[]
Das
Raupenſchneien
;

oder:
merkwürdige Geſchichte von Raupen und ſchwarzen Wür-
mern, die man am 24. November 1798. fruhe nahe
bey Schneeberg lebendig auf den Schnee
kriegend geſehen haben.

Nach glaubwürdigen Nachrichten gedruckt 1799.

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Das Ende des 18ten Jahrhunderts liefert der Geſchichte ſo vielen Stof von
Merkwürdigkeiten, daß unſre Nachkommen ſich einſt wundern werden,
wie ſo viele Begebenheiten, ſo wohl in moraliſchen als auch in phiſikali-
ſchen Verſtande, faſt zu einer Zeit ſich habe zugetragen können. Wir können frey ſa-
gen: alles in Bewegung. Die Menſchen ſind mit dem, was ſie ruhig be-
ſitzen, nicht mehr zu frieden, ſie verlangen weit mehr; und in dieſer Abſicht iſt
der Geiſt der Unruhe bey ihnen rege geworden; aber auch die Natur ſcheint in
Bewe-
[] Bewegung zu ſeyn, und ſie ſtellt uns Bilder dar, die der Betrachtung der größ-
ten Gelehrten würdig ſind.


Freilig liefert die Geſchichte ähnliche Vorfälle, und das, was wir mit
Verwunderung geſehen haben, hat ſich ebenfalls ſchon zugetragen, und wir wollen
nur einen kleinen Auszug aus der Geſchichte herſetzen; ſo werden die reſpect. Leſer
leicht ſelber einſehen, daß nichts geſchieht, was dereinſt nicht ſchon geſchehen wäre.


Jm Jahr 1346. entſtund in Aſien, in dem heutigen Kaiſerthum China, auf
einmal eine auſſerordenliche Dürre, die Einwohner wußten ſich faſt vor Waſſer-
mangel nicht mehr zu helfen, als plötzlich ein ungewöhnlicher Regen mit einem
ſtarken Winde entſtund. Jezt freute ſich das ganze Land, denn alle Einwohner
dachten, die Noth ſey vorüber; aber ſie hatten ſehr geirret: denn ſo bald ſie auf
die Straſen kamen, ſo wurden ſie eine große Menge kleiner Schlangen u. eine Art
ihnen ganz unbekannter Würmer gewahr. Die Dürre ſtellte ſich aufs neue ein, und
ſo entſtund, als die Menge von Slangen und Würmern ferfaulte, ein ungewöhn-
licher Geſtank, und die Folgen davon waren die Peſt, die viel Tauſend Menſchen
hinweg rafte. Eben ſo leſen wir in der Ungariſchen Geſchichte, daß im Jahr 1672
als das Kriegsfeuer in den Niederlanden in vollen Flammen ſtund, ein ſolcher
Wurmschnee ganz Ungarn und Deutſchland in die größte Verwunderung geſetzt hat.
Es fing nämlich am 20. Nov. des erwähnten Jahres ſehr ſtark in der Gegend und
bey der Stadt Neuſohl an zu ſchneien, und da ſich das Wetter wieder verzogen hatte:
ſo ſahe man neben dem Silberthor auf einer großen Aue auf zehnerlei Arten ganz
ungewöhnlicher Würmer auf den Schnee kriechen. Die Kälte war eben damals
ſo ſehr ſtark, und doch krochen dieſe Würmer ganzer vier Tage auf den Schnee
herum, ohne daß man hätte ſehen können, daß ihnen die Kälte etwas geſchadet
hätte.


Auch damals gabs Leute, die die Natur beobachteten; ſie ſammelten dahero
von jeder Art welche ein, zeichneten dieſelben mit aller Sorgfalt ab und hinterlie-
ßen ihren Nachkommen die Zeichnung und Geſchichte dieſer Würmer zum Anden-
ken. Die meiſten von dieſen Würmern waren ſchwarz, hatte 6, 8 bis 10 Füſſe,
gelbe Bäuche und Einſchnitte gleich den Raupen; doch waren auch röthliche da-
runter. Einige hatte Füſſe wie die Spinnen, aber beynahe die Geſtalt der Krö-
ten. Unter dieſen Würmern herrſchte ein Art von Krieg, die ſchwarzen die doch
weit kleiner waren als die röthlichen, ſpielten den Meiſter über die röthlichen, ſie
fielen dieſelben mit Wuth an, überwältigten ſie und fraſſen ſie fast [auf]. Das Merk-
würdigſte bey dieſen Würmern war, daß keiner in die Stadt Neuſohl gefallen, da
es
[] es doch ebenfalls ſtark da ſchneiete, ſondern man ſahe ſie blos vor den Silberthor
auf der ſchon ober erwähnten Aue. — Doch die neuere Geſchichte liefert uns noch
weit merkwürdigere Erſcheinungen von ſolchen Ungeziefer, und wer ſollte wohl ſo
unwiſend ſeynd, und nicht von den groſſen Schaden gehört haben, den die Waldrau-
pen faſt in ganz Europa verurſachet haben?


Jn den heutigen Rußland am Don hat man ſeit 50 Jahren dieſe ſchädliche
Raupenart zuerſt gewahr wurden; von da aus haben ſie ſich von Land zu Land ſo
ſtark verbreitet, daß auch wir das Uebel empfinden das dieſe Raupen an unſern
Wäldern verbreiten. Große Gelehrte haben merkwürdige Endeckung in der
Naturlehre gemacht; aber immer iſt man noch nicht recht auf die Spur gekom-
men, wie man dieſe ſchädliche Raupenart vertilgen ſoll; und auch hier wäre zu
wünſchen, daß jeder Waldbeſitzer ſich Mühe gäbe ein Mittel auszufinden um den
Feind ſeines Waldes den letzten Stoß zu geben: denn ſollte dieſes Ungeziefer noch
weiter überhand nehmen; ſo wird man ſchwerlich vermögend ſeyn, den Schaden
zu berechnen, den jeder Erdeinwohner, wegen Holzmangel noch empfinden wird. —
Doch unſere Leſer nicht länger mit alten Nachrichten von Raupen- u. Wurmſchneien
aufzuhalten, wollen wir ihnen blos noch erzählen, was ſich am 24ſten Nov. 1798
nahe bey Schneeberg zugetragen hat.


Es hatte nämlich ſchon einige Tage zuvor geſchneiet und das Wetter war
ſehr unangenehm geweſen; als ſich der Himmel wiederum aushellte und man frei
ſich umſehn konnte, ſahe man auf der Griesbächer Höhe, nahe bey Schneeberg zu-
erſt eine große Menge Raupen auf den Schnee krichen. Der Wurm kricht hier
auf ſeinen Füſſen, liegt aber zugleich mit auf ſeinen Rücken. Die zweyte Gattung
zeigt eine kleinere an, die der erſten faſt ganz ähnlich war, und dieſe Gattung lag
ebenfalls auf den Schnee bey der ſogenannten Bartholomäus Schenke nahe bei
Neuſtädtel. Die dritte war der kleinſte Wurm und ganz ſchwarz, und dieſer lag
faſt ähnlich, dieſen fand man bey Albernau. — Alle 4 Gattungen von dieſen Wür-
mern krochen auf den Schnee, und ob es gleich damals ſtark gefroren hatte, ſo
konnte man doch nicht gewahr werden, daß die Kälte ihnen etwas hätte geſchadet.
Die Würmer müſſen alſo von einer ganz andern Beſchaffenheit ſeyn, als die ge-
wöhnlichen Raupen: denn wir wiſſen zur Gnüge, daß die Raupenart die Kälte
ganz und gar nicht vertragen kann, und daß nichts ſo geſchwind die Raupe tödte,
als die Kälte; woher aber dieſes Ungeziefer gekommen, und wie es entſtanden iſt,
laſſen wir jetzt den vernünftigen Leſer ſelbſt zur Beurtheilung übrig. Vielleicht
hat ein großer [Sturmwind] dieſes Ungeziefer an einen fremden Ort aufgehoben und
zu uns gebracht; vielleicht aber hat auch dieſes Ungeziefer ſeine Wohnung in der
Näh
[] Nähe, ihre Anzahl hat ſich über die maßen vermehret, und ſo haben wir ſie müſ-
ſen gewahr werden. Doch es ſey wie es wolle, ſo bleibt es allemal eine merk-
würdige Naturbegebenheit.


Aus Holland. Ein armer Schuhmacher lebte zu Amſterdam mit ſeiner
Frau und ſeinen 4 unerzogenen Kindern in der größten Dürftigkeit, und ob er gleich
bey der ganzen Nachbarſchaft als ein fleißiger und rechtſchaffener Mann bekannt
war; ſo konnte er doch bey aller Anſtrengung nicht ſo viel verdienen, um den Hun-
ger zu ſtillen, und ſich vor der großen Kälte zu ſchützen. Einem ſeiner Nachba-
ren kam es bedenklich vor, daß man ſeit einigen Tagen weder ihn noch von den ſei-
nigen etwas gewahr wurde, er gieng alſo gerade zu ihm um ſich zu erkundigen, wo
er geſteckt, daß man nichts von ihm geſehen hätte. Aber wie erſchrack der gute
Mann als er die Stube öffnete; gleich vor der Stubenthüre lag der Schuhma-
cher todt, nicht weit von ihm ſeine Frau, die die 2 kleinſten Kinder in ihre Arme
gedruckt hielt; auf der alten Werkſtätte der größte 14 jährige Knabe, und hinter
den Ofen ein Mädchen von 10 Jahren. Gleich lief der Mann zur Obrigkeit um
dieſes grauſame Schauſpiel anzuzeigen. Ein Paar obrigkeitliche Perſonen nebſt ei-
nen geſchickten Arzt ſchickte man ſogleich um die Sache zu unterſuchen; aber man
fand, daß alle 6 Perſonen völlig erfroren waren, und daß alſo Hunger und Käl-
te ihnen allen das Leben geraubt hatten.


Jetzt ſag erſt die Regierung zu Amſterdam ein, wie nothwendig es ſey, beſſer
vor die Armen zu ſorgen. Dieſe ganze erfrorne Familie wurde ehrlich zur Erde be-
ſtattet; aber um mehrere ſolche Unglücksfällen vorzubeugen, wurde eine Kollecte
von 26,000 fl. geſammelt, die in ZUkunft zum Wohl der Armen verwendet wer-
den ſollen.


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Dieses Werk ist gemeinfrei.


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TextGrid Repository (2025). Collection 0. Das Raupenschneien. Das Raupenschneien. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bhjf.0