Das Wiedersehn

Er

Süße Freundin, noch einen, nur einen Kuß noch gewähre
Diesen Lippen! Warum bist du mir heute so karg?
Gestern blühte wie heute der Baum; wir wechselten Küsse
Tausendfältig; dem Schwarm Bienen verglichst du sie ja,
Wie sie den Blüten sich nahn und saugen, schweben und wieder
Saugen, und lieblicher Ton süßen Genusses erschallt.
Alle noch üben das holde Geschäft. Und wäre der Frühling
Uns vorübergeflohn, eh sich die Blüte zerstreut?
Sie

Träume, lieblicher Freund, nur immer! rede vongestern!
Gerne hör ich dich an, drücke dich redlich ans Herz.
Gestern, sagst du? – Es war, ich weiß, ein köstliches Gestern;
Worte verklangen im Wort, Küsse verdrängten den Kuß.
Schmerzlich war's, zu scheiden am Abende, traurig die lange
Nacht von gestern auf heut, die den Getrennten gebot.
Doch der Morgen kehret zurück. Ach! daß mir indessen
Zehnmal, leider! der Baum Blüten und Früchte gebracht!

Notes
Entstanden 1793, Erstdruck 1795, hier in der Fassung von 1800.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Goethe, Johann Wolfgang von. Das Wiedersehn. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-6750-A