beſtehens an, zu ihrer Selbſtunterhaltung beizutragen,
und die Opferwilligkeit verdient alle Anerkennung.
Von abſichtlicher Schädigung einer Miſſionsgeſell-
ſchaft durch die andere iſt in Japan kaum die Rede.
Selbſt Kolliſionen zwiſchen den katholiſchen und proteſtan-
tiſchen Miſſionen, über die man auf anderen Gebieten
ſo viel zu klagen hat, gehören hier zu den Seltenheiten.
In einer Stadt wie Tokyo finden zwanzig und mehr
Miſſionsgeſellſchaften Raum, um ungeſtört neben ein-
ander zu wirken. Man hält ſich fern von einander
und vermeidet Berührungen. Die Miſſionare gehen
dabei vorſichtig zu Werk. Auch fängt man nicht über
jede Kleinigkeit einen großen Streit an. Es iſt ja
zweifellos, daß die große Zahl der Geſellſchaften eine
große Hemmung der Chriſtianiſierung Japans bedeutet.
Und doch iſt ſie für die Heiden kein ſo ſchwerer Stein
des Anſtoßes, als man eigentlich glauben müßte. Es
fällt keinem Heiden ein zu glauben, daß da verſchiedene
Chriſtuſſe und verſchiedene Götter gepredigt werden.
Er ſieht viele Geſellſchaften, aber alle arbeiten doch
zuſammen für einen gemeinſamen Zweck. Dieſe Ein-
[378] wände gegen die Zerſplitterung der Miſſion fallen alſo
bis zu einem hohen Grade weg.
Aber ein anderes iſt nicht zu leugnen, nämlich
daß es die japaniſchen Chriſten ſelbſt ſind, welche ver-
möge ihrer eigentümlichen geiſtigen Veranlagung zur
Unbeſtändigkeit und Neuerungsſucht die Vielheit der
Miſſionen ſich zum Fallſtrick machen. Den Unzufriedenen
und Eigennützigen, den Neugierigen und Unruhigen,
den Halben und Unentſchiedenen bieten ſich hier treff-
liche Gelegenheiten. In der Regel nimmt man den
Übertritt ſehr leicht. Kein Vergleich mit einem kon-
feſſionellen Übertritt in unſerem Lande! Da iſt keine
allmähliche Entwicklung von einer Anſchauung zur
anderen, ſondern vielmehr ein impulſives plötzliches Hin-
überſpringen. Solche Überläufer ſind aber ſelten zu-
verläſſig und richten in der Zeit, wo ſie in einer Ge-
meinde weilen, oft mehr Schaden als Nutzen an. Hier
bedarf es der größten Vorſicht von ſeiten des Paſtors.
Ob dieſe ſtets in genügendem Maße vorhanden iſt,
muß bezweifelt werden. In einer Zeit, wo der Zu-
wachs zu einer Gemeinde ſo gering iſt wie in Japan
ſeit Jahren, iſt in der Regel jedes neue Glied will-
kommen. So kommt es zuweilen auf Proſelytenmacherei
hinaus, welche in dieſem Zuſammenhange aus dem
japaniſchen Chriſtentum der Gegenwart nicht hinweg-
geleugnet werden kann, eine Proſelytenmacherei, welche
befördert wird durch den Wunſch der Heimatgemeinde,
Zahlen zu ſehen, und durch das Beſtreben, hinter
anderen Miſſionen nicht zurückzubleiben. Es liegt in
der Natur der Sache, daß die kleinen Miſſionen, welche
ohnedies nur einen geringen ziffermäßigen Beſitzſtand
aufzuweiſen haben, von dieſen Gefahren weit mehr
heimgeſucht werden als die großen Kirchen, denen es
auf ein paar Mitglieder mehr oder weniger nicht an-
[379] zukommen braucht. Eine einzige Kirche ſtatt der vielen
würde alledem ein Ende bereiten. Die Verſuchung zur
Unbeſtändigkeit würde dann von ſelbſt wegfallen, das
ruheloſe Wandern würde in dem Hafen dieſer Kirche
ein Ende finden.
Unſere Miſſionare ſind nicht die einzigen, welche
eine japaniſche Nationalkirche für wünſchenswert er-
achten, wenn ſie auch, bei aller weiſen Vorſicht, am ziel-
bewußteſten darauf hinarbeiten. Vielmehr haben faſt
alle evangeliſchen Miſſionare von jeher eine große Einig-
keit im Geiſte bewieſen, welcher ſie bei der Überſetzung
der Bibel und bei der Oſakakonferenz deutlichen Aus-
druck verliehen. Verwandte Geſellſchaften ſchloſſen ſich
zu einheitlichen Kirchen zuſammen, ſo die presbyteria-
niſchen Geſellſchaften zur „Nippon Kristo Ichi Kyokwai“
(1879), und die biſchöflichen zur „Nippon Sei Kyokwai“
(1887). Dagegen ſcheiterten die Einigungsverſuche der
Methodiſten. Seit 1887 fanden Beratungen zum Zu-
ſammenſchluſſe der „Nippon Kristo Kyokwai’“ (Kirche
Chriſti) und der Kumiaikirchen (kongreg.) ſtatt. Die-
ſelben erwieſen ſich aber nach drei Jahren vorläufig als
erfolglos. Die letzten acht Jahre innerer und äußerer
Kämpfe waren derartigen Beſtrebungen nicht günſtig.
Das Jahr 1896 hat ſogar eine gewiſſe innere Span-
nung zwiſchen der „Kirche Chriſti“ und den Kumiai-
kirchen gebracht (ſ. S. 295). Aber beſſere Zeiten wer-
den die Verſuche wieder aufleben laſſen, und das Ende
wird eine japaniſche Volkskirche ſein.
[[380]]
XII. Die Volksbekehrung.
Es hat einen böſen Klang, das Wort Volks-
bekehrung. Volksbekehrung war die gewaltſame Chriſtia-
niſierung der Sachſen durch Karl den Großen, auf Volks-
bekehrung hatten es die Jeſuiten mit ihren oberflächlichen
Maſſentaufen abgeſehen, und eine Volksbekehrung ge-
wöhnlichſter Sorte wäre es geworden, wenn Japan aus
politiſchen Utilitätsgründen von ſtaatswegen chriſtlich
geworden wäre.
Zwar nicht alle Stimmen, welche ich darüber ſich
äußern hörte, ſtimmten damit überein. Ich habe ge-
bildete und religiös intereſſierte Deutſche in Japan ge-
ſprochen, welche den Übertritt des japaniſchen Kaiſers
und im Anſchluß daran des geſamten Volkes mit Freuden
begrüßen würden. Ihrer Meinung nach könnte das nur
für den Anfang, nicht aber auf die Dauer bedenklich
ſein. Denn ſind etwa die Sachſen ſpäter ſchlechtere
Chriſten geweſen als die andern Deutſchen, darum weil
ſie durch eine Volksbekehrung zu Chriſtus kamen? Hat
es ſich nicht bei den meiſten Stämmen der Völker-
wanderung, einſchließlich der Franken, nicht ſowohl um
die langwierige Arbeit an einzelnen Seelen als vielmehr
um Volksbekehrungen gehandelt? Alles das iſt unbedingt
zuzugeben. Aber man darf ſich doch nicht verhehlen,
daß die Verhältniſſe hier und dort ganz anders gelagert
ſind. Dort handelte es ſich um die Annahme eines
[381] ſchon recht äußerlich gewordenen Katholizismus, hier
um die Aneignung eines tief innerlichen evangeliſchen
Glaubens. Dort waren es Völkerſchaften, bei welchen
das Wort des Kirchenvaters von der „anima naturaliter
Christiana“ immerhin eine große Berechtigung hat; hier
aber iſt es ein Volk, deſſen Geiſt in vielen und grund-
legenden Punkten dem chriſtlichen Geiſte durchaus wider-
ſtrebt und zudem den kräftigen Willen hat, ſich gegen-
über dem Chriſtengeiſt ſelbſt zu behaupten. Der mon-
goliſche Geiſt iſt der Lehre Jeſu trotz ihrer univerſalen,
für alle Menſchen beſtimmten Anpaſſungsfähigkeit weniger
kongenial als der indogermaniſche, und die Geſchichte
wird lehren, daß der innere Widerſtand, welchen das
Chriſtentum in der mongoliſchen Eigenart findet, ein
gewaltiger ſein wird.
Aber ſollte das wirklich ſo ſein? Hat nicht auch
der Buddhismus, der doch auch ein indogermaniſches
Syſtem iſt, eine raſche und allgemeine Annahme ge-
funden? Allerdings! Aber was iſt der Buddhismus in
Japan? Der Buddhismus hat die Formen und den
Namen hergegeben, den Inhalt aber hat der Japanis-
mus, das „Yamato-damashii“ (Yamato = Japan,
tamashii = Seele), geſtellt. So iſt es zu einem
„japaniſchen Buddhismus“ gekommen, und wenn in
ähnlicher Weiſe ein „japaniſches Chriſtentum“ entſtehen
ſollte, ſo wäre das ein beklagenswertes Unglück.
Zwar ſolange ſich der Anſpruch auf ein japaniſches
Chriſtentum in beſtimmten Grenzen hält, wird ſchwer-
lich etwas dagegen einzuwenden ſein. Überall wo der
univerſale Lehrgehalt des Chriſtentums von Individua-
litäten in Beſitz genommen wurde, iſt das Chriſtentum
individuell geworden, und wo es das nicht geworden
iſt, da iſt es nicht perſönliches Eigentum. Lebendiges
[382] Chriſtentum entſteht nur da, wo eine Perſönlichkeit innig
und unlöslich mit Chriſti Geiſt verſchmilzt, nicht aber,
wo eine Perſönlichkeit in Chriſti Geiſt untergeht. Das
gehört eben zu der Größe unſerer Religion, daß ſie die
Menſchen nicht alle nach einer Façon modeln will, wie
die Puppen in einer Spielwaarenfabrik, ſondern daß ſie
jedem einzelnen ſeine Eigenart zugeſteht. Einheit und
Harmonie ſucht und findet ſie in der Mannigfaltigkeit
und Vielgeſtaltigkeit. Nirgends iſt das Chriſtentum
genau dasſelbe. Die Erfahrung beweiſt, daß es ein
germaniſches und ein romaniſches Chriſtentum giebt, und
daß deutſcher und amerikaniſcher Proteſtantismus zwei
unterſchiedene Dinge ſind. Soll man es den Japanern
verübeln, wenn ſie für ſich ein japaniſches Chriſtentum
erſtreben? Hätten nicht auch die alten Deutſchen gut
daran gethan, ſich dem römiſchen Chriſtentum eines
Bonifatius gegenüber auf ihre germaniſche Eigenart zu
beſinnen?
Aber freilich, was heißt „japaniſches Chriſtentum“?
Auf dem Worte „Chriſtentum“ liegt doch wohl unter
allen Umſtänden ein abſolutes Gewicht. Von der Sub-
ſtanz des Chriſtentums darf nichts verloren gehen. Die
koſtbare Perle muß dieſelbe bleiben; verſchieden iſt nur
die Faſſung der Perle. Nicht als ob die Faſſung etwas
ganz Äußerliches und Nichtsſagendes wäre; mag doch
ein Edelſtein durch ſeine Faſſung eine Eigenart der
Ausſtrahlung und Lichtwirkung erhalten. Wenn ſich
nun die japaniſchen Chriſten den kultiſchen Formen
und den Kirchenverfaſſungen der fremden Miſſionen
gegenüber zwar nicht ablehnend verhalten, wenn ſie
dieſelben aber doch nur einſtweilen annehmen mit dem
Vorbehalt, dieſelben ſpäter eventuell den japaniſchen
Verhältniſſen anzupaſſen, ſo kann man nur mit ihnen
[383] ſympathiſieren. Denn dieſe Dinge gehören zur Faſſung,
zur äußeren Form, und den Japanern iſt es nicht zu-
zumuten, daß ſie ſich in Ewigkeit in dem Durcheinander
von episkopal, presbyterianiſch und kongregationaliſtiſch
hinwinden ſollen, nur darum, weil ihnen einſt das
Chriſtentum zufällig in dieſen verſchiedenen Formen
gebracht worden iſt. Aber die Japaner gehen weiter.
Sie greifen kühn hinüber in das Gebiet der chriſtlichen
Lehre und behaupten, daß auch die Kirchenlehre nichts
anderes ſei als eine menſchlich-zeitliche Faſſung des
göttlich-bibliſchen Lehrgehalts. Auch die Dogmen ſind
ihnen Formen, nämlich Denkformen aus längſt ent-
ſchwundener Zeit, und wenn ſich dieſelben ſchon bei
uns der Erfaſſung der einfachen Schriftwahrheiten mehr
hinderlich als förderlich erweiſen, ſo ſind ſie auf dem
völlig anders gearteten Boden eines Antipodenvolks
erſt recht fremd und unverſtändlich. In ihnen haben
die Griechen und Römer den religiöſen Gehalt der
heiligen Schriften zu kodifizieren geſucht, und die Be-
kenntnisſchriften der evangeliſchen Kirchen haben dieſe
Kodifikationen in die Sprache des ſechzehnten Jahr-
hunderts interpretiert; die Japaner aber haben es in-
ſtinktiv herausgefühlt, daß die Menſchen, welche dieſe
Formen geſchaffen haben, nicht Fleiſch von ihrem Fleiſch,
noch Blut von ihrem Blute waren.
Schon frühe, lange bevor liberale Miſſionare nach
Japan kamen, haben Japaner, und zwar die tüchtigſten
und glaubenseifrigſten Paſtoren, gegen Dogma und
Bekenntnisſchriften zu proteſtieren begonnen. Bereits
im Jahre 1881 „ſtellte auf der Synode der „Kirche
Chriſti“ (Vereinigte Presbyterianer) der Prediger Ibuka
(nunmehr ſeit lange ſchon Präſident der Meiji Gaku-in)
den Antrag, in der Kirchenverfaſſung die ausführlichen
[384] Bekenntnisſchriften, wie das längere Weſtminſter Glau-
bensbekenntnis und das von Dordrecht zu ſtreichen,
da ſie unter anderen Zeitverhältniſſen entſtanden ſeien,
Behauptungen enthielten, die jetzt nicht mehr allgemein
anerkannt würden, und für Japan nicht paßten. Der
ſchottiſche Berichterſtatter Mac Laren gab zu, daß für
eine „junge Kirche der kurze Weſtminſter und der Hei-
delberger Katechismus genügen möchten. Dennoch wußten
damals die Miſſionare die Zurückſtellung des Antrags
durchzuſetzen“ (Ritter, Prot. Miſſ. in Japan). Aber
die Bewegung ließ ſich dämmen, und als die Einigungs-
verſuche zwiſchen der Kirche Chriſti und der Kumiai-Kirche
(kongregat.) ſchwebten, ſahen ſich die Miſſionare ſelbſt
genötigt, für die proteſtantiſchen Sonderbekenntniſſe der
Reformationsperiode nur noch eine Verpflichtung der
Geiſtlichen auf die Subſtanz zu verlangen.
Damit gaben ſich nun aber die Japaner nicht mehr
zufrieden. Ihre führenden Geiſtlichen hatten unterdeſſen
die Konſequenzen gezogen und, über die neun Artikel
der Evangeliſchen Allianz hinwegſchreitend, fochten ſie
auch die Verbindlichkeit der alten Symbole, des Apoſto-
likums und des Nicenums, an. An der Spitze der Be-
wegung marſchierten die Kumiaikirchen, als Führer Män-
ner aus Janes’ Kumamotoſchar, und in etwas über-
eilter Weiſe hielten ſie ſchon nach wenig Jahren die
Sache für ſpruchreif. Bei der Kumiaiſynode des Jahres
1892 zu Oſaka ſtand ſie auf der Tagesordnung. Der
Prediger Yokoi empfahl die Verwerfung der alten Sym-
bole, indem er dieſelben ganz richtig eine Gewandung
der chriſtlichen Wahrheit nannte. „Die Gewänder der
Europäer“, ſo fuhr er fort, „ſind enganſchließend und
zwängen den Leib ein, während unſer „kimono“, weit
und zwanglos, ſich den Formen des Körpers leicht und
[385] gefällig anſchmiegt. So ſoll unſer Glaubensbekenntnis
ſein“. So faßte denn unter Beiſeitelaſſung aller Sym-
bole, auch des Apoſtolikums, die Synode ihren Glauben
in folgenden Sätzen zuſammen: „Wir glauben an Einen
Gott, abſolut und vollkommen, welcher in der Bibel
als Vater, Sohn und Heiliger Geiſt offenbart iſt. Wir
glauben an Jeſus Chriſtus, welcher, obgleich Gott,
Menſch wurde, litt, ſtarb und wieder auferſtand für
die Erlöſung der Welt. Wir glauben an die Heilige
Schrift, welche durch Inſpiration gegeben wurde und
uns weiſe macht zum Heil. Wir glauben an den Heiligen
Geiſt, welcher neues Leben verleiht. Wir glauben an die
Heilige Kirche, Taufe durch Waſſer, Heiliges Abendmahl,
den Tag des Herrn, Unſterblichkeit der Seele, Auferſtehung
der Toten und gerechtes Gericht“. Daß dieſe Faſſung
eine glückliche iſt, wird niemand behaupten. Auf den
erſten Blick ſieht man ihr die Übereilung an. Die
Theologie iſt noch in der Entwicklung begriffen und
trotz des ungeſtümen und faſt rückſichtsloſen Vorgehens
der Kumiaipaſtoren haben die alten Formeln noch ſoviel
Gewalt über ſie geübt, daß ſie nicht imſtande waren,
das zum Ausdruck zu bringen, was ihnen als Kern der
chriſtlichen Religion, freilich noch unklar, vorſchwebte.
Aber in dem beweglichen Japan fühlt man ſich durch
ſolche Dokumente weit weniger gebunden als in dem
ſtrengeren Europa. Das obige Bekenntnis dürfte kaum
mehr denn eine Entwicklungsphaſe auf dem beſchrittenen
Wege bedeuten. Hat man das Beſſere nur einmal klar
erkannt, ſo wird man es um dieſes Beſſeren willen
ohne Skrupel und Kämpfe ruhig preisgeben.
Immerhin mag ſich der langſamere Schritt der „Kirche
Chriſti“ zweckentſprechender erweiſen als das Marſch-
tempo der Kumiai. Zwar zurückdrängen ließ ſich auch
25
[386] hier die Bekenntnisfrage nicht, und um dieſelbe Zeit,
wo die Kumiai ſich ein „japaniſches“ Bekenntnis ſchuf,
ſah ſich auch die Synode der „Kirche Chriſti in Japan“
veranlaßt, ſich ernſtlich mit der Sache zu beſchäftigen.
Unter ſtillſchweigender Übergehung der übrigen Be-
kenntnisſchriften vereinigte man ſich auf das Apoſtolikum
als allein verbindlich. Doch ſchickte man demſelben noch
einige Sätze voran, und wenn dieſelben auch orthodox
klingen, ſo haben ſie doch die Wirkung, daß ſie die
ſtarre Autorität des Apoſtolikums, die nirgends mehr
zur Geltung kommt, als wo dasſelbe in ſeiner ganzen
Wucht und Schärfe allein für ſich ſteht, in etwas ab-
ſchwächen.
Die Bewegung beſchränkte ſich aber nicht etwa auf
die Kumiai- und Ichikirchen, welche beide von jeher
mit einem beſonders ſtarken Unabhängigkeitsbewußtſein
beſeelt waren. Sie geht vielmehr durch das ganze
evangeliſche Chriſtentum hindurch, und ſelbſt diejenige
Kirche, welche, ſtarr und ſpröde wie die katholiſche, es
ſeither immer und überall abgelehnt hatte, irgend welche
Kompromiſſe einzugehen, auch die episkopale Miſſion
mußte es ſich gefallen laſſen, daß ihre japaniſchen
Chriſten ihr manches abzwackten. Schon im Jahre
1887, als die Zahl der biſchöflichen Chriſten kaum
anderthalb tauſend betrug, wurde von dieſen der Be-
ſchluß gefaßt, das gegenwärtige Verhältnis zu der eng-
liſchen Kirche ſowie die Anerkennung der Verbindlich-
keit des Common-Prayer-Book nur als proviſoriſch zu
betrachten, für die Zukunft aber eine freie Regelung
der Sache im Auge zu behalten. Die japaniſchen
Chriſten beſchloſſen es, und, der Not gehorchend, nicht
dem eigenen Trieb, fügten ſich die Miſſionare mit der
biſchöflichen Oberleitung an der Spitze. In den hoch-
[387] kirchlichen Kreiſen Englands, wo man es nicht verſteht,
daß es auch noch andere religiöſe Ideale als den
Episkopat und das Common-Prayer-Book giebt, ſoll die
Nachgiebigkeit wenig Freude erregt haben. Das läßt
ſich begreifen. Aber wenn nicht alles trügt, wird die
Zeit noch kommen, wo allen denen, welche ihre kirch-
lichen Sonderabſichten über der ſelbſtverleugnenden
Reichsgottesarbeit nicht vergeſſen können, am ganzen
japaniſchen Miſſionswerk die Luſt vergeht.
Aus all dieſem Suchen und Ringen nach einem
japaniſchen Chriſtentum gehen zwei Dinge mit Deutlich-
keit hervor. Zum erſten, daß ein ſtarr orthodoxes dog-
matiſches Chriſtentum in Japan keine Ausſicht hat, und
zum zweiten, daß das einzige, worauf es den Japanern
ankommt, dasſelbe iſt, was wir ſchon bei der Be-
ſprechung des Taufunterrichts als ſolches gefunden
haben: Das Bibelchriſtentum. Man mag über die
Art des Kampfes der japaniſchen Chriſtenheit wider das
Miſſionskirchentum abfällig denken, man kann doch nur
mit tiefem Intereſſe und warmer Sympathie dieſer
taſtenden Volksſeele folgen, welche inſtinktiv erkannt
hat, daß das Heil einzig liege in dem Evangelium
Jeſu, in der in Jeſus Chriſtus Fleiſch gewordenen
Vaterliebe Gottes zu der in Sünde verlorenen Menſch-
heit, und die nun, mit kaum halberſchloſſenen Augen,
durch ein Labyrinth menſchlicher Ordnungen und Lehren
ſich dahin durchzuringen ſucht.
Daß freilich dieſe Volksſeele in ihrem dunkeln
Drange ſich des rechten Weges doch nicht immer bewußt
bleibt, ſchon darum nicht, weil der Begriff eines „ja-
paniſchen Chriſtentums“ nicht aus klaren Vorſtellungen,
ſondern aus den dunkeln Tiefen der Volksindividualität
geboren iſt, iſt nicht verwunderlich. Eine ſo ausge-
25*
[388] prägte Volksindividualität wie die japaniſche ſetzt in-
ſtinktiv alles daran, um in dem Kompromißſtreit mit
der neuen Geiſtesmacht, mit der ſie ſich vermählen ſoll,
ihr eigenes Intereſſe zu wahren. In dieſem Beſtreben
ſind zwei gefährliche Irrwege gegeben. Einmal will
die Volksindividualität da, wo ſie meint, noch etwas
Beſonderes, in dem Evangelium nicht Enthaltenes, zu
beſitzen, dasſelbe dem Chriſtentum hinzufügen, und
andererſeits verſucht ſie, alles das, was ihr ſelbſt nicht
kongenial iſt, von der Subſtanz des Chriſtentums ab-
zuziehen.
Auf dem erſten dieſer beiden Irrwege liegt die
Gefahr der Religionsmengerei. Die Unitarier, welche
neben dem Geburtstage Jeſu auch noch den von Buddha,
Konfuzius und Sokrates feiern und, Jeſus mit dieſen
drei zuſammenfaſſend, von einem „Shi-nin-kwai“ „Vier-
männerbund“ faſeln, ſtehen heute lange nicht mehr ver-
einzelt da. In einem vor wenigen Jahren in der
Rikugo-Zaſſhi, dem wiſſenſchaftlichen Organ der Kumiai-
kirchen, erſchienenen Aufſatz, welcher nicht geringes Auf-
ſehen erregte, war die Vermengung mit der alten
Morallehre ſo weit getrieben, daß das Chriſtentum
gerade noch gut genug erſchien, um das moderne
Mäntelchen des alten Konfuzianismus zu machen. Sehr
bezeichnend ſind auch zwei Auslaſſungen in der Zeit-
ſchrift Nippon Shukyo (Japaniſche Religion). „Das
japaniſche Chriſtentum“, ſo ſagt da ein japaniſcher
Chriſt „kann keine getreue Nachbildung des europäiſchen
oder amerikaniſchen Chriſtentums ſein. Es muß ſich
mit gewiſſen „Himmelswahrheiten“ des Shintoismus,
Buddhismus und Konfuzianismus aſſimilieren, um
den Charakter zu gewinnen, den es braucht, damit
es unſere nationalen Bedürfniſſen entſprechen kann.“
[389] Noch unzweideutiger iſt die zweite Auslaſſung, welche
von dem Herausgeber der Kriſtokyo Shimbun herrührt,
einer ſehr angeſehenen und viel geleſenen chriſtlichen
Wochenſchrift. „Die Zeit“, ſchreibt er, „da alle Reli-
gionsgemeinſchaften vereinigt werden können, iſt noch
nicht gekommen. Sie müſſen noch ihrer eigenen natür-
lichen Entwicklung überlaſſen werden; Gewalt hilft
nichts. Laßt Shintoiſten, Buddhiſten und Chriſten,
jeden auf ſeinem Felde, arbeiten und laßt jeden vom
andern ſoviel entlehnen, als ihm gut dünkt. Dies wird
ſich als die beſte Vorbereitung für „Centralismus“ und
Einigung in der Zukunft erweiſen.“ (Vergl. Chriſtlieb
„Japaniſche Anſchauungen über Religion“ Z. M. R.
XII, 19). Auch unſer japaniſcher Prediger Minami
weiß aus dem Jahre 1896 eine bedenkliche Illuſtration
zu derartigen Tendenzen zu geben. „Im letzten Monat“,
ſo berichtet er, „haben einige chriſtliche und buddhiſtiſche
Paſtoren, Prieſter und Redakteure es unternommen,
eine Zuſammenkunft beider Teile zu veranſtalten. Sie
kamen am 26. September zuſammen, ihre Zahl war
etwa vierzig, die meiſten darunter Kongregationaliſten
(Kumiai) und Buddhiſten der Yen- und Shinſekte;
außerdem waren noch einige Presbyterianer, Methodiſten,
Shintoiſten und Konfuzianer vertreten. Über den Zweck
der Verſammlung wurde verſchiedenes geſagt. Er iſt
ſchließlich dahin ausgelegt worden, daß man ſich gegen-
ſeitig kennen lernen wolle. Die Zuſammenkunft ſoll
jährlich zweimal, im Frühling und im Herbſt, wieder-
holt werden.“
Es iſt eine überraſchende Häufung derartiger Zeug-
niſſe, welche in den letzten Jahren zuſammengekommen
ſind, und man kann es wohl begreifen, wenn manche
hier die größte Gefahr für das junge japaniſche Chriſten-
[390] tum ſehen. Gewiß iſt, daß die Gefahr der Religions-
mengerei gar nicht ernſt genug genommen werden kann,
und daß nicht zum wenigſten ſie es iſt, „welche den
Einfluß fremder Miſſionare noch auf lange hinaus
unentbehrlich macht.“ Wenn im Brama Somadſch in
Indien von ſeiten des Heidentums eine Vermengung
mit dem Chriſtentum erſtrebt wurde, ſo war das immer-
hin ein Anlauf vom Schlechteren zum Beſſeren, und
darum mochte dieſe Bewegung wohl als eine hoffnungs-
volle Erſcheinung betrachtet werden. Hier aber iſt es
eine rückläufige Bewegung, welche nur Anlaß zu Be-
fürchtungen geben kann. Schon einmal hat die Reli-
gionsmengerei in Japan eine Rolle geſpielt. Das war
damals, als vor tauſend Jahren der Buddhismus die
Götter des Shinto in ſich aufnahm. Für das Chriſten-
tum aber wäre eine Volksbekehrung um ſolchen Preis
zu teuer erkauft; denn das würde nichts anderes be-
deuten als ſeine völlige Entwertung. Die japaniſchen
Chriſten mögen es nicht verſchmähen, ſich ein Wort zu
merken, welches auch ihnen eine gute Lehre geben kann,
ob es gleich im Original in ganz anderem Zuſammen-
hange geſagt war: „Sint, ut sunt, aut non sint!“
Das Chriſtentum iſt ſich ſelbſt genug, es iſt die
Erfüllung alles Unvollkommenen, und niemand ſoll ſich
vermeſſen, es noch vollkommener machen zu können.
Aber auch verkürzen ſoll man es nicht, und doch beſteht
dieſe Gefahr in Japan in nicht geringerem Maße. Es
handelt ſich beſonders um die myſtiſche und die meta-
phyſiſche Seite des Chriſtentums. Ihnen ſtehen in der
realiſtiſch-ſinnlichen Veranlagung der Japaner die
ſchwerſten Hinderniſſe entgegen. Zwar ſind Dank der
weiſen Fürſorge der fremden Miſſionare die Gefahren
bis heute ziemlich in Schranken gehalten worden, und
[391] die Mängel nach dieſer Richtung hin ſind noch nicht ſo
fühlbar, daß ſie ſchon bei der Qualifikation der heutigen
Gemeinde hätten zur Erwähnung kommen müſſen.
Im Gegenteil! Das Gebetsleben der gegenwärtigen
Chriſten iſt befriedigend. Aber ob dies Urteil auch nach
einem Jahrhundert noch gelten wird? Ich müßte mich
ſehr irren, oder ſo, wie die quietiſtiſche Verſenkung im
japaniſchen Buddhismus nie auch nur entfernt die Be-
deutung hatte wie im indiſchen, ſo hat die unergründ-
liche Gedanken- und Gemütstiefe des johanneiſchen
Chriſtus zunächſt auf nicht allzuviele Geſinnungsgenoſſen-
ſchaft zu hoffen. So bietet auch hier nur die fernere
Anweſenheit fremder Miſſionare die Bürgſchaft einer
geſunden Entwicklung. Ebenſo auf metaphyſiſchem
Gebiet.
Wer in Japan im praktiſchen Miſſionsdienſt ge-
ſtanden hat, weiß, welch’ großen Schwierigkeiten die
beiden im höchſten Sinne metaphyſiſchen Begriffe eines
perſönlichen Gottes und einer perſönlichen Unſterblich-
keit begegnen. Der Begriff der Perſönlichkeit hat in
dem japaniſchen Geiſt ſchwache Wurzeln, und die un-
perſönlichen Gemeinſchaftskörper der Familie und des
Staats, in denen der einzelne Japaner ſeit einem Jahr-
tauſend auf- und untergeht, haben das Perſönlichkeits-
bewußtſein noch mehr verdunkelt. Es wurde mir ver-
ſichert und zwar von Chriſten, an deren Rechtgläubig-
keit ich nie gezweifelt hätte, daß ihnen die Lehre von
der perſönlichen Unſterblichkeit nicht nur unnötig und
überflüſſig erſcheine, weil ſie auf ihr ſittliches Handeln
keinen Einfluß ausübe, ſondern auch unverſtändlich und
unglaubwürdig. (Es iſt beachtenswert, daß man
religiöſen Begriffen, wie hier dem der Unſterblichkeit,
leicht nur inſoweit Bedeutung zumißt, als ſie ſich auf
[392] das ſittliche Handeln wirkſam erweiſen.) Der Gegenſatz
gegen den perſönlichen Gott führt leicht zum Pantheis-
mus, beſonders bei den ſogenannten Gebildeten. Seine
Spuren ſind heute leider nicht mehr allzu ſchwer zu
finden. Vor ein paar Jahren hat es ein chriſtlicher
Profeſſor der Doſhiſha fertig gebracht, in der ſchon er-
wähnten Zeitſchrift Rikugo Zaſſhi den unverhüllteſten
Pantheismus zu predigen und die beſchränkten theiſtiſchen
Miſſionare mit bitterem Spott zu übergießen.
Man hat vielfach die Hoffnung gehegt, daß von
Japans jungfräulichem Boden eine Neugeburt des
Chriſtentums ausgehen werde. Kozaki, der Nachfolger
Niſhimas als Präſident der Doſhiſha, glaubt, daß Japan
der Ort ſei, wo das Weltproblem des Chriſtentums
nach und nach zur Löſung kommen werde, und Yokoi,
welcher ſeit 1897 Kozaki in der Leitung der Doſhiſha
ablöſte, hat für ſein Vaterland den Ehrgeiz, daß er
eine neue und höhere Theologie hervorbringen will,
und daß das europäiſche Chriſtentum in Zukunft nach
Japan um Hilfe ſchauen müſſe. Dieſe Hoffnungen
vermag ich nicht in vollem Maße zu teilen. Da gehören
denn doch noch ganz andere Eigenſchaften dazu, als das
Volk der Japaner beſitzt. Japan hat ſein beſonderes
Charisma. Das iſt ſeine praktiſch-ethiſche Veranlagung.
Es giebt auf der ganzen Erde vielleicht kein Volk, bei
welchem ſich die ethiſchen Grundſätze ſo ſehr in die
Praxis des Lebens umgeſetzt fänden, bei welchem ein
Moralſyſtem ſo ſehr zu einer alle Lebensverhältniſſe
beſtimmenden Geltung gekommen wäre. Und wenn die
alte griechiſche Kirche weſentlich die Seite des Denkens
am Chriſtentum betont hat, was zur Ausbildung der
Metaphyſik des Dogmas führte, und wenn die germa-
niſche Kirche das Chriſtentum weſentlich zu einer Sache
[393] des Gefühls gemacht hat, wobei die Myſtik zu einer
hervorragenden Geltung gelangte, ſo werden die prak-
tiſchen Mongolen Oſtaſiens den Hauptnachdruck auf die
Seite des Wollens legen und dem Chriſtentum der That
zum Siege zu verhelfen ſuchen. Vielleicht, daß ſie be-
rufen ſind, die ſeitherigen Erſcheinungsweiſen des Chriſten-
tums nach dieſer Hinſicht zu ergänzen. So wird die
gelbe Raſſe durch ihre beſonderen Gaben dazu beitragen,
die Harmonie des Chriſtentums, welche von keinem Volke
und keiner Raſſe ganz erſchöpft werden kann, vollſtändig
zu machen. Auch dieſes ſchon iſt etwas Großes und
des Schweißes der Edlen wert. Aber auch dieſes be-
ſcheidenere Ziel kann nur erreicht werden, wenn neben
der ethiſchen Seite die beiden anderen nicht vernach-
läſſigt werden. Es kann gewiß nicht die Abſicht ſein,
alle und jede ſpezifiſch japaniſchen Neigungen zu brechen;
aber was ſich dem chriſtlichen Geiſte nicht fügen will,
muß gebogen und umgebildet werden.
Unter ſolchen Umſtänden dürfte es über jeden
Zweifel erhaben ſein, daß eine Volksbekehrung die be-
denklichſten Folgen haben würde. Würde das Chriſten-
tum auf dem Wege einer Volksbekehrung heute allgemein
angenommen werden, wo die Maſſen des Volks in
ihrem Geiſtesleben noch keineswegs erneuert, und wo
ſelbſt die Beſten der Nation in den fundamentalſten
Fragen noch durchaus verworren ſind, ſo würde der ja-
paniſche Geiſt Herr über den chriſtlichen, ſo würde das
Reſultat mehr ein chriſtlich gefärbter Japanismus als
ein japaniſches Chriſtentum ſein. Wenn die Evangeli-
ſierung der geiſtigen Erneuerung voranſchreiten ſollte
und Namen und Schild des Chriſtentums ſolchen ver-
leiht, welche noch ganz ſinnlich poſitiviſtiſch denken, fühlen
und wollen, läuft der chriſtliche Geiſt Gefahr, von ſolchen
[394] Elementen vergewaltigt zu werden. Schon aus dieſem
Grunde darf man gar nicht wünſchen, daß die Chriſtia-
niſierung Japans im Galopp gehen möge. Ein lang-
ſames Fortſchreiten bietet viel größere Bürgſchaft für
den ſicheren Beſtand und die innere Qualität des Chriſten-
tums. Ehe dasſelbe von dem Volke angenommen werden
kann und ſoll, muß ihm erſt im Volke der Boden be-
reitet ſein, muß das Volk vorher auf dasſelbe vorbereitet
werden.
Es giebt Kreiſe, welche ſich dieſer Behauptung mit
Zurückhaltung gegenüberſtellen. Und doch hat es Gottes
weiſer Vorſehung gefallen, unſerm Herrn Jeſus Chriſtus
vor Beginn ſeiner Miſſion einen Vorläufer voraus zu
ſchicken, daß er vor dem Herrn hergehe und ihm den
Weg bereite. So halte ich denn die allmähliche Durch-
dringung der Volksmaſſen mit chriſtlichen Ideen zum
Zwecke der Vorbereitung auf ihre dereinſtige Bekehrung
für unumgängliche Notwendigkeit. Gewiß, die ſogenannte
pietiſtiſche Methode der Einzelbekehrung bleibt beſtehen,
und keinem Miſſionar kann es jemals einfallen, daran
herumzumäkeln. Das Ganze baut ſich auf dem Einzelnen
auf, und die Einzelbekehrung iſt Ausgangspunkt und
Fundament der Miſſionsarbeit. Läßt ſich aber dieſe
Methode ſchlechterdings nicht korrigieren, ſo bedarf ſie
doch der Ergänzung. Von dem Einzelnen muß ſich der
Blick zu dem Ganzen erheben. Das mag nicht auf allen
Miſſionsgebieten gleich leicht und gleich möglich ſein;
bei den Kulturvölkern aber begegnet es keinen beſonderen
Schwierigkeiten noch Bedenken. Haben doch ſchon die
Apologeten der alten Kirche danach gehandelt, und zu
einer Zeit, wo man ſich zu Hauſe hinter dem Studier-
tiſch noch mit ſpitzen Federn bekämpfte über die Be-
rechtigung und Nichtberechtigung dieſer Methode, waren
[395] auf dem Kriegsſchauplatz der japaniſchen Miſſion dieſe
Grundſätze längſt in die Praxis umgeſetzt.
In der That iſt faſt der ganze Apparat der ja-
paniſchen Miſſion, wenn auch nicht darauf angelegt,
ſo doch hochgeeignet, auf die Volksbekehrung d. h. auf
eine Durchdringung des Volksganzen mit chriſtlichem
Sauerteig hinzuwirken. Es iſt Miſſion in großem Stil,
welche da getrieben wird. Dieſe großartigen Inſtitute,
welche die Miſſion hier geſchaffen hat, können gar nicht
anders, als mächtig auf die Maſſen wirken. Der leiden-
ſchaftliche Kampf der Geiſter, welcher in Japan tobt,
iſt ein Beweis, daß dieſe Wirkung thatſächlich beſteht.
Die ſtille Arbeit der Einzelbekehrung hätte man der
Beachtung nicht in dem Maße für wert befunden; daß
aber das Chriſtentum in die Volksmaſſen hineindrang,
daß es hinabdrang bis in die Tiefen der Volksſeele
und mit wuchtigen Schlägen Einlaß begehrte, das hat
die ſchlafenden Hüter des Volks geweckt und zum
Kampfe geſtachelt. Was dieſem Kampfe ſeine Bitterkeit
und Schärfe verleiht, iſt das Bewußtſein, daß es um
das Volk geht.
Ein kurzer Blick auf das ſchwere Geſchütz, welches
die Miſſion in den Kampf führt, zeigt, daß ſie dieſer
Aufgabe gewachſen iſt. Es ſind nicht weniger als
652 fremde Miſſionsarbeiter, einſchließlich der Miſſio-
narsfrauen, in Japan thätig, welche alle einen mehr
oder weniger großen Einflußkreis beſitzen. Von Kago-
ſhima im tiefen Süden bis nach Sapporo im hohen
Norden zieht ſich ein großes Netz von Stationen, an
885 Plätzen wird das Evangelium gepredigt, und
ſelbſt von dem abgelegenſten Winkel aus kann man in
kurzer Friſt eine Predigtſtation erreichen. 1181 japa-
niſche Paſtoren, Evangeliſten und Bibelfrauen kommen
[396] Tag für Tag in Tauſende von heidniſchen und halb-
heidniſchen Häuſern, und zu wem ſie auch kommen, der
muß ſich anwehen laſſen von einem Hauch chriſtlichen
Geiſtes, und dieſer Hauch mag ebenſo anſteckend wirken
zum Heil, wie der Peſthauch der Sünde zum Verderben.
Aus den Miſſionsſchulen werden alljährlich zweitauſend
Jünglinge und junge Mädchen entlaſſen, nachdem ſie
drei und vier Jahre unter dem direkten Einfluß chriſt-
licher Geſinnung geſtanden haben, und wenn ſie auch
nicht ſelbſt die Taufe empfingen, ſo nehmen ſie doch,
vielleicht ohne es zu wiſſen und zu wollen, etwas von
chriſtlichem Geiſt mit hinüber in ihr ſpäteres Leben
und in ihr eigenes zukünftiges Heim. Nicht anders iſt
es mit den Zehntauſenden von Kindern, welche die
Sonntagsſchulen beſuchen. Iſt es auch nur ein Bruch-
teil, welcher ſchließlich die Taufe empfängt, ſo iſt doch
der Same, welcher in die jungen Herzen geſät wurde,
deswegen noch nicht verloren. Er kann noch nach Jahren
aufgehen und ſeine Frucht bringen. Im Anfang der
neunziger Jahre war unter den Beſuchern unſerer
Sonntagsſchule in Tokyo ein etwa fünfzehnjähriger
Knabe. Eines Tages blieb er aus, wir hörten und
ſahen nichts mehr von ihm, und da derartige Fälle nicht
ſelten ſind, ſo begruben wir die auf ihn geſetzte Hoff-
nung neben den hundert anderen, die man im Laufe der
Jahre zu Grabe trägt. Drei Jahre ſpäter kam ich zur
Beſichtigung unſerer dortigen noch jungen Station 1) nach
Oſaka, und hier, hundert Wegſtunden von Tokyo entfernt,
fand ich jenen ehemaligen Sonntagsſchüler unſerer Hongo-
kirche wieder unter den erſten Täuflingen unſeres japa-
niſchen Geiſtlichen. So war denn unſere Arbeit an ihm
[397] doch nicht vergeblich geweſen. Und wenn auch den we-
nigſten früheren Beſuchern der Sonntagsſchulen alſo
geſchehen mag, ſo wiſſen ſie doch alle und können es
ſpäter bezeugen, daß man dort nichts Schlechtes lernt.
Aus den chriſtlichen Hoſpitälern wird kaum einer ent-
laſſen, der nicht immer mit Dankbarkeit gedächte, was
ihm dort widerfahren iſt, und der nicht ſeinen heid-
niſchen Landsleuten gegenüber davon zu rühmen wüßte;
und durch alle die andern Veranſtaltungen der inneren
Miſſion, durch Waiſenhäuſer, Rettungshäuſer und Heime
aller Art, wird das Hohelied chriſtlicher ſelbſtloſer Liebe
in mächtigen Tönen in Ohren und Herzen aller Heiden
hineingetragen.
Das ſind Sprachen, die nicht ungehört verhallen
können. Es iſt unmöglich, daß dieſe gewaltigen Mächte
ohne Eindruck bleiben. Mag auch ihr Einfluß gegen-
wärtig in den hochgehenden Wogen der Reaktion nicht
ſichtbar ſein, unter den Wogen wirkt er fort als eine
Unterſtrömung, welche zu ihrer Zeit mächtig zur Geltung
kommen wird.
Wenn aber die meiſten der eben erwähnten Maſſen-
wirkungen vielleicht nur zufällige Begleiterſcheinungen der
Miſſion ſein mögen, ſo giebt es doch auch Wege, auf
welchen man vollbedacht und zielbewußt auf derartige
Wirkungen ausgeht und in ſyſtematiſcher Weiſe die
Volksbekehrung vorzubereiten ſucht. Man kann es dem
japaniſchen Chriſtentum nicht zum Tadel nachſagen, daß
es ſein Licht unter den Scheffel ſtelle. Es macht ſich
bemerkbar und thut das mit Abſicht. Es lebt nicht
weniger in dem Geräuſch der Öffentlichkeit als in der
Tiefe des Herzens und in der Stille des Kämmerleins.
Es handelt nicht nach dem Satze, daß der beſte der iſt,
von dem nicht geredet wird; es will von ſich reden
[398] machen. Es macht Propaganda und hält den Angriff
für eine zweckentſprechendere Kampfesweiſe als die Ver-
teidigung. Es fordert die Aufmerkſamkeit und Beachtung
der Volksmaſſen heraus und thut alles, um nicht in
Vergeſſenheit zu geraten. Es zwingt die Maſſen zur
Stellungnahme in der Überzeugung: Beſſer ein fröh-
licher Krieg, denn ein fauler Friede.
Dieſe Grundſätze kommen ſchon rein äußerlich zum
Ausdruck. Jedes Gotteshaus, jedes Predigtlokal iſt
durch eine große Aufſchrift für alle Vorübergehenden
als ſolches erkennbar. Auf einer faſt aufdringlich an-
gebrachten Tafel ſind Name, Wohnung und Sprech-
ſtunden des Predigers verzeichnet, und die Themata der
Predigten und Vorträge werden ſchon ein paar Tage
zuvor in Rieſenlettern ſo unmittelbar neben der Straße
angebracht, daß ſie jedem Paſſanten in die Augen fallen
müſſen. Zuweilen auch verliert ſich das Beſtreben, die
öffentliche Aufmerkſamkeit auf ſich zu lenken, zu wenig
geſchmackvollen Verirrungen. So kam ich einmal in
einem Landſtädtchen an eine Predigtſtation, vor welcher
der Evangeliſt ſchon ſeit einer halben Stunde auf einer
alten Ziehharmonika herumphantaſierte zum großen
Gaudium eines Publikums, unter welchem die Jugend
am ſtärkſten vertreten war. Er hatte das mehr als
zweifelhafte Inſtrument in dem Trödelladen einer Hafen-
ſtadt gekauft und gedachte ſich durch ſeine Klänge eine
gute Zuhörerſchaft herbeizulocken. Von Muſik verſtand
er zwar nichts, aber da das europäiſche Muſikverſtänd-
nis der Japaner nicht einmal bis zur Tonleiter reicht,
ſo hatte er von einer muſikaliſchen Kritik ſeines Publi-
kums nichts zu fürchten. Und übrigens, wenn er nur
ſeinen Zweck erreichte, ſo war das Muſikaliſche ſchließ-
lich ja auch Nebenſache. Natürlich haben die Japaner
[399] ihre Lehrmeiſter in der Kunſt der Propaganda gehabt.
Die amerikaniſchen Miſſionare ſind in ihren propagan-
diſtiſchen Mitteln nicht überſkrupulös. In ihrer Central-
kirche in Tokyo veranſtalteten die kanadiſchen Methodiſten
nicht nur Gottesdienſte und Gebetsverſammlungen, ſon-
dern auch rein weltliche Konzerte und andere Unter-
haltungen, die mit Religion auch nicht in entferntem
Zuſammenhang ſtehen — alles nur, um die Maſſen
herbeizuziehen und auf weitere Kreiſe irgend welchen
Eindruck zu machen. Sie haben es längſt gelernt, die
Reklame auch in den Dienſt des Heiligen zu ſtellen, und
ſchließlich braucht man ſich nicht ſehr zu wundern, daß
aus dem Schoße des Methodismus ein William Booth
geboren werden konnte.
Dagegen waren die von Hunderten und Tauſen-
den beſuchten impoſanten Vortragsverſammlungen der
achtziger Jahre, für welche man die größten Lokale,
Theater ꝛc. zu mieten pflegte, ebenſo treffliche als wür-
dige Mittel, um Maſſenwirkungen zu erzielen und chriſt-
liche Gedanken in die weiteſten Kreiſe des Volks hinein-
zuwerfen. Dieſe Art war bis dahin in Japan gänzlich
unbekannt. Die alten konfuzianiſchen Gelehrten hatten
immer nur zu einem ganz kleinen Kreis geſprochen; die
öffentliche Rede, wo ein einziger Mann in fließendem
Vortrag große Maſſen beherrſcht, konnte nicht anders
als das größte Aufſehen erregen und in weiten Kreiſen
die Ahnung erwecken, daß hier eine neue große Macht
im Anzuge ſei. Seit den Tagen der Reaktion ſind zwar
dieſe Verſammlungen etwas außer Mode gekommen; die
Gegner des Chriſtentums ſind klüger geworden und haben
keine Luſt mehr, durch ihr zahlreiches Erſcheinen den
Chriſten die Säle zu füllen und den Glanz ihrer Ver-
ſammlungen mit ihren eigenen Perſonen zu erhöhen.
[400] Eine Einwirkung auf breite Volksmaſſen läßt ſich heute
durch das geſprochene Wort ſchwer mehr erreichen. Um
ſo energiſcher aber hat man einen parallelen Weg be-
treten, welcher recht eigentlich als der Weg zur Volks-
bekehrung bezeichnet werden darf. Dieſer Weg iſt das
gedruckte Wort.
Daß die Miſſion in Japan von dem gedruckten
Wort im weiteſten Umfang Gebrauch macht, iſt nicht
verwunderlich. Giebt es doch kein Heidenvolk, bei
welchem die Leſeluſt und die Leſefähigkeit ſo groß wäre
wie hier, kein Heidenvolk, bei welchem die Preſſe eine
ſo gewaltige Macht iſt. Dazu kommt, daß man dem
gedruckten Wort noch mit größerer Ehrfurcht begegnet
als bei uns. Was in Japan bis vor fünfundzwanzig
Jahren den gewöhnlichen Leſeſtoff bildete, das waren
die heiligen Schriften der chineſiſchen Klaſſiker. Die un-
bedingte Autorität, welche ſie beanſpruchten, wirkt heute
noch im Volke allem Gedruckten gegenüber nach.
Welche Bedeutung das gedruckte Wort ſchon für die
Einzelbekehrung beſitzt, davon giebt die ergreifende Be-
kehrungsgeſchichte des Wakaſa-no-kami einen ſchlagenden
Beleg; und wer es vorher gewohnt war, über die
„Traktätlein“ der Pietiſten zu ſpotten, ſollte ihnen
lieber im Stillen Abbitte thun. Aber freilich, die
Wirkung des gedruckten Wortes muß weiter reichen,
als der Pietismus, der in ſeinen ecclesiolae kurzſichtig
geworden iſt, ſich träumen ließ.
Das gedruckte Wort ſteht hinter dem geſprochenen
an augenblicklicher Kraft zurück. Dafür aber hat es
andere Vorteile, welche jenen Mangel wieder aufwiegen.
Die Lebensdauer des geſprochenen Worts iſt in der
Regel kurz. Das gedruckte Wort aber mag noch in
fernen Lebensjahren, ja noch zu Kind und Kindeskind
[401] ſprechen. Das geſprochene Wort hat einen verhältnis-
mäßig kleinen Hörerkreis, das gedruckte Wort aber mag
in Tauſenden von Exemplaren im ganzen Volke ver-
breitet werden und in Nord und Süd und Oſt und
Weſt ſeine Leſer finden. Und wenn man ſich auch nicht
der thörichten Hoffnung hingeben darf, daß es auch
jeder lieſt, dem es in die Hände kommt, und wenn man
ſich ehrlicher Weiſe auch nicht verhehlen darf, daß in
vielen Fällen das chriſtliche Schriftwerk ſchon um die
nächſte Ecke im Straßenſchmutz verſchwindet, ſo daß man
dem Miſſionar immerhin mit einem ſcheinbaren Recht,
aber auch nur mit einem ſcheinbaren — denn richtiger
wäre der Vergleich mit dem Säemann, dem ja auch
manches Saatkorn auf harten, untiefen und unkrautigen
Boden fiel — vorwerfen könnte, daß er die Perle vor
die Säue werfe, ſo bleibt doch immer noch der Wirkung
genug, um die Methode, planmäßig betrieben, durchaus
zu empfehlen.
Angenommen, in einer Sonntagsſchule erhalten
etwa fünfzig Kinder Unterricht. Am Schluſſe bekommt
jedes Kind ein „Leaflet“, wo auf vier Quartſeiten eine
bibliſche Geſchichte in mundgerechter Weiſe erzählt und
praktiſch und erbaulich ausgelegt wird. In dieſen
„Leaflets“ bringt das Kind ein Kapital nach Hauſe,
welches ſeine reichlichen Zinſen tragen kann. Das
müßte doch ſonderbar ſein, wenn es nicht wenigſtens
von einem Teil der Hausgenoſſen geleſen würde, und
wäre es auch nur aus Neugierde oder gar aus dem
Wunſche heraus, ſich von der Thorheit oder Schlechtig-
keit der chriſtlichen Religion ſchwarz auf weiß aus
eigener Anſchauung zu überzeugen. Am nächſten Sonn-
tag werden die „Leaflets“ umgetauſcht, und wenn ſo
im Verlaufe eines Jahres etwa fünfzig verſchiedene
26
[402] Blätter in ein Haus kommen, ſo ſammelt ſich ſchon,
ohne daß man ſich darum gleich überſanguiniſchen Hoff-
nungen auf raſche Bekehrungen hinzugeben braucht, ein
recht anſehnlicher Stock chriſtlicher Einflüſſe. Natürlich
iſt das oberſte Intereſſe nicht das, auf ſeine Koſten zu
kommen, ſondern das Wort Gottes in möglichſt weite
Kreiſe zu tragen. Der Verſchleiß iſt darum recht frei-
gebig und zu ſehr billigen Preiſen, mitunter ſogar ver-
ſchwenderiſch. So wurden während des chineſiſch-[japa-
niſchen] Krieges nicht weniger als hunderttauſend Neue
Teſtamente und Bruchteile der Bibel im Hauptquartier zu
Hiroſhima an japaniſche Soldaten verteilt. Der gewöhn-
liche Jahresverſchleiß an heiligen Schriften beträgt
wenig unter hunderttauſend, während der Geſamtver-
brauch ſeit Beginn der japaniſchen Miſſion ſich auf
rund anderthalb Million beläuft. Es giebt infolge
deſſen eine Menge Leute auch außerhalb des chriſtlichen
Lagers, welche gute bibliſche Kenntniſſe beſitzen, und
zuweilen findet man die Wirkung dieſes Miſſionsbe-
triebs ſelbſt da, wo man ſie am wenigſten ſuchen würde.
Es iſt noch nicht lange her, da hielt in einer Verſamm-
lung, welche von einer Shintoſekte veranſtaltet worden
war, einer der Redner eine Anſprache, in welcher er
fortwährend von dem „Himmelskönig“ ſprach. Jene
Shintoſekte huldigt polytheiſtiſchen Anſchauungen, der
Redner aber vertrat einen geläuterten Monotheismus.
Zweifellos hat er ſeinen Monotheismus in der Bibel
gefunden. Aus der Verſammlung heraus wurde die
chriſtliche Anrüchigkeit ſogleich vermerkt, und ſchon der
nächſte Sprecher ergriff die Gelegenheit, ſeinen Vorredner
um ſeiner chriſtlichen Anſchauungen willen zurechtzu-
weiſen. Aber als dieſer Mann, der ſich ſomit als ein
Feind des Chriſtentums gebahrte, in ſeiner Rede fort-
[403] fuhr, da war es bald unverkennbar, daß er ſeine Ge-
danken der Bergpredigt entnommen hatte. Thatſächlich
enthielt ſeine Rede eine Reihe faſt wörtlicher Citate
aus dem ſechſten Kapitel des Matthäusevangeliums. 1)
So werden die Feinde des Chriſtentums zu Zeugen
Chriſti; an ihrem eigenen Beiſpiel beweiſen ſie, wie tief
das Chriſtentum in das Volk eingedrungen iſt; ſie ſelbſt
verbreiten die chriſtlichen Wahrheiten und bereiten dem
Herrn den Weg zum Herzen des ganzen Volkes. Und
die Macht, die ſolches Wunder bewirkt, iſt das Wort,
das gedruckte Wort.
Infolgedeſſen, daß mehrere der bedeutendſten Zei-
tungen von Chriſten redigiert werden, ſteht auch die
Tagespreſſe nicht ganz außerhalb der chriſtlichen Ein-
flußſphäre. Zwar kommen ihre chriſtlichen Überzeugungen
ſelten direkt und unumwunden zum Ausdruck. Das
Geſchäftsintereſſe verbietet das von ſelbſt, und auch dem
Chriſtentum wäre wenig damit geholfen, da dann der
Leſerkreis jener Zeitungen ſofort bedeutend zuſammen-
ſchrumpfen würde. Man muß ſich alſo zufrieden geben,
wenn ihre Aufſätze von chriſtlichem Geiſte durchweht
ſind und mittelbar wenigſtens eine chriſtliche Beeinfluſſung
zur Folge haben.
Natürlich konnte das Chriſtentum bei einer ſolchen
Vertretung ſeiner Intereſſen nicht ſtehen bleiben. Es
hat ſich darum ſchon frühzeitig veranlaßt geſehen, ſelbſt
eine chriſtliche Preſſe in das Leben zu rufen. Die Aus-
führung dieſes Unternehmens darf in vollem Maße als
gelungen bezeichnet werden und das Verdienſt fällt faſt
ausſchließlich den japaniſchen Chriſten zu. Die chriſt-
liche Preſſe iſt durch nicht weniger als rund 40 Wochen-
26*
[404] und Monatsſchriften vertreten. Dieſelben verfolgen als
Hauptzweck, zunächſt der Gemeinde zu dienen. Ihr
Inhalt, derjenige der Wochenſchriften faſt ausſchließlich,
iſt darum weſentlich erbaulich. Es iſt ſchon davon die
Rede geweſen, in welchem Maße die Gemeindeglieder
der fortwährenden Erbauung benötigt ſind, und da thut
denn das „Sonntagsblatt“ auch ganz treffliche Dienſte
dabei. Mir iſt neulich von einem deutſchen Laien ge-
ſagt worden, die kirchlichen Wochenſchriften ſeien nur
dazu da, um gehalten zu werden, — da man der Bitte
des Pfarrers oder Agenten anſtandshalber nicht gut
ausweichen könne — nicht aber, um geleſen zu werden.
Von Japan gilt dieſe Bemerkung jedenfalls nicht. Es
iſt leicht erkennbar, daß von der religiöſen Preſſe ein
ſtarker Einfluß auf die eifrig leſenden Chriſten ausgeht.
Aber dieſer Einfluß greift auch hinüber auf nicht-
chriſtliche Kreiſe und zwar kommt hier beſonders die
etwas ſchwere Speiſe der wiſſenſchaftlich gehaltenen
Monatsſchriften in Betracht 1). Die buddhiſtiſchen, ſhin-
[405] toiſtiſchen, wiſſenſchaftlichen und politiſchen Tagesblätter
und Magazine ſehen ſich beſtändig genötigt, die chriſt-
liche Preſſe ihrer Beachtung zu würdigen, und wo dieſe
für ſich nicht hinzudringen vermöchte, da bringen die
Gegner ſelbſt das Chriſtentum hin, wenn auch nicht
ſelten bis zur Unkenntlichkeit entſtellt. Das Chriſtentum
kann dem Kampfe mit den alten Geiſtesmächten nicht
ausweichen, ohne ſich damit ſelbſt das Zeugnis ſeiner
Schwäche auszuſtellen; und gerade die Preſſe iſt der
Schauplatz, auf welchem ſich der Kampf der Geiſter
1)
[406] abſpielt, und ohne die Preſſe wäre das Chriſtentum
jeder Verleumdung und Verdrehung hilflos preisgegeben.
Hier alſo kommt die apologetiſche Aufgabe der Miſſion
zu ihrem Recht. Hier iſt der Ort, den mannigfachen
Angriffen von außen zu begegnen und in den weiteſten
Kreiſen des Volkes den Eindruck zu erwecken, daß das
Chriſtentum nicht gekommen iſt, aufzulöſen, ſondern zu
erfüllen; hier werden die gewöhnlichen Vorurteile be-
kämpft, als ſei es in ſeinem Univerſalismus entweder
direkt und bewußt unpatriotiſch, oder wenigſtens in
ſeinen Wirkungen den vaterländiſchen Geiſt zerſetzend,
hier wird den Gebildeten entgegnet, daß es kein Syſtem
der Ignoranz iſt, ſondern in ſeinem Glauben dem Wiſſen
verſöhnt ſein wolle.
So hat die chriſtliche Preſſe eine hohe und verant-
wortungsreiche Aufgabe. Daß aber ihre Arbeit nicht
nur für die Gemeinde, ſondern auch nach außen hin
nicht vergebens iſt, daß ihre Stimme wirklich weit
reicht, das haben wir ſelbſt mit unſerer, doch nur für
beſchränkte Kreiſe beſtimmten Zeitſchrift „Shinri“ er-
fahren; denn mehr als einmal ſind uns aus den ent-
fernteſten Teilen des Landes Briefe zugegangen von
ſolchen, welche „Shinri“ geleſen hatten, und die nun
den Wunſch nach perſönlicher mündlicher Mitteilung
ausſprachen: Wir ſollten ihnen einen japaniſchen Prediger
ſchicken. So wird durch das gedruckte Wort die Sehn-
ſucht nach dem Chriſtentum geweckt und ſchließlich
drängt ſie ſich auf die Lippen zu dem flehenden Ruf:
„Komm hernieder und hilf uns!“
Wenn aber die Miſſion und die japaniſchen Chriſten
bewußt und methodiſch in ſolcher Weiſe die Weltan-
ſchauung der Heiden zu untergraben und die Maſſen
des Volkes mit dem Sauerteig chriſtlicher Gedanken zu
[407] durchdringen ſuchen, ſo geht neben dieſer Bewegung ein
zweiter Strom einher, welcher, ohne mit Bedacht und
Abſicht dahingeleitet zu ſein, von ſelbſt dieſem Ziele
zuſtrebt. Dieſer Strom geht von der abendländiſchen
Kultur aus. Es mögen keine ausgeſprochen chriſtlichen
Stimmen ſein, die hier zum Worte kommen, aber es
iſt unſere Weltanſchauung, und wo unſere Weltan-
ſchauung Platz gegriffen hat, da iſt dem Chriſtentum
der Boden bereitet.
Vor allem darf die Miſſion in der abendländiſchen
Litteratur einen ſtarken Bundesgenoſſen begrüßen, dem
ſie herzlich zu Dank verpflichtet iſt. Teils im Original,
teils in Überſetzungen iſt dieſe Litteratur über das ganze
Land verbreitet, und ihr Einfluß iſt nicht nur in den
Spitzen, ſondern auch in den tieferen Schichten der ja-
paniſchen Geſellſchaft deutlich bemerkbar. Wie tief
dieſer Einfluß geht, dazu giebt der Miſſionar Greene
eine prächtige Illuſtration. „Vor kurzem“, ſo erzählt
er, „ging ich von einem Thal in Joſhu nach einem
andern. Mein Weg führte mich über einen holprigen
Bergpfad, und da eine Jinrikſha nicht zu haben war,
engagierte ich einen Bauernſohn als Gepäckträger. Wie
wir ſo hingingen, erzählte er mir von ſeinem Leben zu
Hauſe, und daß er in ſeinen Mußeſtunden die poetiſchen
Bücher des Alten Teſtaments leſe. Auch Gedichte von
Longfellow und Tennyſon habe er geleſen. Mein Ziel war
ein Dorf mit ein paar hundert Häuſern an der Hochſtraße
von Mikuni, ungefähr ein halb Dutzend Meilen von dem
Gipfel des Bergpaſſes entfernt. Es iſt wenig Verkehr
auf dieſer Landſtraße, und man ſollte meinen, daß der
Einfluß der abendländiſchen Gedankenwelt hier kaum
fühlbar wäre. Bei meiner Ankunft wurde ich von
meinem Gaſtfreund eingeladen, den Abend in einem
[408] benachbarten Badeort zuzubringen. Er bat auch einen
der Dorfſchullehrer zu kommen, welcher das Provinzial-
lehrerſeminar abſolviert hatte. Obgleich derſelbe nicht
engliſch ſprechen konnte, fand ich doch, daß er engliſche
Bücher fleißig las. Er hatte in engliſcher Überſetzung
Guizots „History of France“ und auch ſeine „History
of Civilization“ geleſen. Auch Carlyles „Heroes and
Heroworship“ und einige ſeiner Biographien waren
ihm bekannt, und außerdem ein großer Teil der Schriften
von Lord Macaulay. In demſelben Dorf war noch
ein Lehrer, ein Graduierter von Fukuzawas Schule,
auch ein beleſener Mann. Ferner waren in dem Dorfe
noch zwei Graduierte der Doſhiſha, welche beide intelli-
gente Männer und fleißige Leſer engliſcher Bücher
waren. Ich will nicht behaupten, daß dieſe Leute aus
ihren Büchern all den Nutzen ziehen konnten, welchen
wir durch ihre Lektüre haben würden, aber ihr Geiſt
war doch mit engliſchen Gedanken beſchäftigt. Es
konnte nicht ausbleiben, daß die Kinder, welche zu
ihnen in den Unterricht kamen, wieder von ihrem Geiſte
beeinflußt wurden. Nicht alle Schullehrer in Japan
mögen auf ſolch hoher Stufe ſtehen, aber Hunderte
kommen aus den Seminarien mit ähnlicher Vorliebe
für fremde Litteratur und verbreiten durch ihre Schüler
Gedanken, welche von einer Gottes- und Naturanſchauung
beherrſcht ſind, grundverſchieden von der, die früher
herrſchte, und der Sauerteig dieſer Gedanken iſt in
den Köpfen von Zehntauſenden von Kindern wirkſam“.
Es ſind freilich nicht ausſchließlich günſtige Ein-
flüſſe, die von der Litteratur des Abendlandes ausgehen.
Hat doch auch die materialiſtiſche und atheiſtiſche
Bücherei ihren Einzug in Japan gehalten. Es iſt
aber doch nur ein beſchränkter Kreis philoſophiſch
[409] intereſſierter Leute, dem derartige Bücher nicht allein
nach dem Titel, ſondern auch nach dem Inhalt bekannt
ſind, während Schiller, Goethe und Leſſing, Shakeſpeare,
Longfellow und Tennyſon Gemeingut aller mehr oder
weniger gebildeten Klaſſen ſind.
Die großen Wirkungen der Litteratur ſind heute
ſchon in der japaniſchen Sprache bemerkbar. Nicht
allein, daß eine große Anzahl neuer Begriffe vom
Ausland übernommen wird, ſo daß der alten japa-
niſchen Sprache ein völlig neues Vokabularium hinzu-
gefügt worden iſt, auch die Sprachformen fangen an,
eine Veränderung zu erleiden. Während z. B. die
Perſonifikation etwas durchaus Unjapaniſches iſt, findet
man es heute in weiten Kreiſen nicht mehr anſtößig,
lebloſen Dingen Thätigkeiten beizulegen, als wären ſie
Perſonen. Heute kann man oftmals den Satz: „Die
Predigt hat mich getröſtet“, in wörtlicher Wiedergabe
hören, was früher nicht der Fall war, und auch der
Gebrauch des Paſſivums iſt häufiger als vordem. Es
giebt Leute genug, welche das Gefühl dafür verloren
haben, daß derartige Redewendungen unjapaniſch ſind
und dem Geiſt der japaniſchen Sprache eigentlich wider-
ſprechen. Es iſt eine Umwälzung der ganzen Art zu
denken, die hier im Entſtehen begriffen iſt.
In der Litteratur des Weſtens kommen die Japaner
mit den beſten und größten Laien der chriſtlichen Welt
in Berührung. Sie machen aber auch im eigenen Land
die Bekanntſchaft chriſtlicher Europäer und, ſoweit ſie
über die Grenzen ihres Vaterlandes hinaus kommen,
auch in der Heimat des Chriſtentums ſelbſt. Und auch
von dieſer Seite aus ſind ſie einer beſtändigen Beein-
fluſſung ausgeſetzt. Der Einfluß iſt nicht immer ein
guter, ſo wenig wie bei der Litteratur. Ja, mitunter
[410] wird er geradezu unheilvoll. Seit dreißig Jahre ſind
Tauſende junger Japaner in das Ausland gegangen,
viele Hunderte haben in Deutſchland ſtudiert. Und mit
wenigen Ausnahmen gingen ſie wieder zurück in ihre
Heimat, Heiden wie früher, tot und kalt wie zuvor.
Der Grund iſt leicht abzuſehen. Leben erzeugt ſich nur
an Leben, gleich wie Feuer an Feuer ſich entfacht. Weil
hier unter uns kein rechtes Leben iſt, darum ſind ſie
nicht lebendig geworden, weil hier unter uns keine
Feuerflammen glühen, darum ſind auch ſie nicht ent-
zündet worden. Mit vielen von ihnen war ich per-
ſönlich bekannt, und einmal iſt es mir vergönnt geweſen,
einen von ihnen zu taufen. Es war der Sohn eines
hervorragenden Mitglieds des Parlaments, eines Füh-
rers der chriſtentumsfeindlichen konſervativen Partei.
Vier Jahre hatte er in Deutſchland ſtudiert und in den
vier Jahren war er nie in eine Kirche gekommen. Nach
ſeiner Rückkehr aus Deutſchland war er durch ein Mit-
glied unſeres Miſſionsperſonals, das er auf der Über-
fahrt kennen gelernt hatte, mit uns bekannt geworden.
Er verkehrte jetzt viel mit uns, ohne aber für unſere
Arbeit das geringſte Intereſſe zu haben. Da, nach
etwa zwei Jahren, begann er unſere Gottesdienſte zu
beſuchen und ein halbes Jahr ſpäter war er ein Mit-
glied unſerer Gemeinde. Dieſen Mann fragte ich ein-
mal, woher es denn gekommen ſei, daß er nicht ſchon
in Deutſchland mit dem Chriſtentum Fühlung gewonnen
habe. Und ſeine Antwort lautete: „Meine deutſchen
Freunde gingen ja ſelbſt nie zur Kirche. Ich mußte
den Eindruck gewinnen, als gäben die Gebildeten nichts
auf das Chriſtentum, und als ſei dieſes nur für die
Dummen da. In Europa ſchien mir das Chriſtentum
ſeine Rolle ausgeſpielt zu haben. Sollten wir nun die
[411] Kleider anziehen, die ihr abgelegt habt? Was euch
nicht mehr gut genug war, dünkte auch uns zu ſchlecht“.
Und da ſtand ich und ſchämte mich im tiefſten Grund
meiner Seele für meine chriſtlichen Landsleute. Haben
die Heiden nicht recht, alſo zu ſprechen? Wahrlich, das
Chriſtentum ſtände heute anders da unter den heid-
niſchen Völkern, wenn bei uns noch mehr Chriſtentum
zu finden wäre, bei unſern Chriſten in der Heimat ſo-
wohl als bei den Europäern unter den Heiden.
Wie oft haben in den letzten Jahren die Zeitungen
berichtet, wie Europäer, ja ſelbſt chriſtliche Beamte, ſich
im Heidenland aufgeführt, wie ſie den chriſtlichen Geiſt
verleugnet und ſchlimmer gehauſt haben als die Heiden
ſelbſt. Als die Kunde von den ſkandalöſen Vorgängen
in Deutſch-Afrika nach Japan kam, konnte man aus
japaniſchem Mund hören, daß das nicht zu verwundern
ſei; ſei doch die ganze Politik Europas eine Politik der
Eroberung und Gewaltthätigkeit; und wie das Syſtem,
ſo ſeien auch die Leute. Den einfältigen Heidenſeelen
iſt es eben bis jetzt noch nicht gelungen, zu entdecken,
daß die Schachzüge der Diplomatie auf chriſtlichen
Grundregeln beruhen. Vielmehr meinen ſie, daß die
Mächte ihnen gegenüber mehr nach dem Satz vom Recht
des Stärkeren und aus Inſtinkten der Selbſtſucht, als
nach den Grundſätzen der Menſchlichkeit und der chriſt-
lichen Liebe handeln. Das Gefühl, welches die Heiden
den politiſchen Großmächten gegenüber beſeelt, iſt nicht
Vertrauen, ſondern Furcht. So gehört auch die „chriſt-
liche“ Politik zu den Strömungen, welche für die
Miſſion nicht Förderung, ſondern Hemmung bedeuten,
und es wäre unter allen Umſtänden wünſchenswert, daß
die Motive der Liebe und Menſchlichkeit jeder Zeit klar
zu Tage treten.
[412]
Wenn man aber die Ausſchreitungen der einzelnen
auf das Syſtem zurückführen wollte, ſo hat das für die
Fremden in Japan wenigſtens keine Gültigkeit. Bruta-
lität und Gewaltthätigkeit kann ihnen niemand vor-
werfen. Ein Japaner hat ihnen folgendes Zeugnis
ausgeſtellt: „Das Betragen der Fremden iſt eine Schande
für den Namen des Chriſtentums und der Civiliſation
und hält den Fortſchritt beider auf. In ihrer Heimat
würde ein ſolches Betragen ſtrafrechtlich verfolgt werden,
aber in den Ländern des Oſtens ſtehen dieſe euro-
päiſchen Tyrannen unter dem Schutze der Kanonen. Die
Thatſache iſt nicht ſchwer zu erklären, daß das Chriſten-
tum außerhalb Europas keine großen Fortſchritte ge-
macht hat; man braucht nur zu bedenken, daß diejenigen
Chriſten, die in fremde Länder gehen, ſich ſchlechter be-
tragen als die Heiden, oder doch nicht beſſer als ſie;
ſie ſind Sklaven des Mammons, beſuchen ſchlechte
Häuſer, ſchwören auf das leichtfertigſte, inſultieren und
foppen und mißhandeln die Eingeborenen und betragen
ſich ſo aufgeblaſen, als ob jeder ein Julius Cäſar
wäre.“ (Z. M. R. I, 28.) Das iſt eine Sprache,
deren Leidenſchaftlichkeit verdächtig iſt, ſie iſt einem den
Fremden unfreundlich geſinnten Jingoismus entfloſſen.
Der zumeiſt aus gebildeten Kaufleuten, Gelehrten und
Beamten beſtehenden Fremdenkolonie in Japan, welche
im übrigen als hochachtbar zu bezeichnen iſt, läßt ſich
nur eines nachſagen: Neben vielfacher religiöſer Gleich-
gültigkeit, die ſie ſich nicht erſt drüben anzueignen brauchten,
eine laxe Moral im engeren Sinne. Durch die
Sitte des Landes gefördert, tritt dieſelbe in ihrer ganzen
Unchriſtlichkeit ſo wenig verſchämt auf, daß ſie in chriſt-
lich empfindenden Kreiſen und noch weit darüber
hinaus Anſtoß erregen muß. Ich bin oftmals von
[413] meinen Gemeindegliedern gefragt worden: „Iſt der
oder jener ein Chriſt?“ Und wenn ich zur Antwort
gab: „Ja gewiß doch!“ ſo meinte man: „Wer nie in
die Kirche gehe 1) (die Japaner kontrollieren ſcharf!) und
überdies in einem „ehelichen“ Verhältnis lebe, welches
weder bürgerlich noch kirchlich ſanktioniert ſei, könne
unmöglich ein Chriſt ſein“. Man muß ſelbſt in der
Situation geweſen ſein, um das Peinliche derartiger
Auseinanderſetzungen empfinden zu können.
Das junge japaniſche und das alte europäiſche
Chriſtentum ſtehen ſich hier in ſcharfer Beleuchtung ein-
ander gegenüber. Dort das begeiſterte Wollen, mit
dem aber die kindlich ſchwachen Kräfte noch nicht glei-
chen Schritt halten, hier die unluſtige Blaſiertheit, wo
die Kraft des Könnens in vollem Maße vorhanden
wäre. Während man ſich mit dem jungen Heiden-
chriſtentum in apoſtoliſche Zeiten verſetzt fühlt, bringt
einen der Blick auf die europäiſchen Chriſten ſofort in
die nüchterne Wirklichkeit des fin de siècle zurück. Da
lernt man es mit tiefer Wehmut begreifen, daß die
urchriſtlichen Zeiten vorüber ſind, da jeder Chriſt noch
ein Miſſionar war, da die Kaufleute Kleinaſiens bei
ihrem Geſchäftsaufenthalt in Rom noch das Evange-
lium verkündigten, und römiſche Soldaten mit dem
[414] Schwert des Geiſtes die Ufer des Rheins und der
Donau für Chriſtus eroberten. Unſere Kaufleute und
unſere Soldaten haben heute andere Dinge zu thun,
und wenn man ihnen ſagte, daß auch für ſie das Wort
geſchrieben iſt: „Gehet hin in alle Welt und prediget
das Evangelium aller Kreatur!“ ſie hätten dafür nur
ein verſtändnislos verlegenes oder ein vornehm über-
legenes Lächeln.
Und doch wirken auch die europäiſchen Laienchriſten,
wenn auch zum Teil wider ihren Willen, mit zu dem großen
Werke der japaniſchen Volksbekehrung. In den frem-
den Gelehrten, ja in der ganzen chriſtlichen Welt, haben
die Japaner das lebendige Beiſpiel vor ſich, zu welch
hoher Stufe der Kultur es die Völker gebracht haben,
die ſich chriſtliche nennen, und in manchem Kopf bricht
ſich doch wohl die Überzeugung Bahn, daß zwiſchen
Kultur und Chriſtentum ein innerer Zuſammenhang
beſtehe. Schon einmal ſind ſolche Strömungen zu Tage
getreten, und wenn ſie heute auch verſchwunden ſind,
ſo werden ſie einſt um ſo ſtärker wieder an die Ober-
fläche kommen. Von den Abendländern haben die
Japaner, welche des Lebens Zweck bis dahin in der
Beſchaulichkeit ſahen, erſt gelernt, was Pflichtgefühl iſt.
Die Kaufleute haben im beſonderen das große Ver-
dienſt, daß ſie die Japaner an Zuverläſſigkeit und
Ehrlichkeit im Handel gewöhnen, und in manchem euro-
päiſchen Hauſe haben die Heiden das Vorbild einer
chriſtlichen Ehe und eines chriſtlichen Familienlebens
vor ſich. Auch die opferfreudige Teilnahme der Abend-
länder bei ſchweren nationalen Heimſuchungen, wie Erd-
beben und Überſchwemmungen, hat zu Zeiten großen
Eindruck gemacht. So ſind es eine ganze Reihe chriſt-
[415] licher Einflüſſe, welche von den abendländiſchen Chriſten
ausgehen.
Alle dieſe Bächlein, vereint mit den anderen, machen
zum Schluß einen reißenden Strom, der die Bänke des
Heidentums unterwühlt, die Ufer überflutet und die
Strebepfeiler in das Wanken bringt. Bedeutender noch
als die poſitiven Wirkungen im Aufbau einer neuen
chriſtlichen Gedankenwelt ſind zunächſt die negativen in
der Zerſtörung der alten Geiſtesmächte. Die alten
ſozialen Grundlagen der Geſellſchaft haben radikale
Veränderungen erfahren. Der Individualismus hat ſich
Bahn gebrochen; da er aber noch keine feſte Grundlage
hat, ſo ſind es teilweiſe anarchiſtiſche Zuſtände, die ſo
in der ethiſchen Welt geſchaffen werden. Aber je
verworrener ſie ſind, und je entſchiedener man ſich vor
die Alternative geſtellt ſieht: Untergang oder Neu-
geburt, um ſo raſcher ſieht man ſich gezwungen, nach
Hilfe auszuſchauen. Es iſt bezeichnend für den Stand
der Dinge, daß Japans erſter Staatsmann Ito, welcher
ſeiner Freude über die atheiſtiſchen Tendenzen ſeiner Lands-
leute Ausdruck verliehen hat, zu gleicher Zeit mit Ban-
gen in die Zukunft ſieht, da er weiß, daß es ſo nicht
weiter gehen kann. Und das iſt die Sorge der Edelſten
des Volkes, mögen ſie rechts oder links ſtehen. Die
ſittlichen Grundlagen —, ſo lautet das ſtehende Thema
der Diskuſſion, und es iſt wahrhaft erſchütternd, dieſe
Volksſeele in ihrem Ringen zu beobachten. Es ſind
die Geburtswehen einer neuen Zeit. Das Alte ſtürzt,
und neues Leben blüht aus den Ruinen.
Bei uns pflegt man die Erfolge der Miſſion nach
der Seelenzahl der Bekehrten zu ſchätzen und mit hämi-
ſchem Spott rechnet man dann aus, wie viel eine
Heidenſeele koſtet. Aber ganz abgeſehen davon, daß
[416] eine Menſchenſeele einen unendlichen Wert hat, und
daß darum auch rein nach dieſem Geſichtspunkt die
Miſſion nie zu teuer bezahlt wäre, iſt dieſe Rechnung
doch eine gründlich falſche. Denn der indirekte Erfolg,
der nicht mit Zahlen belegt werden kann, iſt weit größer
als der direkte. Was in Japan durch die Vorbe-
reitung der Volksbekehrung in der Verbreitung chriſt-
licher Ideen gewirkt worden iſt, ſchätze ich viel höher
als die hundertundſiebenzehn tauſend Getaufter. Man
darf dreiſt behaupten, daß jetzt ſchon unter den Heiden
viele theiſtiſch denken und chriſtlich handeln, und daß
es thatſächlich wenige geben mag, die vom Chriſtentum
noch vollſtändig unberührt wären. Sie wiſſen es frei-
lich nicht, und wenn ſie es wüßten, es würde ihnen
angſt und bange werden. So kommen ſie immer näher
und näher den Thoren des Reiches Gottes, und zum
Schluſſe bedarf es nur noch Eines, aber freilich des
Wichtigſten, des Geiſtes aus der Höhe, und das Pfingſten
für Japan iſt da.
Das wird das Ende ſein!
In Nikko im heiligen Tempelhain, fernab von des
Alltags eitlem Geſchwätz, ſteht ein ſchlichtes Grabmal.
Tiefer Friede ringsum, kein Zeichen von Leben, als
ob ſelbſt die Tiere des Waldes es wüßten: Hier iſt
geweihtes Land! Dumpf und feierlich ertönt von unten
herauf von Zeit zu Zeit die Tempelglocke, und durch
die ſanftbewegten Zweige der ragenden Kryptomerien
geht ein geheimnisvolles Flüſtern. Es iſt der Geiſt
von Altjapan, der an dieſem Grabe Trauerwache hält;
denn der darunter liegt, iſt Iyeyaſu, ſeines Landes
größter Sohn. Was Japan die Jahrhunderte hindurch
geweſen iſt, in dieſem Manne war es verkörpert. Drei-
hundert Jahre ſind darüber hingerauſcht, daß er auf
[417] den Kampfplatz trat wider das Kreuz, das ſein Vater-
land bedrohte, ein zweiter Julian, aber glücklicher als
er. Mit mächtiger Fauſt und mit der Geiſtesgewalt,
welche das Kennzeichen eines großen Mannes iſt, ſchlug
er die Jeſuiten und Franziskaner nieder, und als er
ſeine Augen im Tode ſchloß, ſah er die Zeit nahe, da
das letzte Kreuz aus Yamatos heiliger Erde geriſſen
werde, und des letzten Fremden Fuß des Landes freien
Boden verlaſſen müſſe.
Und wiederum wie dazumal ſtehen wir heute an
der Schwelle eines neuen Jahrhunderts, und wiederum
wie damals ſind die Kreuzträger herübergekommen über
das Meer. Da hat es Iyeyaſu nicht länger in ſeiner
Gruft gelitten, mächtig iſt er hervorgebrochen auch heute
wieder, Altjapans ſtarker und trotziger Geiſt, und wieder
tobt der Kampf wie ehedem. Ein Verzweiflungskampf,
hoffnungslos! Das tragiſche Schickſal Julians, auch
du wirſt es diesmal erfahren, Geiſt des Iyeyaſu, auch
dir wird die Stunde ſchlagen, da du, zum Tode ge-
troffen, ausrufen wirſt: „Zurück zur Gruft, Altjapan
ſtirbt, tandem vicisti, Galilaee.“
Und über deiner Gruft reicht Jungjapan dem
Chriſtentum die Hand zum ewigen Friedensbunde, und
wer mit den Augen des Geiſtes zu leſen verſteht, ſieht
es auf deinem Grabmal mit unauslöſchlicher Flammen-
ſchrift geſchrieben: „Das Alte iſt vergangen; ſiehe, es
iſt alles neu geworden!“
[][][]
Appendix A VERLAG VON A. HAACK IN BERLIN.
- Zeitschrift für Missionskunde und Religionswissenschaft. Organ des
Allgemeinen evangelisch-protestantischen Missionsvereins. Heraus-
gegeben von Prediger Dr. Th. Arndt in Berlin, Pfarrer Dr. E. Buss
in Glarus und Pfarrer J. Happel in Henbach (Hessen). Jährlich
erscheinen vier Hefte im Umfang von 16 ‒ 17 Bogen 8°. Durch jede
Buchhandlung und Postanstalt zu beziehen. 4.— M. - Bolljahn, J., Japanisches Schulwesen, seine Entwicklung und sein
gegenwärtiger Stand. Mit 3 Abbildungen. brosch. 1.50 M.
Partiepreis: 25 Exemplare 25.— M. - Ritter, H., Prediger. Dreissig Jahre protestantischer Mission in
Japan. Mit 2 Lichtdruckbildern und 1 Missionskarte. brosch. 2. — M. - Zur Verteidigung gegen D. Dalton. Eine Widerlegung des Dalton’schen
Angriffes. Herausgegeben vom Centralvorstande des Allgemeinen ev.-
prot. Missionsvereins. brosch. —.50 M.
Partiepreis: 50 Exemplare 10.— M.
Flugschriften des Allg. evang.-prot. Missionsvereins.
- I. Schmiedel, Otto, Pfarrer und Missionar. Eine Woche in der
japanischen Christengemeinde zu Tokyo. Mit 2 Tafeln: Abbil-
dungen von Kirche und Pfarrhaus. 4. Aufl.brosch. — 50 M.
Partiepreis: 50 Exemplare 10.— M. - II. Schmiedel, Otto, Pfarrer und Missionar. Kultur- und Missions-
bilder aus Japan. 2. Aufl.brosch. —.50 M.
Partiepreis: 50 Exemplare 10.— M. - III. Munzinger, Carl, Pfarrer und Missionar. Aus dem Lande der
aufgehenden Sonne. Mit 1 Abbildung. 2. Aufl.brosch. —.50 M.
Partiepreis: 50 Exemplare 10.— M. - IV. Lipsius, D. Richard Adelbert, Geh. Kirchenrat Prof. Unsere
Aufgabe in Ostasien. Mit einem Lebensbilde des Verfassers von
Pred. Lic. Dr. Paul Kirmss. Mit 1 Abbildung: Richard Adelbert
Lipsius 2. Aufl.brosch —.50 M.
Partiepreis: 50 Exemplare 10.— M. - V. Kranz, Paul, Pfarrer und Missionar. Eine Missionsreise auf
dem Yang tze kiang in China im Mai 1894. Mit einer Abbildung
und einer Kartenskizze. 2. Aufl.brosch. —.50 M.
Partiepreis: 50 Exemplare 10.— M. - VI. Faber, Ernst, Missionar Dr. theol. China in historischer Be-
leuchtung. Eine Denkschrift zu seinem 30 jährigen Dienstjubiläum
als Missionar in China. Mit zwei Abbildungen und einer Karte[.]
(Doppelflugschrift) brosch. 1.— M.
Partiepreis: 50 Exemplare 20.— M. - VII. Schmiedel, Otto, Was lehrt und lernt der Missionar in
Japan? Mit zwei Abbildungen. brosch. —.50 M.
Partiepreis: 50 Exemplare 10.— M. - VIII. Kranz, Paul, Pfarrer und Missionar. Die Welterlösungsreligion
ist die Vollendung des Konfuzianismus. Mit einem Vorwort von
Pred. Lic. Dr. Kind. Mit dem Original des chinesischen Traktats
brosch. —.50 M.
Partiepreis: 50 Exemplare 10. — M.
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen.
[][][]
feſſor J. J. Rein. Ohne dieſes Buch iſt eine gründliche Kennt-
nis Japans ſchlechterdings unmöglich.
Nippon oder Nihon iſt zuſammengeſetzt aus nichi (ni) =
Sonne, Tag und hon = Urſprung.
Die angewandte Schreibweiſe japaniſcher Namen und Wörter
iſt die allgemein übliche. Die Ausſprache der Vokale iſt die kon-
tinentale bezw. deutſche (ausgenommen iſt ei = ee, z. B. Geisha
= Geesha), die der Konſonanten die engliſche, d. h. ch = tsch
(nichi = nitschi); j = dsch (Fuji = Fudschi); sh = sch (Heishi
= Heeschi); y = i, am Anfang der Silbe = j (Tokyo = Tokio;
aber yama = jama); z = ds (Zen = Dsen). Die Silben werden
gleichmäßig betont; man merke aber Tṓky̆ṓ, nicht Tŏkȳ́ŏ; Ṓsăkắ,
nicht Ŏsáka.
hältniſſe giebt der deutſche Gelehrte Prof. Dr. M. Fesca in einem
umfangreichen, im Auftrag der japaniſchen Regierung herausge-
gebenen Buche: „Beiträge zur Kenntnis der japaniſchen Land-
wirtſchaft“.
im Gegenſatz zu Saikyo (Kyoto) = weſtliche Hauptſtadt.
Reis um gutes Geld zu verkaufen, um ſich mit Weizen und Gerſte
(mugi) zu begnügen.
1890 war er während 5½ Jahren in Japan thätig. Zerrüttete
Geſundheitsverhältniſſe nötigten ihn zur Erholung in der Heimat
und haben es ihm nicht wieder geſtattet, wie er gewollt, nach
Japan zurückzukehren. Aber innerlich konnte er ſich nicht ſo raſch
von dort losreißen, im Geiſte unternahm er noch manche Wan-
derung in das eigenartig anziehende Leben dort drüben und ſo
entſtanden in der friedlichen Stille einer kleinen pfälziſchen Dorf-
pfarre dieſe Skizzen — zwiſchen Ähren und Reben.
Die Schilderungen beruhen auf eigenen Anſchauungen. An
wenigen Stellen ſind Bücher zurate gezogen worden, weshalb die
Litteraturangaben beſchränkt ſind.
in den Mitteilungen der Deutſchen Geſellſchaft für Natur- und
Völkerkunde Oſtaſiens, Heft 53, Aſher, Berlin 1894.
Verlag von A. Haack, Berlin). Eine eingehende Darſtellung, die
ich warm empfehle. Der Verfaſſer iſt ſeit einem Jahrzehnt als
Lehrer der deutſchen und engliſchen Sprache und Litteratur in
Tokyo thätig und als gründlicher Kenner des japaniſchen Unter-
richtsweſens bekannt.
von Frau Pfarrer Auguſte Bickel geb. Diercks, früher Miſſionarin
des Allg. Ev. Prot. Miſſionsvereins. Das Büchlein hat eine
intereſſante Vorgeſchichte. Tamura wurde ſeiner Zeit durch die
Generalſynode der Ichikyōkwai (Vereinigte Presbyterianer) aus
der Kirche ausgeſtoßen, weil er durch ſein Buch Japan vor dem
Ausland herabgeſetzt habe. Es iſt das ein Zeichen der ſchon
erwähnten japaniſchen Empfindlichkeit. Denn nach ſeinem objektiven
Inhalt giebt das höchſt anſchaulich geſchriebene und flott überſetzte
Büchlein eine richtige Darſtellung. Das einzige, was etwa aus-
zuſetzen wäre, iſt, daß der Verfaſſer ſich zu ſehr für die ameri-
kaniſchen Sitten begeiſtert, auch da, wo ich für meine Perſon die
japaniſchen entſchieden vorziehen würde.
überſetzt von B. H. Chamberlain. Siehe deſſen „Things Ja-
panese“, ein Buch, welches ſich ebenſo ſehr durch reichen Inhalt
als durch geſundes Urteil ausgezeichnet und ſelbſt für den alten
Reſidenten und guten Kenner Japans als Nachſchlagebuch unent-
behrlich iſt.
ſämtlichen 24 Geſchichten Anderſon „Catalogue of Japanese and
Chinese Paintings“. Eine japaniſche Nachahmung der 24 chine-
ſiſchen Fälle erfreut ſich geringerer Popularität.
paner.“
welche er kommt, in den höher gelegenen Stockwerken die Amato
„Holzſchiebeläden“ vorgemacht werden, da es „deſpektierlich“ wäre,
wenn ein Unterthan auf den Erhabenen „herabſchaute“.
ſchaft und Staatshaushalt.
Büchlein, welches in gedrängter Kürze eine treffliche Überſicht über
Japans äußere Kulturfortſchritte giebt.
das Ende der Clanherrſchaft bedeutet.
einigem Schwanken die ſhintoiſtiſche Terminologie übernommen.
Für Chriſten und Shintoiſten heißt alſo Gott für die Umgangs-
ſprache „kami“, in Zuſammenſetzungen nach der chineſiſchen Aus-
ſprache „shin“ z. B. shin-gaku Theologie. Der buddhiſtiſche
„hotoke“ bedeutet ein Götzenbild, ſo daß der Ausdruck für den
geiſtigen Gott der Chriſten nicht zu gebrauchen war.
ſymboliſche Bedeutung bis heute noch nicht klar nachgewieſen
werden konnte (der Spiegel iſt vermutlich das Abbild der Sonne
und das Sinnbild der Reinheit, die ja im Shintoismus ganz
beſondere Bedeutung hat, während das Schwert wohl die
Herrſchergewalt darſtellt und ſo mit den Tugenden der Loyalität
und die Embleme des Shintoismus. Sie ſollen im Kaſhiko-dokoro,
der ſhintoiſtiſchen Hauskapelle des Kaiſers, nach anderer Angabe
in dem Daijingu in Iſe aufbewahrt ſein. Dagegen erzählt Rein,
daß ihm auf dem Gipfel des Takachio ein offenbar uraltes,
großes Schwert gezeigt worden ſei, welches die Legende als das
Schwert Ninigis bezeichnet. Es iſt aus Bronze mit Kupferzuſatz,
iſt 1,30 m lang, 0,23 m im Umfang und im Griff 0,54 m dick.
Japan. 2. Aufl. A. Haack, Berlin 1897.
Beobachtung gemacht, daß bis zum Jahre 1874 alle Toten
buddhiſtiſch beerdigt wurden. Ihre Grabſteine ſind oft mit
buddhiſtiſchen Heiligenbildern, Biſchöfen mit dem Krummſtab
geziert. Vor allem aber iſt an Stelle ihres eigentlichen Namens
ſtets ihr himmliſcher Name geſetzt. Vom Jahre 1874, mit der
ſhintoismus, ändert ſich das mit einem Schlage. Alle buddhiſtiſchen
Abzeichen verſchwinden, die Toten führen auch im Grabe ihre
Namen weiter.
Shintogebet der Großen Reinigung“ in den Mitteilungen der
Deutſchen Geſellſchaft ꝛc. Heft 58. Vergl. auch Dr. A. Florenz’
Überſetzung und Kommentar des Nihougi, eine rechte deutſche
Gelehrtenarbeit.
of Old Japan“) mitgeteilten buddhiſtiſchen Predigten, wo der
Prediger auch in vollendeter Höflichkeit, aber mit feiner Ironie
ſagt: „Ich will damit nicht geſagt haben, daß es ſolche ſchlechte
Leute auch hier unter euch giebt; aber dennoch findet man viele
derſelben z. B. in den Winkelgaſſen von China und Indien“.
actions of the Asiatic Society of Japan“, vol. III App.
aus dem Geſchlecht der Sakiya; Gautama = der Entſagende.
Guſha, Shingon und Tendai. Die beiden letztgenannten ſind die
einzig überlebenden.
dem ſie kaum fünfzig Jahre zuvor begonnen hatte. Was weiter
entſtand, ſind nur unſelbſtändige Zweige der Hauptſtämme. Um
dieſe noch einmal aufzuzählen, und zwar nicht ſowohl nach der
Zahl ihrer Tempel als nach ihrem wirklichen Einfluß auf das
Volk, ſo haben wir: 1. Shin, 2. Nichiren, 3. Zen, 4. Jodo,
5. Shingon, 6. Tendai. Shingon, Tendai und Zen kamen aus
China, Jodo, Shin und Nichiren ſind japaniſchen Urſprungs.
Buddhismus gehört zu dem Beſten, was über dieſen Gegenſtand
geſchrieben wurde.
obgleich dieſelben keineswegs fehlen; die meiſten gehen bei dem
Vorſteher eines Tempels in die Lehre.
von ein viertel Nonnen. Vor 25 Jahren waren es 220,000.
dralen der Shinſekte. In jeder großen Stadt giebt es ihrer
zwei, nämlich einen Higaſhi (öſtlich) = und einen Niſhi
(weſtlich) = Hongwanji.
daß es dem Verfaſſer in allen ſeinen Ausführungen mehr um eine
Unterſuchung des geiſtigen Weſens und des inneren Getriebes als
um eine Beſchreibung der äußeren Erſcheinungen zu thun iſt.
Auch bei der Darſtellung der chriſtlichen Miſſion in Japan wird
er ſich weſentlich von dieſem Geſichtspunkte leiten laſſen. Zwar
laſſen ſich der Vollſtändigkeit halber die äußeren Ereigniſſe hier
nicht übergehen. Doch glaubt er ſchon darum nicht auf jede
Einzelheit eingehen zu ſollen, weil in H. Ritters „Dreißig
Jahre proteſtantiſcher Miſſion in Japan“ (Berlin,
A. Haack, 1890) ſchon eine eingehende und erſchöpfende Dar-
ſtellung vorliegt; und zwar in ſolch vorbildlicher Weiſe, daß jeder
Verſuch, eine andere Beſchreibung desſelben Gegenſtandes zu
liefern, nur eine Verſchlechterung bedeuten kann. Haben doch
ſelbſt amerikaniſche Pioniermiſſionare, voran der bekannte Kongre-
gationaliſt Greene, für eine engliſche Geſchichte der japaniſchen
Miſſion in neidloſer Anerkennung nichts beſſeres zu thun gewußt,
als Ritters Buch faſt wörtlich in das Engliſche zu überſetzen.
In dieſer Form wird es mit einem von Dr. Chriſtlieb veranlaßten
Anhang, welcher von Miſſionaren der verſchiedenſten Geſellſchaften
geſchrieben iſt und die Ereigniſſe bis auf die Gegenwart fortführt,
Bienenfleiß und Forſcherſinn eines deutſchen „liberalen“ Theologen,
deſſen Werk nun die Grundlage geworden iſt, auf welcher Miſſionare
aller Schattierungen in gemeinſamer geiſtiger Zuſammenarbeit ihre
geiſtliche Zuſammengehörigkeit bekunden. Auch die Ausführungen
dieſes IX. Kapitels haben bis 1890 Ritters Werk zur weſentlichen
Unterlage. Die Aufgabe, die ich mir neu geſtellt habe, iſt lediglich die
Ergänzung Ritters nach der inneren und geiſtigen Seite des japaniſchen
Miſſionsgetriebes, womit aber nicht geſagt ſein ſoll, daß der früh
verblichene geiſtvolle Vorkämpfer des Allg. evang.-prot. Miſſions-
vereins dieſe Seite unberückſichtigt gelaſſen habe.
„Streifzüge durch die japaniſche ethiſche Litteratur der Gegen-
wart“ in den Mittlg. d. deutſchen Geſellſchaft für Natur- und
Völkerkunde Oſtaſiens, Heft 50, zählt bis 1892 27 chriſtliche
Wochen- und Monatsſchriften auf. Dabei ſind die rein lokalen
nicht mitgezählt; auch wurden ſeitdem wieder einige gegründet.
er ſchon im Jahre 1883 durch vertrauliche Verſammlungen ſeiner
erſten Mitglieder vorbereitet und ins Leben gerufen war, auf der
konſtituierenden Verſammlung zu Weimar am 4. Juni 1884
begründet. Se. Königl. Hoheit Karl Alexander, Großherzog von
Sachſen-Weimar, übernahm das Protektorat und iſt ſeitdem allezeit
in hochherziger Weiſe für die Beſtrebungen des Vereins eingetreten.
Der geiſtige Vater des Vereins iſt Pfarrer D. Ernſt Buß in
Glarus, der Verfaſſer der von der Haager Geſellſchaft gekrönten
Preisſchrift über „Die chriſtliche Miſſion, ihre prinzipielle Berech-
tigung und praktiſche Durchführung“ (1876). Buß übernahm
den Vorſitz, bis ihn eine ſchwere Erkrankung 1893 zum Rücktritt
nötigte. Sein Nachfolger wurde Prediger Dr. Theodor Arndt
in Berlin. Der Verein ſteht in weitherziger evangeliſcher Ge-
ſinnung einzig auf dem Boden des Evangeliums Jeſu Chriſti.
Dieſes Bekenntnis iſt auch bei der Wirkſamkeit ſeiner Miſſionare
in Japan und China, den einzigen Arbeitsgebieten des Vereins,
von grundlegender Bedeutung. Als erſter Miſſionar wurde im
Dynhard (Kanton Zürich) ausgeſandt. Derſelbe vereinigte 1885
die evangeliſchen Deutſchen in Tokyo und Yokohama zu Ge-
meinden, gründete 1887 eine heidenchriſtliche Gemeinde im Stadt-
teil Hongo in Tokyo, ſchuf im Verein mit dem 1887 entſandten
zweiten Miſſionar Otto Schmiedel die Theologiſche Schule
(Shinkyo Shingakko) und gab ſeit Oktober 1889 gleichfalls mit
dieſem die theologiſch-apologetiſche Zeitſchrift Shinri (Wahrheit)
heraus. Auch die Bildung der meiſten, Seite 316 erwähnten, Inſtitute
fällt in dieſe Zeit. Als der Verfaſſer dieſes Werks im Februar
1890 als der dritte Sendbote in Tokyo eintraf, war die Zeit
der Neuſchaffungen zu Ende. Die Hochflut der Reaktion hatte
eingeſetzt, es konnte ſich nur noch um die Erhaltung des Beſtehen-
den handeln. Die erſten Sendboten, einſchließlich der 1889 ent-
ſandten Miſſionarin Frl. Auguſte Diercks, ſahen ſich infolge
ſchlechter Geſundheitsverhältniſſe genötigt, nach fünf bis ſechs
Jahren zurückzukehren. Die Arbeitsüberbürdung war zu erdrückend,
und wenn wenigſtens ſtändig drei [Miſſionare] in Arbeit geſtanden
hätten, anſtatt zwei wie gewöhnlich, ſo würde der eine oder der
andere heute wohl noch in Japan ſein. Die gegenwärtigen
Miſſionare in Tokyo ſind Dr. Max Chriſtlieb (ſeit 1892), Emil
Schiller (ſeit 1895) und Adolf Wendt (ſeit 1897); mit Ende
1898 treten noch hinzu Pfarrer Hans Haas und Frl. Agnes
Heydenreich. Den Miſſionaren zur Seite ſtehen die japaniſchen
Prediger Minami, Komai, Hiroi und Aoki, ſämtlich Graduierte
unſerer Shinkyo Shingakko, ferner eine Evangeliſtin, ein Lehrer
und eine Lehrerin der Armenſchule und einige andere Hilfskräfte.
In China wirken D. Ernſt Faber, dieſer ſchon ſeit mehr als
einem Menſchenalter, Paul Kranz (ſeit 1892) und Lic. Hackmann
(ſeit 1893), alle in Shanghai. Die Errichtung einer Miſſions-
ſtation in Kiautſchou hat der Verein gleichfalls in Angriff genommen.
ſendung ſeiner ausſchließlich akademiſch gebildeten Sendboten noch
eine beſondere einjährige Vorbereitungszeit vorausgehen. Während
dieſer Zeit eignen ſie ſich in England die engliſche Sprache an,
beſchäftigen ſich unter berufener Führung eingehend mit miſſions-
wiſſenſchaftlichen Studien und machen ſich mit Land und Leuten
ihrer zukünftigen Heimat vertraut. An Ort und Stelle ange-
kommen, haben ſie ſich zunächſt noch zurückzuhalten als ſolche,
die erſt noch lernen müſſen, ehe ſie lehren. Zur gründlichen Er-
lernung der Landesſprache ſind ſie kontraktlich verpflichtet. Ihre
Berufsverpflichtung lautet ſeit 1893 auf Lebenszeit.
für Katechumenen verfaßt, welcher, ebenſo kurz als gründlich, eine
durchweg poſitive Darſtellung der chriſtlichen Lehre giebt.
Schilderung, welche in O. Schmiedels Kultur- und Miſſions-
bildern zum Teil abgedruckt iſt. Frau Chriſtlieb iſt Leiterin
der Schule.
pan“, ein anſpruchsloſes Buch, aber lehrreich und unterhaltend
und darum empfehlenswert.
Japan“, eine prächtige Schrift, die nicht warm genug empfohlen
werden kann. Nicht minder anregend iſt desſelben Verfaſſers
erſte Flugſchrift „Eine Woche in der japaniſchen Chriſtengemeinde
zu Tokyo“. Wenn auch ihr Inhalt heute nicht mehr in allen
Stücken zutreffend iſt, ſo iſt ſie doch als ein warmes Stimmungs-
bild aus der Blütezeit der japaniſchen Miſſion noch allezeit von
hohem Wert.
ſammlungen, wo wir nur unter fortwährendem heftigem und faſt
thätlich gewordenem Widerſpruche von ſeiten eines großen Teils
der Zuhörerſchaft ſprechen konnten. Doch handelte es ſich hier
um Vorträge, nicht um Gottesdienſte.
Miſſion herausgegebene Monatsſchrift „Shinri“ d. i. „die Wahr-
heit“, von welcher die hundertſte Nummer neulich erſchienen iſt.
Es iſt keine leichte Arbeit für ein paar deutſche Miſſionare und
japaniſche Paſtoren, allmonatlich bei allem andern noch fünfzig
Seiten zu ſchreiben. Aber die Mühe wird überreich belohnt.
Denn Shinri erfreut ſich einer hervorragenden Wertſchätzung.
Die Zeitſchrift iſt theologiſch-apologetiſch. Dieſem ihrem Charakter
gemäß iſt ſie vorzüglich für japaniſche Geiſtliche und gebildete
Laien beſtimmt. Wie bei allen chriſtlichen Zeitſchriften, ſo iſt auch
die Zahl ihrer Abonnenten eine beſchränkte; es giebt kaum eine
chriſtliche Zeitſchrift, welche mehr als hundert feſte Abonnenten
beſitzt, und wie überall, ſo findet auch bei Shinri der Haupt-
vertrieb im Einzelverkauf ſtatt. Der theologiſche Standpunkt
iſt der eines undogmatiſchen Bibelchriſtentums, welches in der
Vaterliebe Gottes zu ſeinen ſündigen Kindern den Kern der
nicht immer vermeiden, aber ſelbſtverſtändlich iſt, daß ſie nur
um des poſitiven Zieles willen angewandt wird. Shinri giebt
die wiſſenſchaftliche Fundierung des poſitiven Glaubensgehaltes,
und es iſt ihm vergönnt geweſen, manchem ſtrauchelnden Glauben
die Steine des Anſtoßes aus dem Weg zu räumen. Mir ſind
japaniſche Geiſtliche bekannt, welche Jahrgang für Jahrgang ein-
binden ließen und die einzelnen Bände als ihre theologiſchen
Lehrbücher benutzten — eine eindringliche Mahnung an die
deutſch-ſchweizeriſche Miſſion, die vor allen anderen dazu berufen
iſt, dem japaniſchen Chriſtentum eine umfaſſende theologiſche
Litteratur zu ſchaffen.
Gegenüber den Angriffen von heidniſcher Seite hat Shinri
ſtets eine ſchneidige Waffe geführt, und beſonders im Kampfe mit
dem poſitiviſtiſchen Konfuzianismus hat er dem geſamten japa-
niſchen Chriſtentum anerkanntermaßen rühmliche Siege erfochten.
Manchmal habe ich es ihm in ſolchem Falle aus heidniſchem Munde
nachrühmen hören: „Kachimashita“ d. h. „Er hat geſiegt“! Es
war hauptſächlich Shinri, der den Anprall des Heidentums und
des Unglaubens, welcher 1892 unter Führung von Prof. Inouye
Tetſuſhiro erfolgte, durch ſein ſchweres Geſchütz zum Stillſtand
brachte. Ohne unſere Zeitſchrift wären die chriſtlichen Kreiſe in
den letzten acht Jahren noch weit mehr beunruhigt worden. So
aber ſtand Shinri mit ſcharfem Geiſtesſchwert auf treuer Wacht
und im Verein mit ſeinen Genoſſen hielt er den dreiſten Feind
in ſeinen Schranken, damit die chriſtlichen Arbeiter im Frieden
weiterbauen konnten am Geiſtestempel des Gottesreichs.
der centralen, leicht erreichbaren deutſchen Kirche in Tokyo der
Beſuch von ſeiten unſerer Landsleute ein recht befriedigender iſt.
Nach den von Chriſtlieb angegebenen Zahlen findet ſich in Tokyo
zu jedem Gottesdienſt etwa ein Drittel bis zur Hälfte der ge-
ſamten Kolonie ein. Man wird dieſen Prozentſatz in der Heimat
bei Gebildeten kaum irgendwo übertroffen finden. Es würde aber
noch weit beſſer ſein, wenn weniger Junggeſellen und mehr Fa-
milien da wären. Die Familien ſind von jeher recht kirchlich
geweſen.
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- TextGrid Repository (2025). Anonymous. Die Japaner. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bhkq.0