[]
Einladungs-Schrift
bey
dem feyerlichen Rede-Akt
welcher
den 19ten April
in
allhiesigem Gymnasio
von
dreyen Zöglingen
welche
die Akademien beziehen wollen
soll gehalten werden
Schw. Hall:
von Philipp Ernst Rohnfelder1797.
[][[3]]
[figure]

Wenn man dasjenige, was man heut zu Tage von einem Jüngling
fodert, der öffentliche Schulen besucht hat; mit dem, was man noch in
dem Anfange dieses Jahrhunderts von demselben erwartete, vergleicht: so
wird man finden, daß gegenwärtig ihm eine ungleich größere Laufbahn vor-
gezeichnet seye. Es wird auch wirklich in Schulen, welche sich nur einiger
massen ihrer Vollkommenheit nähern, mehr, dem Umfang wenigstens des
Wißbaren nach geleistet, als ehedem geschah. Und dieß geschiehet jetzt bey
weit ungünstigeren Umständen, als die waren, unter welchem ehedem die Leh-
rer standen. Wie strenge war damahlen die elterliche Zucht? Wie zusam-
men greifend mit der öffentlichen? in welcher Achtung stunden die Lehrer?
und in welcher die Schulen! Der strafende Lehrer wurde nicht getadelt, son-
dern gelobt, und beschenkt, denen Klagen des Schulmanns wurde so gleich
von Obrigkeiten und Eltern abgeholfen, und die beständige Ermahnung an
Kinder war diese: wenn ihr nicht etwas rechtschaffenes erlernt, so habt ihr
kein Glück, keine Beförderung zu hoffen. Hiezu kam noch der ernsthafte
Charakter der Zeiten, wo Arbeitsamkeit und Sparsamkeit Tugend und löblich
war. Die Jugend wurde frühzeitig an Arbeit gewöhnt, Müßiggang wurde
gehaßt, und gehorchen, an Ordnung sich binden, war der wichtigste Ge-
sichtspunkt in der Jugendbildung. Der Geist des Leichtsinns und der Frivo-
lität verbreitete sich von unsern Nachbarn noch nicht, einer Pest gleich, auch
über uns, und machte den ohnehin flatterhaften Jüngling, nicht noch leicht-
sinniger. Noch war der Verstand der Eltern durch schiefe einseitige pädago-
gische Schriften nicht verdorben, und noch war es nicht Ehre, daß jeder
Aden
[4] den Verstand, den er sonst in nichts zeigen konnte, darinnen zu beweisen, sich
erkühnte, daß er schiefe Urtheile über Schulen fällte, und so mit dem Lehrer
mißmuthig, und den Lehrling träg und halsstarrig machte. So günstig diese
Verhältnisse für die damaligen Lehrer waren; so leisteten sie doch nicht das,
was man heut zu Tage fodert, oder man erwartete vielmehr das nicht, was
man gegenwärtig verlangt.

Zu diesen so mächtigen Hindernissen des Flors der Schulen, kommt ein
neues hinzu, welches dem Unterricht äußerst nachtheilig ist, und die ganze
Absicht desselben vollkommen vereitelt: ich meine das zu frühzeitige
eilen aus der Schule
. Diesen Gegenstand aus dem Felde der Pä-
dagogik, werde gegenwärtig etwas weiter ausführen, und nach Verhaltniß
des Raums die höchst schädlichen und verderblichen Folgen dieses Fehlers
zeigen.

Das zu frühzeitige eilen aus dem Schulunterricht ist höchst schädlich: er-
stens
dem künftigen Bürger, dann zweytens dem künftigen Ge-
lehrten.

Ich werde also zuerst von der Schädlichkeit des zu frühzeitigen Ei-
lens aus der Schule für den künftigen Bürger handeln. Die Erfahrung
zeigt, daß gegenwärtig die künftigen Bürger, viel früher die Schule verlassen,
als es ehedem geschah. Gegenwärtig eilen die nicht studierende schon aus
der untersten Ordnung zu Professionen; da ehedem die mehreste zwey, auch
drey Ordnungen durchliefen, in Zeiten, wo die Schulen noch nicht so nuz-
bar für die Unstudierte eingerichtet waren. Daß die Schuld hievon nicht an
den Eltern allein liege, weiß ich alles wohl; allein die wahren Quellen hier
aufzudecken ist der Ort nicht. Ich bin weit davon entfernt, die armen El-
tern, bevor in gegenwärtigen Zeiten, zu tadeln, welche entweder aus Man-
gel das wenige für den Unterricht nicht entrichten, oder eben dieserwegen ih-
re Söhne zu Hauß bey ihren Arbeiten nicht entbehren können: ich rede
blos von jenen, welche durch dergleichen Verhältnisse nicht genöthigt werden,
mit
[5] mit ihren Kindern aus der Schule zu eilen. Allein diß zu frühzeitige eilen
aus der Schule hat für die Jünglinge, welche zu Handwerkern bestimmt sind,
allemahl höchst nachtheilige Folgen. Ich will diese hier kürzlich anführen:
1) Ein zu frühes Eilen aus der Schule zu einer Profession, sie seye beyna-
he, welche sie wolle, kann nicht anders, als der Gesundheit, wohl auch dem
Wachsthum des Jünglings nachtheilig seyn. Besonders gehören die Hand-
werker hierher, welche sitzend ihre Arbeiten verrichten, oder noch mehr die,
welche eine zu große Anstrengung der Kräfte erfordern. In beyden Fällen
wird der Körper verkrüppelt, und schon in der Jugend der Grund zu höchst
beschwehrlichen Krankheiten gelegt. Man klagt nicht ohne Ursache über das
viele Sitzen in Schulen, und das zum Theil mit Recht: allein diß aufrechte
Sitzen, welches doch mit häufigem Stehen unterbrochen wird, hat den großen
Nachtheil weit nicht, welchen das anhaltende Sitzen, noch dazu mit geboge-
nen Leib bey denen Professionen hat. 2) Ist ein junger Mensch dieser Art,
wie der ist von dem ich rede, noch zu wenig an strenge Aufmerksamkeit ge-
wöhnt, oder wann auch in Schulen einige Angewöhnung dazu geglückt hat,
doch noch nicht geschickt, gehörig nachzudenken; mithin ist bey dieser Lage
wohl der Jüngling geschickt, seine Profession gründlich zu erlernen, was ste-
het aber von den Professionisten zu erwarten, der nur oberflächlich den Grund
zu seinem Metie gelegt hat? Wie kann man von einem Kinde so viel Ver-
stand erwarten, daß er mit wirklichem Beobachtungsgeist auf die Handgriffe,
Wortheile seines Meisters genau achtet, und mithin gerade das allerwichtigste
bey jeder Profession erlernt? Daher kommt es auch, daß so viele mittel-
mäßige und schlecht Arbeiter in allen Handwerkern gefunden werden. Nur
wenige, deren ausgezeichnetes Genie sie über den Mechanismus erhebt, kom-
men daher, wie ich glaube zu einiger Vollkommenheit, welche mehrere errei-
chen könnten, wenn sie fähig wären, sich über das Mechanische zu erheben.
Ein solch blos mechanisches Verfahren aber bleibt ohnausbleiblich denen eigen,
welche zu frühzeitig ihre Professionen erlernten. 3) Wird die ganze Absicht des
Schulunterrichts durch das zu frühzeitige Eilen aus der Schule, besonders
bey unsern Bürger-Schulen verfehlt. Zu was dienen auch noch so gute An-
A 3stal-
[6] stalten, wenn sie nicht benutzt werden? Was nutzt es, daß wir in neuern
Zeiten, auf die Bildung, Aufklärung des künftigen Bürgers hin arbeiten,
wann dieser Unterricht nicht angenommen, oder nur angefangen, nie aber
vollendet wird? Zu einem vollkommenen Bürger, den man aufgeklärt nen-
nen kann, gehören Kenntnisse verschiedener Art, mehr als in den deutschen
Schulen, und untersten Classen zu erhalten sind, in der Religion, der wichtig-
sten Angelegenheit des Menschen – muß er, was die Lehrsätze derselben betrifft,
wenigstens klare Begriffe erhalten – er muß in der Rechenkunst, einer je-
dem Menschen ganz unentbehrlichen Kunst, geübt seyn – etwas von der
Naturgeschichte und Naturlehre verstehen – einige Fertigkeit im Zeichnen,
und in der Geschicklichkeit seine Gedanken niederzuschreiben erhalten – haben
ja selbst die ersten wirklich praktischen Grundsätze der Mathese, der Geome-
trie, Mechanik, Architektur, besonders gefasst – und in der Geschichte und
Erdbeschreibung das allernöthigste erlernt haben – und das, was ich schon
früher hätte anführen sollen, wo nicht schön, doch wenigstens verständlich
schreiben können. Wie kann aber de Jüngling alle diese Kenntnisse so ge-
schwind, und noch als Kind, fassen? So fragen nur die, welche mit der
verbesserten Methode des Unterrichts nicht bekannt sind. Ist es dem Staat
so nützlich, so nöthig, aufgeklärte Bürger zu haben? Eine Frage, die wohl
keiner Beantwortung bedarf. Allerdings hat der Staat darauf zu sehen,
daß solche Anstalten getroffen werden, daß der Unterricht auf Schulen, wel-
cher auf seinen Befehl und Unterstützung gegeben wird, auch wirklich frucht-
bar und nützlich wird. Sollten bey denen wirklich getroffenen Anstalten,
Eltern nicht ihr äußerstes thun, da sie sehen, wie für die Aufklärung gesorgt
wird! bedacht nehmen, daß ihre Kinder auch wirklich heller im Verstande
werden, und diejenige Kenntnisse sich zulegen, die ihnen so mannigfaltigen
Vortheil gewähren können! Oder was können wohl Eltern ihren Kindern
nützlichers verschaffen, als einen aufgeklärten Verstand, der sie als Menschen
beglückt, als Professionisten unterstützt? Indem aber der größere Theil
Jünglinge dem Unterricht entzogen wird, ehe auch derselbe nur die ersten
Anfangsgründe gefasst hat: so kann wohl auch nicht mehr Aufklärung in de-
nen
[7] nen niedern Ständen seyn, als wirklich sich findet; daß mehrere, welche sich
in ihrem Fache auszeichnen könnten, wirklich zurück bleiben. Unsere Vorfah-
ren hatten ein vortreffliches Mittel diesem zu frühen Eilen aus der Schule zu
steuren, man ließ nehmlich sein Kind vor einem gewissen Alter zum heiligen
Abendmahl gehen, und früher konnte man zu seinem Handwerk kommen: al-
lein dieselbe Sitte unterbleibt jetzo, ich weiß nicht, aus welchem Grunde,
wie wohl sich schwerlich ein die Prüfung wirklich aushaltender finden dürfte:
da dem nun also ist, so kommt es, daß Knaben ein wohl zwey Jahr frü-
her der Schule entzogen werden; denn so bald sie zu dem heiligen Abendmahl
zugelassen werden, so bald verlassen sie auch die Schule, und zwar gewöhn-
lich noch früher, als sich die Fasten-Information gänzlich geendet. Durch
diß einige Mittel könnten mehrere zu ihrem Glück in der Schule zurück ge-
halten werden, und das könnte ersetzt werden, was Eltern nicht einsehen.
Nehme ich diß an, daß Eltern ihre Kinder nicht blos dieser wegen in die
Schule schicken, damit sie ihrer zu Hause los werden; sondern aus der edlen
Absicht, daß sie ihren Geist mit nützlichen Kenntnissen bereichern, und ihr
Herz zur Tugend bilden: ist diß, so sehe nicht ab, wie die Kinder aus der
Schule können genommen werden, ehe sie hinlängliche Fortschritte in beyden
gemacht haben. Was hier die Vernunft spricht, bezeigt die Erfahrung –
man sagt: man sieht es dem Manne an, daß er in der Schule gewesen –
Tausende beseufzen, daß ihre Eltern sie nicht länger in der Schule gelassen;
niemand aber bereuet es, lange in der Schule ausgehalten zu haben; ja
viele beklagen sich zu späth, daß ihre Eltern nicht sie länger zur Schule an-
gehalten haben. Geschiehet diß nun in denen Zeiten, wo für die Professioni-
sten im Schulunterricht noch nicht so sehr gesorgt wurde: was sollte jetzo ge-
schehen, da man Anstalten getroffen hat, mehr für diese zu sorgen. Ich sehe
wohl ich muß hier noch zwey Einwürfen begegnen, die mir könnte gemacht
werden: sie sind, man lernt ja nur lateinisch – Die Kinder, die nach der
Confirmation noch in der Schule gelassen werden, wollen nicht mehr zu
einer Profession sich bequemen, sie sind dem Lehrlingsstand entwachsen –
Auf den ersten Einwurf zu antworten – so muß ich sagen – die Eltern,
die
[8] die diß sprechen können, kennen die von unsern theuersten Landes-Vätern
gemachte für Bürger so heilsame Veränderung nicht, dann lehrt man jetzo nicht
außer dem Lateinischen, auch schön und richtig Schreiben, Rechnen, Erd-
beschreibung, Weltgeschichte, etwas Mathese, und Zeichnen, wozu Anstal-
ten theils getroffen sind, theils noch gemacht werden – bey deren Ausfüh-
rung aber man gerade von der Seite der unstudierten Eltern die meiste Hin-
dernisse in den Weeg gelegt findet, die diesem Unterricht ihre Kinder entzie-
hen wollen und sich solchem widersetzen. – Doch, gesetzt auch, der Vor-
wurf wäre wahr – Ist nicht der lateinische Sprachunterricht die Grundla-
ge zur Erlernung aller übrigen Sprachen, so daß der, welcher diese gründ-
lich erlernet hat, leichter alle übrige erlernt – kann wohl ein Mann, der
sich ein wenig über die niedrigste Volksklasse erheben will, ohne roth zu wer-
den ein vorkommendes lateinisches Wort nicht wissen – wie kann ein Vater,
der seinen Sohn in die lateinische Schule schickt, wohl prüfen, ob der Sohn
täglich das seinige erlernt, wann er selbst nichts davon versteht – giebt es
nicht verschiedene Professionen, welche diese Sprache nicht füglich entbehren
können, als Chirurgi, Apotheker, Buchdrucker, Buchbinder – wie kann
wohl die deutsche Sprache ausgebildet werden, wann diß nicht mit einer frem-
den Sprache geschiehet – und werden bey einer klugen Art des Unterrichts
in dieser Sprache alle Seelenkräfte gebildet – wo lernt man wohl einen
feinern richtigeren Geschmack am Schönen, als an diesen Mustern des Ge-
schmacks – wo mehr seine Beurtheilungskraft schärfen, als in den Schrif-
ten der Männer, die den römischen Staat mit so vieler Klugheit beherrscht
haben – wo mehr Liebe für das Vaterland – wo mehr seine sittliche
Grundsätze – wie kann das Gedächtniß mehr ausgebildet werden, als
wenn man mit Worten nützliche Sachen verbindet – Wesentliche Vortheile!
Ob nicht die französische Sprache, nach dem Vorschlage einiger Reuern Pä-
dagogen an die Stelle der lateinischen könnte gesetzt werden, will ich hier nicht
untersuchen, indem es wohl mit der Verfassung der meisten Schulen unver-
einbar seyn dürfte. Ich wende mich nun zur Beantwortung des zweyten
Einwurfs – die Kinder sind schon konfirmirt, mithin der Schule entwachsen,
sie
[9] sie wollen, wenn sie zu lange in der Schule bleiben, kein Handwerk mehr ler-
nen ich brauche die Kinder zu Hause – Ausflüchte, Einwendungen, die
äußerst unerheblich und ungegründet sind. Sind dann diese Jünglinge, von
denen hier die Rede ist, schon so vollkommen, daß sie keines weitern Unter-
richts bedürfen? Wissen sie das, was sie erlernt haben, auch gründlich?
Ist nichts mehr zuzusetzen, weder an Beweisen, noch Erklärungen? Ist es
nicht bey diesem unreifen Alter, wo die Beurtheilungskraft noch gar nicht er-
wacht ist, nicht bloses Gedächtnißwerk? Wie soll wohl eine solche Kenntniß
Einfluß auf das Herz und Leben haben, je reifer das Alter, desto fähiger die
wichtigste Angelegenheit des Menschen, Religions-Unterricht gehörig und mit
Ueberzeugung zu fassen – Sie sind zu alt zum Handwerk, spricht man.
Also ist es besser unwissend zur Erlernung eines Handwerks zu kommen, wird
nicht derjenige Jüngling, der seine Schuljahre geendet hat, mit glücklicherm
Erfolge, und geschärfterem Verstande sein Metier erlernen, als ein solcher
dessen Verstand noch nicht aufgehellt ist? Dazu fodert auch die Aufklärung,
welche überall herrscht, auch von denen niedern Ständen mehr, als ehedem
erfodert wurde, und ein angesehener Bürger erscheint in einem sehr mißli-
chen Lichte, wenn er mit seiner Zeit nicht fortrückt, und bey der Unwissen-
heit seiner Großeltern verbleibt, die Professionen selbst werden nicht mehr
maschinenmäßig getrieben, sondern erfodern einen denkenden, sich an die
Lage der Dinge anschmiegenden Geist, wie kann aber dieser erhalten werden,
wenn der Jüngling nicht gehörig ausgebildet worden. Ist es einmahl wahr,
daß Eltern denen Kindern seinen bessern Reichthum, als einen ausgebildeten
Verstand hinterlassen können, und einen gebildeten Geist, so ist kein Zweifel,
daß man Kinder nicht zu lange in der Schule lassen kann, wo ihr Verstand
so wohl, als ihr Herz gebildet wird.

Eben so nachtheilig ist das zu frühzeitige Eilen auf die Akademien, bey
denen, welche sich denen Wissenschaften widmen wollen. Es ist zwar wahre Freu-
de für den Vater seinen Sohn bald in einem Amte zu sehen, wohl gar die
Wonne zu haben Enkel zu erblicken: allein kann diß wohl ein wahres Glück
Bseyn,
[10] seyn, was wirklich dem Staate nachtheilig und den Kindern selbst höchst
schädlich ist. Ich werde diß nun auch zu erweisen suchen. Das zu frühzeiti-
ge Eilen auf die Akademien ist nachtheilig, für den Körper – das Herz – die
Gelehrsamkeit des künftigen Mannes – für das Vaterland. 1) Diß zu frühe
Eilen ist voderist schädlich für den Körper, und Gesundheit des Jünglings.
Diese Jahre, in denen er als Jüngling stehet, sind für sein ganzes folgendes
Leben höchst wichtige Jahre, auch in Hinsicht der Gesundheit wichtig. Eine
regelmäßig zugebrachte Jugend, verschaft, wie alle Aerzte versichern, ein
gesundes Alter; und Ausschweifungen hier begangen – wozu so viel Anlaß
gegeben wird – Uebermaaß im Trinken – Essen – der Liebe – wenn
ihre höchst traurige Folgen, sich auch nicht so gleich auf frischer That äußern;
so zeigen sie sich doch ganz gewiß in der Folge. Nun darf man aber doch
annehmen, daß Kinder, bey aller Freyheit, die sie leider gegenwärtig ha-
ben, unter denen Augen der Eltern, weniger Ausschweifungen sich überlas-
sen können. Der Jüngling auf Akademien aber ist völlig sein eigener Herr,
ohne Aufsicht, ohne warnenden Freund so gar, wenn sein jugendlicher Sinn
ihn zu Vergnügungen hinreißt, deren übertriebener Genuß höchst traurige
Folgen hat. Frey von allen Banden, die ihn bisher fesselten, umgeben von
allen Seiten mit schlimmen Beyspielen, die ihn zum Genuß der sinnlichen
Vergnügungen anlocken, Gelegenheiten aller Art, die sich ihm darbieten,
und die ihm um so reizender scheinen, je weniger Erfahrungen er von ihren
höchst traurigen Folgen gemacht hat. Unvermerkt hingerissen untergräbt er
seine Gesundheit, und verwelkt in der besten Blüthe der Jahre; oder äußern
sich auch die schrecklichen Folgen nicht so gleich, so wartet sein ein kränkliches
Alter, die Mannesstärke verschwindet zu der Zeit, wo sie am kräftigsten sich
zeigen sollte. Würde hingegen der Leib seine Festigkeit erhalten haben, so
würden Kräfte genug vorhanden seyn, die nicht zu übermäßigen Vergnügun-
gen ohne Schaden genießen zu können, ja Ausschweifungen selbst würden
nicht so ganz entnerven werden. 2) Eben so schädlich ist das zu frühzeitige
Eilen auf Akademien auch für das Herz. Ist es wohl unbekannt, daß der
nun in die große Welt eintrettende, sich selbst überlassene Jüngling, tausend
bösen
[11] bösen Beyspielen – tausend Reizungen zum Bösen ausgesetzt ist – daß er
das Laster in allen Gestalten, nach allen Reizen – selten aber Tugend und
Rechtschaffenheit erblickt. Ist es Wunder, wenn der, der Schule entrissene
Jüngling Vergnügungen jeder Art zu früh nachhängt, wenn Lied und Wein
ihn bethören, sein wie Wachs weiches Herz wird zum Laster sich bilden,
träg seyn im Guten, und verschwenderisch sein Vermögen hinbringen. Ein
Knabe hat allzu wenig Erfahrung, zu wenig Kenntniß, theils der Vergnü-
gungen selbst, und ihrer Beschaffenheit und Folgen; theils zu wenig Kennt-
niß der Menschen, als daß er nicht durch seine eigene Neigung, oder durch
andere sollte zum Bösen verleitet werden. Der bereits gesetztere Jüngling
entgehet allen diesen Versuchungen, Vernunft fängt bereits an das Ueberge-
wicht über seine Sinnlichkeit zu erhalten, und die ihm beygebrachte sittliche
Grundsätze, haben so tiefe Wurzel geschlagen, daß sie ihn vor den
Reizungen des Lasters bewahren können, wenn er auch fällt, doch
nicht allzu lange in der Knechtschaft des Lasters liegen lassen. 3) Das zu
frühzeitige Eilen auf die Akademie ist der Gelehrsamkeit nachtheilig. Ohne
Zweifel beziehet ja der Jüngling in dieser Absicht die Akademie, daß er aus
dem Vortrag des akademischen Lehrers auf seine in niedern Schulen erlernte
Vorbereitungs-Wissenschaften das Gebäude der Wissenschaft, welcher er sich
besonders widmen will, nun selbst aufführen soll. Diese Schulgelehrsamkeit
wird nun auf Akademien vorausgesetzt, und gewöhnlich fehlt es an Zeit, nicht
selten aber auch an Gelegenheit, das an Schulkentnissen versäumte nachzuho-
len. Der ganze akademische Unterricht, wenn der Lehrer sich auch noch so
sehr bemüht, deutlich zu seyn, ist wirklich fruchtlos, wenn der Zuhörer in
denen Vorbereitungs-Wissenschaften nicht gehörig geübt ist. So wie ich die
Klugheit, und das reiflich durchdachte in denen Anordnungen unserer Alten
öfters bewundere; so kann ich nicht umhin auch hierinne ihnen meinen ganzen
Beyfall zu geben, daß sie die Verordnung machten, daß die von denen Schu-
len angekommene, von dem Dekan der Philosophischen Fakultät in ihren
Schulstudien sollen geprüft, und die Unfähigen zurückgewiesen werden. Al-
lein so wie mehrere höchst vortrefliche Anstalten der Alten vernachlässiget, und
B 2nach
[12] nach und nach außer Gebrauch gesetzt werden; so geschiehet es auch hier,
man beobachtet zwar hin und wieder die Ceremonie noch, allein es ist auch
nicht mehr als bloße Ceremonie, und die Prüfung unterbleibt gänzlich. Ich
will die Gründe, die zu dieser Unterlassung bewogen, nicht untersuchen, nur
so viel will ich bemerken, daß diß ein höchst vortrefliches Mittel wäre, den
Fleiß der Scholaren, ja der Lehrer selbst aufs thätigste anzufachen. Mit
welchem Fleiße würden die Schüler ihre Grundwissenschaften erlernen, wenn
sie wüßten, daß sie ohne gehörige Kenntniß derselben, nicht zu höhern Schu-
len gelassen würden. Gewiß Beyspiele von zurückgewiesenen untauglichen
Subjekten, würden mehr für den Flor der Schulen wirken, als noch so vie-
le Wünsche, Vorschläge – Der Satz ist wohl richtig, wo der Unterricht
in Schulen aufhört, soll der akademische anfangen – ein schöner Gemein-
platz, über den sich viel sagen läßt. – Ist es schon ein nicht geringer Feh-
ler, wenn in niedern Schulen, ein Schüler aus einer niedern Ordnung in
eine höhere tritt, ohne die Gründe der untern Ordnung vorher völlig ge-
faßt zu haben: wie groß muß der Schade erst da seyn, wenn der noch
nicht völlig zubereitete Jüngling die Akademie bezieht. Da aber, wie Jeder-
mann leicht zugestehen wird, so gar für Jünglinge, welche ihre Schulstudien
gehörig geendet haben, ein sehr schwerer Schritt ist; so fließt ja von selbst
aus dieser Betrachtung, daß Jünglinge, welche ihre Schulstudien noch nicht
gehörig erlernt haben, den Nutzen unmöglich von dem akademischen Unterricht
ziehen können, den sie sollten. Man liest zwar die bittersten Klagen der Aka-
demiker, daß die Jünglinge nicht mehr, wie ehedem, vorbereitet die Aka-
demien beziehen, man liest diese zum Theil wirklich gerechte Klagen, nicht
selten mit etwas bittern Ausfällen auf die Lehrer – ganz als ob diese allein
Schuld wären; (da doch diese eben so wohl den Vorwurf umkehren, und sa-
gen könnten, warum kommen gegenwärtig Jünglinge, die auf Schulen das
Ihrige gethan, so äußerst schlecht von Akademien?) Sollten diese nicht viel-
mehr, indem sie durch seine bürgerliche Verhältnisse an die Lehrlinge gebun-
den werden, alle unfähige von ihrem Unterricht ausschließen. Der Absprung
von Schulen auf die Akademien ist nicht nur äußerst groß, in Anlehnung der-
jeni-
[13] jenigen Dinge selbst, die daselbst vorgetragen werden; sondern auch in An-
lehnung der Methode und Art des Unterrichts, ja des ganzen Verhaltens des
Lehrers. Letzteres nun ist von ganz besonderer Wichtigkeit, und wohl zu
überlegen. Der Schulunterricht, je mehr er sich der Sokratischen Lehrart
nähert, desto besser und vorzüglicher ist er. Ein Lehrer auf Schulen, der
nach Art der Professoren nur selbst spricht, ist weit von dem Ziel der Voll-
kommenheit eines ächten Schulmannes entfernt, mißkennt vielmehr gänzlich
seine Bestimmung. Nun wie wird ein Jüngling, dessen Denkkraft noch die
gehörige Reife nicht erhalten hat, den freyen Vortrag des akademischen Leh-
rers fassen können, wo der Lehrer blos spricht, nie fragt? wie wird er
einen zusammen hängenden und fortlaufenden Vortrag über die abzuhandelnde
dem Jüngling ganz fremde Gegenstände verstehen? Wo sich noch dazu der
Lehrer selten bemüht so ganz sich in die Fassungskraft seiner jedesmahligen
Zuhörer hinein zu studieren, wie diß der Lehrer auf Schulen thun muß, und
auch thun kann, welches bey dem akademischen Lehrer der Fall nicht ist, des-
sen Auditorium zu sehr vermischt ist, und der nie Gelegenheit hat die Stufen
ihrer Einsichten und Kenntnisse zu prüfen. Hiezu kommt noch diß, daß der
akademische Lehrer um das sittliche Betragen der akademischen Lehrlinge keine
Sorge zu tragen hat, über ihren Fleiß nicht verantwortlich, der Jüngling
mithin ganz sich selbst überlassen ist. Wie ist es nun zu hoffen, daß der
sich selbst ungewohnter Freyheit überlassene, noch in dem Umgang mit Men-
schen unerfahrene, in Vorerkenntnissen noch nicht genug geübte, noch zu sehr
von jugendlichen Leichtsinn hingerissene Jüngling – daß, sage ich, dieser
dasjenige erlerne, was er sollte, oder was er könnte, wenn er ein reiferes
Alter erreicht, gesezter wäre, und seine Schulstudien vollkommen geendet
hätte? Nun lehrt die Erfahrung auf das deutlichste, welches alle Schul-
männer einmüthig bezeigen werden, daß der Fortgang, den der Jüngling in
den lezten Jahren auf Schulen macht, ungleich größer ist, als der, den er
in denen vorhergehenden Jahren gemacht hat. Die Geistes-Gaben, beson-
ders die zum Studiren so nöthige Beurtheilungskraft, der Geschmack an
Lektüre und Wissenschaften erwacht bey dem einen Jüngling früher, bey
B 3dem
[14] dem andern später – und ohne dieses, was ist wohl zu hoffen – was
zu gewarten? Gesezt aber auch der Jüngling bringt diesen Geschmack am
Studieren auf Akademien, den er auf Schulen noch nicht hatte; so ist er
doch, und bleibt es immer an Vorerkenntnissen zurück – die ihm doch so
äußerst wichtig sind, und ohne welche er nie ein gründlicher Gelehrter wer-
den kann. Man rühmt immer die Nuzbarkeit der Schulstudien, man weiß
denen Lehrern die Wichtigkeit derselben nicht ernstlich genug einzuschärfen,
und verschwendet Witz und Beredsamkeit dieses zu thun; und in der Ausü-
bung handelt man diesem Zwecke gerade entgegen. Gerade da, wo der
Jüngling auf Schulen am meisten erlernen könnte, wird er der Schule ent-
rissen, oder durch andere Verhinderungen abgehalten, ganz das Ziel zu er-
reichen, zu welchem er gelangen sollte. 4) Endlich ist das zu frühzeitige
Eilen auf Akademie dem Vaterlande selbst schädlich, indem die Aemter mit
zu jungen Männern besezt werden, die zwar rasch und feurig sind, die
Kräfte zu einem anhaltend schweren Geschäfte, wohl aber nicht die kalte
Ueberlegung und Vorsicht besitzen – Eigenschaften, die doch so wichtig
sind.


Dieses wollte gegenwärtig der Einladung zu dem Rede-Akt voranschicken,
der auf hohen Befehl E. Hochlöbl. Scholarchars, den 19. Apr. Vorm.
9 Uhr in unserem gymnastischen Hörsaale soll abgehalten werden. Es sind
nehmlich drey hoffnungsvolle Zöglinge unseres Gymnasiums gesonnen,
nachdem sie ihre Laufbahn vollkommen mit Lob und Zufriedenheit ihrer
Lehrer geendet haben, dasselbe zu verlassen. Diese wollen, in von ihnen selbst
verfertigten Reden in lateinischer Sprache von ihren hohen Herrn Be-
förderer
, von ihrem geliebten Vaterland sich verabschieden, und sich
Oberhessischer Gnade empfehlen: Johann Albrecht Weber,
als künftiger Theolog wird diß Studium – Johann Friedrich
Köh-
[15]Köhler, der Jura zu studiren gesonnen ist diese Wissenschaft, und Carl
Friedrich Mayer
, der sich der Arzneykunde zu widmen entschlossen hat,
dieses Feld der Gelehrsamkeit rühmen. Die von ihnen selbst verfertigte Ar-
beiten, werden genugsame Proben ablegen, theils wie sehr sie das Lob ih-
rer Lehrer verdienen, theils wie gerecht die schönsten Hoffnungen sind, wel-
che das Vaterland sich von ihnen machen darf. Ist der Beyfall hoher Gön-
ner, und einsichtsvoller Männer, Männer, denen der Staat die wichtigsten
Aemter anvertraut hat, der Beyfall aufgeklärter Mitbürger, ein wichtiger
Reiz für edle Jünglinge, eine weitere Aufmunterung zum Fleiß: so er-
suche ich andurch Sie, Verehrungswürdige Herrn Scholarchen –
Sie, Venerable Väter
dieser Stadt – Sie, Gönner unseres
Gymnasiums – Sie, Geehrteste Mitbürger – Sie, Freunde und
Verwandte dieser so besonders sich auszeichnenden Zöglinge – zur Ermun-
terung nicht dieser junger Männer allein, nein, auch aller derer, die unser
Gymnasium besuchen, daß Sie Sich um gedachte Stunde geneigtest
zahlreich wollen einfinden.

Schw. Hall, den 10ten April 1797.

[16]

Bey dieser Gelegenheit kann ich nicht umhin meine respektvolle Dank-
barkeit gegen die Wohlthäterin unserer Gymnasiums-Bibliothek, die Wohl-
gebohrne verwittibte Frau Städtmeister Sanwaldin, eine gebohrne
Drechslerin, öffentlich abzustatten, welche bereits mit schönen Werken
dieselbige bereichert, seither noch nachstehende geneigtest verehrt hat.

Archiv der Erziehungskunde für Deutschland, 2 Bände.

Nitsch Beschreibung des Zustandes der Römer, 2 Bände.

Nitsch Beschreibung des Zustandes der Griechen, 2 Bände.

Ebendess. Encyclopädisches Handbuch der Römischen Classiker.

Adami Handbuch der Römischen Alterthümer, 2 Bände.

Erneſti Lexicon Technologicum Rhetor. Graecor.


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CC-BY-4.0
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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2025). Anonymous. Einladungsschrift bey dem feyerlichen Redeakt. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bhgf.0