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Woran krankt die deutſche
Gewerkſchaftsbewegung?


Ein zeitgemäßes Wort
mit beſonderer Berückſichtigung der Arbeitsloſen-
Unterſtützungfrage


Preis 15 Pf.

Berlin: 1897.
Verlag von Joh. Saſſenbach, Invalidenſtr. 118.
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[]
Woran krankt die
deutſche Gewerkſchaftsbewegung?


Ein zeitgemäßes Wort
mit beſonderer Berückſichtigung der Arbeitsloſen-
Unterſtützungsfrage



Berlin: 1897.
Verlag von Joh. Saſſenbach, Invalidenſtr. 118.
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Einleitung.

Die deutſche Gewerkſchaftsbewegung iſt nicht das, was ſie
ſein ſoll. Die Organiſationen ſind zu ſchwach, da nur ein ganz
geringer Prozentſatz der Berufsangehörigen ſich dieſen ange¬
ſchloſſen hat. In den meiſten Gewerben ſchwankt die Zahl der
Organiſirten zwiſchen 2 bis 10 pCt, und nur wenige Verbände
haben einen größeren Prozentſatz Organiſirter aufzuweiſen. Die
Kaſſenbeſtände der Organiſationen ſind gleichfalls ſehr minimal,
wenig Pfennige kommen durchgängig auf den Kopf des Mit¬
gliedes und nur die Organiſationen der Buchdrucker, Bildhauer
und noch einige andere beſitzen größere Kapitalien. Daß bei
einer ſolchen Sachlage die meiſten Organiſationen keinen großen
Einfluß auf die Lohn- und Arbeitsbedingungen ausüben können,
iſt begreiflich. Namentlich das vergangene Jahr hat dieſes wieder
zur Genüge bewieſen. Trotzdem die allgemeine Geſchäftslage
äußerſt günſtig war, verliefen viele Streiks — beſonders die
größeren — zu Ungunſten der Arbeiter, wie z. B. die Ausſtände
der Berliner Lithographen, Hut- u. Muſikinſtrumenten¬
macher
und der Arbeiter von Dürrkopp u. Comp. in Biele¬
feld
. Andere wieder zeitigten Reſultate, die keineswegs den
Opfern entſprachen, die für ſie gebracht wurden, wie z. B. der
Kottbuſer Textilarbeiter-Streik und der Ausſtand der
Stuhlarbeiter zu Lauterburg a. H. Nur eine geringe
Anzahl endete mit Siegen für die Intereſſirten. Aber auch
viele dieſer gemeldeten Siege ſind oft ſehr problematiſcher Natur.
Wenn z. B. ein Theil der Streikenden nicht wieder in die Be¬
triebe eingeſtellt wird, kann man unmöglich von einem wirk¬
lichen
Siege reden. Dann aber ſind in vielen Fällen die erzielten
Errungenſchaften ſchon wieder den Siegern entriſſen worden
und wo ſie noch eingehalten werden, da wird dasſelbe eintreten
— wie immer — ſobald die Konjunktur ſich verſchlechtert. Dieſes
ſind die Reſultate der vorjährigen Gewerkſchaftskämpfe, die ſich
zu Zeiten eines wirthſchaftlichen Aufſchwunges abgeſpiel haben,
wie einen ſolchen Deutſchland noch nie geſehen hat. Sind die
Geſchäftszeiten ſchlechter, dann können die meiſten deutſchen ge¬
werkſchaftlichen Organiſationen gar keinen Einfluß auf die Lohn-
und Arbeitsbedingungen ausüben und müſſen Alles ſo gehen
laſſen, wie es geht. — Nicht mit Unrecht ſchrieb daher vor
Kurzem die „Verſöhnung“, daß die Kämpfe der deutſchen Ge¬
werkſchaften ſich im Kreiſe herumdrehen.


Woher dieſe ganzen Erſcheinungen? Sind ſie in der Natur
des gewerkſchaftlichen Kampfes begründet? — Meiner Meinung
[4] nach nicht, ſondern ganz andere Dinge ſpielen hierbei eine
Rolle mit: 1. Die Unterſchätzung des gewerkſchaftlichen
Kampfes
, 2. Das ungenügende Hilfskaſſen- und Unter¬
ſtützungsweſen
und 3. Der mangelhafte und unge¬
nügende Beamtenſtab
der meiſten deutſchen Gewerkſchafts¬
organiſationen. — In den folgenden Abſchnitten will ich dieſes
näher auseinanderſetzen und meine Behauptungen zu beweiſen
ſuchen. Zwar werde ich dabei Ausführungen machen müſſen, die
ſchon oft gemacht ſind, doch dieſes liegt in der Natur der Sache.


I.
Der gewerkſchaftliche Kampf
und ſeine Bedeutung für die Arbeiterklaſſe.

Von vielen deutſchen Arbeitern wird der gewerkſchaft¬
liche
Kampf noch immer unterſchätzt und nur in der politiſchen
Bewegung das einzige Heil erblickt. Sie legen der Gewerkſchafts¬
bewegung eine ſehr minimale Bedeutung bei; glauben nicht, daß
dieſelbe irgend etwas zur Hebung der Lebenslage des Prole¬
tariats beitragen könne, und wollen die gewerkſchaftlichen Orga¬
niſationen nur als Vorbildungsſchule, als Rekrutirungs¬
inſtitut
für die politiſche Bewegung betrachtet wiſſen. Iſt
die Zahl dieſer Leute auch nur gering, ſo üben ſie doch einen
großen Einfluß auf die herrſchenden Anſchauungen aus, da ſie
meiſtens die intelligenteſten Arbeiter ſind und die Maſſe an
Bildung und Wiſſen überragen.


Der gewerkſchaftliche Kampf hat wohl eine große Bedeutung,
mindeſtens dieſelbe wie der politiſche. Er kann die Löhne er¬
höhen, die Arbeitszeit verkürzen, kurz die Lage des Proletariats
heben und anderſeits ſtärkt er gewaltig auch die politiſche
Macht der Arbeiterklaſſe.


Das Alles wird uns ſo ſchlagend durch die engliſche Ge¬
werkſchaftsbewegung bewieſen, die leider den meiſten deutſchen
Arbeitern eine terra incognita iſt. — Meine Gegner im eigenen
Lager — ich meine die „Nur“-Politiker — werden ſofort gegen
die letzte Behauptung Einwände machen. — „Die engliſchen Ge¬
werkſchaftsorganiſationen haben nur deshalb auf ihre heutige
Höhe kommen können, weil ſie ſich viel freier entwickeln konnten,
als die deutſchen.“ Das iſt einer der beliebteſten Einwände, der
aber nicht zutrifft, da die Trade-Unions in ihrer Jugend ebenſo
brutal verfolgt und unterdrückt wurden, wie die gewerkſchaftlichen
Organiſationen der deutſchen Arbeiter, ja vielleicht noch brutaler.
— Dafür hier nähere Beweiſe zu bringen, kann nicht meine
Aufgabe ſein, weil dieſes zu weit führen würde. Ich erinnere
nur an die Verſchwörungsakte, an die Beſtimmungen des Kon¬
traktbruches, die Stempelſteuer betreffs der Preſſe u. ſ. w. Wer
[5] ſich darüber näher informiren will, der ſtudire nur die Geſchichte
des Trade-Unionismus und er wird dieſe Behauptung beſtätigt
finden. — Trotzdem iſt die engliſche Gewerkſchaftsbewegung in
die Höhe gekommen, hat bedeutend die materielle Lage des eng¬
liſchen Proletariats gehoben und dieſes auch in politiſcher Be¬
ziehung zu einem gewaltigen, Ausſchlag gebenden Faktor im Staats¬
leben gemacht. Oder ſind dieſe Angaben nicht wahr? Man ver¬
gleiche nur die Lage der engliſchen Arbeiterklaſſe am Anfange
dieſes Jahrhunderts mit ihrer gegenwärtigen und man wird
finden, daß dieſe ſich bedeutend verbeſſert hat. Die deutſche Ar¬
beiterklaſſe wurde überhaupt nie ſo brutal ausgebeutet, als die
engliſche in ihrer erſten Jugendzeit; ich weiſe nur auf die Ar¬
beiterkaſernen, auf das gewaltig ausgebreitete Truckſyſtem und
auf die Frauen- und Kinderarbeit hin. — Heute dagegen iſt die
wirthſchaftliche Lage der engliſchen Arbeiter bedeutend beſſer als
die des Proletariats aller anderen europäiſchen Länder. Zwar
ſchmachten auch dort noch tauſende in Noth und Elend, doch
man überſehe die Thatſache nicht, daß mit einem Schlage nie
aus der Hölle der kapitaliſtiſchen Geſellſchaft ein ſozialiſtiſches
Paradies gemacht werden kann. Dieſes widerſpricht den Geſetzen
der Entwickelung. — Ausbeutung und Unterdrückung ſind das
Produkt von Jahrtauſenden und was Jahrtauſende erzeugt haben,
können wenige Jahre nicht beſeitigen. Das mag für Manchen,
der da glaubt, ſchon in den nächſten Jahren im ſozialdemo¬
kratiſchen Zukunftsſtaat zu leben, nicht erfreulich ſein. Nimmt
man jedoch dieſes an, ſo beweiſt man damit nur, daß man aus
der Geſchichte der Menſchheit keine Lehren gezogen hat. Die
Kulturentwickelung iſt von jeher den Schneckengang gegangen
und große Veränderungen in wirthſchaftlicher Beziehung voll¬
ziehen ſich nur langſam und nicht ſprungweiſe. — Dann zu der
politiſchen Macht, welche die engliſche Arbeiterklaſſe beſitzen ſoll.
Das engliſche Proletariat hat eine viel beſſere Arbeiterſchutz¬
geſetzgebung aufzuweiſen, die auch von dem Unternehmerthum
beachtet wird; es iſt im engliſchen Staate eine mit den anderen
Geſellſchaftsſchichten gleichberechtigte Klaſſe und wird in ſeinen
Beſtrebungen nicht ſo verfolgt, bekämpft und beſchimpft, als
das deutſche. Die politiſche Macht, welche die engliſche Arbeiter¬
klaſſe wirklich beſitzt, kam auf dem letzten internationalen Berg¬
arbeiterkongreß wieder einmal ſo recht zum Ausdruck. Die Frage
der Bergwerksverſtaatlichung wurde behandelt, alſo eine Frage,
die ſozialiſtiſchen Charakters iſt. Durch die Verſtaatlichung der
Bergwerke wird der Einzel-Unternehmer beſeitigt und die Ge¬
ſammtheit tritt als Unternehmer auf. Die „liberalen“ Engländer
ſtimmten für die Verſtaatlichung derſelben und die ſozialdemo¬
kratiſchen Deutſchen enthielten ſich der Abſtimmung. Sie konnten
auch garnicht für die Verſtaatlichung ſtimmen, denn das würde
in Deutſchland für die Bergarbeiter Muſterausbeutung und
Unterdrückung jeder Meinungsfreiheit bedeuten. Warum haben
die engliſchen Arbeiter aber derartiges nicht zu erwarten? Weil
ſie eine Macht im engliſchen Staate ſind! Und ſo iſt es auch
in allen anderen Dingen. — Starke wirthſchaftliche Organiſation
bedeutet politiſche Macht; ohne eine ſtarke Gewerkſchaft¬
[6] bewegung iſt wirkliche politiſche Macht des Prole¬
tariats undenkbar
. Auch die politiſche Macht unſeres
Agrarierthums, der Induſtriellen u. wurzelt zum großen Theil
in den wirthſchaftlichen Organiſationen derſelben. Der
rein-politiſche Kampf der Arbeiterklaſſe trifft nur im Allgemeinen
die ſtaatlichen Vertreter des Kapitalismus, den Kapitalismus da¬
gegen ſelbſt nur ſehr wenig; der gewerkſchaftliche Kampf jedoch
berührt jede Faſer des Kapitalismus Die ganze kapitaliſtiſche
Geſellſchaft wird durch den gewerkſchaftlichen Kampf bis in die
tiefſten Tiefen aufgerührt, jeder Kapitaliſt hat mit ihm zu rechnen.
Dieſes führt dahin, daß der Kapitaliſt ſchließlich gezwungen wird,
die Arbeiter als gleichberechtigt anzuerkennen, was zur Folge
haben muß, daß auch auf politiſchem Gebiete im Laufe der Zeiten
das gleiche eintritt. Der gewerkſchaftliche Kampf ebnet ferner
erſt den Boden für eine vernünftige Arbeiterſchutzgeſetzgebung,
er bringt große geſchloſſene Maſſen für beſtimmte Schutzgeſetze
in Bewegung, zwingt die herrſchenden Gewalten dadurch, ſich
mit dieſen Dingen zu beſchäftigen und ſchließlich nachzugeben.
Er bietet ferner eine Garantie dafür, daß die beſtehenden Ar¬
beiterſchutzgeſetze auch zur Durchführung gelangen. — Wenn von
allen dieſen Wirkungen des gewerkſchaftlichen Kampfes in Deutſch¬
land bisher nur wenig verſpürt worden iſt, ſo liegt dieſes meines
Erachtens nach, wie ich bereits bemerkt habe, nicht in dem
Weſen der Gewerkſchaftsbewegung ſelber, ſondern an ganz
anderen Dingen, die ich auch bereits erwähnt und ſpäter zu be¬
weiſen verſuchen werde. — In England hat der gewerkſchaftliche
Kampf die angegebenen Wirkungen zur Folge gehabt und auch
bei uns muß dieſes naturgemäß eintreten. — Gelingt es ſelbſt
durch den politiſchen Kampf Arbeiterſchutzgeſetze den Machthabern
abzutrotzen, ſo haben dieſe doch nur eine ſehr minimale Be¬
deutung für das Proletariat, wenn keine ſtarken gewerkſchaftlichen
Organiſationen vorhanden ſind, um ſie auch zur Durchführung
zu bringen, was ſo ſchlagend durch die deutſchen Verhältniſſe
bewieſen wird. Wir beſitzen eine ganze Anzahl Arbeiterſchutz¬
beſtimmungen, die jedoch nur durchſchnittlich auf dem Papier
vorhanden ſind und in der Praxis nicht beachtet werden. Warum
nicht dieſes? Weil die meiſten deutſchen Arbeiter von den näheren
Beſtimmungen derſelben keine Ahnung haben und anderſeits
auch nicht die genügende Macht beſitzen, um ſie zur Durch¬
führung bringen zu können. Dieſe Erſcheinung iſt nur die Folge
der mangelhaften gewerkſchaftlichen Organiſation. Wahrhaft
troſtlos ſieht es auf dieſem Gebiete aus. Die Unternehmer
treten in der offenkundigſten Weiſe alle geſetzlichen Beſtimmungen
mit Füßen, ja ſtellen oft die Arbeiter nur unter der ausdrück¬
lichen Bedingung ein, daß die bezüglichen Geſetze nicht inne ge¬
halten werden. Der politiſche Kampf wird in dieſen Dingen
nie, nie Aenderungen ſchaffen können, das kann nur der gewerk¬
ſchaftliche. Zwingen aber die Arbeiter das Unternehmerthum,
die geſetzlichen Beſtimmungen zu beachten, ſo bedeutet das ein
Fortſchritt, der naturgemäß einen weiteren Fortſchritt zur Folge
haben muß.


Ich habe zu verſchiedenen Malen, um die Richtigkeit meiner
[7] Behauptungen zu beweiſen, die engliſche Gewerkſchaftsbewegung
angeführt und daher muß ich noch auf eine Annahme zurück¬
kommen, durch die man die Stärke und Bedeutung der engliſchen
Gewerkſchaftsorganiſationen zu erklären ſucht. — „Die engliſchen
Organiſationen ſeien zu einer Zeit entſtanden, wo England die
kapitaliſtiſche Alleinherrſchaft ausübte“, ſo lautet dieſe Annahme.
Man will alſo damit ſagen, daß England einen großen Abſatz
für ſeine induſtriellen Produkte hatte und die Geſchäftslage
äußerſt günſtig war, welches natürlich auch auf die Lage der
engliſchen Arbeiterklaſſe und deren Beſtrebungen ſeinen Einfluß
ausüben mußte. Doch auch dieſe Annahme kann unmöglich
richtig ſein, denn wir finden, daß einmal die Lage des engliſchen
Proletariats in jenen Zeiten eine äußerſt ſchlechte war und daß
anderſeits eben ſolche gewaltige Kriſen wütheten, wie gegenwärtig.
Wenn ferner von dem Abſatzgebiet der damaligen engliſchen In¬
duſtrie geſprochen wird, ſo iſt dabei auch nicht zu vergeſſen, daß
in den erſten Jahrzehnten unſers Jahrhunderts die Abſatzgebiete
für kapitaliſtiſche Produkte viel kleiner waren, als jetzt.


Man iſt in den Kreiſen der deutſchen Arbeiter deshalb nicht
beſonders gut auf das engliſche Proletariat zu ſprechen, weil es
nicht zur Sozialdemokratie ſchwört. Gewiß ſind die deutſchen
Arbeiter den engliſchen in der Theorie überlegen, ſie haben die
Tendenz der heutigen Entwickelung und das Endziel der Ar¬
beiterbewegung richtig erfaßt, aber in der Praxis ſtehen ſie weit
hinter den engliſchen Arbeitern. Die Praxis iſt von jeher die
ſchwache Seite der Deutſchen geweſen, während ſie in der
Theorie immer ſehr revolutionär waren. So auch heute. Durch
Theorien wird kein Elend aus der Welt geſchafft, durch Theorien
wird kein Hungriger ſatt, aber das kann durch den Weg der
Praxis geſchehen. Der Weg der Praxis muß naturgemäß auch
ohne Theorie in Folge der Entwickelung zum Sozialismus
führen. — Dann wird ferner gegen die Gewerkſchaftsbewegung
der Einwand erhoben, daß dieſe ſchon deshalb keine große Zu¬
kunft haben könne, weil die Weiterentwickelung der kapitaliſtiſchen
Geſellſchaft (Konzentration des Kapitals, chroniſche Ueberproduktion,
Kartelle ꝛc.) naturgemäß die Chancen des gewerkſchaftlichen
Kampfes verſchlechtern müßte. — Dieſer Einwand, der durch die
Praxis, durch die Thatſachen und in der Theorie durch Kautsky
und Schippel längſt widerlegt worden iſt, ſpukt noch immer in
den Köpfen vieler deutſcher Arbeiter umher. Namentlich wenn
ein Streik zu Ungunſten der Arbeiter verlaufen iſt, wird immer
wieder und wieder die Behauptung aufgeſtellt, daß die Zeit der
gewerkſchaftlichen Kämpfe vorbei ſei und nur noch der politiſche
helfen könne.


Gewiß verfolgt die kapitaliſtiſche Produktionsweiſe die Ten¬
denz, die Kleinbetriebe zu vernichten und dafür immer größere
Betriebe entſtehen zu laſſen, doch bedeutet dieſes noch lange
nicht, daß der gewerkſchaftliche Kampf dadurch zur Unfruchtbarkeit
verdammt ſei. Einmal haben wir in Deutſchland noch viel mit
Kleinbetrieben zu rechnen, welche der Agitation ꝛc. große Hinder¬
niſſe in den Weg legen und anderſeits tauchen mit der Konzen¬
tration des Kapitals eine Reihe von Momenten auf, die jene
[8] Nachtheile, welche der Gewerkſchaftsbewegung durch die Konzen¬
tration zugefügt werden, auf der anderen Seite wieder auf¬
wiegen. — Je größer die Betriebe ſind, je leichter iſt im Allge¬
meinen die Agitation. Nicht tauſende verſchiedener Mängel ſind
hier aufzuweiſen, ſondern die gleichen, die Alle treffen; der auf¬
geklärte Arbeiter kann den Unaufgeklärten viel leichter für ſeine
Ideen gewinnen, da er fortwährend mit ihm zuſammen iſt. Er
kann ferner durch den moraliſchen Druck dieſen zwingen, mitzu¬
thun. Auch das Solidaritätsgefühl muß ſich in größeren Be¬
trieben ſchneller entwickeln, als in vielen Kleinbetrieben, da
tauſende klar und ſichtbar an demſelben Uebel kranken. Wir
ſehen daher ſchon an dieſem Umſtande, daß die Konzentration
des Kapitals gleichzeitig Momente erzeugt, die für den gewerk¬
ſchaftlichen Kampf günſtig wirken. — Ich halte es in dieſer
ganzen Frage mit Kautsky, der in der „Neuen Zeit“ ſchrieb:
„Je mehr die Konzentration des Kapitals fortſchreitet, deſto
größer wird, im Verhältniß zur Zahl die beſchäftigten Arbeiter,
die Maſſe des in einem induſtriellen Unternehmen angelegten
Kapitals (Baulichkeiten, Maſchinen, Rohmaterial u. ſ. w.). Jede
Einſtellung des Betriebes entwerthet dieſes Kapital und zwar
um ſo mehr, je länger die Arbeitseinſtellung dauert. In einem
Unternehmen, in dem relativ viel konſtantes Kapital angelegt
iſt, bedeutet jede Betriebsunterbrechung nicht nur einen Gewinn¬
verluſt, ſondern einen erheblichen, poſitiven Schaden für den
Kapitaliſten. Dazu kommt ein anderer Umſtand: Die Abgaben,
die der Unternehmer von ſeinem Mehrwerth abzugeben hat —
Steuern, Grundrenten, Zinſen für geborgtes Kapital u. ſ. w. —
müſſen von ihm bezahlt werden, mag ſein Betrieb im Gang
ſein und Mehrwerth ſchlucken oder nicht. Auch das drängt ihn,
von jeder Betriebseinſtellung möglichſt abzuſehen. Dieſe Ab¬
gaben haben aber im Allgemeinen die Tendenz zu wachſen und
daher das Vermehrungsbedürfniß des induſtriellen Kapitals zu
ſteigern. Alle dieſe Umſtände tragen weſentlich mit bei, den
Drang nach Ueberproduktion zu fördern; ſie wirken aber auch
dahin, jeden ungelegenen Streik immer verluſtvoller für den
Kapitaliſten und dieſen immer geneigter zu machen, einem Streik,
der ihn im Einſacken von Mehrwerth auch nur Wochen oder
Tage hindern könnte, durch Konzeſſionen vorzubeugen, oder ihn
dadurch möglichſt raſch zu beenden.“


Parvus kann ſich in ſeiner bekannten Schrift über „Die
Gewerkſchaften und die Sozialdemokratie“ mit dieſen Ausfüh¬
rungen nicht ganz einverſtanden erklären. Er ſagt z. B.: „Man
ſehe doch, wie dieſe Ungethüme Millionen über Millionen aus¬
geben, ihre Waaren maſſenweiſe unter den Rohſtoffpreis ver¬
ſchleudern, wenn es gilt, einen Konkurrenten zu erdrücken. Und
da ſoll es ihnen vor einem Streik angſt und bange werden?“


Wenn dieſe Rieſenbetriebe ungeheure Summen zur Er¬
drückung unliebſamer Konkurrenten ausgeben, ſo thun ſie es
doch nur aus dem Grunde und in der Gewißheit, daß ſie, ſo¬
bald der unliebſame Konkurrent todt iſt, mit Leichtigkeit dieſe
Summen wieder gewinnen und noch weitere ungeheure
Summen dazu. Dieſes iſt die Urſache, weshalb ſie ſo han¬
[9] deln. — Ganz anders liegt es jedoch bei einem Streik. Da iſt
in der Regel die Summe, welche ſie eventuell den ſtreikenden
Arbeitern bewilligen im Verhältniß zu jenem Schaden, den ſie
durch einen Streik erleiden, eine ſo minimale, daß ſie das
kleinere Uebel wählen und nachgeben. Die Hamburger Rheder
z. B. hätten gewiß in zehn Jahren nicht je Mehrausgabe ge¬
habt, wenn ſie die Forderungen der Arbeiter bewilligt haben
würden, die ſie jetzt innerhalb weniger Wochen gehabt haben
und doch früher oder ſpäter die Forderungen bewilligen werden
müſſen. Sie ziehen aus dieſem Kampfe die Lehre, welche ſchon
ſo viele Kapitaliſten gezogen haben, daß es für ſie in geſchäft¬
licher Beziehung, im Intereſſe ihres Geldbeutels, beſſer iſt, die
minimalen Forderungen zu bewilligen, als es zu großen Diffe¬
renzen kommen zu laſſen. — Die Ausſichten, die der Kapitaliſt
bei der Todtmachung eines unliebſamen Konkurrenten hat,
ſind beim Streik in der Regel nicht vorhanden. — Dann
kommt noch der Umſtand hinzu, daß der Schaden, welchen der
Kapitaliſt durch Bewilligung von Forderungen erleidet, zum
Theil durch die eintretende größere Leiſtungsfähigkeit des
Arbeiters wieder gedeckt wird. Der engliſche Kapitaliſt, der
ſeine Arbeiter 8 und 9 Stunden arbeiten läßt und ihnen einen
angemeſſenen Lohn zahlt, fährt vom geſchäftlichen Standpunkte
aus ſchlauer, als der ruſſiſche, der 16 Stunden arbeiten läßt
und Hungerlöhne zahlt. Dieſe Ueberzeugung drängt ſich auch
den Kapitaliſten auf, ſobald die Arbeiterbewegung erſtarkt iſt
und ſich durch keine Macht der Erde mehr hemmen läßt. —
Dann ſagt Parvus weiter: „Dieſe Rieſenbetriebe trotzen ja
ſogar der Kriſe, die viel verheerender wirkt, als ein Streik.“
Der Kriſe müſſen ſie gezwungen trotzen, weil dieſe eine
eherne Macht iſt, die ſich im Rahmen der kapitaliſtiſchen Ge¬
ſellſchaft nicht beſeitigen läßt; dem Streik aber können ſie aus¬
weichen. — Dann kommt noch ein weiterer Umſtand zu Gunſten
der Gewerkſchaftsbewegung hinzu, den Parvus ſehr richtig
betont, es iſt die fortſchreitende Theilarbeit. Sie verſchlechtert
nicht die Chancen des gewerkſchaftlichen Kampfes, wie oft an¬
genommen wird; ſie bedingt eine Menge von Kunſtgriffen,
welche ſich im Laufe der Jahrzehnte hin ausgebildet haben,
die aber oft den Arbeitern in demſelben Arbeitsraum unter¬
einander unbekannt ſind und eine große Leiſtungsfähigkeit.
Solche ſtreikende [Arbeiterarmeen], wo dann der einzelne Ar¬
beiter nur ein Rädchen in dem ungeheuren Betriebe iſt, ſind
ſchwer zu erſetzen. Daher auch die Erſcheinung, daß nach ver¬
loren gegangenen Streiks durchweg die Streikbrecher wieder
hinausfliegen, da ſie beim beſten Willen die Streikenden nicht
erſetzen konnten.


Aus allen dieſen Gründen glaube ich daher, daß keines¬
wegs durch die Konzentration des Kapitals die Chancen des
gewerkſchaftlichen Kampfes ſich verſchlechtern müſſen. — An¬
dererſeits iſt aber auch der Streit nicht die einzige Waffe des
gewerkſchaftlichen Kampfes, ſondern es giebt noch andere Waffen,
auf die ich ſpäter zu ſprechen kommen werde. — Dann zu den
Kartellen. — Da Kartelle größere Betriebe ſind, ſo gilt auch
[10] von ihnen das vorher ſchon Ausgeführte. Ferner ſind aber bei
der Kartellfrage noch weitere Punkte in’s Auge zu faſſen, und
ich will in dieſer Beziehung hier nur lediglich die Ausführun¬
gen Kautskhy’s wiedergeben. Er ſagt einmal:


„Man darf aber auch nicht etwa glauben, daß die geſammte
Produktion binnen Kurzem in den Händen von Kartellen ſein
wird. Bisher iſt die Kartellirung in der Regel nur in In¬
duſtrien geglückt, die eine Monopolſtellung entweder von vorn¬
herein beſaßen, wie z. B. viele Bergwerke, oder ſie durch die
ökonomiſche Entwickelung und ſtaatliche Maßregeln-Schutzzölle,
Steuergeſetzgebung und dergl. — erhalten haben.“ Ferner:
„Jedes Kartell ſtellt ſich außerhalb des Getriebes der freien
Konkurrenz, damit aber auch außerhalb der Solidarität der
bürgerlichen Intereſſen. Denn dieſe beruht auf die Freiheit
der Konkurrenz, auf die Möglichkeit, die jeden Beſitzenden
(wenigſtens ideell) gegeben iſt, ſein Vermögen in jener Induſtrie
anzulegen, wo es den meiſten Profit verſpricht; auf die Mög¬
lichkeit, an jedem Ausnahmeprofit dadurch theilzunehmen, daß
man ſich auf das Induſtriegebiet wirft, welches ihn liefert, und
auf die Möglichkeit, ihn dadurch ſchließlich auch wieder auf das
Durchſchnittsniveau des Profits zu ſenken. Das Klaſſenin¬
tereſſe des Kapitals duldet kein Privilegium, kein Monopol
innerhalb der Kapitaliſtenklaſſe. Jedes Kartell bildet aber
ein ſolches Monopol, ein ſolches Privilegium. Es grenzt ein
beſtimmtes Gebiet induſtrieller Thätigkeit als ausſchließliches
Privateigenthum einiger Wenigen ab, zu welchem der ganzen
übrigen Kapitaliſtenklaſſe der Eintritt verwehrt wird, und läßt
dort die verlockendſten goldnen Aepfel hoher Extraprofite ge¬
deihen, indeß gleichzeitig die Holzäpfel des Durchſchnittsprofits,
welche außerhalb des eingehegten Induſtriegebietes wachſen,
immer ſpärlicher und ſauer werden. Das iſt ein Zuſtand, der
jedes ehrliche Kapitaliſtenherz revoltiren muß. Nicht in prole¬
tariſchen Kreiſen, ſondern in bürgerlichen iſt die Entrüſtung
über die Truſts und Kartelle am lebhafteſten laut geworden.
— Bricht in einer derartig zu einem Privatmonopol geworde¬
nen Induſtrie ein Kampf zwiſchen den Unternehmern und Ar¬
beitern aus, dann kann unter Umſtänden das bürgerliche Pu¬
blikum durch ſeine Gegnerſchaft gegen das Monopol ſoweit ge¬
trieben werden, daß es ſeine Gegnerſchaft gegen die Arbeiter¬
klaſſe für einen Moment vergißt und mit den Arbeitern ſym¬
pathiſirt.“


Parvus macht in ſeiner ſchon erwähnten Schrift noch
darauf beſonders aufmerkſam, daß viele Kartelle zur Zeit der
wirthſchaftlichen Depreſſion entſtehen und nur kurzlebig ſind,
was wohl auch unbedingt zutrifft.


Wie verhält es ſich dann weiter mit der chroniſchen Ueber¬
produktion? Die Annahme, daß die kapitaliſtiſche Geſellſchaft
ſich immer in dem Zuſtande der chroniſchen Ueberproduktion
befinden müſſe, nie mehr günſtige Geſchäftszeiten ſehen werde,
dieſe Annahme, welche bis noch vor Kurzem von Vielen ver¬
theidigt wurde, iſt durch die Thatſachen, durch den bedeutenden
wirthſchaftlichen Aufſchwung längſt widerlegt worden. — Auch
[11] in dieſer Beziehung ſchließe ich mich im Allgemeinen den
Kautsky'ſchen Ausführungen an. Dieſer ſagt: „Nach wie vor
bewegt ſich das Geſchäftsleben im Zyklus von Belebung, flotte¬
rem Geſchäftsgang, Zuſammenbruch, Hinſiechen und Wieder¬
belebung; der Unterſchied gegen früher iſt nur der, daß die Zeit¬
räume des Siechthums immer länger werden, die Wiederbele¬
bung immer ſchwerer und langſamer, die Zeiten des flotten
Geſchäftsganges immer kürzer, der Gewinn daraus immer un¬
ſicherer, der Zuſammenbruch immer verheerender. Aber gerade
je mehr das der Fall iſt, deſto ſorgſamer muß der Unternehmer
darauf achten, daß die Zeit der günſtigen Konjunktur, die immer
[prekärer], der Ausnützung aber immer nothwendiger wird, nicht
durch Streiks verloren geht. Je mehr die chroniſche Ueber¬
produktion ſich ausdehnt, um ſo härter trifft dem Unternehmer
jeder Streit in der Zeit des kümmerlichen Aufſchwunges, der
ſich hier und da noch bemerkbar macht, deſto eher iſt er in einer
ſolchen Zeit zu Konzeſſionen geneigt. — Die chroniſche Ueber¬
produktion macht alſo das Streiken nicht ausſichtslos, ſie be¬
wirkt blos, daß die Anforderungen an die beruflichen Organi¬
ſationen der Arbeiter und an ihre Führer wachſen. Es wird
jetzt immer nothwendiger, den richtigen Zeitpunkt abzuwarten,
dieſen dann aber raſcheſt auszunützen; die Ausdauer, Geduld
und Disziplin der Maſſen, ihre Einſicht in die wirthſchaftlichen
Verhältniſſe und die Straffheit ihrer Organiſation müſſen in
demſelben Maße wachſen, in dem die chroniſche Ueberproduktion
ſich entwickelt, ſoll ihre Widerſtandsfähigkeit durch dieſe nicht ge¬
ſchädigt werden.“ — Ob die Kautsky'ſche Annahme, daß die
Zeiten des flotten Geſchäftsganges immer kürzer werden, auf
Thatſache beruht, iſt eine Frage. Nimmt doch Parvus von
dem gegenwärtigen wirthſchaftlichen Aufſchwung an, daß
er, bedingt durch die Eröffnung gewaltiger Abſatzgebiete, der
größte der kapitaliſtiſchen Geſellſchaft ſein wird. — Wie dem
nun auch ſei: die Ueberproduktion herrſcht nicht immer und die
Chancen des gewerkſchaftlichen Kampfes werden durch ſie nicht
naturgemäß verſchlechtert. — Wie falſch die Annahme iſt, daß
mit der Weiterentwickelung des heutigen Produktionsſyſtems
auch die Poſition der Arbeiterklaſſe für den gewerkſchaftlichen
Kampf ſich verſchlechtern müſſe, wird ferner durch die engliſche
Gewerkſchaftsbewegung bewieſen, England iſt auf dem Gebiete
der Induſtrie am höchſten entwickelt und es beſitzt die ſtärkſten
Gewerkſchaftsorganiſationen, die namentlich in den letzten Jahr¬
zehnten gewaltig gewachſen und immer mehr und mehr ſich aus¬
breiten. Die größten Organiſationen ſind aber hier gerade in
jenen Induſtrieen aufzuweiſen, wo das Kapital am konzentrirteſten
iſt, während in jenen Gewerben, wo dieſes nicht zutrifft, die
Berufsvereinigungen ſchwächer ſind. Darum hat wohl auch
Karl Marx recht gehabt, wenn er bereits 1847 ſchrieb, daß
der Entwickelungsgrad der Koalitionen genau den Rang be¬
zeichnet, den das betreffende Land in der Hierarchie des Welt¬
marktes einnimmt.


Dann zu den anderen Einwänden, die gegen die Gewerk¬
ſchaftsbewegung erhoben werden. — Einer derſelben lautet:
[12] „Schon deshalb habe die gewerkſchaftliche Bewegung ſo gut wie
keine Bedeutung, weil der Kapitaliſt, ſobald die Arbeiter durch
eine Lohnbewegung verbeſſerte Löhne erhalten haben, auch ſofort
die Preiſe ſeiner Fabrikate erhöht, ſo daß alſo in letzter Inſtanz
die Arbeiterklaſſe aus den gewerkſchaftlichen Kämpfen keinen
Nutzen ziehen kann. Sie muß für Lebensmittel, Mobilien,
Wohnungsmiethe ꝛc. ſoviel mehr zahlen, als jene Lohnerhöhung
ausmacht, welche durch Streiks u. ſ. w. von den verſchiedenſten
Kategorien erreicht worden iſt.“ Dieſe Anſicht habe ich oft ge¬
hört, ja ſelbſt von Perſonen, die gewerkſchaftlich organiſirt
waren. — Sie wurden auch einſt von Proudhon vertheidigt,
und ſah ſich Karl Marx bereits vor 52 Jahren veranlaßt,
ihr im „Elend der Philoſophie“ gegenüberzutreten und die
Unrichtigkeit derſelben zu beweiſen. — Gewiß kommt es vor,
daß an irgend einem kleinen Orte, wo z. B. die Schuhmacher¬
geſellen eine Erhöhung des Lohnes erreicht, und die Schuh¬
machermeiſter darüber vor Aerger beinahe den Verſtand ver¬
loren haben, in allen Zeitungen bekannt machen, daß von
jetzt ab das Stiefelbeſohlen ſo und ſo viel mehr koſtet;
doch die Konkurrenz bringt die wild gewordenen Meiſter bald
wieder zur Vernunft und drückt die Preiſe auf das frühere
Niveau herunter. — Auch iſt es nicht abzuleugnen, daß Streiks
von den Kapitaliſten provozirt worden ſind, um die Preiſe ihrer
Fabrikate ſteigern zu können. Doch alles dieſes ſind nur Aus¬
nahmen, die garnichts beſagen. Wäre die erwähnte Behauptung
richtig, ſo müßten die engliſchen Arbeiter noch immer auf der¬
ſelben elenden Stufe ſtehen, wie am Anfange dieſes Jahr¬
hunderts. Dieſes iſt nicht der Fall und damit die Unrichtigkeit
dieſer Annahme bewieſen.


Ferner legen deshalb einige Perſonen der gewerkſchaftlichen
Bewegung keine große Bedeutung bei, weil ſie annehmen, daß
die deutſche Arbeiterklaſſe, einerſeits in Folge ihrer ſtarken po¬
litiſchen Bewegung und anderſeits durch die Zuſpitzung der heu¬
tigen Verhältniſſe, bald die Staatsgewalt erobern werde. „Ehe
wir es in Deutſchland zu einer ſtarken Gewerkſchafts¬
bewegung gebracht haben
, beſitzen wir längſt die po¬
litiſche Macht
.“ Dieſen Ausſpruch habe ich viele, viele Male
zu hören bekommen, doch ſind meines Erachtens noch derartige
Ausſichten garnicht vorhanden. — Die deutſche Sozialdemokratie
arbeitet nun ſchon über drei Jahrzehnte und hat erſt — wie
dieſes auch nicht anders ſein kann — den kleineren Theil
der arbeitenden Bevölkerung für ſich gewonnen. Die bisher ge¬
leiſtete Arbeit iſt aber viel leichter geweſen als die kommende. —
Ferner: — Iſt in der heutigen Sozialdemokratie Alles Gold was
glänzt?! Iſt nicht nur Vieles Talmi?! In den Großſtädten
iſt es unter den Arbeitern förmlich zur Mode geworden, Sozial¬
demokrat ſein zu müſſen. Jeder Klimbimverein, Skat-, Rad¬
fahrer-, Raucherklub ꝛc. muß einen ſozialdemokratiſchen Anſtrich
haben, trotzdem die meiſten Mitglieder dieſer Vereine nicht die
blaſſe Ahnung von der Sozialdemokratie und deren Beſtrebungen
beſitzen, noch nie eine Stunde ſich den Kopf mit derartigen
Fragen zerbrochen haben.


[13]

Wenn ferner angenommen wird, daß ein kommender großer
Krieg
, oder eine gewaltige Kriſe plötzlich die Maſſen in die Arme
der Sozialdemokratie treiben und ſo dieſe die Staatsgewalt er¬
obern und die ſozialdemokratiſche Geſellſchaft verwirklichen werde
können, ſo iſt das weiter nichts, als ein Glaube an kommende
Wunder. Traurig wäre es aber mit der deutſchen Arbeiterklaſſe
beſtellt, wenn ſie ihre ganze Zukunft auf blinden Glauben auf¬
bauen wollte; ſie hat zu arbeiten, Stein für Stein des herrſchenden
Syſtems niederzureißen und in den Rahmen desſelben die Vor¬
bedingungen für das zukünftige aufzubauen. Dazu dient aber
vor allen Dingen der gewerkſchaftliche Kampf. Ich glaube dieſen
Abſchnitt nicht beſſer ſchließen zu können, als mit den vorzüg¬
lichen Worten Eduard Bernſtein's: „Man braucht kein
Mancheſtermann oder Anarchiſt, kein Gegner der Anrufung oder
Benutzung des Staates zu ſein, um es für wenig wünſchens¬
werth zu halten, daß die Arbeiter ſich daran gewöhnen, alle
Hilfe und Verbeſſerung vom Staat, „von oben her“, zu erwarten.
Wer ſich nicht einem Glauben an zukünftige Wunder ergiebt,
der Vorſtellung, daß man in jedem Augenblick des Bedarfs
leiſtungsfähige organiſche Gebilde aus dem Boden ſtampfen
kann, wird in der Gewerkſchaft nicht nur eine Vorſchule weit¬
gehender demokratiſcher Selbſtverwaltung begrüßen, ſondern auch
einen wichtigen Hebel der von der Sozialdemokratie erſtrebten
wirthſchaftlichen Umgeſtaltungen. Der Satz, daß die Emanzipation
der Arbeiterklaſſe das Werk dieſer ſelbſt ſein muß, hat eine
weitere Bedeutung als blos die der Eroberung der Staatsgewalt
durch die Arbeiter.“ *)

II.
Das Hilfskaſſen- und Unterſtützungsweſen
in den Gewerkſchaftsorganiſationen
.

„Schreibt man über Gewerkſchaften, ſo kann man nicht um¬
hin, von England zu ſprechen“, ſo ſagt Parvus in ſeiner
wiederholt erwähnten Schrift. Auch ich habe dieſes ſchon in
dem vorherigen Abſchnitt gethan und muß es jetzt wieder thun.
— Wenn man die engliſchen Gewerkſchaftsorganiſationen näher
betrachtet, ſo wird man finden, daß ſich dieſelben vor Allem in
einem Punkte weſentlich von denen der deutſchen Arbeiter
unterſcheiden. Die meiſten Berufsorganiſationen des engliſchen
Proletariats und namentlich die größeren ſind nicht ſogenannte
reine Gewerkſchaftsvereine, ſondern ſie beſitzen auch den Charakter
von Verſicherungs-Geſellſchaften auf Gegenſeitigkeit und
[14] zwar dadurch, indem ſie Unterſtützungen bei Arbeitsloſigkeit, Un¬
fällen, Arbeitsunfähigkeit, Auswanderung, in Krankheits-, Todes¬
fällen u. ſ. w. gewähren. Die meiſten deutſchen Gewerkſchafts¬
organiſationen haben derartige Unterſtützungen nicht, oder doch
nur ganz minimale. — Und dieſes ſcheint mir der ſpringende
Punkt zu ſein, weshalb die engliſchen Organiſationen ſtärker
ſind, Stabili[t]ät beſitzen und einen wirklichen dauernden
Einfluß
auf die Lohn- und Arbeitsverhältniſſe ausüben können,
als die deutſchen Durch das Unterſtützungsweſen hat man die
Maſſe für die Organiſation gewonnen, hat ſie dauernd an der¬
ſelben gekettet und iſt durch einzelne Unterſtützungszweige ferner
im Stande, den Arbeitsmarkt, reſp. den Preis der Waare Ar¬
beitskraft, auch ohne Streiks indirekt beeinfluſſen zu können. —
Daß dieſe meine Annahmen richtig ſind, wird durch folgende
Thatſachen bewieſen. — Die engliſche Gewerkſchaftsbewegung
war einſt ohne ihr jetziges ausgebautes Unterſtützungsweſen
genau dasſelbe was gegenwärtig die deutſche iſt. Auch ſie drehte
ſich damals im Kreiſe herum und bildete eine Kette von un¬
unterbrochenen Niederlagen. Erſt als durch William Allon
und William Newton die Amalgamirte Vereinigung der Ma¬
ſchinenbauer mit ihrem ausgedehnten Unterſtützungsweſen im
Jahre 1851 in's Leben gerufen wurde, iſt die engliſche Gewerk¬
ſchaftsbewegung zu ihrer heutigen Bedeutung gekommen; erſt
als dieſes „Neue Muſter“ von den meiſten anderen Organi¬
ſationen nachgeahmt wurde, haben ſich dieſe auf ihre gegenwärtige
Stärke und Stabilität entwickelt. Man ſtudire nur Ge¬
ſchichte des Britiſchen Trade-Unionismus und man wird die
Behauptung bewahrheitet finden. Aber auch durch die deutſche
Gewerkſchaftsbewegung wird dieſelbe beſtätigt. Die wenigen
deutſchen Gewerkſchaftsorganiſationen, welche ihren Mitgliedern
größere Unterſtützungen gewähren, alſo auch gleichzeitig den
Charakter von Verſicherungsgeſellſchaften haben, beſitzen
einen viel ſtärkeren und feſteren Mitgliederbeſtand als diejenigen,
welche nur reine Gewerkſchaftszwecke verfolgen. — Das Haupt¬
mittel des gewerkſchaftlichen Verſicherungsweſen iſt meines Er¬
achtens nach die Arbeitsloſen-Unterſtützung: ich werde ſie in dem
folgenden Abſchnitt eingehend behandeln und dabei eine Reihe
von Ausführungen machen, die ich eigentlich ſchon hier machen
müßte, um aber Wiederholungen zu vermeiden, unterlaſſen habe.

III.
Die Unterſtützung der Arbeitsloſen und die
gewerkſchaftlichen Organiſationen.

Parvus ſagt ſehr richtig, daß die Frage der Arbeitsloſen-
Unterſtützung für die Gewerkſchaftsorganiſationen keine prin¬
zipielle
, ſondern eine rein taktiſche iſt. Alle diejenigen,
[15] welche für die Einführung der Arbeitsloſen-Unterſtützung ein¬
treten, thun dann auch dieſes nicht aus Gründen der Humanität,
alſo aus Prinzip, ſondern lediglich aus Gründen der Taktik,
der Kriegsführung, um dasjenige zu erreichen, was bisher
nicht möglich geweſen iſt. — So auch ich. — Ich glaube,
daß die Einführung der Arbeitsloſen-Unterſtützung in die Ge¬
werkſchaftsorganiſationen vor allem folgende Umſtände be¬
dingen muß:


  • 1. Der Mitgliederbeſtand der Organiſationen wird
    bedeutend wachſen.
  • 2. Der Mitgliederbeſtand wird erheblich an Sta¬
    bilität zunehmen.
  • 3. Die Kaſſenbeſtände werden ſich vergrößern.

Schon dieſe Umſtände müſſen, wenn ſie zutreffend ſind,
eine bedeutende Verbeſſerung der Chancen der gewerkſchaftlichen
Kämpfe zur Folge haben.


  • 4. Die Organiſationen können die erzielten Er¬
    rungenſchaften auch auf die Dauer feſthalten
    und ſind im Stande, auch ohne Streiks, in¬
    direkt einen Einfluß auf den Arbeitsmarkt,
    reſp. auf die Lohn- und Arbeitsbedingungen
    auszuüben
    .

Die jetzt folgenden Ausführungen ſollen die aufgeſtellten
Theſen beweiſen.


Nach einer im Jahre 1894 vom „Correſpondent“ veröffent¬
lichten Statiſtik — neue Zahlen ſtehen mir nicht zur Verfügung,
doch hat dieſes wenig zu ſagen, da gegenwärtig die Verhältniſſe
genau ſo oder doch ähnlich liegen — waren in folgenden Bran¬
chen, deren gewerkſchaftliche Vereinigungen die Arbeitsloſen-
Unterſtützung eingeführt
hatten, folgender Prozentſatz der
Berufsgenoſſen organiſirt: Buchdrucker 50 pCt., Handſchuh¬
macher 74 pCt., Bildhauer 56 pCt., Kupferſchmiede 35 pCt.,
Porzellanarbeiter 25 pCt. und Zigarrenſortirer 24 pCt. In den
Berufen, deren Organiſationen keine Arbeitsloſen-Unterſtützung
zahlten, ſtellt ſich dagegen das Verhältniß wie folgt: Tabak¬
arbeiter 11 pCt., Maurer 3 pCt., Metallarbeiter 8 pCt., Holz¬
arbeiter 2 pCt., Zimmerer 5 pCt. u. ſ. w. Wenn man dieſe
Zahlen näher betrachtet, muß ſich doch jedem die Ueberzeugung
aufdrängen, daß die Arbeitsloſen-Unterſtützung eine gewaltige
Rolle bei der Stärke der Organiſation mitſpielt, — Jene An¬
nahme, daß die Buchdrucker nur deshalb ſtärker organiſirt
wären, weil ihr Beruf eine beſſere Bildung erfordere, als die
der anderen Branchen, iſt irrthümlich. Die beſſere Bildung
kann nur eine ganz untergeordnete Rolle mitſpielen, ſonſt
könnten die Handſchuhmacher, Kupferſchmiede ꝛc. nicht ſtärker
organiſirt ſein als die Metallarbeiter, da dieſe Berufe in betreff
der erforderlichen Bildung auf ein und derſelben Stufe ſtehen.
— Man frage ferner nur die Leiter jener Organiſationen, welche
Arbeitsloſen-Unterſtützung gewähren, weshalb ſie beſſer organi¬
ſirt ſind, ſo wird man ſtets die Antwort erhalten, daß es das
Unterſtützungsweſen und vor allem die Arbeitsloſen-Unterſtützung
ſei, durch die man die meiſten Mitglieder gewonnen hat.


[16]

Die Menſchen ſind nun einmal Egoiſten und auch die Ar¬
beiter machen davon keine Ausnahme; für jeden Groſchen, den
ſie zu irgend einer Sache geben, wollen ſie gleich greifbare ma¬
terielle Vortheile ſehen. Man agitire nur in Werkſtätten, Fa¬
briken und Verſammlungen unter Indifferente für die Organi¬
ſation und in der Regel iſt ſtets die erſte Frage, die man hört:
„Was bietet mir die Organiſation?“ Was bekomme ich denn,
wenn ich derſelben beitrete?“ Jeder geſchickte Gewerkſchaftler
wird mit dieſer Thatſache rechnen müſſen und daher die Orga¬
niſation ſo einzurichten haben, daß ſie den Wünſchen der
Maſſe entſpricht. An den höheren Beitrag ſtoßen ſich die
meiſten Arbeiter nicht, wie alle bisherigen Erfahrungen lehren.
— In Berlin haben in letzterer Zeit einige Verwaltungsſtellen
zentraler Organiſationen die Arbeitsloſen-Unterſtützung nur
für ihre Verwaltungsſtelle eingeführt und trotzdem eine lokale
Arbeitsloſen-Unterſtützung nie die Bedeutung haben kann, wie
die zentrale, trotzdem ſind dieſe Organiſationen ſofort gewachſen;
und jene Mitglieder, welche früher zu den [engagirteſten] Gegnern
der Arbeitsloſen-Unterſtützung gehörten, ſind durch die That¬
ſachen belehrt, zu eifrigen Befürwortern derſelben geworden.
Diejenigen, welche annehmen, die Maſſe auch ohne derartige
Zugmittel gewinnen zu können, befinden ſich im gewaltigen
Irrthum; alle bisherige Erfahrungen ſchlagen dieſer
Annahme geradezu in's Geſicht
. Tauſende von Agi¬
tatoren können noch Jahre und Jahre mit Engels¬
zungen reden und immer werden wir auf dem alten
Standpunkte ſtehen bleiben
. — Auch die engliſche Gewerk¬
ſchaftsbewegung beweiſt dieſes. Schon im vorigen Abſchnitt
habe ich angeführt, daß dieſelbe erſt dann ihre jetzige Höhe er¬
reicht hat, als ſie das Unterſtützungsweſen einführte und aus¬
baute. — Daß die meiſten engliſchen Gewerkſchaftsorganiſationen
und namentlich die der größeren Induſtriezweige Arbeitsloſen-
Unterſtützung zahlen, dafür folgende Beweiſe:


Von den 202 Trade-Unions, welche Arbeitsloſen-Unter¬
ſtützung z. B. im Jahre 1894 zahlten, gehörten


40 mit 175 544 Mitgliedern den Eiſenbahnarbeitern und
Schiffbauern an.


23 mit 97 703 Mitgliedern dem Baugewerbe,
41 mit 94 881 Mitgliedern der Textilinduſtrie,
13 mit 65 998 Mitgliedern der Bekleidungsinduſtrie,
19 mit 34 715 Mitgliedern dem Buchdruck- und Buch¬
bindergewerbe,


28 mit 25 185 Mitgliedern der Möbelinduſtrie und ver¬
wandten Gewerben (wie Wagenbauer, Faßbinder, Kork-, Glas-,
Leder- und Hafenarbeiter),


10 mit 87 585 Mitgliedern der Montaninduſtrie an.


Nur zwei größere engliſche Gewerkſchafts-Verbände — ab¬
geſehen von dem der ungelernten Arbeiter — zahlen keine
Arbeitsloſen-Unterſtützung und zwar die der Baumwoll- und
Bergarbeiter von Lankaſhire und Yorkſhire. Wenn dieſe beiden
Verbände trotzdem ſtark und von Bedeutung ſind, ſo kommt
dieſes nur daher, daß ganz beſondere Umſtände in dieſen In¬
[17] duſtrieen günſtig für die Organiſation wirken. Einmal iſt dieſes
die Arbeiterſchutzgeſetzgebung, welche, wie z. B. das
Berggeſetz verlangt, daß jede Grube Wiegekontrolleure anzu¬
ſtellen hat, die von den Arbeitern zu wählen ſind. Nun wählt
man hierzu meiſtens die Ortsbeamten der Organiſation und
ſichert ſich dadurch einen feſten Beamtenſtab. Trotzdem iſt die
Bergarbeiter-Föderation von Lankaſhire im Jahre 1894 von
41000 auf unter 20000 Mitglieder zuſammengeſchrumpft. —
Dann kommt zweitens noch der Umſtand hinzu, daß die ge¬
nannten Induſtriezweige ſich auf beſtimmte Punkte Englands
konzentriren und ſo die Organiſationsarbeit bedeutend erleich¬
tern. — Sidney und Beatrice Webb konſtatiren in ihrem
Werk „Die Geſchichte des britiſchen Trade-Unionismus“ und
auch Ed. Bernſtein in dem Nachwort deſſelben, daß das
Hilfskaſſenweſen viel zur heutigen Stärke und Stetigkeit der
engliſchen Gewerkſchaftsbewegung beigetragen hat. — Man ziehe
nun doch die Lehre daraus und thue desgleichen! — Oder gilt
denn wirklich das Wort, daß die Menſchen aus der Geſchichte
nichts lernen?!


Dann zu meiner zweiten Behauptung. Nach ihr ſollen die
Organiſationen durch die Arbeitsloſen-Unterſtützung auch er¬
heblich an Stabilität gewinnen. — Heute fehlt den Organi¬
ſationen ohne Arbeitsloſen-Unterſtützung ſolche gänzlich. Sie
gleichen Taubenſchlägen; die Mitglieder kommen und gehen
ſtändig. Auf der einen Seite laſſen ſich zehn aufnehmen und
auf der anderen Seite müſſen zu gleicher Zeit zehn wegen
Rückſtändigkeit der Beiträge ausgeſchloſſen werden. In Wirk¬
lichkeit gehören dieſen Organiſationen keine 25 pCt. der Mit¬
glieder längere Zeit an und darum ſinkt die Zahl der wirklich
Organiſirten auf das äußerſte Minimum herab. — Einige Be¬
weiſe dafür. — Der deutſche Holzarbeiter-Verband nahm im
Jahre 1895 20000 neue Mitglieder auf und in derſelben Zeit
traten 17000 Mitglieder aus. Der Verband der Schneider
nahm im Jahre 1894 12000 Mitglieder auf und 10000 ſchieden
aus. — So aber verhält es ſich mit allen Organiſationen ohne
Arbeitsloſen-Unterſtützung. — Woher dieſe Erſcheinung? Tau¬
ſende treten, nachdem ein Agitator in bezaubernden Worten
gezeigt hat, was alles zu erreichen ſei, wenn Einigkeit geſchaffen
werde, in den ſchönen Traum der Organiſation bei, daß nun
endlich bald eine beſſere Zukunft hereinbrechen werde. Sie
zahlen einige Wochen und vielleicht auch Monate ihre Beiträge,
doch die ſchöne Zukunft kommt nicht; entweder ſteht noch immer
die Maſſe der Organiſation fern, oder die Konjunktur iſt ſchlecht,
daß momentan nichts unternommen werden kann. Der ſchöne
Traum verliert allmählich an Schönheit, verſchwindet ſchließlich
ganz und der Gedanke taucht auf und wurzelt ſich immer feſter
und feſter, daß doch durch die Organiſation nichts zu erreichen
ſei. Wozu dann Beiträge zahlen? Sie werden nicht mehr ge¬
zahlt und der Ausſchluß erfolgt. Tauſende und abermals
tauſende haben dieſen Ideengang durchgemacht. In Berlin z. B.
und ſo auch in den meiſten anderen größeren Orten, giebt es
in ſehr vielen Branchen wohl ſo gut wie keine Arbeiter, die
[18] nicht ſchon einmal organiſirt waren. Aber deshalb, weil ſich
ihre Hoffnungen nicht erfüllt, ſind ſie wieder ausgetreten. Ja
ſelbſt Leute, welche einſt die beſtehenden Organiſationen in's
Leben gerufen haben, zu ihren thätigſten Mitgliedern gehörten,
ſind heute aus genau denſelben Gründen von der Bildfläche
verſchwunden. — Ganz anders liegt die Sache in Organi¬
ſationen mit Arbeitsloſen-Unterſtützung, oder anderen Unter¬
ſtützungseinrichtungen. Hier erwerben die Mitglieder durch die
Zahlung eines höheren Beitrages nach beſtimmter Friſt Rechte
auf Unterſtützungen. Zahlen ſie ihre Beiträge nicht regelmäßig,
ſo gehen ſie dieſer Rechte verluſtig. Dieſer Umſtand zwingt
die Mitglieder, der Organiſation treu zu bleiben. Die meiſten
Arbeiter haben heute mit der Thatſache zu rechnen, daß ſie einſt
arbeitslos werden können, dann ſind ſie, gehören ſie einer
Organiſation mit Arbeitsloſen-Unterſtützung an, vor der größten
Noth geſchützt. Das überlegt und ſagt ſich Jeder. Schon des¬
halb werden die meiſten in ſolchen Organiſationen nicht mit
ihren Beiträgen im Rückſtande bleiben und ſich ausſchließen
laſſen, weil dieſes mit direktem materiellem Schaden verbunden
iſt, was in den Organiſationen ohne Arbeitsloſen-Unterſtützung
ſo gut wie nicht zutrifft. In den letzten Organiſationen kann
man zu jeder Zeit vollberechtigtes Mitglied werden, in den Or¬
ganiſationen mit Arbeitsloſen-Unterſtützung nicht, da tritt dieſes
erſt nach ein oder zwei Jahren ein, nachdem man eine höhere
Summe an dieſelbe gezahlt hat. — Schon der geſunde Menſchen¬
verſtand muß es ſagen, daß unſere Annahme richtig iſt und
durch die Thatſachen wird ſie auch beſtätigt. Der Verband der
Buchdrucker verlor 1893 bei 16000 Mitgliedern nur 1210 durch
Austritt, Todesfall und Ausſchluß — So wird alſo durch
dieſes Mittel die Maſſe dauernd an die Organiſation gekettet
und dieſe erhält einen ſtabilen Charakter, Das ſogenannte
reine „geiſtige Band“ genügt nun einmal nicht, um die
Maſſe für die Organiſation zu gewinnen und ſie an derſelben
zu feſſeln, es bedarf des materiellen Bandes, dieſes aber wird
durch die Arbeitsloſen-Unterſtützung geſchaffen. — Selbſt die
wirthſchaftlichen Organiſationen der Beſitzenden haben derartige
materielle Bänder nothwendig. Die landwirthſchaftlichen Or¬
ganiſationen ſorgen für Kredit, Düngermittel, Maſchinen, Feuer¬
verſicherung u. ſ. w.; die der Induſtriellen und des Handels¬
ſtandes gewähren ähnliche Dinge. — Auch die Arbeiter werden
nur ſo die Maſſe für die Berufsorganiſationen gewinnen und
halten können. — Man laſſe ſich nicht etwa durch den gegen¬
wärtigen wirthſchaftlichen Aufſchwung täuſchen; wenn auch durch
denſelben viele Organiſationen an Mitgliedern und Stabilität
gewonnen haben, ſo iſt das doch nur vorübergehend. — Ge¬
winnen aber die Organiſationen durch die Arbeitsloſen-Unter¬
ſtützung an Stabilität, ſo muß dieſes eine ganze Reihe von
weiteren Vortheilen für dieſelbe zur Folge haben. Jene Zän¬
kereien kleinlichen Charakters, die heute viele Organiſationen
beherrſchen, werden abnehmen. Das Wiſſen der einzelnen
Mitglieder in gewerkſchaftlichen Dingen muß zunehmen, ſie
werden ſelbſt urtheilen lernen und ſich nicht von Perſonen ge¬
[19] brauchen laſſen, die nur ehrgeizigen und ſelbſtſüchtigen Plänen
unter dem Deckmantel anderer Fragen nachlaufen und oft die
ganze Organiſation zerſtören.


Dann zu meiner dritten Behauptung, daß die Kaſſenbeſtände
ſich durch die Einführung der Arbeitsloſen-Unterſtützung ver¬
größern müſſen. — Dieſes muß unbedingt eintreten. Man
betrachte nur die Kaſſenbeſtände der Organiſationen mit Arbeits¬
loſen-Unterſtützung und man wird meine Behauptung beſtätigt
finden.


Nach der letzten von der General-Kommiſſion veröffentlichten
Statiſtik hatten die Buchdrucker einen Kaſſenbeſtand von 49,12,
Bildhauer 15,06, Handſchuhmacher 14,47, Hutmacher 34,80, Zi¬
garrenſortirer 18,69 Mk. pro Kopf des Mitgliedes. Das waren
Organiſationen mit Arbeitsloſen-Unterſtützung. Bei Verbänden
ohne Arbeitsloſen-Unterſtützung ſtellt ſich das Verhältniß wie
folgt: Metallarbeiter 1,17, Maler 3,61, Holzarbeiter 1,13,
Former 2,86, Bäcker 0,67, Bauarbeiter 0,46 Mk. u. ſ. w. —
Sehen die Unternehmer, daß größere Kaſſenbeſtände vorhanden
ſind, ſo werden ſie ſich bei Lohnbewegungen ꝛc. lange nicht ſo
halsſtarrig ſtellen, wie gegenwärtig. Jetzt wiſſen ſie ſehr gut,
daß den eventuell Streikenden bald das Geld ausgeht und ſie
dann wieder kommen müſſen; darum geben ſie nicht nach und
bleiben Sieger. Sind doch im vorigen Jahre unbedingt auf
Grund dieſer Thatſache eine ganze Reihe Streiks von den
Unternehmern provozirt worden, um die ihnen einſt vielleicht
ſpäter gefährlich werden könnende [Organiſation] in ihrem Keime
zu vernichten. — Die deutſchen Arbeiter müſſen zur Zahlung
höherer Beiträge erzogen werden, wollen ſie durch den gewerk¬
ſchaftlichen Kampf etwas erreichen. — Die Arbeitsloſen-Unter¬
ſtützung wird dazu führen. Betrachten wir uns einmal die
engliſchen Gewerkſchaftsorganiſationen in dieſer Beziehung.
Staunen werden tauſende deutſcher Arbeiter, wenn ſie die Ein¬
nahmen, Ausgaben und Kaſſenbeſtände derſelben ſehen.


Bei den Vereinigten Maſchinenbauern ſtellte ſich
dieſes Verhältniß 1893 — neuere Zahlen habe ich nicht zur
Verfügung — wie folgt:


Einnahme ....... 5400000 Mk.


Ausgabe ....... 5700000 "


Kaſſenbeſtand .....4000000 "


Alle 49 zentraliſirten deutſchen Organiſationen
hatten 1895 eine


Einnahme von ..... 2745617 Mk.


Ausgabe von ..... 2140985 "


Kaſſenbeſtand von .... 1640437 "


Hierbei iſt nicht zu vergeſſen, daß die Hälfte der Einnahme,
Ausgabe und des Kaſſenbeſtandes auf das Konto der deutſchen
Buchdrucker kommt. — Alſo ſind in einer einzigen engliſchen
Organiſation die Kaſſenverhältniſſe beinahe 2½ mal ſo groß, als
wie in allen deutſchen Gewerkſchafts-Verbänden zuſammen.
Wenn man ſich dieſen ungeheuren, gewaltigen Gegenſatz vor
Augen führt, ſo wird man begreifen müſſen, wo des Pudels
Kern liegt, weshalb die engliſchen Arbeiter andere Erfolge wie
[20] die deutſchen aufzuweiſen haben. — Nach dieſer Richtung hin
müſſen alſo die deutſchen Gewerkſchaftsorganiſationen ausgebaut
werden, dann werden ſie auch Fortſchritte machen. Ohne Pulver
und Blei kann kein Krieg geführt werden und ohne Geld kein
gewerkſchaftlicher Kampf, der Ausſicht auf Erfolg haben ſoll.
Die deutſchen Arbeiter kämpfen aber meiſtens ohne Geld. Sehr
richtig ſagte der Genoſſe Dreher auf dem zweiten Kongreß der
Handelshilfsarbeiter: „Eine Kampfesorganiſation ohne Kriegs¬
fonds kommt mir vor wie ein Soldat, der unter dem Tamtam
der Schlachtmuſik in's Feld zieht, zu Hauſe aber Gewehr und
Patronen vergeſſen hat.“ — Darum führe man die Arbeitsloſen-
Unterſtützung ein; ſie wird größere Kaſſenbeſtände zur Folge
haben, ſie wird die Maſſe zur Zahlung höherer Beiträge er¬
ziehen. —


Treffen die vorher näher erläuterten Umſtände zu, wachſen
die Organiſationen an Mitgliedern, Stabilität und Geld, ſo
müſſen ſich dadurch naturgemäß die Poſitionen der gewerkſchaft¬
lichen Kämpfe bedeutend verbeſſern. Die Organiſationen werden
z. B. Minimallöhne, wie in den meiſten Berufen Englands, zur
Durchführung bringen können, die in Deutſchland noch faſt
überall in's Reich der Märchen gehören. — Sie werden weitere
Erfolge erzielen. — Viele Kämpfe, die bisher mit einer Nieder¬
lage endeten, würden dann Siege bedeuten. — Ferner zu meiner
vierten Behauptung, daß Organiſationen mit Arbeitsloſen-Unter¬
ſtützung auch im Stande ſind, die erzielten Errungenſchaften auf
die Dauer feſtzuhalten. — Die gegenwärtigen Organiſationen
können dieſes in der Regel nicht. Sobald die Geſchäftslage ſich
verſchlechtert, iſt der Unternehmer bemüht, den Arbeitern wieder
jene Zugeſtändniſſe zu entreißen, die er ihnen zu Zeiten der
günſtigen Konjunktur machen mußte. Dieſes gelingt ihm in den
meiſten Fällen ohne große Schwierigkeiten, da die Arbeiter ſo
gut wie gar keinen Widerſtand dem entgegenſetzen können. —
Nehmen wir einmal an, daß es den Arbeitern irgend einer
Branche bei günſtiger Konjunktur gelungen war, einen Lohn von
21 Mk. pro Woche zu erzielen, ſo wird der Unternehmer, ſobald
die günſtige Geſchäftslage etwas nachläßt, ſofort den Verſuch
machen, nur 20 oder 19 Mk. zu zahlen. Er rechnet ſehr richtig
mit dem Umſtand, daß ſich in Folge der vergrößerten Arbeits¬
loſigkeit genug Leute finden werden, die der Hunger zwingt, zu
dieſen Bedingungen zu arbeiten. Daher werden ſeine Arbeiter
von 1000 in 999 Fällen, ohne auch nur ein Wort zu ſagen, ſich
mit der Bedingung einverſtanden erklären, weil auch ſie ſehr gut
wiſſen, daß ſie ſonſt ſofort hinausfliegen und dann dem Hunger
preisgegeben ſind. Wohl wird mancher eine Fauſt in der Taſche
machen, doch durch das drohende Geſpenſt des Hungers ge¬
zwungen, beugt er ſich dem Willen und der Ausbeutung des
Unternehmers. — Darum auch die Erſcheinung, daß durchweg
den Organiſationen ohne Arbeitsloſen-Unterſtützung die erzielten
Errungenſchaften bald wieder entriſſen werden, daß ſie ſich in
ihren Kämpfen im Kreiſe herumdrehen, Streiks unternehmen
müſſen, um dasjenige wieder zu erobern, was bereits vor zehn
oder mehreren Jahren einmal errungen war — Ganz anders
[21] liegt die Sache in Organiſationen mit Arbeitsloſen-Unterſtützung.
Die Lohn- und Arbeitsbedingungen bewegen ſich hier nicht im
Kreiſe, ſondern durchgängig auf aufſteigender Skala. Warum?
Weil die Arbeitenden durch die Arbeitsloſen-Unter¬
ſtützung
gegen beabſichtigte Reduzirungen ſich erfolgreich
wehren können
; weil ferner die Arbeitsloſen in Folge der
Arbeitsloſen-Unterſtützung nicht zu jedem Preis an¬
fangen werden
. — Denn in Organiſationen mit Arbeitsloſen-
Unterſtützung erlangt die Organiſation eine viel größere Macht
gegenüber den einzelnen Mitgliedern; ſie kann dieſelben zwingen,
die gefaßten Beſchlüſſe zur Durchführung zu bringen und ſie ein¬
zuhalten, was in Organiſationen ohne Arbeitsloſen-Unterſtützung
ſo gut wie nicht der Fall iſt. Letztere Vereinigungen haben zur
Durchführung und Einhaltung gefaßter Beſchlüſſe nur das
Mittel des moraliſchen Drucks zur Verfügung, während die
Organiſationen mit Arbeitsloſen- und anderen Unterſtützungen
auch einen gewiſſen materiellen Druck auf ihre Mitglieder aus¬
üben können. Verſucht der Unternehmer die Löhne zu reduziren
oder andere Verſchlechterungen vorzunehmen, ſo wird der Ar¬
beiter, der Arbeitsloſen-Unterſtützung erhält, wenn er ſich nicht
ſelbſt dagegen wehrt, von ſeiner Organiſation gezwungen, da¬
gegen Front zu machen, ſonſt wird er — natürlich immer vor¬
ausgeſetzt, daß ſeine Berufsvereinigung beſtimmte Lohnſätze ꝛc.
feſtgeſetzt hat — ausgeſchloſſen, was für ihn mit materiellem
Schaden verbunden iſt, da dann alle ſeine langjährig erworbenen
Rechte zum Teufel gehen. Der reine moraliſche Druck kann
nie in demſelben Maaße eine Wirkung ausüben, da er zum Theil
durch Noth und Elend beſeitigt wird und an den wenig feſten
Charakteren ſcheitert. — Daher finden wir auch, daß ſtabile Or¬
ganiſationen mit Arbeitsloſen-Unterſtützung ein großes Augen¬
merk auf die Einhaltung gefaßter Beſchlüſſe und erzielter Er¬
rungenſchaften richten, wählend die Organiſationen ohne Arbeits¬
loſen-Unterſtützung dieſes meiſtens nicht thun und in Folge der
geſchilderten Umſtände nicht thun können und ſtillſchweigend,
ohnmächtig zuſehen müſſen, wie die Beſchlüſſe und Abmachungen
nicht eingehalten werden. — Dann ferner wird der Arbeitsloſe
— wie bereits betont — nicht zu jedem Preis anfangen, weil
er vor der größten Noth gleichſam geſchützt iſt, und auch nicht
anfangen dürfen aus den ſchon vorher angeführten Gründen. —
So iſt alſo die Arbeitsloſen-Unterſtützung im Stande, die Ar¬
beitskraft reſp. den Preis der Waare Arbeitskraft indirekt zu
beeinfluſſen und erweiſt ſich daher als ein vorzügliches Kampfes¬
mittel zur Verbeſſerung der Lebenslage des Proletariats. — Die
Geſchichtsſchreiber der engliſchen Gewerkſchaftsbewegung betonen
daher auch, daß eines der wichtigſten und wirkſamſten Mittel der
beſſeren Organiſationen zur indirekten Beeinfluſſung des Arbeits¬
marktes und zur Verhütung von Lohnreduktionen die Unter¬
ſtützung der Arbeitsloſen ſei. — Obgleich die Richtigkeit meiner
Ausführungen für jeden Denkenden ſelbſtverſtändlich ſein muß,
will ich doch noch einen Beweis für dieſelben anführen. — Der
Vorſtand des Verbandes der deutſchen Handſchuhmacher theilte z. B.
der General-Kommiſſion der Gewerkſchaften Deutſchlands im
[22] Jahre 1894 mit daß in Folge der ungünſtigen Konjunktur und
übergroßen Arbeitsloſigkeit die Gefahr vorliege, daß die Fabrikanten
die Arbeitsverhältniſſe verſchlechtern würden. Durch Gewährung
von Arbeitsloſen-Unterſtützung auch an die noch nicht bezugs¬
berechtigten Mitglieder gelanges, den Zuzug von Handſchuhmachern
von den bedrohten Orten fernzuhalten und dadurch einer Lohn¬
reduktion ſeitens der Fabrikanten vorzubeugen. — Und was
ſagen zu ſolchen Thatſachen die Helden, welche durch leere Redens¬
arten die Arbeitsloſen-Unterſtützung glauben abthun zu können?
— Komme ich nun zu den hauptſächlichſten Einwänden, die gegen
die Arbeitsloſen-Unterſtützung gemacht werden. — „Die Unter¬
ſtützung der Arbeitsloſen ſei aus prinzipiellen Gründen zu ver¬
werfen.“ „Der Staat habe die Verpflichtung, die Arbeitsloſen
zu unterſtützen.“ — So lauten einige der erſten Einwände. Ich
habe nun ſchon am Anfang dieſes Abſchnittes darauf ausführlich
hingewieſen, daß die Frage der Arbeitsloſen-Unterſtützung gar
keine prinzipielle, ſondern eine rein taktiſche iſt. — Ferner:
Der heutige Staat erkennt die Verpflichtung, irgend einem ſeiner
Mitglieder eine Garantie für ſeine Exiſtenz zu bieten, nicht an
und ebenſowenig glaubt er verpflichtet zu ſein, die Arbeitsloſen
zu unterſtützen. Es ſind auch nicht die geringſten Ausſichten
vorhanden, daß er in den nächſten Jahren und Jahrzehnten eine
ſolche Verpflichtung anerkennen wird. — Sind wir nun auch
der Meinung, daß die Geſellſchaft wohl die Verpflichtung habe,
ihren Mitgliedern, ſoweit dieſe zum Nutzen derſelben thätig ſein
wollen, eine Garantie für ihre Exiſtenz zu bieten, ſo iſt es doch
kindiſch gehandelt, wenn man aus dieſem Grunde gegen die Ein¬
führung der Arbeitsloſen-Unterſtützung iſt. Gerade ſie ſoll dazu
dienen, um das Proletariat vorwärts zu bringen, um ſo immer
näher jenem Geſellſchaftszuſtand zu kommen, der uns als Ideal
vorſchwebt. Iſt die Behauptung richtig, daß der Staat die Ver¬
pflichtung habe, die Arbeitsloſen zu unterſtützen und deshalb eine
Unterſtützung derſelben durch die Gewerkſchaftsorganiſationen zu
verwerfen ſei, ſo muß man logiſcher Weiſe auch die Gewerkſchafts¬
bewegung verwerfen, denn in demſelben Sinne hat dann auch
der Staat die Verpflichtung, den Arbeitern eine ſolche Exiſtenz
zu gewähren, bei der ſie auskömmlich leben können und nicht
erſt ſich eine derartige durch große Opfer erkämpfen müſſen. —
Dann ſind viele aus dem Grunde gegen die Arbeitsloſen-Unter¬
ſtützung, weil ſie meinen, die Arbeiterklaſſe müſſe noch tiefer in
ihrer materiellen Lage ſinken, dann erſt werde ſie ſich zu einem
gewaltigen Kampfe aufraffen; die Unterſtützung der Arbeitsloſen
diene aber zur Verbeſſerung ihrer Lage. — Dieſe Anſicht iſt
grundfalſch. Sinkt das Proletariat in ſeiner Lebenslage noch
tiefer, ſo wird es ſich nie aus ſeinem elendiglichen Verhältniſſen
befreien können. Nur Maſſen, die einigermaßen ihren Hunger
befriedigen können, ſind im Stande, zu denken, ſich planmäßig
zu organiſiren und ſo eine beſſere Zukunft zu erſtreben. Maſſen,
die dagegen hungern müſſen, werden ſo weit durch die Noth ge¬
trieben, daß ſie nicht mehr in dem Kapital ihren Feind erblicken,
ſondern in dem eigenen Arbeitsbruder. Die Noth korrumpirt
die Maſſen, jedes Klaſſengefühl geht ihnen verloren, niedere
[23] Selbſtſucht, Schmeichelei und Kriecherei tritt an die Stelle der
Moralität, Die Loſung geht dann dahin, durch unmoraliſche
Mittel ſich eine Exiſtenz zu ſchaffen. Das Lumpenproletariat,
dieſes Produkt der größten Noth, hat nie Klaſſenbewußtſein be¬
ſeſſen, ſondern iſt durchgängig bei allen gewerkſchaftlichen, po¬
litiſchen Kämpfen und Revolutionen auf die Seite der gewalt¬
habenden Klaſſe getreten. Wohl iſt es nicht ausgeſchloſſen, daß
Maſſen, die äußerſt tief in ihrer Lebenslage ſtehen, einen
dumpfen gewaltſamen Verzweiflungskampf unternehmen, doch
dieſe Maſſen werden dann [unterliegen] oder die Kultur vernichten.
Unterliegen deshalb, weil dann unmöglich von einem planmäßigen
Vorgehen die Rede ſein kann, (antike Sklavenkämpfe, Bauern¬
krieg ꝛc.); die Kultur vernichten, wenn ſie ſelbſt zur Herrſchaft
gelangen ſollten, weil es ihnen an der Fähigkeit mangelt, die
zerſtörte Geſellſchaft aufzubauen. Donnelly hat in ſeinem Ro¬
man „Caeſars Säule“ wohl ſehr richtig geſchildert, wohin es
führen muß, wenn die Maſſe immer tiefer ſinkt, nämlich zur
Vernichtung der Kultur. Darum iſt es unſere Pflicht, für die
Hebung der Lebenslage des Proletariats einzutreten und nicht
auf eine verzweifelte, gewaltſame Erhebung der Maſſen unſere
Hoffnung zu ſetzen. — „Ja aber die Arbeitsloſen-Unterſtützung
iſt aus materiellen Gründen nicht durchführbar, da dann die
Beiträge bedeutend erhöht werden müſſen,“ ſo lautet ein weiterer
Einwand gegen dieſelbe. Müſſen die Beiträge denn wirklich ſo
bedeutend erhöht werden? Nein, keineswegs! Wenn oft zum
Beweiſe dieſer Behauptung ausgeführt wird, daß die Buchdrucker
doch 1,10 Mk. pro Woche Beitrag zahlen, um die Arbeitsloſen
unterſtützen zu können, ſo iſt auch dieſer Beweis vollſtändig ver¬
fehlt. Die Buchdrucker zahlen zur Unterſtützung der Arbeitsloſen
nach der Angabe von Eichler, welche derſelbe auf dem letzten
Gewerkſchaftskongreß machte, pro Woche nur 10 Pfg., während
der andere Beitrag zu ganz anderen Dingen verwandt wird.
Im Jahre 1894 gab die Vereinigung der Buchdrucker für
Reiſe-Unterſtützung 114913,15 Mark, für Umzugskoſten
16921,40 Mark, für Unterſtützung an dauernd Arbeitsunfähige
15967,00 Mark, für Kranken-Unterſtützung 301931,84 Mark,
ür Begräbnißgeld 16552,26 Mk., für außerordentliche Unter¬
ſtützungen 361,20 Mk. und für Arbeitsloſen-Unterſtützung
101562,00 Mk. aus. Wir ſehen alſo aus dieſen Zahlen, daß
der Beitrag von 1,10 Mk. pro Woche noch zu ganz anderen
Unterſtützungszwecken gezahlt wird, als einzig und allein zur
Unterſtützung der Arbeitsloſen. — Können aber die Arbeiter eine
Erhöhung des Beitrages um 10 und einige Pfennige mehr pro
Woche ertragen? Mancher verneint dieſes, ich bejahe es. Die
Annahme, daß durch die ſtaatliche Verſicherung die deutſchen
Arbeiter in ihrer gewerkſchaftlichen Zahlungsfähigkeit bedeutend
beeinträchtigt würden, iſt ſchon durch Parvus widerlegt worden.
Er behauptet mit Recht, daß die gewerkſchaftliche Zahlungs¬
fähigkeit der deutſchen Arbeiter im Verhältniß zu den engliſchen
durch die ſtaatliche Kranken- und Invaliditäts-Verſicherung ver¬
mehrt
werde, da bei uns die Arbeitgeber einen Theil dieſer
Beiträge aufbringen müſſen, was in England nicht der Fall iſt.
[24] — Ferner: Viele tauſende von deutſchen Arbeitern gehören
heute allen möglichen Klimbim-Vereinen an, die vielfach höhere
Beiträge erheben, als die heutigen Gewerkſchaftsorganiſationen.
Dann erinnere ich an die Fabrikkaſſen, an die privaten Ver¬
ſicherungsgeſellſchaften ꝛc. — Weiter: Von was leben die
Arbeitsloſen? Alle nehmen ſich doch unmöglich das Leben! Von
dem Gelde entweder, das ſie zur Zeit der Arbeit geſpart haben,
oder ſie machen Schulden, die nachher wieder abgezahlt werden
müſſen, oder die verſchiedenſten Gegenſtände wandern in's
Pfandhaus und werden ſpäter gegen hohe Zinſen ausgelöſt.
Sind ſie verfallen, ſo ſchafft man ſich auf Abzahlung zu theuren
Preiſen neue Gegenſtände an. Die Summen, die auf ſolchen
Art und Weiſe zum Teufel gehen, ſind natürlich erheblich
größer, als wie jene, die man für die Arbeitsloſen-Unterſtützung
zahlen würde. — „Aber durch die Verbeſſerung der Technik wird
das Heer der Arbeitsloſen immer größer, ſo daß ſchon deshalb
auf die Dauer die Unterſtützung der Arbeitsloſen nicht durch¬
geführt werden kann“, ſo ſagen wieder Andere. Auch dieſer Ein¬
wand iſt nicht ſtichhaltig. — Lieſt man die ſozialdemokratiſche
Literatur der 70er 80er Jahre, ſo wird man oft die Be¬
hauptung finden, daß die engliſchen Gewerkſchaftsorganiſationen
ihrem Ende entgegen gehen, da ſie infolge der fortſchreitenden
Arbeitsloſigkeit die Unterſtützung der Arbeitsloſen unmöglich
lange mehr durchführen werden können. Jetzt ſchreiben wir
1897 und die Gewerkſchaftsverbände der engliſchen Arbeiter haben
nicht ab, ſondern erheblich an Mitglieder zugenommen und die er¬
wähnten Prophezeihungen ſind nicht eingetroffen. — So ſchlimm
ſteht es mit der fortſchreitenden Arbeitsloſigkeit nicht, wie dieſes
ſich in den Köpfen Vieler ausmalt. Das Fortſchreiten der Technik
bedingt für den Kapitaliſten Mehrverdienſt; dieſer Mehrverdienſt
wird entweder zur Vergrößerung der Anlagen verwandt, oder
aber der betr. Kapitaliſt baut ſich eine Villa, ſchafft ſich andere
Dinge an, die er früher nicht hatte, wodurch natürlich auf
anderen Gebieten mehr Arbeiter beſchäftigt werden. — Sind
alle dieſe Einwände widerlegt worden, ſo kommen die Gegner
der Arbeitsloſen-Unterſtützung mit weiteren Behauptungen
gegen dieſelbe.


„Die Organiſationen ſeien dann aber keine Kampfesorgani¬
ſationen mehr“. Sind etwa die heutigen Organiſationen Kampfes¬
organiſationen?! Kämpfe haben nur dann einen Zweck, wenn
ſie [Vortheile], Erfolge für die Arbeiter bringen. Die heutigen
Gewerkſchaftskämpfe verlaufen aber in ihrer Mehrzahl zu Un¬
gunſten der Arbeiter und die hier und da noch erzielten geringen
Erfolge werden den Arbeitern bald wieder entriſſen. Solche
Kämpfe haben in Wirklichkeit keine Bedeutung, unnütz werden
Kräfte vergeudet und gewaltige Opfer vergebens gebracht. —
Erſt durch die Ausbauung des Unterſtützungsweſens, wodurch
die Organiſationen, wie bewieſen, ſtärker und feſter werden, er¬
zielte Errungenſchaften dauernd erhalten können, die Löhne, reſp.
den Arbeitsmarkt, zu beeinfluſſen im Stande ſind, erſt dadurch
werden die Verbände wahre Kampfesorganiſationen. — Gerade
die engliſchen Gewerkſchaftsverbände mit ihrem Unterſtützungs¬
[25] weſen haben Kämpfe durchgemacht, gegen welche die deutſchen
Arbeiter wahre Waiſenknaben ſind. — Die Einführung der Ar¬
beitsloſen-Unterſtützung führt nicht zur Verſumpfung; die Orga¬
niſationen verlieren den Kampfescharakter nicht Wohl hat ein¬
mal eine große engliſche Arbeiterorganiſation (Maſchinenbauer)
mit ausgebautem Unterſtützungsweſen Zeichen des Verfalls auf¬
zuweiſen gehabt, doch nur deshalb, weil ſie zu wenig Beamte
beſaß und deren ganze Arbeitskraft durch das Unterſtützungs¬
weſen in Anſpruch genommen wurde. Dieſen Fehler hat man
jedoch bald eingeſehen und durch Vergrößerung des Beamten¬
weſens beſeitigt. — In Deutſchland, wo das Klaſſenbewußtſein,
der Sozialismus, unter den Arbeitern tief Fuß gefaßt, iſt eine
Verſumpfung gänzlich ausgeſchloſſen. — Ferner wird eingewandt,
daß dann alle guten Ideale zum Teufel gehen. — Sind denn
die Beſtrebungen der gewerkſchaftlichen Organiſationen rein
idealer Natur?! Ich finde das nicht. Sie wollen die Lohn-
und Arbeitsbedingungen verbeſſern, dieſes iſt aber ziemlich ma¬
teriell. Wenn nun wirklich ein kleines Häuflein aus reinem
Idealismus den Organiſationen angehört, ſo möge dieſes Häuf¬
lein nicht vergeſſen, daß kraſſer Materialismus die Maſſe be¬
herrſcht, auch die Arbeiter, und mit dieſem Umſtande iſt zu
rechnen. Und dann: Wie oft werden ſelbſt die idealſt an¬
gelegten Naturen durch die Noth, durch die eherne Gewalt der
heutigen Verhältniſſe gezwungen, alle Ideale über Bord zu
werfen. Von Idealen kann Niemand leben, und wenn der
Hunger erſt mitſpricht, dann wird zu niedrigeren Löhnen ange¬
fangen, als die Gewerkſchaft es geſtattet, die Preiſe gedrückt, ja
womöglich der Arbeitsbruder aus ſeiner Stellung hinausgebiſſen,
um ſelbſt Arbeit zu erhalten. — Daher weg mit allen dieſen
Redensarten, man lerne die Menſchen begreifen, wie ſie ſind und
handele dementſprechend.


Weiter wird dann noch eingewandt, daß die Arbeiter, welche
ſich in feſten Stellen befinden, nie für eine Organiſation mit
Arbeitsloſen-Unterſtützung zu gewinnen ſein werden, da ſie von
der Arbeitsloſen-Unterſtützung nichts haben.


Einmal, welcher Arbeiter befindet ſich heute in einer feſten
Stellung? Der Arbeiter iſt für den Kapitaliſten zur Waare ge¬
worden; zu einem Gegenſtand, der zu ſeiner Bereicherung dienen
ſoll. Iſt er erſt alt geworden, kann er nicht mehr ſo viel leiſten,
wie eine jüngere Kraft, ſo fliegt er hinaus, und viele andere Um¬
ſtände können jederzeit zu ſeiner Entlaſſung führen. Dann aber
hat auch der in „feſter“ Stellung Befindliche einen Vortheil von
der Arbeitsloſen-Unterſtützung. Wie ich bereits vorher zur Ge¬
nüge bewieſen habe, wird durch dieſelbe der Arbeitsmarkt be¬
einflußt, das Unterbieten läßt nach, der Unternehmer wird auch
mit ihm nicht ſo willkürlich herumſpringen können, wie heute;
kurz, auch er hat Nutzen von derſelben.


Nun iſt es ja allerdings Thatſache, daß in einigen Organi¬
ſationen die Arbeitsloſen-Unterſtützung nicht gut durchführbar
ſein wird. So z. B. in den Organiſationen jener Induſtrien,
wo die Heimarbeit vorherrſcht, da eine Kontrolle nicht gut denk¬
bar und dem Betrug Thür und Thor geöffnet ſind. Auch die
[26] Saiſonarbeit, wie z. B. im Baugewerbe, bereitet größere Schwierig¬
keiten; doch läßt ſich hier dadurch ein Ausweg finden, indem ſie
für die Zeit eingeführt wird, wo die Saiſon ſtattfindet, wie z. B.
dieſes die deutſchen Steinſetzer beabſichtigen.


Wo die Arbeitsloſen-Unterſtützung nicht durchführbar iſt,
verſuche man durch andere Unterſtützungszweige Mitglieder
zu gewinnen und an die Organiſation zu feſſeln. Wächſt die Mit¬
gliederzahl und die Stabilität in jenen Organiſationen, wo man
die Arbeitsloſen-Unterſtützung durchführen kann und durchgeführt
wird, ſo muß dieſes ganz naturgemäß auch einen Einfluß auf
jene Organiſationen ausüben, die ſie nicht durchführen können.
Die Macht, das Anſehen und die Bedeutung der gewerkſchaft¬
lichen Vereinigung wird dann im Allgemeinen zunehmen. —
Darum Einführung der Arbeitsloſen-Unterſtützung und anderer
Verſicherungszweige.

IV.
Der Beamtenſtab der
deutſchen Gewerkſchafts-Organiſationen
.

Auch betreffs des Beamtenweſens haben die engliſchen Gewerk¬
ſchafts-Organiſationen andere Verhältniſſe aufzuweiſen, als die
deutſchen. Sie beſitzen einen größeren, beſſer beſoldeten und
ſtabileren Beamtenſtab. Ich will hier zunächſt die Gehälter der
Zentralbeamten einiger engliſchen Organiſationen angeben, um
die Gegenſätze zu beweiſen. Die Vereinigung der Maſchinen¬
bauer zahlt ihren Hauptbeamten ein jährliches Gehalt von
4200 Mk., Keſſelſchmiede 5875 Mk., Londoner Maurer 3182 Mk.,
Schuhmacher 5100 Mk. u. ſ. w.


C. Hugo nennt dieſe Gehälter in ſeinem Werk „Die engliſche
Gewerkvereins-Bewegung“ mäßig. — Daher iſt es wohl auch
erklärlich, daß die Leiter der engliſchen Gewerkſchafts-Organiſationen
den deutſchen überlegen ſind. — Leute mit hervorragender In¬
telligenz und Befähigung finden heute in der politiſchen Arbeiter¬
bewegung oder aber in bürgerlichen Berufen eine beſſer dotirte
Stellung, als ihnen die gewerkſchaftlichen Organiſationen bieten
können. Daher werden auch der deutſchen Gewerkſchaftsbewegung
Kräfte entzogen, die für ſie Bedeutendes leiſten könnten. Nichts
iſt ſo falſch, als jene Anſicht, welche in den Köpfen vieler deut¬
ſcher Arbeiter herumſpukt, daß es ganz egal ſei, wer an der
Spitze ſteht. Die Menſchen ſind durch Veranlagung, Erziehung und
ſo weiter ſehr verſchieden in ihrer Intelligenz, Begabung, Wiſſen
und Talenten, weshalb auch die Perſon eine Rolle mitſpielt.
So ſchreibt z. B. Fr. Engels in „Die Lage der arbeitenden
Klaſſe in England“, daß die Bergarbeiter-Aſſoziation von Gro߬
britannien und Irland in den vierziger Jahren zum großen
Theil nur deshalb in ihren juriſtiſchen und politiſchen Unter¬
[27] nehmen ſolche Erfolge aufzuweiſen hatte, weil ſie einen äußerſt
fähigen und energiſchen Anwalt, W. P. Roberts, angeſtellt
hatte.


Dann beſitzen die größeren engliſchen Zentral-Verbände
neben den Hauptbeamten feſtangeſtellte Diſtriktbeamten, d. h.
Beamte für die einzelnen Landestheile; welche die Fragen der
Agitation, Organiſation, Lohnbewegungen ꝛc. zu erledigen haben.
Dieſer größere Beamtenſtab kann nur zum Nutzen der Bewegung
ſein. Je mehr unabhängige Kräfte, je mehr kann für die Or¬
ganiſation geleiſtet werden. Die Fragen der Gewerkſchaftspolitik
werden mit der Konzentration des Kapitals immer ſchwieriger,
tauſenden von Punkten iſt jetzt eingehendere Aufmerkſamkeit zu
widmen, ſo daß es faſt zur Unmöglichkeit wird, daß derjenige,
welcher vom frühen Morgen bis zum ſpäten Abend in der Fabrik
thätig iſt, dieſe Dinge genau verfolgen und entſprechend richtig
handeln kann. Aus dieſem Grunde geht auch unbedingt ein
großer Theil der Streiks für die deutſchen Arbeiter verloren. —
Dann zu den Ortsbeamten. — Dieſer Einrichtung fehlt in den
meiſten deutſchen Organiſationen gleichfalls jede Stabilität.
Kommt man nach einem Ort, den man vor einigen Jahren ver¬
laſſen hat, ſo findet man durchgängig neue Perſonen in der
Gewerkſchaftsbewegung. Diejenigen, die einſt mit Feuereifer
für die Organiſationen thätig waren, ſind längſt von der Bild¬
fläche verſchwunden, gehören garnicht mehr derſelben an, haben
nur noch ein mitleidiges Lächeln für die ganze Sache, oder aber
ſind ſtiller Theilnehmer geworden. —


Woher dieſe Erſcheinung? Einmal wurzelt ſie in den ſchon
vorher genügend erwähnten Umſtänden, in den Mißerfolgen der
Bewegung, andererſeits kommt noch eine weitere Urſache hinzu.
— Die Beamten der Ortsverwaltungen erhalten für ihre Thätig¬
keit durchweg keine Entſchädigung, ja, meiſtens nicht einmal die
baaren Auslagen vergütet. Sie ſollen alles aus „Intereſſe für
die Sache“ machen, wie die gedankenloſe Behauptung lautet.
Daß dieſes „Intereſſe für die Sache“ meiſtens den leitenden
Ortsperſonen mit materiellen Opfern verbunden iſt, die ſich
jährlich oft über mehrere hundert Mark belaufen, wird dabei
nicht berückſichtigt. Drei Sitzungen und mehr ſind vielfach in
einer Woche nöthig, um die laufenden und außerordentlichen
Geſchäfte erledigen zu können. Jede Sitzung koſtet mindeſtens
50 Pf., dann kommen die Arbeitsverſäumniſſe und Ausgaben
beim Suchen von Lokalitäten, Referenten, Erledigung ſonſtiger
Dinge, Mankos, die mit den Sammlungen ꝛc. naturgemäß ver¬
bunden ſind, indirekte Maßregelungen u. ſ. w. hinzu, und nun
rechne man aus, welche materiellen Opfer ſolche Perſonen zu
bringen haben. Das können ſie aber unmöglich auf die Dauer.
Die Wirthſchaft, die Familie der Betreffenden leidet ſchließlich mit
darunter, Streitereien brechen dieſerhalb in derſelben aus —
und was iſt die Folge davon? Die Betreffenden ziehen ſich ent¬
weder gänzlich von der Bewegung zurück, oder aber werden in
ihrer Thätigkeit läſſig, um nicht zu große Opfer bringen zu
müſſen. In beiden Fällen leidet aber darunter auch die Or¬
ganiſation. Sie hat fortwährend mit neuen Kräften zu rechnen,
[28] die keine praktiſche Thätigkeit hinter ſich haben, die Lehrlinge,
aber auch zugleich Feldherr ſind. — Alle Erfahrungen — und
dieſe ſpielen im gewerkſchaftlichen Kampfe eine gewaltige Rolle
— welche der Einzelne im Laufe ſeiner Thätigkeit geſammelt
hat, und ſie ſpäter nutzbringend verwenden konnte,
gehen der Bewegung verloren, weil dieſe immer m [...]t neuen
Kräften — wie ſchon geſagt — zu rechnen hat und daher auch
die vielen Böcke, die bei uns in gewerkſchaftlichen Kämpfen ge¬
ſchoſſen werden. — Bedeutend vernünftiger und praktiſcher da¬
gegen handeln in dieſer Beziehung wieder die engliſchen Organi¬
ſationen. Die ſelbſtmörderiſche Kurzſichtigkeit der deutſchen Or¬
ganiſationen fehlt ihnen auch in dieſem Punkte. Sie gewähren
ihren leitenden Perſonen pro Sitzungsabend eine Entſchädigung
von 50 Pfg. bis 1 Mk. Die Ortsſekretäre erhalten ein kleines
Gehalt, welches nach C. Hugo ſich bei 300 Mitgliedern bis auf
400 Mark pro Jahr beläuft. — Hierdurch verlangen ſie von
ihren führenden Kräften nicht Opfer, die niemand ohne ſich ſelbſt
zu ſchädigen bringen kann und ſichern ſich einen erfahrenen und
tüchtigen Beamtenſtab. — Natürlich wird, wenn die Organi¬
ſationen mit der Ausbauung des Unterſtützungsweſens an
Stabilität zunehmen, auch dieſes einen günſtigen Einfluß auf
das Beamtenweſen ausüben.

V.
Die Sozialpolitik und die Gewerkſchaften.

Die Frage, ob die Gewerkſchaften Sozialpolitik treiben ſollen
oder nicht, iſt in den letzten Monaten wiederholt behandelt
worden, ſo durch Quarck, Parvus und in den allerletzten
Wochen durch einen Aufſatz von G. Maurer in der „Neuen
Zeit“. Daher will auch ich meine diesbezügliche Anſicht kurz
darlegen.


Meiner Anſicht nach unterliegt es gar keinem Zweifel, daß
die Gewerkſchaften Sozialpolitik treiben müſſen. — Sie haben
ſolche auch immer getrieben, nur nicht im genügenden Maße,
mehr unbewußt als bewußt und nicht planmäßig. Die Gewerk¬
ſchaften werden namentlich nach drei Richtungen in dieſer Be¬
ziehung arbeiten müſſen und zwar: 1) für die Durchführung
der beſtehenden Sozialgeſetzgebung Sorge zu tragen
;
2) in die Verwaltungskörper der ſozialen Geſetz¬
gebung einzudringen
und 3) Verbeſſerungsvorſchläge
beſtehender Sozialgeſetze zu machen und weitere
,
neue Sozialgeſetze zu verlangen. — Wie ich früher ſchon
ausgeführt habe, ſteht durchweg die ganze Arbeiterſchutzgeſetzgebung
nur auf dem Papier; ſie wird in tauſenden und abermals
tauſenden Fällen täglich von dem Unternehmerthum mit Füßen
getreten. Das führen ſchon die Berichte der Fabrikinſpektoren
[29] aus, und die Fabrikinſpektoren können ſelbſt bei dem beſten
Willen nur einen ganz geringen Theil dieſes Gebietes beobachten.
— Die Gewerkſchaften müſſen deshalb dahin arbeiten, daß die
Arbeiterſchutzgeſetze und ſonſtige Vorſchriften von dem Unter¬
nehmerthum durchgeführt und beachtet werden. — Wenn auch
der Staat die Pflicht hat, für die Durchführung derſelben durch
Polizei und Gewerbeinſpektion einzutreten und gewiß in dieſer
Beziehung von ihm noch viel zu wenig geleiſtet wird, ſo kann
man doch auch nicht Alles von demſelben verlangen und ſeine
ganze Hoffnung auf ſein Wirken ſetzen. — So gut wie der
Staat nicht jedem Staatsbürger einen Poliziſten in's Haus
ſchickt und fragen läßt, ob ihn jemand beſtohlen oder geſchlagen
hat, ebenſowenig wird er jemals hinter jeden Arbeiter einen
Schutzmann oder Gewerbeinſpektor ſtellen können. Die Arbeiter
werden zum großen Theil immer ihre Rechte ſelbſt wahren
müſſen. Was iſt aber auf dieſem Gebiet bisher von den
deutſchen Gewerkſchaften gethan? Nur äußerſt wenig! Erſt an
einigen Orten iſt man mit der Gewerbeinſpektion in Verbindung
getreten und hat eine Ueberwachung der Fabrikanten organiſirt.
So iſt z. B. in Berlin mit ſeinen 50000 gewerkſchaftlich organi¬
ſirten Arbeitern in dieſer Beziehung ſo gut wie noch nichts
unternommen. Dann aber müſſen die Organiſationen auch da¬
für Sorge tragen, daß die Arbeiter über die Beſtimmungen der
beſtehenden Arbeiterſchutzgeſetze aufgeklärt werden, da es in dieſer
Beziehung ſehr ſchlimm bei den meiſten Arbeitern ausſieht. —
Ferner ſollen die Organiſationen in die Verwaltungskörper der
ſozialen Geſetzgebung eindringen, vor Allem ſollen ſie die Kranken¬
kaſſen in ihre Hände zu bekommen ſuchen. Dieſe befinden ſich
vielfach noch unter der Leitung von Perſonen, die der Arbeiter¬
bewegung entweder feindlich oder doch gleichgiltig gegenüber¬
ſtehen. Die Krankenkaſſen liefern die Arbeitervertreter für die
Schiedsgerichte ꝛc., der Berufsgenoſſenſchaften, für die Ausſchüſſe,
Aufſichtsräthe und Schiedsgerichte der Invaliditäts- und Alters-
Verſicherung. Daß es aber von großem Vortheil für die Arbeiter
iſt, wenn in dieſen Körperſchaften aufgeklärte Leute ſitzen, dar¬
über herrſcht wohl kein Zweifel. Anderſeits vernimmt die Re¬
gierung auch öfters Mitglieder dieſer Inſtitutionen in Fragen
der Arbeiterſchutzgeſetzgebung als Sachverſtändige. — Wird aber
in Zukunft von den Gewerkſchaften mehr als wie bisher auf
dieſem Gebiet geleiſtet, ſo werden ſich eine ganze Reihe von
Fehlern und Mängeln herausſtellen, welche die Sozialgeſetz¬
gebung aufzuweiſen hat und die einer Abänderung bedürfen.
Die Vorſchläge hierzu werden naturgemäß immer die am leich¬
teſten und beſten machen können, welche mit dieſen Dingen fort¬
während zu thun hatten und das ſind die Gewerkſchaften. —
Anderſeits aber wird es mit der Weiterentwicklung des heutigen
Syſtems immer nöthiger, für einzelne Berufe reſp. Induſtrie¬
gruppen Spezial-Schutzgeſetze zu ſchaffen, ſo z. B. im Bau¬
gewerbe, in der Hausinduſtrie, bei Staats- und Kommunal¬
arbeiten, im Bergwerksweſen u. ſ. w. Sehr richtig ſagt Parvus:
„Dies alles kann aber die politiſche Partei nicht thun. Es wäre
aber auch taktiſch verfehlt, ihr dieſe Aufgaben zuzuſchreiben. Denn
[30] ſie würde dadurch ihre Thätigkeit in eine wahre Liliputaner¬
politik zerſplittern.“ — Das iſt unbedingt wahr. — Wie Kohlen
und Erz gewogen werden ſoll, wie Baugerüſte anzulegen ſind,
das werden ſtets die betreffenden Berufsgenoſſen am Beſten wiſſen
und nicht Laien.


Die vor Kurzem von der General-Kommiſſion herausgegebene
Schrift über „Mißſtände im Baugewerbe“ beweiſt uns, was die
Gewerkſchaften auf dieſem Gebiet zu leiſten im Stande ſind.
Solches Material hätte die politiſche Bewegung nie zuſammen¬
bringen können. Dann aber wird auch die Agitation für ſolche
Spezial-Schutzgeſetze reſp. Verordnungen immer die intereſſirte
Branche ſelbſt zu führen haben, womit natürlich nicht ausge¬
ſchloſſen iſt, daß auch die politiſche Bewegung ſich mit dieſen
Dingen befaſſen kann. Nur wird ſie dieſes nie ſo intenſiv
können, wie die direkte intereſſirte Gruppe, weil ihr dazu die
Berufskenntniſſe fehlen. — Allerdings, ſo lange die Organi¬
ſationen nicht ſtärker ſind, als jetzt, ſo lange ſie und das Be¬
amtenweſen keinen feſteren Charakter haben, wie gegenwärtig, ſo
lange werden dieſelben auch Bedeutendes auf dieſem Gebiete
nicht leiſten können. — Ob nun noch beſondere Gewerkſchafts-
Kongreſſe, die ſich mit dieſen Fragen beſchäftigen ſollen, wie
Quarck ſie wünſchte, nothwendig ſind, darüber kann man wohl
getheilter Meinung ſein. Jedenfalls iſt aber das Thatſache, daß
die Parteitage ſich unmöglich mit der Spezial-Schutzgeſetzgebung
befaſſen können, im Allgemeinen vielleicht ja, im Speziellen aus
Mangel an Berufskenntniſſen nie. Anderſeits würde dadurch
aber auch nur das Anſehen der Partei leiden, wenn man auf
den Parteikongreſſen darüber ſprechen wollte, wie Leitern bei
Bauten zu ſtellen ſind, wie Koakskörbe beſchaffen ſein ſollen und
welchen Minimallohn der Sattler für ſtaatliche Arbeiten zu er¬
halten hat. Zwar würden auf den Gewerkſchafts-Kongreſſen, die
ja auch aus allen Berufen ſich zuſammenſetzen müßten, genau
ſo wie auf den Parteitagen den Einzelnen die Berufskenntniſſe
bei den verſchiedenſten Fragen fehlen; doch könnten dieſe Kon¬
greſſe auch nur den Zweck haben, die allgemeinen Linien für ein
planmäßiges Vorgehen in dieſen Beziehungen feſtzulegen und
um das Auge der herrſchenden Gewalten mehr für die Ver¬
langen der Arbeiter zu gewinnen, als dieſes durch einzelne Ver¬
ſammlungen und Berufskongreſſe möglich iſt.

VI.
Schluß.

Vom hiſtoriſchen Geſichtspunkte aus iſt der gegenwärtige
Stand der deutſchen Gewerkſchaftsbewegung vollkommen be¬
greiflich. Es würde dem ewigen, eiſernen Geſetze der organiſchen
Entwickelung widerſprechen, wollte man von ihr mehr verlangen,
als ſie heute darſtellt. Nichts tritt gleich in ſeiner ganzen Größe,
[31] in ſeiner ganzen Bedeutung ins Leben, ſondern muß ſich vom
Niedern zum Höhern, vom Kleinen zum Großen entwickeln. Die
deutſche Gewerkſchaftsbewegung hat kaum ihre erſten Kinderjahre
hinter ſich. In ihren Sturm- und Drangperioden befindlich, in
dem Stadium, wo ſie ſich zu ihrer eigentlichen Lebensaufgabe
herausbilden ſoll, treten allmählich, langſam immer mehr An¬
zeichen auf, daß ſie dieſe bald begriffen haben und ſo zum Mann
heranreifen wird.


Doch wir, die wir in der Gewerkſchaftsbewegung ſelber
ſtehen, haben ihre heutigen Fehler nicht hiſtoriſch zu entſchuldigen,
ſondern dieſelben zu beſeitigen. Die Wege, welche ich vorge¬
ſchlagen habe, werden dazu führen.


Dann erſt wird die deutſche Gewerkſchaftsbewegung das
werden, was ſie ſein ſoll: ein Staat im Staate; ein gewaltiges
Mittel zur Emanzipation des Proletariats, ein Mittel zu einer
höheren geſellſchaftlichen Kulturſtufe.

Appendix A

Maurer \& Dimmick. Berlin S.O. Eliſabeth-Ufer [...].


[][]

Appendix C

Maurer \& Dimmick, Berlin S.O., Eliſabeth-Ufer 55.


[][][]
Notes
*)

„Die Geſchichte des Britiſchen Trade-Unionismus“ von
S. u. B. Webb, Nachwort.

Dieses Werk ist gemeinfrei.


Rechtsinhaber*in
Kolimo+

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2025). Collection 0. Woran krankt die deutsche Gewerkschaftsbewegung?. Woran krankt die deutsche Gewerkschaftsbewegung?. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bhhx.0