Annalen
der Erd-, Laͤnder- und Voͤlkerkunde.
XI. Band. Berlin, den 31. Januar 1835. Heft 4.
Mexicaniſche Alterthuͤmer.
Von
A. von Humboldt.
(Mitgetheilt von dem Herrn Verfaſſer.)
Die Archaͤologie eines Continents, den wir den neuͤen zu nennen
pflegen, die Spuren der Civiliſation amerikaniſcher Urvoͤlker ſind erſt
wieder, ſeit dem Anfange dieſes Jahrhunderts, ein Gegenſtand gruͤnd-
licher Unterſuchung geworden. Sie hatten, eilf Jahre nach Columbus
Tode, als, an der Kuͤſte von Yucatan, Hernandez de Cordova die erſten
großen Bauwerke von Stein (Tempel, mit Sculptur geziert) erblickte,
ein lebhaftes Intereſſe in Spanien und Italien erregt. Dies Intereſſe
ward geſteigert, als die Conquiſtadores in Suͤdamerika bis zu dem
Hochlande von Tiahuanaco, Couzco und Quito vordrangen, wo ſie,
dem National-Cultus geweihte, Denkmaͤler, Wohnungen der Incas
(Heliaden), oͤffentliche Baͤder und ſteinerne Caravanſerais, durch Kunſt-
ſtraßen verbunden, fanden, die, in einer Laͤnge von faſt 300 geographi-
ſchen Meilen, auf Bergruͤcken von zehn bis vierzehn Tauſend Fuß
Hoͤhe, fortliefen. Da die erſten Geſchichtſchreiber der blutigen Erobe-
rung und ſpaͤteren friedlichen Anſiedelung der Europaͤer, Moͤnche und
rohe Kriegsleuͤte waren, ſo haben Hyper-Kritik und die ſogenannte
philoſophiſche Strenge des achtzehnten Jahrhunderts, aus vornehmem
Duͤnkel, Alles abgelauͤgnet, was die Reiſenden ſelbſt geſehen und mit
naiver Einfachheit erzaͤhlt hatten. Das oberflaͤchliche Werk eines ge-
lehrten und geiſtreichen Mannes, Robertſon’s Geſchichte von Amerika,
trug beſonders dazu bei, dieſer Methode des bequemeren Ablauͤgnens
Eingang zu verſchaffen, und erſt ſeit den letzten drei Jahrzehenden, in
denen der Neuͤe Continent zugaͤnglicher geworden, gluͤckte es einigen
Reiſenden, welche die Reſte jener Denkmaͤler unterſucht, jene Kunſt-
ſtraßen gemeſſen, jene Sculpturen in ſproͤden, widerſtrebenden Maſſen
von Porphyr und Diorit, abzuzeichnen begonnen haben, allmaͤlig wie-
Annalen ꝛc. XI. Bd. 21
[322]Annalen, Januar 1834. — Laͤnder- u. Voͤlkerkunde.
der das Intereſſe fuͤr die, ſich entwickelnde, Kunſt der Urvoͤlker Ame-
rika’s (eines vom uͤbrigen Menſchengeſchlechte lange getrennten Stam-
mes) zu erwecken und an das zu erinnern, was man nie haͤtte vergeſſen
ſollen, da es ſchon in dem claſſiſchen Zeitalter des Pomponius Laetus,
des Bembo und Anghiera, die Einbildungskraft vieler, mit roͤmiſcher
und griechiſcher Kunſt vertrauten, Maͤnner lebhaft beſchaͤftigt hatte.
Wenn ich heuͤte die Aufmerkſamkeit der Leſer auf alte amerikaniſche
Monumente zuruͤckfuͤhre, ſo iſt es, um ein Unternehmen bekannter zu machen
und zu empfehlen, welches den architektoniſchen und plaſtiſchen Werken
der Ingeborenen von Anahuac (dem Hochlande von Mexico) gewidmet
iſt, und Alles verheißt, was man in archaͤologiſcher und pittoresker
Hinſicht von einem ausgezeichneten Kuͤnſtler erwarten darf. Der Archi-
tekt Herr Nebel, aus Hamburg gebuͤrtig, hat, nachdem er ſeine Stu-
dien in Italien vollendet, mit lobenswerthem Eifer, unter den manch-
faltigſten Beſchwerden, fuͤnf Jahre lang die Reſte mexicaniſcher Bau-
werke und Sculpturen aufgeſucht, von denen einige, z. B. die Treppen-
Pyramiden von Papantla, in dem Staate Veracruz, und von
Xochicalco (zwiſchen Cuernavaca und Miacatlan, auf dem weſtlichen
Abhange der Cordillere), faſt ganz unbekannt waren. Das erſte dieſer
merkwuͤrdigen Denkmaͤler (ein Gotteshaus, teocalli) liegt, weſt-
lich vom Rio Tecolutla, gleichſam in dem Dickicht eines Waldes der
heißen und ewig feuͤchten Zone, am Fuße der oͤſtlichen Cordillere, ver-
borgen. Den Indianern der Kuͤſtengegend allein bekannt, wurde die
Pyramide von Papantla von Jaͤgern ſpaniſcher Abkunft, um das Jahr
1775, zufaͤllig entdeckt. Herr Nebel mußte ſich mehrere Tage damit
beſchaͤftigen, die Stufen der Pyramide von den baumartigen Tropen-
gewaͤchſen reinigen zu laſſen, welche ſie verdeckten und die Meſſungen
hinderten. Demſelben Reiſenden verdanken wir den Grundriß der ſon-
derbaren, von Saͤulen unterſtuͤtzten Bauwerke, welche auf einem Huͤgel,
ſuͤdoͤſtlich von Zacatecas, zuſammengedraͤngt ſind, und fuͤr eine ſchon
weit entwickelte, viel beduͤrftige Civiliſation zeuͤgen.
Die bildende Kunſt der Voͤlker, die wir Barbaren nennen, kann
nicht Anmuth und Schoͤnheit darbieten. Ihr Studium wird nicht
empfohlen, weil ſie ein inneres hoͤheres Leben in auͤßern Formen wie-
dergiebt. Die bildende Kunſt, ſelbſt bei den roheſten Nationen, gewaͤhrt
ein Intereſſe anderer Art, ein hiſtoriſches, das mit der Geſchichte des
Menſchengeſchlechts, ſeinen Verzweigungen, der allmaͤligen Entwicke-
lung des Sinnes fuͤr Verhaͤltniß und geometriſche Formen, fuͤr wirk-
liche oder ſymboliſirende Nachbildung des Organiſchen, fuͤr Auffaſſung
des Bedeuͤtungsvollen und Edeln in der menſchlichen Geſtalt innigſt
zuſammenhangt. Der Zweck eines ſolchen Studiums mag daher immer
in auͤßerer genannt werden, er umfaßt nicht minder, was in ewigem,
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befruchtendem Wechſelverkehr mit einander ſteht, den Cultus (das reli-
gioͤſe Leben der Voͤlker) und das mehr oder minder gluͤckliche Schaffen
eigenthuͤmlicher Kunſtformen; die traditionelle Symbolik und das end-
liche Erwachen einer freien, aus der innern Empfindungsweiſe hervor-
gerufenen, plaſtiſchen Thaͤtigkeit. In den Bildwerken der Azteken
ſuchen wir nicht das Heitre und Erfreuͤliche, ſo wenig als in der Sculp-
tur der ſuͤd- und oſtaſiatiſchen Voͤlker, die an Civiliſation den amerikani-
ſchen weit uͤberlegen ſind. Klein erſchien von jeher der Erdraum, in
dem das Erfreuͤliche, Edle, Ideale der Form herrſchend war. Wie
ſchwindet es raſch oͤſtlich vom Halys, gegen die Semitiſchen Staͤmme
hin, in den Sitzen alter Menſchen-Cultur, unter den Babyloniern und
Phoͤniciern, dann in den Hochebenen und ſuͤdlichen Thaͤlern von Iran,
oder jenſeits der Pentapotamie, wo Indiſche Geiſtesbildung durch den
Buddhismus bis in die ferne Aſiatiſche Inſelwelt gedrungen iſt. Das
vergleichende Sprachſtudium, eine der herrlichſten Beſtrebungen
unſeres Zeitalters, bietet, wie das allgemeine Studium der Kunſt, ein
zwiefaches Intereſſe dar, ein inneres, das den organiſchen Bau der
Sprache umfaßt, und ein auͤßeres hiſtoriſches, welches die Abſtammung
und fruͤheren Wanderungen der Volksſtaͤmme beruͤhrt. Die Zeiten ſind
voruͤber, wo man die Idiome roher Voͤlker ohne Schrift und Literatur
(inculti sermonis horrorem), und die Bildwerke ungriechiſcher
Staͤmme einer gleichen Verachtung Preis gab.
In der Neuͤen Welt hat ſich der Strom der Voͤlker von Nord-
weſt gegen Suͤden bewegt. Man verfolgt dieſen Strom von dem See
Timpanogos und von den Caſas Grandes am Rio Gila bis zur Laguna
de Nicaragua hin. Die Tolteken erſcheinen im ſiebenten, die Azteken
im eilften Jahrhunderte in Anahuac. Ob ein Nebenzweig des Tolteki-
ſchen Hauptſtammes gegen Oſten zog und dort, in der Oberen Luiſiana,
zwiſchen dem Ohio und den großen Canadiſchen Seen (Breite 39° bis
44[°]) jene polygoniſchen Umwallungen und coniſchen Grabhuͤgel auf-
fuͤhrte, die noch jetzt um ſo mehr in Erſtaunen ſetzen, als ſie Skelette
einer ſehr kleinen Menſchenrace enthalten, bleibt uͤberaus zweifelhaft.
Die gegenſeitige Abhangigkeit mehrerer Centralpuncte aufkeimender
Civiliſation ſind in Amerika, wie in Inner-Aſien, ſchwer zu beſtimmen.
Dieſe daͤmmernden Lichtpuncte waren: Cibora und Quivira bei Neuͤ-
Mexico, ein noͤrdliches Dorado, in dem noch im 16ten Jahrhunderte
der Moͤnch Marcus von Nizza einen baͤrtigen, das Kreuͤz anbetenden,
Koͤnig, Tatarax (eine Art Prieſter Johannes) ſuchte; Anahuac, oder
das tropiſche Gebirgsland der Tolteken und Azteken; das Cochenille-
reiche Oaxaca, wo ſich der Trauer-Palaſt von Mitla (Miguitlan) er-
hebt; Teochiapan, Guatimala und Nicaragua, wo die beruͤhmten Rui-
nen von Copan, Peten, Utatlan und Santo Domingo Palenque (einſt
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[324]Annalen, Januar 1835. — Laͤnder- u. Voͤlkerkunde.
Culhuacan der Tzendalen) liegen; ſuͤdlich von der Landenge von Pa-
nama das Reich des Muyscas (Cundinamarca oder Neuͤ-Granada),
wo ein geiſtliches und ein weltliches Oberhaupt waren; die Hochebenen
von Quito, Couzco und Titicaca. Ackerbauende Voͤlker, von Prieſter-
gewalt und politiſchen Inſtitutionen bedruͤckt, die der Ausbildung des
Einzelnen, nicht dem materiellen Wohlſtande und einer Cultur der Maſſe,
wie wir ſie in Ågypten, bei den Raſenern (Etruskern) und in Tuͤbet
ſehen, hinderlich waren, bewohnten nur den gebirgigen Theil des Neuͤen
Continents, der Aſien gegenuͤber liegt. In dem oͤſtlichen, ebenern
Theile ſchwaͤrmten Jaͤgervoͤlker, von roher Geſittung, umher. Der
Übergang vom Jagdleben zur feſten Anſiedelung war um ſo ſchwerer,
als der Mangel milchgebender Hausthiere in America das Hirtenleben
unmoͤglich machte. Der hier bezeichnete Contraſt, einer der wichtigſten
Grundzuͤge der Geſchichte jenes Welttheils, uͤbt noch gegenwaͤrtig einen
maͤchtigen Einfluß auf die Schickſale der amerikaniſchen Staaten aus.
Im Weſten bilden die ackerbauenden Urbewohner einen wichtigen Theil
der Bevoͤlkerung. Die euͤropaͤiſchen Anſiedler ſind nur der alten Civi-
liſation gefolgt; ſie haben alten mexicaniſchen und peruaniſchen Staͤd-
ten neue Namen gegeben. Im Oſten ſind dagegen die wilden Jaͤger-
voͤlker zuruͤckgedraͤngt und dem gaͤnzlichen Untergange nahe gebracht wor-
den. Die weiße und africaniſche Race und ihre Gemiſche bilden allein
die Bevoͤlkerung in Nord-America und Braſilien. Die Staaten, ge-
gen welche Cortez und Pizarro gekaͤmpft, exiſtirten aber nicht, als
ſcandinaviſche Seefahrer, im Anfange des 11ten Jahrhunderts, Win-
land entdeckten. Die Cultur und Verbreitung ackerbauender Voͤlker,
welche die Spanier im weſtlichen Alpenlande fanden, war kaum
300 Jahre alt. Haͤtte die ſcandinaviſche Entdeckung des noͤrdlichen
America’s dauernde Folgen gehabt, ſo wuͤrde der Zuſtand der euͤropaͤi-
ſchen Anſiedelungen ganz von dem verſchieden ſein, der jetzt die oͤſtlichen
und weſtlichen Theile jenes Continents charakteriſirt.
Von den großen Bauwerken, die Herr Nebel gezeichnet, ſind
einige, die Pyramiden von Cholula (Cholollan) und Papantla, wahr-
ſcheinlich toltekiſchen und alſo aͤlteren Urſprungs, als die Entdeckungs-
Fahrten von Biarn und Leif Erikſon. Die erſtere dieſer Pyramiden,
welche 1350 Fuß lang und 178 Fuß hoch iſt, war nach dem Muſter
des wohl orientirten Teocalli’s von Teotihuacan, unfern des See’s von
Tezcuco, erbaut. Die Zeichnungen des Architekten Nebel, den wir
die Freude gehabt haben, vor wenigen Wochen in unſeren Mauern zu
beſitzen, ſind aber nicht bloß von geometriſcher Genauigkeit und charak-
teriſtiſch treuͤ in Auffaſſung des eigenthuͤmlichen Styls der Basreliefs
und anderer Sculpturen, ſie haben auch einen großen kuͤnſtleriſchen
Werth in landſchaftlicher Hinſicht. Die uͤppige Fuͤlle und der wilde
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Reichthum der Vegetation, die Phyſiognomik der Tropen: Gewaͤchſe
das ganze Naturleben des Erdraumes, wo jene Voͤlker ihre ſonderbaren
Bauwerke aufgefuͤhrt, ſind mit bewundernswuͤrdigem Talente dargeſtellt.
Anſichten neuͤer, von den Spaniern gegruͤndeter, Staͤdte, Coſtuͤme und
Scenen des hauͤslichen Lebens ſind den archaͤologiſchen Gegenſtaͤnden
beigeſtellt, und nach den Proben colorirter Lithographien zu urtheilen,
welche Herr Nebel hier vorgezeigt, werden ſeine ſorgfaͤltig ausgefuͤhr-
ten Zeichnungen, wie ſeine geiſtreichen Skizzen, befriedigend auf Stein
uͤbertragen werden. Das Werk ſelbſt wird in Paris, in zehn Heften,
jedes Heft zu fuͤnf Lithographien, unter dem Titel: Voyage archéo-
logique et pittoresque dans la partie la plus intéres-
sante du Mexique, erſcheinen. Ich benutze um ſo freuͤdiger dieſe
Gelegenheit, die verdienſtvolle Arbeit eines deuͤtſchen Architekten anzu-
zeigen, als ich ſelbſt in meinem Werke: Anſichten der Cordilleren,
und Monumente der Urvoͤlker des neuen Continents
(70 Kupfertafeln, Folio) laͤngſt ſchon den lebhaften Wunſch geauͤßert
habe, meine eigenen unvollkommenen Darſtellungen durch genauere,
von einem ausgebildeten Kuͤnſtler, im Angeſicht der Monumente ent-
worfene Zeichnungen erſetzt zu ſehen.
Der Text, welcher Hrn. Nebel’s graphiſche Arbeit begleitet, hat,
neben ſeiner Kuͤrze, noch ein anderes Verdienſt, das ich nicht verſchwei-
gen darf. Hr. Nebel hat mit richtigem Sinne gefuͤhlt, der Zweck ſei-
nes Buches ſey, zu zeigen, was die, aus dem alten, unbekannten Hue-
huetlapallan und Aztlan ausgewanderten Volksſtaͤmme an Bauwerken
und Idolen ihres gemeinſamen Cultus hervorgebracht: er hat in Mexico
nur Mexicaniſches, (Toltekiſches und Aztekiſches) geſehen, und
wird die Leſer nicht mit Discuſſionen uͤber den Urſprung des amerikani-
ſchen Menſchengeſchlechts, uͤber phoͤniziſche, galiſche und chineſiſche Co-
lonien (aus Fouſang), uͤber die Atlantis des Plato (in deren Poſei-
doniſcher Burg neuͤerlichſt ein ſcharfſinniger Literator den Plan zu der
erſt 1325 erbauten, aztekiſchen Stadt Mexico erkannt hat) langweilen.
- Rechtsinhaber*in
- Kolimo+
- Zitationsvorschlag für dieses Objekt
- TextGrid Repository (2025). Collection 0. Mexicanische Alterthümer. Mexicanische Alterthümer. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bhdw.0