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Oeffentliche Charaktere.



II.
Johann Jacoby.


Es ist noch keine zehn Jahr, als man in Deutschland Ostpreußen wie ein
Stück Vorsibirien ansah, wo die Sonne neun Mouate lang nicht im Stande sein
sollte, den Schnee zu schmelzen, wo die Wölfe schaarenweis in den Straßen der
Hauptstadt den Mond anheulten und wo in den wüsten Kieferwaldungen die me¬
lancholischen Elenthiere Meilenweit die einzigen civilisirten Bewohner vorstellten.
Man wußte nur, daß arme sächsische Kandidaten, die in der Heimath kein Unter¬
kommen fanden, in nicht geringer Zahl in diese Wildniß zogen, um die halbwilden
Eingebornen, ein Gemisch aus heidnischen Lithauern und Polacken, im Lesen,
Schreiben und im Lateinischen zu unterrichten — und in der That bestanden noch
vor nicht so langer Zeit die Mehrzahl der Pädagogen aus sächsischen Einwanderern.
Freilich war in diesem kalten Osten die Sonne der modernen Philosophie aufge¬
gangen, aber eine frostige; wenigstens hatten alle Leute, denen die Werke des
unsterblichen Immanuel Kant zu Gesicht gekommen waren, erzählt, daß in
seiner unheimlich dünnen Atmosphäre alle lebendige Realität in Begriffe eingefro¬
ren sei. Von Zeit zu Zeit kam ein strebsamer Anacharsis aus diesem modernen
Scythien nach Deutschland, um sich zu wärmen und Europens übertünchte Höf¬
lichkeit zu studiren: Herder, der Consistorialrath in Bückeburg wurde und nach¬
her sich den Sternreihen der deutschen Literaten und des deutschen Adels anschloß;
Haman, der Magus des Nordens, der seine sibyllinischen Blätter in jener un¬
verständlich heidnischen Sprache hinwarf, die den Wilden der Capornschen Heide
wohl verständlich sein mochte, Zacharias Werner, der in seinem Streben,
eine neue Religion zu finden, in Berlin betrogen, sich endlich in Wien zu dem
alten legitimen Jesuitismns bekehrte, endlich E. T. A. Hoffmann, der einzige
salonfähige ostpreußische Hinterwäldler, der allerdings die Geister, Teufel, Hexen
und Kobolde seiner Heimath mitbrachte, der aber durch die Verpflanzung seines
vaterländischen Getränks, des angezündeten Branntweins mit Zucker, in das ge¬
bildete Berlin, sich eben so um das Vaterland verdient machte, als durch die
zierliche Art, wie er mit seinen Kobolden umsprang. Man war damals sehr für
das Ursprüngliche und Naturwüchsige eingenommen, und eine Nation, die des
Sommers in Pelzen ging, Elenthiere jagte, sich mit Hexen und Kobolden zu thun
machte, eine unverständliche Sprache redete und dazu in der Regel heißen Brannt¬
wein trank, verdiente schon an sich einen Platz im Raritätencabinet der Indivi¬
dualitäten, auch wenn sie nicht so große Namen, wie Kant und Herder, zu den
[435] ihrigen gezählt hätte. Für Royalisten hatte sie noch insofern Interesse, als die
königliche Familie in Königsberg vor den übermächtigen Feinden eine Zuflucht
fand. Vor den Augen der Königin Louise hatte ein braver, frommer Prediger
so viel Wohlgefallen gefunden, daß man ihn zum Erzbischof gemacht hatte: der
Mann des Volkes und der Liebling des Hofes, der zugleich mit seiner Familie
in die Romantik eingriff, denn sein Sohn war ein baltischer Rinaldo Rinaldini,
er war lange an der Spitze einer gefürchteten Räuberbande der Schrecken der
Provinz gewesen, man hatte ihn nach Sibirien transportirt und er war nach sei¬
ner Heimath durchgebrochen, bis er endlich in einer idyllischen Abgeschiedenheit in
der Festung Graudenz das Ende seiner Thaten fand. In der spätern Zeit verlor
man Ostpreußen mehr aus den Augen; zwar beschrieb Professor Voigt die Thaten
der deutschen Völker in jenen Gegenden in neun dicken Bänden, aber diese waren
zu langweilig, sie wurden in Deutschland nicht gelesen. Man hörte nur von Zeit
zu Zeit von dem Auftauchen einer mystischen Secte, die einen babylonisch ge¬
schlechtlichen Gottesdienst mit christlicher Askese und Reminiscenzen an die urpreu¬
ßische Dreieinigkeit von Perkunos, Potrimpos und Pikullos vereinigte, um einen
neuen Gott zu erzeugen, bis sie von der Polizei abgefaßt wurde; oder von dem
russischen Generalsuperintendenten, den man an des alten Borowski Stelle nach
Königsberg gesetzt, um die theilweise freigeistische Provinz dem rechten Glauben
wieder zuzuführen; sonst war alles still von dem Vaterland der Elenthiere und
des nordischen Magus.


Diese Ansicht von Ostpreußen hat sich plötzlich geändert. Seit dem Jahr
1840 galt Ostpreußen für die liberalste und gesinnungstüchtigste Provinz des preu¬
ßischen Staates und man blickte nach der „Stadt der reinen Vernunft,“ über die
man bis dahin so geringschätzig die Nase gerümpft hatte, als solle von dort aus
dem Staat Friedrich des Großen und dem gesammten deutschen Vaterlande die
Stunde der Befreiung schlagen. Der Mann, an dessen Namen sich vorzugsweise
diese veränderte Stimmung gegen Ostpreußen knüpft, ist Johann Jacoby.


Seine politische Stellung beruht weniger auf einer hervorragenden Persön¬
lichkeit, als auf der Meinung. Ich wähle ihn als einen Leitfaden für eine Reihe
von Ereignissen, die sich zusammen ganz wohl zu einem Bilde gruppiren lassen.
Werfen wir zunächst einen Blick auf den Königsberger Liberalismus von 1840.


Im Ganzen war viel monarchischer Sinn in der Provinz. In der Anwesen¬
heit der königlichen Familie im Jahr 1809 hatten sich gemüthliche Beziehungen
angeknüpft, die noch lebendig in der Erinnerung blieben. Der König war über¬
haupt sehr populär, eben weil er durchaus nicht nach Popularität jagte. Der
Deutsche legt immer viel Gewicht auf den Privatcharakter, und die große Einfach¬
heit und sittliche Strenge Friedrich Wilhelms III. imponirte, auch wenn man von
seiner geistigen Begabung nicht viel hielt und sich über einige drollige Erscheinun¬
gen seines Wesens — z. B. sein Sprechen in Infinitiven — einen unschuldigen


[436]

Spaß erlaubte. Die Freiheitskriege waren sehr lebhaft im Gedächtnisse. Zudem
fühlte man den Druck des Polizeistaates nicht besonders. Die Behörden waren
zum großen Theil liberal; so der Oberpräsident v. Schön, der Polizeipräsident
Abegg, von den Oberbürgermeistern und Rathsangehörigen gar nicht zu reden.
Die Censur merkte man nicht, denn in der Provinz selber wurde nichts geschrie¬
ben, das Bedürfniß der masurischen Pastorensöhne beschränkte sich in der Regel
auf die Compendien, und wer ein Gelüste nach verbotenen Früchten hatte, fand
den Börne, die Wally und Aehnliches bequem in jeder Leihbibliothek. Die Idee
der Judenemancipation war noch nicht herrschende Stimmung, wenn man auch
religiös sehr tolerant war; bei Juden dachte man zu sehr an die Branntwein¬
schenken in der Vorstadt und an die Hausirer; von den Corporationsbällen der
Kaufmannschaft waren die Juden ausgeschlossen und auf ihr eigenes Local, die
Harmonie, angewiesen. Die Orthodoxie blieb in dem engen Kreise kleiner Leute,
die sonntäglich den langen Weg in die haberberger und sackheimer Kirche zurück¬
legten, im Uebrigen gab sie kein Aergerniß, man scherzte über die alten steifen
Pastoren, wenn sie in ihren urväterlichen Kanonenstiefeln bedächtig über die
Straße schritten und die Huldigung von diesem oder jenem alten Mütterchen an¬
nahmen, das noch auf „frommer Väter Weise“ den Herrn verehrte, aber man
fand keine Veranlassung in directe Opposition zu treten. In dem berüchtigten
Muckerprozeß, der freilich einem kleinen Theil der hohen Aristokratie einen harten
Stoß gab, hatte die Staatsgewalt und selbst die Orthodoxie gegen die Ausschwei¬
fung des Mysticismus Partei genommen; in der Kölner Frage ging ganz Königs¬
berg mit der Regierung gegen den Ultramontanismus Hand in Hand.


Doch waren auch oppositionelle Momente in Menge vorhanden. Einmal war
die Bürgerschaft durch die Schuldenlast aus den Freiheitskriegen her gedrückt,
eben so wie ein großer Theil des ostpreußischen Grundbesitzes. Man hatte da¬
mals viel geopfert und fühlte sich in tausendfachen Beziehungen zurückgesetzt. Dem
Handel war durch die russische Grenzsperre ein tödtlicher Schlag versetzt, Königs¬
berg verarmte und sah mit einem gerechten Ingrimm die fortdauernde Intimität
des preußischen Cabinets mit dem russischen Kaiser, während Rußland alle Lebens¬
adern des preußischen Wohlstandes aussog. Um so gehässiger war dieses Bünd-
niß, da die bestehende Cartelconvention fortwährend zu widerwärtigen Scenen —
der Auslieferung von Flüchtlingen — Veranlassung gab und die Sage von der
russischen Barbarei bei der consequenten Abschließung dieses Reichs durch seine
größere Nähe keineswegs gemildert wurde. Zudem war man den adeligen Offi¬
zieren abgeneigt, die zwar bei jedem Ball von Reputation unentbehrliche Figuren
schienen, die aber hier so wenig wie in den andern Provinzen geeignet waren, das
natürliche Ehrgefühl des Bürgerstandes mit ihrer exceptionellen Stellung zu ver¬
söhnen. Der Offizierstand war in Königsberg viel abgeschlossener, viel mehr auf
seinen eigenen Kreis beschränkt — die Artillerie immer ausgenommen — als in
[437] Berlin und dadurch die an sich schon schiefe Stellung eines unproductiven Berufs
noch erschwert. In Berlin herrscht wenigstens unter einem großen Theile der
Offiziere das Bedürfniß der Bildung, man sieht sie vielfach in den Collegien,
gemischt unter die Studenten, in sorgfältigem Nachschreiben beschäftigt. In Kö¬
nigsberg galt das nicht für fashionable, wozu freilich die abscheuliche Localität
des Universitätsgebäudes das ihrige beigetragen haben mag, man füllte seine Zeit
mit Pharao und ähnlicher Beschäftigung aus. Das allgemeine Gerücht, daß der
Kronprinz den Adel und die Pietisten wieder begünstigen werde, hatte sich auch
hierher verbreitet, obgleich das Organ der nachmals herrschenden Partei, das Ber¬
liner politische Wochenblatt, wenig Eingang fand, und die einzelnen Züge, die
man aus seinem Leben in einer Masse, die mit den altenfritzenschen Anecdoten
wetteifern konnten, erzählte, schmeckten zu sehr nach Berlin, seinem blasirten Witz
und seiner Arroganz, als daß sie der innerlichen, reflectirten Denkweise der Ost¬
preußen zusagen konnten.


Eine andere Art der Opposition setzte sich bei einem Theil der Aristokratie
fest. Es war der engere Umgang des Oberpräsidenten v. Schön. Dieser Staats¬
mann aus der alten Stein'schen Zeit, die seit 1822 durch die Reaction gegen das
Gespenst der Demagogie in den Hintergrund gedrängt war, hat später in dem
bekannten „Woher und wohin?“ eine Art politischen Glaubensbekenntnisses
veröffentlicht. Es fordert wesentlich Einschränkung der Bureaukratie zu Gunsten
der ständischen Selbstregierung. Schön war in der Provinz nicht gerade populär,
sein brüskes Wesen hatte oft verletzt und er galt als Aristokrat. Es war eigent-
lich nur eine kleine Partei adeliger Grundbesitzer, die Auerwalds u. s. w., die
auf seine Ideen eingingen. Er, wie seine Partei hofften auf eine Zukunft; sie
waren mit dem Kronprinzen zum Theil persönlich befreundet und rechneten auf
eine nähere Einigung. Auch sie wollten nicht radikales Abbrechen mit der Ver¬
gangenheit, sondern ein „organisches Fortbilden“ auf dem bestehenden Rechtsboden.
Die Provinzialstände waren das einzige größere ständische Institut, sie hatten zu¬
gleich etwas Naturwüchsiges und Liberales, von ihnen sollte also die weitere
Entwickelung ausgehen. Aber sie hatten keinen Halt im Volke; man horte nichts
von ihnen, als die Landtagsabschiede, wo man dann erfuhr, daß sie über ver¬
schiedene Gegenstände, die in der Regel nur ein höchst locales und particuläres
Interesse hatten, eine Bittschrift eingereicht hätten und abschläglich beschieden wä¬
ren. Man kümmerte sich daher im Ganzen wenig um die Wahlen; der Bürger¬
stand war wegen der beschränkenden Bedingungen sehr schlecht vertreten und die
Bureaukratie mit ihren Accidentien, Gerichten u. s. w., hatte immer wenigstens
den Vorzug größerer Einsicht voraus, ja sie war im Ganzen demokratischer,
man gelangte zu ihr nicht durch zehnjährigen Grundbesitz, sondern durch ein Exa¬
men. Der Polizeistaat mußte es arg machen, wenn man auf diese Reste der
alten Feudalität seine Hoffnung setzen wollte. Der oppositionelle Liberalismus
Grenzboten.III. 1848. 56
[438] war sich daher dieses seines Inhalts noch gar nicht bewußt, bis die Eigenthüm¬
lichkeit der Umstände ihn dahin wies.


Die Jugend machte sichs leichter, sie hielt sich an die Kritik. In der Sie¬
gel'schen Conditorei hatte sich ein Kränzchen des schöngeistigen Liberalismus ge¬
bildet, aus „geistreichen“ Dilettanten zusammengesetzt; Walesrode, nachmals
durch seine humoristischen Ausfälle bekannt, war die Seele desselben. Man trieb
hier die Politik mit dem Bewußtsein eines superiören Standpunktes, man machte
Witze auf das Militär, man hänselte die Obscuranten — z. B. den bekannten
Rintel, der sich das Recht des Kölner Erzbischofs klar machte, katholisch wurde
und die erst ultramontane, jetzt radikale Oderzeitung redigirte — man war über
Vieles hinaus, kurz es war ziemlich ein Berliner Wesen, wie denn auch die Ele¬
mente dieses Kreises Königsberg in keiner Weise angehörten.


Wenn etwas geeignet war, jenen Sagen über die Urwäldlichkeit Königsberg's
Glauben zu verschaffen, so war es das Studentenleben. Diese weißen, zottigen
Fläusche, die man Winter und Sommer trug und die bei der beständigen Routine
im Löbenichtschen Urbier, dessen naturwüchsige Ursprünglichkeit das Bairische Ideal
noch nicht verdrängt hatte, durch die beständig [eingesogene] Feuchtigkeit eine solche
Consistenz gewannen, daß man sie auf den Boden stellen konnte, ohne daß sie
umfielen — sie gaben den Masurer und Lithauer Hinterwäldlern ganz das An¬
sehen von Eisbären, die sich zum Spaß mit einer rothen Mütze ausgeputzt hatten.
Die Königsberger Universität war von den demagogischen Umtrieben der zwanzi¬
ger und dreißiger Jahre nicht berührt worden. Es hatte eine Burschenschaft exi-
stirt, sie hatte sich aber selber aufgelöst, weil sie nichts mit sich anzufangen
wußte, und die Koryphäen derselben hatten sich als Corps constituirt, eine Form
der studentischen Maskerade, die am Pregel als eine Neuerung das naive Lands-
mannschafterwesen unterbrach. Man fing einmal eine Untersuchung wegen staats-
gefährlicher Verbindungen an und entdeckte, daß die eine Verbindung ein Wap¬
pen habe, worin zwar der Preußische Adler, aber auch einige Embleme von be¬
denklichem Jacobinismus wären; da indessen die patriarchalische Regierung der
Universität sehr gemüthlich war, so begnügte man sich damit, die Betheiligten vor
fernern demagogischen Umtrieben zu warnen. Es gab allerdings eine legitime und
eine modern aufgeklärte Partei: die Rothhäute tranken Bier und Schnaps, lagen
täglich auf der Mensur, trugen Fläusche und gingen mit Mienen einher, in de¬
nen das ganze Bewußtsein des Comments sich ausprägte; die Yankees tranken Thee,
lasen Stücke mit vertheilten Rollen und kleideten sich in reactionäre Tuchröcke.
Im Ganzen herrschte eine große Faulheit, und der allerdings vorhandene Libera¬
lismus hielt sich sehr im Allgemeinen. Rosenkranz suchte auf die Gesinnung
wie auf die Gesammtbildung einzuwirken, insofern mit Glück, als der Provinciale
doch nun sich einige Phrasen der deutschen Cultur aneignen konnte; der Bevor¬
zugte lernte über Kant, Schiller und andere Schriftsteller mit Anstand sprechen;
[439] alljährlich wurde eine Festrede zu Ehren Kant's gehalten. Rosenkranz liebte es,
junge Talente um sich zu sammeln; damals wurde es Sitte, sich lyrisch gehn zu
lassen, zuerst in sentimentalen Trinkliedern, doch spielte bald die Freiheit im All¬
gemeinen und der aufgeklärte Patriotismus hinein, und es fehlte weder die Heinesche
Zerrissenheit noch die Grün'sche Reflexionspoesie. Die Mehrzahl der Professoren
hielt auf rationalistische Auffassung der Geschichte, des Rechts, der Theologie; die
pietistisch gesinnten jungen Theologen kamelisirten und kamen im Studentenleben nicht
viel in Betracht. Lobeck kämpfte in seinem philologischen Seminar mit Erfolg
gegen alle romantischen Einfälle, die seiner Wissenschaft zu nahe traten; er galt
als Republikaner, da er ohnehin mehr in Rom und Athen, als in Königsberg
lebte. Schubert, Voigt, Drumann waren entschieden Preußisch gesinnt; Schu¬
bert stellte mit einem diplomatisch feinen Lächeln die Spießbürgerlichkeit der alten
Republiken dem complicirten modernen Staatsleben gegenüber ins Licht; er liebte
es, mit Personen von Stande umzugehn und ironisirte bei seinen Schülern ein
etwa hervortretendes jugendliches Interesse an der französischen Revolution, aber
er war dabei aufgeklärt und gegen allen Obscurantismus in der Kirche wie im
Staate. Mit den staatsökonomischen Kollegien richtete er nicht viel aus, man
lernte ebendie Hefte, soviel zum Examen nöthig war und dachte conservativ ge¬
nug, sich am Gegebenen genügen zu lassen. Voigt stand mit dem Oberpräsiden¬
ten in näherer Verbindung; er war schon seiner amtlichen Beschäftigung nach,
seinen archivarischen Arbeiten nämlich, Royalist; Drumann war es im Princip, er
sah die ganze römische Geschichte bis auf Cäsar nur als Vorbereitung an für die
monarchische Verfassung, die später eintrat. Auch der Jurist Simson, der ge¬
genwärtig in Frankfurt ist und der durch einen fließenden Vortrag imponirte, war
loyal; er wußte sich etwas darauf, im Tribunal zu sitzen und so dem Staate nä¬
her anzugehören.


Auf legitime Weise wurde also der oppositionelle Sinn der Studirenden
nicht genährt. Dagegen blieb eine stille Opposition. In keinem Corps wurde
der präjudicielle Vers des Landesvaters gemacht. Bei den rechten Studenten galt
es für schlechten Ton, sich mit Politik abzugeben oder gar die Zeitung zu lesen;
aber hin und wieder verirrte sich ein alter Bursch, der von fremden Universitäten
relegirt war, nach Königsberg und sah mit dem ganzen Bewußtsein eines verfolgten
Patrioten auf die gewöhnlichen Sterblichen herab. Je stoffloser dieser Radicalismus
war, desto gründlicher verachtete er das Bestehende. M[a]n las seinen Thiers und Mignet
und schwärmte demnach für Mirabeau und Danton — bis zu Robespierre ver¬
[st]ieg man sich noch nicht; man war Republikaner, verachtete die Deutschen und
las in der Allgemeinen Zeitung nur die Französischen und Englischen Artikel; man
trieb nur grande politique und combinirte eine beliebige Niederlage Esparteros mit
einem Tscherkessischen Krawall, und glücklich in diesem Bewußtsein großer Princi¬
pien hielt man sich des politischen Details für überhoben und trieb die sonstigen
56*
[440] studentischen Geschäfte wie die andern Menschenkinder. Ich erinnere mich, daß ich
damals einem Masurensenior sehr imponirte, als ich ihm auf die Frage, ob Preußen
einmal eine freie Verfassung haben würde, zur Antwort gab, Preußen sei seiner
Geschichte und seinen Verhältnissen nach ein unnatürlicher Staat und könne sich
nur dadurch cultiviren, daß es untergehe.


In dieser Art von abstraktem Radikalismus lag viel Gefahr für die Zukunft.
Die Regel war freilich, daß er in den spätern Berufsarbeiten als überflüssiger
Zierrath bei Seite geworfen wurde, aber auch dann blieb das dunkle Gefühl:

„es
ist etwas faul im Staate Dänemark!“

Wie die französische Erhebung von 1789
ging der deutsche Liberalismus nicht von dem Gefühle bestimmten Bedürfnisses,
der Einsicht in bestimmte Zustände aus, sondern es war ein unbestimmtes Ver¬
langen, ein Mißmuth, der sich über seinen Grund selber nicht klar wurde. Auf
der Bureaukratie beruhte die Kunst des Staats; diese war auf den Universitäten
gebildet und hatte von dorther als Tradition das Bewußtsein mitgebracht, der
Staat tauge nicht viel; dieses Bewußtsein stand mit den spätern Geschäften, die
strenge nach der alten ererbten Methode fortgeführt wurden, in keinem Verhält¬
niß, es konnte durch sie weder entwickelt noch aufgehoben werden; man vergaß
es zu Zeiten, aber es blieb latent und mußte dann bei einem elektrischen Schlag,
in seinen alten, rohen Abstraktionen hervortreten. So ist es jetzt geschehen; und
der Staat muß schwer dafür büßen, früher ein transcententes Wesen vorge¬
stellt zu haben, denn auch seine Priester und Leviten trugen, als Glied des Vol¬
kes, den Haß gegen ihren eigenen Dienst im Herzen. Nicht quantitativ sondern
der Qualität nach von diesem — man erlaube mir den Ausdruck — studentischen
Radikalismus war die naturwüchsige Opposition der Städte, der Gutsbesitzer,
der rationalistischen Geistlichen u. s. w. verschieden. —


Man hörte damals hin und wieder von einem jüdischen Arzt, Dr. Jacoby,
der verbotene Bücher verbreiten sollte. Verbotene Bücher! was thaten uns die,
da wir in unserm abstracten Freiheitsbewußtsein über alles Bestimmte längst hin¬
aus waren! Jacoby's Zeit fiel lange vor unserer Tradition, wir konnten uns
für ihn nicht interessiren.


Der alte König starb und es erfolgte der bekannte Huldigungslandtag. Vor¬
her machte einer unserer Commilitonen — auch das ist ein ostpreußischer Zug —
den Antrag, wir sollten den neuen König, der zugleich unser Rector magnificus
war, ersuchen, dem Staat eine Constitution zu geben. Freilich wurde er aus¬
gelacht und die Bestrebungen der Studentenschaft absorbirten sich in dem Interesse
der Festlichkeiten, in denen sie eine Hauptrolle spielte.


Der König hatte den Preußischen Ständen die Frage vorgelegt, ob sie nicht
alte Privilegien hätten, die er vor seiner Krönung ihnen bestätigen sollte. Die Ant¬
wort, die sie ihm gaben, und die zum ersten Mal die Augen Deutschlands auf
dieses bis dahin gar nicht beachtete Institut lenkte, lautete: Allerdings haben
[441] wir ein solches, die Bundesacte; diese verheißt uns eine reichsständische Verfas¬
sung, und wir ersuchen Dich, König, uns eine solche zu geben.


Wie ist es zu erklären, daß die königliche Antwort: in dem Sinne wolle er
nun wohl keine Verfassung geben, doch er gedenke allerdings die ständische
Entwickelung zu fördern; daß diese Antwort den Landtag ganz glücklich machte?
daß sie ihm als eine Gewährung seiner Bitte erschien, bis der König in einem
zweiten Erlaß das Abschlägliche derselben schärfer accentuirte.


Davon will ich gar nicht sprechen, daß die Rede des Königs vom Balkon des
Schlosses die alten Bürger so bewegte, daß so mancher Ultraliberale sich kaum der
Thränen enthalten konnte. Ein redender König! das war ja noch gar nicht dagewesen!
Und noch dazu ein feierlicher Schwur! Was dieser Schwur enthielt, darauf kam
weniger an; Walesrode hat später mit Recht darauf aufmerksam gemacht, daß es
sich eigentlich von selbst verstände, man müsse ein

„gerechter, milder und barm¬
herziger König“

sein, weil man ohne das ein Nero und Busiris wäre, aber

„wer
denkt daran in einer Schäferstunde?“

Ich erinnere an Georg Herwegh, der noch
in seiner radikalsten Zeit, in dem bekannten Gedicht an den König von Preußen
nicht lebhaft genug den Eindruck zu schildern weiß, den jener Schwur auf ihn
gemacht.

‘„Es erscholl so feierlich: Ich schwöre!"’
‘„Ach mein Jesus!“’

sagt
die Amme in Romeo und Julia;

„ihr schwört? das will ich meinem Fräulein
sagen.“

‘„Aber gute Frau! Du hörst ja gar nicht, was ich verspreche.“’
‘„Einerlei!“’

Ein Einziger von den liberalen Bürgern störte seinen gerührten Nachbar
durch die frostige Bemerkung:

‘„Er spielt gut!“’

— Man spielt aber in solchen
Augenblicken doch nur seinen eigenen Charakter. Im Uebrigen war es nur die
ältere Generation, die, trotz aller oppositionellen Gelüste im Grunde des Herzens
monarchisch gestimmt, sich dem Eindrucke hingab; die Jugend, aufgewachsen im
Widerstreben gegen die Restauration, blieb kälter.


Jene Selbsttäuschung des Landtags hatte einen einfachen Grund. Seine For¬
derung war ihm nicht natürlich erwachsen, sie war ihm künstlich beigebracht, und
ihm selber unklar. Die Landtage hatten bei ihrer höchst beschränkten und unpro-
ductiven Thätigkeit kein Selbstgefühl gewinnen können, noch weniger eine Ansicht
über die Gesammtverfassung des Staats. Nur die vorhin bezeichnete aristokratisch-
liberale Partei des Herrn v. Schön wußte, was sie wollte. Die Meisten der
Uebrigen waren in dem Wahn, sie kämen mit ihrem Antrag nur einem entschiede¬
nen Wunsch des Königs zuvor; er erwarte so etwas von ihnen. Ja mir scheint,
als ob Schön sich selber davon überredet hätte; einen gelinden Anstrich phan¬
tastischen Wesens kann man bei diesem ausgezeichneten Staatsmann nicht verken¬
nen. Ein großer Theil der Mitunterzeichner jener Adresse gerieth, als die ent¬
gegengesetzte Ansicht des Königs bekannt wurde, in Besorgniß, man möge ihre
Loyalität verkennen; sie protestirten nachträglich gegen ihre eigne Bitte.


Auf jenen fliegenden Enthusiasmus folgte, wie es zu erwarten war, eine ge-
[442] wisse Abspannung. Man sah mit Befremden, daß in die neue Regierung ein
Reactionär nach dem andern eingeführt wurde, sie gewann immer mehr eine pie¬
tistisch-doctrinäre Färbung. Indessen war doch der Fortschritt des politischen Le¬
bens gegen die alte Polizeistille unverkennbar. Die Censur wurde gemildert, die
Zeitungen fingen an, von Thiers und Guizot zu abstrahiren, und sich um die
vaterländischen Angelegenheiten zu kümmern. Dem König war es Ernst mit dem
neuen Leben; gern hätte er, was ihm am Herzen lag, in der freien Entschließung
aller seiner Unterthanen wiedergefunden; gern hätte er die „herzgewinnenden“ Doc-
trinen, in denen er aufgewachsen war, in dem bewegten Leben des Staats ver¬
wirklicht gesehen. Schlimm genug, daß diese Doctrinen dem Bewußtsein der Zeit
widersprachen; die Romantik mußte doch früher oder später, da die Bewegung
nicht in ihrem Sinne ausfiel, sich in das Capitol des alten Polizeistaats zurück-
flüchten.


Eine der ersten Maßregeln, in denen sich diese Reaction aussprach, war die
versuchte Unterdrückung der „Vier Fragen“. Diese kleine Broschüre hat ein
ähnliches Aufsehen gemacht, als Sieyes berühmte Erklärung über den Tiers-
Etat. Sie suchte nachzuweisen, daß die Forderung des Königsberger Landtags
nichts anderes wollte, als den Rechtszustand, der durch eine widerrechtliche Re¬
action hintertrieben sei, wiederherzustellen; daß es früher wirklich in der Absicht
der Regierung gelegen habe, denselben ins Werk zu setzen — mit einer gewissen
Ironie wurden Aussprüche der früheren Minister und des Königs selbst citirt —;
daß die sogenannte organische Entwickelung des altständischen Wesens auf keine
Weise der ursprünglichen Anlage entspräche, daß sie vielmehr unmögliche Zustände
künstlich von neuem ins Leben zu rufen und durch eine Scheinvertretung die recht¬
liche Ausbildung des Staats unmöglich zu machen suchte. Die letzte Frage lau¬
tete: Was sollen die Stäude jetzt thun? — Was sie früher als Gnade
erbeten, jetzt als Recht in Anspruch nehmen.


Das war eine Sentenz, keine positive Antwort, doch das alte Preußenthum
fuhr zusammen. Ein Recht dem königlichen Willen gegenüber! Man sah einfach
darin eine Aufforderung zur Rebellion. Jacoby interpretirte sie nachher als eine
Aufforderung zur

‘„motivirten Wiederholung jenes ersten Antrags“’

. Im Wortlaut
lag in der That nicht mehr, und vor Gericht mußte Jacoby freigesprochen werden.
Der Sinn war aber doch ein anderer.


Wäre ein Obmann zwischen uns und Oestreich

So könnte Recht entscheiden und Gesetz.

Doch der uns unterdrückt, ist unser Kaiser.“

Die Brochüre imponirte einestheils durch die Schärfe und Bestimmtheit, mit
der ausgesprochen war, was man sich gestand selber fühlen zu müssen; andrerseits
durch ihre große Ruhe und Gelassenheit. Der Verfasser wurde bald bekannt, und
die reactionäre Partei hatte wieder Gelegenheit, gegen den gottverfluchten Samen
[443] Jacobs ihre Flüche zu schleudern. Ganz Deutschland jubelte bei dieser ersten Bot¬
schaft, das reactionäre Preußen sei endlich zum Bewußtsein gekommen, und werde
sich nun den liberalen Tendenzen seiner süddeutschen Brüder mit der Entschieden¬
heit und Kraft einer Großmacht auschließen. Dem freigewordenen Preußen wäre
man nicht abgeneigt gewesen, die Hegemonie zuzugestehen. Die Idee des Rechts¬
staates wurde ein Stichwort der liberalen Partei.


Man vergaß, daß ein Rechtsverhältniß nur zwischen constituirten Parteien
stattfinden kann; das Preußische Volk hätte erst constituirt sein müssen, um der
Krone gegenüber Rechte in Anspruch zu nehmen. Die Anhänger der alten legi¬
timen Feudalstäude konnten so sprechen, der Radicale nur mit halbem Herzen.
Jacoby verwarf ausdrücklich die ständische Vertretung. Ihm war der Rechtsboden
nicht Princip, sondern Waffe.


Der ganze Rechtsboden beruhte auf einem einseitigen Versprechen. Der
Schüler der Romantik konnte mit Faust antworten:


Braust nicht die Welt in allen Stürmen fort?

Und mich soll ein Versprechen halten!

Auf der andern Seite ist aber nicht zu leugnen, daß die sonst übliche Argu¬
mentation — der Zweckmäßigkeit — eben so schwierig ist. Es wird schwer sein,
die Krone zu überzeugen, daß es für sie zweckmäßiger sei, beschränkt als unbe¬
schränkt zu herrschen, so lange die Tradition des aufgeklärten Despotismus von
Friedrich, Joseph und Napoleon hier noch in den Köpfen spukt. Allerdings wäre
es für Karl I. zweckmäßiger gewesen, wenn er nach dem Gesetz regiert hätte, denn
er wäre dann nicht geköpft worden; aber so etwas mag man nicht voraussehen.


Jacoby's Schrift hatte nichts „Herzerwärmendes“, um mich dieses officiellen
Ausdrucks noch einmal zu bedienen; sie war sententiös und in der juristisch-ab-
stracten Logik der alten Schule gehalten. In den beiden Denkschriften, die er zu
seiner Vertheidigung den Gerichten einreichte und später veröffentlichte, ist diese
Methode viel glücklicher angewendet. Es ist hier die eigne Dialektik des Poli¬
zeistaats, dessen einzelne Bestimmungen in ihrer innern Hohlheit sich einander
widerlegen. Durch seinen Rechtsspruch erkannte das Tribunal diese Dialektik an,
und die Regierung hatte ohne Nutzen ihre reactionären Gelüste verrathen.


Bei dem raschen Aufschwung der Presse ging Königsberg voran. Die Har-
tungsche Zeitung, sonst ein bloßes Localblatt, brachte täglich einen leitenden Ar¬
tikel, worin die Anforderungen des Liberalismus in scharf pointirter und populärer
Fassung dargestellt waren. Es waren die positiven Dogmen der politischen Frei¬
heit, nach Rubriken geordnet, ohne den Aufwand philosophisch-dilettantischer
Dialektik, in welchem sich in derselben Zeit die Rheinische Zeitung erging. Beide
waren reicher an Wünschen, Hoffnungen und Postulaten, als an bestimmten
Begriffen, wie im Einzelnen das politische Ideal durchgeführt werden sollte; beide
hatten den Fehler, zu wohlgefällig mit ihrer Gesinnung zu coquettiren. Die
[444] Rheinische Zeitung hatte mehr Raum, und konnte daher concreter sein; in dem
Lapidarstyl der Konigsberger lag eine gewisse Dürftigkeit. Die eintretende Re¬
action brachte sie nach zweijähriger Wirksamkeit zum Schweigen; sie hätte ohnehin
nicht viel mehr zu sagen gehabt, sie hätte denn bei § 1. wieder anfangen müssen.
Im Uebrigen ist nicht zu leugnen, daß in dem frischen Muth, in dem jugendlich
heitern Glauben, der die damalige Presse belebte, etwas unendlich Anziehendes
lag; die Zeit von 1843 machte mit ihrer verbitterten Kritik einen viel unange¬
nehmern Eindruck.


Jene Artikel in der Hartungschen Zeitung waren vorzugsweise von Jacoby
angeregt. Sie verschafften Königsberg den Ruhm der gesinnungstüchtigen Stadt
par excellence, von Baden bis den Rhein hinunter blickte man mit einer ge¬
wissen Bewunderung auf sie hin. Der Landtag, durch seinen ersten Erfolg über¬
rascht, raffte sich auf; der Magistrat und die Bürgerschaft beeiferten sich, bei jeder
passenden Gelegenheit ihrer Gesinnung freien Lauf zu lassen; das Zeitungslesen
bei der studirenden Jugend nahm überhand; angesehene Männer, wie der Justiz-
commissarius Crelinger, dessen Talent damals geachteter war, als sein Charakter,
stellten sich mit an die Spitze der Bewegung; die Phalanx der liberalen Aristo¬
kratie schloß sich enger zusammen; Walesrode hielt seine humoristischen Vorlesungen,
und propagirte den Ruhm der Königsberger Gesinnung in Süddeutschland; es
wurden Volksversammlungen gehalten, an denen Jacoby lebhaften Antheil nahm
— freilich nicht als Redner, denn seine Logik ist abstract: er ist in seinem Libe¬
ralismus dogmatisch, nicht dialektisch, und hat zu wenig Objectivität, um über
die einfache Behauptung hinaus auf nähere Begründung im Sinne Andersden¬
kender einzugehen, er ist abhängig von dem Inhalt seines Glaubens, und versteht
seine Gegner nicht, darum kann er weder ein Volksredner, noch eine parla¬
mentarische Notabilität werden; es fehlt ihm Pathos wie Humor. Wenn die
Wahrheit sich in die abstracte Form rationeller Decrete bringen ließe, so wäre er
ein Politiker; so aber bleibt er immer außerhalb des Staatslebens, wie er auch
in seiner bürgerlichen Stellung und als Junggesell der eigentlich lebendigen Ver¬
wickelung der Interessen fremd bleibt.


Mit Herwegh's Besuch in Königsberg, der damals vor seinem schwärmerischen
Auditorium — er kam bald nach Liszt — erklärte, nur die Jugend sei für das
neue Staatswesen gemacht, und man müsse die Freiheit bis zum Wahnsinn lie¬
ben, beginnt die Reaction. Die Volksversammlungen wurden zuerst auf unerträg¬
liche Weise belästigt, dann ganz unterdrückt; der freien Presse stellte man erst eine
gouvernementale gegenüber, dann bändigte man sie durch die Censur — was in
Königsberg um so leichter war, da die abstract dogmatische Form des Liberalis¬
mus durch einfache Striche zu beseitigen ist, während die dialektische Freiheit
schon mehr Umstände macht. Man schmuggelte berüchtigte Pietisten in die theo¬
logische Facultät ein, man gab Schön seine Entlassung, und ersetzte ihn durch
[445] Böttiger, ein reines Werkzeug der Camarilla; man entfernte Abegg und machte
Lauterbach zum Polizeipräsidenten, dem es auch bald gelang, das Institut der
Polizei der gesammten Bürgerschaft so verhaßt als möglich zu machen; man erhob
Lucas zum Schulrath, dessen pietistische Färbung um so gehässiger war, da er
früher als Burschenhafter mit der Demagogie geliebäugelt hatte und da er in
seiner frühern Stellung als Gymnasialdirector in den Ruf der Zweideutigkeit ge¬
kommen war; man schärfte von Oben her den antiliberalen Sinn der Offiziere
und veranlaßte sie zu noch größerer Abschließung. Die Stadtbehörden wurden
durch brüske Entscheidungen verletzt, es sah aus wie ein abgekartetes Spiel, die
Königsberger für ihre Gesinnung zu ärgern. Die Stimmung der Liberalen wurde
immer verbitterter.


Es war die Zeit, wo der Liberalismus in seiner politischen Richtung ge¬
hemmt, sich den abenteuerlichsten Werdegelüsten hingab. Der Gustav-Adolphverein
fand auch in Königsberg lebhaften Anklang, obgleich hier eine Opposition gegen
die katholische Kirche durch die Verhältnisse gar nicht motivirt war. Man betrach¬
tete ihn von liberaler Seite als eine politische Demonstration, doch der Vorsitzende,
Rupp, war zu sehr Theolog; als Jacoby sich betheiligen wollte, versagte er dem
Juden die Aufnahme. Aehnliche Züge, gleich unbedeutend und doch nicht zu
übersehen, finden sich mehrere; Jacoby wurde dadurch immer mehr in den Radi¬
kalismus hineingedrängt — d. h. in die Form des Liberalismus, welcher der
Boden unter den Füßen entzogen wird und die sich dadurch veranlaßt sieht,
den ganzen Rechtsboden für eine tabula rasa, eine Schöpfung aus dem Nichts
für die einzige Form der Wiedergeburt zu halten. Zwar blieb Jacoby, eben sei¬
nes nüchternen, anscheinend leidenschaftlosen und ernsten Wesens wegen stets in
großer Achtung, auch bei der wohlhabenden Classe der Liberalen, die schon all-
mälig vor dem Ungestüm des Radikalismus scheu wurde; aber was half es! er
hatte keinen legitimen Boden für seine Thätigkeit. Von Außen her, wo er nur
Name war, wurde ihm größere Anerkennung zu Theil; er trat den süddeutschen
Radikalen näher und entfremdete sich Preußen mehr und mehr.


Bei der Jubelfeier der Universität sollte eine Art Versöhnung zwischen der Re¬
gierung und der Stadt gefeiert werden; sie mißlang gänzlich, im Gegentheil traten
die Parteien sich seitdem viel schroffer und gehässiger entgegen. Jacoby wurde jetzt
vorzugsweise von den jüngern Leuten getragen, die Opposition der liberalen Pro¬
fessoren, Studenten u. s. w. wurde ihm zu lau; die „Entschiednen“ fingen an,
an dem Bunde mit den „Halben“ zu verzweifeln.


Jacoby's zweite Schrift erschien; sie enthielt im Wesentlichen die alten Ge¬
danken, nur herber ausgedrückt. Er erklärte, die angebliche Rücksicht auf das Ge¬
fährliche eines Schrittes, wie ihn die liberale Partei forderte, könne den Bruch eines
Fürstenwortes nicht entschuldigen. Die alte Comödie mit der erfolglosen Unter¬
suchung, den Rechtfertigungsschreiben u. s. w. wiederholte sich; im Ganzen machte
Grenzboten.III. 1848. 57
[446] die Broschüre weniger Eindruck als die erste, weil jetzt die legitimen Vertreter
des Volks, die Stände, sich mit größerer Entschiedenheit der Sache annahmen.


In derselben Zeit hatte sich die philosophisch radicale Opposition, die sich
in den Jahrbüchern concentrirt hatte, mit Unterdrückung derselben aufgelöst. Die
Berliner hatten eine Reihe von Standpunkten des politischen Bewußtseins über¬
wunden und Bauer ließ eine heftige Anklage gegen Jacoby ergehn: sein Stand¬
punkt sei ein beschränkter, denn er hafte noch an dem alten Rechtsboden, seine
Forderungen seien unberechtigt, denn dem alten Ständewesen gegenüber habe der
Absolutismus recht und seine Waffen seien die unrühmlichen der Sophistik und
des Zurechtmachens. Bei der liederlichen radicalen Schule in Berlin, die sich in
der Regel darauf beschränkte, die Orakel ihres Meisters zu paraphrasiren, wurde
es nun Ton, den Ostpreußischen Liberalismus und seinen vermeintlichen Vertreter
Jacoby — den man den Leibarzt Sr. Excellenz des Ministers v. Schön nannte —
als eine reactionäre, halbe und bornirte Wirthschaft zu verhöhnen. Der Vorwurf
traf übrigens in gewissem Sinn, denn der Rechtsboden, mit dem Jacoby dem
Polizeistaate zu Leibe ging, war nicht mehr sein eigener, er glaubte nicht mehr an
die Heiligkeit seiner eigenen Waffen; er rühmte sich selber, im Geist weit über den
Standpunkt hinaus zu sein, den er, in Anbetracht der Umstände, in seinen Schriften
einnehme. Er besuchte Bauer bei seiner Anwesenheit in Berlin und wurde von
ihm mit dem Ausrufe des Staunens:

‘„Ach Herr Jesus!“’

empfangen.


Diese Anwesenheit fällt in die Zeit des Centrallandtags. Die Ueberraschung,
in welche das Volk durch das plötzliche Eintreten dieses so sehnlich erwarteten
Ereignisses gerieth, spiegelt sich am Besten in der Schrift von Heinrich Si¬
mon
: „Annehmen oder Ablehnen?“ Dem Gefühl nach sprach er vom
Rechte des Volkes, aber als Jurist konnte er sich doch nicht entschließen, weiter
als auf die Wähler der Provinziallandtage, d. h. auf die privilegirten Stände zu-
rückzugehn. Sein Herz stand mit seinem Verstände im Widerspruch und das hatte
auch Einfluß auf den resignirten Schluß. Wenn er nämlich in der neuen projec-
tirten Verfassung eine Schmälerung der bisherigen Volksrechte sah und Nichtan-
nahme derselben empfahl, so übersah er dabei, daß durch einen solchen Schritt
der alte Zustand keineswegs hergestellt werde.


Die Augen von ganz Deutschland waren damals auf Berlin gerichtet. Es
war in der That die entscheidende Stunde für Preußen. Hätte damals der Kö¬
nig dem Centrallandtage eine wahrhaft freie Wirksamkeit zugetheilt, sich auch ge-
gen eine Wahlreform nicht gesträubt, die damals noch sehr mäßig ausgefallen
wäre, so war die Hegemonie Preußens und vielleicht das allmälige Aufgehn Deutsch¬
lands in Preußen entschieden. Von allen Seiten strömten die Liberalen nach der
Hauptstadt; Jacoby traf mit Simon zusammen, indeß das beinah forcirt rationalistische
Wesen des Einen stimmte nicht recht mit dem fliegenden Enthusiasmus des Andern.


Damals sah ich Jacoby zuerst. Ein kleiner Mann mit stark rothem Gesicht
[447] von jüdischem Typus, schon etwas Glatze; in seinem ganzen Aeußern unscheinbar,
machte er doch mit seinen klaren, ruhigen Augen den Eindruck eines verständigen
und zugleich wohlwollenden Mannes. Von dem bei gebildeten Juden nicht selte¬
nen Ausdruck der Blasirtheit ist bei ihm keine Spur; er hat für Alles — auch
wo er kein Verständniß hat, z. B. in den Künsten — eine lebhafte Theilnahme
und beruhigt sich nie bei einer oberflächlichen Notiz. In Fragen und Antworten
bestimmt, aber karg, macht er zuweilen den Eindruck, als wolle er durch Zu¬
rückhalten imponiren; es ist aber keine Reflexion darin, es ist Natur. Er betont
fast jedes Wort, was bei seiner sententiösen Schreibart wohl zu erklären ist, zu¬
weilen aber drollig genug herauskommt, wenn der Accent eine ganz unwichtige
Phrase trifft.


Jacoby hatte wohl die Ansicht, im Verein mit seinen Freunden aus Ost¬
preußen auf die entscheidenden Schritte der Partei zu influiren. Die Ostpreußen
nahmen auf dem Landtage eine eigne Stellung ein; sie waren voll von den Si-
mon'schen Ideen und wiegten sich in dem Gedanken, in jedem bedenklichen Falle
austreten und an der ganzen Wirthschaft keinen weitern Theil nehmen zu wollen.
In dieser Ueberzeugung eines eventuellen großen Schrittes gaben sie sich aber keine
Mühe, im Detail ihr Verfahren voraus zu berechnen. Zudem waren sie, wie die
ältere Generation der Bürger und Gutsbesitzer im Allgemeinen, zu royalistisch, um
nicht jeden ernstlichen Conflict mit der Krone als einen innern Bruch zu em¬
pfinden. Sie zogen Jacoby nicht mit in ihre Berathungen; theils war er nicht
zünftig, theils hatten sie ihn wohl schon in Verdacht, zu radical zu sein. Auf
Jacoby hatte das einen entschieden ungünstigen Einfluß, er blieb in der Stellung
eines abstracten Kritikers und in dem Gefühle, daß alles schlecht gehe. Er würde
als Mitglied der Opposition eine sehr gute Rolle gespielt und sich durch bestimm¬
tes Wirken vielleicht von dem einseitigen Radicalismus befreit haben, der nun
durch die fortdauernde Erbitterung nur uoch genährt wurde. Ob er auf den
Landtag einen günstigen Einfluß ausgeübt haben würde, ist schwer zu sagen;
vielleicht hätte in dem günstigen Moment eine scharfe und rücksichtslos ausge¬
sprochene Meinung ihren Erfolg nicht verfehlt, doch ist dabei nicht zu übersehen,
daß er sich immer mehr in dem Gedanken wiegte, es müsse etwas Bedeutendes,
Entschiedenes geschehen, als daß er sich über die Art und Weise desselben ein kla¬
res Bild gemacht hätte. Zudem waren die andern Führer der Opposition wie
Vincke, Camphausen, selbst Auerswald an Talent ihm weit überlegen und hatten
eine ungleich günstigere Stellung.


Man muß damals in Berlin gewesen sein, um den Eindruck mitzufühlen,
den die Thronrede machte. Man hatte wenig Gutes erwartet, aber diese heraus¬
fordernde, ganz im Stil des vorigen Jahrhunderts gehaltene Sprache übertraf
doch alle Vorstellung. Der Charakter dieses Gemisches von Absolutismus und Ro¬
mantik kam im eben verhängnisvollen Augenblick zum Vorschein. Die Ostpreußen
57"
[448] wollten sogleich abreisen; man kann nicht sagen, ob die Empörung größer war
oder die Niedergeschlagenheit.


Als in einem engen Kreise die Thronrede vorgelesen wurde und Alles außer
sich war über diese Demonstration, welche in die heiligsten Gefühle des Volks
einschnitt, blieb Jacoby in seiner gewöhnlichen Stille.

„So hat noch nie ein
König zu seinem Volk gesprochen!“

rief der eine.

‘„Doch,“’

sagte Jacoby,

‘„Karl I.“’


Mich frappirte das: ist das ein Politiker, der eine ernsthafte Situation mit einem
Bonmot abmacht? denn ein Bonmot war es, nicht natürliche Empfindung.


Der liberale Adreßentwurf war Jacoby nicht scharf genug; es hieß, er wolle
im Verein mit einigen Ostpreußen von der entschiednen Richtung eine stärkere ent¬
werfen. Es wurde nichts daraus; im Gegentheil wußte Auerswald's diplomatische
Schlauheit, um eine Majorität hervorzubringen, die Bestimmtheit der Opposition
mit einer Phrase zu überdecken, die eben so wenig logisch als männlich war. Der
„große Schritt“ war verfehlt, wie es das Schicksal aller großen Schritte auf die¬
sem Landtag war, Jacoby blieb noch einige Zeit, seine Verstimmung zu nähren
und machte dann eine weitere Reise, wo er sich im Umgange, mit „entschiedenen“
süddeutschen Radikalen von dem schlechten Eindrucke, den seine Landsleute auf ihn
gemacht haben, erholt haben mag.


Wir wollen doch nicht vergessen, daß diesem Landtag, so viel man mit Recht
an ihm auszusetzen hat, im Ganzen ein sehr wohlthätiger Einfluß auf die Ent¬
wickelung des liberalen Bewußtseins in Preußen nicht abzusprechen ist. Er hat
die Ideen populär gemacht, die früher nur den Eingeweihten zugänglich waren;
er hat sie legalisirt. Er hat ferner die Ohnmacht des absoluten Staates an den
Tag gelegt und dem Volke durch populäre, allgemein geachtete Namen einen Halt
seines Selbstgefühls gegeben. Man mag jetzt über Vincke hinaus sein so weit
man will, an seinen Namen knüpft sich die erste Phase der preußischen freien
Politik.


Im Laufe dieses Landtages trennte sich die radikale — außerhalb der politi¬
schen Institutionen stehende — Ansicht entschieden von der liberalen; sie liebte es
damals, auf der einen Seite mit dem Socialismus, auf der andern mit dem Po-
lizeistaat zu coquettiren. Ich erinnere nur an die Zeitungshalle. Man fühlte,
oder man glaubte zu fühlen, daß der Unterschied nicht nur ein quantitativer sei,
daß er sich anch auf den Inhalt erstrecke.


Es kam die Revolution. In Königsberg war es schon vor dem 19. März
zu Unruhen gekommen, sie waren aber erfolglos geblieben. Nun kam die Barri¬
kadennacht in Berlin; Berlin, die wegen ihres Servilismus und ihrer Blasirtheit
so verachtete Residenz, war dem gesinnungstüchtigen Königsberg vorangegangen!
Man schämte sich, man fühlte den unbestimmten Drang, irgend etwas Bedeutendes
zu thun; aber was! — Der Absolutismus in Preußen ist geschlagen, aber er
besteht noch in Rußland, Rußland ist mit dem König verschwägert, es besteht
[449] sicher eine Conspiration, die junge Freiheit soll wieder gemordet werden, wir liegen
an der Grenze, wir können es hindern! Gesagt, gethan! Man hält einen Kurier
an, der über die russische Grenze will, man nimmt ihm seine Briefschaften ab,
aber man ist wieder zu ehrlich und hat einen zu gesetzlichen Sinn, um sie selber
zu öffnen, man bringt sie zum Commandirenden, er soll sie öffnen; dieser schlägt
es natürlich ab; nun weiß man nicht recht, was weiter zu thun ist, die Briefe
werden also dem Courier zurückgegeben und gehen ungehindert ihren Gang. Man
hat einen Streich gemacht und noch dazu umsonst.


Diese Geschichte hat Jacoby in der Provinz sehr geschadet. Man kam zur
Besinnung und fühlte sich deprimirt. Ueberhaupt trat hier, sobald die revolutio-
näre Frühgeburt in Frankfurt und der radikale Veitstanz in Berlin in ihrer wi¬
derlichen Nacktheit zum Vorschein kamen, eine entschiedene Reaction ein; der grö¬
ßere Theil der früheren Liberalen ist heute conservativ, und in dem Volke lebt
zu viel gesunder Menschenverstand und zu viel natürliches Rechtsgefühl, als daß
es den Einflüsterungen der modernen Levellers Gehör geben sollte. Es muß Ja¬
coby sehr gekränkt haben, als bei der Wahl für Frankfurt und Berlin in der
Provinz sein Name nirgends durchdrang, obgleich Königsberg einen andern jüdi¬
schen Arzt, Dr. Kosch, in die preußische Constituante schickte.


Auf den ersten Ruf eilte Jacoby, ohne sich in Berlin, das doch ein höchst
anziehendes Schauspiel bot, aufzuhalten, in das sogenannte Vorparlament. Er
hat hier nur zweimal gesprochen und zwar in den beiden entscheidenden Fragen
über die Permanenzerklärung und über die Nothwendigkeit, den Bundestag zu
epuriren, bevor man von ihm irgend eine Notiz nähme. Allein er gab nur einfach
seine Stimme ab, und hielt den dogmatischen Ausdruck seiner Meinung, wie ge¬
wöhnlich, für genügend. Bei dem stürmischen Charakter dieser wunderbaren
Versammlung hätte er sich ohnehin nicht geltend machen können; zum eigentlichen
Demagogen fehlt ihm schon das Organ. In beiden Fragen stimmte er mit der
Hecker'schen Partei, in dem Wahn, es gehöre blos der Entschluß dieser „Nota-
beln“ dazu, sich zur Regierung von Deutschland zu machen! Doch hatte er so
viel gesetzlichen Instinct, daß er sich zu den weitern Schritten dieser anarchistischen
Clique nicht hergab. Er wollte die deutschen Staaten auf gesetzlichem Wege um¬
werfen. Auch nahm er an den demokratischen Volksversammlungen keinen Theil.
Sein Ruf als Repräsentant des preußischen Liberalismus — den außer ihm ei¬
gentlich nur Soiron, Raveaux und Abegg verträten, war groß genug, ihm die
Wahl in den Fünfziger-Ausschuß zu verschaffen, obgleich er sich sonst in keiner
Weise geltend gemacht hatte.


Auch im Ausschuß spielte er keine bedeutende Rolle, Robert Blum drängte
alle seine Meinungsgenossen weit zurück. Jacoby hörte in der Regel ruhig zu —
eigentlich war das auch die Hauptaufgabe des ganzen Ausschusses — und stimmte
nur immer lebhaft bei, wenn gegen den Bundestag oder gegen Preußen irgend
[450] eine Grobheit decretirt wurde. Die alte Verbitterung trat nun frei hervor; sie
macht die Geschmeidigkeit gegen die Arroganz der süddeutschen Radikalen erklärlich,
ohne sie zu entschuldigen. Es war ein Unglück für Preußen, daß von den Män¬
nern, die von dem Staatsorganismus doch einen Begriff hatten, keiner in Frank¬
furt anwesend sein konnte, alle andern [Staaten] waren besser vertreten. Nach dem,
was früher von Jacoby berichtet ist, konnte man freilich eine Pietät gegen seinen
Staat nicht erwarten — eine Pietät, die sich mit ernster Kritik sehr wohl ver¬
trägt, die aber Kenntniß der heimischen Institutionen und Betheiligung daran
voraussetzt. Zudem erging sich nun das demokratische Gelüst des Plebejers, den
adeligen Herren, von denen man bis dahin geknechtet war, einen Fußtritt zu ge¬
ben, mit vollster Freiheit. Jacoby war es, der die Redensart, der Bundestag
dürfe nur ein Briefträger des Fünfziger-Ausschusses sein, zu Tode hetzte.


Von den beiden Geschäften des Ausschusses — unnütze Commissionen zur
Untersuchung localer Verhältnisse, die [ihn] nichts angingen, und Comités
zur Berathung überflüssiger Gegenstände — nahm er nur an den letztern Antheil.
Er war im Sicherheitsausschuß, in dem Ausschuß für Beschleunigung der Wahl,
und in den meisten übrigen. In den Mußestunden wiegte er sich, wie seine übri¬
gen Kollegen, in dem süßen Gefühl, Geschichte zu machen. Daß er lebhaft für
die Freiheit Polens arbeitete, ist bei seinem abstracten Liberalisinus, der den con-
creten Verhältnissen Rechnung zu tragen verschmäht, weil er sie nicht kennt, leicht
begreiflich.


Nachdem er vergebens gehofft hatte, in die Nationalversammlung, die ihn
eigentlich allein interessirte, einzutreten, traf ihn eine märkische Wahl für Berlin.
Vor Eröffnung derselben gab er eine kleine Schrift heraus, über das Verhältniß
der preußischen zu der deutschen Constituante. Er adoptirte die Ansichten seines
Freundes Blum, daß Preußen die Einberufung der Einzelstände nur darum be¬
trieben habe, um gegen die Nationalversammlung ein Gegengewicht zu bilden,
und erklärte es für Pflicht der preußischen Constituante, das Recht, die Verfassung
für Deutschland herzustellen, der Frankfurter Versammlung unbedingt zuzuerkennen,
und dann nach Lösung der laufenden Fragen auseinander zu gehen. Er glaubte
damals, wie es bei der Gegenpartei eben so der Fall war, das Frankfurter Par¬
lament würde radikaler sein, als das Berliner. In der Natur war eine solche
Voraussetzung begründet, doch hatten die Wahlen das Eigenthümliche, daß man
die theoretisch beglaubigten Notabilitäten, die Herren, nach dem fernern Frankfurt
schickte, nach Berlin dagegen, wo man die unmittelbaren Interessen betheiligt wußte,
seines Gleichen, den Bruder Bauer und Handwerker, oder wer der augenblicklichen
Stimmung das Wort redete. So ist es gekommen, daß die Paulskirche, die unorganisch
und künstlich zusammengebracht ist, einen geordneten, verständigen Gang nahm,
während die Berliner eben so wie die Wiener sich in ein Labyrinth sinnloser Irr-
gänge verlies. Es ist natürlich, daß sich demzufolge die Partei der Ordnung und
[451] des Rechts mehr und mehr nach Frankfurt wendet, während die Radikalen, die
ursprünglich die Einheit Dentschlands predigten, weil sie in derselben die Zersetzung
der wirklich bestehenden Staatsgewalten sahen, von dem Reich nichts mehr wis¬
sen wollen.


Zum ersten Male trat Jacoby auf, in dem berühmten Antrag über
die Anerkennung der Centralgewalt. Die Regierung hatte sie anerkannt,
zugleich aber die Voraussetzung ausgesprochen, daß sie den bestehenden Zu¬
ständen Rechnung tragen würde; für die Radikalen, denen es gar nicht
darum zu thun war, eine Centralgewalt zu haben, die das Bestehende schonte,
war solche Erklärung eine bedingte Anerkennung, d. h. eine Auflehnung gegen
die Souveränität der Nation. Jacoby's Antrag ging also dahin: die Pauls¬
kirche ihrer Entscheidung wegen zu tadeln, das Recht zu dieser Entscheidung aber
anzuerkennen, und demnach der Preußischen Regierung das Recht auch nur über¬
haupt der Anerkennung abzusprechen.

‘„Nach den Beschlüssen des Vorparlaments“’


u. s. w., so lautete immer die Argumentation dieser umgekehrten Legitimität. Jener
Antrag war nicht unlogisch, wie ihn Herr v. Berg nannte; er war zwar nach
verschiedenen Seiten hin gerichtet, hatte aber einen innern Zusammenhang. Er
betrachtete die beiden Versammlungen als Centralorgane des Volks, d. h. der
radicalen Gesinnung gegen die Regierung, und da konnte denn Bruder Volk sich
gegen den Bruder Volk schon einen Tadel erlauben, zudem er seinem Feinde, der
Regierung, das Recht absprach. Der preußische Particularismus, sofern er von
der Regierung ausgeht
, ist gegen die Souveränität des Volks, ebenso die
Einheit, wenn sie die Regierung hebt, indessen ist die letztere immer noch radi-
caler als die erste, weil sie als Regierung in partibus gegen die bestehenden Re¬
gierungen Partei nimmt.


Es ist Consequenz darin, aber — die Consequenz des unproductiven Radi¬
kalismus; es ist eine Strebsamkeit, aber eine abstracte und negative, die alte Kritik
gegen den Absolutismus ist festgehalten in einer Zeit, wo er bereits gestürzt ist,
und wo es die Organisation der neuen Ideen gilt. Nirgends finden wir bei die¬
sem Manne auch nur eine Spur von einem positiven Vorschlag, wo es etwas Be¬
stimmtes gilt; nie auch nur die Ahnung, daß es sich um etwas mehr handle, als
um eine bloß formelle Veränderung der Verfassung. Jacoby's Wirkung hat eigent¬
lich noch weniger Inhalt als Blum's, denn dieser nimmt den Mund voll, und
trägt immer dazu bei, das Volk zu cultiviren, dem er bei aller Oberflächlichkeit
doch an Bildung überlegen sein muß. Blum ist der Mann des Volks aus Na¬
tur; Jacoby aus Reflexion; seine Bildung streift, freilich dilettantisch, an aristo¬
kratische Genüsse; er kümmert sich ernstlich um Poesie u. dgl., er studirt den Feuer¬
bach, die Jahrbücher, er interesstrt sich für junge Talente, wahrend für Blum
nichts existirt, was nicht unmittelbare Beziehung auf seinen Zweck hat. Blum
verwendet Alles, was er gelegentlich aufgreift, in Redestoff; Jacoby drängt sei-
[452] nen wirklichen Inhalt zurück, um durch Gemessenheit zu imponiren. Daher hat
er sich in die Clubs nicht eingelassen; er würde auch darin nichts ausrichten. Er
will nur durch den Verstand wirken, durch die formelle Entweder-Oder Logik:

‘„Alles ist blau oder nicht blau, frei oder nicht frei,“’

oder positiv gesagt

„radical
oder reactionär,“

eine Logik, die in der Wissenschaft längst überwunden ist, die
aber im Leben sich gerade jetzt unerträglich breit macht. Diese abstracte Logik
verblendet gegen die Wirklichkeit, wie die Gewohnheit der Declamation, aber nach
meinem Gefühl auf eine unangenehmere Weise. Denn der Phraseur ist doch wirk¬
lich ein Pathos, wenn er sich auch zuerst hinein randalirt, aber die Abstraction
blendet, ohne das Gefühl der Erhebung. Die Abstraction führt leichter zum Fa¬
natismus als die Phrase.


Es ist aus dem Gange, den die abstracte Opposition in diesem von Natur
ehrenwerthen Charakter genommen hat, begreiflich, daß er sich in die Intriguen
einer Partei einläßt, in der Held und ähnliche Subjecte eine Rolle spielen; daß
er mit Brill u. s. w. einen Abgeordneten der Untersuchung über die Theilnahme
jener nichtswürdigen Zeughausplünderei entziehen will; daß er die ebenso infamen
als lächerlichen Lügen der Meneurs seiner Partei ohne Weiteres als baare Münze
gelten läßt — des guten Zweckes willen; daß er bei einer der wenigen Gelegen¬
heiten, wo er spricht — in der Bürgerwehrfrage — in wenig Sätzen eine Reihe
von Verkehrtheiten, eine Theorie zu Tage fördert, wie sie sich für die Placate
des demokratischen Vereins schicken würde; — es wäre wahrlich der Mühe werth,
die Absurditäten dieser Bürgerwehrtheorie zu beleuchten, wenn nicht mit jedem
Tage die Berliner Demokratie einen neuen Einfall auftischte, gegen welchen der
gestrige ein Kinderspiel war, wenn man in der Bedlamsprache dieser neuen Pro¬
pheten nicht jeden Satz, der nicht geradezu nach dein Irrenhaus schmeckt, wie ei¬
nen köstlichen Fund begrüßen müßte — — ich sage, alles das ist begreiflich, denn
die Abstraction macht zuletzt blind gegen alle Realität, gegen alle Wahrheit und
alles Recht. — Und doch ist es mir unbegreiflich.

[...]

Dieses Werk ist gemeinfrei.


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Kolimo+

Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2025). Collection 0. Öffentliche Charaktere. Öffentliche Charaktere. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bhjr.0